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HARVARD UNIVERSITY
Library of the
Museum of
Comparative Zoology
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mMarvard Medical School
Hinatomical Library
ARBEITEN
AUS DEM
> ZODLOBISCH-TOOTONISCHEN. INSTITUF
WÜRZBURG
HERAUSGEGEBEN
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Prof. Dr. CARL SEMPER.
DRITTER BAND.
MIT 21 TAFELN.
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HAMBURG.
WW. MAUKE SÖHNE
vorm. PERTHES-BESSER & MAURE.
1876— 77.
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Inhalt des dritten Bandes.
Erstes Heft.
Ausgegeben am]. Juli 1876. Seite
SPENGEL, Das Urogenitalsystem der Amphibien. I. Theil. Der anatomische
Bau des Urogenitalsystems. (Mit Tafel I-IV) . . . 2.2.2... 1
Zweites und drittes Heft.
Ausgegeben am 15. October 1376.
SEMPER, Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, III. Strobi-
lation und Segmentation. (Mit Tafel V—-XV.). . .». . 2.2.0.0. 115
Viertes Heft.
Ausgegeben am 20. Februar 1877.
MINOT, Studien an Turbellarien. (Mit Tafel XVI-XX.) . .. . . 405
BRAUN, Zur Kenntniss des Vorkommens der Speichel- und Kittdrüsen bei den
Decapoden. (Mit Tafel XXL). . . ... ne. 412
SEMPER, Einige Bemerkungen über die Nennen von one BR. 480
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Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Von
Dr. J. W. SPENGEL.
I. Theil.
Der anatomische Bau des Urogenitalsystems.
Ich übergebe hiemit der Oeffentlichkeit den ersten Abschnitt einer um-
fassenden Untersuchung, die ich seit etwa zwei Jahren an dem zoologisch-
zootomischen Institut der Universität Würzburg über den Bau und die Ent-
wicklung der Urogenitalorgane bei den Amphibien angestellt habe. Durch
die etwa gleichzeitig begonnenen, jedoch früher. zum Abschluss gebrachten
Untersuchungen des Herrn Prof. Semper wurde mir für alle wesentlichen
Punkte der Weg vorgezeichnet, den ich einzuschlagen hatte. Aber nicht
nur in dieser Weise, sondern auch durch vielfache wohlwollende Rathschläge,
namentlich durch beständige Anregung zur Kritik meiner eigenen Beobach-
tungen, trug Herr Prof. Semper in hohem Masse dazu bei, dass ich das mir
gesteckte Ziel erreichen konnte. Dafür, wie für die ausserordentliche Libe-
ralität, mit welcher derselbe mir die Mittel zur Beschaffung des umfang-
reichen und zum Theil sehr kostspieligen Materials zu Gebote stellte, spreche
ich ihm hiemit öffentlich meinen wärmsten Dank aus.
Bevor ich mich zur Darstellung der Ergebnisse meiner Untersuchung
wende, muss ich einige Worte zur Erklärung der Ungleichmässigkeit, mit der
die einzelnen Abschnitte behandelt worden sind, vorausschicken. Die Arbeit
zerfällt naturgemäss in drei Hauptabschnitte, deren jeder eine der drei Ord-
nungen der Amphibienclasse zum Gegenstande hat. In dem ersten Capitel
sind die Beobachtungen an Coecilien dargestellt. Da die Kenntnisse vom
Urogenitalsystem dieser Thiere bisher nur sehr unvollständig waren, so glaubte
ich, auch auf histologische Einzelheiten näher eingehen zu müssen, als dies
bei den übrigen Ordnungen geschehen ist. Andrerseits musste ich wegen
Mangel an lückenlosem entwicklungsgeschichtlichen Material von vornherein
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 1
2 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
auf die Hoffnung, auch für die Coeeilien die Grundzüge der Ontogenie der
Harn- und Geschlechtswerkzeuge feststellen zu können, verzichten. Mit Rück-
sicht darauf schien es mir zweckmässig, die isolirten Beobachtungen, die ich
an einigen jungen Thieren habe machen können, mit in die Darlegung der
anatomischen Verhältnisse aufzunehmen. Für die beiden andern Ordnungen,
die Urodelen und die Anuren, wird die Scheidung zwischen den anatomischen
und entwicklungsgeschichtlichen Befunden dagegen möglichst streng durch-
geführt werden. Um dies zu können, mussten allerdings eingehende Schil-
derungen vom histologischen Bau der Geschlechtsorgane, namentlich des Ho-
dens und der Spermatozoen aus diesem ersten Abschnitt meiner Abhandlung
weggelassen werden, da ein Verständniss dieser Verhältnisse ohne entwick-
lungsgeschichtliche Grundlage nicht wohl möglich ist. Für diese Capitel muss
ich daher auf den zweiten Abschnitt verweisen. Man wird ferner vielleicht
eingehende Beschreibungen von den Epithelien der Ausführungsgänge etc., von
den Eiweissdrüsen des Eileiters, von der Verbreitung des, Flimmerepithels in
der Leibeshöhle und dergl. mehr vermissen. Allein da ich in erster Linie
mir die Ermittlung der typischen Organisationsverhältnisse und der Grenzen,
innerhalb deren dieselben sich bewegen, zur Aufgabe gestellt hatte, so wür-
den mich diese histologischen Detailuntersuchungen zu weit von meinem
eigentlichen Ziele abgelenkt haben; aus diesem Grunde habe ich nur ge-
legentlich gemachte Beobachtungen mitzutheilen, während ich eine consequent
durchgeführte vergleichende Untersuchung dieser Verhältnisse Andern über-
lassen zu dürfen glaubte.
Capitel I.
Die Coecilien.
Historisches.
Die vergleichend-anatomische Untersuchung der Coecilien ist bisher
in einer Weise vernachlässigt worden, welche um so weniger gerechtfertigt
erscheint, als die Coecilien einerseits eine in sich vollkommen geschlossene
Ordnung bilden, andrerseits in ihrer äussern Erscheinung den übrigen Am-
phibien so schroff gegenüber stehen, dass man sie bekanntlich lange Zeit mit
den früher sogenannten beschuppten Amphibien, d. h. den Reptilien, ver-
einigt hat. Die älteste Arbeit, welche auf das Urogenitalsystem der Coecilien
Rücksicht nimmt, sind Joh. Müllers „Beiträge zur Anatomie und Natur-
geschichte der Amphibien“ »), in welcher der 2. Abschnitt der Anatomie der
Coecilien gewidmet ist. Was wir erfahren, ist allerdings wenig. „Die Nieren
!) Zeitschrift f. Physiologie, Bd. IV, Heft 2, 1832.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 3
fanden Tiedemann und ich sehr lang, schmal, gelappt, sie liegen dicht anein-
ander; die Harnleiter münden in die Kloake ein. Tiedemann fand den
Eierstock sehr lang und schmal und mehrere längliche Eichen enthaltend.
Die sehr langen Eileiter öffnen sich in die Kloake.“ Dazu eine Abbildung
nach Tiedemann (Taf, XVII, Fig.‘ 8), der Müller eine Reihe von Notizen
und Zeichnungen zur Anatomie unsrer Thiere übergeben hatte.
Kaum eingehendere Bemerkungen liefert uns der Bonner Anatom
A. F. J. C. Mayer in seinen „Analekten für vergleichende Anatomie“ nach
Untersuchungen an Coecilia lumbricoidea (8. 51): „Die Hoden des Männchens
sind länglich oval. Der gelbe Fettkörper desselben sehr lang. Die Ovarien
des Weibehens aus vielen der Länge nach zerstreuten Körnchen bestehend.“
Seine Angaben über die Ausführungsgänge und deren Mündung weichen nicht
wesentlich von denen Müllers ab. Dagegen erwähnt Mayer „zwei ganz am
Ende des Unterleibes neben dem Mastdarm oder am Ende des Darmkanals
gelegene, dem Penis der Schlangen analoge Körper. Sie sind 2 bis 3 Li-
nien lang, dünn, conisch, sich nach vorwärts zuspitzend, nach dem After hin
breiter oder dicker werdend. Sie liegen innerhalb der Bauchhöhle. Ihre
Substanz ist gelblich weiss. Ich glaube, es sind die männlichen Ruthen.“
Schon im Jahre 1834 hatte Fitzinger auf der Naturforscher-Versammlung in
Breslau ein „penisartiges Organ, das aus dem After herausgehangen“, vorge-
zeigt und in der Isis 1834, S. 695 beschrieben. Nach einer brieflichen
Mittheilung von Bischoff an Joh. Müller!) dürfte es nichts als die zum After
ausgestülpte „Abdominalblase“ (Harnblase) gewesen sein. Bischoff bestätigt
im Uebrigen die Angaben Müllers hinsichtlich der Urogenitalorgane nach Be-
obachtungen an einem 1 Fuss 4 Zoll langen Weibchen von Coecilia (Sipho-
nops) annulata. „Die Eierstöcke waren wenig entwickelt, enthielten keine
deutlichen Eier. Die Eileiter endigten undeutlich oben in der Gegend des
Herzens.“ Ei- und Harnleiter münden nahe bei einander an der hintern
Wand der Kloake. „Die Nieren waren sehr lang, sehr schmal, undeutlich
gelappt.“
Die ersten genaueren Mittheilungen, auch über histologische Verhältnisse
erhalten wir 1852 von H. Rathke in seinen „Bemerkungen über mehrere
Körpertheile der Coecilia annulata.“?). „Die Eierstöcke waren etwas über
2" lang, der Querdurchmesser höchstens nur 1‘ dick, gerade gestreckt und
durch ziemlich breite ringförmige Einschnürungen in einige auf einander
folgende Stücke abgetheilt.“ %). Die Schilderung des histologischen Verhaltens
1) Müllers Archiv 1838, S. 353 ff.
2) Ebenda, 1852, S. 334 f.
ara. a. 0. 82950:
4 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
verschiebe ich bis zu dem betreffenden Abschnitt meiner eigenen Darstellung,
wo wir zugleich Gelegenheit haben werden, die Ursache des eigenthümlichen
Widerspruches zwischen der Beschreibung Rathke’s und derjenigen seiner
Vorgänger kennen zu lernen. „Jeder Eileiter besass an seinem vordern Ende
eine spaltförmige Längsöffnung, aber keine auffallende trichterförmige Erwei-
terung. Vorn war seine Wand dünn und durchsichtig, weiter nach hinten
wurde sie allmählich dicker, verlor ihre Durchsichtigkeit und nahm eine weisse
Farbe an; noch weiter nach hinten (ungefähr am letzten Drittel des Eileiters)
zeigte sie im Verhältniss zur Höhle des Organs eine beträchtliche Dicke.
In dem weissgefärbten längeren Theile des Eileiters enthielt seine Wandung
eine Schicht sehr nahe bei einander liegender rundlicher Drüsenbälge, die bis
0.0060‘ zum Durchmesser hatten.“ 1)
Leydig endlich suchte in seinen trefflichen „anatomisch-histologischen
Untersuchungen über Fische und Reptilien“ die für die übrigen Amphibien
gewonnenen Resultate auch an der Coecilia annulata zu bestätigen, und so
gelang es ihm, wenn auch noch mit einigem Zweifel, zuerst das richtige Ver-
halten zwischen der Niere und den Geschlechtsorganen auch für diese Ord-
nung nachzuweisen. „Die Nieren erstreckten sich durch die ganze Länge
der Bauchhöhle bis zur Lungenwurzel als schmale Streifen von etwas vari-
cösem Aussehen. Sie waren an ihrem Ende nicht breiter als an ihrem An-
fang. Der Harnleiter verlief an der äussern Seite, dicht an der Niere
und nachdem er letztere verlassen, biegt er etwas nach vorne, um in die
Spitze der ausgezeichnet langen Kloake einzumünden.
„Der Hode war in mehrere isolirte Abtheilungen zerfallen, auf der einen
Seite in sechs, auf der andern in fünf. Jede Abtheilung stellte einen 2—4“"
langen und 1““ breiten cylindrischen Körper dar, alle lagen linear hinter-
einander, ohne dass sie zusammenhingen, sondern jeder Abschnitt war ge-
wissermassen ein Hode für sich. Mikroskopisch untersucht bestanden sie
nicht aus Schläuchen, sondern aus gestielten Blasen.
„Es liess sich aber, und das möchte besonders der Berücksichtigung
werth sein, mit dem Mikroskop nach Ansäuerung und Aufhellung der Bauch-
fellfalte, welche zwischen dem Hoden und der Niere lag, sehen, dass von
jeder Hodenabtheilung ein Gang herauskam, der quer herüberlief und in die
Nierensubstanz sich verlor und ich möchte daraus für sehr wahrscheinlich
halten, dass auch bei Coecilia der Ureter als Harn- und Samenleiter zugleich
fungirt.“ 2)
Als Erläuterung dazu erhalten wir in dem „Lehrbuch der Histologie“
1) Müllers Archiv 1852, S. 352.
2) S, 84 oben eitirten Werkes.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 5
desselben Verfassers eine Abbildung des hintern Nierenendes von Coecilia
annulata !),
Das den hier zu schildernden Untersuchungen zu Grunde liegende Ma-
terial setzte sich aus vier und zwanzig Exemplaren zusammen, die sich auf
die verschiedenen Gattungen und Arten in folgender Weise vertheilen :
Siphonops annulatus A DD
N mexicanus mel),
5 indisdinetus ie.
ö thomensis ? ?) ie,
Coecilia rostrata DIE
Mi lumbricoides a
Epierium glutinosum U
Rhinatrema bivittatum 1
Larve von Siphonops sp. 1,
Ich verdanke dies äusserst werthvolle Material der Liberalität der Herren
Hubrecht, von Kölliker, Möbius, Peters, Semper sowie der Verwaltungs-
Commission des Naturhistorischen Museums in Hamburg. Allen spreche ich
hiemit meinen verbindlichsten Dank aus.
Bei der Mehrzahl der untersuchten Arten erstreckt sich die ausserordent- |
lich lange schmale Niere (Taf. I, Fig. 1 und 2, n) vom Herzen an bis an
das Vorderende der oft langgestreckten Kloake (cl). Etwa im mittlern Drittel,
bald etwas mehr nach vorn gerückt, bald etwas mehr nach hinten, bald auch
in etwas grösserer Ausdehnung, finden sich, an ziemlich breiten, vom Me- |
senterium abgehenden Aufhängebändern (Mesorchium, resp. Mesovarium)
jederseits die Geschlechtsorgane (Fig. 1, h, Fig. 2, o). Dieselben sitzen in- |
dessen nicht, wie bei den übrigen Amphibien, am lateralen Rande des Auf-
hängebandes, sondern an der ventralen Fläche desselben. Ersterer trägt die
vom Vorderende der Geschlechtsorgane bis an das Hinterende der Leibeshöhle
ziehenden gelbgefärbten Fettkörper (f), die also nicht wie bei den Urodelen |
medial, sondern lateral von den Geschlechtsdrüsen liegen (Taf. I, Fig. 1 und |
2). Etwas abweichend verhält sich in beiden Geschlechtern Coecilia lum- |
bricoides, insofern die Nieren hier nicht so weit nach vorn sich erstrecken,
sondern bereits in der Gegend des Hinterendes der Leber, resp. des Vorder-
endes der Geschlechtsorgane enden.
1) Leydig, „Lehrbuch der Histologie‘, S, 460, Fig. 226 A.
2) Diese Art stammt von der portugiesischen Insel San Thome, woher Barboza
de Bocage einen Siphonops thomensis beschrieben hat; da mir das Jornal da
Academia de Lisbo& nicht zugänglich ist, so bin ich nicht im Stande, sicher anzu-
geben, ob obige Art wirklich mit derjenigen Barbozas identisch ist; ich setze daher
ein „2“ dazu.
6 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien,
Die Nieren.
Die Nieren liegen in Form eines, wie Leydig es bereits treffend bezeich-
net hat, etwas varicösen Bandes jederseits hart am Mesenterium, nur durch
die Aorta und die Hohlvene von einander getrennt, der Rückenwand der
Leibeshöhle eng an. Ihre Breite ist vorn fast dieselbe wie hinten, stets aber
eine sehr geringe: je nach der Grösse des Thieres 1 bis 2 mm. Das
varicöse Aussehen rührt von der Zusammensetzung aus einer Reihe mehr
oder minder scharf, namentlich nach Entfernung der Gefässe am medialen
Rande deutlich von einander abgesetzter Knäuel von Harncanälchen her, die
an Zahl sowohl wie an Länge den Wirbeln entsprechen. Bei Siphonops
annulatus z. B. lässt die Niere, welche sich über 65 bis 66 Wirbel erstreckt,
einige sechzig solcher Anschwellungen erkennen. Dasselbe Verhältniss ergiebt
sich für ein jugendliches erst 150 mm. langes Exemplar derselben Art mit
einer Nierenlänge von 100 mm. und Knäueln von etwa 1.5 mm. Bei noch
jüngeren Thieren ist dasselbe so auffallend, dass man es kaum übersehen
kann. Ich komme auf diese später zurück.
Die Zusammensetzung dieser Knäuel ist eine sehr complicirte. Mit
Hülfe von tingirten und in Canadabalsam aufgehellten Flächenansichten, so-
wie Längs- und Querschnitten gelingt es indessen, ein ziemlich klares Bild
von derselben zu gewinnen. Wir werden dasselbe am leichtesten verstehen
wenn wir den Verlauf eines einzelnen Canales in der Richtung des Secret-
stromes, also ausgehend vom Malpighischen Körperchen!), verfolgen.
Die Malpighischen Körperchen, welche bei den Coecilien, wie dies auch
von den übrigen Amphibien bekannt ist, nahe an der ventralen Nierenfläche
angeordnet sind, sind meistens ziemlich kuglig, in manchen Fällen etwas -
ellipsoidisch. Ihr grösster Durchmesser überschreitet wohl niemals 0.25 mm.
Die Bowmansche Kapsel ist von einem flachen, stets wimperlosen Epithel
ausgekleidet. Der Glomerulus mit undeutlichkem Umbo füllt die Kapsel in
der Regel nur zum Theil aus, da er nur einen Durchmesser von 0.12 bis
0.15 mm. erreicht. Nach einer Seite — bei länglichen Körperchen nach
einem der spitzen Enden — setzt sich die Kapsei nun in einen anfangs
weiteren, bald jedoch sehr engen Canal fort, indem ihr Epithel an der Aus-
mündungsstelle ziemlich plötzlich in das polygonale Wimperepithel desselben
übergeht. Jede Zelle trägt eine geringe Anzahl — häufig, wie es scheint nur
eine — ausserordentlich langer Geisselhaare (0.02 — 0.03 mm.), die sich
1) Als „Malpighisches Körperchen“ bezeichne ich nach dem Vorgange von
Kölliker, Leydig, Semper und vielen Andern die Gefässschlinge sammt der Bowman-
schen Kapsel.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 7
an den Spiritusexemplaren zum Theil vortrefflich erhalten hatten und durch
ihre constante Lage mit der Basis zum Malpighischen Körperchen hin, mit
der Spitze von ihm abgewendet, die Richtung des Wimperstromes andeuteten.
Dieses Canalstück, der sogenannte „Hals“ des Malpighischen Körperchens
läuft eine längere oder kürzere Strecke an der ventralen Nierenfläche
um alsdann, ehe es sich in den nächsten Abschnitt fortsetzt, seitlich einen
eleichfalls wimpernden Canal aufzunehmen. Derselbe ist leicht bis zur Ober-
fläche der Niere zu verfolgen und breitet sich hier zu einem bald weiten,
bald engen Trichter aus, dessen Mündung offen mit der Leibeshöhle com-
munieirt. Betrachtet man einen mikroskopischen Quer- oder Längsschnitt
durch einen geeigneten Theil der Niere, oder gelingt es, einen solchen
Trichter gerade am Rande derselben in Profilansicht anzutreffen — ein, bei-
läufig gesagt, recht häufiger Fall — so sieht man, dass das auf den übrigen
Theilen der Niere pflasterförmige Peritonealepithel, plötzlich seinen Charakter
verändert. Die sonst in weiten Zwischenräumen angebrachten Kerne rücken
eng an einander, werden grösser und namentlich höher, und nach wenigen
Zwischenformen finden wir an Stelle des bekannten „Endothels“ ein schönes
Cylinderepithel, deren Zellen je eines oder wenige lange Geisselhaare tragen.
Das Gebiet dieser Wimperzellen oder, was dasselbe sagt, die Form der
Trichterscheiben, kann eine sehr verschiedene sein: bisweilen liegt die in |
die Tiefe führende Oeffnung in der Mitte, häufiger an einer Seite (Tafel I,
Fig. 4 und 5), und dann zieht sich oftmals die Scheibe in einen langen
Zipfel aus (Taf. I, Fig. 5); in vielen Fällen aber kann von einer eigentlichen
Scheibe keine Rede sein, indem das Cylinderepithel sich auf einen ganz schmalen,
den Trichtergrund umfassenden Saum beschränkt. Dem entsprechend kann
der Trichter selbst bald als tellerförmig, bald als glockenförmig bezeichnet
werden. Ohne an dieser Stelle auf eine Erörterung des morphologischen
Werthes dieser Trichter einzugehen, will ich nur bemerken, dass ich die-
selben im Verlauf der folgenden Darstellung „Nierentrichter“ oder, um
mich dem modernen Geschmack zu fügen, „Nephrostomen“ nennen werde.
Verlassen wir einstweilen jedoch diese Gebilde, um den Gang des Harncanäl-
chens weiter zu verfolgen. Nachdem der Hals des Malpigischen Körperchens
den „Trichterstiel“ aufgenommen und die beiden Wimperströme sich vereinigt
haben, zieht die gemeinsame Fortsetzung beider meistens eine Strecke an
der Oberfläche der Niere hin, während sie das gleiche Wimperepithel und das
gleiche Lumen wie der Hals beibehält. Plötzlich ändert sich Beides: Die’
Wandung des nun folgenden Abschnittes des Harncanälchens setzt sich zu-
sammen aus grossen polygonalen, wimperlosen Zellen mit grossen runden
Kernen und trübem, körnchenhaltigen Protoplasma, ganz wie sie von Heidenhain
8 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
aus den entsprechenden Abschnitten der Froschniere abgebildet!) und be-
schrieben sind. Das Lumen wird gleichzeitig etwas weiter. Dieser zweite
Abschnitt, der eine viel bedeutendere Länge erreicht als der vorige, senkt
sich nun bald in die Tiefe, d. h. dorsalwärts, schlingt sich mehrfach hin
und her, um dann meistens sich wieder der ventralen Nierenfläche zu nähern.
' Hier angelangt verändert er abermals sein Epithel: der nun folgende Abschnitt
ist, wie bei den Fröschen nach Heidenhains Beschreibung, nur sehrkurz und
wie der erste Abschnitt — Hals und Trichterstiel — mit Geisselzellen ausge-
‚kleidet, deren Cilien stets mit ihrem freien Ende in der Richtung nach dem
Ausführungsgange hin liegen. Der sich daran anschliessende vierte Abschnitt
endlich zeichnet sich vor dem vorigen durch ein weiteres Lumen und ein ziem-
lich kleinzelliges wimperloses Epithel aus: er entspricht demjenigen Abschnitt
der Harncanälchen der Frösche, in dem Heidenhain die Stäbchenstructur der
Zellen gefunden hat. Von einer derartigen Beschaffenheit konnte ich nichts
erkennen, muss indessen auch gestehen, dass ich keinen besonderen Fleiss
darauf verwandt habe, mir dieselbe zur Anschauung zu bringen. Dieser
Abschnitt windet sich nun, wie der zweite, in weiten Schlingen auf und ab,
vor- und rückwärts, um endlich in den längs des lateralen Nierenrandes hin-
ziehenden Harnleiter einzumünden. Ein besonderes Schaltstück, das nach
der Beschaffenheit seines Epithels mit dem Harnleiter übereinstimmte, habe
ich nicht gefunden. In manchen Fällen, so bei Siphonops annulatus und
Epierium, könnte es mir entgangen sein, da die Differenz zwischen dem
Epithel des Harnleiters und dieses vierten Abschnittes eine sehr geringe ist;
wo indessen, wie bei der Coecilia lumbricoides und Siphonops thomensis der
Unterschied ein sehr deutlicher ist, kann von einer derartigen Deutung
meines Befundes nicht die Rede sein.
Mit dieser Schilderung des typischen Verlaufes der Harncanälchen in
der Niere ist indessen das thatsächliche Verhalten noch nicht erschöpft.
Betrachtet man ein in geeigneter Weise tingirtes Nierensegment von der
ventralen Fläche, so erkennt man bald, dass sowohl die Zahl der Nephro-
stomen als auch die der Malpighischen Körperchen eine grössere ist, und
ferner trifft man, wenn man den vierten Abschnitt von seiner Mündung in
den Harnleiter aus stromaufwärts verfolgt, sehr bald auf Gablungen desselben.
Bei einem derart complieirten Verhalten ist es natürlich unmöglich, die ein-
zelnen Canäle von ihrem Ursprung aus einem Malpighischen Körperchen
bis zu ihrer Vereinigung zu verfolgen, und der eben geschilderte Verlauf ist
in der That zunächst auch nur aus den Befunden an einzelnen durchsich-
!) R. Heidenhain. Mikroskopische Beiträge zur Anatomie und Physiologie der
Nieren. — Arch. mikr, Anat, Bd. X. S. 22 ff. Taf. II. Fig. 16 und 17, e.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 9
tigeren Stellen erschlossen; die Untersuchung jüngerer Thiere gestattete dann
später, die Richtigkeit derselben zu prüfen; doch davon weiter unten. Was
ich über das Verhältniss zwischen den Trichtern und den Malpighischen
Körperchen einerseits und den aus den letzteren entspringenden Harncanälchen
zu einander andrerseits für die erwachsenen Coecilien sicher feststellen
konnte, ist folgendes. Für die Mehrzahl der Nephrostomen ist mit Sicherheit
eine Verbindung mit je einem Malpighischen Körperchen in der oben
angegebenen Weise — Vereinigung eines Trichterstieles mit dem Hals —
zu constatiren (Taf. II, Fig. 3, tr... Wo dies nicht möglich ist, wie
bei tr‘, kann man als wahrscheinlich annehmen, dass das zu dem
Trichter gehörige Malpighische Körperchen durch darüber gelegene Theile
dem Auge entzogen wird. Die Zahl der Trichter ist, entsprechend dem
Alter des Individuums, möglicher Weise aber auch nach den Gattungen
und Arten, eine verschiedene, oftmals ausserordentlich grosse: so zähle ich
z. B. in manchen Segmenten der Niere eines Epicrium glutinosum bis zu
zwanzig Trichtern, so dass die Gesammtzahl der Nephrostomen bei etwa
60 Segmenten in jeder Niere nahe an Tausend oder gar darüber betragen
mag. Einzelne Segmente, nämlich die vordersten, zeichnen sich durch den
Besitz nur eines Trichters und eines Malpighischen Körperchens aus;
doch scheint dies Verhalten nur als Ausnahme zu betrachten zu sein. Bei
dem eben erwähnten Epicrium zeigte sich dasselbe nur an der linken Niere
(welcher das in Fig. 4 abgebildete Nephrostom entnommen ist), während in
der rechten auch die vordern Segmente wesentlich wie die hintern gebildet
waren. Einen Trichter und ein Malpighisches Körperchen in jedem Seg-
ment fand ich ferner im vordern Abschnitt der Niere von Siphonops mexi-
canus. Die betreffenden Segmente zeichneten sich ausserdem noch dadurch
aus, dass die Trichterstiele eine ungewöhnliche Länge erreicht hatten und
weit auf das Halteband des Müllerschen Ganges hinaufgewachsen waren
(Taf. I, Fig. 8. tr). Wie sich in der ausgebildeten Niere die Harncanälchen
zu einander verhalten, ob jedem Malpighischen Körperchen ein Harncanälchen
mit allen vier typischen Abschnitten entspringt, und ob erst im vierten Ab-
schnitt die Vereinigung Aller zu einem gemeinsamen „Sammelrohr“ stattfindet,
vermag ich nicht zu sagen: in der Mehrzahl der Fälle liess sich der Hals in
einen typisch entwickelten zweiten Abschnitt mit granulirten Zellen verfolgen.
Einer besonderen Erwähnung bedarf noch die Niere von Coecilia lum-
bricoides. Wie bereits oben erwähnt‘, zieht dieselbe nur durch einen Theil
der Leibeshöhle, etwa bis ans Hinterende der Leber. Weiter nach vorn
haben sich indessen noch Spuren von ihr erhalten: von Strecke zu Strecke,
in nicht ganz regelmässigen Abständen, findet man bei mikroskopischer Un-
tersuchung dem Peritoneum eingestreut kleine Knötchen, die nach hinten
10 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
zu bis an die normal entwickelte Niere zu verfolgen sind; je weiter nach
vorn, desto mehr reducirt erscheinen sie. Anfangs lassen sie noch ein Mal-
pighisches Körperchen und gewundene Canäle erkennen; bald verschwinden
die ersteren und schliesslich findet man nur noch winzige Zellhaufen oder
Cysten, die man leicht mit den Knötchen der Nebennieren verwechseln
könnte, wenn sie sich nicht durch die später näher zu schildernden
Beziehungen zum Harnleiter und zu den Ausführungswegen der Geschlechts-
organe deutlich als Rudimente der Nieren selbst zu erkennen gäben. Die
vordere Grenze dieser Gebilde vermag ich nicht mit Sicherheit anzugeben,
da das Beobachtungsobject sich in nicht ganz befriedigendem Erhaltungszu-
stande befand, namentlich sich den angewandten Tinctionsmitteln sehr unzu-
gänglich zeigte.
Den auffallendsten Befund, der uns zu verschiedenen Erwägungen ver-
anlasst, bilden wohl die Nephrostomen. Nach dem, was durch Semper,
Balfour und Schultz!) im vergangenen Jahr über die Entwicklung der Sela-
chierniere bekannt geworden ist, drängt sich uns zunächst ein Vergleich
zwischen den Nephrostomen der Coecilienniere und den „Segmentaltrichtern“
der Plagiostomen auf. Es ist durch die genannten Autoren übereinstimmend
festgestellt, „dass die Niere der Plagiostomen zuerst auftritt in Form mehr
oder minder weiter isolirter Schläuche, welche von einer ganz bestimmten
Stelle des Peritonealepithels oder Keimepithels her in das Mesoderm von
innen nach aussen eingestülpt werden. Diese Schläuche treten nur im Be-
reiche der Leibeshöhle auf, und immer den einzelnen Segmenten dem Abstand
nach entsprechend.“ ?) Bei einer grossen Anzahl von Haiarten bleibt, wie
durch Sempers Beobachtungen festgestellt worden ist, diese primäre Verbindung
der segmentalen Nierenanlagen in Form von mannichfach gestalteten „Seg-
mentaltrichtern“, auch beim erwachsenen Thiere, bestehen 3). Sie sind mit
Wimperepithel ausgekleidet, und ihre Stiele, die „Segmentalgänge“, stehen
wenigstens in den ersten Entwicklungsstadien, mit Malpighischen Körperchen
in directem Zusammenhang*). Bei einem Vergleich dieser Beobachtungen
1) C. Semper. Die Stammesverwandtschaft der Wirbelthiere und Wirbellosen
— Diese Zeitschrift Bd. H. S. 25 ff. — C. Semper. Das Urogenitalsystem der
Plagiostomen und seine Bedeutung für das der übrigen Wirbelthiere. — Ebenda,
S. 195 ff. — Im Folgenden eitirt als: ‚Urogenitalsystem.“ — F. M. Balfour. A
preliminary account of the development of the Elasmobranch Fishes. — Quart.
Journ. Microsc. Sc. N. S. No. LVI. October, 1874, p. 323 fü — A. Schultz.
Segmentalorgane bei Rochen. — Medic. Centralblatt, 1874, No. 51.
2) Semper, Urogenitalsystem,. S. 296.
®) Semper. Urogenitalsystem, S. 199 ff.
*) Semper. Urogenitalsystem, S. 303 fl. 8. 395.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 11
mit den eben von mir mitgetheilten springt sofort ein bedeutender Unter-
schied in die Augen: bei den Plagiostomen entspricht die Zahl der Trichter
der Zahl der Wirbel, während bei den Coeeilien, wie wir gesehen haben,
die ersten ausserordentlich viel zahlreicher sind. Einige Befunde deuten in-
dessen in unverkennbarer Weise darauf hin, dass wir es bei den Letzteren
mit einer Modification eines ursprünglich einfacheren Verhaltens durch
secundäre Wachsthumsvorgänge zu thun haben. Wird die ursprüngliche seg-
mentale Anlage auch der Coecilienniere uns durch die oft sehr deutliche
Gliederung der äusseren Form des Organs sehr wahrscheinlich, so deutet so-
wohl die Einzahl der Trichter und Malpighischen Körperchen im vordersten
Nierenabschnitt als auch die Einzahl der Sammelröhren in einem Segment
in derselben Richtung. Zur Gewissheit aber wird diese Vermuthung durch
eine Untersuchung jüngerer Thiere, deren Resultate ich schon an dieser
Stelle mittheilen will, da mir begreiflicher Weise nicht zusammenhängende
Entwicklungsreihen von Coecilien vorgelegen haben, und ich in Folge dessen
auf eine specielle Darstellung der ontogenetischen Vorgänge bei dieser Ordnung
im entwicklungsgeschichtlichen Theil meiner Arbeit verzichten muss. Das
mir vorliegende Material bestand in einer 55 mm. langen, jederseits mit
einem kleinen Kiemenloch versehenen Larve von Siphonops sp., die ich der
Güte des Herrn Geh. Rath Prof. Dr. von Kölliker verdanke, und einer Reihe
von jungen Individuen von Coecilia rostrata, darunter eines von 40 mm.
und eines von 65 mm. Länge, die mir mit ausserordentlicher Liberalität von
ihrem Sammler, Herrn Prof. Möbius, zur Untersuchung überlassen worden
ist. Schon tingirte Flächenansichten von Nieren etwas älterer Thiere —
100 bis 150 mm. —- liessen eine Abnahme in der Zahl der Nephrostomen
und Malpighischen Körperchen wahrnehmen, und bei den kleinsten Thieren |
fand sich in jedem der hier äusserst deutlich hervortretenden, der Zahl nach |
ganz mit den Wirbeln übereinstimmenden Segmente, nur noch ein Trichter
und ein Malpighisches Körperchen. Am klarsten war dies Verhältniss bei
der Syphonopslarve zu erkennen, da hier die Harncanälchen etwas lockerer
angeordnet waren, als bei Coecilia. In Fig. 7, Taf. I. habe ich ein solches
Segment abgebildet; es wurde bei etwa 100facher Vergrösserung mit der
Camera lucida gezeichnet und das Bild, nachdem der Zusammenhang der
einzelnen Abschnitte des Harncanälchens bei etwa 300facher Vergrösserung
aufs sorgfältigste verfolgt war, nachträglich um die Hälfte verkleinert.
Der aus dem, wie in der Mehrzahl der übrigen Segmente, nach hinten ge-
richteten Trichter (tr), den wir jetzt als Segmentaltrichter bezeichnen können,
hervorgehende Trichterstiel nimmt bald den Hals (1) des Malpighischen
Körperchens (mk) auf; die gemeinsame Fortsetzung beider geht nach kurzem
Verlauf in den zweiten Canalabschnitt (2), der schon die charakteristischen
12 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
trüben Zellen mit grossem runden Kern besitzt, über; dieser biegt sich an
die dorsale Seite der Niere, zieht hier nach vorn und wieder nach hinten,
vollführt dann eine kurze Schlinge und tritt am lateralen Nierenrande wieder
an die ventrale Fläche, um alsbald in den engen dritten Abschnitt (3), der
wieder mit Wimperepithel ausgekleidet ist, überzugehen; der vierte (4), wieder
etwas dickere Abschnitt endlich, schlingt sich wiederholt hin und her und
mündet endlich in den am lateralen Rande gelegenen Harnleiter (lg).
Letzterer, mit einem sehr blassen Epithel ausgekleidet, war in der vordern
Nierenhälfte, der das geschilderte Segment entnommen ist, nur schwer zu er-
kennen; er ist deshalb auch in der Abbildung mit etwas blassen Linien dar-
gestellt. Neben dem Harnleiter verläuft als schmaler Zellstrang, in dem auf
Querschnitten noch kein Lumen zu erkennen war, der Müllersche Gang (mg),
dessen Verhalten am Vorder- und Hinterende später näher zu schildern sein
wird. Nicht nur die Reihenfolge der Canalstücke, die, wie man sieht, voll-
ständig mit derjenigen in der ausgebildeten Niere übereinstimmt, so dass der
Befund an dem jungen Thier als Bestätigung für die Richtigkeit des oben
beschriebenen aus Schnitten construirten Bildes dienen kann, sondern auch
ihr Verlauf ist in allen Segmenten typisch derselbe, eine Thatsache, die auf
constante, höchst complicirte Wachsthumsgesetze schliessen lässt.
Aus diesen Beobachtungen geht also hervor, dass die Niere der Coecilien
ursprünglich eine streng segmentale Anlage zeigt, indem auf je einen Wirbel
ein typisch entwickeltes „Segmentalorgan“ mit einem „Segmentaltrichter‘,
einem Maipighischen Körperchen, einem vielfach verschlungenen drüsigen
Abschnitt und einem Ausführungsgang besteht. Die in der Niere des er-
wachsenen Thieres erkennbare Gliederung des Organs ist als ein Ausdruck
dieser wirklichen Segmentirung anzusehen. Die Vielzahl der Trichter ist die
Folge von secundären Wachsthumsvorgängen; nur ein Trichter in jedem
Segment, der primäre, verdient den Namen „Segmentaltrichter“. Wie die
übrigen und wie die secundären Malpighischen Körperchen entstehen, ob
durch nachträgliche Einstülpungen vom Peritonealepithel oder durch Theilung
der primären Trichter und nachfolgende Spaltung des Harncanälchens oder
endlich durch Knospung von einem Punkte des letzteren aus, habe ich
nicht ermitteln können. Es wird dazu der Untersuchung frischen und
reicheren Materiales bedürfen.
Die Modificationen des Baues, die durch die Beziehung der Niere zu den
Geschlechtsorganen bedingt sind, werden wir bei Besprechung dieser be-
trachten, und ich wende mich zunächst zu einer Schilderung der Ausfüh- _
rungsgänge der Niere, zunächst des
\
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 13
Harnleiters.
Selbst bei den jüngsten Thieren, die ich untersucht habe, war schon
eine vollständige Trennung des primären Urnierenganges in zwei Gänge ein-
getreten, von denen der laterale oder Müllersche Gang beim Weibchen den
Eileiter, beim Männchen eine Art uterus masculinus darstellt, während der
mediale als Ausführungsgang der Niere, d. h. als Harnleiter fungirt. Ich
bezeichne den letzteren im Anschluss an Sempers Beschreibung des Uro-
genitalsystems der Plagiostomen nicht, wie sonst üblich, als Wolffschen, son-
dern als Leydigschen Gang!). Die Gründe, die mich dazu bestimmen, sind
folgende. Nach den mir von andern Amphibien vorliegenden Beobachtungen
entsteht der Harnleiter in dieser Thierclasse wie bei den Selachiern durch
eine von vorn nach hinten fortschreitende Abspaltung an der medialen Seite
von dem einfachen Urnierengang?). Auf eine nähere Schilderung dieses
Vorganges habe ich natürlich an dieser Stelle nicht einzugehen, sondern ver-
weise in dieser Beziehung auf den entwicklungsgeschichtlichen Abschnitt
dieser Abhandlung. Da hiernach die vollständige Homologie dieser Gänge
bei Selachiern und Amphibien feststeht, während dem morphologischen Ver-
gleich des Leydigschen Ganges der Anamnia mit dem Wolfischen Gange
der Amnioten bisher nur eine Vermuthung zu Grunde gelegt worden ist, so
ziehe ich es vor, mich hinsichtlich der Nomenclatur zunächst wesentlich an
die für die Selachier von Semper begründete zu halten, und werde also im
Verlauf meiner Darstellung den medialen Canal als Leydigschen Gang be-
zeichnen. Für den lateralen behalte ich mit Semper den Namen Müller-
schen Gang bei. Die Bezeichnung „Harnleiter“, welche Semper allein für
einen gesonderten Ausführungsgang des hintern Nierenabschnittes der Sela-
chierniere gebraucht ?), wende ich in einem allgemeineren Sinne, entsprechend
seiner buchstäblichen Bedeutung, für den Ausführungsgang der ganzen
Niere an.
Das anatomische Verhalten des Leydigschen Ganges oder Harnleiters
ist bei allen von mir untersuchten Coecilien in beiden Geschlechtern dasselbe.
Derselbe beginnt im vordersten Nierensegment, in dessen Sammelrohr er
bogenförmig übergeht, so dass er als eine unmittelbare Fortsetzung des
etzteren erscheint. Er verläuft dann, in der Regel zum grossen Theil von
den Nierensegmenten, an deren dorsaler Seite er liegt, verdeckt, unter all-
mählicher Dickenzunahme bis an die Kloake, an deren dorsaler Wand er,
getrennt sowohl von dem gleichseitigen Müllerschen Gang als auch von dem
!) Semper, Urogenitalsystem, $. 279 ff,
2) Ebenda, 8. 310 #.
®) Ebenda, S. 327 f,
14 SPENGEL :: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Harnleiter der andern Seite, ausmündet. Aus jedem Nierensegment nimmt
er, wie aus der obigen Schilderung derselben sich ergiebt, ein Sammel-
rohr auf.
Auch in der histologischen Zusammensetzung seiner Wandungen zeigen
sich keine sehr erheblichen Differenzen, weder zwischen den beiden Ge-
schlechtern noch zwischen den verschiedenen Gattungen und Arten. Bei den
untersuchten Weibchen fand ich den Leydigschen Gang stets von einem
einschichtigen, wimperlosen Oylinderepithel ausgekleidet , dessen Zellen höch-
stens doppelt so hoch als breit waren: der Ilöhendurchmesser betrug durch-
schnittlich 0.02 mm., der Breitendurchmesser 0.01 mm. Ganz übereinstimmend
verhalten sich die Männchen der meisten Arten. Nur bei Coecilia lumbri-
coides F und Siphonops thomensis S finde ich ein viel höheres Epithel, bei
dem der Höhendurchmesser der Zellen (0.034 mm.) den Breitendurchmesser
(0.006 — 0.008 mm.) um mehr alsdas vier- bis fünffacheübertrifft. In beiden
Fällen tragen die Zellen einen deutlichen Wimperbesatz (Wimperlänge 0.008
mm.). Bei der letzteren Art liegen an der Basis dieser Cylinderzellen,
zwischen sie eingekeilt, kürzere, rundkernige Zellen. Bei Coecilia lumbricoides,
bei der eine Reduction des vorderen Abschnittes der Niere stattfindet, er-
fährt auch der Leydigsche Gang eine Rückbildung: er zerfällt in eine Reihe
bald längerer, bald kürzerer, vorn wie hinten blind endigender Schläuche
oder Oysten, welche mit den Canälen der rudimentären Nierenknäuel nicht
mehr in Verbindung zu stehen scheinen.
So einfach das Verhalten der Leydigschen Gänge ist, so ausserordent-
lich mannichfaltig ist das der
Müllerschen Gänge.
Ich schildere dasselbe zunächst beim Weibchen. Hier fungiren die
Müllerschen Gänge bei den Coecilien wie bei allen übrigen Amphibien als
Eileiter. Keines der von mir untersuchten Thiere scheint sich zur Zeit
seines Todes in der Brunst befunden zu haben: überall verläuft der Eileiter
von der Gegend des Vorderendes der Niere ohne jegliche Schlängelung als
ein fast drehrunder, dickwandiger Canal am lateralen Nierenrande bis an die
Kloake hinab. Das Mesenterium, durch das er mit der Niere zusammen-
hängt, ist sehr schmal. Vorn, wo seine Wandung dünner wird, mündet er
mit einem nicht sehr weiten Ostium (Trichter) in die Leibeshöhle. Während
bei Urodelen und Anuren bekanntlich die Tubentrichter weit vom Vorder-
ende der Niere entfernt, beiderseits neben den Lungenwurzeln liegen, bleiben
dieselben bei den Coecilien immer nahe an der Niere liegen, ja diese zieht
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 15
bisweilen sogar einige Millimeter über dieselben hinaus nach vorn. Bei
Coecilia lumbricoides findet sich der Tubentrichter weit nach hinten gerückt,
bis in die Gegend des Vorderendes des .Ovariums; seine nach vorn und
hinten zipfelförmig ausgezogenen Ränder bilden einen langen, lateralwärts
schauenden, spaltförmigen Eingang. An dem Epithel, das den Tubentrichter
auskleidet und ohne scharfe Grenze in das Peritonealepithel übergeht, konnte
ich keine Wimperhaare erkennen; doch bin ich geneigt, die Ursache dieses
negativen Befundes dem Frhaltungszustand zuzuschreiben. Eine genauere
Untersuchung der Verbreitung des Wimperepithels in der Leibeshöhle wird
nur am frischen Thier ausgeführt werden können. Die Eileiter münden ge-
trennt von einander und von den Harnleitern in die Kloake, wie es bereits
Bischoff richtig angegeben hat‘). Bei Epierium glutinosum 2 besitzen sie
(Taf. I, Fig. 15) ein im Verhältniss zur Dicke der Wandung geringes Lumen,
in das von jener aus zahlreiche feine, nicht ganz regelmässig verlaufende
Längsfalten einspringen. Diese sind von einem einschichtigen wimperlosen
Cylinderepithel überzogen. Von einer Differenzirung des letzteren zu Drüsen
habe ich in keinem Abschnitt des Eileiters eine Spur gefunden. Die Wan-
dung besteht aus einem mächtigen bindegewebigen Stroma mit glatten Ring-
und Radiärmuskelfasern. An der Peripherie findet sich stellenweise etwas
Pigment. Siphonops annulatus 9 unterscheidet sich nur in unwesentlichen
Punkten: es ist das Lumen weiter, das bindegewebige Stroma weniger dick;
glatte Muskelfasern waren darin bei dem nicht vollkommen befriedigenden
Erhaltungszustande des vorliegenden Exemplares nicht mit Sicherheit nach-
zuweisen. Das die Längsfalten überziehende Epithel besteht aus sehr hohen
wimperlosen Cylinderzellen (Höhe derselben bis 0.04 mm). mit langge-
streckten Kernen. Die untersuchten Exemplare von Coecilia rostrata waren
sämmtlich noch ziemlich jung: doch liessen sich Längsfalten auch hier bereits
in grosser Entwicklung erkennen; sie wurden von einem nicht sehr hohen
Cylinderepithel überzogen. A
Ausserordentlich mannichfache Ausbildungsformen zeigt der Müllersche
Gang der Männchen. Wie bei den Weibchen verläuft er vom Vorderende
der Niere, wo er in verschiedener Weise endet, vollständig vom Harnleiter
getrennt lateral von diesem bis ans Hinterende der Niere, wendet sich, wie
der Harnleiter — entsprechend gewissen Einrichtungen an der Kloake, die
wir weiter unten zu besprechen haben werden — wieder nach vorn (Taf. I.
Fig. 1, Taf. II. Fig. 44, 46, 47 mg) und mündet neben dem Harnleiter in
die Kloake. Von der Regel, dass die kloakalen Enden der Müllerschen
und Leydigschen Gänge bei allen männlichen Coecilien getrennt sind, macht
!) Müllers Archiv 1838, S. 353.
16 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Coecilia rostrata eine, indessen nur scheinbare Ausnahme. Hier münden
diese Gänge nicht direct in die Kloake, sondern jederseits in einen mit
dieser in Zusammenhang stehenden Blindsack. Legt nun aber schon die
histologische Uebereinstimmung des den letzteren auskleidenden Epithels mit
demjenigen der Kloake, ferner die Thatsache, dass keiner von beiden Gängen
die geradlinige Fortsetzung dieses Sackes darstellt, sondern beide seitlich
mit isolirten Oeffnungen in denselben einmünden, den Gedanken nahe, dass
wir in diesem Blindsacke nicht das gemeinsame Endstück der beiden Gänge,
also etwa einen ungetheilten Rest des primären Urnierenganges zu sehen
haben, so wird diese Vermuthung dadurch zur Gewissheit, dass bei jungen
Thieren die Oefinungen des Müllerschen und Leydigschen Ganges wie bei
den übrigen Arten in der Kloakenwand selbst liegen.
Das Vorderende verhält sich, wie bereits erwähnt, bei den verschiede-
‚nen Arten, vielleicht sogar bei einzelnen Individuen derselben Art verschieden.
Während sich bei Siphonops annulatus, bei Coeeilia rostrata und vielleicht
auch bei Epierium glutinosum eine offne, spaltförmige Communication mit
der Leibeshöhle fin, detan derselben Stelle, wo im weiblichen Geschlecht das
Ostium tubae liegt, endet der Müllersche Gang bei Siphonops mexicanus d
blind, mit abgerundeter Spitze. Bei Siphonops thomensis findet schon
in der Gegend des sechsten oder siebenten Nierensegmentes eine Unter-
brechung der Continuität des Ganges statt: das Vorderstück verliert bald
sein Lumen und verschwindet endlich, ohne dass sich eine scharfe Grenze
erkennen liesse. Ebenso verhält sich Coecilia lumbricoides, nur liegt hier
entspechend dem rudimentären Zustande des vordern Nierenabschnittes, das
Ende erheblich weiter nach hinten; ich kann den Kanal nicht bis zu den
vordersten losgelösten Stücken des Leydigschen Ganges verfolgen.
Längs der vordern zwei Drittel der Niere stellt der Müllersche Gang
einen sehr dünnen, oftmals streckenweise an der dorsalen Seite jener ge-
legenen Canal dar, der mit einem einfachen, niedrigen Cylinderepithel aus-
gekleidet ist. Weiter nach hinten zu verdickt er sich ziemlich plötzlich ganz
ausserordentlich und entwickelt in seiner Wandung mächtige, complieirt ge-
baute Drüsen. Bei Epierium glutinosum gewinnen diese einen solchen Grad
der Ausbildung, dass Günther sich dadurch hat verführen lassen, indem er
die fadenförmige Fortsetzung übersah, dieses Hinterende des Müllerschen
Ganges für den Hoden, den eigentlichen Hoden für eine zweite Fettkörper-
reihe zu erklären!), ein Irrthum, der ohne Anwendung mikroskopischer
Querschnitte allerdings leicht stattfinden konnte. Der Drüsenabschnitt des
Müllerschen Ganges, wie ich diesen Theil im Folgenden kurz bezeichnen
!) Günther, „Reptiles of British India,‘ p. 442. Ray Society, London, 1864.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 17
will, verläuft bis ans Hinterende der Niere; hier nimmt sein Durchmesser
ganz plötzlich ab, und das zum Vorderende der Kloake emporsteigende
Ende besitzt wieder nur dasselbe einfache Cylinderepithel wie der
vordere Abschnitt.
Die histologische Beschaffenheit dieses Drüsenabschnittes ist bei allen |
von mir untersuchten Arten so verschieden, dass es möglich wäre, danach
dieselben zu bestimmen. Ich will möglichst kurz das Wesentlichste an-
geben. Ueberall kann man ein Lumen und von demselben nach der
Peripherie ausstrahlende Drüsenschläuche unterscheiden. Die ersten Anfänge
dieser Drüsenentwicklung finden wir bei Siphonops annulatus. Hier springen
von dem dicken, den grössten Theil des Organes bildenden bindewebigen
Stroma unregelmässige Längsfalten in das Lumen des Canales ein; dieselben
sind von einem ziemlich niedrigen und kleinzelligen Cylinderepithel über-
zogen, das in verschiedenen Abständen im Grunde der von zwei Falten
eingeschlossenen Thäler in kurze schlauchförmige Drüsen übergeht, deren
hohe Cylinderzellen je einen deutlichen fein gekörnelten Kern besitzen.
(Taf. I. Fig. 16, dr). Bei allen übrigen Arten wird das Stroma sehr er-
heblich gegen die Drüsenmassen reducirt und es verschwinden die Längs-
falten. Das im Verhältniss zum Durchmesser des ganzen Organs sehr enge
Lumen ist bei Rhinatrema bivittata (Taf. I. Fig, 18 und 18a), Coecilia
rostrata und Siphonops mexicanus mit einem niedrigen Cylinderepithel aus-
gekleidet, das bei Siphonops indistinetus fast den Charakter eines Pflaster-
epithel sannimmt, während die Zellen desselben bei Epierium glutinosum eine
Höhe von 0.03 mm. erreichen. Wimperhaare finde ich hier nicht, da-
gegen bei Siphonops thomensis, bei Coecilia lumbricoides und bei Coecilia
rostrata in deutlicher Entwicklung. Bei Rhinatrema bivittata und Siphonops
mexicanus bildet dasselbe Epithel, welches das Lumen auskleidet, auch die
Drüsenschläuche, welche bei der erst genannten Art am zahlreichsten, bei
Coecilia rostrata, wo sich ihr Epithel nur durch den Mangel der Wimper-
haare von dem des eigentlichen Lumens unterscheidet, — in Folge des
jugendlichen Zustandes der untersuchten Exemplare? — am spärlichsten
sind. Bei den übrigen Arten bestehen die Drüsen aus hohen — bei
Siphonops thomensis zugleich sehr breiten — kleinkörnigen Cylinderzellen
und kleineren verschieden angeordneten Zellen anderer Form: sowohl auf
Querschnitten wie auf Längsschnitten solcher Drüsenschläuche finde ich
nämlich, zwischen den grösseren Zellen eingeschlossen, scheinbar freie
Kerne, theils an der Basis jener, theils in der Mitte oder auch in der
Nähe ihres freien Randes. An letzterer Stelle finde ich sie namentlich deutlich
in den schwach entwickelten Drüsen des linken Müllerschen Ganges von
Coecilia lumbricoides (Taf. I. Fig. 20); ob diese ungleichmässige Entwick-
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. IH. 2
18 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
lung der beiderseitigen Müllerschen Gänge bei dieser Art normal oder
pathologisch ist, kann ich nicht angeben, da ich nur ein Männchen zur
Untersuchung hatte; die Epithelien besassen übrigens kein krankhaftes
Aussehen. Der Basis der Drüsenzellen genähert finde ich diese Kerne
bei Siphonops indistinctus, in verschiedener Lage, meistens jedoch in mitt-
lerer Höhe, bei Epicrium glutinosum (Taf. I. Fig. 19, k‘). Bei letzterer Art
kann man ausser dem Lumen des Müllerschen Ganges und den Drüsen-
schläuchen noch einen Hals der Letzteren unterscheiden, dessen Wandung
aus einem einfachen Cylinderepithel — ohne freie Kerne — von etwas ge-
ringerer Höhe als das des Hauptlumens besteht. Bei Siphonops thomensis,
wo die Drüsenschläuche eine ungeheure Mächtigkeit besitzen, ist die Zahl
derselben auf einem Querschnitt eine geringere als bei S. indistinetus; und
noch zahlreicher sind dieselben bei Epicrium glutinosum, wo sie eine ausser-
ordentliche Länge erreichen: der grösste Durchmesser des auf dem Durch-
schnitt nahezu kreisrunden Drüsenabschnittes beträgt hier reichlich 1.5 mm.,
woraus sich für einen ungekrümmt verlaufenden Drüsenschlauch eine
Länge von 0.75 mm. ergiebt. Bei allen Arten verästeln sich die Drüsen
peripherisch.
Ehe wir uns zur Betrachtung der Geschlechtsorgane wenden, haben
wir noch einen Blick auf ein nur dem Larvenleben angehöriges Organ zu
werfen, von dem indessen Ueberreste auch bei erwachsenen Coecilien sich
finden können, nämlich auf das
Müllersche Knäuel.
So bezeichnet man zweckmässig mit Semper das durch Umbildung des
Vorderendes des primären Urnierenganges entstandene Organ, das seit Joh.
: Müllers Entdeckung bei Frosch- wie Salamanderlarven bekannt ist. Es
besteht für dasselbe eine sehr schwankende Nomenclatur: die älteren Au-
toren nennen es meistens „Wolf’’sche Drüse“, Wittich!) „Müller-Wolff’sche
Drüse*, Wilh. Müller?) „Vorniere*, Götte?) endlich „Urniere“. Auf
diese Bezeichnungen, sowie auf die Entstehung und morphologische Deu-
tung kann ich erst im entwickelungsgeschichtlichen Theil dieser Abhandlung
eingehen. Für jetzt begnüge ich mich mit einer kurzen Schilderung des
Knäuels, wie ich es an jungen, 65 mm. langen, männlichen Exemplaren
") v. Wittich. „Beiträge zur morphologischen und histologischen Entwickelung
der Harn- und Geschlechtswerkzeuge der nackten Amphibien“. — Z. f. w. Z. Bd. IV.
1853, S. 128 fi.
2) Wilh. Müller. „Das Urogenitalsystem des Amphioxus und der Cyclostomen“,
— Jen. Z, f. Nat. Bd. IX. S. 127, Taf. V. Fig, I.
®) Götte. „Entwickelungsgeschichte der Unke“, S. 819 ff.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 19
von Coecilia rostrata gefunden habe, bei denen allerdings schon die ersten
Spuren der Rückbildung kenntlich sind. Das Knäuel hat sich bereits vom
Müllerschen Gange abgelöst und ist — wenigstens an der linken Körper-
hälfte, aus der das Taf. II. Fig. 21 abgebildete Knäuel entnommen ist —
bereits in zwei von einander isolirte Stücke zerfallen. An der rechten
Seite waren die Theile dichter auf einander gepackt und ausserdem bei der
Präparation etwas verletzt. Dasjenige der linken Seite bestand aus vielfach
durcheinander geschlungenen Canälen, deren Zusammenhang im Einzelnen
nicht verfolgt werden konnte. Die dem hinteren Abschnitt angehörigen
endigten in derselben Weise, wie es nach Göttes!) und Wilh. Müllers!)
Beobachtungen von dem Müllerschen Knäuel der Anuren bekannt ist, mit
drei trichterförmigen Oeffnungen (tr), deren Epithel in das der Leibeshöhle
überging, und, wie an einigen Stellen deutlich zu erkennen war, mit langen
Geisselhaaren besetzt war. Ein vierter, ganz übereinstimmend gebauter
Trichter fand sich an dem vordern losgelösten Abschnitt. Von einem
diesen Oeffnungen des Knäuels gegenüberliegenden Gefässknäuel, wie es bei
Anuren und Urodelen vorkommt, fand ich nichts. Bei einem 40 mm. langen
Exemplar derselben Art war die Rückbildung bereits weiter vorgeschritten;
bei einem Männchen von 95 mm. Länge fand ich keine Spur des Knäuels
mehr. Ebenso vermisste ich dasselbe bei der Larve von Siphonops, welche
die segmentale Anlage der Niere so klar zeigte. Nicht anders erging es
Peters mit den durch die merkwürdigen blasenförmigen Kiemen ausgezeich-
neten Larven von Coecilia compressicanda; „Von Organen, welche als
Wolff’sche Primordialnieren zu deuten wären, fand ich nichts vor“). Da-
gegen zeigte ein geschlechtsreifes Männchen von Siphonops thomensis ein
stattliches Rudiment des Knäuels (Taf. II. Fig. 22). Es bestand aus
ziemlich unregelmässigen verästelten Schläuchen, die von einem hellen
grosskernigen Epithel ausgekleidet waren. Ein Zusammenhang des Lumens
derselben mit der Leibeshöhle durch trichterförmige Oeffnungen war nicht
zu constatiren.
Die Geschleehtsdrüsen.
Die Geschlechtsdrüsen (Taf. I. Fig. 1 und 2) der Coecilien liegen in
der Regel in der Gegend etwa des mittlern Drittels der Niere; bei den
Weibchen erstrecken sie sich etwas weiter nach hinten. In beiden Ge-
schlechtern sind sie an der ventralen Fläche eines Aufhängebandes ange-
asanO,
?) Peters. „Entwickelung der Coecilien“. — Berl. Monatsbericht 1875, 19. Juli,
S. 485.
9%
20 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
bracht, das den lateral von ihnen gelegenen, sehr langgestreckten und ge-
lappten Fettkörper mit der Wurzel des Darmmesenteriums verbindet. »o-
wohl die Eierstöcke als auch die Hoden beider Körperhälften sind meistens
annähernd von gleicher Länge und liegen nicht, wie bei den Schlangen,
hinter, sondern symmetrisch neben einander. Das Vorderende findet man
stets in der Gegend des hintern Leberendes. Bis hierhin gehen auch die
Fettkörper nach vorn, während sie sich hinten über das Ende der Ge-
schlechtsorgane hinaus bis an den Anfang der Kloake fortzusetzen pflegen.
Der Eierstock.
Leider war bei keiner der vier ausgewachsenen weiblichen Coeeilien,
Siphonops annulatus, S. mexicanus, Coecilia lumbricoides und Epierium
glutinosum, die histologische Erhaltung des Eierstockes eine genügende. Ich
kann daher nur Einiges angeben, was sich mehr auf die äussere Gestalt des
Organs bezieht. Dasselbe (Taf. I. Fig. 2, 0.) erscheint als ein etwas platter, an
den breitesten Stellen etwa 2 mm. breiter Körper, dessen Oberfläche durch die
grösseren Eier stark bucklich erscheint. Seine Länge steht nicht immer im Ver-
hältniss zur Länge des Thieres: bei der langgestreckten Coecilia lumbricoides
mass das rechte Ovarium nur 20 mm., das linke gar nur 15 mm., während
bei den viel gedrungeneren Siphonops annulatus und Epicrium glutinosum
die Länge der Eierstöcke 90 resp. 95 mm. betrug. Einen Hohlraum, in
den die Eier hineinhängen, konnte ich erst mit Hülfe von Querschnitten
finden. Die grössten Eier hatten bei Coecilia Iumbricoides einen Durch-
messer von 1 mm., bei Epierium und Siphonops einen Durchmesser von
1 bis 1.5 mm. Ueber die Beschaffenheit des Dotters der Coecilieneier
spricht Rathke sich in seinen „Bemerkungen über mehrere Körpertheile der
Coecilia annulata‘‘ !) folgendermassen aus: „Der Inhalt der Eier bestand
nicht hauptsächlich aus solchen an den Ecken abgestumpften Täfelchen, wie
man in den Eiern der Frösche, Kröten und Molche findet, sondern haupt-
sächlich aus kugelrunden Formelementen, die meistens 0.0005”, höchstens
0.0006 zum Durchmesser hatten und wahrscheinlich in Folge der Einwir-
kung des Weingeistes fein granulirt erschienen. Ausserdem aber waren in
den einzelnen Eiern 2 bis 3 zerstreut liegende rundliche Körper vorhanden,
deren Durchmesser bis 0.0070” betrug, und die der Hauptsache nach aus
dicht gedrängt beisammenliegenden dünnen, spiessförmigen und spindelför-
migen Elementen von 0.0005“ bis 0.0009” Länge bestanden. Diese Ele-
mente eines jeden solchen Körpers wären übrigens so geordnet, dass sie mit
ihrem einen Ende der Mitte, mit dem andern der Oberfläche desselben zu-
1) Müllers Archiv 1852, $. 350.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. Pal
gekehrt lagen. Essigsäure, Salzsäure und caustisches Kali lösten sie nicht
auf.“ Sollten sich die Coccilien thatsächlich nicht nur von den übrigen
Amphibien, sondern von allen.übrigen Wirbelthieren in der Zusam-
mensetzung des Dotters in so merkwürdiger Weise entfernen? Rathkes
Schilderung dessen, was er gesehen hat, ist wie stets auch in diesem Falle
eine durchaus zutreffende, nur bezieht sie sich, wie aus der später zu er-
wähnenden Beschreibung der Kleake sowohl als auch der äusseren Gestalt
des Organs selbst (vergl. oben S. 3) aufs Klarste zu erweisen ist, nicht auf
den Eierstock, sondern auf den Hoden: Rathke untersuchte nicht ein Weib-
chen, sondern ein Männchen. Es stimmt damit überein, wenn er sagt: ‚Im
Innern liessen sie — i. e. die Ovarien — nirgends eine Höhlung bemerken,
sondern schienen völlig dicht zu sein.‘
Was die mikroskopische Untersuchung der Eier an den erwachsenen
Thieren mir ergeben hat, ist Folgendes. Der Dotter bestand aus grossen
(0.016 bis 0.023 mm.) Schollen, welche sich von denen der Frösche nur da-
durch unterschieden, dass sie nicht, wie dort, viereckige Täfelchen mit ab-
gerundeten Ecken, sondern unregelmässig gestaltete, anscheinend nicht ein-
mal stets platte Körperchen darstellten; sie zeichneten sich im Uebrigen
durch ebensolchen wachsartigen Glanz aus, zeigten auch ein gewisses Im-
bibitionsvermögen für Hämatoxylin, wie die Täfelchen des Froschdotters.
Das meist etwas. eccentrisch gelegene Keimbläschen mass bei Coecilia
lumbrieoides 0.15 mm., bei Epierium glutinosum 0.08 mm., bei Siphonops
annulatus 0.18 mm. im Durchmesser. Dasselbe enthielt stets eine bedeu-
tende Anzahl von grösseren und kleineren Keimflecken, welche der Wand
des Keimbläschens ansassen; ihr Durchmesser betrug bis zu 0.01 mm, Die
Eier lagen in einem aus platten Zellen gebildeten Follikel; eine Darstellung der
Zellgrenzen desselben gelang nicht, dagegen traten die Kerne nach Färbung mit
Hämatoxylin sehr deutlich hervor. Befriedigendere Resultate lieferten nicht
geschlechtsreife Exemplare von Coecilia rostrata (130 und 150 mm.). Der
Eierstock erschien hier dem blossen Auge als eine Längsreihe isolirter, kaum
sichtbarer weisslicher Knötchen: es waren dies die grössten Eier, von
Durchmessern bis zu 0.5 mm. Sie waren wie bei den erwachsenen Thieren
von einem plattzelligen Follikel umschlossen. In ihrem Innern erkannte
man leicht ein etwas eccentrisch gelegenes Keimbläschen mit mehreren
Keimflecken. Legt man durch denjenigen Theil eines Eierstocks, in dem
sich ein solches Ei entwickelt hat, einen Querschnitt (Taf. I. Fig. 14), so
findet man das Ei (ov.) sammt seinem Follikel (fo.) rings von Bindegewebe
umschlossen, und an der Unterseite einem platten Hohlraum aufliegend. Von
einem Zusammenhang des die Oberfläche überziehenden Peritonealepithels
mit dem des Eifollikels ist keine Spur zu finden. Ein ganz anderes Bild
22 SPENGEL: Das Urogeuitalsystem der Amphibien.
gewährt ein Schnitt, der durch den zwischen zwei Eiern gelegenen Ab-
schnitt des Ovariums geführt ist (Tafel I, Fig. 13). Auch hier finden wir
allerdings einen von Bindegewebe umschlossenen platten Hohlraum, aber
an der ventralen Oberfläche desselben ist an Stelle des platten Peritoneal-
epithels ein hohes Zellenlager aufgetreten, in dem wir eine Anzahl von
Zellen erkennen, welche vollständig mit den von Waldeyer !) beim Hühn-
chen und später von Semper ?) ausführlich im Keimepithel der Plagiostomen
beschriebenen ‚Primordial- oder Ureiern‘‘ übereinstimmen. Die Schilderung
des letztgenannten Autors ‚sie sind wie blasig aufgetrieben, unregelmässig
gekörnt und färben sich nur sehr schwach in Hämatoxylin‘‘?) gilt auch für
die Kerne der Ureier des Coecilienovariums vollständig. Selbst ihr Durch-
messer, der 0.011 bis 0.017 mm. beträgt, stimmt mit dem von Semper
beobachteten — 0.015—0.018 mm. — nakezu überein, und ebensowenig
fehlen bei unsern Thieren die schmalen Kerne, welche bei den Selachiern
zwischen den Ureiern liegen. Nach beiden Seiten hin fällt. diese Ureier-
platte allmählich ab, um ohne scharfe Grenze in das Peritonealepithel über-
zugehen, aus dessen Zellen sie offenbar durch eine Umwandlung irgend
welcher Art entstanden sind. Ob dies durch Verschmelzung mehrerer Zellen
zu einem Urei, wie es nach Götte bei den Unken geschehen soll, odor ein-
fach durch Auswachsen einer Zelle zu einem Urei geschieht, kann ich an
dem mir zu Gebote stehenden Material für die Coecilien nicht entscheiden.
Flächenansichten (Taf. I. Fig. 12) liessen nicht hinreichende Einzelheiten
unterscheiden; allmähliche Uebergänge zwischen den Ureiern und typisch
ausgebildeten Eiern fehlten allem Anscheine nach in den untersuchten
Stadien. Querschnitte ergaben leider kein ganz befriedigendes Resultat, da
die Ureierplatte sich in den meisten Präparaten ablöste und dann in der
Regel sich in der Flächenansicht darbot. Ich komme im entwickelungsge-
schichtlichen Abschnitt ausführlich auf die Frage nach der Eibildung zurück.
Die Lagerungsbeziehungen der Ureier zu den ausgebildeten Eiern ergeben
sich aus Taf. I, Fig. 11, wo die durch die Eier (ov.) in eine Reihe einzelner
Stücke zerlegte Ureierplatte (u.) durch den dunkleren Ton bezeichnet ist.
Die Hoden.
Die Hoden liegen, wie bereits erwähnt, gleich den Ovarien an der ven-
tralen Fläche des Fettkörpermesenteriums, ihr Vorderende in der Gegend
des Hinterendes der Leber (Taf. I. Figur 1.). Die Gestalt derselben kann
sehr verschieden sein: bald stellen sie eine Reihe nahezu gleich grosser _
!) Waldeyer, „‚Eierstock und Ei“, S. 137.
2) „Urogenitalsystem‘“. 8. 336 ff.
2) aa.0, S. 338.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 23
isolirter Körper-dar, deren jeder als ein gesonderter Hode erscheint, so bei
Epierium glutinosum und Coecilia rostrata, bald aber sind die Lücken zwi-
schen den einzelnen Abtheilungen ganz unregelmässig, so bei Siphonops
mexicanus, S. indistinetus, S. thomensis und Coecilia lumbricoides. Da hier
offenbar sowohl individuelle als auch Altersverschiedenheiten betheiligt sind,
so verzichte ich auf eine detaillirte Beschreibung der einzelnen Hodenfor-
men und verweise auf die in den Fig. 1 Taf, I und Fig. 43 Taf. II abgebil-
deten Extreme. Das allen Gemeinsame liest in der übereinstimmenden Be-
ziehung der die einzelnen Abschnitte zusammensetzenden Elemente zu einem
Sammelgang, der die ganze Hodenreihe durchzieht, wie die Schnur eine Per-
lenkette. Schon makroskopische Be‘rachtung eines Hodenstückes lehrt, dass
dasselbe aus eimer grösseren oder geringeren Anzahl kugliger, um eine
Längsachse angeordneter Gebilde besteht (Taf. II. Fig. 23 und 25). Am
Leichtesten übersieht man die Verhältnisse an Längsschnitten von Hoden
jugendlicher Thiere; ich werde deshalb bei meiner Schilderung von einem
solchen ausgehen. Fig. 25. Taf. II zeigt uns einen Längsschnitt aus der
Mitte eines Hodenabschnittes von Coecilia rostrata bei schwacher Vergrös-
serung. Der an einem TEnde eintretende Sammelgang (s) giebt an die ihn
umgebenden Kapseln kurze Seitenzweige ab, und tritt am andern Ende
wieder aus, um in das nächste Glied der Hodenkette einzutreten (Fig 23,
Taf. II). Die Unterbrechung des Canals, welche sich in dem abgebildeten,
treu nach einem Präparat gezeichneten Durchschnitte findet, rührt natürlich
nur von einer geringen Krümmung desselben her, infolge deren ein Stück
des Canales aus der Schnittfläche gerückt war. Bei älteren Thieren, wo
sich die Zahl der Kapseln bedeutend vermehrt und der Sammelgang sich
in Zusammenhang damit reicher verzweigt hat, erhält man keine so klaren
Bilder. Auf dem Taf. II, Fig. 24 abgebildeten Querschnitt aus dem
Hoden eines erwachsenen Epierium glutinosum sind neun Kapseln getroffen,
ein noch relativ einfaches Verhältniss. In dem die Kapseln trennenden und
umhüllenden bindegewebigen Stroma erblicken wir vier Canäle, von denen
drei, im Längsschnitt getroffen, sich mit einander vereinigen, während der
vierte, quer durchschnittene, isolirt erscheint. Ob dieser letztere oder die
gemeinsame Fortsetzung der drei Canäle den eigentlichen Sammelgang dar-
stellt, könnte nur aus einer Vergleichung successiver Querschnitte erschlossen
werden; hinsichtlich sowohl ihres Lumens als auch der Epithelauskleidung
desselben bestehen zwischen dem Sammelgang und seinen Zweigen keinerlei
Verschiedenheiten:: sie besitzen sämmtlich ein niedriges wimperloses Cylinder-
epithel. An der Stelle, wo ein solcher Canal in eine Hodenkapsel übergeht,
erweitert er sich ein wenig, oftmals deutlich trichterförmig, und gleichzeitig
erfolgt eine eigenthümliche Veränderung seines Epithels,. Zwischen den ge-
94 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
wöhnlichen Zellen mit ellipsoidischen Kernen treten einzelne auf, deren
grosse, runde Kerne sich in unsern Tinctionsflüssigkeiten nur blass färben,
fein gekörnelt erscheinen, ein oder mehrere ziemlich grosse Kernkörperchen
besitzen, kurz alle Eigenschaften eines Ureies an sich tragen. Da indessen
für einen Bestandtheil der männlichen Keimdrüse die Bezeichnung „Urei”
unpassend erscheint, so acceptire ich den von Semper für die analogen
Gebilde des Selachierhodens vorgeschlagenen indifferenten Namen „Vorkeim“ !)
auch für die Amphibien. Die Berechtigung dieses zunächst nur auf das
gleiche Aussehen dieser Zellen bei beiden Thierclassen begründeten Verglei-
ches wird sich im Laufe der weiteren Darstellung ergeben.
Die Kapseln, an welche die eben beschriebenen Sammelcanäle heran-
treten, sind ausserordentlich complieirt gebaut. Wenn Leydig sie als „ge-
stielte Blasen‘‘ bezeichnet 2), so entspricht dies mehr dem oberflächlichen Ein-
druck als dem thatsächlichen Verhalten. Der Inhalt einer jeden solchen Kapsel
besteht seiner Hauptmasse nach aus einer Substanz, über deren wahre Natur nur
die Untersuchung frischer Tbiere Aufschluss geben kann: sie macht mir den
Eindruck, als sei sie im lebenden Thiere eine zähe schleimige Masse. An den
Spirituspräparaten ist sie geronnen und ziemlich fest geworden, erscheint
aber nicht, wie Schleim meistens, fein körnig, sondern eigenthümlich fasrig,
ohne dass indessen dieses Aussehen durch wirkliche Fasern bedinst wäre.
Es gelang mir nicht, in einer Zeichnung den Charakter dieses Schleimnetzes
richtig wiederzugeben. Es füllt dasselbe die ganze Kapsel mit, Ausnahme
eines vor der Mündung des Sammelganges liegenden Raumes, vollständig
aus. Der Gedanke, sie könne das Product des Zerfalls verbrauchter Zell-
ballen sein, wird durch die Thatsache ausgeschlossen, dass sie sich schon
in den Kapseln von ganz jungen Hoden typisch entwickelt findet, obwohl
es dort noch nicht einmal zur Bildung eigentlicher Zellballen gekommen
ist (Taf. I, Fig. 36.). Auf Querschnitten solcher junger Kapseln sieht man,
dass die centrale Schleimmasse peripherisch von einer nicht mehr ganz ein-
fachen Zellenschicht umgeben ist, die mit dem Epithel des Sammelgauges
zusammenhängt. Im Umkreise dieses Letzteren liegen die bereits oben be-
schriebenen Vorkeime und breiten sich von da über einen bald grösseren, bald
geringeren Theil der kugligen Oberfläche der Schleimmasse aus. Zwischen
ihnen liegen wie bei den Ureiern junger Ovarien schmale Kerne. In einiger
Entfernung vom Sammelgang ändern sich plötzlich diese Zellen: die schmalen
Kerne verschwinden — wahrscheinlich nur scheinbar, indem sie unter Ver-
mehrung ihres Volumens den Vorkeimen ähnlich werden — und man findet
1) Semper, „Urogenitalsystem‘“, S. 363.
2) Leydig, „Lehrbuch der Histologie‘, S. 491.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 95
nur noch gleiche blasse Kerne mit grossen deutlichen Kernkörperchen,, die
sich von den Vorkeimen nur dadurch unterscheiden, dass kein sie umhüllen-
der Protoplasmaleib sie von der Schleimmasse trennt. Ich bin indessen
geneigt, anzunehmen, dass nur das gleiche optische Verhalten beider Sub-
stanzen diesen Eindruck verursacht. Diese Vorkeimkerne nun findet man
in der ganzen übrigen Peripherie der Kapsel, doch häufig unterbrochen von
Haufen ganz anders beschaffener Zellen, welche nicht wohl etwas Anderes
sein können, als Erzeugnisse der Theilung jener Vorkeime. Sie unterscheiden
sich von den Vorkeimen durch ihre etwas kleineren und sehr grob ge-
körnten Kerne, in denen nicht, wie bei jenen, einzelne deutliche Kernkör-
perchen zu erkennen sind. Weiter geht die Differenzirung des zelligen
Inhalts der Hodenkapseln in diesem Entwickelungsstadium nicht: es wird
repräsentirt durch eine Coecilia rostrata von 95 mm. Länge.
Die Untersuchung älterer Hoden lehrt nun zunächst, dass die zuletzt
besprochenen Zellhaufen die Herde darstellen, von denen die Bildung der
Spermatozoen ausgeht. Grössere Ballen dieser Zellen werden ins Innere der
Hodenkapsel hineingedrängt und von der Schleimmasse umschlossen. Es sind
jetzt, wie namentlich bei jugendlichen Exemplaren von Coecilia rostrata deutlich
zu sehen war, echte Zellen mit einem nackten Protoplasmaleib und einem grossen
runden Kern (Taf. II. Fig. 27). Der Durchmesser des ersteren, der nach der
offenbar infolge amöboider Bewegungen schwankenden Gestalt variirt, beträgt
bei Epierium glutinosum durchschnittlich etwa 0.016 mm., der des Kernes
0.013 mm. Für die übrigen Arten ergaben sich nahezu dieselben Werthe.
Während von der Peripherie immer neue Zellballen nachrücken, findet in
den zuerst eingewanderten eine lebhafte Vermehrung und gleichzeitige Ver-
kleinerung der Zellen statt, zunächst ohne Formveränderung: es bleiben die
Zellen ziemlich kuglig mit runden grobkörnigen Kernen (Fig. 28). Erst wenn die
Zellen durch fortgesetzte Theilung auf ein gewisses Mass verkleinert sind,
wenn nämlich der Durchmesser ihrer Kerne nur noch 0.005 bis 0.006 mm.
beträgt, beginnt eine Aenderung der Form. Mit dem Kerne streckt sich
die ganze Zelle erst wenig (Fig. 29), dann immer mehr in die Länge, bis sie
stäbehenförmig erscheint (Fig. 30); die Kerne erreichen bei Epierium gluti-
nosum eine Länge von 0.008 mm., bei Siphonops indistinctus von 0.010 mm.
Während auf allen bisher geschilderten Stadien um den Kern stets eine feine
Protoplasmaschicht zu erkennen gewesen ist, findet von jetzt ab auch in
dieser Beziehung eine Umgestaltung statt. Die vorher meistens regellos inner-
halb der von den ersten Zellballen in der Schleimmasse erzeugten Hohlräume
daliegenden Zellen, beginnen sich jetzt längs der Wand regelmässig radiär
zu ordnen, so dass sie mit den langen Seiten einander berühren, während
sich gleichzeitig das Zellprotoplasma an dem nach der Peripherie des
26 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Hohlraumes gerichteten Ende des Kernes anhäuft (Fig. 31). Auch dieser hat
seine Beschafienheit geändert: er ist nicht mehr körnig, sondern ganz homogen
geworden. Diese Ballen von Stäbchenkernen hat offenbar Rathke vor sich
gehabt; seine Beschreibung, nach der in den vermeintlichen Eiern, eben
_ den Hodenkapseln, „2 bis 8 zerstreut liegende rundliche Körper vorhanden
waren, deren Durchmesser bis 0.0070” (— 0.183 mm.) betrug und die
der Hauptsache nach aus dicht gedrängt beisammenliegenden dünnen spiess-
förmigen oder spindelförmigen Elementen von 0.0005“ bis 0.0009" (0.013
bis 0.023 mm.) bestanden, welche so geordnet waren, dass sie mit ihrem
einen Ende der Mitte, mit dem andern der Oberfläche des Körpers zugekehrt
lagen, stimmt recht gut zu meinen Befunden, nur ist die grösste Länge der
spiessförmigen Elemente, meiner Stäbchenkerne, etwas zu hoch angegeben ;
ich finde sie bei Siphonops annulatus, welche auch Rathkes Angaben zu
Grunde liest, nicht länger als 0.013 mm., was also etwa mit Rathkes niederster
Zahl übereinstimmt. In Betreff der übrigen Arten verweise ich auf die
folgende Tabelle, in welcher ich die Kerndurchmesser der Samenbildungs-
zellen in einer Reihe verschiedener Stadien zusammengestellt habe. Die
runden Kerne sind beständig in Verkleinerung begriffen unter gleichzeitig
starker Vermehrung ihrer Zahl. Diese bleibt von nun an die gleiche, und
die einzige Veränderung betrifft die Gestalt und histologische Struetur: die
Kerne der Spalte 5 sind noch körnig und allseitig von Protoplasma um-
geben, die der folgenden bereits homogen geworden, und das Protoplasma
ist an eines ihrer Enden gerückt.
Runde Kerne | Stäbchenkerne
Vorkeimkerne
Spermatozoen-
köpfe
le |» |ejelele
Epicrium glu- /0.0126—10.0105—10.0084— 0.00535— 10.0084><|0.010510.0105>0.0105x
tinosum /0.0163 10.0126 [0.0105 10.0065 10.0042 10.0027 [0.0015 10.0015
Siphonops an- 10.0126—\0.0105— 994 Io.ongs |9:0095><|0.0126>10.0147<10.0147=
nulatus [0.0147 10.0126 | 9 [0.0053 |0.0042 10.0021 10.0021
Siphonops _ \0.0126— 0.0105><!0.0168>|0.0147><|0.0147>
mexicanus 0.0147 0.0105 0.0082 0.0063 |, oo6s 10.0042 \o.0021 0.0021
Siphonops in-0.0105— 0,0105 —0.0084— 0.0105><10.0210%X 0.0190 |0.0190%x
distinetus 0.0126 |0.0126 0.0105 9.0063 10.0053 [0.0042 |0.0021 0.0021
Coecilia lum- |0.0084— 0.0084><!0.0095><|0.0063><10.0063><
bricoides 0.0126 |9.0105 0.0074 10.0053 0.0042 0.0032 [0.0015 !0.0015
Coecilia ros- \0.0105— 0.0126
trata \0.0126 |9.0084 0.0063 10.0042 — |0.0042 — Ze
ne nn Tr TG TT— nn
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 27
Neben den gestreckten Zellen findet sich in allen Ballen eine bald
geringere, bald grössere Zahl von runden Zellen, meistens von der Grösse
der Spalte 3 oder 4. Es sind offenbar Nachzügler, die entweder mit den
reifen Spermatozoen entleert werden, wie in dem Hoden von Epicrium
elutinosum, aus dem der Querschnitt, Fig. 26, entnommen ist; oder aber
sie degeneriren bereits innerhalb des Hodens, wenn man so gewisse Gerinnsel
deuten darf, die sich bei Siphonops indistinetus und andern Formen neben
den Samenbildungszellen vorfinden. Welche Bedeutung den einzeln in der
Schleimmasse zerstreuten Kernen zukommen mag, kann ich nicht sicher
angeben: dass sie nicht etwa auch zurückgebliebene Samenbildungszellen
sind, geht aus ihrer Structur hervor, die deutlich eines oder wenige grosse
Kernkörperchen erkennen lässt; ich möchte eher glauben, dass sie direct
von den Vorkeimen abstammen, denen sie ihrem Aussehen nach vollkommen
gleichen, und mit denen sie vielleicht die Function der Absonderung der
Schleimmasse theilen.
Die weitere Umbildung der zuletzt beschriebenen Form der Samenbil-
dungszellen scheint wesentlich in einer Streckung des Protoplasmaanhanges
zum Schwanz des Spermatozoons zu bestehen, während der Kern unzweifel-
haft zum Kopf desselben wird, ohne auch nur eine Gestaltsveränderung zu
erfahren. Eine genaue Erkenntniss der Form des ausgebildeten Sperma-
tozoen gelang leider nur bei Siphonops indistinetus; bei,allen übrigen Arten
waren meistens die Schwänze derselben im Spiritus zu Grunde gegangen oder
doch nur noch in Spuren zu erkennen. Bei jener Art dagegen war der Er-
haltungszustand ein vortrefflicher. Ich konnte an den Spermatozoen deutlich
drei Hauptabschnitte unterscheiden, Taf. II, Fig. 32, ein mittleres Stück, in
dem der Kern der Bildungszelle wiederzuerkennen ist, ein ausserordentlich
feiner, etwa 0.04 mm. langer Schwanz und am Vorderende ein scheinbar
durch eine kleine Lücke getrennter zipfelförmiger Anhang, ‘der aussieht wie
ein Wimperhaar, von etwa 0.006 mm. Länge. Ein undulirender Saum war
nicht vorhanden.
Während dieser letzten Entwickelungsvorgänge geben die Spermatozoen
ihre vorher angenommene regelmässige Anordnung wieder auf, gerathen in
ein regelloses Durcheinander und rücken nun haufenweise durch den
Schleim hindurch in den an der Mündung des :Sammelcanales gelegenen
primären Hohlraum der Hodenkapsel, um von hier aus ihre Wanderung in
die Niere hinein anzutreten, Ehe wir sie auf dieser verfolgen, müssen wir
noch einen Blick auf das Wachsthum und die Entstehung des Hodens
werfen. Ueber die Letztere vermag ich zwar keine vollständige Auf-
klärung zu bieten; allein durch die ausserordentliche Güte des Herrn Prof.
Möbius, der mir eine Anzahl seiner jüngsten Exemplare von Coecilia
98 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
rostrata überliess, war ich in den Stand gesetzt, einige für diese Fragen
sehr wichtige Entwicklungsstadien zu untersuchen.
Bei dem kleinsten Exemplar — von einer Gesammtlänge von nur
40 mm. — bestand die Anlage der Geschlechtsorgane in einem jederseits
etwa in der Mitte des Fettkörpermesenteriums parallel der Körperachse
ziehenden feinen Zellstrang von einem durchschnittlichen Durchmesser von
0.023 mm. Zum grössten Theil bestand er aus dicht stehenden spindel-
förmigen Zellen oder, genauer gesagt, Kernen, denn Zellgrenzen waren nicht
zu unterscheiden. An einzelnen Stellen nun, wo der Durchmesser des
Stranges etwas stärker war, lagen zwischen diesen spindelförmigen Kernen
deutliche kuglige oder ellipsoidische Zellen mit hellem Protoplasma und
einem grossen runden Kern, der fein körnig war und eines oder mehrere
grosse Kernkörperchen enthielt, kurz, wie der eines Ureies aussah, dem er
auch hinsichtlich der Grösse (0.011 bis 0.013 mm.) glich. Einzelne der
Spindelkerne umschlossen diese Vorkeime wie ein Follikel. Dass dieser
Zellstrang die Anlage der männlichen Geschlechtsdrüse darstellt, ergiebt sich
mit Sicherheit aus zwei Thatsachen. Es lag derselbe unterhalb des Perito-
nealepithels, war also bereits in das Bindegewebe des Mesenteriums ein-
gesenkt, während, wie wir oben gesehen, die Ureierplatte der weiblichen
Keimdrüse noch sehr viel länger vollständig dem Peritoneal- resp. Keim-
epithel angehört. Ausserdem hatte sich bereits die Verbindung mit der
Niere vollzogen: von einzelnen Punkten der Hodenanlage zogen dünne Zell-
stränge, anscheinend noch ohne Lumen, bis zur Niere. Wir kommen auf
dieselben bei Besprechung der Ausführungsgänge des Hodens zurück.
Das nächste Stadium lieferte ein Thier von 65 mm. Körperlänge. Der
auch hier noch vorhandene Zellstrang zeigte jetzt eine Anzahl bereits mit
blossem Auge als weisslicher Punkte erkennbare, in ziemlich regelmässigen
Abständen hinter einander vertheilte Anschwellungen. Von diesem Stadium
gelang es, eine Anzahl guter Querschnitte anzufertigen, mit Hülfe deren die
aus der Flächenansicht gewonnene Anschauung ergänzt und controlirt
werden konnte. Zwischen den einzelnen Anschwellungen besass der Strang
ziemlich noch dieselbe Structur wie bei dem jüngsten Thier: seine Haupt-
masse bestand aus Spindelzellen, zwischen denen jedoch die Zahl der Vor-
keime stark zugenommen hatte (Taf. II, Fig. 41 und 42). Von ihm ent-
sprangen Züge von Zellen, welche die Verbindung mit der Niere herstellten.
Die Anschwellungen zeigten sich wesentlich bedingt durch die Vermehrung der
Vorkeime, die jetzt bereits, einzeln oder zu mehreren von den spindelförmigen
Zellen umschlossen, junge Follikel darstellten (Taf. II, Fig. 39 und 40.).
Leider fehlen mir jetzt wichtige Stadien zwischen dem eben beschriebenen
und in Fig. 23 abgebildeten, wo bereits die Hodenkapseln ihre typische
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 99
Gestalt und Anordnung angenommen haben. Es ist dies um so mehr zu
bedauern, als ich deshalb eine Anzahl Fragen unbeantwortet lassen muss,
die für die Auffassung der einzelnen Theile des erwachsenen Hodens von
grosser Wichtigkeit sind, Es betreffen dieselben hauptsächlich die Ent-
stehung des Sammelganges, seine Verbindung mit den Kapseln und die Bildung
dieser. Ein eigentlicher Sammelgang mit einem Lumen besteht indem Stadium
von 65 mm. Körperlänge noch’ nicht; und auf Querschnitten durch die An-
schwellungen (Taf. II, Fig. 40) findet man nicht einmal Zellenmassen, die man
mit Sicherheit für eine Anjage desselben erklären könnte. Dass die schmalen |
Verbindungsstränge zwischen je zwei Anschwellungen direct durch Aushöhlung
zu dem später zwischen zwei Hodenmassen liegenden Abschnitte des Sammel-
ganges werden, dürfte allerdings wol kaum zu bezweifeln sein, da in dem folgen-
den Stadium die Wandung des Sammelganges.noch zahlreiche vorkeimähnliche
Zellen enthält. Ueber die Entstehung des innerhalb der Hodenmassen gelegenen
Abschnittes will ich keine Vermuthungen aussprechen. Nur solche könnte ich
auch über die Bildung der Hodenkapseln aufstellen; es ist offenbar ebenso gut
möglich, dass je ein junger Follikel zu einer Hodenkapsel wird, undin dem Falle
wären diese also auch als gleichwerthig mit den Hodenfollikeln der übrigen
Amphibien aufzufassen ; werden dagegen mehrere junge Follikel zu einer Kapsel
vereinigt, wie es nach dem Aussehen einer solchen Anschwellung sowohl als
auch nach der geringen Zahl der Kapseln eines jungen Hodens den An-
schein hat, so ist eine Hodenkapsel der Coecilien nicht gleichwerthig mit
einem Follikel z. B. eines Salamanderhodens. Soll man dann vielleicht die
Ballen von Samenbildungszellen, welche sich von der peripherischen Vor-
keimschicht ablösen und in die Schleimmasse auswandern, als Follikel be-
zeichnen ? Ich glaube nicht, kann die Frage aber erst eingehender erörtern,
nachdem ich auch das Verhalten des Hodens. der übrigen Amphibien ge-
schildert habe. Aus diesem Grunde habe ich es vorgezogen, einstweilen
die indifferenten Bezeichnungen Kapseln und Zellballen zu benutzen.
In dem nächsten Stadium, das zur Beobachtung kam, waren bereits
isolirte Hodenmassen mit typisch entwickelten Kapseln vorhanden. Eine
jede solche Kapsel stand durch einen kurzen Ast mit dem Sammelgange in
Verbindung. In dem Epithel des Letzteren fanden sich zahlreiche vor-
keimähnliche Zellen. Die Kapsel war bereits erfüllt von der Schleimmasse,
der einzelne Kerne eingestreut waren; an der Mündung des Sammelganges
fand sich auch schon ein von der Schleimmasse freigelassener, mit jenem
- frei communieirender Hohlraum. Die Peripherie nahmen Vorkeime (vk) und die
ersten Stadien der Samenbildungszellen (sb) ein (Taf. II, Fig. 36.). Die Zahl
der Kapseln in je einer Hodenmasse war eine sehr geringe; sie betrug
meistens nur zehn bis zwölf, bei einem etwas älteren Thier dagegen etwa
30 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
zwanzig und bei den erwachsenen Exemplaren von Epicrium , Siphonops
und Coecilia vierzig, funfzig und noch weit darüber. Es entsteht
sonach die Frage, wie die Vermehrung der Kapseln erfolst. Von einer
Einstülpnng neuer Bildungszellen vom Peritonealepithel habe ich nirgends
eine Andeutung gefunden, obwohl ich hunderte von Schnitten durchmustert
habe; bei den jungen Hoden hätten sie schwerlich übersehen werden
können. Das Einzige, was auf eine genetische Beziehung des Peritoneal-
epithels zu der Hodenanlage hinweisen könnte, ist eine erhebliche Ver-
dickung desselben in der Ausdehnung der Geschlechtsdrüse bei der Coecilia
rostrata von 65 mm., wie aus dem Querschnitt, Taf. II, Fig. 40, e, deut-
lich ersichtlich ist: es kommen in diesem verdickten Epithel, das übrigens
wie sonst spindelförmige Kerne enthält, vereinzelt auch runde ureiähnliche
Zellen vor. Bedenkt man dagegen, dass sowohl in dem Epithel der ersten
Anlage des Sammelganges als auch in späteren Stadien — Ss. z. B. den
Fig. 38 abgebildeten Schnitt aus dem Hoden einer 130 mm. langen Coecilia
rostrata — Vorkeime (vk.) sich finden, so liegt gewiss die Annahme sehr nahe,
dass die jungen Kapseln vom Sammelgang aus sprossen. Dafür scheint mir
endlich ein Befund am Hoden eines geschlechtsreifen Siphonops annulatus
zu sprechen; zwischen den grösseren Hodenmassen mit reifen Spermatozoen
sind einige kleinere, aus nur einer oder wenigen Kapseln bestehende vor-
handen, welche nicht etwa den Sammelgang bereits umfassen, sondern ihm
an einem kurzen Stiele seitlich aufsitzen. An einer Stelle fand ich einen
blindsackartigen Spross des Sammelganges ohne eine daranhängende Kapsel:
offenbar die erste Anlage einer neuen Hodenmasse. Aus diesem Grunde
habe ich die Bezeichnung Ausführungsgang für denselben sorgfältig ver-
mieden: es ist der Sammelgang ein Bestandtheil der Drüse selbst, mehr als
ein blosser Ausführungsgang, das Zuwachsorgan, von dem aus die Bildung
neuer Kapseln erfolgt. {
Es mag diese Auffassung auf den ersten Blick etwas bedenklich er-
scheinen, wenn man die Thatsache ins Auge fasst, dass nach Sempers Be-
obachtungen bei Plagiostomen, sowie denen Göttes bei der Unke, die ich,
wie ich vorgreifend bemerken will, auch für andere Amphibien bestätigen
kann, die secernirenden Elemente nicht nur der weiblichen, sondern auch
der männlichen Geschlechtsdrüse vom Keimepithel herstammen, während es
mir nicht einmal bei der 40 mm. langen Coecilia rostrata gelungen war,
einen Zusammenhang der strangförmigen Hodenlage mit dem Peritoneal-
epithel nachzuweisen. Ich muss annehmen, dass die Einsenkung des Keim-
epithels in das Stroma und die Abschnürung desselben vom übrigen
Peritonalepithel bei den männlichen Coecilien schon in sehr früher Zeit
vollendet ist, den Beweis dafür allerdings einstweilen schuldig bleiben.
SPENGEL; Das Urogenitalsystem der Amphibien. 3i
Ehe ich dies Capitel verlasse, noch einige Worte über den Modus |
der Zelltheilung im Coecilienhoden. Es gelang mir begreiflicher Weise
nicht, an dem mir zu Gebote stehenden Material, das meistentheils Jahre-
lang in Spiritus gelegen hatte, die Vorgänge klar zu verfolgen. Ich will
daher nur mittheilen, dass ich in meinen Querschnitten vielfach Bilder
erhalten habe, welche ich auf die neuerdings von Auerbach u. v. A.
geschilderten Kerntheilungsprocesse beziehen möchte. In dem Hoden der
95 mm. langen Coecilia rostrata fand ich zwischen normal gebildeten Vor-
keimen eine Zelle mit einer aus Stäbchen zusammengesetzten sternförmigen
Figur an Stelle des Kernes (Tafel II. Fig. 35.); es hatten die Stäbchen
ebenso intensiv das Hämatoxylin aufgenommen, wie die Kernkörperchen
der übrigen Zellen. In Schnitten von Hoden aller Gattungen habe ich
ferner einzelne Zellballen gefunden, in denen fast sämmtliche Zellkerne in
höchst eigenthümlicher Weise umgebildet waren: es fand sich an ihrer Stelle
eine oft wunderbar gestaltete, in Hämatoxylin leinahe schwarz gefärbte
Figur (Tafel II. Fig. 33.), die ich am Liebsten mit chinesischen Schrift-
zeichen vergleichen möchte. Da so umgewandelte Zellen sehr oft wieder-
kehrten, in verschieden behandelten Präparaten, und stets massenhaft
beisammen, so bin ich geneigt, auch diese Bilder auf Zelltheilungen zu
beziehen. Deutliche Mittelformen waren allerdings nicht zu bemerken.
Endlich theile ich noch einen Fall von endogener Kernvermehrung mit,
den ich in einigen Zellballen eines Hodens von Coecilia lumbricoides be-
obachtet habe (Tafel II. Fig. 34). Es lagen in denselben eine Anzahl
Zellen, von denen die Mehrzahl einen mittelgrossen, einige einen fast
doppelt so grossen, einige zwei und einige drei Kerne hatten, von denen
der eine immer ein wenig grösser war als die zwei andern. Ob dies eine
für die Coecilien normale Weise der Zellvermehrung ist, oder nur eine
abnorme Bildung, vermag ich nicht zu entscheiden; ich habe sie allerdings
in keinem zweiten Falle zu Gesicht bekommen.
Das Hodennetz.
Als Hodennetz bezeichne ich aus Gründen, die im Laufe der Dar-
stellung sich ergeben werden, den gesammten Ausführungsapparat, der den
Hoden mit der Niere verbindet. Das Einzige, was bisher über den Weg,
den das Sperma bei den Coecilien einschlägt, bekannt war, beschränkt sich
auf Leydigs in der Einleitung eitirte Worte. !)
Man kann an dem Hodennetz drei verschiedene Theile unterscheiden,
zwei gänzlich von einander unabhängige Systeme von Quercanälen und
einen zwischen jene eingeschalteten- Längscanal. Von den ersteren ist
!) s. oben S. 4. Leydig, „Fische und Reptilien“, $. 81.
393 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien,
eines segmental angelegt, das andere nicht. Dieses zweite System zeigt
sich bei denjenigen Arten, deren Hoden regelmässig gegliedert ist, gleich-
falls regelmässig gebildet, indem aus dem Sammelgang zwischen je zwei
Hodenmassen ein Canal entspringt. Bei Siphonops mexicanus dagegen,
dessen Hode sammt den Quercanälen des Hodennetzes in Fig. 43, Tafel II
abgebildet ist, und bei allen andern Arten mit unregelmässigem Hoden
entspringen die Ausführungscanäle in regellosen Abständen, bald aus der
Masse des Hodens heraus, bald an freiliegenden Stellen des Sammelganges.
Bei beiden Formen aber finden sich gelegentlich Gabelungen und seitliche
Sprossungen der Canäle, so dass dadurch bisweilen ein Netzwerk entsteht.
Es führt dies laterale System von Quercanälen (Taf. I. Fig. 9, q.) in einen längs
des medialen Nierenrandes verlaufenden Canal (e.), dessen Ausdehnung ich
nirgends sicher habe feststellen können. Am Deutlichsten war er bei Coeeilia
lumbricoides zu verfolgen, wo er merkwürdiger Weise nicht nur die voll-
ständig entwickelten Nierensegmente begleitet, sondern auch die rudimentären,
ja mit ihnen weiter nach vorn emporzieht, als die Continuität des Leydigschen
Ganges reicht. So weit ich die Nierenrudimente habe verfolgen können,
fand ich an ihrer Seite auch den Längscanal des Hodennetzes, und zwar
ohne jegliche Unterbrechung; auch sein Lumen hatte sich vollkommen er-
‚halten. Dieser Längscanal nun verbindet sich durch das zweite System
von Quercanälen (v. e.) mit je einem Nierensegment und zwar mit einem
Malpighischen Körperchen (Taf. I. Fig. 9). Es liegt dieses Malpighische
Körperchen, das sich durch diese Verbindung mit dem Hodennetz vor den
übrigen desselben Segmentes auszeichnet, immer an der Grenze zwischen
zwei Segmenten, also an derselben Stelle, wo vor der secundären Ver-
mehrung der Nephrostomen und Malpighischen Körperchen das primäre
Körperchen lag. Dass wir auch in der ausgebildeten Niere das so aus-
gezeichnete Körperchen als das primäre bezeichnen dürfen, geht nicht nur
aus der Lage desselben hervor, sondern auch aus der Thatsache, dass
bereits bei jungen Thieren mit noch einfacher Niere das Hodennetz ent-
wickelt ist; denn zu der Annahme, es löse sich die ursprüngliche Ver-
bindung mit einem Malpighischen Körperchen, um auf ein anderes über-
zugehen, ist offenbar keinerlei Grund vorhanden. Es zeigt sich also die
ursprünglich segmentale Anlage der Niere auch bei den erwachsenen
Coecilien noch in den Beziehungen der Segmente zum Hodennetz.
Ueber die Entstehung des Hodennetzes giebt uns die Untersuchung
der jungen männlichen Thiere keinen Aufschluss; denn, wie wir bereits
oben gesehen haben, war die Verbindung zwischen der Geschlechtsanlage
und der Niere bereits bei der Coecilia rostrata von 40 mm. Länge vollendet.
Unerwartete, aber willkommene Aufklärung über diesen Vorgang indessen hat
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 33
mir ein Weibchen derselben Art, von 130 mm. Länge, geliefert. Bei
diesem fand sich ein Homologon des Hodennetzes in ziemlicher Ausbildung
vor. (Taf. I, Fig. 10.) Von je einem, dadurch als das primäre bezeichneten
Malpighischen Körperchen, entsprang ein dünner, anscheinend solider Zell-
strang (v. e.) mit spindelförmigen Kernen; die Mehrzahl derselben vereinigten sich
zu einem ebenso beschaffenen Längsstrang (l.), von dem aus noch einige un-
regelmässige, stumpf endigende Stränge (q.) in bald geringerer bald grösserer
Ausdehnung gegen das Ovarium hinzogen, ohne dasselbe jedoch zu erreichen.
Einer der vom Malpighischen Körperchen entspringenden Stränge dagegen
verband sich nur nach einer Seite mit dem Längsstrang, während er nach
der andern nur einen kurzen Fortsatz (l.‘) ausschickte, dem nach beiden Seiten
isolirten Strang (v. e.) des nächsten Segmentes entgegen. Es dürfte danach das
Hodennetz entstanden zu denken sein durch Sprossung von den primären
Malpighischen Körperchen aus: die einzelnen Sprossen verbinden sich unter
einander durch brückenartige Verbindungscanäle, welche zusammen den
Längscanal darstellen, von dem aus dann, wol in der Regel dem Verlaufe
der Gefässe folgend, Canäle in den Hoden resp. an den Sammelsang
desselben hinanwachsen. Ist diese Deutung, wie ich meine, die richtige,
so verdankt das Hodennetz seine Eintstehung also der Niere, wie es nach
Sempers Beobachtungen !) bei den Plagiostomen der Fall ist. Allerdings
gehen dort, die Segmentalgänge, d. h. die Stiele der Segmentaltrichter, in
die vasa efferentia, durch deren Verästelung das Hodennetz entsteht, über,
während bei allen untersuchten Coecilien die Homologa der Segmental-
trichter, die primären Nephrostomen, auch im männlichen Geschlechte er-
halten bleiben. Um die Nomenclatur indessen nicht allzusehr zu belasten,
wird es, denke ich, trotzdem angemessen sein, die segmentalen Theile des
Hodennetzes, also die kurzen Canäle, welche die primären Malpighischen
Körperchen mit dem Längscanal verbinden, als vasa efferentia zu be-
zeichnen, und die Bezeichnung Hodennetz im engeren Sinne auf den Längs-
canal und die lateralen Quercanäle anzuwenden.
Der Gang des Spermas wäre demnach folgender: Nachdem der Same
das Hodennetz durchsetzt hat, wird er durch Vermittlung der vasa
efferentia in die primären Malpighischen Körperchen aufgenommen, und
wandert von diesen aus entweder activ oder passiv durch die Cilien des
Halses und des dritten Canalabschnittes durch die Niere hindurch — also
nicht durch alle Harncanäle, sondern nur durch diejenigen von ihnen,
welche mit dem primären Malpighischen Körperchen in directer Verbindung
stehen — bis in den Leydisschen Gang. Auf Querschnitten von Nieren
geschlechtsreifer Coecilien findet man daher oftmals Spermatozoen in den
Fe Tropenitälsystem“, S. 394 fi.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Inıtitut in Würzburg. II, B)
“
34 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
verschiedenen Abschnitten der Harncanälchen. In dem Leydigschen
Gang wird dann der Same, gemischt mit dem Harn, hinabgeführt bis an
die Kloake, wo ihm eventuell noch das Secret des Drüsenabschnittes des
Müllerschen Ganges beigemengt wird.
Mit der Kloake in Verbindung finden sich mannichfaltig entwickelte
Begattungsorgane,
die wir zum Schluss noch einer kurzen Betrachtung unterwerfen wollen.
Wie schon in der Einleitung erwähnt worden, hatte sich bereits in den dreissiger
Jahren dieses Jahrhunderts ein Streit über die Existenz von Begattungs-
organen bei den Coecilien unter den Zoologen entsponnen, der durch
Bischoffs Autorität niedergeschlagen wurde. Im Jahre 1864 sind dann an
einer Stelle, wo man dergleichen allerdings nicht leicht suchen wird, in
den „Reptiles of British India“ von Günther gewisse Gebilde in der
Kloake von Epierium beschrieben, abgebildet und als Begattungsapparate
gedeutet. !) 4
Ehe ich diese Apparate selbst schildere, muss ich einige Worte über
den. Bau der Kloake in beiden Geschlechtern vorausschicken.
Beim Weibchen, wo die Grenze zwischen dem Rectum und der Kloake
nur durch die Einmündung der Müllerschen und Leydigschen Gänge be-
zeichnet ist, erreicht die Kloake stets nur eine geringe Länge, von etwa
einem Centimeter höchstens. In der Gegend, wo dorsal die Ausführungs-
gänge der Niere münden, entspringt an der ventralen Seite eine umfang-
reiche Harnblase, welche schon den ältern Beobachtern, wie Joh. Müller
und Bischoff dadurch bemerkenswerth erschien, dass sie zwei Zipfel besitzt,
die aber nicht wie bei den Fröschen und Salamandern neben einander
liegen, sondern von denen ein längerer nach vorn, ein kürzerer nach hinten
zieht. Die "Ausdehnung des hinteren Zipfels ist bei den verschiedenen
Arten sehr verschieden; während bei Epicrium glutinosum (Taf. I. Fig. 2,
hb‘) kaum eine Spur davon vorhanden ist, erreicht derselbe bei Coecilia
lumbricoides fast dieselbe Länge wie der vordere, nämlich 17 mm. Ein
schmales Aufhängeband befestigt die Harnblase ihrer ganzen Länge nach
an der ventralen Mittellinie der Körperwand.
In jeder Beziehung abweichend verhält sich die Kloake der Männchen.
Auf den ersten Blick erkennt man eine scharfe Grenze zwischen dieser und
dem Rectum. Während Letzteres relativ dünnwandig erscheint, ist die
Darmfaserschicht der Kloake mächtig entwickelt. Die Kothmassen finden
1) Günther, „Reptiles 'of British India“. Ray Society 1864, p. 442. — Während
des Druckes dieses Abschnittee habe ich gefunden, dass schon im Jahre 1849 Du-
vernoy die Begattungsorgane von Siphonops annulatus richtig beschrieben, abgebildet
und gedeutet hat, — Reyue et. Mag. de Zool, Ser. IL t. I. p. 186. pl. VH.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 35
sich immer nur im Rectum. Es besitzt ferner die Kloake eine bedeutende
Länge. Bei einem Exemplar von Epicrium glutinosum z. B. finde ich sie
fast 5 etm. lang, und ebenso lang ist sie in Günthers Abbildung von
derselben Art; bei Siphonops annulatus ist sie 4,5 ctm., bei Coecilia
lumbricoides und Siphonops thomensis 3 etm. lang. Mehr noch als durch
ihre Länge aber zeichnet sich die männliche Kloake durch die Art ihrer Be-
festigung in der Leibeshöhle aus. Rathke!) schildert sie von Siphonops
annulatus folgendermassen: ‚Von ganz eigenthümlicher Art war die Ein-
hüllung der Kloake. Sie bestand nämlich in einer mässig dicken fibrös-
häutigen Scheide, die besonders in ihrer oberen oder dem Rücken zuge-
kehrten Wandung viele von dem fibrösen Gewebe eingeschlossene, ohne
Unterbrechung sich von vorne bis hinten erstreckende und eine mehr oder
weniger grosse Breite besitzende dünne Bündel von glatten Muskelfasern
enthielt. An den beiden Enden der Kloake ging sie in die Substanz dieses
Körpertheiles über oder war vielmehr daselbst mit dessen Substanz rings-
um verwachsen, sonst aber schloss sie ihn nur lose ein. — — Der Raum
zwischen der Kloake und deren Scheide erschien völlig geschlossen.‘ Dass
diese musculöse Scheide bestimmt sei, die Kloake zur Afteröffnung hervor-
zustülpen, entging Rathke ebensowenig wie die Existenz eines antagonistisch
wirkenden Muskels, der sich an der ventralen Seite des vordersten Kloaken-
endes an diese ansetzt. „Er hatte beinahe die Form eines Weberschiffes,
war aber flacher als ein solches, und hatte eine Länge von 9“ bei einer
Breite von 2°, Mit seiner nur mässig convexen Seite lag er auf der
Bauchwand der Rumpfhöhle, an die er durch ein sehr schmales, aber
dickes Band, das er nach der ganzen Länge seiner Mittellinie von dieser
ausgesendet hatte, befestigt war. — — Zum bei Weitem grössten Theil
bestand er aus zwei beinahe spindelförmigen Muskelbäuchen, die von
einander durch einen schmalen mit Bindegewebe angefüllten Zwischenraum
geschieden waren, und deren Fasern ein ähnliches Aussehen, wie die des
Darmcanales hatten, also zu den organischen Muskelfasern gehörten. Eine
Höhle war in ihm nirgend zu bemerken.‘‘?) Diese Schilderung ist bis
ins kleinste Detail hinein zutreffend, und dass Rathke die richtige Deutung
dieses Apparates nicht fand, lag einzig und allein daran, dass er das von
ihm untersuchte Exemplar für ein Weibchen hielt, während gerade diese
Beschreibung der Kloake den Beweis liefert, dass Rathke thatsächlich ein
Männchen vor sich hatte. Es gilt diese Schilderung in allem Wesentlichen
für die Kloaken sämmtlicher männlichen Coeeilien. Die einzelnen Varianten,
namentlich die verschiedene Beschaffenheit der Kloake selbst, will ich in
‘) Müllers Archiv 1852, S. 343 ff.
*, Rathke, a. a. O., S. 350,
3%
36 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
kurzen Zügen angeben und dabei auf die Figuren 44 bis 47. Taf. II, ver-
weisen, in denen die Kloaken von Epierium glutinosum (Fig. 44 und
Taf. I, Fig. 1), Rhinatrema bivittata (Fig. 45) Siphonops thomensis (Fig.
46) und Siphonops annulatus (Fig. 47) in natürlicher Grösse dargestellt
sind. Für Epierium glutinosum führe ich Günthers Worte!) an; „Die
Kloake zerfällt in drei Abschnitte, deren oberer ziemlich eng und im
Innern mit Längsfalten versehen ist. Der zweite ist angeschwollen, mit
einem Paar seitlicher blindsackartiger Anhänge; im Innern finden sich vier
zweilappige Vorsprünge, mit ziemlich harter Oberfläche, während die
Blindsäcke Längsfalten besitzen. Der dritte, hinterste Abschnitt endlich
ist sehr eng und bewegt sich in einer cylindrischen Scheide des Peritoneums
auf und ab.‘ Ich habe dazu nur zu bemerken, dass bei meinem Exemplar
sich in dem aufgetriebenen mittleren Kloakenabschnitt nicht vier, sondern nur
drei Papillen vorfanden, eine ventrale (pa‘), welche in dem Präparat
durch einen Längsschnitt in ihre beiden symmetrischen Hälften zerlegt ist,
und zwei dorsale (pa). An den Blindsäcken (p) inseriren sich die untern ge-
trennten Hälften des Musculus retractor cloacae (m.r.cl.), die wir wol als mus-
culi retractores penis (m. r. p.) bezeichnen dürfen, wenn wir als Penis die
Blindsäcke bezeichnen, obwohl allerdings offenbar ein viel grösserer Theil
der Kloake als Begattungsorgan dient, namentlich die Papillen. Die Penis-
säcke sind wie die ganze Kloake von einem äusserst zierlichen Oylinder-
epithel mit einem hohen Cuticularsaum (Wimperbesatz?) ausgekleidet. Die
Scheide umfasst nicht nur den hintersten schmalen Abschnitt, sondern wie
Rathke richtig angiebt, die ganze Kloake. „‚,‚Ich betrachte die mittlere
Abtheilung der Kloake“, fügt Günther nach einer kurzen Beschreibung der
Retractoren hinzu, als ein Begattungsorgan, das nach der Begattung durch
den daran befestigten langen Muskel wieder zurückgezogen wird; die
zweilappigen Vorsprünge “— meine Papillen —, erinnern uns an eine ähn-
liche Bildung der Begattungsorgane mancher Saurier.“ Eine genaue
Schilderung der Papillen und Längsfalten in der Kloake von Siphonops
annulatus findet sich in Rathkes citirter Abhandlung, S. 343; ich verweise
auf diese sowie auf meine Abbildung, Taf. II. Fig. 47. Eine Bemerkung,
die ich bei dieser Gelegenheit noch hinzuzufügen habe, bezieht sich auf
den eigenthümlichen bereits oben erwähnten Verlauf des hintern Endes
der Müllerschen und Leydigschen Gänge, die sich vom Hinterende der
Niere zu dem etwas weiter nach vorn gelegenen Vorderende der Kloake
zurückkrümmen. Eine ähnliche Beugung findet sich meistens auch im
hintern Theile des Rectums. Der Zusammenhang dieses Verhaltens mit
1) a. a. O., 8. 442.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. an
dem Propulsionsvermögen der Kloake liest so auf der Hand, dass ich
keine Worte darüber zu verlieren brauche. DBei Rhinatrema bivittata
(Fig. 45. p) und Coecilia lumbricoides finden sich zwei analoge Blindsäcke
wie bei Epicrium; bei ersterer Art scheint sie auch. A. F. I. C. Meyer!)
schon gesehen zu haben. Es besitzt dieselbe auch wie Epicrium vier
ähnlich gestaltete Papillen, während bei Coecilia lumbricoides sich nur starke
Längsfalten finden. Die zierlichste Ausbildung der Papillen traf ich bei
Siphonops thomensis; sie waren hier mit feinen Querfalten versehen (Fig,
46 pa). Weder Penissäcke noch besondere Papillen, sondern nur Längs-
falten fand ich bei Coecilia rostrata,
Der aus dem anatomischen Befunde gezogene Schluss, dass die Kloake
als Begattungsorgan hervorgestülpt werden könnte, passt vortrefflich zu der
Thatsache, dass, wie bereits Eingangs erwähnt, Coecilien beobachtet sind,
bei denen als Begattungsapparate gedeutete Theile zum After heraushingen.
Da unter den mir vorliegenden Exemplaren keines mit ausgestülpter Kloake
sich befand, ich aber den Wunsch hatte, die Identität der von mir in der
Kloake gefundenen Papillen und Blindsäcke mit dem von Fitzinger be-
schriebenen, aus dem After hervorhängenden Penis zu constatiren, so machte
ich einen Versuch, das der Beschreihung Fitzingers zu Grunde liegende
Exemplar des Halleschen Museums zum Vergleiche zu erhalten, bekam
indessen leider von Herrn Prof. Giebel zur Antwort, dasselbe sei seit den
50er Jahren spurlos verschwunden.
Für die Fortpflanzungsweise der Coecilien ergiebt sich aus der Existenz
besonderer Begattungsorgane zunächst natürlich nur, dass die Befruchtung
stets eine innere ist. Da wir indessen seit dem Jahre 1874 durch Peters ?)
wissen, dass Coecilia compressicauda lebendige Junge zur Welt bringt, liegt
die Vermuthung nahe, dass auch die übrigen Arten sich ähnlich verhalten
mögen. Zu verwundern ist es allerdings, dass man bisher keines weiteren
trächtigen Weibchens habhaft geworden ist.
Die in den vorangehenden Seiten ausführlich geschilderten Resultate
meiner Untersuchungen über den Bau und die Umbildungen des Urogenital-
systems der Coecilien lassen sich kurz folgendermassen zusammenfassen :
Die Niere ist ihrer ursprünglichen Anlage nach ein streng segmentirtes
Organ: je einem Wirbel entsprechende Knäuel besitzen je einen in die
Leibeshöhle sich öÖffnenden wimpernden Segmentaltrichter (primäres
Nephrostom), ein Malpighisches Körperchen, das mit dem Trichterstiel
1) „Analecten“, S. 51.
2) Berl. Monatsberichte 1874, Jan., S. 45.
38 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
sich verbindet und ein aus mehreren Abschnitten bestehendes, ursprüng-
lich unverzweigtes Harncanälchen, das in den Leydigschen Gang mündet.
Die Existenz zahlreicher Nephrostromen (Wimpertrichter) und Malpi-
shischen Körperchen bei erwachsenen Thieren ist die Folge secundärer
Vermehrungsvorgänge. In der äusseren Gestalt (Varicosität) der Niere und
dem Bestehen eines Sammelrohres auf je einen Wirbel spricht sich auch
bei erwachsenen Thieren die Segmentirung noch aus.
Als Ausführungsgang der Niere oder als Harnleiter fungirt in beiden
Geschlechtern der Leydigsche Gang, der stets getrennt von dem der andern
Körperhälfte an der dorsalen Kloakenwand mündet, während er vorn
schlingenförmig in das Sammelrohr des ersten Nierensegments übergeht.
Lateral vom Leydigschen Gang besteht in beiden Geschlechtern der
Müllersche Gang, vollständig ohne Verbindung mit dem Leydigschen. Beim
Weibchen fungirt er als Eileiter und beginnt mit trichterförmigen Ostium,
Beim Männchen bilden sich in der Wandung seines hintern Abschnittes
mächtige Drüsen aus; das vordere Ende ist entweder blind gschlossen oder
besitzt eine dem Ostium tubae des Weibchens entsprechende Oeffnung.
Die Eierstöcke liegen als mehr oder minder langgestreckte paarige
Organe an der ventralen Fläche des Fettkörpermesenteriums. Sie besitzen
keine Verbindung mit dem Eileiter, sondern entleeren ihre Eier in die
Leibeshöhle Die Vermehrung der Eier erfolgt von im Peritonealepithel
gelegenen Ureiern aus.
Die Hoden liegen an der dem Eierstocke entsprechenden Stelle. Sie
bestehen aus zahlreichen in verschiedener Anordnung um einen centralen
Sammelgang gruppirten Kapseln, in denen sich Spermatozoen in allen
Bildungsstadien neben einander finden. Die erste Anlage des Hodens er-
schien in Gestalt eines bereits von Peritonealepithel abgesonderten Stranges
spindelförmiger Zellen mit eingestreuten Ureiern ähnlichen ‚Vorkeimen“.
Die Entstehung des Spermatozoenkopfes aus dem Kern der Bildungszellen
war mit Sicherheit nachzuweisen, während das Zellprotoplasma wahr-
scheinlich zur Bildung des Schwanzes verwendet wird. Die Vermehrung
der Kapseln scheint durch Sprossung vom Sammelgang aus zu erfolgen.
Die Entleerung des Samens geschieht durch Vermittlung eines von den
primären Malpighischen Körperchen einer Anzahl Nierensegmente aus ge-
bildeten Hodennetzes, an dem ein Längscanal und zwei Systeme von
Quercanälen zu unterscheiden sind. Eines der letzteren stellt die Ver-
bindung zwischen dem Längscanal und dem Sammelgang des Hodens her;
es besitzt keine segmentale Anlage. Das andere verbindet den Längscanal
mit den primären Malpighischen Körperchen, ist also wie diese segmental
angelegt, und stellt die eigentlichen vasa efferentia dar. Das Sperma
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 39
durchsetzt danach die Niere, um in den als Harnsamenleiter fungirenden
Leydigschen Gang zu gelangen.
Zum Behufe der Begattung ist die mittels einer contractilen Scheide
vorstülpbare und durch einen kräftigen Muskel zurückziehbare Kloake des
Männchens im Innern oftmals mit Papillen und einem Paar von Blind-
säcken ausgestattet. Der weiblichen Kloake fehlen diese Apparate voll-
ständig.
Capitel IL
Die Urodelen,
Von den drei Amphibienordnungen ist die der Urodelen am Ge-
nauesten hinsichtlich des Baues ihrer Urogenitalorgane bekannt. Es ist
dies wesentlich das Resultat der schönen Untersuchungen von F. H. Bidder !),
G. L. Duvernoy ?) und Fr. Leydig°). Eine geschichtliche Uebersicht der
älteren Arbeiten über das Urogenitalsystem der Amphibien findet sich in
Bidders Abhandlung; ich kann auf ihre Wiederholung verzichten. Als
wesentliches Resultat der gleichzeitig unabhängig von einander angestellten
Untersuchungen Bidders und Duvernoys ist der Nachweis zu betrachten,
dass der vordere Abschnitt der Urodelen-Niere als Nebenhode fungirt.
Das ergiebt sich wenigstens auch aus Duvernoys Beobachtungen, obwohl er
sich in dem seiner Arbeit nachträglich hinzugefügsten Anhang gegen
die Deutung des Nebenhodens als eines Theiles der Niere nachdrücklich
verwahrt. Lereboullet *) schildert den vordern Nierenabschnitt wie Duvernoy
als Nebenhoden, ohne indessen auf seine feinere Structur näher einzugehen.
Bidders Abhandlung ist ihm unbekannt geblieben. Er behandelt die Uro-
delen überhaupt nur gelegentlich, Leydig, der die Art der Verbindung
D) F. H. Bidder. „Vergleichend-anatomische und histologische Untersuchungen
über die männlichen Geschlechts- und Harnwerkzeuge der nackten Amphibien.“ Mit
3 Taf. Dorpat 1846.
2) G. L. Duvernoy. „Fragments sur les organes genito-urinaires des reptiles
et leurs produits; 3e fragment: sur l’appareil de la generation chez les mäles plus
particuli6rement, et chez les femelles des Salamandres et des Tritons.‘“ — Gelesen am
11. November 1844; publieirt in den M&moires presentes par divers savants & I’Aca-
demie des Sciences. Paris t. XI, p. 17—74, 1851. — Dazu ‚„Appendice‘“, gelesen
am 5. Juni 1848; ebenda, p. 75—95.
3) Fr. Leydig. „‚Anatomisch-histologische Untersuchungen über Fische und
Reptilien.“ Mit 4 Taf. Berlin 1853.
+) Lereboullet. „BRecherches sur l’anatomie des organes genitaux des animaux
vertebres.“ Nova acta acad. Leop, Carol. 1851, p, 77.
40 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
zwischen dem Hoden und der Niere weniger speciell verfolgte, hat das
Verdienst, die Verhältnisse der Ausführungsgänge der Urogenitalorgane in
beiden Geschlechtern zuerst in befriedigender Weise aufgeklärt zu haben.
Auf das Detail kommen wir weiter unten eingehend zurück. Ueber die in
den angeführten drei Schriften enthaltenen Kenntnisse ist die ‘spätere
Forschung nicht hinaus gekommen. Es erscheint mir daher genügend, die
Resultate der neueren Untersuchungen im Laufe der Darstellung meiner
eigenen Befunde an geeigneten Stellen zu erwähnen.
Durch die Güte der Herren Dr. Flesch, Dr. Hubrecht, Prof. v. Köl-
liker, Dr. A. B. Meyer, Prof. Semper, Dr. Schreiber, Dr. Wiedersheim
und der Verwaltungscommission des Hamburger Naturhistorischen Museums
ist mir auch für diese Amphibien-Ordnung ein ausserordentliches reiches
Material zur Verfügung gestellt gewesen. Es bestand in folgenden Arten:
I. Ichthyodea: Proteus anguinus d und 2
Menobranchus lateralis d und 2
Menopoma alleghanensis & und 2
Siren lacertina d und 2
Amphiuma means 2
II. Salamandrida: Triton cristatus, taeniatus, alpestris d und 2
„ Vviridescens, suberistatus, torosus, d und 2
„ platycephalus &
Salamandra maculosa & und 9
Spelerpes fuscus und variegatus d und 9
Plethodon glutinosus d und 2
Desmognathus fuscus d und 2
Gyrinophilus porphyriticus d und 2
Batrachoseps attenuatus d und 2
Siredon pisciformis d und 2
Amblystoma fasciatum d und 2
Salamandrina perspicillata d und 2
Chioglossa lusitanica d und 2
Ellipsoglossa naevia und nebulosa d& und 2
Pleurodeles Waltlii, grosse Larve.
Die Nieren der Urodelen (Taf. III. Fig. 2 und 3 n und on) liegen
vollkommen symmetrisch an der dorsalen Wand der Leibeshöhle, nur durch
die Aorta und die unpaare Nierenvene von einander getrennt. Sie er-
strecken sich über eine verschieden grosse Anzahl von Wirbeln, stets
jedoch durch den grössern Theil der Leibeshöhle, ohne indessen jemals,
wie bei den Coecilien, diese ihrer ganzen Länge nach einzunehmen. In
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 41
allen Fällen lassen sich zwei Abtheilungen in jeder Niere unterscheiden:
die hintere liest ihrer Hauptmasse nach im Becken, ohne aber nach vorn
zu an die Grenzen desselben irgend wie streng gebunden zu sein. Ausser
dem Darm mit der ihm ventral anhängenden Harnblase und den im männ-
lichen Geschlecht oftmals bedeutend entwickelten Analdrüsen ist die
„Beckenniere“ oder der eigentliche „Drüsentheil“ der Niere das einzige
hier gelegene Organ; in Folge dessen findet sie Raum zu mächtiger Ent-
faltung und erscheint uns stets als ein mehr oder minder keulenförmig
verdickter Körper, der in der Regel nach vorn spitz ausläuft, und dessen
Hinterende die hintere Grenze der Leibeshöhle erreicht oder, richtiger
gesagt, sogar noch etwas überschreitet, indem das Peritoneum, welches das
Organ bekleidet, sich schon etwas vor dem äussersten Ende desselben auf
die Bauchwand überschlägt. Die vordere Abtheilung, die wir im Folgenden
als den „Geschlechtstheil“ der Niere oder kurz als „Geschlechtsniere“ be-
zeichnen wollen, bildet der Beckenniere gegenüber einen verschwindend
kleinen Theil des Organs: sie ist meistens als ein bandförmiger Körper
von geringer Breite, dabei aber ziemlich beträchtlicher Länge, welche die
der Beckenniere immer übertrifft, vorhanden. Von älteren Autoren, z. B.
Rathke, Rusconi u. A., ist dieser Theil lange Zeit vollständig übersehen
worden; seine Entdeckung verdanken wir Bidder und Duvernoy. An dem
medialen Rande dieser „Geschlechtsnieren“ entspringen, zu beiden Seiten
von dem Darmmesenterium, die Geschlechtsmesenterien, das Mesorchium
oder das Mesoarium. An der ventralen Fläche jedes Geschlechtsmesen-
teriums hängt etwa in der Mitte zwischen der Niere und den Geschlechts-
drüsen, ein bald breiteres, bald schmaleres Mesenterium, das den oft un-
gemein stark entwickelten Fettkörper trägt. Es stellt derselbe ein nicht
selten etwas lappiges, bandartiges Gebilde dar, das parallel der Niere
zwischen dieser und den Geschlechtsorganen hinzieht; es liegen also die
Fettkörper bei den Urodelen medianwärts von den Geschlechtsorganen,
während wir sie bei den Coecilien lateralwärts davon gefunden haben.
Man kann den Unterschied auch so auffassen, dass die Geschlechtsdrüsen
bei den Coecilien an der ventralen, bei den Urodelen dagegen an der
dorsalen Fläche des Fettkörpermesenteriums angebracht seien. Die Er-
klärung dieser Verschiedenheit wird sich uns später aus der Entwicklungs-
geschichte in einfacher Weise ergeben. Die Ausführungsgänge des Uroge-
nitalapparates der Urodelen bestehen in Ei- und Harnleitern. Beide liegen
im grössten Theil ihres Verlaufes seitlich von den Nieren, treten nach
hinten zu an deren ventrale Fläche, um in die hier gelegene Kloake zu
münden. Die Harnleiter beginnen am Vorderende der Niere, während der
Ursprung der Eileiter und im männlichen Geschlecht der Homologa der-
42 SPENGEL: Das Urogenitalsytem der Amphibien.
selben fast ausnahmslos an der Lungenwurzel, stets aber weit vor der
Nierenspitze gelegen ist,
Die Nieren.
Kein Abschnitt der Niere lässt bei den Urodelen jemals eine so
deutliche Segmentirung erkennen, wie wir sie bei den Coecilien gefunden
haben. Bei näherer Betrachtung überzeugt man sich indessen, dass dieser
Unterschied nur scheinbar besteht. Man untersucht zu diesem Zwecke am
besten den Geschlechtsabschnitt der Niere eines Triton oder einer Sala-
mandra, sowohl frisch in 0.5 procentiger Kochsalzlösung als auch in ver-
schiedener Weise gefärbt und aufgehellt. Es ist dies das celassische Object,
an dem schon Bidder seine trefilichen Beobachtungen gemacht hat, und das
wie wol kein anderes geeignet ist, um einen Einblick in den feineren Bau
‚ der Wirbelthierniere überhaupt zu gewinnen. Es bestheht dieser Theil der
Urodelenniere aus einer bei den verschiedenen Arten verschieden grossen
Anzahl von Knäueln, die allerdings wohl nur selten so vollständig von
einander isolirt sind, wie es Bidder in seiner Fig. IV. vom Triton taeniatus
abbildet '). Allein in vielen Fällen gelingt es doch, sich zu überzeugen,
dass in der That kein Zusammenhang zwischen den Canälen zweier auf
einander folgender Knäuel besteht, sondern dass ein jedes Knäuel gebildet
ist durch mannichfache Verschlingungen eines ungetheilten Harncanälchens.
Da beim Männchen die Verhältnisse durch die Verbindung mit dem Hoden-
netz complieirt werden, beginnen wir unsere Betrachtung mit der Ge-
schlechtsniere eines Weibchens, die ihre Bezeichnung allerdings nur uneigent-
lich trägt, indem sie in keiner Beziehung zur Ausführung der Geschlechts-
producte steht; sie entspricht indessen morphologisch dem Geschlechtsab-
schnitt der Niere des Männchens. An einem Harncanälchen der weiblichen
Geschlechtsniere lassen sich unschwer dieselben Abschnitte in durchaus der-
selben Reihenfolge unterscheiden, wie wir sie bei den Coecilien kennen ge-
lernt haben. An dem freien Ende beginnt dasselbe mit einem bald kug-
ligen, bald mehr ellipsoidischen Malpighischen Körperchen, das niemals von
seinem Glomerulus vollständig erfüllt ist. Aus dem Malpighischen Körper-
chen entspringt ein längerer oder kürzerer, stets jedoch ziemlich enger
„Hals“, der, wie bei den Coecilien, mit einem schönen, äusserst lebhaft
schwingenden Geisselepithel ausgekleidet ist; es unterscheidet sich dasselbe
in nichts von dem bei den Coecilien beschriebenen, und Heidenhains An=
gabe, die Epithelien des vordern Theils der Salamanderniere besässen nur
‚gewöhnliche kurze Flimmerhaare, nicht jene kolossalen Cilien, wie sie den
Da: N0), Tak ll, FiE4.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien, 43
eigentlichen Harnwegen — der Beckenniere — zukommen), beruht auf
einem Irrthum. Auf jeder Zelle sitzen wenige ungemein lange Geisselhaare,
welche in ausgezeichneter Weise die Erscheinung des motus undulatus
(Valentin) zeigen. Ebensowenig kann ich Heidenhain Recht geben, wenn
er sagt: „So viel ich habe sehen können, ist die Spitze der Cilien immer
gegen den Anfangstheil des Canales an der Malpighischen Kapsel hin ge-
richtet 2)“. Bei allen den zahlreichen Individuen verschiedener Gattungen
und Arten habe ich, wo ich die Niere frisch untersuchen konnte, die
Cilien in der entgegengesetzten Richtung schwingen sehen, vom Malpighi-
schen Körperchen abgewandt, und ohne alle Ausnahme fand ich an Quer-
schnitten nicht nur durch die Geschlechtsniere, sondern ebenso durch die
Beckenniere die Basis der Geisseln dem Malpighischen Körperchen zu-, ihre
Spitze demselben abgewendet. Nur die an der Verbindungsstelle des
Körperchens mit dem Halse stehenden Cilien ragten an conservirten Ob-
jecten in den Raum des ersteren hinein, während man an frischen Nieren
leicht beobachten konnte, wie sie sämmtlich nach dem von der Halsmün-
dung gebildeten Mittelpunkte zusammenschlugen. Ich muss also aufs Ent-
schiedenste behaupten, dass der von diesen Wimperhaaren erzeugte Strom
nicht in das Malpighische Körperchen hinein, sondern aus demselben
herausführt. Wie bei den Coecilien, vereinigt er sich mit einem zweiten
Strom, der in einem von der Nierenoberfläche herkommenden Canale ver-
läuft. Dieser Letztere steht auch hier vermittels einer trichterförmigen,
mit langen Geisseln besetzten Oeffnung, einem Nephrostom, mit der Leibes-
höhle in offnem Zusammenhang. Um eine Vorstellung von der Grösse der
Nephrostome bei den Urodelen zu geben, theile ich einige Masse aus der
Niere eines Weibchens von Salamandra maculosa mit. Einige Masse von
Nephrostomen anderer Gattungen folgen weiter unten. Der Durchmesser
des Triehtereinganges schwankt von 0.07 bis zu 0.24 mm., beträgt aber
durchschnittlich etwa 0.15 mm. Das denselben auskleidende Epithel
breitet sich oftmals unregelmässig nach verschiedenen Richtungen aus und
stellt so eine Trichterscheibe dar, deren Durchmesser im Mittel etwa 0.4 mm.
beträgt, jedoch bis 0.5 mm. und selbst darüber noch steigen kann. Die
Geisseln, mit denen das Epithel des Nephrostoms versehen ist, sind etwa
0.05 mm. lang. Sie schwingen stets in den Trichterstiel hinein und führen
z. B. Karminkörnchen, die man auf die frische Niere streut, aus ziemlicher
Entfernung heran, so dass sie von dem erregten Strom in die Niere hinein-
gerissen werden. Nachdem der Hals des Malpighischen Körperchens und |
D) Arch. f. mikr. Anat. Bd. X., S. 25.
A)2a.. a. 0., 8.23, Anm,
44 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
der Trichterstiel sich vereinigt haben, behält ihre gemeinsame Fortsetzung
noch auf eine kurze Strecke das Geisselepithel, das sich dann plötzlich
in ein Epithel verwandelt, das aus grossen polygonalen Zellen mit
trübem Protoplasma und runden Kernen zusammengesetzt ist, gerade so
ı wie wir es von den Coecilien beschrieben haben. Dieser zweite Abschnitt
des Harncanälchens schlingt sich mehrfach hin und her und geht schliess-
lich in den kurzen dritten Abschnitt über, der mit einem ähnlichen Geissel-
epithel ausgekleidet ist wie der Hals; die Geisseln schwingen auch hier
stets in der Richtung zum Harnleiter hin, mit dem der vierte Abschnitt,
ein wimperloser Canal, die Verbindung herstellt, Der dritte Abschnitt
scheint zu fehlen oder, wohl richtiger gesagt, durch einen wimperlosen
Abschnitt ersetzt werden zu können ; wenigstens habe ich in einigen Fällen
vergebens danach gesucht. Das Epithel des vierten Abschnittes zeigt sehr
schön den von Heidenhain beschriebenen Zerfall des Zellprotoplasmas in
eine Anzahl von Stäbchen !).
Aus den hier geschilderten, zu mehr oder minder dichten Knäueln
zusammengeballten Canälen setzt sich nun sowohl die Geschlechtsniere als
auch die Beckenniere zusammen. Allein in Bezug auf Zahl und Anordnung
derselben besteht in beiden Abschnitten ein erheblicher Unterschied. In
der Geschlechtsniere sind diese Knäuel stets nur in einer Reihe angeordnet,
und jedes von ihnen mündet für sich allein in den Harnleiter. Dabei
kann die Zahl sowohl wie die Dimensionen der Knäuel nach den ver-
schiedenen Arten, wie wir sehen werden, eine sehr verschiedene sein, ohne
dass indessen dadurch eine wesentliche Complication der Verhältnisse her-
beigeführt würde. Anders verhält sich in dieser Hinsicht die Beckenniere,
wie sich schon nach ihrer viel gedrungeneren Gestalt vermuthen liess.
Schon eine makroskopische Betrachtung lehrt, dass die Zahl der Malpighi-
schen Körperchen in diesem Abschnitt bedeutend diejenige ‘der am lateralen
Rande austretenden Sammelröhren übertrifft. Ganz entsprechend verhalten
sich die Nephrostomen. Verfertist man einen mässig dünnen Schnitt von
der Oberfläche der Beckenniere, so findet man fast Nephrostom an Nephro-
stom (Taf. III, Fig. 8). Um sich von den Beziehungen dieser Letzteren
zu den Harncanälchen zu überzeugen, untersucht man am Besten Flächen-
schnitte von einer frischen Niere, die sich, da sie nicht sehr fein zu sein
brauchen, mittels einer Scheere leicht herstellen lassen. Man sieht dann
ohne Schwierigkeit, dass von jedem Nephrostom aus ein stark wimpernder
Canal in die Tiefe zieht und nach kurzem Verlauf einen zweiten wimpern-
den Canal aufnimmt, in dem man, da er sich bis zu einem Malpighi-
1) a.a. 0. $. 24, 25, Taf. II. Fig. 17 bis 20.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien, 45
schen Körperchen verfolgen lässt, den „Hals“ erkennt. Es besteht in
der That die Beckenniere aus einer grossen Anzahl Harncanälchen mit
ihren typischen Abschnitten sowohl wie Malpighischen Körperchen und
Nephrostomen; jene münden aber nicht jedes einzeln in den Harnleiter,
sondern vereinigen sich zu mehreren im Verlaufe ihres vierten Abschnittes ;
erst ihre gemeinsame Fortsetzung mündet in den Harnleiter.
Damit ist in kurzen Zügen. das Schema gegeben, nach dem sich die
Urodelenniere gebildet zeist. Im Einzelnen finden sich natürlich mancherlei
Verschiedenheiten, und zwar in viel erheblicherem Masse, als wir sie bei
den Coecilien getroffen haben.
Während bei manchen Haien und Rochen die Segmentaltrichter nur
während des Embryonallebens bestehen, bei erwachsenen Thieren dagegen
obliterirt erscheinen, persistiren die Nephrostomen bei allen untersuchten
Urodelen. Ihr Trichter entfaltet sich in den meisten Fällen zu einer be-
deutenden Ausdehnung; ein schönes Beispiel dafür liefert Chioglossa lusi-
tanica, von der ich ein Nephrostom der Geschlechtsniere sammt dem dazu
gehörigen Malpighischen Körperchen auf Taf. III, Fig. 10 abgebildet habe.
Der Durchmesser der Trichterscheibe beträgt in diesem Falle 0.6 mm,
Sehr kleine Nephrostomen dagegen besitzt Proteus angıinus, aus dessen
Geschlechtsniere die Fig. 11, Taf. III. entnommen ist, von einer Trichter-
scheibe kann man hier nicht eigentlich reden; sie bildet nur einen kleinen
von Geisselzellen besetzten Wulst um das Nephrostom; der Durchmesser
beträgt höchstens 0.013—0.016 mm.; zwischen diesen Extremen kommen
alle Uebergänge vor. Gemeinsam ist allen Arten die Verbindung der
Nephrostomen mit dem Hals eines Malpighischen Körperchens. In der
Geschlechtsniere habe ich nie mehr als ein Nephrostom an einem Hals
getroffen. In der Beckenniere dagegen findet man nicht selten, dass zwei '
Nephrostomen sich mit ihren Stielen vereinigen und gemeinsam mit dem
Halse eines Malpighischen Köperchens sich verbinden (Taf. III, Fig. 8 tr‘).
Es kommt indessen auch das Gegentheil vor, dass nämlich der Stiel eines
Nephrostoms sich gabelt und mit zwei getrennten Malpighischen Körperchen
im Zusammenhang steht. Bisweilen endlich besteht eine solche Spaltung
nur auf eine längere oder kürzere Strecke, indem sich die beiden Arme
wieder zu einem einfachen Trichterstiel vereinigen. Möglicher Weise stehen
diese drei Formen in genetischer Beziehung zu einander. Auf eine specielle
Aufführung der Masse der Trichterscheiben bei den verschiedenen Arten
glaube ich bei der grossen Unbeständigkeit dieser Verhältnisse verzichten
zu dürfen. Ebenso beschränke ich mich hinsichtlich der Dimensionen der
Malpighischen Körperchen auf eine kurze Angabe der Extreme. Die
grössten Malpighischen Körperchen besitzt Proteus anguinus: ihr längster
46 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Durchmesser beträgt bis 0.54 mm., der des Glomerulus bis 0.33 mm.
Die kleinsten Malpighischen Körperchen finden sich in der Geschlechtsniere
der männlichen Plethodon -, Spelerpes- Arten u. s. w.; sie erreichen nur
0.012 mm. im Durchmesser, der Glomerulus 0.008 mm. Etwa in der Mitte
stehen in dieser Hinsicht unsere einheimischen Salamander und Tritonen.
Aus der obigen Schilderung von der Zusammensetzung der Geschlechts-
niere aus einer Anzahl von isolirten, unverzweigten, mehr oder minder
dicht verschlungenen Canälen geht hervor, dass der Absonderung einiger der
vordern Nierenlappen von der Hauptmasse der Niere, welche von Leydig !)
u. A. hervorgehoben worden ist, kein erhebliches Gewicht beizulegen ist,
so sehr auch im einzelnen Falle das Aussehen des Organs dadurch be-
einflusst werden mag. Sie kommt wohl bei allen Arten gelegentlich vor,
ohne indessen irgendwo constant zu erscheinen.
Die obige, zunächst nach Beobachtungen an Triton und Salamandern
entworfene Schilderung gilt nicht nur für diese Gattungen, sondern ebenso
für Siredon, Amblystoma, Ellipsoglossa, Salamandrina. Bei zahlreichen,
namentlich amerikanischen Arten dagegen findet eine oftmals unter gleich-
zeitiger inniger Anlagerung an den Harnleiter sehr erhebliche Reduction
des Geschlechtstheiles der Niere statt, so dass es selbst bei längerer Er-
fahrung nicht selten schwer ist, sich von der Existenz eines solchen über”
haupt zu überzeugen. Von dem italienischen Spelerpes (Geotriton) fuscus
wurde dies bereits von Wiedersheim ?) hervorgehoben; ebenso verhalten sich
die andern von mir untersuchten Spelerpes-Arten (Spelerpes variegatus, Sp.
Bellii), ferner Plethodon glutinosus, Desmognathus fuscus, Gyrinophilus por-
phyriticus und Batrachoseps attenuatus; dass der erste Beschreiber der
letztgenannten Art, Rathke, die Geschlechtsniere vollständig übersehen hat °),
ist um so eher begreiflich, als bei dieser Art, wie auch bei Amphiuma
Taf. III, Fig. 4, der Geschlechtstheil der Niere nicht in geradliniger Ver-
längerung des Drüsentheils liest, sondern seitlich von demselben entspringt;
bei Batrachoseps liegt, wie ein Blick auf Taf. III, Fig. 5 zeigt, die hin-
terste Schlinge der Geschlechtsniere sogar statt vor, neben der Beckenniere.
In den meisten Fällen ist es mir nicht gelungen, zu bestimmen, aus wie
viel Knäueln oder, treffender gesagt, Schlingen sich dieser rudimentäre
Gechlechtsabschnitt zusammensetzt; ebensowenig kann ich mit Sicherheit
angeben, ob überall Malpighische Körperchen vorhanden sind. Ich habe
1) Leydig, „Fische und Reptilien‘ a. m. St.
?) Wiedersheim, Salamandrina perspicillata und dGeotriton fuscus. Würz-
burg, 1875.
?) Rathke in Eschholtzs zoologischem Atlas zu Kotzebues zweiter Reise um die
Welt. Heft 5, S, 4.
SPENGEL: Das Urogenitalsyssem der Amphibien. 47
solche mit Sicherheit bei Plethodon, Batrachoseps, Spelerpes und Gyrino-
philus wahrnehmen können. Im weiblichen Geschlecht geht die Reduction
stets weniger weit als im männlichen; ja bisweilen, so bei Spelerpes fuscus 2
kann von einer solchen überhaupt nicht wohl die Rede sein. In solchen
Fällen finden wir auch die Nephrostomen normal entwickelt, die ich da-
gegen an den reducirten Geschlechtsnieren in der Regel vermisse; nur bei
Spelerpes variegatus finde ich in beiden Geschlechtern solche. Ueber die
Rückbildung der Nephrostomen in der Geschlechtsniere der Männchen
werde ich mich weiter unten specieller auslassen. Im Gegensatz zu der
scharf ausgesprochenen Trennung zwischen der Beckenniere und Geschlechts-
niere bei den genannten Arten findet sich ein ganz allmählicher Uebergang
zwischen beiden Abschnitten bei Menobranchus, Menopoma und Siren. Ein
mittleres Verhalten seigen Salamandra ete.
Ein weiter Unterschied besteht in Bezug auf das Verhalten des Peri-
toneums zur Niere. Bei der Mehrzahl der Gattungen überzieht dasselbe
nur die ventrale Seite der Niere und tritt von ihrem lateralen Rande, wo
an einem meist schmalen Bande die Ausführungsgänge hängen, direet
an die hintere Rumpfwandung; bei den Ichthyoden dagegen überzieht sie
auch die dorsale Nierenfläche, so dass das Organ von allen Seiten vom
Peritoneum umhüllt ist und in einer weiten Falte desselben liegt.
Legen wir uns nun die Frage vor, in welchem Verhältniss bei den
Urodelen die Zahl der Nierenknäuel zu derjenigen der Wirbel oder Körper-
segmente steht, so haben wir die beiden Nierenabschnitte gesondert zu be-
trachten. Die Zahl der Knäuel der Geschlechtsniere kann man am be-
quemsten mittels der Malpighischen Körperchen, oder der Nephrostomen oder
endlich der in den Harnleiter mündenden Endabschnitte der Harncanäl-
chen ermitteln, da es in den seltensten Fällen möglich ist, die Bestand-
theile zweier auf einander folgender Knäuel hinreichend deutlich von
einander zu trennen. Es müssen natürlich die drei genannten Theile immer
in gleicher Zahl vorhanden sein. Verfährt man in der angegebenen Weise,
so gelangt man zu folgendem Ergebniss. In fast allen Fällen ist die Zahl
der Segmente der Geschlechtsniere grösser als diejenige der ihnen an-
liegenden Wirbel, in den meisten Fällen sogar grösser als die Zahl der die
Leibeshöhle begrenzenden Wirbel überhaupt. Nur bei jenem, wegen seiner
erstaunlichen Variabilität bekannten Spelerpes variegatus, Gray (Bolitoglossus
mexicanus, Dum. u. Bibr.) habe ich bei einem Individuum (2) eine genaue
Uebereinstimmung zwischen der Zahl der Körper- und Nierensegmente be-
obachtet. Es besass zwölf Rumpfwirbel; über die drei hintersten derselben
erstreckte sich die Beckenniere, über weitere sieben der Geschlechtsabschnitt;
letzterer enthielt sieben Malpighische Körperchen. Bei einem zweiten
48 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Exemplar (9), das 15 Rumpfwirbel besass!), traf ich auf acht Wirbel im
Geschlechtsabschnitt zwölf Malpighische Körperchen, bei einem dritten ()
auf fünf Wirbel acht. Bei allen drei Exemplaren war die Zahl für beide
Nieren die gleiche. Es entsprächen danach je zwei Körpersegmenten bei
den beiden letzten Individuen drei Nierensegmente. Bei allen sonst von
mir untersuchten Urodelen war die Zahl der Letzteren ein Multiplum der
Ersteren, entweder das Zwei- oder das Drei- oder das Vierfache. Für jede
Art scheint ein bestimmtes Verhältniss vorherrschend zu sein, doch finde
ich oftmals bei verschiedenen Individuen derselben Art verschiedene Zahlen ;
so bei einer Salamandra maculosa auf 5 Wirbel 10, bei einer zweiten auf
die gleiche Wirbelzahl 15 Nierensegmente; bei einer Ellipsoglossa nebulosa
(2) auf 6 Wirbel 12 Malpighische Körperchen und Nephrostomen, bei einem
& derselben Art auf 6 Wirbel 18 Malpighische Körperchen, Nephrostomen
und Sammelröhren; bei zwei Weibchen von Amblystoma fasciatum einmal die
zweifache, das andere Mal die vierfache Zahl von Nierensegmenten wie von
Wirbeln. Salamandra maculosa, Triton cristatus und taeniatus besitzen in
der Regel auf je einen Wirbel drei Segmente des Geschlechtsabschnittes
der Niere, Spelerpes fusceus meistens zwei, und beim Axolotl habe ich immer
vier, bei Proteus anguinus und bei einer Siren lacertina (J') drei gefunden.
Für Menobranchus, Menopoma und Amphiuma konnte ich die Zahl nicht
bestimmen.
Ganz ausserordentliche Schwierigkeiten stehen der Bestimmung der in
die Beckenniere aufgehenden Zahl von Nierenknäueln entgegen. Es
besteht nicht nur, wie wir gesehen haben, eine Incongruenz zwischen der
Zahl der Sammelröhren einerseits und derjenigen der Malpighischen Kör-
perchen und Nephrostomen andrerseits, sondern es findet sich in den weit-
aus meisten Fällen keine Uebereinstimmung zwischen der Zahl der Sammel-
röhren — von denen man am Ersten Aufschluss zu erhalten erwarten
sollte — bei beiden Geschlechtern. Da die Zahl durchaus nicht constant
ist, so will ich mich begnügen, einige Beispiele anzuführen, zunächst vom
männlichen Geschlecht. Bei Triton cristatus, dessen Geschlechtsniere auf
je einen Wirbel in der Regel drei Segmente — im Ganzen 18 — besitzt, ent-
sendet die nur über 4 Wirbel sich erstreckende Beckenniere einige zwanzig Sam-
melröhren zur Kloake. Bei Triton taeniatus verhält sich der Geschlechtsab-
schnitt der Niere wie bei der vorigen Art, während aus der Beckenniere nur
10 bis 12 Sammelröhren austreten. Bei den meisten Arten schwankt die Zahl
zwischen 15 und 20. Ganz erstaunlich wird sie beim Axolotl, wo die 80
1) Herr Dr. Wiedersheim, dem ich das Thier verdanke, hat sich durch sorgfältige
Untersuchung des Schädels von der Richtigkeit der Art-Bestimmung überzeugt.
SPENGEL;: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 49
bis 100 Sammelröhren ein mächtiges Bündel darstellen. Auffallend spär-
lich finde ich sie bei einem erwachsenen Männchen von Menopoma alle-
shanense, nämlich nur 9 oder 10. Bei Cryptobranchus japonicus sollen nach
Schmidt !) gar nur zwei vorhanden sein. Im weiblichen Geschlecht sind
die Sammelröhren der Beckenniere meistens weniger zahlreich. Da indessen
hier der Harnleiter dem Nierenrande meistens recht eng anliegt, mithin
also die Sammelröhren nur kurz sind, so ist es selten möglich, deren Zahl
mit Sicherheit zu bestimmen. Es scheint mir stets eine Uebereinstimmung
mit dem Verhalten des Geschlechtsabschnittes zu bestehen, so dass also auf
je ein Körpersegment ein bis vier Sammelröhren kämen.
Die hier geschilderten Befunde über die feinere Zusammensetzung der
Urodelen-Niere berechtigen uns, ‘denke ich, zu dem Schlusse, dass die segmen-
tirte Anlage der Niere, wie sie für die Plagiostomen und auch für die
Coecilien constatirt worden ist, bei den Urodelen eine eigenthümliche Modi-
fication erfahren hat, in der Art, dass auf je ein Körpersegment eine ver-
schiedene Anzahl unter sich gleichwerthiger Nierensegmente angelegt werden,
etwa wie die chilognathen Myriapoden an einem Körpersegment zwei Bein-
paare tragen, oder wie bei den Hirudineen auf ein Körpersegment mehrere
Hautringe kommen. Ich will auf diesen Vergleich hier nicht näher ein-
gehen, da der anatomische Befund vor Allem erst einer Bestätigung durch
die Beobachtung der Entwicklungsgeschichte bedarf; ich werde daher erst
im zweiten Theil dieser Arbeit diejenigen Fälle zu discutiren haben, welche
sich als Analogien zu dem geschilderten Verhalten der Urodelen Niere
heranziehen lassen. Es kommt mir hier nur darauf an, die Gründe darzulegen,
welche mich die soeben behauptete Gleichwerthigkeit der Nierensegmente
bei den Urodelen anzunehmen zwingen. Es wäre ja immerhin denkbar,
dass, wie wir bei den Coecilien eine secundäre Vermehrung der Malpighi-
schen Körperchen und Nephrostomen, sowie der von ihnen ausgehenden
Harncanäle gefunden haben, etwas Aehnliches auch hier vor sich gegangen
wäre, und in der That lässt auch wol das Verhalten der Beckennieren
keine andere Auffassung zu. Es münden aber bei den Coecilien die
secundär entstandenen Harncanäle mit den primären durch ein gemeinsames
Sammelrohr aus, während bei den Urodelen, wie wir gesehen haben, im
Geschlechtsabschnitt der Niere niemals eine Verzweigung der Harncanälchen
stattfindet, sondern jedem Malpighischen Körperchen sein besonderes Sam-
) F. J. J. Schmidt, Q. J. Goddard en J. van der Hoeven jun, „Anteekeningen
over de anatomie van den Cryptobranchus japoniecus.‘“ — Natuurkundige Verhandelin-
gen van de Hollandsche Maatschappij der Wetenschappen te Haarlem. 19. deel,
Haarlem. 1862. p. 47. Taf. XI.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 4
50 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
melrohr zukommt. Weitere Bestätigung für die vorgetragene Auffassung
werden wir bei Betrachtung des Hodennetzes und seiner Beziehung zur
Niere finden und ich will vorgreifend bemerken, dass auch meine allerdings
noch lückenhaften Beobachtungen über die Entwicklung der Niere mich zu
demselben Resultate führen, wie ich das bereits in meiner vorläufigen Mit-
theilung angedeutet habe). Wie aber reimt sich damit die Incongruenz
zwischen der Zahl der Sammelröhren der männlichen Beckenniere einerseits
und der weiblichen Beckenniere sowie des Geschlechtsabschnittes bei beiden
Geschlechtern andrerseits? Um nicht blosse Vermuthungen hier auszuspre-
chen, muss ich abermals in das Gebiet der Entwicklungsgeschichte vor-
greifen und bemerken, dass in der primären Anlage der Niere ein Unter-
schied zwischen eigentlichem Drüsen- und Geschlechtsabschnitt in dem
Sinne, dass in ersterem mehr Nierensegmente auf ein Körpersegment kämen,
oder dass auch nur die Zahl der Nephrostomen und Malpighischen Körper-
chen nicht mit derjenigen der Sammelröhren übereinstimmte, nicht besteht-
Wir haben also anzunehmen, dass im männlichen Geschlechte eine secun-
däre Vermehrung der Sammelröhren der Beckenniere — auf einem hier
hier nicht näher zu untersuchenden Wege — stattfindet. Abgesehen von
der Ontogenie spricht hierfür nicht bloss der Vergleich mit dem Verhalten
der Beckenniere des Weibchens, sondern auch das Verhalten der Sammel-
röhren beim Männchen selbst. Wir berühren damit einen wesentlichen
Unterschied zwischen den Beziehungen des vordern und hintern Nierenab-
schnittes zum Harnleiter bei den beiden Geschlechtern, die in den älteren
Schriften nicht immer ganz zutreffend geschildert worden sind. Fast voll-
kommen richtig ist Bidders Abbildung der männlichen Triton-Niere ?); da-
gegen ist Leydigs Figur von den Harn- und Geschlechtswerkzeugen vom
Landsalamander 3), die neuerdings von Balfour reprodueirt ist*), sowie
Gegenbaurs Schema von Urogenitalapparat des Triton?) in mehreren
Punkten nicht ganz correct.
In allen Fällen treten die Sammelcanäle des Geschlechtsabschnittes
auf dem nächsten Wege, also mehr oder minder unter rechtem Winkel zur
\ Längsachse des Körpers, an den Harnleiter; der vorderste von ihnen
ı) „Die Segmentalorgane der Amphibien‘ Verh. d. med.-phys. Gesellsch. Würz-
burg, Bd. X.
2)#3. a. ©) Tat: II. Bio.A.
3) Leydig „Lehrbuch der Histologie“, S. 527. Fig. 257.
4) Balfour, „On the origin and history of the urogenital organs of vertebrates“.
Journ. Anat. Physiol. vol. X, pt. I. p. 40, 41, Fig. 6, 7.
5) Gegenbaur, „Grundzüge der vergl. Anatomie“, 2. Aufl. S. 874. Fig. 309.
Ebenso im „Grundriss“,
-
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 51
mündet in die Spitze des Harnleiters, so dass er als eine unmittelbare Fort-
setzung desselben erscheint (Taf. III, Fig. 14 sr‘). Ebenso wie in der Ge-
schlechtsniere verhalten sich die Sammelröhren der Beckenniere gewöhnlich
im weiblichen Geschlecht, bei einigen Formen, so bei Proteus, Menobranchus
und Siren — nicht aber bei Menopoma und, nach Schmidt, bei Cryptobranchus
— auch im männlichen Geschlecht. Bei der grossen Mehrzahl der Arten da-
gegen findet beim Männchen die Verbindung der Sammelröhren der Becken-
niere mit dem Harnleiter erst unmittelbar vor dessen Mündung in die Kloake
statt, so dass erst hier eine Vermischung des aus der Geschlechtsniere gelieferten
Secretes mit demjenigen der Beckenniere erfolgt. Im Einzelnen kann die
Beziehung der Sammelröhren zu einander und zum Hinterende des Harn-
leiters eine verschiedene sein, doch besteht in dieser Hinsicht keine erheb-
liche Mannichfaltigkeit. Nach der bereits angeführten Figur Bidders mün-
deten sämmtliche Sammelröhren in die hinterste derselben und erst durch
diese in den Harnleiter. Das ist nicht ganz richtig: der nur sehr kurze
gemeinsame Abschnitt ist ein Theil des Harnleiters selbst (Taf. III, Fig. 2).
Oftmals findet oberhalb der Mündung in den letzteren eine Vereinigung
zweier oder mehrerer Sammelröhren zu einem Canale statt, oder richtiger
deuten wir im Hinblick auf die oben hervorgehobene secundäre Vermehrung
der Sammelröhren diesen Befund vielleicht als die Folge einer nicht ganz
vollendeten Spaltung. Als ein specieller Fall der verschiedenen hier mög-
lichen Combinationen erklärt sich leicht das Verhalten bei Batrachoseps,
von dem Rathke bemerkt: „Am auffallendsten war mir, dass bei dem
männlichen Exemplare ein besonderer Harnleiter vorkam.“ Dieser „be-
sondere Harnleiter“ ist nichts als das vorderste Sammelrohr, das bis
nahe vor die Kloake von dem Harnleiter abgespalten ist, während die
folgenden sich sämmtlich mit ihm vereinigen (Taf. III, Fig. 5.). Wir
haben hier also ganz dieselben Verhältnisse vor uns, wie Semper sie
von den Haien geschildert hat: ‚mitunter verbinden sich diese (Harn-
leiter Sempers, meine Sammelröhren) zu einem einzigen wirklichen Harn-
leiter, mitunter aber münden jene isolirt in die Höhlung der Uro-
genitalpapille“!).. Neuerdings hat Schneider angegeben, ‚bei den Weibohen
der Urodelen tritt jederseits ein Wolffscher Gang in die Kloake, nach-
dem er alle Harncanälchen aufgenommen, bei den Männchen treten aber
die Harnleiter (meine Sammelröhren, S.) einzeln, wenn auch nebeneinander
1) Semper, „Urogenitalsystem“, S. 286.
4*
52 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien,
in dieselbe‘ 1). Unter allen Umständen kann diese Behauptung keine all-
gemeine Geltung beanspruchen, für Proteus, Siren und Menobranchus ist
sie sicher unrichtig, und auch für die Mehrzahl der übrigen Urodelen kann
ich sie nur dann bestätigen, wenn damit eine Vereinisung der Sammelröhren
mit dem Harnleiter unmittelbar vor dessen Mündung in die Kloake be-
zeichnet sein soll. Nur bei einem männlichen Exemplar von Ellipsoglossa
nebulosa habe ich die Urogenitalpapille nicht von einer Oeffnung, sondern
von mehreren getrennten Mündungen der Sammelröhren durchbrochen ge-
funden. Sonst traf ich ausnahmslos immer nur eine gemeinsame Mündung
für den Harnleiter und die Sammelröhren jederseits. Um diesen Punkt
gegenüber den Angaben Schneiders festzustellen, habe ich eine grosse Anzahl
von Querschnittreihen angefertigt, die allein sicheren Aufschluss geben können.
Die Sammelröhren der Beckenniere sind von den älteren Autoren als
„Samenblasen“ bezeichnet und auch Bidder, der zuerst ihren Zusammenhang
mit der Niere sicher constatirt hat, nennt sie „Anhänge des Samenleiters,
Analoga der Samenblase, die mit dem äussern Rande .der Niere zusam-
menhängen.‘“ Sie sollen nach seiner Angabe bei brünstigen Thieren Sperma
enthalten, das in dieselben vom Samenleiter aus zurückgestaut wäre.
Duvernoy ?) bestreitet das Vorkommen von Spermatozoen in denselben, und
nach meinen Erfahrungen mit Recht: bei Tieren, deren Samenleiter voll-
gepfropft von Samenfäden war, ja deren Kloake und Harnblase solche ent-
hielt, fand ich in den Sammelröhren nur eine Flüssigkeit, in der zahllose
feinste Körnchen suspendirt waren. Es sind die Sammelröhren der Becken-
niere bekanntlich nicht in allen ihren Theilen gleich mächtige Canäle: sie
beginnen vielmehr an der Stelle, wo sie aus der Niere austreten, mit äusserst
geringem Durchmesser, während sie in der Mitte als stattliche Schläuche
erscheinen, deren Umfang nach dem Ende zu wieder auf den ursprünglichen
zurückschrumpft. Dieser Dickenunterschied beruht weniger auf einer Zu-
nahme des Lumens, als auf einer Verdickung des Epithels, das aus einem
polygonalen zu einem hocheylindrischen wird.
Ehe ich die Niere verlasse und mich der Schilderung der Ausfüh-
rungsgänge zuwende, muss ich noch einen Punkt kurz erwähnen, den Wie-
dersheim neuerdings hervorgehoben hat. Derselbe beschreibt bei Salaman-
drina ?) einen Zerfall der Beckenniere in zwei hinter einander gelegene
Hälften. Eine Untersuchung mehrerer Exemplare derselben Art hat mir
gezeigt, dass diese Trennung nicht constant ist, namentlich beim Männchen
fehlen kann. Tief gehende Querspalten, durch welche die vollständige Ab-
2) A. Schneider. „Ueber die Müllerschen Gänge der Urodelen und Anuren“, —
Centralbl. f. d. med. Wissenschaft 1876. Nr. 3.
2) Duvernoy, a. a. O. p. 95.
3) Wiedersheim, ‚‚Salamandrina und Geotriton“, $. 157. Taf. XVI.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 55
trennung gewissermassen vorbereitet erscheint, finden sich nicht nur bei
Triton platycephalus (Euproctus Rusconü), wo sie Wiedersheim gefunden
hat), sondern bei zahlreichen andern Arten, doch nirgends constant. Da
ich der Thatsache keine weittragende Bedeutung beizulegen vermag, ver-
zichte ich auf eine Aufzählung der einzelnen Beobachtungen.
Die Ausführungsgänge.
Wie bei den Coecilien sind bei den Urodelen zwei Gänge an der
Herausförderung der Producte der Urogenitaldrüsen betheiligt, die ihrer
morphologischen Werthigkeit nach als Leydigscher (Wolffscher) und Müller-
scher Gang zu bezeichnen sind. Der Leydigsche Gang fungirt in beiden
Geschlechtern als Ausführungsgang beider Abschnitte der Niere: mit Rück-
sicht darauf haben wir ihn oben stets als Harnleiter bezeichnet. Der
Müllersche Gang scheint nur im weiblichen Geschlecht zu functioniren ; bei
den Männchen ist er, wie wir sehen werden, zwar gleichfalls vorhanden,
doch nur rudimentär.
Der Leidigsche Gang oder Harnleiter
verhält sich überall sehr einfach. Er beginnt an dem vordersten Segment |
der Geschlechtsniere (Taf. III, Fig. 1, 2, 3, 14, 15.), wo er als eine un-
mittelbare Fortsetzung des Endabschnittes des Harncanälchens erscheint,
in das er im Bogen übergeht. Die Grenze zwischen beiden ist häufig durch
das Aufhören des Pigmentes bezeichnet, das die Hüllen des Harnleiters
wenigstens im männlichen Geschlechte fast regelmässig auszeichnet. Wo
indessen, wie bei Desmognathus fuscus d, das Vorderende des Harnleiters sich
zu einem dichten Knäul mit den Canälen des vordersten Nierensegmentes
verschlingt, ist eine Grenzbestimmung vollkommen unmöglich. Der Gang
läuft dann von vorn bis nach hinten am lateralen Nierenrande entlang,
indem er successive die einzelnen Sammelröhren aufnimmt, deren Anordnung
bereits beschrieben worden ist. Bei weiblichen Thieren liest er dabei der
Niere, namentlich dem vordern Abschnitt sehr dicht an, so dass es selten
möglich ist, ihn mit blossem Auge, zumal da er nur sehr fein ist, durch-
weg zu verfolgen. Hinten werden die Sammelröhren häufig, wenigstens bei
unsern einheimischen Arten etwas länger, so dass man den Harnleiter etwas
vor der Niere abheben kann. Bei Proteus ist, wie bereits Leydig?) be-
merkt hat, meistens das Umgekehrte der Fall, ‚die betrefienden Gänge sind
im vordern Nierenabschnitt immerhin noch etwas länger als nach hinten zu,
wo sie sich mehr und mehr verkürzen und dadurch den Ureter immer
!) Wiedersheim, „Bemerkungen zur Anatomie des Euproctus Rusconii“. Annali
del Museo Civico di Genova 1875, vol. VII. tav. XX,
®) Leydig. ‚Fische und Reptilien“. $, 79.
54 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien,
inniger an die Nierensubstanz anziehen.‘ Im weiblichen Geschlecht ist der
Harnleiter immer unpigmentirt.
Bei den Männchen verhält sich der Leydische Gang, abgesehen von
der oben geschilderten Beziehung zu den Sammelröhren, wesentlich ebenso
wie bei den Weibchen. Er erreicht indessen im Zusammenhang mit seiner
Function als Harnsamenleiter hier eine viel mächtigere Entwickelung. Bei
geschlechtsreifen Thieren ist er immer mehr oder minder stark gewunden.
Seine bindegewebigen Hüllen enthalten meistens ein dunkles, in sternförmigen
Zellen angesammeltes Pigment, dessen Farbe von lichtem Braun bis zu
Schwarz wechselt.
In der Nähe der Kloake angelangt, rücken in beiden Geschlechtern
die Harnleiter an die ventrale Nierenfläche und gegen die Mittelebene des
Körpers hin, ohne sich indessen nach meinen ausdrücklich auf diesen Punkt
gerichteten Beobachtungen jemais zu vereinigen, wie es nach Wiedersheim
beim männlichen Triton platycephalus (Euproctus) der Fall sein soll N)
Bei dem einzigen Exemplar, das mir zu Gebote stand, mündeten die Harn-
leiter jeder Seite getrennt auf der Spitze einer kleinen, niedrigen Papille.
Das Weibchen dieser Art konnte ich leider nicht untersuchen. Das Ver-
halten der Harnleiter bei den männlichen Urodelen an ihrer Mündungs-
stelle in die Kloake, gegenüber dem Harnblaseneingang, ist bei den ver-
schiedenen Arten nur insofern verschieden, als die Oeffnung entweder auf
einer kurzen Papille angebracht ist, oder sich nicht aus dem Niveau der
Kloakenwand erhebt, beziehungsweise sogar etwas eingezogen ist. Urogeni-
talpapillen finden sich bei den Männchen von Salamandra, Triton, Proteus,
Ellipsoglossa, Desmognathus, Siredon, Salamandrina; in flache Kloaken-
taschen münden die Harnleiter bei Plethodon glutinosus. Möglich indessen,
dass diese Verschiedenheiten durch Verschiedenheiten in der geschlechtlichen
Reife bedingt sind.
In Betreff der Mündung der Harnleiter bei den Weibchen geben fast
alle Autoren an, derselbe gehe, nachdem er alle Sammelröhren aufgenommen,
in den Eileiter. Der Einzige, soviel ich weiss, der das Verhältniss
anders schildert, ist Martin St. Ange?). Obwohl Stannius die Darstellung,
welche dieser Autor von dem Urogenitalapparate des Triton cristatus ge-
geben hat, mit Recht eine oberflächliche nennt, so muss ich St. Ange doch
in diesem Punkte trotz aller gegentheiligen Angaben von trefflichen Beob-
achtern wie Bidder, Leydig u. A. zustimmen. Verfolgt man den Harnleiter
nach der Kloake hin, so sieht man ihn zunächst an die dorsale Seite des
1) Wiedersheim. „Euproctus“. S. 20.
2) Martin St. Ange. „Etude sur l’appareil reproducteur dans les cing classes
d’animaux vertebres“. — Mem, pres. a l’Acad. Paris. 1856, t. XIV. p. 116.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 55
ventral und gegen die Mittellinie gerückten Eileiters treten. Die Verbin-
dung bleibt aber nur eine äusserliche. Führt man z. B. bei Salamandra '
maculosa oder beim Axolotl, wo die Mächtigkeit des Harnleiters dies zu-
lässt, eine feine Borste in denselben ein, so kommt diese nicht aus der
Eileiterpapille hervor, sondern aus einer dorsalwärts von dieser gelegenen
Oeffnung (Taf. III, Fig, 17 lg‘). Um sich noch bestimmter davon zu über-
zeugen, dass thatsächlich kein Zusammenhang zwischen den Hohlräumen
beider Canäle besteht, spaltet man darauf den Eileiter der Länge nach bis
zu seiner Mündung in die Kloake auf, und findet ausnahmslos die Borste
ausserhalb des Eileiters. Bei kleineren Arten und bei denjenigen grösseren
Formen, bei denen das Lumen des Harnleiters sehr eng ist, zerlegt man
am zweckmässigsten das Hinterende der Niere sammt den ihm anliegenden
Ausführungsgängen in Querschnittreihen. Mit Hülfe dieser Methode, die ich
stets auch da angewendet habe, wo mir von einer Art nur ein Exemplar zu
Gebote stand, und mittels deren ich alle auf andere Weise gewonnenen
Befunde eontrolirt habe, konnte ich alle Angaben von einer Vereinigung
des Harnleiters mit dem Eileiter als irrig nachweisen. In Taf. III, Fig. 18
theile ich Beispiels halber einen Querschnitt durch die Kloake von Des-
mognathus fuscus mit: Links mündet der Eileiter (mg‘) an der Spitze einer
Papille, während der Harnleiter (l5‘) an der Basis derselben austritt; rechts
haben beide Canäle (mg und ]g) das Kloakenepithel noch nicht erreicht. Von
dieser Regel habe ich nicht eine einzige Ausnahme beobachtet, obwohl ich
alle mir zur Verfügung stehenden Arten, zum Theil mehrfach, mit grösster
Sorgfalt darauf untersucht habe. Ebensowenig habe ich einen Fall ge-
funden, wo sich die Harnleiter beider Körperhälften mit einander vereinigt
hätten, wenn sie sich auch oftmals sehr nahe rücken.
Die Harnblase.
Ueber die Harnblase, welche eine Aussackung der ventralen Kloaken-
wand gegenüber der Mündung der Harnleiter darstellt, habe ich nur zu
bemerken, dass sie bei Salamandra, Triton, Salamandrina, Spelerpes, zwei-
zipflig, dagegen bei den Ichthyoden und bei Gyrinophilus, Ellipsoglossa und
Desmognathus unter den Salamandrinen einzipflig ist.
- Der Müllersche Gang.
Während der Leydigsche Gang immer am Vorderende der Niere ent-
springt, liest der Anfang des Müllerschen Ganges ausnahmslos weit vor
demselben, in weitaus den meisten Fällen an der vordersten Grenze der
Leibeshöhle, in der Gegend der Lungenwurzeln. Nur bei zwei Gattungen
ist dasselbe weiter nach hinten gerückt, nämlich bei Proteus in das Gebiet
des neunten bis zehnten Rumpfwirbels, wie dies schon die älteren Autoren
56 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
richtig angegeben haben, und bei Batrachoseps attenuatus, dessen erster
Beschreiber, Rathke, bereits sagt, die Eileiter reichten wie bei Proteus nur
bis an die Mitte der Leber "). Für die specielle Darstellung müssen wir
die Männchen und Weibchen auseinander halten; wir beginnen mit den
letzteren.
Die Eileiter. Dem bisher über die Eileiter der Urodelen Bekannten
habe ich nichts wesentlich Neues hinzuzufügen. Das Vorderende derselben
ist stets mit einer bald engeren, bald weiteren trichterförmigen Oeffnung
versehen, dem ostium abdominale tubae, das wol immer von Wimperepithel
ausgekleidet ist. Von diesem aus verlaufen sie am lateralem Nierenrande,
mit dem sie durch ein breiteres oder schmäleres Halteband verbunden sind,
in der Jugend vollkommen gestreckt, später und namentlich während der
Brunst vielfach gewunden, bis an die Kloake, in deren dorsaler Wand sie,
meistens auf zwei Papillen (Taf. III, Fig. 17, mgp.) ausmünden. Einen Fall,
wie ihn Wiedersheim von Triton platycephalus schildert, wo die Muskel-
schichten der beiden Eileiter sich zu einem gemeinsamen uterusartigen Hohl-
raum vereinigen, in dessen Grunde auf kurzen, ausschliesslich von der
Mucosa gebildeten Zäpfehen die Oeffnungen der getrennten Abschnitte liegen,
habe ich niemals beobachtet. Leider konnte ich kein Weibehen jener Art
selbst untersuchen. Als Uterus pflest man sonst den hinteren Abschnitt
des Eileiters bei lebendiggebärenden Urodelen zu bezeichnen. Bei Sala- £
mandra maculosa ist die Grenze zwischen beiden Theilen nicht scharf aus-
geprägt und wol auch thatsächlich im einzelnen Falle je nach der Zahl
der Embryonen schwankend. Bei Salamandra atra, welche in jedem Eileiter
nur einen Embryo zur Reife bringt, ist der Uterus oder der hintere Theil
des Oviductes durch sein stärkeres Lumen und die mächtigere Musculatur
seiner Wandung sehr scharf von dem vordern Stücke abgesetzt. Eine
ähnliche Sonderung in einen Eileiter im engern Sinne und einen Uterus
zeigt Spelerpes fuscus, wonach zu vermuthen ist, dass auch diese Art
lebendige Junge zur Welt bringt. Nach diesem Kriterium sind alle Ich-
thyoden ovipar, eine Annahme, deren Richtigkeit für den Proteus neuerdings
durch Fr. E. Schultze erwiesen ist 2). Im Eileiter von Siren lacertina fand
ich nahe dem Hinterende eine Anzahl Eier, deren etwa 2 mm. im Durchmesser
besitzender Dotter von einer starken Gallerthülle umgeben war. In Bezug
auf die histologischen Verhältnisse der Eileiterepithelien habe ich keine
eingehenden Studien gemacht. Im Allgemeinen kann ich nur bemerken,
dass bei oviparen Arten die Eileiter von einem hohen, oftmals nicht ganz
1) Rathke. Eschholtzs Atlas, a. a. O. 8.5.
2) Fr. E. Schultze. Z. f. w. Z. Bd. XXV1. S. 350.
SPENGEL: Da Urogenitalsystem der Amphibien, 57
einfachen Cylinderepithel ausgekleidet sind, dessen Zellen entweder ein ganz
helles oder mit Körnchen dicht erfülltes Protoplasma besitzen, während die
bindegewebige Grundsubstanz und die organische Musculatur nur spärlich
entwickelt ist. Bei viviparen Arten dagegen erlangt die letztere eine sehr |
bedeutende Ausbildung, das Epithel aber bleibt niedrig.
Die männlichen Tuben. Die Kenntniss der den Eileitern des
Weibchens entsprechenden Canäle der männlichen Urodelen ist hauptsäch-
lich durch Leydigs „Anatomisch - histologische Untersuchungen über Fische
und Reptilien“ begründet. In diesen classischen Untersuchungen ist zum
ersten Mal der Nachweis geführt worden, dass der schon von Rathke,
Bidder und andern ältern Autoren gesehene „Endfaden“ des Samenleiters,
welcher vom .Vorderende dieses bis in die Gegend der Lungenwurzel zieht,
oftmals durch dunkles Pigment ausgezeichnet, nicht ein solider Faden,
sondern ein mit einem Epithel ausgekleideter Canal ist. Leydig schildert |
sein Verhalten speciell bei Salamandra, Triton, Siredon, Proteus und Meno-
poma. Für die erstgenannten Gattungen führt er den Nachweis, dass dieser
Canal „nicht die Fortsetzung des Harn - Samenganges ist, wie es für das
blosse Auge den Anschein hat, sondern dieser geht bogenförmig herüber
zum Anfang der Niere, vielmehr ist es ein eigener Gang, der nur dem
pigmentirten Harn - Samenleiter ganz dicht angeheftet ist, indem beide
Canäle eine gemeinsame Bindegewebshülle besitzen.“ Ueber das hintere
Ende dieses Canales sagt Leydig nichts Genaues: „man kann ihn weit nach
hinten verfolgen, wobei er immer dem Harn-Samenleiter dicht anliegt, bis
er zuletzt allerdings in ihn einmündet '\.“ Eine ganz ähnliche Schilderung
giebt Leydig für Triton. Nicht vollständig Klar ist die Beschreibung des
entsprechenden Ganges bei Proteus. Leydig giebt nur an, dass er zwischen
der Nierenspitze und seinem Ende in der Gegend des 9. oder 10. Wirbels
einen hohlen Canal mit Epithel darstelle; ob er bei Proteus, abweichend
von Salamandra und Triton, eine Fortsetzung des Harn - Samenleiters dar-
stellt, wird nicht ausdrücklich angeführt. Dagegen ist in seiner Fig. 30,
Taf. IV, das Verhalten in dieser Weise dargestellt, und auch, soviel ich
sehe, von allen späteren Autoren (Gegenbaur, Waldeyer) so wiedergegeben
worden. Danach sollte beim männlichen Proteus nur ein Canal vorhanden
sein, dessen hinterer Abschnitt die Sammelröhren der Niere aufnimmt,
während der vordere, von der Nierenspitze ab, wie der Eileiter beim Weib-
chen offen in die Leibeshöhle mündete. Ebenso soll es sich nach Wittich bei
=) Beydio, 242, 0,8. 15. Rak N. Rıs. 29.
58 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien,
Menobranchus lateralis verhalten!). Leydigs Angaben über Menopoma sind
in diesem Punkte ungenügend. Umfassendere Untersuchungen sind über
diesen Gegenstand meines Wissens seither nicht angestellt. Schmidt in
seiner Anatomie des Cryptobranchus japonicus und van der Hoeven in
derjenigen des Menobranchus haben ihr Augenmerk nicht darauf gerichtet.
Dagegen bestätigt Wiedersheim Leydigs Angaben über Salamandra und
Triton für Spelerpes fuscus (Geotriton) und Triton platycephalus (Eu-
proctus) 2).
Unter solchen Umständen blieb für mich noch eine Ertrag ver-
sprechende Nachlese übrig, die ich denn auch mit möglichster Sorgfalt vor-
genommen habe. Vor Allem kann ich in jeder Hinsicht bestätigen, was
Leydig für Salamandra und Triton angegeben hat. Am Besten eignen sich
zur Beobachtung der männlichen Tube junge, noch nicht geschlechtsreife
Exemplare, bei denen der Harnleiter noch nicht gewunden ist, sondern
gestreckt am Nierenran!e entlang zieht. Zur Bestimmung des hinteren
Endes des Ganges bedarf es indessen auch hier schon der Querschnitte,
Mit Hülfe dieser gelingt es leicht, den Canal bis unmittelbar vor die
Kloake zu verfolgen. Wie im weiblichen Geschlecht der Eileiter, so hat
sich die männliche Tube an die ventrale Wand des Harnleiters gelegt, und
‚ an dieser Stelle findet man sie auch noch wenige Schnitte vor der Mündung
des letzteren in die Kloake, als einen mit einem Cylinderepithel ausge-
kleideten, mit einem deutlichen, wenn auch engen Lumen versehen, von
dem Harnleiter durch eine Schicht Bindegewebe getrennt. Zur thatsäch-
lichen Verbindung beider Canäle kommt es, meinen Beobachtungen nach,
nirgends. Vielmehr sehe ich stets den Müllerschen Gang verschwinden,
unmittelbar vor der Mündung des Harnleiters. Ein Zusammenhang der
Lumina besteht sicher nicht; dagegen habe ich in einzelnen Fällen eine
Berührung der Epithelien beobachtet. Ich muss danach die männliche
Tube von Salamandra und Triton für einen hinten blind geschlossenen, in
seinem übrigen Verlaufe mit einem deutlichen Lumen versehenen Canal er-
klären, der an keiner Stelle mit dem Lumen des Harnleiters in offenem Zu-
sammenhange steht. Ganz dasselbe Verhalten habe ich bei Siredon, Ellipso-
glossa, Chioglossa, Desmognathus, Pleurodeles und Salamandrina gefunden.
Nicht beobachtet habe ich das Hinterende bei Amblystoma fasciatum, Spe-
lerpes variegatus, Menobranchus und Menopoma. Bei den beiden letzt-
genannten Arten konnte ich indessen, entgegen Wittichs und Leydigs (?)
1).Wittich. „Harn- und Geschlechtswerkzeuge der Amphibien“. Z.f.w.Z. Bd,
IVES218 9 E Tat EXIT 18:
2) Wiedersheim a. a. O.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 59
Angaben, auf eine weite Strecke den Müllerschen Gang neben dem
Leydigschen nachweisen, bei Menobranchus als einen soliden Zellstrang, bei
Menopoma als einen hohlen Canal, der vollständig in der Musculatur und
der Bindegewebshülle des Harnleiters eingeschlossen lag. Solide fand ich
die Tube ferner bei Spelerpes variegatus und Gyrinophilus porphyriticus.
Vollständig vermisste ich ihn neben dem Leydigschen Gange bei Batra-
choseps, obwohl Reste des vordern Abschnittes, wie wir sehen werden,
auch hier zu erkennen waren.
Das Verhalten des vordern, zwischen der Lunge und der Nieren-
spitze gelegenen und des eben besprochenen hintern Abschnittes stimmt
auch in andern Punkten nicht immer überein. Selbst innerhalb einer Art
ist dieser Abschnitt sehr veränderlich. Schon bei Salamandra maculosa
und bei unsern einheimischen Tritonen findet man an Stelle eines hohlen
Canales gelegentlich einen von bald rundlichen, bald mehr länglichen, von
Cylinderzellen ausgekleideten Cysten unterbrochenen Faserzug; es ist mit
andern Worten die Continuität des Canales unterbrochen und so derselbe
in einzelne völlig isolirte Stücke zerfallen. So fand es auch Wiedersheim |
bei Spelerpes fuscus und Triton platycephalus. Ich fand diese Cysten
ferner bei Plethodon glutinosus, Spelerpes variegatus, Salamandrina perspicillata,
Desmognathus fuscus, Menobranchus und Siren, obwohl bei den vier letzt-
genannten Arten der hintere Tubenabschnitt als eontinuirlicher Canal, resp.
Zellstrang erhalten war. Dass in dieser Hinsicht individuelle Unterschiede
bestehen, ging schon aus meinen oben angeführten Beobachtungen an
Salamandra und Triton hervor. Es findet seine Bestätigung in der That-
sache, dass Wittich bei einem Menobranchus den vordern Tubenabschnitt
nicht nur als Canal, sondern sogar mit einem trichterförmigen Ostium ab-
dominale versehen fand.!) Ganz dasselbe gilt auch für Proteus; hier kann
ich leider die Angaben Leydigs nicht in jeder Hinsicht bestätigen. Bei
der Mehrzahl der von mir untersuchten männlichen Individuen fand ich
vor der Nierenspitze einen mit Cylinderepithel ausgekleideten Canal, der
völlig mit Leydigs Schilderung übereinstimmt. In einem Falle dagegen
fand ich statt eines continuirlichen Ganges nur einen von den oben ge-
schilderten Cysten unterbrochenen Faserstrang, der sich an das bogenförmig
in das vorderste Nierensegment übergehende Ende des Harnleiters ansetzte.
Bei allen denjenigen Thieren indessen, wo der vordere Abschnitt als Canal
erhalten war, bildet derselbe niemals eine Fortsetzung des Harnleiters, wie
es nach Leydigs oben citirter Abbildung der Fall sein sollte, sondern ver-
läuft ganz deutlich neben demselben nach hinten, bis unmittelbar vor die
1) Wittich, a. a. O. Fig. 18.
60 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Kloake, wo er, wie bei den übrigen Gattungen, blind endet, ohne mit dem
Harnleiter zu communiciren. Der Müllersche Gang ist leicht an gefärbten
Präparaten des lateralen Nierenrandes, noch sicherer an Querschnitten
(Taf. III, Fig. 19) durch denselben zu beobachten. Danach ist es mir
sehr wahrscheinlich, dass auch Wittich bei seinem Menobranchus den neben
dem Harnleiter gelegenen Abschnitt des Müllerschen Ganges übersehen
haben dürfte, zumal wenn ich bedenke, dass derselbe bei dem von mir
untersuchten Exemplare hier mit Sicherheit constatirt werden konnte,
Immerhin wird es zur Entscheidung erneuter Untersuchungen an reich-
licherem, womöglich frischem Material bedürfen.
Einen soliden Zellstrang bildete der vordere Tubenabschnitt bei
Batrachoseps und Gyrinophilus.
Verschieden wie der Canal selbst, verhält sich auch sein vorderes
Ende. In den meisten Fällen, namentlich wol in allen, wo der vordere
Abschnitt in isolirte Cysten zerfallen ist, endet er blind: eine der Cysten
schliesst ihn ab. In andern Fällen verschwindet er allmählich, ohne dass
man seine Grenze bestimmt erkennen könnte. In noch andern endlich
besitzt er, wie der Eileiter, ein ostium abdominale. Ein solches finde ich
mit Leydig: bei Proteus; Wittich fand es, wie bereits erwähnt, bei seinem
Menobranchus. Ich habe es ferner bei einem Amblystoma fasceiatum und
bei einigen Exemplaren vom Axolotl beobachtet. (Taf. III, Fig. 16 ot.).
Hinsichtlich der oben geschilderten Cysten, welche sich an Stelle des
vordern Abschnitt der männlichen Tube oftmals finden, kann ich übrigens
ein gewisses Bedenken nicht verschweigen. Da ich solche Cysten einige
Male neben einem in seinem Zusammenhange erhaltenen Canale angetroffen
habe, so ist es mir zweifelhaft geworden, ob man die Cysten überhaupt
als einen Rest des Müllerschen Ganges betrachten dürfe. Möglicher Weise
könnten es rudimentär gebliebene Nierenknäuel sein, doch spricht dagegen
wol ihre Ausdehnung bis weit nach vorn. Es. könnten auch Bildungen
sui generis sein. Nebennieren sind es nicht; diese finden sich mit ihrem
abweichenden, vollständig charakteristischen Aussehen nicht weit davon,
der Aorta eng anliegend. Uebrigens finden sich andrerseits wieder alle
Uebergänge zwischen winzigen kugligen Cysten und langen schlauchartigen
Gebilden, die von Abschnitten eines eigentlichen Müllerschen Canales gar
nicht zu unterscheiden sind, dass mir die oben angenommene Deutung doch
die richtige zu sein scheint.
Im Anschluss an diese Schilderung des Müllerschen Ganges bei den
männlichen Urodelen müssen wir kurz einen Blick auf die demselben nach
Leydig anhängenden Rudimente des Müllerschen Knäuels werfen,
So deutet Leydig einen „liniengrossen hellen, birnförmigen Körper, der
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 61
vom Bauchfell ausgeht, in die Bauchhöhle vorspringt, aus Bindegewebe
besteht, einige vereinzelte Pigmentzellen haben kann und in seinem blinden
Grunde einen knäuelförmig gewundenen Canal liegen hat. Die Windungen
des Canals haben das Caliber von Harncanälchen und sind von hellem in
Essigsäure sich trübenden Zellen ausgekleidet. Ein Ausläufer des Canals
wendet sich gegen den (Müllerschen) „Gang“, verkümmert meist bald,
manchmal erreicht er den ‚Gang‘ noch, häufig aber sehe ich, dass bloss
der bindegewebige Stiel des ganzen Körpers der nächsten Umgebung des
Ganges aufsitzt.‘“!) Leydig hat dieses Gebilde „häufig auf der Höhe
des Schlundes“ gefunden. Leider muss ich bekennen, dass es mir trotz
eifrigen Suchens nicht gelungen ist, jemals etwas zu finden, was ich für
den von Leydig beschriebenen Körper halten könnte. Die Nebennieren,
welche in dieser Gegend eine stattliche Grösse erreichen, liegen hinter dem
Peritoneum, stimmen auch überdies so wenig zu Leydigs Schilderung, dass
ich meine Vermuthung, es könne eines ihrer Knötchen zu den Angaben
Leydigs Veranlassung gegeben haben, bald fallen lassen musste. Es bleibt
mir nichts übrig, als anzunehmen, dass dies Knäuel wie alle rudimentären
Gebilde in seinem Vorkommen sehr variabel ist, und dass Leydig zufällig
unter den von ihm untersuchten Thieren ausnahmsweise viele damit be-
haftete- getroffen hat, während mir das Gegentheil passirt ist. Ich habe
zu wiederholten Malen zahlreiche Individuen darauf untersucht, im Ganzen
wol 30 bis 40 Stück, und kann nicht glauben, dass mir ein liniengrosser
Körper, über dessen Lage ich durch Leydigs Abbildung und Beschreibung
hinreichend orientirt war, namentlich nach Behandlung mit Chromsäure,
hätte entgehen können. Infolgedessen bin ich natürlich auch nicht im
Stande, zu entscheiden, ob Leydigs Deutung dieses Körpers als eines Ueber-
restes des Müllerschen Knäuels richtig ist. Götte spricht die Vermuthung
aus, man werde darin nicht sowohl einen Rest des Müllerschen Knäuels
als vielmehr des neben demselben liegenden Gefässknäuels zu erblicken
haben. 2) Dagegen scheint mir sowohl Leydigs Angabe von einem die
Verbindung mit dem Müllerschen Gange vermittelnden Stiele, als auch die
Existenz einer Kapsel, welche jenem Gefässknäuel immer fehlt, zu sprechen.
Bei den von mir oben beschriebenen Rudimenten des Müllerschen Knäuels
von männlichen Coecilien (siehe S. 18 u. 19) lag die Kapsel, d. h. der Perito-
nealüberzug den Canälen eng an. Entscheidend würde, abgesehen von
einem entwickelungsgeschichtlichen Nachweise, die Beobachtung von trichter-
1) Leydig, „Fische und Reptilien“, S. 75. Taf. IV. Fig. 29.
2) Götte, „Unke“, S. 835. Anm.
62 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
förmigen Oeffnungen in den Kanälen des Knäuels sein, wie sie sich bei
dem Embryonen stets finden. |
Dieselbe Deutung giebt Leydig einem Gebilde, das er bei Menopoma
gefunden hat, obwohl demselben die Kapsel fehlt. Er schildert es
folgendermassen: „Im vordern Theil der Leibeshöhle, wo der (Müllersche)
Gang in der Schlundgegend verläuft, fällt symmetrisch rechts und links
ein Körper auf, der mit dem Gang in Verbindung steht. Der Körper ist
anderthalb Linien gross und hat die Gestalt einer Troddel oder Quaste.
Sein Stiel ist hell, die Quaste selber aber.erscheint etwas gelblich. Der
Stiel ist etwa 1/,‘" breit, besteht aus Bindegewebe und ist ein in die
Abdominalhöhle frei vorspringender Fortsatz des Bauchfelles. Auf diesem
Stiel sitzt die gelbliche Quaste, sie ist nichts anders als ein vielfach ver-
schlungener Canal, der 0.024“ breit ist und innen die Reste eines Epithels
hat, dessen Kerne 0.004 messen. Was aber ausdrücklich hervorgehoben
zu werden verdient, ist, dass dieser geknäuelte Canal keine besondere
Hülle hat, im Gegentheil die einzelnen Windungen ragen unbedeckt in die
Leibeshöhle. In den bindegewebigen Stiel verliert sich von dem Knäuel
aus ein Fortsatz, der aber den an der Basis des Stieles weiter nach vorne
ziehenden (Müllerschen) Gang nicht erreicht, sondern vorher obliterirt ist.‘“ %)
Der Beschreibung und Abbildung Leydigs in jeder Beziehung entsprechende
Körper habe auch ich bei meinen Exemplar gefunden. Leider war es nur
ungenügend erhalten, so dass ich den oben eitirten Worten nichts hinzu-
zufügen vermag. Dass es derselbe Körper wie der vom Salamander be-
schriebene sein sollte, scheint mir einigermassen unwahrscheinlich. Hier
könnte Göttes Vermuthung eher das Richtige treffen.
Bei andern Gattungen habe ich keine Spur eines solchen Körpers
gefunden.
Die Eierstöcke.
Die Eierstöcke sind in der ganzen Reihe der Urodelen nach einem
Typus gebaut, innerhalb dessen sich keinerlei wesentliche Differenzen
nachweisen lassen. Sie stellen jederseits einen ringsum geschlossenen,
länglichen Schlauch dar. Der im Innern desselben gelegene Hohlraum ist
stets ununterbrochen, niemals, wie wir das bei den Anuren finden werden,
in Kammern getheilt. Die Wand dieses Hohlraums besteht aus einem
schwach entwickelten bindegewebigen Stroma, das in dünnen Zügen die
darin eingebetteten Eier umfasst. Derselbe ist von einem einschichtigen
Plattenepithel ausgekleidet, während die äussere Oberfläche des Eierstockes
1) Leydig, a. a. O. S. 83. Taf. IV. Fig. 28.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 63
von dem Peritonealepithel überzogen ist, das stellenweise auch beim er-
erwachsenen Thier den Charakter des Keimepithels beibehält und zur
Ersetzung der verbrauchten Eier dient. Näher kann ich auf diesen Vorgang,
der ohne Kenntniss der ersten Entwicklungsstadien des Organes nicht wohl
behandelt werden kann, hier nicht eingehen; ich muss mir daher eine
eingehendere Schilderung für den zweiten Theil vorbehalten. Die histo-
logische Structur der jungen und reifen Eier ist aus früheren zahlreichen
Beobachtungen hinreichend bekannt, so dass ich mich begnügen kann, der
Vollständigkeit halber zu erwähnen, dass dieselben von einem plattzelligen |
Follikel umschlossen sind, den ich besonders schön bei Spelerpes variegatus
entwickelt fand (Taf. IV, Fig. 1). Der Dotter des reifen Ovarialeies
besitzt die bekannten Täfelchen von wachsglänzendem Aussehen. Er um-
schliesst ein verhältnissmässig grosses Keimbläschen, an dem ich keine
Membran beobachten konnte. An der Peripherie dieses letzteren ange-
ordnet finden sich stets mehr oder minder zahlreiche bläschenförmige
Keimfiecken. Durch den Entwicklungsgrad der Eier wird eine verschiedene
Gestalt des Ovariums bedingt: in der Jugend erscheint dasselbe fein
körnig, während bei geschlechtsreifen Thieren die umfangreichen reifen
Eier dem Ganzen ein traubiges Aussehen verleihen.
Eine Verbindung der Eierstöcke mit den Eileitern besteht bekannt-
lich nicht. Sie sind vielmehr an einem ziemlich breiten Haltebande, das
von der Wurzel des Darmmesenteriums entspringt, frei in der Leibeshöhle
aufgehänst. Die Eier werden durch Platzen der Follikel nicht in den
Hohlraum des Ovariums, sondern in die Leibeshöhle entleert und hier
durch die Thätigkeit des in derselben verbreiteten Wimperepithels vor die
Tubentrichter geführt. Ueber die Verbreitung des Wimperepithels besitze
ich keine Beobachtungen.
Die Hoden.
Die Hoden entsprechen ihrer Lage nach vollständig den Ovarien des
Weibchens. Wie diese sind sie stets symmetrisch an beiden Seiten des
Körpers entwickelt, doch von sehr viel mannichfaltigeren Formen als jene.
Die hier bestehenden Verschiedenheiten betreffen indessen nicht nur die
äussere Gestalt, sondern auch den innern Bau. In Bezug auf diesen lässt
sich als allen Arten gemeinsam die Existenz eines von vorn nach hinten
verlaufenden Ganges bezeichnen, den ich seiner Function wegen als Sammel-
sang bezeichnen werde, ohne damit ausdrücken zu wollen, dass ihm auch
bei den Urodelen die Bedeutung eines Zuwachsorganes zukäme, welche uns
für den gleichnamigen Canal des Coecilienshodens wahrscheinlich geworden
ist. Um diesen Sammelgang gruppiren sich die den Hoden zusammen-
64 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
‘ setzenden Kapseln in dreifach verschiedener Anordnung, entweder so,
dass der Gang in der Mitte radiär gestellter Ampullen liegt, wie es in
‚ Taf. IV, Fig. 2 von Batrachoseps dargestellt ist, oder es sind die Am-
| pullen fächerförmig zu dem dann am Rande des Hodens gelegenen Gange
angeordnet, wie bei Menobranchus (Taf. IV, Fig. 3), oder endlich, es
sind die in diesem Falle stets kurzen, mehr kugligen Ampullen, längs der
Aeste des ungemein reich verzweisten Sammelganges angeordnet, so bei
Salamandra, Triton und Siredon. Zwischen diesen drei Formen finden sich
' indessen mannichfache Uebergänge; selbst verschiedene Abschnitte eines
und desselben Hodens verhalten sich in dieser Hinsicht ungleich. So rückt
bei den Hoden mit centralem Sammelgang der letztere am vordern Ende
meistens an die Peripherie. Dasselbe findet bei der an dritter Stelle auf-
geführten Form statt. Weitere Verschiedenheiten bestehen innerhalb der
ersten beiden Gruppen hinsichtlich der Form der Kapseln). Die Extreme
bieten uns Menobranchus mit ausserordentlich langen schlauchförmigen und
Batrachoseps mit kurz keilförmigen Kapseln dar (Taf. IV, Fig. 2).
Die äussere Gestalt des Hodens ist sowohl bei den verschiedenen
Arten als auch innerhalb derselben Art nach dem Alter sehr mannich-
faltig. Bei Ichthyoden (Proteus, Siren, Menopoma und Menobranchus) stellt
der Hode einen mehr oder minder cylindrischen, vorn in der Regel spitz
auslaufenden, hinten dagegen abgerundeten oder selbst bisweilen kolben-
förmig angeschwollenen Körper dar. In Leydigs Abbildung des Proteus-
hodens ?) ist derselbe nach meinen Beobachtungen, denen allerdings keine
geschlechtsreifen Individuen zu Grunde lagen, nicht ganz treffend dar-
gestellt; ich habe ihn niemals so kurz kegelförmig gefunden. Ob bei
Menopoma eine solche Gliederung des Hodens in mehrere durch Ein-
schnürungen gesonderte Abschnitte, wie Wittich ihn abbildet®), normaler
Weise vorkommt, vermag ich nicht anzugeben : bei meinem Exemplar be-
sass er eine einfach cylindrische Form wie in Bidders Fig. 6. Bei allen
Spelerpes-Arten hatte er die in Fig. 1. Taf. III (Sp. variegatus) dar-
7) Im entwicklungsgeschichtlichen Abschnitt werden wir sehen, dass zwischen
solchen Kapseln, deren Inhalt in einer Brust verbraucht wird, während dann neue
Kapseln an die Stelle derselben treten , also ganz wie es nach Semper bei den
„Ampullen“ des Plagiostomenhodens der Fall ist — und solchen, welche ausser den
zur Reife gelangenden Elementen noch Zuwachsgebilde für eine oder mehrere folgende
Brunsten enthalten, mannichfache Uebergänge vorkommen. Als eine diese Extreme
umfassende Bezeichnung empfiehlt sich ein möglichst indifferenter Ausdruck, wie der
im Text gebrauchte.
2, Leydig, „Fische und Reptilien“, Taf. IV. Fig. 30.
A Wittich.) ZU 1x w. 2. Ba. IV. Taf. IX Pio718,
SPENGEL;: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 65
gestellte Gestalt; ähnlich bei Batrachoseps, Plethodon, Gyrinophilus und
dem einzigen untersuchten Männchen von Chioglossa lusitanica. Bei
Ellipsoglossa nebulosa und naevia war er in drei Exemplaren lang
eylindrisch mit zugespitzten Enden. Beim Axolotl erscheint er als eine
breite, dicke, von zahlreichen Unebenheiten besetzte Platte. Ganz besonders
hat die Form des Salamander- und Tritonhodens, dem sich Desmognathus
und wahrscheinlich auch Salamandrina anschliessen, von jeher die Auf-
merksamkeit der Forscher erregt. Kein Anatom, der den Bau der Ge-
schlechtsorgane dieser Thiere beschrieben hat, hat es unterlassen, zu be-
merken, dass der Hode in mehrere hinter einander gelegene und ver-
schieden gefärbte, sowie mit verschiedenem Inhalte versehene Abschnitte
zerfalle. So sagt Leydig: „Die Farbe der einzelnen Abtheilungen wechselt
zwischen weiss, grau und schwefelgelb, was von dem Inhalt der Hoden-
schläuche herrührt. In den grauen Lappen haben die kurzen Drüsenschläuche
keine Spermatozoiden, sondern sind von grossen, 0.0120“ messenden,
Zellen ausgefüllt. Der Inhalt der Zellen ist blass, feinkörnig, der grosse
Kern hat mehrere Nucleoli. Die Hodenabtheilungen mit schwefelgelber
Farbe haben in denselben Zellen gelbe Fettkügelchen und nur die weiss
aussehenden zeigen die bekannten, schönen, mit undulirender Membran
besetzten Spermatozoiden“.!) Im Wesentlichen gleiche Schilderungen
finden sich bei den übrigen Autoren. Duvernoy, der besonders eine Ein-
sicht in die Gesetzmässigkeit dieser Gliederung zu gewinnen gesucht hat 2),
ist zu keinem befriedigenden Resultat gelangt. Er glaubt, die Zahl der
Abschnitte sei allein abhängig von der Brunst, da er keine constanten
Altersunterschiede zu entdecken vermochte. Die eingehendere Erörterung
dieser Frage muss ich bis zur Darstellung der Entwickelung und des Wachs-
thums verschieben, will indessen hier bemerken, dass die so charakteristische
Gestalt eines Salamanderhodens nicht etwa der Ausdruck einer segmentirten
Anlage des Organs ist, sondern lediglich das Product complieirter Wachs-
thums-, Regenerations- und Degenerationsvorgänge. Nach Leydig sollen
„die Hoden von Salamandra sich von rechts und links durch ein graues,
fadenförmiges Endstück, welches nach vorn und gegen die Medianebene
sich neigt, von beiden Seiten und zwar gerade über dem Magen mit ein-
ander in Verbindung setzen“.?) Den grauen Endfaden habe ich zwar auch
gefunden, denselben auch nach vorn gegen das Mesenterium ziehen sehen,
allein er verliert stets vor seinem Ende bereits die Drüsenzellen, stellt
I) Leydig, a. a. O. S. 74.
.>) Duvernoy, „Fragments“, a. a. O. S. 22 fl.
®) Leydig, „Fische und Reptilien“, S. 74.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. b)
66 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
also nichts dar, als den vordern, mit etwas verdicktem Rande versehenen
Theil des Mesorchiums, wie sich Aehnliches auch bei andern Arten findet;
es ist der pigmentirte Faserzug, den Wiedersheim bei Spelerpes fuscus
beschrieben und abgebildet hat. !)
Es wäre hier der Ort, eine vergleichende Beschreibung der Spermatozoen
der Urodelen anzufügen. Allein da mir vor manchen Gattungen keine
geschlechtsreifen Thiere vorgelegen haben — so von keinem Ichthyoden —
und bei andern wiederum der Erhaltungszustand dieser zarten Gebilde
begreiflicher Weise ein sehr mangelhafter war, so verlohnt es sich nicht, näher
darauf hier einzugehen. Ich will nur erwähnen, dass zu den Gattungen, bei
denen Samenfäden mit undulirendem Saum vorkommen, auch Plethodon
gehört; bei Pl. glutinosus war ein solcher in deutlichster Weise darzustellen.
Dagegen besitzt Desmognathus sicher keine undulirende Membran.
Das Hodennetz.
In dem Mesorchium, das den Hoden mit dem medialen Nierenrande
verbindet, findet sich wie bej den Coecilien ein bald einfacheres, bald
complicirteres Netz von feinen Canälen, welche mit dem Sammelgang des
Hodens einerseits, andrerseits mit der Niere in Verbindung treten. Dieses
Hodennetz kann entweder, wie bei den Coecilien, in zwei wesentlich ver-
schiedene Abschnitte, einen segmentalen und einen nicht-segmentalen, zer-
fallen (Taf. III, Fig. 2, 14 und 15), oder aber es kann nur aus ersterem
bestehen (Taf. III, Fig. 1). Der nicht-segmentale Abschnitt, welcher dem
Hoden zunächst liegt, besteht aus quer verlaufenden Canälen (Fig. 14, hq)
in unbeständiger Zahl und einem in bald grösserer, bald geringerer Aus-
dehnung parallel der Niere ziehenden Längscanal (hl). Dieser hängt dann
seinerseits durch die segmentalen Quercanäle oder vasa efferentia (ve) mit
der Niere zusammen, und zwar entspringt jedes vas efierens aus einem
Malpighischen Körperchen, das dadurch aus einem gestielten in ein „reitendes‘“
verwandelt wird. Bei denjenigen Gattungen dagegen, wo es nicht zur
Bildung eines Längscanales des Hodennetzes kommt — und zwar sind dies
diejenigen Gattungen, bei denen die Geschlechtsniere in hohem Grade
reducirt erscheint, also Spelerpes, Batrachoseps, Plethodon — treten die
auch hier von den Malpighischen Körperchen entspringenden vasa efferentia
ohne Unterbrechung bis zum Sammelgang des Hodens hinüber (Taf. III,
Fig. 1 ve.). Damit ist in den Hauptzügen das Verhalten des Hodennetzes bei
den Urodelen geschildert. Im Einzelnen kommen natürlich mancherlei
Verschiedenheiten auch hier vor. Vor Allem betreffen dieselben die Zahl
!) Wiedersheim, „Salamandrina und Geotriton“, S. 165, Taf. XV. Fig. 123, B. S.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien 67
der betheilisten Nierensegmente, von denen wiederum die Zahl der vasa
efferentia abhängt. Ganz feststehende Zahlen lassen sich hier allerdings
nicht angeben; es finden sowohl individuelle Schwankungen hier statt als
auch Verschiedenheiten zwischen den beiden Körperhälften. Im grossen
Ganzen kann man indessen sagen, dass alle Segmente der Geschlechtsniere
an der Bildung der vasa efferentia betheiligt sind. Das mag auf den
ersten Blick selbstverständlich erscheinen, rührt doch die Bezeichnung
Geschlechtsniere eben von dieser Beziehung zum Ausführungsapparat des
Hodens her. Allein die eben angedeuteten Unregelmässigkeiten nöthigen
uns, die Bestimmung der Ausdehnung des Geschlechtsabschnittes der Niere
nicht sowohl von den vasa efferentia abhängig zu machen, als vielmehr
von dem oben angegebenen Verlauf der Sammelröhren der Niere zum
Harnleiter, so dass derjenige Abschnitt der Niere, dessen Sammelröhren
direct zum Harnleiter treten, als Geschlechtsniere zu bezeichnen wäre,
während der Theil, dessen Sammelröhren sich erst kurz vor der Kloake
vereinigen, die Beckenniere bildet. Diese Definition steht in Einklang mit
dem Verhalten der Geschlechtsnieren bei Plethodon, Spelerpesund Batrachoseps ;
soweit die Sammelröhren direct zum Harnleiter treten, ist die Reduction
erfolgt, obwohl oft nur ein Theil der Segmente vasa efferentia entsendet.
Dies Verhalten der Sammelröhren bietet uns das einfachste Mittel zur
Bestimmung der Grenze der beiden Nierenabschnitte. Wo jedoch, wie bei
den meisten Ichthyoden, sich die Sammelröhren in allen Theilen der Niere
gleich verhalten, muss man zu einem andern Hülfsmittel greifen, und da
bietet sich ausser dem — nicht überall ausgebildeten — Längscanal des
Hodennetzes wol nichts Anderes dar als die Einfachheit der Nierensegmente.
Soweit die Zahl der Nephrostomen und Malpighischen Körperchen mit
derjenigen der Sammelröhren übereinstimmt, soweit reicht die Geschlechts-
niere. Dass es in allen Fällen sehr schwierig sein wird, auf diese Weise
die Grenze zu bestimmen, ja oftmals kaum möglich, brauche-ich nicht zu
bemerken. Für die Weibehen wird man die Grenze zwischen den beiden
Nierenabschnitten entweder nach dem zuletzt besprochenen Kriterium —
der Einfachheit der Segmente — oder durch Vergleichung mit der Aus-
dehnung der männlichen Geschlechtsniere im Verhältniss zur Zahl der
anliegenden Wirbel bestimmen.
Zu den Gattungen, bei denen das Hodennetz in einen segmentalen
und einen nicht-segmentalen Abschnitt zerfällt, oder wo, was dasselbe
sagt, ein Längscanal sich ausbildet, gehören Salamandra, Triton, Siredon
mit Amblysptoma, Menobranchus, Menopoma, Cryptobranchus !), Siren,
!) nach Schmidt, a. a. O.
5*
68 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Ellipsoglossa, Chioglossa, Salamandrina, kurz, die grosse Mehrzahl der
Gattungen. Bei Salamandra finde ich meistens 15 bis 18 vasa efferentia, bei
Triton 12 bis 15, bei Siredon pisciformis 30 bis 32, bei Salamandrina 6 bis 8.
Ausnahmlos entspringt das erste vas efierens hier dem Malpighischen
Körperchen des vorderen Nierensegmentes. In der Regel ist das auch bei
den Gattungen ohne Längscanal, also bei Spelerpes, Plethodon, Desmognathus,
Gyrinophilus und Batrachoseps der Fall. Doch habe ich bei Spelerpes
variegatus (Taf. III. Fig. 1) das erste vas efferens vom dritten Malpighischen
Körperchen, das dritte und letzte vom fünften austreten sehen. Dieser
Befund ist übrigens ganz vereinzelt geblieben und mag daher möglicher
Weise ein abnormes Verhalten darstellen. Als Regel kann man aber für
diese Gruppe angeben, dass wie die Geschlechtsniere so auch die vasa
efferentia eine gewisse Reduction erfahren haben. Es sind nicht nur
dieselben auf die vordersten Segmente beschränkt, sondern bei den hinteren
von ihnen ist oftmals noch das Lumen obliterirt. So finde ich bei Spelerpes
fuscus (Geotriton) nur die zwei bis drei ersten vasa efferentia als deutliche
Canäle mit weitem Lumen ausgebildet, während darauf noch zwei bis drei
weitere folgen, welche nichts als dünne solide Zellstränge darstellen. Bei
Desmognathus fuscus ist sogar nur das vorderste vas efierens functions-
fähig entwickelt; die in unbeständiger Zahl vorhandenen hinteren sind
vollständig rudimentär. Ein diesem völlig analoges Verhalten habe ich
bei der ersten Gruppe, mit Längscanal, niemals beobachtet. Allein schon
Bidder giebt an!), das Sperma trete vorzugsweise durch die vordersten
Nierenknäuel, während es sich in den übrigen nur sparsam und nicht be-
ständig finde. Ich kann diese Notiz nach meinen eigenen Erfahrungen
vollkommen bestätigen, muss sogar erklären, dass ich bei Salamandra,
Triton und Siredon, die ich frisch untersuchen konnte, ausnahmslos nur
in den vordersten zwei bis drei Nierensegmenten, ganz besonders aber in
dem ersten, Sperma gesehen habe. Die übrigen vasa efferentia waren
immer durch mehrfache Querwände versperrt und gestatteten dem vom
Längscanal aus andringenden Samen den Durchgang nicht. Zu einer
völligen Obliteration des Lumens dieser vasa efierentia scheint es indessen
nicht zu kommen.
Den beiden, in der voranstehenden Schilderung auseinander gehaltenen
Gruppen aber ist gemein eine scheinbare Abweichung von dem Verhalten,
das wir bei den Coecilien gefunden hatten. Dort lagen zwischen je zwei
durch ihren Zusammenhang mit vasa efferentia ausgezeichneten Malpighischen
Körperchen, mehrere, welche keine derartige Verbindung besassen. Anders
U) Bidder, a. a. O. S. 37.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 69
ist das bei allen Urodelen; hier wird niemals ein Malpighisches Körperchen
überschlagen, sondern alle zwischen dem vordersten und hintersten vas
efferens gelegenen Malpighischen Körperchen verhalten sich völlig gleich.
Es liefert uns diese beachtenswerthe Thatsache einen neuen Beweis für die
völlige Gleichwerthigkeit der einzelnen Segmente der Geschlechtsniere: ein
jedes besitzt ein Malpighisches Körperchen, ein Nephrostom, ein Sammel-
rohr und, im männlichen Geschlecht, ein vas efferens.
Wir haben jetzt noch kurz die Beziehungen der vasa efferentia zu
den Malpighischen Körperchen im Speciellen und ferner die Modificationen
im Bau der Geschlechtsniere zu betrachten, welche mit ihrer Beziehung
zum Hoden in Zusammenhang stehen.
Die vasa efferentia sind, soweit sie nicht, wie oben angegeben, rudi-
mentär geworden sind, mit einem deutlichen, von Cylinderepithel ausge-
kleideten Lumen versehen. Wimperung habe ich darin niemals beobachtet.
Ebenso verhält sich der Längscanal und die nicht segmentalen Quercanäle.
Die vasa efferentia setzen sich nun entweder an das dem Ansatz des
„Halses“ gegenübergelegene Ende der Bowmanschen Kapsel oder aber sie
rücken dem „Halse“ näher. Das erstere Verhalten ist das normale bei
Salamandra und Triton (Taf. III, Fig. 9), das letztere fand ich als Regel
bei Siren (Taf. III, Fig. 12), beim Axolotl dagegen kam Beides ungefähr
gleich häufig vor. Das Epithel, das die Kapsel des Malpighischen Körper-
chens auskleidet, ist in der Regel wimperlos; beim Axolotl sah ich jedoch
mehrfach die Flimmerung sich aus dem „Halse“ über einen grösseren oder
geringeren Theil der Kapsel verbreiten.
Für die Schätzung des morphologischen Werthes der vasa efferentia von
‘grosser Bedeutung ist das Verhalten der Nephrostomen. Bei den Coecilien
hatten wir ausnahmslos an dem Halsedes primären Malpighischen Körperchens
auch den Segmentaltrichter gefunden. Was bei den Coecilien Regel ist, kommt
aber bei den Urodelen nur bei erwachsenen Thieren blos ausnahmsweise in der
Jugend vor. Untersucht man die Geschlechtsniere nicht-geschlechtsreifer
männlicher Salamander oder Tritonen, so findet man dieselbe Zusammen-
setzung wie beim Weibchen, abgesehen zunächst vom Hodennetz: mit jedem
Malpishischen Körperchen ist in typischer Weise durch Vermittelung des
Halses, ein Nephrostom verbunden. Bei erwachsenen Thieren dieser Gat-
tungen dagegen vermisst man regelmässig die Nephrostomen. Betrachtet
man aber den „Hals“ etwas genauer, so bemerkt man nicht selten an
demselben kurz vor seinem Uebergang in den zweiten Canalabschnitt einen
grössern oder kleinern Höcker, in welchem man den letzten Ueberrest des
Trichterstieles erkennt, wenn man die Mittelstadien aufsucht und bei
“ diesen statt eines Höckers eine hohle Sprosse zur Nierenoberfläche
70 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
ziehen sieht, wo man oftmals noch statt Plattenepithel Cylinderepithel
findet, einen Ueberrest der Scheibe des Nephrostoms. Ein solches degene-
rirendes Nephrostom ist auf Taf. III, Fig. 9 abgebildet. Zwischen diesem
Stadium und der völligen Rückbildung trifft man alle Uebergänge.
Nach den älteren Darstellungen von Duvernoy, Leydig u. A. sollte
man erwarten, auch eine Verkümmerung der Malpighischen Körperchen in
der männlichen Geschlechtsniere eintreten zu sehen. Leydig sagt ausdrück-
lich, eine Erweiterung der Canälchen in Gefässglomeruli aufnehmende
Kapseln fände in den vordersten abgelösten Nierenstückchen bei Salamandra
maculosa nicht statt!). Auf seine Schilderung der vasa efferentia vom
Proteus gehe ich unten noch specieller ein. Duvernoy behauptet, bei Triton
cristatus kämen in dem von ihm als Nebenhoden bezeichneten vordern
Nierenabschnitt nur abnormer Weise Glomeruli vor ?2). Leydig hat in seiner
trefllichen, mehrfach ceitirten Abhandlung sein Augenmerk mehr auf die
Rudimente der männlichen Tube gerichtet und die feineren Verhältnisse:
der vasa efferentia des Hodens zur Niere weniger ins Auge gefasst: so er-
klärt sich, warum er des schon von älteren Beobachtern wie Bidder be-
schriebenen Längscanales des Hodennetzes nicht Erwähnung thut. In der-
selben Thatsache glaube ich auch die Ursache erblicken zu dürfen, weshalb
er die Glomeruli übersehen hat. Duvernoy dagegen, welcher gegenüber „ce
jeune anatomiste“ Bidder, der unabhängig von ihm den Bau des Urogenital-
systems der männlichen Tritonen in einer von keinem seiner Nachfolger
übertroffenen und auch von Duvernoy nicht erreichten Vollkommenheit er-
kannt hatte, behauptete, der Nebenhode sei eine Bildung sui generis, die
mit der Niere keinerlei Verwandtschaft zeige, war in einem Vorurtheile be-
fangen, das ihn an einem klaren Verständniss der Verhältnisse verhinderte.
Bidders Angabe, in jedem Knäuel des „Nebenhodens“ fände sich ein Mal-
ı pighisches Körperchen mit einem Glomerulus, ist durchaus zutreffend. Nur
liegt allerdings der Glomerulus innerhalb der Kapsel, nicht neben oder unter
derselben, wie Bidder angiebt. Auch den von Bidder in seiner Fig. VII abge-
bildeten Fall, wo das Gefässknäuel nicht in der trotzdem typisch entwickelten
Kapsel liegt, sondern in das vas deferens hineingerückt ist, habe ich mehr-
fach beobachtet. Das von Bidder geschilderte Verhalten ist aber keines-
wegs Triton allein eigenthümlich, sondern kommt fast allen Urodelen zu.
Eine Reduction des Malpighischen Körperchens habe ich nur da bemerkt,
wo die Geschlechtsniere auch in ihren übrigen Theilen sehr erheblich
verkümmert war, allein auch nur bei einer Gattung, für welche ich die
1) Leydig, ‚Fische und Reptilien“, S. 75.
2) Duvernoy, a. a. ©. p. 91.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 71
mangelhafte Entwicklung der männlichen Geschlechtsniere als charakteristisch
angegeben hatte. Bei Spelerpes fuscus und variegatus, Batrachoseps attenuatus,
Plethodon glutinosus und Gyrinophilus porphyriticus finde ich deutliche,
wenn auch nurkleine Malpighische Körperchen, denen niemals der Glomerulus
fehlt; ihr Durchmesser bleibt allerdings immer hinter demjenigen der in
der Beckenniere gelegenen zurück, so dass man sie mit gewissem Rechte
als verkümmert bezeichnen kann. Nur bei Desmognathus fuscus habe ich
vergeblich nach einem Malpighischen Körperchen gesucht, eine Thatsache,
die mit der hochgradigen Reduction, welche die Geschlechtsniere bei
dieser Gattung erfährt, wohl in Einklang steht. Von der Regel, dass der
als Nebenhode fungirende vordere Nierenabschnitt sich auch durch echte
Malpighische Körperchen als ein Bestandtheil der Niere charakterisirt,
weichen auch die Ichthyoden nicht ab. Ein Malpighisches Körperchen mit
seinem grossen Glomerulus aus der Geschlechtsniere von. Siren lacertina d
habe ich in Taf. III, Fig. 12, mk. abgebildet, und ein Blick auf die bei
schwacher Vergrösserung angefertigte Zeichnung der Geschlechtsniere von
Proteus anguinus zeigt, dass auch bei dieser Form weder die Gefässschlingen
noch deren Kapseln fehlen, trotz Leydigs gegentheiliger Angabe, die ich
etwas ausführlicher hier besprechen will. Nach Leydigs Schilderung ent-
springt bei Proteus aus der Spitze des Hodens ein einziger Ausführungs-
gang, der bald seine Richtung gegen die abgelösten vordern Nierenlappen
nimmt. „Er hat sich indessen aber gablig getheilt, die Aeste haben sich
wieder vereinigt und indem sie nochmals auseinander gegangen sind, ein
kleines Netz gebildet, dessen zwei bis drei Ausläufer jetzt in die freien Nieren-
läppchen eingehen oder richtiger gesagt, durch ihre Verknäuelungen diese
am vordern Nierenende abgesetzten Lappen bilden. Ausdrücklich erwähnen
will ich, dass in letzteren die Canäle keine Erweiterungen zeigen, daher
auch keine Gefässglomeruli besitzen, auch sind diese isolirten Nierenlappen
von mehr weisslicher Farbe, während die Niere selber röthlicher erscheint“).
Meine Beobachtungen weichen in mehreren Punkten von denen Leydigs
ab. Ich will dabei bemerken, dass es wohl kein Object unter den Uro-
delen giebt, bei dem einer klaren Erkenntniss des Hodennetzes so erheb-
liche Schwierigkeiten entgegenstehen, wie bei Proteus. Der ganze mediale
Nierenrand ist nämlich so dicht durch Nebennierenmassen verpackt, dass
es nicht ohne sorgfältige Präparation gelingt, die einzelnen Canäle in ihren
Zusammenhange zu unterscheiden. In Folge dessen ist es mir nicht immer
gelungen, die Verhältnisse mit befriedigender Klarheit zu erkennen. In
allen Fällen indessen konnte ich mit Sicherheit nachweisen, dass die
N) Leydig, a. a. O. S. 80.
72 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
vordersten Nierenlappen — welche nicht regelmässig von den dahinter ge-
legenen durch einen Zwischenraum getrennt sind — echte Malpighische
Körperchen mit einem Gefässglomerulus besassen, und zwar verhielten sich
diese zum Hodennetz ganz ebenso, wie bei allen übrigen Urodelen : sie
communicirten mit den vasa efferentia. Die letzteren aber bestanden nicht
einfach in den durch Spaltung eines einfachen aus dem Vorderende des
Hodens entspringenden Ausführungsgängen entstandenen Aesten, sondern
traten von den Malpighischen Körperchen zunächst an einem Längscanal,
und dieser setzte sich durch weitere, in verschiedener Zahl vorhandene
Quercanäle mit dem Sammelgang des Hodens in Verbindung. Im Einzelnen
kommen mancherlei Verschiedenheiten bei verschiedenen Individuen vor.
Einen Fall habe ich in Figur 15, Taf. III. abgebildet. Aus dem Sammel-
gang des Hodens entspringen kurz vor der Hodenspitze zwei Quercanäle,
welche sich durch eine Brücke mit einander verbinden und darauf in einen
sich über eine grössere Anzahl von Nierensegmenten erstreckenden Längs-
canal einmünden. Dieser Längscanal besitzt jedoch nur in seinem nach
vorn ziehenden Abschnitt ein Lumen, während er hinten in Gestalt eines
sehr feinen soliden Zellstranges erscheint. Von dem vordern Abschnitt
entspringen drei vasa efferentia, welche sich an die vordersten drei Mal-
pighischen Körperchen ansetzen. Das vierte und fünfte vas efferens be-
sitzen dieselbe Beschaffenheit wie der hintere Abschnitt des Längscanales,
sind also solide und sehr dünn; dass ich keine Blutgefässe vor mir hatte,
ist unzweifelhaft. Auch diese vasa efferentia konnte ich bis an zwei Mal-
pighische Körperchen verfolgen. Dagegen gelang es mir nicht, zwischen
den dann folgenden Malpighischen Körperchen und dem Rudiment des
Längscanales Verbindungsstränge zu erkennen. Es finden sich danach
bei Proteus alle wesentliche Theile eines Hodennetzes wie bei unsern
Salamandern und Tritonen, nur in gewissem Grade reducirt, ob durch
Rückbildung im Laufe der Ontogenie, oder indem die Theile niemals
vollständig angelegt werden, muss ich einstweilen dahingestellt sein
lassen. Die vorderen Nierenlappen entstehen also auch nicht durch Auf-
knäuelung der vasa efferentia selbst, wie Leydig will, sondern sind
aus echten Harncanälen zusammengesetzt, an denen sich sogar bisweilen die
Nephrostomen erhalten. Abgesehen von der Existenz der von Leydig
übersehenen Malpighischen Körperchen lassen sich meine Befunde übrigens
recht wohl mit denen jenes Beobachters in Einklang bringen. Es ist
natürlich sehr leicht möglich, dass die Reduction des hinteren Abschnittes
des Längscanales noch weiter fortschreitet, als es in dem eben geschilderten
Beispiele der Fall gewesen ist; ich habe mich selbst bei einigen Präparaten
vergeblich bemüht, denselben darzustellen. Ebenso kann das Hodennetz
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 13
statt mit zweien oder mehreren mit einem Quercanal aus dem Sammelgang
des Hodens entspringen. Und damit wäre das von Leydig abgebildete
Verhalten vollständig hergestellt. Nur muss ich die Theile etwas anders
deuten. Das dem Hoden zunächst gelegene Stück des Ausführungsganges
wäre der einzige Quercanal, sein grösseres Stück der Längscanal des
Hodennetzes, und die Gabeläste, in welche sich jener theilt, die vordersten,
allein zur Ausbildung gelangten vasa efferentia in dem von mir oben fest-
gestellten Sinne.
Die Samenmasse muss nach den im Voranstehenden ausführlich ge-
schilderten anatomischen Befunden bei den Urodelen folgenden Verlauf
nehmen. Nachdem sie durch die Quercanäle des Hodennetzes in den Längs-
canal desselben getreten, strömt sie vorwiegend durch die vordersten vasa
efferentia ab, in die Malpighischen Körperchen der vordersten Nieren-
segmente, und durchsetzt hier die Harncanälchen ihrer ganzen Länge nach
bis zum Eintritt in den Leydigschen Gang, der also als Harn-Samenleiter
dient. Die von der Function hergenommene Bezeichnung Nebenhode wäre
danach eigentlich auf eine bald grössere, bald geringere Zahl der vor-
dersten Segmente der Geschlechtsniere zu beschränken. Da indessen die
Möglichkeit, wenigstens in der Mehrzahl der Fälle, nicht ausgeschlossen
ist, dass das Sperma auch einmal durch eines der hintern vasa efferentia
in die Niere eintritt, ferner in morphologischer Hinsicht zwischen den
hintern und vordern Segmenten der Geschlechtsniere kein Unterschied be-
‚steht, so wird man immerhin die Bezeichnung Nebenhodentheil der Niere
als synonym mit Geschlechtsabschnitt in dem oben definirten Sinne an-
wenden können. Ob die Canäle desselben nun ausser der Ableitung des
Samens noch die Function der Harnabsonderung besitzen, oder ob diese
auf die hintern Segmente oder endlich vollends auf die Beckenniere be-
schränkt ist, kann ich natürlich nach meinen rein anatomischen Unter-
suchungen nicht entscheiden, finde indessen in denselben keinen Grund,
dem Nebenhodentheil die Fähigkeit der Harnproduction abzusprechen.
Das aus der Geschlechtsniere in den Harn-Samenleiter abgefl: ssene
Sperma verweilt hier, bis es zur Begattung verwendet wird. Dass es von
dem Hinterende dieses Canales bisweilen in die hier ausmündenden Sam-
melröhren der Beckenniere rückwärts hineingedrängt wird, ist nach den
Angaben Bidders wahrscheinlich; wie bereits oben erwähnt, habe ich es in-
dessen stets nur im Harn-Samenleiter selbst, und zwar hier in ungeheuren
Massen gefunden. Die Vermischung mit dem Secret der Beckenniere erfolgt
sicher erst unmittelbar vor der Ausmündung der Canäle in die Kloake.
In der Kloake finden sich bekanntlich bei unsern einheimischen Tri-
tonen Begattungsapparate in Gestalt von etwa pilzförmigen Papillen. Die
74 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Formen der entsprechenden Theile bei den verschiedenen andern Urodelen
sind sehr mannichfaltige; ich habe sie indessen, als ausserhalb meiner
eigentlichen Aufgabe liegend, nicht näher in ihren Umwandlungen verfolgt,
will nur bemerken, dass dieselben weder auf die Gattung Triton beschränkt
noch andrerseits bei allen Arten dieser Gattung vorhanden sind.
Bei Coecilia rostrata hatten wir Rudimente des Hodennetzes auch im
weiblichen Geschlechte gefunden. Dieselben lassen sich auch bei Urodelen
leicht zur Anschauung bringen. Bei Salamandra, Triton und Siredon, die
ich auf diesen Punkt untersucht habe, entsendet jedes Malpighische Körper-
chen der Geschlechtsniere des Weibchens ein vas efferens, bald in Form eines
kurzen Canales, bald als soliden Zellstrang. Alle diese vasa efferentia ver-
binden sich unter einander durch einen Längscanal, von dem dann einige
Quercanäle zum Ovarium hinziehen, ohne indessen dieses jemals zu er-
reichen ; sie enden vielmehr, wie bei den Coecilien, blind im Mesoarium.
Ausser den beschriebenen Canälen der Niere sollen nach Waldeyers
Angabe beim weiblichen Triton Canäle vorkommen, die er dem Epoophoron
der Amnioten vergleich. „Man findet nämlich in der Bauchfellfalte
zwischen Niere und Urogentialcanal (Harnleiter?) einzelne zarte epithel-
führende Canälchen, gewöhnlich mit körnigem Detritus gefüllt, die sich von
den Blutyefässen deutlich unterscheiden. Von da nach dem Hilus ovarii
hin habe ich keine epithelführenden Canäle mehr finden können, vielleicht
sind sie aber auch dort bei andern Species vorhanden !).“ Was nun die
thatsächlichen Befunde anbetrifft, so babe ich mich vergeblich bemüht,
zwischen der Niere und dem Harnleiter andere Canäle zu finden als die
oben beschriebenen Endstücke der Harncanälchen, die Sammelröhren.
Zwischen Harn- und Eileiter sind nur Blutgefässe vorhanden. Ich möchte
vermuthen, dass Waldeyer Theile des rudimentären Hodennetzes vor Augen
gehabt hat, wenn nicht die von ihm angegebene Lage dem widerspräche.
Dass indessen dieses mit dem, einen Ueberrest der Urniere darstellenden
Epoophoron der Amnioten nichts zu thun haben kann, geht schon daraus
zur Genüge hervor, dass die Niere der Amphibien, wie dies Waldeyer
selbst ausspricht, der Urniere der Amnioten homolog ist, also nicht wohl
ausserdem noch mit Rudimenten einer solchen verbunden sein kann.
Fassen wir zum Schluss die gewonnenen Ergebnisse kurz zusammen.
Die Urodelenniere setzt sich aus einer grossen Anzahl von Knäueln
zusammen, deren jeder den Bau eines Segmentalorgans, wie wir ihn bei den
Coecilien kennen gelernt haben, besitzt also mit einem Malpighischen Kör-
perchen, einem Nephrostom und einem in vier Abschnitte gegliederten
2) Waldeyer, „Eierstock und Ei‘, $, 148.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 75
Harncanälchen besteht. In den hinteren Abschnitt, den wir als Becken-
niere bezeichneten, ist durch secundäre Wachsthumvorgänge eine Vermehrung
der genannten Theile der Segmentalorgane erfolgt, während in dem vordern
Geschlechtsabschnitte dieselben einfach geblieben sind.
In fast allen Fällen stimmt die Zahl der Nierensegmente nicht mit
derjenigen der Körpersegmente (Wirbel) überein, sondern ist grösser als
dieselbe. Nur bei Spelerpes variegatus wurde in einen vereinzelten Falle eine
Uebereinstimmung in dieser Hinsicht wahrgenommen, während in anderen
auf je zwei Wirbel drei Nierensegmente kamen. Diese Befunde bedürfen
weiterer Nachforschung. Bei allen übrigen Gattungen betrug die Zahl der
Nierensegmente das Zwei-, Drei- oder Vierfache der Wirbelzahl. Innerhalb
der einzelnen Arten schwankte dies Verhältniss oftmals. In der Beckenniere
treten noch weitere, ohne Kenntniss der Entwickelungsgeschichte nicht ver-
ständliche Complicationen auf.
Als Ausführungsgang der Niere erscheint in beiden Geschlechtern der
Leydigsche Gang. Er verläuft am lateralen Nierenrande und mündet stets
getrennt von dem der andern Körperhälfte, im weiblichen Geschlecht auch
getrennt von dem Eileiter.
Als Ausführungsgang für die weiblichen Geschlechtsstoffe eat der
Müllersche Gang. Er beginnt mit einem meistens am Vorderende der
Leibeshöhle gelegenen, nur bei Proteus und Batrachoseps weiter nach hinten
gerückten ostium abdomiale und mündet in die Kloake, bei den von mir
untersuchten Arten ausnahmslos von demjenigen der andern Körperhälfte
getrennt, während bei Triton platycephalus von Wiedersheim eine Ver-
schmelzung der Kloakenenden der beiderseitigen Eileiter angegeben wird.
Die Ovarien sind paarige, in Bauchfellfalten frei in der Leibeshöhle
aufgehängte, allseitig geschlossene Säcke mit je einem ungetheilten Hohl-
raum. Die Entleerung der Eier erfolgt durch Dehiscenz der sie um-
schliessenden Follikel, in die Leibeshöhle, wo sie durch Wimperepithel den
triehterförmigen Mündungen der Eileiter zugeführt werden.
Die Hoden verhalten sich hinsichtlich ihrer Lage und Befestigung wie
die Ovarien. Ein Sammelgang verläuft ihrer Längsachse nach entweder in
der Mitte oder am medialen Rande des Organs. Ein im Mesorchium ent-
wickeltes Hodennetz, das aus Quercanälen, einem Längscanal und den, von
den Malpighischen Körperchen der Geschlechtsniere entspringenden vasa
efferentia gebildet wird, vermittelt den Zusammenhang mit der Geschlechts-
niere, welche in ihren vordern Segmenten als Nebenhode fungirt. In
einigen Fällen, wo die Geschlechtsniere stark reducirt erscheint, besteht
das Hodennetz nur aus einer Anzahl von vasa efferentia, ohne das es zur
Bildung eines Längscanales käme.
76 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Dem Hodennetz des Männchens entsprechende Canäle kommen in
rudimentärer Form auch im weiblichen Geschlecht vor.
Als Ausführungsgang für den Samen fungirt der Harnleiter oder
Leydigsche Gang, der demgemäss als Harn-Samenleiter bezeichnet wird.
Der Müllersche Gang ist im männlichen Geschlecht bei allen Gattun-
gen als Rudiment in verschiedenem Umfange nachzuweisen.
Der ventralen Fläche jedes die Geschlechtsdrüsen tragenden Halte-
bandes ist zwischen dem medialen Nierenrande und der Geschlechtsdrüse
ein der Längsachse des Körpers parallel ziehender Fettkörper angefügt.
Nachträglicher Zusatz.
Erst nach dem Druck des obigen Abschnittes bin ich auf eine Ab-
handlung von Dr. R. Reger „über die Malpighischen Knäuel der Nieren
und ihre sogenannten Kapseln‘ !) aufmerksam geworden, in welcher bereits
zwei Thatsachen mitgetheilt, deren Entdeckung ich mir zuzuschreiben ge-
neigt war. Reger sagt auf S. 552: „Beiläufig erwähnt werden möge noch,
dass ich häufie, namentlich bei Triton cristatus, meist kurz vor dem Ueber-
gange ‘des zuführenden Harncanälchens in die Ampulle einen Canal in
dasselbe einmünden und Flüssigkeit sowohl spontan, als auch auf Druck
in denselben deutlich ein- und austreten sah. Welcher Natur aber dieser
Canal sei, ob er namentlich nicht als Verbindungsgang zwischen zwei Harn-
canälchen aufzufassen sei, oder ob das Ganze in das System verästelter
Harncanälchen gehöre, die zu einem Ausführungsgange führen, kann ich
nicht angeben, da es mir nie gelang, seinen weiteren Verlauf zu verfolgen.“
Ein Blick auf die beigefügte Abbildung, Fig. I, Taf. XIII. A, zeigt, dass
der Verf. auf dem Wege gewesen ist, die Nephrostomen zu entdecken;
denn der oben geschilderte Canal ist nichts anderes als der „Trichterstiel“.
Ich finde in dieser Beobachtung Regers eine willkommene Bestätigung
meiner obigen Angaben über den Zusammenhang der Nephrostomen mit
dem „Hals‘‘ der Malpighischen Körperchen (Reger „zuführenden Canal der
Ampullen‘). Reger hat ferner die Canäle gesehen, welche ich oben als
Rudiment des Hodennetzes beim Weibchen beschrieben habe, wenigstens
den Längscanal. Von einem richtigen Verständniss ist er allerdings weit
entfernt. Seine Auffassung des „Längscanales‘ ergiebt sich hauptsächlich
aus der Tafelerklärung, wo er mein „vas efferens‘“ bezeichnet als „Canal,
der aus der Ampulle in den Ureter“ führt, indem er „Ureter‘‘ (g in seinen
Figuren) den „Längscanal“ nennt. Daher die Bezeichnung des ‚„Halses‘*
als ‚„zuführendes Harncanälchen“. Auf seine übrigen Erörterungen über
1) Müllers Archiv. 1864. S. 537 ff. Taf, XIII. A.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 77
die Beziehungen des Malpighischen Glomerulus zu den Harncanälchen etc.
brauche ich hier nicht einzugehen. Dass das Gefässknäuel innerhalb der
Kapsel (Regers „‚Ampulle‘‘), und nicht, wie Verf. mit Bidder und Reichert
annimmt, bloss an derselben liegt, ist mit Hülfe von Querschnitten un-
zweifelhaft zu erweisen, wie denn diese Anschauung jetzt auch wohl die
allgemein geltende ist.
Capitel III.
Die Anuren,
Ueber einzelne Abschnitte des Urogenitalsystems der Anuren liegen
zahlreiche Schriften vor, doch fehlt es an einer umfassenden vergleichend-
anatomischer Untersuchung.
Bidder schildert in seinen „Vergleichend-anatomischen und histologischen
Untersuchungen über die männlichen Geschlechts- und Harnwerkzeuge der
nackten Amphibien“ die Beziehungen des Hodens zur Niere bei Rana und
Bufo. Bei letzterer Gattung findet er ein „accessorisches Organ“ an jedem
Hoden.
Lereboullet beschreibt in seiner Abhandlung über die „Anatomie des
organes genitaux des animaux vertebres“ !) das Urogenitalsystem von Rana.
Er bestätigt Bidders Angaben hinsichtlich der Beziehungen des Hodens zur
Niere, ohne indessen in die Erkenntniss dieser Verhältnisse tiefer einge-
drungen zu sein als sein Vorgänger. Bei manchen Männchen fand er (p. 79)
„un canal deferent accessoire, sorte de diverticulum‘, das bis an die Seiten
der Lungenwurzel lief (Müllerscher Gang). Die Harnleiter münden hinter
den Eileitern, deren Structur beschrieben wird (p. 107). Der Eierstock
besteht aus einer Reihe von einzelnen völlig getrennten Säcken, „qui con-
stituent & elles ceules autant d’ovaires particuliers &troitement unis entre
eux par le peritoine, mais dont la cavite est fermee de toute part, du
moins le plus ordinairement“ (p. 55).
Leydig richtet in seinen „Anatomisch -histologischen Untersuchungen
über Fische und Reptilien“ in den dem Urogenitalsystem von Rana, Cera-
tophrys, Bufo und Bombinator gewidmeten Paragraphen sein Augenmerk
hauptsächlich auf die Müllerschen Gänge der Männchen. Auch er findet
Bidders „accessorisches Organ“ am Krötenhoden.
1) Nova Acta Acad. Leop. Carol. 1851.
78 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Wittich !) findet das von ihm als „rudimentäres Ovarium“ bezeichnete
„accessorische Organ“ Bidders auch bei Bufo musicus, B. agua und Doei-
dophryne Lazarus, vermisst es dagegen bei Gasterophryne marmorata.
Ausführlich beschreibt er den Urogenitalapparat von Discoglossus pietus;
wir kommen darauf unten eingehend zurück. f
Zu histologischen Untersuchungen ist begreiflicher Weise die Niere
des physiologischen Versuchsthieres, des Frosches, vorwiegend verwendet;
wir haben infolgedessen eine grössere Reihe von Schriften über diesen
Gegenstand zu verzeichnen. Ausser den citirten Abhandlungen von Bidder
und Wittich handeln über diesen Gegenstand Ludwig), Hyrtl®), Roth ®),
Mecznikow °), Hüfner ©) und in neuester Zeit Heidenhain ?) und Fr. Meyer ®).
Ich begnüge mich an dieser Stelle mit der blossen Anführung und werde
die Ergebnisse dieser Untersuchungen im Laufe der Darstellung meiner
eigenen Beobachtungen nachtragen.
Ueber den feinern Bau des Froschhodens finden sich einige Angaben
in den citirten Schriften von Lereboullet und Leydig. Die zahlreichen
Publicationen über die Gestalt und die Entwicklung der Spermatozen
können erst im zweiten Abschnitt dieser Arbeit Berücksichtigung finden.
Bei der ausserordentlichen Menge der lebenden Anuren war eine Be-
schränkung in der Auswahl des Beobachtungsmaterials geboten. Ich habe
daher hauptsächlich die in grösserer Zahl zu beschaffenden europäischen
Formen untersucht und von auswärtigen vornehmlich diejenigen, welche
wegen anderweitiger anatomischer Charaktere unser Interresse erregen, wie
1) Wittich, „Harn- und Geschlechtswerkzeuge von Discoglossus pietus und
einiger anderer aussereuropäischer Batrachier.“ Z. f. w. Z. Bd. IV. S. 168.
2) Wagners Handwörterbuch der Physiologie, Bd. II. S. 631. Strickers Hand-
buch der Gewebelehre: ‚Von der Niere.‘ S. 489.
3) Hyrtl, „Ueber die Injection der Wirbelthiernieren und deren Ergebnisse.‘ —
Wiener Akad. Sitzgsber. Math. naturw. Cl. Bd. 47. Abth. I. S. 172. '
4) Roth, „Untersuchungen über die Drüsensubstanz der Niere.‘ — Schwei-
zerische Zeitschr. f. Heilkunde 1874. Bd. II. S. 1. \
5) Mecznikow. „Zur vergleichenden Histologie der Niere.“ — Nachrichten von
der kgl. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen. 1866. Nr. 5. 8. 61.
6) Hüfner, „Zur vergleichenden Anatomie und Physiologie der Harnkanälchen.“
Inaug.-Diss. Leipzig. 1866.
?) Heidenhain. „Mikroskopische Beiträge zur Anatomie und Physiologie der
Nieren.“ Arch. f. mikr. Anat. Bd. X. S. 22.
8) Fr. Meyer, „Beitrag zur Anatomie des Urogenitalsystems der Selachier und
Amphibien.‘ — Sitzgsbr. d. Naturf. Ges. Leipzig. Nr. 2, 3, 4. 30. April 1875. 8. 38.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 79
Pipa, Dactylethra etc. In der Erwartung, unter den australischen Anuren
abweichende Formen zu finden, habe ich mehrere dortige Arten untersucht,
doch ohne das gewünschte Ergebniss. Einige wegen ihrer Fortpflanzungs-
weise bekannte Arten wie Opisthodelphys (Notodelphys) und Nototrema
konnte ich leider nicht erhalten. Immerhin habe ich eine stattliche Anzahl
von Arten untersuchen können, nämlich:
I. an lebenden Exemplaren:
Rana temporaria und esculenta, d und 9.
Bufo cinereus, calamita und variabilis, d und 9.
Bombinator igneus, d und 9.
Alytes obstetricans, d und 9.
Discoglossus pietus, d und 9.
Pelobates fuscus, d und 9.
Pelodytes punctatus, Q, jung.
U. an Spiritus-Exemplaren ;
Bufo agua, d und 9.
„ aAmericana, d.
„ Intermedia, d.
„ melanostietus, 9.
„ scaber, 9.
Ceratophrys montana, 9.
Pyxicephalus, d.
Rana halecina, d.
Cystignathus ocellatus, d.
Heliorana Grayi, d.
Cryptotis brevis, d.
Limnodynastes Peronii, d.
Pseudophryne Bibroni, d und 9.
Platymantis vitianus, d,
Athelopus varius, 9.
Hypopachus Seebachii, d.
Hyla xerophylla (?), &.
Polypedates quadrilineatus, 9.
Ixalus sp. d und 9.
Phyllomedusa bicolor, d'.
Pipa surinamensis, d und mehrere junge Thiere aus den
Rückenzellen.
Dactylethra capensis, d.
Ich verdanke dies Material der Güte der Herren Prof. Ehlers, Dr.
Hubrecht, Prof. Leydig, Prof. Peters, Prof. Semper und Dr. Wiedersheim.
80 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Die Unterschiede, weiche hinsichtlich der Anordnung der Harn- und
Geschlechtsorgane innerhalb der Leibeshöhle zwischen den Urodelen und
den Anuren bestehen, sind vornehmlich durch die ausserordentliche Kürze
und Gedrungenheit des Rumpfes bei den Letzteren bedingt. Dem ent-
sprechend besitzen die zu beiden Seiten der Wirbelsäule liegenden, nur
durch die Gefässe von einander getrennten Nieren der Anuren eine geringe
Länge bei verhältnissmässig grosser Breite. Sie liegen bald weiter nach
vorn, bald weiter nach hinten gerückt, ohne indessen, wie bei den Coe-
cilien, die vordere, noch, wie bei den Urodelen, die hintere Grenze der
Leibeshöhle zu erreichen. Die Folge davon ist, dass die am lateralen
Nierenrande verlaufenden Harnleiter eine mehr oder minder lange Strecke
frei dahinziehen, ehe sie in die Kloake ausmünden. Lateralwärts von
ihnen finden sich im weiblichen Geschlechte die Eileiter, mächtig ent-
wickelte Canäle, welche an der Lungenwurzel mit einem trichterförmigen
ostium abdominale beginnen und, wie die Harnleiter, in der dorsalen Kloa-
kenwand enden. An der Stelle, wo beim Weibchen der Eileiter liegt,
finden sich im männlichen Geschlecht oftmals diesem entsprechende Canäle
in verschiedenem Grade der Aus- resp. Rückbildung. Die Geschlechts-
organe sind durch meist ziemlich breite Haltebänder (Mesoarium und Me-
sorchium), welche von der Wurzel der Darmmesenteriums entspringen, an dem
medialen Nierenrande befestigt, beim Weibchen fast in der ganzen Aus-
dehnung des Letzteren, beim Männchen, entsprechend der geringeren Länge
des Hodens, nur am vordern Theile desselben. Nach vorn setzen sich an
die Geschlechtsorgane eigenthümliche, in der Regel fingerförmig gelappte
Fettkörper an, welche dem Rande des Haltebandes folgend auch mit der
Nierenspitze sich verbinden.
Die Nieren.
Die äussere Gestalt der Nieren ist bei allen Anuren im Wesentlichen
die gleiche: es sind längliche, bald breitere, bald schmalere, in der Regel
ziemlich platte Körper. In Bezug auf das Verhältniss der Hauptdurch-
messer zu einander kommen erhebliche Schwankungen vor. Während bei
Rana und Bufo die Nieren meistens drei- bis viermal so lang wie breit
sind, erreicht bei Dactylethra capensis die Länge etwa das Sechsfache der
Breite, wohingegen bei Platymantis vitianus, Cryptotis brevis, Ixalus sp. und
andern Formen die Breite fast die Hälfte der geringen Länge beträgt.
Die ventrale Fläche ist, während die dorsale stets ziemlich glatt ist, oft-
mals durch tief einschneidende Gefässe stark gelappt; glatt ist sie bei Bom-
binator, Alytes, Pelobates, Pseudophryne, Crptyotis, Heliorana, Pipa, Hypo-
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien, 81
pachus etc., lappig bei Rana, Hyla und namentlich bei den Bufoniden. Bei
Hyla xerophylla & erschienen die Nieren durch die tiefen Einschnitte wie
segmentirt. Die kurzen Nieren liegen im Allgemeinen am weitesten nach
vorn in der Leibeshöhle, so dass die Harnleiter vom Hinterende der
Nieren bis zur Kloake in weiter Ausdehnung frei liegen. Doch gilt diese
Regel nicht ausnahmslos: bei den mit kurzen Nieren von 7—8 mm. Länge
versehenen Gattungen Cryptotis, Limnodynastes, Pseudophryne, Platymantis,
Ixalus ist das freie Harnleiterende etwa ebenso lang wie die Niere selbst,
dagegen berührte das Hinterende der Niere von Athelopus varius Q fast
die Kloake, obwohl die Niere gleichfalls nur 7 mm. lang war. Diese Art
schloss sich in dieser Hinsicht an die durch ihre lange und weit nach
hinten gerückte Niere ausgezeichnete Dactylethra capensis an, bei der die
Harnleiter von der Niere bis zur Kloake nur 1—2 mm. zurückzulegen
hatten. Ebenso schwankend wie der Längendurchmesser ist der Dicken-
durchmesser. Während die Nieren bei Hypopachus Seebachii, Limno-
dynastes Peronii, Platymantis vitianus u. a. A. sehr platt sind, Y/,—!/, so
dick wie breit, besitzen die Kröten, ferner Hyla, Pipa, Dactylethra, Pelo-
bates und Rana sehr dicke Nieren. Zwischen diese Extreme stellen sich
Discoglossus und Bombinator.
Hinsichtlich des feineren Baues der Niere lassen sich die von ver-
schiedenen neueren Forschern an Rana gewonnenen Ergebnisse auch auf
die übrigen Anuren im Wesentlichen übertragen. Ich theile zunächst mit,
was bisher über die Anordnung und die Histologie der Harncanälchen be-
kannt war, und folge dabei der Schilderung des neuesten Beobachters,
Heidenhain !), welcher hinsichtlich des Verlaufes und Zusammenhanges der
Canäle die älteren Angaben von Roth, Hüfner und Mecznikoff bestätigt.
Der aus der Kapsel des Malpighischen Körperchens hervorgehende Hals ist
mit Flimmerzellen ausgekleidet, deren Cilien den Durchmesser der Lichtung
des Canales erheblich übertreffen und sich deshalb im Innern des Canales
parallel seiner Längsaxe anordnen. Heidenhain giebt an, „die Spitze der
Cilien sei immer gegen den Anfangstheil des Canales an der Malpighischen
Kapsel hin gerichtet.“ Ich habe diesen Punkt bereits bei den Urodelen
erörtert und kann nur das dort Gesagte wiederholen; ich traf an frischen
Präparaten die Cilien stets in entgegengesetzter Richtung, und ebenso an
Schnitten von gehärteten Nieren. Die dem Malpighischen Körperchen zu-
nächst stehenden Haare ragen allerdings in den Hohlraum desselben hin;
auch darüber habe ich mich schon oben ausgesprochen (s. S. 43). Der
Hals geht über in ein zweites Canalstück, das „von cylindrischen Zellen
!) Heidenhain a. a. O. S. 22.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 6
82 SPENGEL : Das Urogenitalsystem der Amphibien.
mit granulirtem Inhalte und deutlichem Kerne ausgekleidet ist.“ In dem
sich anschliessenden dritten Abschnitt endeckte Mecznikow !) Flimmerung;
er stimmt in Bezug auf die Epithelien vollständig mit dem Halse überein.
„Die vierte Abtheilung zeigt die eigenthümliche Stäbchen-Formation“ der
Zellen. Die Verbindung mit den Sammelröhren vermittelt ein „mit hellen
kubischen oder cylindrischen Zellen ausgekleidetes Stück.“ Diese ver-
schiedenen Canalabschnitte finde ich mit den früheren Autoren folgender-
massen in der Froschniere vertheiltl. Die Malpighischen Körperchen liegen
vorwiegend in der Nähe der ventralen Fläche des Organs; der Hals ent-
springt von der dorsalen Seite der Kapsel und zieht zunächst in der Rich-
tung zur dorsalen Nierenfläche, erreicht dieselbe indessen nicht, sondern
geht vorher über in den zweiten Abschnitt, der sich in der dorsalen
Nierenhälfte mehrfach hin- und herwindet und sich schliesslich wieder der
ventralen nähert, um hier in das dritte, mit Wimperepithel ausgekleidete
Canalstück überzugehen. Die Windungen des vierten Abschnittes verbreiten
sich vorwiegend in der ventralen Nierenhälfte, vereinigen sich aber
schliesslich mit den dorsal gelegenen Sammelröhren, in welche sie etwa
unter rechtem Winkel einmünden, während die Sammelröhren selbst quer
durch die Niere ziehen und am lateralen Rande sich mit dem daselbst be-
findlichen Harnleiter verbinden.
Ich kann die bisherigen Kenntnisse vom Bau der Anuren-Niere durch
den Nachweis von Nephrostomen erweitern, wie es oben für die Coecilien
und Urodelen geschehen ist. Die ersten Beobachtungen theilte ich im
Frühjahr 1875 in einem kurzen Aufsatze?) bereits mit. Fast gleichzeitig
erschien von Fritz Meyer?) in Leipzig ein „Beitrag zur Anatomie des
Urogenitalsystems der Selachier und Amphibien,“ in welchem der Verfasser
seine unabhängig von mir gemachte Entdeckung derselben Gebilde mit-
theilte. Meyer, der diese Trichter „Stomata“ nennt, stellte dieselben durch
Versilberung der Nierenoberfläche dar, und es gelang ihm auf diese Weise
in einer Niere eines erwachsenen männlichen Rana temporaria 195 der-
selben zu zählen. Da ich mich auf die Untersuchung frischer Objekte be-
schränkte und der grösseren Durchsichtigkeit halber junge Thiere benutzte,
so sah ich fast nur die nahe am Nierenrande gelegenen Trichter und gab
daher als höchste Zahl der von mir an einem jungen Frosch beobachteten
Trichter 26 an, fügte indessen schon damals hinzu, dass mir wahrscheinlich
1) Mecznikow a. a. O. S. 62.
2) Spengel. „Wimpertrichter in der Amphibienniere.‘“ Centralblatt f. d. med.
Wissensch, 1875, Nr. 23.
®) Sitzungsberichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Leipzig. 1875. Nr. 2, 3.
4. 8. 38.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 83
noch mehr als einer entgangen sein dürfte. Inzwischen habe ich mich mit
Hülfe der Versilberung überzeugt, dass Meyers Zahl in der That das Rich-
tige trifft. Allein da mir jene Methode nur unsichere Resultate gab und
die Präparate überdies mit der Zeit durch zu starke Schwärzung unbrauch-
bar wurden, so habe ich zu dem bekannten Universalmittel, der Chrom-
säure, gegriffen, und damit ist es mir gelungen, die Nephrostomen der
Anurenniere in deutlichster Weise darzustellen. Die Figuren 4 und 5 der
Taf. IV geben ein ziemlich naturgetreues Bild der ventralen Flächen so be-
handelter Nieren von Rana temporaria d und Discoglossus pietus & in
etwa achtfacher Vergrösserung. An dem Präparat vom Frosch gewahrt
man eine Anzahl länglicher Löcher, von einem schmalen erhabenen Rande
umgeben; sie finden sich in hervorragender Grösse namentlich längs der
Gefässe, während eine Anzahl kleinerer auch auf der Fläche zwischen je
zwei Gefässen zu sehen sind. Ausser diesen deutlich als Löcher imponi-
renden Gebilden erblickt man zahlreiche Höckerchen, und auch diese er-
weisen sich bei Anwendung stärkerer Vergrösserung sowie an Schnitten als
Nephrostomen, deren Oeffnung nur sehr eng ist. Was die Verbreitung der
Nephrostomen auf der Nierenoberfläche betrifft, so lehrt ein Blick auf die
Figur, dass dieselbe nur in ganz allgemeinen Zügen anzugeben ist. Die
Trichter beschränken sich auf denjenigen Theil der ventralen Fläche, welcher
vom Peritoneum überzogen wird, während ein hinterer, in der Abbildung
vom Peritoneum überdeckter Abschnitt derselben entbehrt. Auf der vor-
dern, an Nephrostomen reichen Fläche erscheinen nur die medianwärts
von der Nebenniere gelegenen, durch die Gefässe von einander getrennten
Felder wie besäet mit Oeffnungen, während solche an dem schmalen Streifen,
der zwischen der Nebenniere und dem Harnleiter liegt, nur spärlich vor-
handen sind, allerdings bisweilen in grösserer Menge als in dem abge-
bildeten Präparate. Verhältnissmässig selten gelingt es, die Nephrostomen
der Froschniere in der Deutlichkeit darzustellen, wie in dem geschilderten
Falle. Die Grösse der äusserlich sichtbaren Trichter ist nämlich wesent-
lich bedingt durch ein Verhältniss, das die Bestimmung der Zahl der
eigentlichen Oeffnungen ziemlich unmöglich macht. Sehr häufig sind
mehrere Nephrostomen von einem gemeinsamen Rande umwallt, und so
entstehen jene auffallend grossen bis zu 0.10 —0.15 mm. weiten Löcher,
welche wir namentlich längs der Gefässe erblicken; ein jedes führt nicht
in einen Trichterstiel, sondern in eine grössere oder geringere Anzahl
solcher. An andern Präparaten findet man an den entsprechenden Stellen
statt weniger und grosser viele kleine Trichter. Man kann also im All-
gemeinen sagen, je kleiner die Nephrostomen sind, desto zahlreicher sind
sie und umgekehrt. In dem abgebildeten Präparat, das sich durch be-
6*
84 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.’
sonders grosse Trichter auszeichnet, — von denen einige sogar mit blossem
Auge sichtbar sind — waren bei einer 15—20fachen Loupenvergrösserung
etwa 200 zu sehen, was also etwa der von Meyer beobachteten Zahl ent-
spräche. Doch giebt es auch Nieren mit 250 Trichtern und noch darüber.
Charakteristisch ist für die Niere von Rana temporaria die Lage der Oeff-
nungen zur Oberfläche; die Trichterstiele ziehen ziemlich senkrecht zu
dieser in die Nierenmasse hinein, so dass man bei einer Betrachtung von
der Bauchseite her in den Grund der Trichter hineinschaut. In dieser
Hinsicht schliessen sich die Bufonen an die Frösche an. An meinen
Präparaten von Nieren der Arten Bufo cinereus, variabilis und calamita
war die Vertheilung der Nephrostomen gleichfalls eine sehr unbestimmte,
doch auch vorwiegend auf dem medialen Abschnitt der Oberfläche. Anders
verhalten sich Bombinator igneus und Discoglossus pietus. Hier blicken
die Trichteröffnungen nicht ventralwärts, sondern meistens nach dem Me-
senterium zu, also medianwärts, und die von ihnen entspringenden Trichter-
stiele ziehen, statt sich in die Tiefe zu senken, eine erhebliche Strecke —
1 bis 2 mm. — an der Oberfläche des Organs hin. Man bekommt daher
bei diesen Arten, wenn man die Niere von der Bauchseite betrachtet, nie-
mals den Trichtergrund zu Gesicht, sondern erblickt das Nephrostom immer
im Profil. Bei Bombinator wie bei Discoglossus ist die Nebenniere hart
an den medialen Nierenrand gedrückt, und die Trichter haben sich infolge-
dessen ausschliesslich auf der lateral davon gelegenen Fläche entwickelt.
Bei Discoglossus erkennt man eine gewisse Anordnung in Querzügen, so
dass die Nephrostomen fast wie Düten in einander zu stecken scheinen.
Bei Bombinatur (Taf. IV. Fig. 4) dagegen häufen sich dieselben vorherr-
schend in der Nähe des medialen Nierenrandes an, so dass sie hier eine
mehrfache Längsreihe darstellen. Auf der übrigen Nierenfläche sind sie
regellos vertheilt. Ihre Zahl beträgt auch bei diesen Gattungen bis an 200.
Genauere Angaben über die Anordnung der Trichter kann ich nur für
die angeführten Gattungen machen. Meine längere Zeit in der Gefangen- .
schaft gehaltenen Pelobates sind mir leider im Winter zu Grunde gegangen,
ehe ich sie hinreichend untersuchen konnte. Bei den in Spiritus conservirten
ausländischen Anuren musste ich mich damit begnügen, die Existenz der
Nephrostomen an Querschnitten der Niere nachzuweisen, und das ist mir
mit einer einzigen Ausnahme überall gelungen, wo der Erhaltungszustand
einigermassen genügte. Nur bei einer Art, Platymantis vitianus, welche
ganz vortrefflich conservirt war, habe ich kein einziges Nephrostom gesehen,
obwohl ich zahlreiche Schnitte aus der Niere angefertist habe. Eine
definitive Entscheidung über das Fehlen derselben bei dieser Art dürfte
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. ‘85
allerdings erst nach einer Untersuchung eines mit Chromsäure richtig prä-
parirten Exemplares gestattet sein.
Ehe ich mich zur Schilderung des Zusammenhanges der Nephrostomen
mit den Harncanälchen wende, muss ich noch Einiges über die Gestalt
derselben bemerken, hauptsächlich nach Beobachtungen an unsern ein-
heimischen Arten. Schon bei den Urodelen war hervorgehoben, dass nicht
selten zwei Trichterstiele sich zu einem gemeinsamen Nephrostom ver-
einigten, während umgekehrt ein Trichterstiel sich theilte und mit zwei
Nephrostomen sich verbände. Ganz dasselbe kommt bei den Anuren vor,
und zwar so oft, dass diese Bildungen fast die Regel sind. Auch können
drei oder vier Trichterstiele eine Mündung besitzen und ebensoviele
Nephrostome sich mit ihren Stielen in einen Canal öffnen. Nicht selten
vereinigen sich zwei aus einem gemeinsamen Nephrostom entsprungene
Trichterstiele wieder mit einander (Fig. 6). Die Verbindung benachbarter
Canäle kann ferner bald in grösserer, bald in geringerer Ausdehnung er-
folgen, so dass man eine Verschmelzung der Trichter und eine solche der
Trichterstiele unterscheiden könnte. Die Form der verschmolzenen Nephro-
stomen ist danach eine verschiedene; bald sind sie mehr kegelförmig, bald
mehr glockenförmig und bauchig aufgetrieben mit oft enger, wie einge-
schnürter Oeffnung. |
So leicht und einfach es nun ist, die Nephrostomen der Anurenniere
darzustellen — an Längs-, Quer- und Flächenschnitten wie an Totalan-
sichten — so ausserordentliche Schwierigkeiten bereitet der Nachweis, mit
welchem Abschnitte der Harncanälchen sie im Zusammenhange stehen. Wie
wir in den beiden vorigen Capiteln gesehen haben, liess sich bei den Coe-
eilien und Urodelen der Trichterstiel in allen Fällen bis an den Hals des
Malpighischen Körperchens verfolgen, und es kann auch keinen Augenblick
zweifelhaft sein, dass hier wirklich ein offner Zusammenhang der Harn-
canälchen mit der Leibeshöhle besteht. Schon in den ersten Tagen meiner
Untersuchung habe ich dies erkannt und mich nachher hundertfach davon
überzeugt. Mit derselben Bestimmtheit kann ich behaupten, dass bei er-
wachsenen Anuren — wenigstens bei Rana, Bufo, Bombinator und Disco-
glossus — die Trichterstiele sich nicht an den Hals ansetzen. Der Hals
ist nach Hüfners Messungen ') bei Rana 0.10 mm. lang, nach meinen
eigenen bei Bombinator und Discoglossus nur 0.06—0.07 mm. Bei solcher
Kürze gelingt es sehr oft, namentlich an horizontalen Flächenschnitten, den
ganzen Abschnitt in Zusammenhang mit dem Malpighischen Körperchen
einerseits und dem zweiten Canalabschnitt andrerseits zur Ansicht zu be-
1) Hüfner, a. a. O. S. 21.
86 ? SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
kommen, und niemals habe ich in diesen Fällen von dem Hals sich einen
Canal abzweigen sehen. Führen nun die Nephrostomen nicht in den Hals,
so entsteht die Frage: in welchen Abschnitt des Harncanälchens führen sie
denn, oder stehen sie etwa gar nicht in Verbindung mit diesem, sind also
vielleicht etwas ganz Anderes als die Nephrostomen der beiden andern
Amphibienordnungen ? a
Da bei Rana die Trichterstiele sich stark schlängeih) ausserdem aber
die Nierenfläche ziemlich lappig ist, so dass man nicht wohl feine Flächen-
schnitte in grösserer Ausdehnung davon anfertigen kann — oder wenigstens
nur, nachdem man die Niere zwischen zwei Glasplatten abgeplattet hat,
worunter aber die Deutlichkeit der Nephrostomen sehr leidet —, so suchte
ich, über diese Verhältnisse bei Bombinator ins Klare zu kommen, bei
dem, wie bereits oben erwähnt, nicht nur die ventrale Nierenfläche ziem-
lich glatt ist, sondern auch die Trichterstiele in ziemlicher Ausdehnung
nahe der Fläche verlaufen. Allein auch an diesem günstigen Object kam
ich nicht zum Resultat, weder an Flächen- noch an Querschnitten noch an
Stücken, die ich in Kochsalzlösung untersuchte. An Präparaten letzterer
Art glaubte ich früher den Zusammenhang des Trichterstieles mit dem
Hals zu sehen; es beziehen sich darauf meine Angaben in meiner ersten
vorläufigen Mittheilung!). Nach meinen später gewonnenen Erfahrungen,
die mir in dieser Beziehung ein durchaus negatives Resultat ergeben haben,
muss ich annehmen, dass ich mich damals geirrt habe. Meyer konnte die
Trichterstiele nur 0.25 mm. weit verfolgen; ob sie dort endeten, konnte
er nicht angeben. Durch Isolation konnte er nicht zum Ziele kommen.
Da mir hierin alle Uebung fehlt, so habe ich unter solchen Umständen gar
keinen Versuch gemacht, auf diesem Wege zum Ziele zu gelangen. Eben-
sowenig versprach ich mir von Injectionen der Harncanälchen vom Ureter
aus. Dagegen habe ich versucht, die Wimperthätigkeit des Nephrostom-
epithels selbst zu einer Injection zu benutzen. Ich brachte den lebenden
Unken mittelst einer Pravazschen Spritze eine Quantität Carminpulver, das ich
in Kochsalzlösung fein verrieben hatte, in die Leibeshöhle. Ein Theil davon
wurde nun allerdings in die Nephrostomen aufgenommen, verursachte aber
bald eine Verstopfung des Lumens, so dass die Substanz nicht tief genug
in die Niere eindrang. Zu nicht viel besseren Resultaten führte die Ein-
spritzung von löslichem berliner Blau; der Farbstoff wurde in der Leibes-
höhle sogleich körnig ausgeschieden und gelangte so zwar manchmal ziem-
lich weit in die Trichterstiele hinein, doch niemals über diese hinaus in
!) „Wimpertrichter in der Amphibienniere‘* — Centralbl. f. d. med. Wissensch.
1875 Nr. 23.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien, 87
einen andern Abschnitt eines Harncanälchens. Ebenso ging es mit mehreren
andern Substanzen: soweit die Wimperung reichte, wurden sie mit in die
Nieren hineingerissen, aber niemals weiter, wenigstens nicht in solcher
Menge, dass sie an feinen Querschnitten sichtbar war. Es blieb mir so
nichts übrig, als zu versuchen, an Schnitten die Einmündung des durch
seine Wimpern bezeichneten Trichterstieles in ein Harncanälchen aufzu-
finden. Unter den sehr zahlreichen Präparaten habe ich ein einziges ge-
troffen, das diesem Zwecke entsprach, einen Querschnitt aus der Niere von
Bufo cinerus d. Das auf Taf. IV, Fig. 19 abgebildete Stück desselben lag,
ganz dicht unter der ventralen Fläche. Man sieht zwei wimpernde Canäle
(tr$) sich mit einander vereinigen und die gemeinsame Fortsetzung (trg‘)
in einen Canal einmünden, der sich durch die deutliche Stäbchenstructur
seiner Epithelzellen als zum vierten Abschnitt gehörig charakterisirt. Die
Verbindung dieser wimpernden und wimperlosen Canäle war so deutlich,
dass darüber kein Zweifel bestehen konnte. Man wird nun aber fragen,
welche Gründe mich bestimmen, die Wimpercanäle für Theile von Trichter-
stielen zu erklären. Wimperepithel findet sich in drei verschiedenen Ab-
schnitten der Harncanälchen, nämlich im Hals, im dritten Abschnitt und
endlich in den Trichterstielen. Die Möglichkeit, dass die in Rede stehen-
den Canäle einem der beiden erstgenannten Abschnitte entsprächen, ist in-
dessen durch ihr Verhältniss zu dem Canal, in den sie münden, ausge-
schlossen. Der Hals kann natürlich nicht in den vierten, sondern nur
in den zweiten Abschnitt einmünden. Sowohl der Hals aber als auch der
dritte Abschnitt stellen die Verbindung zwischen je zwei verschiedenen
Canalstücken her, der Canalabschnitt, in den sie einmünden, bildet ihre
direete Fortsetzung, während in unserm Präparat der Wimpercanal unter
fast rechtem Winkel auf eine Schlinge des vierten Abschnittes trifft, die
nach beiden Seiten sich eine Strecke weit verfolgen lässt. Ich halte mich
nach diesen Erwägungen für berechtigt, die in dem geschilderten Präparat
gesehenen Canäle als Trichterstiele zu deuten und damit also anzunehmen»
dass in diesem Falle die Trichter sich mit dem vierten Abschnitte eines
Harncanälchens verbinden. Da diese Beobachtung vereinzelt geblieben ist,
kann ich allerdings nicht den strieten Beweis führen, dass dies Verhalten
bei den Anuren allgemein besteht. Hat man aber im Auge, dass der bei den
Coecilien und Urodelen nachgewiesene Zusammenhang der Nephrostomen
mit dem Hals für die Anuren als nicht bestehend dargethan werden konnte,
dass ferner die Wimpercanäle stets nur in der ventralen Nierenhälfte sich
verbreiten, so ist die Verbindung mit dem ausschliesslich in der dorsalen
Hälfte sich aufwindenden zweiten Abschnitte von vorn herein ziemlich aus-
geschlossen, und es bleiben nur der dritte und der vierte Abschnitt übrig.
88 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Jenen habe ich zu wiederholten Malen in seiner ganzen Ausdehnung in
einem Präparat vor mir gehabt, ohne eine Einmündung eines dritten Canales
in denselben bemerken zu können. Nach diesem Allen steht es für mich
ziemlich fest, dass in der That bei den Anuren die Nephrostomen.in den
vierten Abschnitt des Harncanälchens führen, wenn ich auch zugeben will,
dass noch schlagendere Beweise beigebracht werden müssen. Ist diese
meine Ansicht richtig, so ist dieselbe aber auch für die Auffassung der
morphologischen Bedeutung der Nephrostomen der Anuren entscheidend.
Fr. Meyer hat sich zwar nicht bestimmt über diese Frage ausgesprochen,
doch deuten verschiedene Bemerkungen in seinem Artikel!) darauf hin»
dass er geneigt ist, einen Zusammenhang, nicht mit den Harncanälchen,
sondern mit dem Lymphgefässsystem anzunehmen. Seine Behauptung, dass
die Segmentaltrichter der Plagiostomen in lymphdrüsenartige Organe ein-
mündeten, ist bereits von Semper zurückgewiesen. Dass er die daraus sich
ergebende Deutung auch auf die Trichter der Amphibienniere übertragen
‚möchte, ergiebt sich aus der Bezeichnung derselben als „Stomata“ und der
Bemerkung, er habe in manchen der von den Trichtern ausgehenden Canäle
„am Ende (?) viele Lymphkörper“ gefunden. Letztere Thatsache hat durch-
aus nichts Ueberraschendes, da ja die ganze Leibeshöhle mit Lymphe er-
füllt ist, also auch leicht Lymphkörper in die offenen Nephrostomen
hineingerathen können. Die Bezeichnung „Stomata“ aber halte ich für sehr
unglücklich. Gerade an Versilberungs- Präparaten, wie sie Meyer gemacht
hat, findet man ausser den Nephrostomen zahlreiche, echte Lymphstomata,
Lücken zwischen mehreren Zellen. Doch es könnten ausserdem vielleicht
die Trichter noch mit den Lymphräumen der Niere communieiren. Nach
Allem, was bisher über den Bau der Lymphbahnen bekannt ist, wäre es
gewiss in hohem Grade überraschend, wenn sich Canäle, die mit einem
schönen, aus geisseltragenden Cylinderzellen zusammengesetzten Epithel
ausgekleidet sind, darin einschalten sollten. Die einzigen Beobachtungen,
an die man vielleicht denken könnte, sind die von Schweigger-Seidel und
Dogiel „über die Peritonealhöhle bei Fröschen und ihren Zusammenhang
mit dem Lymphgefässsysteme“ 2). Diese Autoren haben an den die Lymph-
stomata des Peritoneums umgebenden Zellen bisweilen Flimmerhaare ge-
funden, geben aber bereits selbst an, diese beschränkten sich auf weibliche
Frösche. Ferner sind die Stomata viel kleiner als die Nephrostomen
1) Fr. Meyer a. a. O. Sitzungsberichte der Naturf. Ges. Leipzig. 1875. Nr. 2
bis 4. S. 38. -
?) „Berichte der kgl. sächsischen Gesellsch. d. Wissenschaften.“ Math.-phys.
Classe. Bd. XVII. 1866. S. 247.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 89
(0.012—0.045 mm. nach Schweigger-Seidel). Ich glaube demnach keinen
weiteren Versuch machen zu müssen, die Vergleichung dieser beiden’ ganz
verschiedenartigen Gebilde zurückzuweisen, wende mich vielmehr zu der
Frage, wie sich die Nephrostomen der Anuren zu denjenigen der Urodelen
verhalten. Aus der Thatsache, dass dieselben bei Diesen in den Hals ein-
münden, bei Jenen dagegen in den vierten Abschnitt, kann man, wie mir
scheint, noch keinen Grund entnehmen, die Gleichwerthigkeit dieser Ge-
bilde in den beiden Ordnungen in Zweifel zu ziehen. Erwägt man, dass
bei den Plagiostomen nach Sempers Beobachtungen die Segmentaltrichter
in das Malpighische Körperchen selbst einmünden, bei den Coecilien und
Urodelen dagegen in den Hals, so wird man in dem Verhalten der Anuren
einen Fortschritt in der begonnenen Entfernung vom Malpighischen Körper-
chen erblicken dürfen, der entwicklungsgeschichtlich unschwer verständlich
wäre. Entscheidend für diese Frage kann nur der Nachweis sein, dass
wirklich eine Anzahl der Nephrostomen den ursprünglichen Einstülpungen
des Keimepithels zur ersten Nierenanlage entspricht. In dem Verhalten
der ausgebildeten Niere finde ich keinen Anhalt, dieses oder jenes Nephro-
stromen als primär oder secundär zu erklären, und ebenso geht es mit
den Malpighischen Körperchen. Ich befinde mich, mit andern Worten,
ausser Stande, aus dem Bau der ausgebildeten Anurenniere irgend Etwas
über eine ursprüngliche Segmentirung, die Zahl der Nierensegmente, ihr
Verhältniss zur Zahl der Körpersegmente u. s. w. zu entnehmen. Blosse
Vermuthungen hierüber auszusprechen, , erscheint mir überflüssig. Eine auf
thatsächliche Beobachtungen gestützte Discussion dieser Fragen kann erst
im zweiten Theil dieser Abhandlung, an der Hand der Ontogenie, erfolgen.
Der Harnleiter.
Der Harnleiter verläuft bei allen Anuren am lateralen Rande der
Niere, in deren Masse sein vorderer Abschnitt meistens eingebettet liegt,
so dass man denselben erst nach Injection oder an Querschnitten wahrnimmt. |
Von dieser Regel machen nur Discoglossus und Bombinator eine Ausnahme,
wie wir weiter unten genauer sehen werden. Das hintere Ende des Harn-
leiters überragt die Niere, wie bereits oben angegeben, in verschiedener
Ausdehnung, je nach der Länge und der Lage der Niere in der Leibeshöhle.
Nachdem die Harnleiter die Nieren verlassen haben, rücken sie ein-
ander allmählich näher, bis sie sich berühren. Eine Vereinigung der
Lumina aber habe ich in keinem Falle beobachtet: oft laufen die Canäle
mehrere Millimeter weit in inniger Berührung neben einander hin, doch
stets durch eine Scheidewand von einander getrennt. Es gilt dies sowohl
90 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
»
vom männlichen als auch vom weiblichen Geschlecht (Taf. IV, Fig. 8 und
9, 18‘). Die einzige Ausnahme, die ich beobachtet habe, werde ich später
mittheilen. Die früheren Beobachter haben dieses Verhältniss wenig beachtet:
nur Lereboullet *) giebt richtig an, bei Rana fänden sich eben hinter den
spaltförmigen Oeffnungen der Eileiter die zwei kleineren Mündungen der
Harnleiter. Ich habe die getrennte Mündung der Harnleiter beobachtet bei
Rana temporaria und esculenta d und 2, bei Bufo cinereus und calamita
& und 2, B. americana d, B. melanostictus 2, Pelobates fuscus d und &,
Alytes obstetricans d und @, Hyla arborea d und &, Discoglossus pietus &
und @, Bombinator igneus &, Polypedates quadrilineatus 2, Heliorana
Grayi d, Limnodynastes Peronii d, Cryptotis brevis d und Pyxicephalus d.
Einer besondern Erwähnung bedarf der Harnleiter des männlichen
Bombinator. Leydig) äussert sich darüber folgendermassen: „Was den
Harnsamengang schon dem freien Auge sehr auffällig macht, ist einmal
seine weisse Farbe, dann sein dickliches nebenhodenartiges Aussehen und
endlich geht er an 5‘ weit über das vordere Ende der Nieren hinaus. Wird
dieser Harnsamengang mikroskopirt, so sieht man, dass er ein 0.1“ weiter
Canal ist, der in kurzen Touren gewunden erscheint; jener über das
vordere Ende der Niere hinausragende Theil endet blind; unmittelbar am
vordern Nierenende hat er seine grösste Breite, gegen das hintere Ende
der Niere zu verliert er sein gewundenes Aussehen und seine weisse
Farbe und wird bis zur Einmündung in die Kloake glatt und hell. In
histologischer Beziehung ist zu bemerken, dass sein vorderes blindes Ende
im Innern wimpert und zwar nach den einzelnen Individuen in verschieden
weiter Ausdehnung nach hinten.“ Ich habe dieser Schilderung nichts weiter
hinzuzufügen, als dass der Harnleiter am Vorderende der Niere nicht bloss
den von Leydig beschriebenen blind endigenden Canal nach vorne entsendet,
sondern ausserdem noch einen Ast abgibt, welcher die Spitze der Niere
umfasst und sich an den medialen Rand derselben begiebt, um hier in
später näher anzugebender Weise mit dem Hodennetz in Verbindung zu
treten. Dass auch der Harnleiter der Weibchen eine Verlängerung über
das vordere Nierenende hinaus besitzt, scheint Leydig nicht beachtet zu
haben. Ich vermisse darin die Wimperung. Aehnlich verhält sich der
Harnleiter von Discoglossus pietus d, nur fehlt ihm die Verlängerung
nach vorn.
Das freie Ende des Harnleiters ist bei vielen Arten im männlichen
Geschlechte flaschenartig erweitert, so bei Rana esculenta und R. halecina,
1) Lereboullet, a. a. O. p. 161. tab. 18. Fig. 187.
2) Leydig, „Fische und Reptilien“, S. 73. Taf. III. Fig. 25, c, 26, b.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 91
n 2
Hyla arborea und H. xerophylla, Phyllomedusa, Ixalus und Hypopachus.
Bei Discoglossus erreicht die Erweiterung den höchsten Grad und beginnt
nicht am freien Abschnitt des Harnleiters, sondern schon fast in der Mitte
des Nierenrandes, so dass die hinteren Sammelröhren in sie einmünden
(Taf. IV. Fig. 4 1g‘°)'). Diese Anschwellungen dienen als Reservoire für
den Samen während der Begattungszeit. Denselben Zweck erfüllen bei
Rana temporaria mächtige verästelte Drüsenschläuche, die sich in der
lateralen Wand des Harnleiters entwickelt haben und in ihrer Gesammt-
heit die bekannte „Samenblase“ darstellen. In der Zeit geschlechtlicher
Unthätigkeit sehr reducirt, erreicht dieselbe während der Brunst einen un-
geheuren Umfang.
Die Müllerschen Gänge.
Die Müllerschen Gänge dienen im weiblichen Geschlechte als Ei-
leiter. Sie beginnen überall mit einer mehr oder minder weiten trichter-
förmigen Oeffnung, dem ostium tubae abdominale, an der vordern Grenze
der Leibeshöhle, neben den Lungenwurzeln. Das den Trichter auskleidende
Epithel ist mit kurzen, feinen Flimmerhaaren besetzt. Aehnliche Epithelien
finden sich bekanntlich in der Leibeshöhle erwachsener weiblicher Frösche
in inselartigen Bezirken verbreitet und sind offenbar bestimmt, die von
den Eierstöcken entleerten Eier in die entlegene Eileiteröffnung zu leiten.
Ueber die Verbreitung dieser Wimperzellen habe ich den älteren Beobach-
tungen von Thiry u. A. nichts hinzuzufügen. Ueber die Epithelien des
Frosch -Eileiters liegen neue Beobachtungen von Neumann vor?), auf die
ich in Ermanglung eigener Untersuchungen über diesen Gegenstand ver-
weisen muss.
- Von seinem trichterförmigen Ostium aus zieht der Eileiter, in der
Jugend gestreckt, bei erwachsenen Thieren namentlich während der Brunst-
zeit ausserordentlich reich gewunden, zur Seite der Niere herab, mit der
ihn ein breites Halteband verbindet. In der Gegend des hintern Nieren-
endes erweitern sich plötzlich die Eileiter, so dass sie sich von beiden
Seiten in der Mitte berühren, und tauschen gleichzeitig ihre bis dahin dick-
2) Vergl. Wittich, Z. f. w. Z. Bd. IV. Taf. X, B. Fig. 1, u.
2) E. Neumann, „Die Beziehungen des Flimmerepithels der Bauchhöhle zum
Eileiterepithel beim Frosche‘‘, nebst Anhang: ‚Die Drüsen des Froscheileiters.‘“ —
Arch. f. mikr. Anat., Bd. XI. 1875. S. 354.
Vgl. ferner: A. Böttger, „Ueber den Bau und die Quellungsfähigkeit der
Froscheileiter.‘“ — Arch. f. pathol. Anat. Bd. XXXVI. S. 174, und
Lereboullets oben angeführtes Werk, p. 108—112.
92 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
wandige, drüsenreiche Wandung gegen eine dünnhäutige und durchsichtige
aus, die neben Bindegewebe glatte Muskelfasern enthält. Man bezeichnet
diesen Abschnitt gewöhnlich als Uterus, obwohl in ihm niemals die Eier
zur Entwickelung gelangen; er dient nur als ein Reservoir, in dem sich die
einzeln vom Eierstock ausgestossenen und im Eileiter mit ihrer Gallerthülle
versehenen Eier zu den bekannten Ballen oder Schnüren zusammenfügen.
Hinsichtlich des Verhaltens der Mündungen bestehen etwas grössere
Verschiedenheiten bei den Anuren, als wir sie bei den übrigen Amphibien
beobachtet haben. Doch gilt die für die Coecilien sowie die Urodelen
oben aufgestellte Regel der vollständigen Trennung der Harn- und Eileiter-
mündungen auch ausnahmslos für die Anuren. Jene liegen überall hinter
diesen. Während wir aber bei Urodelen — abgesehen von Triton platy-
cephalus nach Wiedersteins Angabe — niemals eine Vereinigung der End-
abschnitte der beiden Eileiter beobachtet haben, kommt es bei den Anuren
ziemlich häufig dazu. Ein solches Verhalten habe ich bei allen untersuchten
Arten der Gattung Bufo gefunden: die dünuwandigen „Uterus“ - Säcke
rücken hinter der Niere dicht an einander heran, und etwa 5 mm. vor der
Mündung in die Kloake verschwindet die sie bis dahin trennende Membran ;
die gemeinsame Oefinung beider Eileiter befindet sich auf einer niedrigen
Papille. Zu wirklicher Vereinigung und gemeinsamer Ausmündung der Ei-
‚leiter kommt es ferner bei Alytes obstetricans; nur scheinbar ist dieselbe
indessen bei Hyla, wo die Eileitermündungen zwar auf einer gemeinsamen
Papille liegen, aber die Lumina durch eine mittlere Scheidewand vollständig
getrennt sind. Bei Polypedates quadrilineatus, Ixalus sp., Discoglossus,
Rana und Pelobates ist die Trennung der beiden Mündungen sehr deutlich,
namentlich bei Rana (Taf. IV, Fig. 8), wo die Letzteren (mg‘) auf zwei
Papillen angebracht sind, während sie bei Pelobates (Fig. 9) und den
übrigen angeführten Gattungen nicht aus der Ebene der Kloakenwand
hervorragen.
Durch grosse Variabilität im Verhalten der Ausführungswege zeichnet
sich Bombinator aus, der deshalb einer besondern Schilderung bedarf.
Unter acht darauf untersuchten Individuen besassen sieben einfache Eileiter-
mündungen; bei dem achten blieben die Eileiter vollständig getrennt und
öffneten sich auf zwei gleichfalls isolirten Papillen. Die ersten sieben
lassen sich aber noch in drei Gruppen vertheilen nach dem Verhalten der
Harnleiter. Dieselben mündeten in einem Falle (Fig. 10a.) unmittelbar
neben einander, doch getrennt hinter der Eileiterpapille; bei zwei andern
Thieren blieb der linke Harnleiter in der linken Körperhälfte liegen , wo-
hingegen der rechte die Eileiter kreuzte und neben jenem links vom
Eileiter mündete; die vier übrigen Individuen zeigten das entgegengesetzte
SPENGEL;: Das Urogenitalsytem der Amphibien. 93
Verhalten: die Oefinungen beider Harnleiter lagen an der rechten Seite
(Fig. 10b). Bei dem achten Thier fassten die beiden Eileiterpapillen die
nahe beisammen gelegenen Harnleiteröffnungen zwischen sich (Fig 10.)
Die männlichen Tuben. — Um die Kenntniss der Müllerschen
Gänge der männlichen Anuren hat sich besonders Leydig!) verdient ge-
macht. Seine Beobachtungen erstrecken sich über Rana temporaria, Cera-
tophrys dorsata, verschiedene Bufo-Arten und Bombinator. Ueber die
männliche Tube von Rana, die als weisslicher Faden unweit des lateralen
Nierenrandes sichtbar ist, lagen schon ältere Angaben von Rathke?) und
Burow ?) vor. Ersterer hatte dieselbe als Samenleiter aufgefasst. Lere-
boullet *) beschreibt sie als „canal deferent accessoire, sorte de diverti-
culum“. Lereboullet, Wittich?) und Leydig haben in dem Faden ein
Lumen erkannt. Nach meinen eigenen Beobachtungen kann ich bestätigen,
. dass die Tube von Rana temporaria d in der von den früheren Autoren
geschilderten Weise, von der Lungenwurzel beginnend, in geringer Ent-
fernung vom lateralen Nierenrande verläuft und sich schliesslich an den
freien Lappen der Samenblase ansetzt, Ob sie hier in dieselbe mündet
oder noch weiter daran entlang läuft oder endlich blind endet, vermag ich
nach Untersuchung erwachsener Thiere nicht zu entscheiden. Die Auf-
klärung der genaueren Beziehungen zum Leydigschen behalte ich mir für
den entwicklungsgeschichtlichen Theil meiner Arbeit vor. Die Tube selbst
habe ich nicht immer als Canal gefunden, sondern sehr oft als soliden |
Zellstrang, in dem auch an Querschnitten kein Hohlraum zu erkennen war.
Dagegen kann ich vollständig bestätigen, was Leydig über das Vorderende
sagt: „es scheint frei in die Bauchhöhle zu münden“. Ich habe in der
That in weitaus den meisten Fällen ein trichterförmiges Ostium abdominale
auch an der männlichen Tube beobachtet. Schon Burow nennt den Canal
„in fine suo in modum infundibuli extensus 6).“ Ceratophrys d, bei dem
Leydig die Tube in ausgezeichneter Entwickelung getroffen hat, habe ich
nicht untersuchen können.
Die mächtigste Ausbildung erlangt die Tube bei den Männchen ver-
1) Leydig, „Fische und Reptilien“, S. 67 ff.
2) Rathke, „Abhandlungen zur Bildungs- und Entwickelungsgeschichte des
Menschen und der Thiere.“
3) Burow, „De vasis sanguiferis ranarum.‘‘ Regimonti. 1834, p. 13.
#) Lereboullet, a. a. O, p. 79.
5) Wittich, „Beiträge zur Entwickelung der Harn- und Geschlechtswerkzeuge der
nackten Amphibien.“ — Z. f. w. Z. Bd. IV. S. 144.
©) Burow, a. a. O. p. 13.
94 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
schiedener Bufo-Arten. Von Bufo einereus beschreiben ihn Rathke!) als
„Samenleiter‘‘, Bidder 2) als „Samenblase*, Wittich ?2) als „Ueberrest des
Ausführungsganges der Müller- Wolfischen Drüse“. Letzterer giebt eine
vortreffliche Abbildung in seiner Fig. 10, Taf. IX. Bei dieser Art ist der
Grad der Ausbildung erheblichen individuellen Schwankungen unterworfen,
Selten findet man den Canal so weit wie in Wittichs Figur. Namentlich die
vordere Hälfte erscheint oftmals stark reducirt, abgesehen von dem trichter-
förmigen Ostium, das ich nie vermisse. In der hintern Abtheilung ist die
Wand dicht ausgekleidet von kurzen Drüsenschläuchen mit blassen, klein-
kernigen Zellen. Ueber die Ausmündung der Canäle sind die früheren
Angaben ungenügend. Sämmtliche Beobachter lassen dieselben in die Harn-
leiter eintreten, von denen aus ihnen indessen Injectionen nicht gelangen.
Durch Anfertigung von Schnittreihen durch das hintere Harnleiterende und
die Kloake überzeugt man sich leicht, dass die Tuben nicht an der Stelle
in den Harnleiter einmünden, wo sie sich an denselben ansetzen. Sie ver-
laufen vielmehr, ohne mit jenem zu communiciren, neben ihm her, rücken
an seine ventrale Fläche, bis sie sich einander berühren und schliesslich
verschmelzen, um kurz vor den Harnleitern in die Kloake zu münden: sie
verhalten sich also ganz entsprechend wie die Eileiter des Weibchens, ihre
Homologa. Bei unsern beiden andern einheimischen Bufo-Arten, B. cala-
mita und B. variabilis erlangen die Tuben bei Weitem nicht solchen Grad
der Entwicklung, am wenigsten bei der letzten Art, wo zwar der Tuben-
trichter an der Lungenwurzel noch erhalten bleibt, aber der übrige Theij
des Ganges zu einem feinen kaum sichtbaren Faden reducirt erscheint, Bei
B. calamita d besteht die Tube in einem engen Canal, der von längeren
oder kürzeren schlauchartigen Erweiterungen unterbrochen ist, besonders
in der hinteren Hälfte. Diese sind von Cylinderepithel ausgekleidet, in
dem sich stellenweise ziemlich complicirte, hier nicht näher zu schildernde
Drüsen entwickelt haben. Bidder hat bei Bufo agua d eine ungeheuer
mächtige „Samenblase“ gefunden, in der er allerdings nicht mit Sicherheit
eine Höhlung bemerken konnte. „In der Höhe des hinteren Nierenendes
bildete dieser Theil "eine Anschwellung von gegen 1“ Länge, die durch
mehrere dicht aneinander liegende, knäuelförmig zusammengeballte Windungen
entsteht, welche der sonst gerade verlaufende Strang an dieser Stelle
bildet“). Wie wir bei Betrachtung der Geschlechtsorgane sehen werden,
1) Rathke, „Beiträge zur Naturgeschichte‘“, Bd. III.
2) Bidder, a. a. O. S. 30.
®) Wittich, a. a. O. S. 145.
#) Bidder, a. a. O. S. 27. Taf. I. Fig. I, A, C,D.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 95
hat Bidder ein junges Weibchen untersucht, bei dem das vorn geschilderte
Verhalten des Eileiters in der That leicht zu. constatiren ist, abgesehen
davon, dass derselbe kein Strang, sondern ein Canal ist. Die Tube des
männlichen Bufo agua ist, wie ich mich an vier Exemplaren überzeugen
konnte, ganz anders beschaffen. An der Lungenwurzel findet man, wie bei
den übrigen Kröten, die trichterförmigen Ostien; die von diesen ausgehen-
den dünnwandigen Canäle ziehen indessen nur bis etwa an das vordere
Drittel der Niere, wo sie sich an den Harnleiter ansetzen, mit dem sie
übrigens nicht zu communiciren schienen. Bei dem von Wittich unter-
suchten Männchen „stand ein äusserst feiner weisser Faden mit der leichten
Anschwellung des Ureters zu einer Samentasche in Verbindung“.!) Aehn-
lich fand es Leydig bei Bufo maculiventris Spix, während bei B. ornatus d
die Tube sich ganz wie der Eileiter des Weibchens verhielt?2). Ebenso
beobachtete sie Wittich bei Bufo musicus (lentiginosus), Docidophryne
Lazarus und Gasterophryne marmorata. Dasselbe kann ich von Bufo inter-
media und B. americana angeben. Ob hier die Tuben in die Harnleiter
münden oder in die Kloake, wie bei Bufo cinereus, kann ich nicht an-
geben. Bei Bombinator igneus & hat Wittich die Tube vollständig über-
sehen, dagegen giebt Leydig eine sehr genaue Beschreibung derselben.
„Schon mit freiem Auge kann wahrgenommen werden, dass da, wo der
weisse Harn-Samengang vorne aufhört, noch ein äusserst zarter Faden
weiter nach vorn zur Lungenwurzel läuft, und schneidet man denselben
heraus, so hat man unter dem Mikroskop einen Canal vor sich, der durch-
schnittlich 0.024°‘ breit ist, der sich ferner an seinem Ende verbreitert
und hier deutlich flimmert. Dieser Gang mündet aber nicht, wie es nach
dem Ansehen mit blossem Auge den Anschein hat, in das vordere blinde
Ende des Harn-Samenleiters, sondern läuft dem Harn-Samenleiter eng ange-
heftet, aber distinet vor ihm, weit nach hinten, um allerdings zuletzt in
ihn sich einzusenken.‘“3) Häufig fand ihn Leydig von „hydatidenartigen
Erweiterungen‘ unterbrochen und auch sonst in seinem Verhalten schwankend.
Dasselbe muss ich bestätigen. In mehreren Fällen traf ich statt eines
Canales einen soliden Zellstrang, der oft nur eine kurze Strecke neben
dem Harn-Samenleiter sich hinzog. Dass der Canal sich schliesslich in den
letzteren einsenke, habe ich nie beobachtet. Auch auf diesen Punkt werde
ich im entwicklungsgeschichtlichen Abschnitt zurückzukommen haben.
Einen recht hübschen Beweis für die Uebereinstimmung der männlichen
1) Wittich, „Harn- oder Geschlechtsorgane von Discoglossus.“ Z. f. w. Z., Bd.
DV. S. 170.
2) Leydig, a. a. O. S. 72.
®) Leydig. a. a. O. S. 73.
96 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Tube mit dem Eileiter liefert ein Bombinator, bei dem die erstere eine
Entwicklung erlangt, die rechts kaum gegen die eines normalen Eileiters
zurücksteht, während sie links zwar etwas geringer ist, doch das gewöhn-
liche Mass bedeutend überschreitet. An beiden Seiten liessen sich die Tuben
bis dicht vor die Kloake getrennt von den Harnleitern erkennen; über ihre
Mündung weiss ich nichts, da ich das Präparat nicht darum opfern wollte,
Rudimente der Tube fand ich ferner noch bei Pyxicephalus, Cystignathus
und Discoglossus, bei Ersterem als einen feinen Faden, der sich etwa auf
der Grenze der hinteren zwei Drittel der Niere an den Harn-Samenleiter
ansetzte, an der Lunge aber einen deutlichen Trichter besass. Bei der
zweiten Gattung beobachtete ich zwar den Trichter, sonst aber von der
Tube keine Spuren mehr. Bei Discoglossus zog ein feiner Faden, der
einzelne cystenartige Anschwellungen besass, vom Vorderende der Niere
zur Lunge (Taf. IV. Fig. 4 mg). Am Harnleiter liess er sich nicht weiter
verfolgen. Vorn lief er spitz aus, ohne Tubentrichter. Den Müllerschen
Gang von Alytes d werde ich unten $childern.
Damit ist die Reihe derjenigen Anuren erschöpft, vs denen ich Reste
der männlichen Tuben bemerken konnte. Bei zahlreichen Exemplaren von
Pelobates fuscus wie Hyla arborea habe ich vergeblich darnach gesucht.
Dasselbe gilt von allen untersuchten Hyliden, nämlich Hyla xerophylla,
Ixalus sp. und Phyllomedusa bicolor; ferner von Heliorana, Cryptotis,
Limnodynastes, Pseudophryne, Platymantis und Hypopachus, und endlich
von Pipa und Dactylethra..
Unter solchen Umständen kann die Frage, welche morphologische Be-
deutung dem Harnleiter zukomme, nicht ohne Weiteres für alle männlichen
Anuren beantwortet werden. Bei den Urodelen, wo ausnahmslos der
primäre Urnierengang sich in zwei von einander isolirte Canäle gespalten
hatte, deren medialer die Sammelröhren der Niere aufnahm und als Harn-
Samenleiter diente, während der laterale sich in mehr oder weniger deut-
lichen Rudimenten erhielt, konnten Harnleiter und Leidigscher Gang als
synonym: gebraucht werden. Anders bei den Anuren. Wo wie bei Rana
Bufo, Bombinator und einigen andern Gattungen zwei Canäle bestehen, die
sich im Wesentlichen wie die Harn- und Eileiter des Weibchens verhalten,
werden- wir keinen Anstand nehmen, dieselben als Homologa dieser zu be-
trachten. Ich habe daher die Bezeichnungen „männliche Tube“ und
„Müllerschen Gang‘ unbedenklich dafür angewendet. Allein schon bei den
Arten, wo der so bezeichnete Canal nur zwischen der Nierenspitze und
der Lungenwurzel besteht, also z. B. bei Discoglossus und Cystignathus, ist
eine andere Auffassung einstweilen, so lange wir die Entwicklungsgeschichte
dieser Formen nicht kennen, möglich. Es kann das embryonale Verhalten
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 97
des primären Urnierenganges in der ganzen Ausdehnung der Niere persi-
stiren, und dann hätten wir bei diesen Arten den Harnleiter des Weibchens
zwar als Leydigschen Gang zu deuten, den des Männchens dagegen als
einen ungetheilten Rest des primären Urnierenganges. Dieselben Betrach-
tungen gelten für die Gattungen, bei denen alle Spuren der männlichen
Tube vermisst werden. Da auf dem Wege rein anatomischer Untersuchung
der erwachsenen Thiere kein Aufschluss über diesen Punkt gewonnen werden
kann, verzichte ich hier auf eine weitere Erörterung desselben. Wir werden
im zweiten Abschnitt Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen.
Die Eierstöcke.
Die Eierstöcke der Anuren sind wie bei den andern Amphibien mittelst
ziemlich breiter Mesoarien, die von der Wurzel des Mesenteriums ent-
springen, an den medialen Nierenwänden befestigt. Auf ihre sehr eigen-
thümliche Gestalt sind schon ältere Autoren aufmerksam geworden. So
sagt Stannius !), sie seien „durch innere Scheidewände in einzelne Hohlräume
zerfallen“, während schon vor ihm Lereboullet ?) treffender bemerkt: „Les
poches d’ont l’ovaire se compose sont independantes les unes des autres et
constituent & elles seules autant d’ovaire particuliers &troitement unis entre
eux par le peritoine, mais dont la cavite est fermee de toute part, du
moins le plus ordinairement.‘“ Die Eierstöcke sämmtlicher Anuren stellen
in der That eine bald grössere, bald kleinere Längsreihe von dünnwandigen
Taschen dar, an deren Innenwand die Ovula hängen. Zwischen je zweien
dieser Taschen verwachsen die Wandungen fest mit einander. Ein Zu-
sammenhang der einzelnen Hohlräume, in welche auf diese Weise das
Ovarium jeder Seite zerlegt wird, besteht durchaus nicht, obwohl es durch
einen Zerfall der einzelnen Taschen in zwei oder mehrere Lappen häufig
so scheint. Die Zahl dieser Ovarialfächer ist bei den verschiedenen Arten
verschieden, innerhalb einer und derselben Art indessen ziemlich beständig.
Einen einfachen ungetheilten Hohlraum finde ich nur bei Pelodytes punctatus;
3—4 Fächer besitzt das Ovarium von Alytes, 5 von Discoglossus, 6 — 8
von Ixalus und Polypedates, 9— 12 von Pelobates, 9 von Hyla, 15 von
Rana und bis zu 30 das von Bufo. Durch eine besondere Bildung zeichnet
sich das vordere Ende des Ovariums aller Bufonen aus; namentlich bei
Jungen Weibchen findet man hier deutlich einen Körper, der sich schon durch
seine viel compactere Beschaffenheit von den hinteren, wie bei den übrigen
Anuren beschaffenen Abschnitten unterscheidet. Wie man sich an Quer-
1) Stannius, „Lehrbuch der Zootomie“. 2. Aufl. Amphibien. S. 255.
2) Lereboullet, a. a. O. S. 55.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 7
98 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
‘schnitten leicht und sicher überzeugt, besitzt derselbe keinen Hohlraum,
sondern besteht aus einer dichtgedrängten Masse von Zellen, die mit den
Eiern des übrigen Ovariums wesentlich übereinstimmen; im Allgemeinen
besitzen sie ein etwas höheres Follikelepithel. Ihr Kern gleicht völlig dem
Keimbläschen eines echten Eies und enthält wie dieses eine Anzahl in der
Regel wandständiger bläschen - oder tropfenförmiger Keimflecke. Während
sich nun in den Eiern des hinteren Eierstocksabschnittes die bekannten
Dotterschollen ausbilden und allmählich mehr und mehr Pigment anhäuft,
behalten die Bestandtheile dieses Theiles, den ich aus später zu erwähnen-
den Ursachen ‚das Biddersche Organ des Krötenovariums“ nennen will,
ihre anfängliche Grösse und Farblosigkeit. Nach und nach tritt sogar eine
Rückbildung ein; bei den meisten erwachsenen Kröten findet man kaum
noch Spuren davon; die letzten Reste erscheinen als gelbliche kaum hirse-
korngrosse Knötchen zwischen dem Ovarium und dem Fettkörper. Bei der
Beschreibung des Krötenhodens komme ich auf dies Biddersche Organ noch
einmal zurück.
Welche Bedeutung dem Zerfall des Anuren-Ovariums in eine Anzahl
isolirter Taschen zukommt, ob wir etwa in derselben einen Ausdruck einer
Segmentirung zu erblicken haben, vermag ich für den Augenblick nicht zu
entscheiden. Dass die Segmentirung nicht mit derjenigen der Wirbelsäule
und der Musculatur übereinstimmt, ergiebt sich aus den oben angeführten
Zahlen von selbst; ob aber die Zahl der Ovarialfächer mit derjenigen der
Nierensegmente zusammenfällt, muss bei unserer Unkenntniss der letzteren
einstweilen unentschieden bleiben.
In Bezug auf die histologische Structur des Ovariums habe ich, abge-
sehen von den hier nicht zu schildernden, dem Wachsthum dienenden Ein-
richtungen, dem von früheren Autoren Festgestellten nichts hinzuzufügen.
Die Hoden.
Die beiden Hoden liegen symmetrisch auf der ventralen Seite der Niere.
Ein jeder ist durch ein breiteres oder schmaleres Halteband (Mesorchium)
am medialen Rande einer Niere befestigt. Die Form des Hodens wechselt
von der einen kleinen Kugel bis zu der eines langen Cylinders; erstere
finden wir bei Alytes obstetricans, letztere bei den Bufonen, namentlich
bei Bufo agua, wo der Hode fast die Länge der Niere erreicht. Bei den
meisten Anuren ist derselbe nur etwa halb so lang wie die Niere, so bei
unsern einheimischen Fröschen und Kröten, bei Hyla, Bombinator, Pelobates,
Pelodytes u. A. Nicht selten ist er dabei mehr oder minder stark abge-
geplattet. In geringem Masse ist dies bei Rana der Fall, bei Pseudophryne
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 99
Bibronii dagegen in so hohem, dass der Hode als eine etwas elliptische
platte Scheibe erscheint. Im Allgemeinen sind die Hoden etwas dem
vordern Nierenrande genähert, besonders bei den kuglisen oder kurz
cylindrischen Formen. Bei Bufo rücken sie, in Folge der Zwischenlagerung
gewisser Gebilde zwischen sie und den Fettkörper, in die Mitte oder selbst
gegen die hintere Nierenhälfte zu.
Hinsichtlich des feineren Baues lassen sich ausser dem schwach ent-
wickelten bindegewebigen Stroma, die Kapseln, in denen die Samenelemente
sich entwickeln, und die ausführenden Canäle, welche ein intratesticuläres
Hodennetz bilden, unterscheiden ; letzteres entspricht dem bei den Urodelen
gefundenen Sammelgang mit seinen Aesten. Diese Theile stehen in ver-
schiedener Weise mit einander im Zusammenhang. Bei weitaus den meisten
Formen sitzen die kurzen kugligen oder durch gegenseitigen Druck poly-
sgonal gewordenen Kapseln den Enden der Canäle des intratesticulären
Hodennetzes auf wie Beeren einer Traube. Dies ist der Fall bei Pseudo-
phryne, Limnodynastes, Heliorana, Cryptotis, Alytes und in etwas modi-'
fieirter Weise bei Bufo und Bombinator; hier entleeren sich indessen nicht
alle Hodenkapseln direct in die ausführenden Canäle, sondern ein Theil
derselben setzt sich unter Durchbrechung der Scheidewand mit einer der
anliegenden Kapseln in Verbindung, und ergiesst ihren Inhalt zunächst in |
diese. Dieser Zusammenhang erscheint erst zu entstehen, wenn die Sperma-
tozoen reif sind und ausgestossen werden.
Eine scheinbar sehr abweichende Structur besitzt der Hode von Dis-
coglossus; schon von Wittich ist die Anordnung der Kapseln im Wesent-
lichen richtig beschrieben. Der ‚„spindelförmige, gleichmässig vorn und
hinten zugespitzte‘‘ Hode besteht aus zahlreichen, parallel neben einander
liegenden Schläuchen, deren jeder fast die Länge des ganzen Organes
besitzt. An dem Vorderende des Hodens, aus dem ein einziges sehr weites
vas deferens entspringt, vereinigen sich alle diese Schläuche in wenigen
äusserst kurzen Sammelcanälen, welche das intratesticuläre Hodennetz dar-
stellen, das die Samenschläuche mit dem vas efferens verbindet. Aus diesem
Verhalten des Discoglossus-Hodens glaube ich dasjenige des Hodens von
Rana ableiten zu dürfen. Leydig!) hat den Bau desselben richtig erkannt.
Mit Recht bekämpft er Lereboullets Angabe, es fänden sich in der Mark-
substanz Schläuche, die an heiden Enden blind geschlossen wären. Das
intratesticuläre Hodennetz beginnt mit einem länglichen Sinus, von dem
aus nach allen Seiten die schlauchförmigen Samenkapseln entspringen, sich
zunächst mehrfach hin- und herwinden, dann aber in der Peripherie unter
!) Leydig, „Fische und Reptilien“, S. 67.
7 2
100 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphipbien.!
gleichzeitiger Verästelung sich dicht an einander legen und radiär anordnen.
Der Unterschied zwischen dem Bau des Discoglossus- Hodens und des
Froschhodens bestände danach wesentlich darin, dass bei jenem das intra-
testiculäre Hodennetz am vordern Ende, bei diesem mehr in der Mitte
und an der medialen Seite des Organs angebracht ist, während die Samen-
schläuche dort, einander parallel, um die Längsachse des Hodens herum-
gelagert, hier dagegen radiär gestellt erscheinen. Eine weitere Begründung
dieser Vergleichung kann erst im zweiten Abschnitt gegeben werden, nach-
dem wir den histologischen Bau der Samenschläuche selbst erkannt haben.
Ueber diesen mögen an dieser Stelle nur einige Bemerkungen über
die Form der Samenfäden bei Alytes, Pelobates, Bufo und Discoglossus
ihren Platz finden, da meines Wissens bisher keine Beobachtungen darüber
mitgetheilt sind. Die Spermatozoen von Alytes besitzen einen vorn spitzig
zulaufenden stäbchenförmigen Kopf und einen etwa doppelt so langen feinen
Schwanz, an dem eine schöne undulirende Membran entlang zieht. Ganz
ähnlich finde ich die Spermatozoen von Bufo ceinereus, denen La Vallete in
seiner neuesten Publication !) zwei Schwänze zuschreibt. Pelobates besitzt
Samenfäden mit einem langen, korkzieherförmig gewundenen Kopf und
langem feinen Schwanz ohne undulirenden Saum. Discoglossus endlich be-
sitzt die längsten Spermatozoen, welche, meines Wissens, je beobachtet
sind: sie sind über zwei Millimeter lang; davon kommt fast die Hälfte
auf den dünnen, korkzieherförmigen Kopf, das Uebrige auf den mit unmess-
bar feiner Spitze auslaufenden und mit einer äusserst zarten undulirenden
Membran umgebenen Schwanz.
Das Biddersche Organ des Krötenhodens.
Mit diesem Namen bezeichne ich das eigenthümliche bei Kröten
zwischen Hoden und Fettkörper gelegene Gebilde, das zuerst von Bidder ?)
genau unter dem Namen „‚accessorisches Organ“, dann noch eingehender
von Wittich °) als „rudimentäres Ovarium“ beschrieben ist. Bei Bufo einereus
„setzt sich das obere Ende des Hodens in eine scheibenförmige, plattge-
drückte, röthlich gelbe, unebene und höckerige Masse fort“*). Der Inhalt
derselben gleicht völlig den Eiern des Eierstockes: es sind grosse Zellen
mit trübem Protoplasma und einem grossen Keimbläschen mit mehr oder
!) La Vallette St. George, „Ueber die Genese der Samenkörper“ 4, Mitth. —
Arch. f. mikr. Anat, Bd. XII. S. 807.
2) Bidder, a. a. ©. S. 28.
?) Wittich, a. a. ©. S. 158 fr. Taf. IX. Fig. 10, 13, 14.
#) Bidder, a. a. O. S. 28.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 101
minder zahlreichen Keimflecken, umgeben von einem Follikelepithel, dessen |
Zellen in der Regel etwas höher sind als die der eigentlichen Eifollikel. .
Das Organ unterscheidet sich von dem Eierstocke indessen durch den
- Mangel eines Hohlraumes und die Anordnung der eiähnlichen Zellen in |
mehrfachen Schichten, wodurch eine bedeutende Massigkeit desselben be-
dingt ist. In dem bindegewebigen Stroma, welches die Zellen umhüllt,
entwickelt sich bisweilen dunkles Pigment, niemals aber, soweit meine Er-
fahrung reicht, in den Eizellen selbst, wie bei den echten Eiern. Der
Angabe der älteren Beobachter, dass es niemals zur Reife und Ausstossung
dieser „‚Eier‘‘ komme, kann ich vollständig beipflichten. Durch die oben
(S. 98) mitgetheilte Beobachtung, dass ein ganz entsprechendes Organ auch
am Vorderende des Eierstockes der weiblichen Kröten vorhanden ist, wird
die Bedeutung des in Rede stehenden Gebildes offenbar in ein anderes Licht
gesetzt, als bisher. Ich nehme daher auch Anstand, die von Wittich her-
rührende Bezeichnung desselben als ‚„rudimentäres Ovarium‘‘ beizubehalten.
Man wäre dann gezwungen, auch dem Weibchen ein „‚rudimentäres
Ovarium‘“ ausser dem typischen Eierstock zuzuschreiben. Ich muss hier
kurz erinnern an Das, was schon Wittich über die Entwickelung der Ge-
schlechtsorgane der Kröten mitgetheilt hat!). Es bekommt danach „die
Anfangs fadenförmige Geschlechtsdrüssenanlage sehr bald dicht unter dem
Fettkörper eine rundliche Anschwellung, während der hintere Theil noch
als ein feiner Faden verläuft“. Diese Anschwellung wird zu dem „rudi-
mentären Ovarium‘‘, der hintere Faden zur eigentlichen Geschlechtsdrüse,
zum Eierstock beim Weibchen, zum Hoden beim Männchen. ‚‚Immer aber
sieht man auch bei dem Weibchen noch im zweiten Jahre jene rundliche
vordere Anschwellung‘‘. Dass auch später noch Reste davon sich erhalten,
scheint Wittich entgangen zu sein.
In meiner Ansicht, dass die Deutung dieser Befunde in” dem Sinne,
als seien die Kröten normal hermaphroditisch, unstatthaft ist, bestärkt mich
eine interessante Beobachtung an einem Bufo cinereus, den Herr Dr. Fries
bei Tübingen gefangen und mir freundlichst zur Untersuchung überlassen hat.
Hier lag an beiden Seiten zu hinterst ein normal, nur etwas kürzer als
gewöhnlich ausgebildeter Hode; daran schloss sich ein echtes Ovarium , mit
_ mehreren isolirten Hohlräumen, deren dünne Wandungen Eier von der
Grösse, wie sie einer zwei- bis dreijährigen Kröte zukommen, trugen.
Zwischen diesem Ovarium und dem Fettkörper fand sich auch hier das
Biddersche Organ, durch seine compacte Beschaffenheit von dem ersteren
deutlich unterschieden. Wir haben also hier eine echte Zwitterbildung vor
1) Wittich, a. a. O. 8. 158. Taf. IX. Fig. 17.
102 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
uns. Die Müllerschen Gänge waren wie beim Männchen beschaffen. Eine .
ähnliche Missbildung beobachtete ich bei einem Pelobates fuscus, den ich bei
Würzburg fing. An der rechten Seite war ein normaler Hode vorhanden;
links bildete nur die vordere Hälfte der Geschlechtsdrüse einen Hoden, die
hintere dagegen bestand aus zwei Eierstocksfächern, in denen die Eier voll-
ständig wie bei einem Weibchen schwarz pigmentirt waren und auch die
Grösse reifer Eier besassen. Trotzdem war an beiden Seiten kein Müller-
scher Gang zu sehen.
Welche Bedeutung hat aber das Biddersche Organ, wenn es nicht ein
rudimentäres Ovarium ist? Eine bestimmte Antwort kann ich auf diese
Frage einstweilen nicht geben. Mir liegen indessen einige Beobachtungen
vor, welche es mir nicht unwahrscheinlich machen, dass Bidders ursprüng-
liche Deutung, jenes accessorisches Organ sei eine Abtheilung des Hodens,
und zwar eine auf einer niedrigen Entwickelungsstufe stehen gebliebene,
welche die Bildung des Sperma und der Spermatozoen vorbereitet 1), der
Wahrheit sehr nahe kommt, obwohl sie von Wittich so entschieden zurück-
gewiesen ist. Ich muss mich an dieser Stelle mit einer blossen Andeutung
begnügen und behalte mir eine ausführliche Darstellung für den zweiten
Theil dieser Abhandlung vor.
Nun nur noch einige Worte über die Verbreitung des Bidderschen
Organes bei verschiedenen Arten. Ausser Bufo cinereus, auf welche sich
die obigen Angaben hauptsächlich beziehen, besitzen dasselbe unsere beiden
andern einheimischen Krötenarten Bufo variabilis und B. calamita. Es ist
hier weniger scharf gegen den Hoden abgesetzt, sondern umfasst einen
grossen Theil desselben mantelartig. Ich habe es ferner gefunden bei Bufo
intermedia, B. americana und Bufo agua. Bei der letztgenannten Art ver-
hält es sich ganz wie bei den übrigen, liegt also zwischen dem Hoden und
dem Fettkörper. So fand es auch Wittich; Bidders Angabe, das „acces-
sorische Organ‘ von Bufo agua liege hinter dem Hoden, erklärt sich
daraus, dass Bidder das eigentliche ‚accessorische Organ‘‘ des von ihm
untersuchten Weibchens für den Hoden gehalten hat, also über das Ge-
schlecht des ihm vorliegenden Thieres sich im Irrthum befand.
Das Hodennetz.
Bei den Coeeilien und Anuren hatte es keine erheblichen Schwierig-
keiten gemacht, das extratesticuläre- Hodennetz in seinen Beziehungen sowohl
zum intratesticulären Sammelgang als auch zur Niere zu erkennen. In den
1) Bidder, a. a. O. S. 28,
2) Bidder, a. a. O. 8. 18 ff.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 103
meisten Fällen sahen wir die Quercanäle desselben in einen Längscanal
einmünden und von diesem eine Anzahl eigentliche vasa efferentia ent-
springen, die sich mit je einem Malpighischen Körperchen verbanden. Um
über den Zusammenhang des Hodennetzes mit der Niere bei den Anuren
ins Klare zu kommen, bedarf man geschlechtreifer Thiere, aus deren
Hoden sich das Sperma durch einen leichten Druck in die ausführenden
Canäle hineintreiben lässt. Injectionen farbiger Flüssigkeiten durch Ein-
stich in den Hoden, die Heidenhain empfiehlt, haben mir nie befriedigende
Resultate ergeben.
Es ist bekanntlich das Verdienst Bidders?), den Nachweis geführt zu
haben, dass auch beim Frosch der Same die Niere durchsetzt, ehe er in
die Kloake entleert wird. Aus den Hoden sah dieser vortreffliche Beob-
achter die durch Anastomosen zu einem Netzwerk verbundenen Längs-
canäle, welche er als vasa efferentia bezeichnet, entspringen, zum medialen
Nierenrande ziehen und hier in einen Längscanal einmünden, „aus dem
die Nierencanälchen hervorgehen.“ Lereboullets Angabe, die canaux
efferents verzweigten sich nie, ist entschieden unrichtig. Ich finde Bidders
Schilderung vollkommen correct und kann auch bestätigen, dass bisweilen
einzelne vasa efferentia Seitenzweige abgeben, welche die Niere nicht er-
reichen, sondern im Mesorchium blind endigen; es ist sogar dieser keines-
wegs „sehr selten‘‘, wie Bidder meint !).
Ueber die Vereinigung der vasa efferentia mit den Harncanälchen
haben sich die späteren Beobachter sehr verschieden ausgesprochen. Lere-
boullet 2), der den Längscanal übersehen zu haben sckeint, sagt: „les
canaux efferents ne tardent sans doute & s’unir aux tubes excreteurs de
cette glande urinaire‘‘, konnte indessen ihren Verlauf nicht verfolgen.
Hyrtl®) sagt: „‚Die Injectionsmasse nimmt nicht bloss die Kapseln der Mal-
pighischen Körperchen ein, sondern dringt auch in die Ausführungsgänge
des Hodens ein, welche bekanntlich (?) bei Fröschen in diese Kapseln
münden.“ ‚ Wittich und alle späteren Autoren sprechen sich über den Ort
der Verbindung zwischen den Harn- und Samenwegen nicht bestimmt aus,
vermuthen indessen, dass dieselbe erst in den weiteren Sammelröhren er-
folge. Ludwig, Hüfner u. A. haben diese Fragen gar nicht ins Auge ge-
fasst. Im Gegensatz zu Hyrtl endlich behauptet Heidenhain, der die oben
erwähnte Injection durch Ausdrücken des Hodens angewandt hat, ‚‚in dem
zweifellos den Harn bereitenden Theile der Niere sei von einer Verbindung
N) Bidder, a. a. O. 8. 23.
2) Lereboullet, a. a. ©. p. 78.
®) Hyrtl, „Injection der Wirbelthierniere“. a. a. O. 8. 172.
104 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
der Malpighischen Kapseln mit den Samenwegen nicht die Rede; sie
finde erst in den grossen Ausflussröhren des Harns statt‘ }).
Während Heidenhain als Physiologe über diesen Befund eine gewisse
Befriedigung empfinden mag, erwachsen dem Morphologen daraus grosse
Schwierigkeiten, da sowohl für die Plagiostomen als auch für die beiden
ersten Ordnungen der Amphibien der Zusammenhang der vasa efferentia
mit den Malpighischen Körperchen über allem Zweifel feststeht. Ich habe
daher viel Mühe darauf verwendet, zu ermitteln, welche von den einander
so widersprechenden Angaben Hyrtls und Heidenhains die richtige sei. So
sehr ich dafür eingenommen war, diejenige Hyrtls für richtig zu halten, so ent-
schieden muss ich die Heidenhainsche bestätigen. Obwohl sich sehr schnell
der Harnleiter mit der weissen Samenmasse füllte, fand ich niemals eine
Spur derselben in einem Malpighischen Körperchen. Die Quercanäle des
Hodennetzes (Taf. IV, Fig. 13, q.) mündeten in einen vollkommen Bidders
' Schilderung entsprechenden Längsgang, der am medialen Rande, etwas
' gegen die dorsale Fläche der Niere zu gerückt, verläuft, aber nicht wie
bei den Anuren in einiger Entfernung davon angebracht ist, sondern: der
Niere eng anliegt. Betrachtet man ein Stück dieses Canales auf einem
Schnitt von der dorsalen Nierenfläche, bei schwacher Vergrösserung, so er-
scheint derselbe stark varicöos. Bei stärkerer Vergrösserung erkennt man
den Grund dieses Aussehens in Folgendem: Der eigentliche Längscanal
ist nur sehr dünn, von seiner lateralen Wand entspringen indessen in
grosser Anzahl Canäle, welche quer durch die Niere hindurchziehen, sich
zum Theil mit einander vereinigen und endlich in den Harnleiter eintreten.
An der Stelle, wo diese Canäle den Längscanal (Taf. IV, Fig. 11, 1.) ver-
lassen, besitzen sie eine ampullenartige Erweiterung (a.), wodurch eben das
varicöse Aussehen des Längscanales bedingt wird. Ob diese Ampullen
ursprünglich Malpighische Kapseln gewesen sind, deren Glomerulus sich
zurückgebildet oder gar nicht entwickelt hat, muss die Untersuchung der
Entwicklungsgeschichte lehren. Beim erwachsenen Thiere ist jedenfalls
kein Glomerulus vorhanden; auch ist das diesen auskleidende Epithel
cylindrisch und nicht pflasterförmig, wie in den Malpighischen Körperchen.
Die aus den Ampullen hervorgehenden Canäle endlich gleichen nicht einem
Hals, sondern charakterisiren sich in mehrfacher Beziehung als Sammel-
röhren. Sie besitzen nicht nur dasselbe Epithel wie diese, sondern nehmen
in der That von der ventralen Nierenfläche her eine Anzahl von Harn-
canälchen auf. Es sind mit andern Worten die kammförmig aus dem
Harnleiter hervorgehenden Quercanäle der Nieren, welche schon von allen
1) Heidenhain, Arch. f. mikr, Anat. $. 25.
SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 105
früheren Beobachtern beschrieben sind. Dass der Längscanal nicht nur
beim Männchen, sondern auch beim Weibchen vorhanden ist, hat schon
Bidder angegeben !). |
Völlig abweichende Verhältnisse treffen wir bei Bufo. Presst man
zur Brunstzeit den Hoden einer Kröte aus, so dringt das Sperma, nachdem
es die vielfach anastomosirenden Quercanäle des Hodennetzes (Taf. IV., 17,
9.) durchsetzt hat, zunächst in einen Längscanal (l.), der wie bei Rana
am lateralen Nierenrande lieg. Die von diesem in erheblicher Anzahl
entspringenden queren Canäle (ve‘) verlaufen nun an der ventralen Nierenfläche
und entsenden 2 bis 5 Aeste (ve.) in die Nierenmasse hinein. Das sie
auskleidende Epithel zeichnet sich durch die geringe Höhe seiner Zellen
vor den aller übrigen Nierencanäle aus. Die erwähnten Aeste treten an
die ventrale Seite gewisser Malpighischer Körperchen und führen das
Sperma in diese hinein; der Abfluss erfolgt durch den kurzen, dem vas
efferens gegenüber aus der Kapsel hervorgehenden Halse. Wie bei den
Urodelen und Coecilien passirt also der Same bei Bufo die Harncanälchen
ihrer ganzen Länge nach, auch die mit einem grossen Glomerulus ver-
sehenen Malpighischen Körperchen. Die Harncanälchen vereinigen sich |
schliesslich in den quer durch den dorsalen Nierenabschnitt ziehenden
Sammelröhren (s.), welche sich sonst wie bei Rana verhalten; nur fehlt
ihnen die Vereinigung zu einem Längscanal. Wie bei den Coecilien nimmt
nur ein Theil der gesammten Malpighischen Körperchen (mk.) vasa
efferentia auf; die übrigen (mk.‘) sind unipolar. Im Uebrigen besteht kein
Unterschied zwischen den samenführenden und den nur Harn secernirenden
Harncanälchen.
Bei Bombinator (Taf. IV, Fig. 16) finden wir sowohl die Quercanäle
(q.) als auch den Längscanal (l.) des Hodennetzes ähnlich wie bei Bufo
entwickelt. Auch treten aus dem etwas von dem lateralen Nierenrrande
entfernten Längscanal Canäle (ve.) quer zur Niere hinüber, senken sich
eine Strecke weit in dieselbe hinein, enden indessen, soweit ich an den
noch nicht völlig brünstigen Thieren unterscheiden konnte, stets blind. Nur
die von dem vordern Abschnitt des Längscanales entspringenden Canäle
winden sich durch die Niere hindurch und ergiessen ihren Inhalt schliess-
lich in den das Vorderende der Niere hakenförmig umfassenden Fortsatz
(lg.‘) des Harnleiters. Malpighische Körperchen oder auch nur ampullen-
artige Erweiterungen konnte ich in diesen als vasa efferentia fungirenden
Canälen nicht beobachten. Ich kann daher auch über deren morphologische
1) Bidder, a. a. O. S. 23.
106 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Bedeutung ohne Kenntniss ihrer Entwickelungsgeschichte nichts Bestimmtes
aussagen.
Darf man das Verhalten des Hodennetzes der Unke auffassen als durch
Reduction aus dem von Bufo entstanden, so kann man in dem Verhalten
bei Discoglossus die extreme Fortbildung dieses Vorganges erblicken. Das
Hodennetz besteht aus einem einzigen weiten Canale, der aus der vordern
Spitze des Hodens entspringt; er communicirt in keiner Weise mit der
Niere, sondern schlägt sich über deren Vorderende an den Harnleiter, als
dessen unmittelbare Fortsetzung er erscheint.
Die Trennung der Samen- und Harnwege, die bei Bufo noch nicht
besteht, ist also bei Rana, Bombinator und Discoglossus in verschiedener
Weise und in verschieden hohem Grade durchgeführt. Platymantis vitianus,
von dem ich ein brünstiges Männchen untersuchen konnte, scheint sich
wesentlich an Rana anzuschliessen, nur liegt der Längscanal des Hoden-
netzes an der ventralen Nierenfläche. In allen diesen Fällen erfolgt die
Vereinigung der beiden Producte indessen spätestens im Harnleiter. Noch
viel weiter geht die Trennung aber bei Alytes (Taf. IV, Fig. 14 und 15),
Die hier aus dem Hoden hervorgehenden Canäle bilden ein schmales
Hodennetz (Fig. 15, hn.), das die Niere kreuzt, ohne sich mit ihr zu ver-
binden, und in einen Canal (mg.) einmündet, der in etwa 1 mm. Ent-
fernung vom lateralen Nierenrande hinzieht. Derselbe verlängert sich
nach vorn gegen die Lungenwurzel zu in einen feinen (Fig. 14 mg.‘),
an seiner Spitze blind geschlossenen Gang. In der Nähe des Hinter-
endes der Niere geht von seiner lateralen Wand eine nach vorn ge-
gerichtete längliche Tasche (sb.) aus, die als Samenblase fungirt. Dieser
Canal verhält sich in jeder Beziehung wie der Müllersche Gang: er nimmt
nicht die Sammelröhren der Niere auf, sondern diese münden in einen am
lateralen Nierenende liegenden zweiten Canal, der sich verhält wie bei den
übrigen Anuren der Leydigsche Gang. Beide Gänge vereinigen sich erst
kurz vor der Kloake. Es sind für diese Beobachtung, so lange die Ent-
wickelungsgeschichte unbekannt ist, zwei Deutungen möglich. Entweder ist
der Müllersche Gang des Männchens degenerirt und es hat eine sonst
nicht vorkommende Spaltung des Leydigschen Ganges in zwei nur an ihrem
Ende verbundene Canäle stattgefunden; oder aber es ist in der That der
Müllersche Gang hier mit dem Hodennetz in Verbindung getreten und
fungirt als Samenleiter, während der Leydigsche Gang ausschliesslich die
Function des Harnleiters übernommen hat. In den morphologischen Be-
funden sehe ich keinen Grund, die letztere Deutung für unrichtig zu halten.
Da die genetischen Beziehungen des Hodennetzes der Anuren noch
unbekannt sind, so sind einstweilen die Bezeichnungen „l.ängscanal, Quer-
SPENGEL:;: Das Urogenitalsystem der Amphibien. 107
canäle und vasa efferentia‘‘ nicht als Ausdruck der morphologischen Ueber-
einstimmung mit den gleichnamigen Canälen des Hodennetzes der Urodelen
und Coecilien aufzufassen; ja nicht einmal innerhalb der Anurenordnung
selbst ist eine sichere Vergleichung der einzelnen Theile möglich, da die
Uebergänge, welche bei den wenigen zur Untersuchung geeigneten Formen
beobachtet sind, nicht genügen, um auf rein vergleichend - anatomischer
Basis ein Urtheil über die Homologien zu fällen.
Die wichtigsten Ergebnisse der geschilderten Untersuchungen können
wir in folgendem Resume kurz zusammenstellen.
Die Anurenniere setzt sich aus einer grossen Anzalı) von Harn-
canälchen zusammen, deren jedes mit einem Malpighischen Körperchen
beginnt und die vier typischen durch ihre Epithelien charakterisirten Ab-
schnitte besitzt. Stets vereinigen sich mehrere zu Sammelröhren, welche
in den Harnleiter einmünden.
Die in grosser Anzahl vorhandenen Nephrostomen verbinden sich nicht
mit dem Hals der Malpighischen Körperchen, sondern vermuthlich immer
mit dem vierten Abschnitt eines Harncanälchens.
Ueber das Verhältniss der Nierensegmente zu den Körpersegmenten
gab die anatomische Untersuchung keinen Aufschluss.
Als Ausführungsgang der Niere fungirt im weiblichen Geschlecht immer
der Leydigsche Gang; ebenso bei manchen im männlichen, während bei
den übrigen nicht zu unterscheiden war, ob der Harnleiter ein Stück des
ungetheilten Urnierenganges oder auch hier der Leydigsche Gang sei.
Als Eileiter dienten die Müllerschen Gänge. Sie beginnen an den
Lungenwurzeln mit trichterförmigen Ostien.
Beim Männchen erlangt der Müllersche Gang eine hervorragende
Entwickelung bei Bufo; bei andern Gattungen (Bombinator, Rana etc.) er-
hält er sich in grösserer oder geringerer Ausdehnung.
Eine Verbindung der Harnleiter mit den Eileitern konnte in keinem
Falle beobachtet werden.
Die Ovarien sind paarige, in Bauchfellfalten frei in der Leibeshöhle
aufgehängte Säcke, welche durch Scheidewände in eine grössere oder
geringere Anzahl isolirter und vollkommen gegen einander und nach aussen
abgeschlossener Säcke zerfallen sind.
Als Ausführungsgang für den Samen fungirt der Harnleiter, mit Aus-
nahme von Alytes obstetricans, wo ein seiner Lagerung nach als Müllerscher
Gang erscheinender Canal das Hodennetz aufnimmt.
108 SPENGEL: Das Urogenitalsystem der Amphibien.
Erweiterungen des Harnleiters dienen als Samenreservoire; bei Alytes
ist die Samentasche ein Theil des besondern Samenleiters.
Die Fettkörper sind am Vorderende der Geschlechtsdrüse angebracht.
Die Hoden verhalten sich hinsichtlich ihrer Lage und Befestigung wie
die Eierstöcke. Im Innern derselben ist ein intratesticuläres Hodennetz in
verschiedenem Masse entwickelt. Für die Homologisirung der Canäle des
extratesticulären Hodennetzes, durch welche die Verbindung des Hodens
mit dem Harnleiter vermittelt wird, ergab die anatomische Untersuchung keine
genügenden Anhaltspunkte. Ein Zusammenhang mit Malpighischen Körper-
chen konnte nur bei Bufo nachgewiesen, indessen bei Rana, Discoglossus,
Alytes und Bombinator bestimmt geleugnet werden.
Bei Bufo findet sich zwischen der eigentlichen Geschlechtsdrüse und
dem Fettkörper in beiden Geschlechtern ein Gebilde, das als „‚Biddersches
Organ‘‘, von Wittich als „rudimentäres Ovarium“ bezeichnet wurde. Es
dient möglicher Weise als Zuwachsorgan für Hoden und Eierstock.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Tafelerklärung.
Tafel 1.
Das Urogenitalsystem von Epicrium glutinosum &. %,.
a. After; cl. Kloake; f. Fettkörper; h. Hoden; hb. Harnblase; mg. Mül-
lerscher Gang; mg.‘, Drüsenabschnitt desselben; n. Niere.
Das Urogenitalsystem von Epierium glutinosum 9. ?)s.
a., cl., f., hb., mg., n. wie in Fig. 1. hb.‘ hinterer Zipfel der Harnblase;
lg. Leydigscher Gang; o. Ovarium; o. t. Ostium Tubae.
Flächenansicht eines Nierensegmentes eines erwachsenen Epierium gluti-
nosum d&. °°/,.
mk. Malpighische Körperchen; tr. secundäre Nephrostomen.
Primäres Nephrostom (Segmentaltrichter) nebst dem dazugehörigen Mal.
pighischen Körperchen aus dem auf embryonaler Stufe zurückgebliebenen
Vorderende der Niere von Epierium glutinosum d. 109]..
mk. Malpighisches Körperchen mit seinem Glomerulus gl; h. Hals des
Ersteren; tr. Segmentaltrichter, dessen Stiel sich mit h. vereinigt; c. ge_
meinsame Fortsetzung Beider.
Ein Nephrostom von Epierium glutinosum d, von der Fläche aus gesehen. !9|,.
Aus einem Querschnitt der Niere von Siphonops annulatus d. 26/1.
tr. Querschnitt eines Nephrostoms; c. Stück eines tangential getroffenen
Harncanälchens (Abschnitt 2).
Ein Segment aus der Niere einer Larve von Siphonops sp. °°)..
mk. Malpighisches Körperchen; tr. Segmentaltrichter; 1. 2. 3. 4, erster bis
vierter Abschnitt des Harncanälchens; mg. Müllerscher Gang; lg. Ley-
digscher Gang.
Vorderende der Niere von Siphonops mexicanus mit langgestielten Seg-
mentaltrichtern. ®#/ı.
tr. Segmentaltrichter; lg. Leydigscher Gang aus jedem Nierensegment ein
Sammelrohr aufnehmend; mg. Müllerscher Gang.
Zwei Segmente aus dem Nebenhodenabschnitt der Niere von Epicrium gluti-
nosum d, "9%.
mk. primäre Malpighische Körperehen mit ihrem primären Nephrostom tr. ;
die secundären Malpighischen Körperchen sind nur in ihren Glomerulis
als dunkle Punkte angedeutet, die secundären Nephrostome nicht ge-
zeichnet; ve. vasa efferentia; 1. Längscanal; q. Quercanal des Hodennetzes.
110
Fig. 10.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
17.
18.
1%
ig. 20.
21.
22.
23.
24.
25.
Tafelerklärung.
Rudimentäres Hodennetz von Coecilia rostrata ®. 5ı.
mk., v. e., l., q. wie in Fig. 9; 1.“ Anlage eines’neuen Stückes des Längs-
canales durch Sprossung vom vas efferens. Die -Quercanäle q. erreichen
den Eierstock nicht, sondern endigen blindgeschlossen;, mg. Müllerscher
Gang; lg. Leydigscher Gang.
Flächenansicht vom Eierstock einer 130 mm. langen Coecilia rostrata 9. #/ı.
ov. Eier; u. Ureierplatten.
Flächenansicht einer Ureierplatte aus demselben Eierstock. 26/,.
Bei * schimmert ein ausgebildetes Ei durch.
Querschnitt durch eine Ureierplatte desselben Eierstockes. 26%],,
up. Ureierplatte; lu. Hohlraum des Ovariums ; m. Mesenterium des Fettkörpers.
Querschnitt durch ein ausgebildetes Ei aus demselben Eierstock. 13%,.
ov. Ei, von einem plattzelligen Follikel fo. umschlossen; lu. Hohlraum
des Eierstockes.
Quersschnitt durch den Eileiter von Epierium glutinosum. *5/.
Querschnitt durch den Drüsenabschnitt des Müllerschen Ganges von
Siphonops annulatus &. "9/1.
dr. Drüsen.
Querschnitt durch den Drüsenabschnitt des Müllerschen Ganges von Si-
phonops thomensis d. */,.
Fig. 17a. Ein Sector aus demselben bei 100facher Vergrösserung.
Querschnitt aus dem Drüsenabschnitt des Müllerschen Ganges von Rhina-
trema bivittata d. *)..
Fig. 18a. Ein Drüsenschlauch aus demselben bei 100facher Vergrösserung.
Aus einem Längsschnitt vom Grunde eines Drüsenschlauches aus dem
Drüsenabschnitt des Müllerschen Ganges von Epicrium glutinosum &. ?%),.
k. Kerne der Drüsenzellen; k.‘ zwischen die Drüsenkerne eingekeilte
Spindelkerne.
Aus einem Längsschnitt vom Drüsenabschnitt des linken Müllerschen
Ganges von Coecilia Jumbricoides d. 1%%),.
ep. Einfaches Pflasterepithel des Lumens; k. runde Kerne der Drüsenzellen ;
k.‘ zwischen die Drüsenzellen eingekeilte Spindelkerne.
Tafel I.
Müllersches Knäuel von einer 65 mm. langen Coecilia rostrata &. ?%/,.
tr. vier trichterförmige Oeffnungen.
Rudiment des linken Müllerschen Knäuels von einem erwachsenen Sipho-
nops mexicanus d. "?],.
n. Niere; mg. Müllerscher Gang; mk. Müllersches Knäuel.
Zwei Hodenmassen einer 95 mm. langen Coecilia rostrata &. 2%).
k. Hodenkapseln; s. Sammelgang.
Querschnitt durch eine Hodenmasse von Epicrium glutinosum d. 2?/..
Bezeichnung wie in Fig. 23.
Längsschnitt durch eine Hodenmasse einer 180 mm. langen Coecilia
rostrata &. ”ı.
Bezeichnung wie in Fig. 23.
Fig. 26.
Fig. 38.
Fig. 39.
Fig. 40.
Tafelerklärung. 111
Querschnitt durch eine Hodenkapsel von Epicrium glutinosum &. 19/..
s. Sammelgang: vk. kelchförmige Ausbreitung der Vorkeimzone; vk.‘ Vor-
keimkerne der Randschicht; sb.! — sb.’ verschiedene Stadien der Samen-
bildungszellen; sb. reife Spermatozoen; zb.’ Zellballen, in dem die Zell-
kerne die eigenthümlichen Theilungsbilder zeigen.
Erstes Stadium der Samenbildungszellen von Epierium glutinosum d. (Fig.
6 sb), 01,5
Drittes Stadium derselben, ebendaher. (Fig. 26 sb.?). *1%),.
Beginnende Streckung der Kerne derselben. *1%ı.
Stäbehenförmige Samenbildungszellen, ebendaher. *!%/,. (Fig. 26 sb.*).
Weiteres Entwicklungsstadium, ebendaher; gerichtete Stäbchenzellen. (Fig.
26. 5b.°)*1%ı,
Reife Spermatozoen aus dem Hoden von Siphonops indistinetus. *1%,.
Kerntheilungsbilder aus dem Hoden von Epicrium glutinosum. *1%/..
Mehrkernige Samenbildungszellen aus dem Hoden von Coecilia lumbri-
coides. #19,,. 5
Drei Vorkeime aus dem Hoden einer 95 mm. langen Coecilia rostrata &. *19),.
Der Kern der mittleren Zelle ist in radiär geordnete Stäbchen zerfallen.
Aus einem Querschnitt vom Hoden desselben Thieres. 10%.
s. Querdurchschnittener Sammelgang;; vk. Vorkeime; sb. Samenbildungszellen.
Kelchförmige Ausbreitung der Vorkeime um die Mündung des Sammel-
ganges; aus dem Hoden von Epierium glutinosum. 2°5/,.
vk. Vorkeime. In dem Lumen liegen einige in der Auswanderung be-
griffene Spermatozoen.
Mündung eines Astes des Sammelganges in eine Hodenkapsel, von Coe-
eilia rostrata. 2°°)..
vk, Zu Vorkeimen umgewandelte Zellen des Epithels des Sammelganges.
Optischer Längsschnitt durch eine Anschwellung der Hodenanlage einer
65 mm. langen Coecilia rostrata. ?65/ı.
Querschnitt durch eine Anschwellung der jungen Hodenanlage desselben
Thieres. 265/),.
Fig. 41 und 42. Querschnitt durch die strangförmige Verbindung zweier Anschwel-
Fig. 43.
Fig, 44.
Fig. 45.
Fig. 46.
Fig. 47.
lungen aus der Hodenanlage desselben Thieres, 265/,.
vk. Vorkeim. iu
Rechter Hode von Siphonops mexicanus d. 1).
Kloake und Begattungsorgane von Epierium glutinosum d. !..
Die ventrale Seite der Kloake cl. ist median aufgeschnitten. Man sieht in
derselben die paarigen Papillen pa. und die beiden Hälften der median
durchschnittenen unpaaren Papille pa.‘; p, rechter Penisblindsack; m. r.
el. musculus retractor cloacae; m. r. p. rechter musculus retractor penis;
mg. Müllerscher Gang; lg. Leydigscher Gang, n. Niere; hb, Harnblase;
r. Rectum; a. After,
Kloake und Begattungsorgane von Rhinatrema bivittata &. Yı.
Bezeichnung wie in Fig. 44, Es sind zwei Paar Papillen (pa.) vorhanden,
Kloake und Begattungsorgane von Siphonops thomensis. !/,.
Bezeichnung wie in Fig. 44.
Kloake und Begattungsorgane von Siphonops annulatus d. !/..
Bezeichnung wie in Fig. 44.
112
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 6.
Fig. 7.
Fig. 8.
Fig. 9.
Fig. 10.
Fig. 11.
Fig. 12.
Fig. 13.
Tafelerklärung.
Tafel IN. _
Geschlechtsabschnitt der Niere von Spelerpes variegatus &. "?).-
mg. Müllerscher Gang; lg. Leydigscher Gang; mk. Malpighische Körper-
chen; tr. Nephrostomen; ve. vasa efferentia.
Schema des Urogenitalsystems eines männlichen Urodelen unter Zugrunde-
legung eines Präparates von Triton taeniatus.
h. Hode; n. Beckenniere (die Kreise mit einem Punkte in der Mitte ©
stellen die Nephrostomen dar); gn. Geschlechtsniere; mg. Müllerscher
Gang; lg. Leydigscher Gang; up. Urogenitalpapille.
Schema des Urogenitalsystems eines weiblichen Urodelen unter Zugrunde-
legung eines Präparates von Triton taeniatus.
ov. Ovarium; n, gn., mg. und Ig. wie in Fig. 2. Die Nephrostomen sind
in der Beckenniere durch Kreise mit einem Punkte in der Mitte ®@, in
der Geschlechtsniere durch kleine Fähnchen angedeutet.
Hinterer Abschnitt der Niere von Amphiuma means 9. )..
n. Beckenniere, gn. Geschlechtsniere; mg. Müllerscher Gang; mg.‘ Mün-
dung desselben; hb. Harnblase; hb.‘ Mündung derselben in die Kloake cl,;
r. Rectum.
Hinterer Abschnitt der Niere von Batrachoseps attenuatus &. ?),.
n. Beckenniere; sr. Sammelröhren derselben; gn. Geschlechtsniere; Ig.
Leydigscher Gang; up. Urogenitalpapille.
Schematischer Querschnitt durch die Beckenniere eines Salamandriden.
n. Nieren; tr. Nephrostomen; p. Peritoneum; m. Musculatur; w. Wirbel.
Schematischer Querschnitt durch die Beckenniere eines Ichthyoden.
Bezeichnung wie in Fig. 6.
Flächenschnitt von der Beckemniere eines Axolotl d. "°);.
tr. Nephrostomen; tr.‘ zwei Nephrostomen, deren Stiele sich vereinigen;
mk. Malpighische Körperchen.
Degenerirendes Nephrostom aus der Geschlechtsniere von Salamandra
maculosa. 100),.
mk. Malpighisches Körperchen; mk.‘ Hals; tr. Rest der Trichterscheibe;
trg. an seinem Ende obliterirender Trichterstiel; ve. vas efferens.
Nephrostom und Malpighisches Körperchen aus der Geschlechtsniere von
Chioglossa lusitanica 9. !%/ı.
tr. Trichterscheibe; trg. Trichterstiel; mk. Malpighisches Körperchen;
mk.‘ Hals.
Nephrostom und Malpighisches Körperchen aus der Geschlechtsniere von
Proteus anguinus 9. >%..
tr. Nephrostom; mk., mk.‘ und trg. wie in Fig. 10; 2. zweiter Abschnitt
des Harncanälchens.
Malpighisches Körperchen, rudimentäres Nephrostom und vas deferens aus
der Geschlechtsniere von Siren lacertina 9. 5%,.
Bezeichnung wie in Fig. 9.
Querschnitt durch ein Nephrostom aus der Beckenniere von Spelerpes
variegatus 9. 10),.
tr. Eingang des Nephrostoms.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig,
Fig,
Fig.
Fig.
14.
. 15.
16.
bie
19.
9
Tafelerklärung. 113
Geschlechtsabschnitt der Niere von Triton taeniatus d. !%..
hq. Quercanäle; hl. Längscanal des Hodennetzes; ve. vasa efferentia in
Malpighische Körperchen eintretend; sr. Sammelröhren; sr.! Sammelrohr
des ersten Nierenknäuels; lg. Leydigscher Gang.
Vorderende der Niere von Proteus anguinus d mit dem Hodennetz und
der Spitze des Hlodens. $/,.
h. Hode; hq. Quercanäle;, hl. Längscanal des Hodennetzes; ve. vasa
efferentia, in Malpighische Körperchen eintretend; ve.‘ obliterirende vasa
efferentia; lg. Leydigscher Gang; mg. Müllerscher Gang.
Ostia abdominalia der männlichen Tuben von Siredon pisciformis &. Y..
n. Nieren; mg. Müllerscher Gang; ot. Ostium tubae; oe. Oosophagus;
1. Lunge.
Mündung der Ei- und Harnleiter in die Kloake von Siredon pisci-
formis 9. 'jı.
mg. Eileiter; mgp. Eileiterpapille; lg.‘ Mündung des Harnleiters,
Querschnitt durch die Kloake von Desmognathus fuscus ? mit der Mün-
dung des linken Ei- und Harnleiters. #/ı.
mg. Eileiter; mg.‘ Mündung desselben; lg. Harnleiter; 1g.‘ Mündung des-
selben; cl. Kloake; hb. Harnblase, n. Nieren.
Querschnitt durch den lateralen Nierenrand von Proteus anguinus d. ®%/..
mg. Müllerscher Gang; lg. Leydigscher Gang, in des ein Sammelrohr nr.
einmündet,
Tafel IV.
Querschnitt durch ein Ovarialei von Spelerpes variegatus. */ı.
ov. Ei; k. Keimblässchen; fo. Follikel.
Querschnitt durch den Hoden von Batrachoseps attenuatus. 10/,.
s. Sammelgang; a. den Sammelgang radiär umstehende Hodenkapseln.
Querschnitt durch den Hoden von Menobranchus lateralis. ®/,.
s. Sammelgang; a. schlauchförmige Hodenkapseln.
Flächenansicht der Niere von Discoglossus pietus d. ®h.
Man sieht auf der Oberfläche zahlreiche Nephrostomen, Ig. Harnleiter;
lg.‘ Erweiterung desselben zur Samenblase; mg. Müllerscher Gang; nb.
Nebenniere.
Flächenansicht der Niere von Rana temporaria d. 8.
Man sieht zahlreiche Nephrostomen, die längs der Gefässe durch Ver-
schmelzung mehrerer bedeutende Grösse erreicht haben. lg. Harnleiter; nb.
Nebenniere.
Nephrostom mit zwei sich wieder vereinigenden Stielen aus der Niere von
Bombinator igneus. °9..
Nephrostom mit zwei Stielen aus der Niere von Bombinator igneus, 5°/ı.
Dorsale Kloakenwand mit den Mündungen der Eileiter (mg.‘) und Harn-
leiter (lg‘.) von Rana esculenta.
Desgl. von Pelobates fuscus.
10 a, b., c. Verschiedenes Verhalten der Harn- und Eileiter von Bombinator
igneus.
mg. Eileiter; lg. Harnleiter.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 8
114
Fig. 11.
Fig. 12.
Fig. 13.
Fig. 14.
Fig. 15.
Fig, 16.
Fig. 17.
Fig. 19.
Tafelerklärung.
Aus einem Querschnitt einer Niere von Rana temporaria, die vom Hoden
aus mit Sperma injieirt ist. !9%,.
l. Querschnitt des Längscanales des Hodennetzes; a. ampullenartige Er-
weiterung des abführenden Sammelrohres s., das bei s,‘ den vierten Ab-
schnitt eines Harncanälchens aufnimmt.
Aus einem Querschnitt einer Niere von Bufo einereus &. !9%,.
mk. ein mit Sperma erfülltes Malpigisches Körperchen; ve. zuführender
Canal des Hodennetzes; h. Hals und Anfang des zweiten Canalabschnittes.
Dorsale Ansicht des medialen Nierenrandes von Rana temporaria d mit
dem von Sperma erfüllten Hodennetz. °/,.
q. Quercanäle des Hodennetzes; 1, Längscanal desselben, an den sich die
abführenden Canäle s. ansetzen.
Linke Niere und Hode von Alytes obstetricans, ?/..
n. Niere; mg. Müllerscher Gang; lg. Leydigscher Gang; sb. Samenblase;
h. Hode; f. Fettkörper.
Das Hodennetz von Alytes obstetricans.
mg. Müllerscher Gang, als vas deferens fungirend; n. Niere, nb. Neben-
niere; h. Hode;. f. Fettkörper.
Hode und vorderes Nierenende von Bombinator igneus. Schematisch.
q. Quercanäle; 1. Längscanal des Hodennetzes; ve. von demselben zur
Niere ziehende blind geschlossene Sprossen; lg.‘ hakenförmiger Fortsatz des
Harnsamenleiters; 1g.'‘ vordere Verlängerung des Letzteren; mg. Rudiment
der männlichen Tube; h. Hode; f. Fettkörper.
Hode und vorderes Nierende von Bufo cinereus. Schematisch.
q. Quercanäle des Hodennetzes; 1. Längscanal desselben, von dem zahl-
reiche Canäle ve.! quer über die ventrale Nierenfläche ziehen und zu einer
Anzahl von Malpighischen Körperchen, mk., Verbindungsäste entsenden.
Die so mit dem Hodennetz verbundenen Malpighischen Körperchen
füllen sich mit Sperma. Die von ihnen entspringenden Harncanälchen
münden wie die übrigen in die vom Harnleiter lg, aus quer durch die
Niere ziehenden Sammelröhren s. h. Hode; ov. rudimentäres Ovarium ;
f, Fettkörper; mk.‘ Malpigische Körperchen, welche nicht mit dem Hoden-
netz verbunden sind.
Mündung der gemeinsamen Fortsetzung (tr.!) zweier Trichterstiele (tr.) in
den yierten Abschnitt, 4., eines Harncanälchens, von Bufo cinereus &. *#°),.
Durch ein Versehen des Lithographen ist die Streifung der Stäbchenzellen in
Letzterem fortgelassen.
(Gedruckt am 24. Juni 1876).
Pierer’sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
zur
Die Verwandtschaftsbeziehungen der
segliederten Thiere.
III. Strobilation und Segmentation.
Ein Versuch zur Feststellung specieller Homologien zwischen
Vertebraten, Anneliden und Arthropoden.
Von C. SEMPER.
I. Abschnitt. Geschiehtlieh-Kritisches.
$.1. Die Geoffroy’sche Theorie der Verwandtschaft der
Wirbelthiere und Gliederthiere.
lm dritten Jahrzehent unseres Jahrhunderts fand in den Sitzungen der
Pariser Academie eine Discussion statt, welche trotz des Aufsehens, das sie
erregte, und ungeachtet des allgemeinen theoretischen Interesses, das sie da-
mals für die Zoologie bot, ohne irgend welchen dauernden Einfluss auf die
Entwickelung dieser Wissenschaft blieb. In dem Streit über die Frage:
ob sich die Wirbelthiere den Gliederthieren direet vergleichen liessen
d. h. ob — wie man jetzt sagt — gewisse Glieder ihres Körpers homolog
seien oder nicht, fiel die Entscheidung zu Ungunsten Geoffroy St. Hilaires’,
welcher gegen die Cuvier’sche Schule den Satz aufgestellt und verfochten
hatte, es seien in der That Wirbelthiere und Gliederthiere in solchem
Sinne miteinander vergleichbar.
Die Geoffroy’sche Ansicht blieb seit jener Niederlage ganz oder fast
ganz unbeachtet; hin und wieder nur, so z. B. von Gegenbaur, wird sie
als Curiosum erwähnt; Leydig allein scheint sie beachtet und auf ihr
‚weitergebaut zu haben. Aber auch ihm gelang es nicht, sie zur Geltung
zu bringen.
Es ist das in der That nicht zu verwundern. Man kann einen guten
Gedanken haben, aber in dem Bestreben, ihn durch schlechte oder unge-
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg.. III. )
116 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
nügende Beweismittel zu stützen, geht jener häufig auch mit der Beweis-
führung zu Grunde. Dass dies der Fall gewesen sei mit der Geoffroy’schen
Hypothese, ist nicht schwer zu erweisen; indessen ist dazu eine eingehen-
dere Erörterung des ganzen Streites nöthig.
Es ist dabei vor Allem in den älteren Schriften nach den zwei Haupt-
puncten zu suchen: was denn eigentlich die zu beweisende These und
welcher Art die bei der Beweisführung benutzten Beweismittel gewesen seien,
An der fast ausschlieslich unter Franzosen geführten Discussion be-
theiligten sich folgende Naturforscher: Geoffroy St. Hilaire, Lamarck,
Latreille, M. Serres, ein Anonymus in den Annales des Sciences und
Blainville.
Wie fast immer in solchem rein theoretischen Streit mischten sich
mehrere verschiedene Auffassungen durcheinander; der Einzelne nahm von
seinem besonderen Standpunkt aus Stellung zu der aufgeworfenen Frage
und veränderte diese je nach seiner Auffassung. Es ist daher geboten,
rein geschichtlich zu verfahren, wenn anders man auf diese (bewusste oder
unbewusste) These kommen und zu den Mitteln gelangen will, um die da-
mals versuchte Beweisführung kritisiren zu können.
Ursprünglich hatte Geoffroy St. Hilaire behauptet, dass die vielfüssigen
Insecten eine Wirbelsäule und echte Rippen besässen. Er leitet seinen
zweiten (Ann. gen. d. sc. phys. 1820 p. 96—133) Bericht über den von
ihm hierüber in einer Sitzung der Pariser Academie gehaltenen Vortrag
durch eine echt französische Wendung ein: er lässt sich, im Begriff jenen
Vortrag zu halten, von einem guten Freunde darüber zur Rede stellen,
warum er seine These — dass die Gliederthiere Wirbel und Rippen be-
sässen — erst noch zu beweisen gedenke. Denn kein Physiologe habe bis
dahin daran gezweifelt, dass dem in der That so sei. Gleich darnach
führt er diese Anschauung der Physiologen auf Willis zurück, dessen auf
den Krebs bezüglicher Ausspruch ‚„Quoad membra et partes motrices, non
ossa teguntur carnibus, sed carnes ossibus‘‘ ihm das Merkmal zur Unter-
scheidung der beiden Wirbelthierclassen geben soll. Diese beiden aber
konnten nach der ganzen Beweisführung Geoffroy’s nur Wirbelthiere und
Gliederthiere sein.
Bei solcher Zusammenstellung scheinbar heterogenster Thiere war
offenbar der allgemein leitende — wenn auch von Geofiroy nicht scharf
ausgesprochene — Gedanke der, dass sie dann wegen ihrer Gliederung als
nächstverwandte Olassen zu gelten hätten. Bei dem damaligen Stande der
Gewebelehre und Entwicklungsgeschichte konnte diese Ansicht kaum in
anderer, als in der von Geoffroy geübten Weise vertheidigt werden: durch
den Versuch, Theile auch bei den Insecten nachzuweisen, welche damals
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 117
schon als ganz besonders typisch für die höher entwickelten Wirbelthiere
galten. Dies war vor Allem die Wirbelsäule mit ihren Anhängen. Eine
solche Methode kann um so weniger jener Zeit zum Vorwurf gemacht
werden, als sie noch in manchen Zweigen der Zoologie bis auf den heutigen
Tag!) massgebend ist; anstatt die complieirteren, weil mehr getheilten
Organisationsverhältnisse der höheren Thiere durch die einfacheren, weil
zusammengefassteren der niedriger stehenden zu erklären, sucht man das,
was man bei Jenen nach ganz exotherischen Gründen für typisch und mass-
gebend hält, auch bei diesen wiederzufinden. Oder man glaubte — und
glaubt auch heute noch häufig genug —, dass dasjenige Organsystem, welches
uns nach unserer Meinung den Typus einer Classe, hier der Wirbelthiere,
bezeichnet, auch immer in seinen Entwickelungsstadien das beste oder gar
einzige Mittel zur Erkennung ihrer Verwandschaft mit einer andern Classe,
hier derjenigen der Gliederthiere, abgäbe. —
Dass dies, mehr als jetzt, zu jener Zeit geschah, geht aus den damals
ziemlich häufigen rein philosophirenden Frörterungen hervor, wie sie
namentlich in den Sitzungen der Pariser Akademie an der Tagesordnung
waren. In denselben Geiste ist auch Geoffroy’s Argumentation gehalten.
In seinem ersten Artikel?) bemüht er sich, bei :'en Insecten alle die
verschiedenen Abtheilungen wiederzufinden, welche die vergleichende Ana-
tomie der Wirbelthiere als typisch für diese hingestellt hatte, und er
kommt dabei (l. c. p. 174) zu dem kühnen Ausspruch, dass die drei vor-
dersten Segmente der Insecten durch eine Trennung der Glieder des
Wirbelthierschädels entstanden seien (Ainsi les trois segments anterieurs
proviennent d’un demembrement du cräne des animaux vertehres). Indessen
zeigt der darauf folgende Satz, dass er dies wohl nur bildlich gemeint
habe, insofern die Insecten die 3 Segmente getrennt von einander behalten
hätten, welche bei den Wirbelthieren zum Schädel vereinigt worden wären.
Und ganz in demselben Sinne vergleicht er das vierte Insectenglied —
den jetzt sogenannten Metathorax — mit dem Thorax der Vertebraten, das
D) So z. B. in der Muskellehre der Wirbelthiere, der Lehre von den Sinnesorganen,
der vergleichenden Histologie (glatte und willkürliche Muskelfasern, markhaltige
und marklose Nervenfasern etc,) e tutti quanti! Ein Erbtheil aus jener alten, guten
Zeit, zu welcher Vogt sagen konnte, dass wir Zoologen doch eigentlich nur ver-
dorbene Mediciner seien.
2) G. St. Hilaire, Sur organisation des Insectes; sur un Squelette chez eux, dont
toutes les pieces identiques entr’elles, dans les divers ordres du systeme entomologique,
eorrespondent a chacun des os du squelette dans les classes superieures.
Ann. gener. d. Se, phys., T. 3, 1820, p. 105 (lu a l’Academie des Sciences).
9*
118 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Insectenabdomen — obgleich es aus mehreren Abtheilungen besteht — mit
dem Abdomen und das letzte Schwanzglied mit den coccyx der Wirbelthiere.
Der Wunsch, bei den Insecten die einzelnen Segmente der Wirbel-
thierkörper wiederzufinden, treibt ihn in seinem zweiten !) Aufsatz noch viel
weiter. In der Erinnerung an den oben citirten Ausspruch von Willis,
dass bei den Krebsen das Fleisch von den Knochen bedeckt sei, nicht
aber wie bei den Wirbelthieren die Knochen umgäbe, sucht er hier darzu-
thun, dass in der That bei den Insecten (Gliederthieren) die Eingeweide
innerhalb der Wirbelsäule lägen. Für unsere Zeit ist dieser Gedanke
etwas schwer verständlich; wir brauchen ihm trotzdem nicht sonderlich
weit nachzugehen. Die Abschnitte eines Inseetenringes zusammengenommen
vergleicht er dem hohlen Wirbelkörper eines Fisches, der ausser dem
Nervensystem auch noch sämmtliche Eingeweide in sich aufgenommen habe;
die gesonderten, von ihm mit schwerfälligen Namen (cycleal, paraal, cataal
etc.) belegten Abtheilungen jedes Gliedes der Wirbelsäule der Vertebraten
findet er auch bei den Gliederthieren wieder, die ganze Wirbelsäule der
letzteren aber dabei um 90° gedreht 2): sodass in Bezug auf die Skelett-
theile der Flusskrebs nach ihm auf der Seite (des Wirbelthieres) krieche.
Gleichzeitig aber mit dieser Drehung um 90° sollten die Eingeweide, speciell
das Nervensystem, sich um 180° gedreht haben, indess das Bauchmarex
der Gliederthiere dem Rückenmark der Wirbelthiere direct gleich zu stellen
sei. Er weist, um diese wunderliche Auffassung annehmbar zu machen,
auf die Verschiebung in der Lagerung der Organe bei den Pleuronectiden hin.
Dass auch damals schon trotz der dunklen Nacht, welche zu Cuviers
Zeit noch die Entwickelungsverhältnisse namentlich der niederen Thiere
verhüllte, diese Anschauungen nur ungläubiges Lächeln und Widerspruch
erregen, ja selbst wohl das vornehme Ilerabschauen Cuviers rechtfertigen
konnten, der sich mit keinem Worte an der eigentlichen Discussion
betheiligte; dass Geoffroys Ansicht unterliegen musste, liest auf der Hand.
Denn das, was seine Stärke gegenüber Cuvier bedingte, die intuitive Er-
kenntniss allgemeiner Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Wirbelthieren
und Wirbellosen, konnte bei solcher Art der Beweisführung nur an Kraft
verlieren; und je mehr er im Einzelnen seine naturphilosophischen An-
schauungen zu begründen versuchte, um so gewichtigere Argumente musste
er selbst seinen Gegnern in die Hand liefern. Und indem Diese nachwiesen,
1) G. St. Hilaire, Sur une colonne vertebrale et ses cötes dans les insectes
apiropodes. Ann. gener. d. phys. etc. T. 4. 1820, p. 96 fg.
2) Bericht von Cuvier (M&moires de ’Academie 1822) „dans la maniere de voir
de Geoffroy St. Hilaire l’ecrevisse, en ce qui concerne ses visceres, marche sur le
dos et en ce qui concerne son squelette, sur le cöte.“ (l-. c. p. 367).
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 119
dass alle seine Folgerungen auf dem Boden specieller Fachkenntniss nur
zu Absurditäten führten und führen könnten, gaben sie scheinbar zugleich
auch den Beweis, dass sein allgemeiner, leitender Gedanke ein unrichtiger
gewesen sei.
Es pflegt das gewöhnlich so zu gehen; ein Sprichwort nennt dies: das
Kind mit dem Bade ausschütten. Wir haben in unserer Zeit auch eine
Parallele hierfür. Darwins genialen Gedanken glauben Manche damit wider-
-legen zu können, dass sie nachweisen, er selbst habe hier eine falsche
Consequenz gezogen, dort eine verkehrte Ansicht als Beweismittel für seine
Anschauung benutzt oder noch nicht alle Fragen beantwortet. Warum soll
ein Mann, der wie Darwin eine solche Fülle schöpferischer Gedanken
gehabt, nicht auch einmal das Recht haben, sich nach Art von uns Andern,
nach der Weise gewöhnlicher Menschenkinder in seinen Schlussfolgerungen
zu verirren oder auf müssige Fragen zu antworten: dass weiss ich nicht?
Zum Glück haben wir heutiges Tages keinen Cuvier, der hoch vom Throne
herab Darwins allgemeinen Gedanken zu entkräften vermöchte; eher fast
möchte das Gegentheil zu befürchten sein: dass eine Anschauung jetzt
dogmatisirt werden könnte, welche in den zwanziger Jahren durch die
Macht Cuvierscher Dogmen einfach in den Papierkorb geworfen wurde.
Zu Geoffroy’s Zeiten freilich lebte dieser Mann, dessen Machtspruch
sich wenigstens die französische Gelehrtenwelt — und das hiess damals
beinahe Alles — gläubig beugte. Latreille zum Theil, Lamarck und
Blainville widersprachen Geoffroy ganz uffen, da sie ganz richtig in den
Oberhautbildungen des Insectenpanzers keine Wirbelsäule zu erkennen ver-
mochten; Cuvier selbst machte als Secretair der Akademie in mehrfachen
Berichten immer nur darauf aufmerksam, dass sich Geoffroy nach wie vor
_ anstrenge, Argumente für das herbeizuschleppen, was er die „unit& de com-
position du regne animal“ nenne!). Niemand wird läugnen wollen, dass
Cuvier von seinem besonderen Standpunkte aus völlig Recht hatte, (obgleich
er früher wohl auch anderen Ansichten gehuldigt haben mochte), seine
Meinung anzudeuten, Geoffroy habe in seiner Argumentation die „Einheit
des Baues der Thiere“ nicht „greifbar“ (palpable s. Anm. 1) gemacht.
Aber die Meinung selbst brauchte darum‘ noch durchaus nicht falsch zu
I) Cuvier in M&@moires de l’Academie Vol. 7. Analyse des travaux etc. 1824 p.
CLVII. „Nous avons deja entretenu bien des fois nos lecteurs des efforts con-
stants auxquels s’est livrE et se livre encore M. Geoffroy St. Hilaire, dans la vue
de demontrer et de rendre en quelque sorte palpable ce qu’il nomme l’unite de
composition du regne animal, et surtout l’unitE de sa charpente osseuse, c’est-a-dire
du squelette“,
120 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliedertn Thiere.
sein, weil sie nach damals herrschender Methode und Anschauung nicht
greifbar war.
Zum Glück stehen wir jetzt auf einem hinreichend vorbereiteten Boden,
um Werth und wahre Bedeutung des Geoffroy’schen Gedankens besser er-
fassen und die Beweisführung von dem Beweisthema trennen zu können.
Sämmtliche auf Gliederthiere und Wirbelthiere in allgemeiner Weise
Bezug nehmende Arbeiten Geoffroys sind nur — sagen wir gleich, durchaus
falsche — Consequenzen einer principiellen Auffassung, die er früher schon
in seinem Werke „Philosophie anatomique“ weitläufig begründet und durch-
geführt hatte. Die Entstehung derselben zu untersuchen, ist hier über-
flüssig; ich brauche daher auch nicht auf jenes Werk selbst einzugehen, da
er uns in späteren Arbeiten seine allgemeinen Anschauungen in zwei nicht
misszuverstehenden Sätzen hingestellt hat. In seinem auch heute noch
lesenswerthen Aufsatz über „einige Fundamentalregeln der Naturphilo-
sophie“ 1) betont er als wichtigstes Ergebniss seines Nachdenkens das
„Gesetz der Verbindungsweisen (principe des connexions)‘ und das „Gesetz
der Einheit thierischer Organisation‘ (unit6 de composition oder auch
theorie des analogues).“ Durch jenes wollte er ausdrücken, dass weder
1) G. St. Hilaire, Sur quelques regles fondamentales en Philosophie naturelle.
Ann. gener. d. Sc. phys. Vol. 3. 1820 p. 263 sqq. „La forme des organes et leurs
fonetions furent deux renseignements preferes. Subordonnees & ces deux premiers
motifs, les connexions n’arrivaient qu’en troisieme lieu, pour n’etre consultees que
dans des cas indispensables. Ainsi ce qui devenait la source de toutes les infinies
diversites des £tres, ce qui Etait par consequent variable dans son essence,
je veux dire la physionomie particuliere de chaque organe, etait consulte de
preference a la consideration dune mutuelle dependance des parties, & ce qui
n’admet ni caprices ni exceptions, enfin & la seule chose qui soit invariable.“ p. 266.
Le principe des connexions au contraire nous porte sur des similitudes fondamentales:
rien ne saurait ebranler les bases, des que les organes grandissent par les deve-
loppements successifs et qu’engendre&s les uns par les autres, ils
donnent lieu aA des produits qui reviennent dans les m&mes circonstances, et qui sous
ce point de vue penvent ötre et sont reellement comparables.“ u. weiter: „Telles
sont les reflexions qui me firent voir le principe des connexions engage dans une
facheuse association. Je ne me bornai point a lui faire prendre le premier rang: je
proscrivis tout-a-fait les considerations de forme et d’usage, et ne voulus pour les
connexions d’autre appui que cette autre proposition de la philosophie naturelle, que
tous les animaux sont faits sur un seul et m&me type; cest-A-dire que
je donnai pour second a ce principe, ce que j’ai appele la theorie des analogues.“
Wahrlich, hätte dieser Mann sich auf dem Boden enger Fachkenntniss ebenso
von den Schranken seiner Zeit zu befreien vermocht, wie er es von denen der
Cuvierschen Typen gethan: keinen besser vorbereiteten und empfänglicheren Jünger
seiner Lehre hätte Darwin zu erwarten gebraucht!
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 121
die Gestalt der Organe, noch ihre Leistungen die richtige Grundlage für
allgemeine Vergleichungen geben könnten, wohl aber die Lagerungs-
beziehungen derselben zu einander hierzu geeignet seieıf. In seinem Gesetze
der Einheit thierischer Organisation aber sprach sich die Ueberzeugung
aus, dass im Grunde sämmtliche Thierformen nur Variationen derselben
ursprünglichen gleichartigen Anlage seien, dass es somit auch möglich sein
müsse, zwischen den von der Cuvierschen Schule scharf und dogmatisch
von einander gesonderten Typen die verbindenden Beziehungen aufzufinden.
Die grösste Kluft aber hatte Cuvier zwischen seine Articulata und
Vertebrata gezogen, merkwürdig genug sogar gegen das instinctive Gefühl
jener Zeit. In allen Arbeiten über diese Thiere sowohl der Gegner, wie
der Freunde Geoffroy’s und seiner eigenen spricht sich mehr oder minder
deutlich die Meinung aus, dass die Gliederung beider Classen doch einen
wesentlichen Charakterzug derselben bilde; Streit herrscht im Grunde nur
über das absolute Mass der Kluft, welche trotzdem beide trennen solle.
Es ist die alte Anschauung, welche hier, von früher her ererbt, in Geoffroy
ihren für lange Zeit letzten Vertheidiger findet; eine Ansicht, die in der
Benennung der Ganglienkette der Krebse als ‚‚moelle epiniere‘‘ bei den
Franzosen oder ‚‚medulla spinalis‘‘ 1) bei Willis ihren frappantesten Ausdruck
hat. Serre wie Blainville, Audouin wie Latreille: sie erkennen gern
und ohne Umschweife oder mit Widerstreben oder Deuteleien die grosse
Analogie an, welche zwischen den Wirbelthieren und den Gliederthieren in
Folge der Gliederung ihrer Körper obzuwalten scheine; alle auch fassen
dies Moment als Zeichen einer Verwandtschaft auf, über deren Grad nur
Streit herrschen könne: Cuvier allein als ständiger Secretair der Akademie
und Berichterstatter macht sich über Geofiroy’s Bemühungen lustig, die
Einheit thierischer Organisation d. h. die innigen Verwandtschaftsbeziehungen
aller Thiere zu beweisen.
Wir wissen jetzt freilich, dass die Geoffroy’sche Argumentation eine
gänzlich verunglückte war; sein leitender Gedanke von der typischen
Uebereinstimmung der gegliederten Insectten, Würmer und Wirbelthiere
bleibt darum doch ein richtiger, wie sich jetzt erweisen lässt.
Ehe wir dies jedoch zu thun versuchen, muss noch gezeigt werden,
warum Geoffroy und seine Zeitgenossen so wenig, wie selbst Leydig in
neuester Zeit noch im Stande waren und sein konnten, die Lösung des
Räthsels zu finden.
Es ist oben schon hervorgehoben worden, dass zu Ende des vorigen
und Anfang dieses Jahrhunderts die ausschliesslich geübte Methode der
1) Willis, Opera omnia Tom. II. p. 11.
122 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Vergleichung die war: bei niedriger stehenden Thieren dieselben Theile und
mitunter selbst die allerspeciellsten wiederzufinden, welche man bei den
höheren Thieren als typisch anzusehen sich gewöhnt hatte. Die Cuvier’schen
Restaurationen und Vergleichungen der Wirbelthierknochen legen hierfür sogut
Zeugniss ab, wie Geoffroy’s Insectenskelett-Untersuchungen; die Hülfsmittel der
Vergleichung freilich waren andere bei Beiden. Für Cuvier waren Gestalt der
Theile und ihre physiologischen Beziehungen massgebend, Geoffroy suchte
allein in den Lagerungsbeziehungen das richtige Hülfsmittel. Beide ver-
irrten sich dabei. Die neuere Zeit hat die Cuvier’schen Deutungen der
Schädelknochen ebensogut verurtheilt, wie die Geoffroy’s von der ursprüng-
lichen Zusammensetzung des den Wirbelthieren und Gliederthieren (nach
seiner Meinung) gemeinsamen Wirbels. In der That war die damalige
Opposition gegen diese letztere Anschauung entsprungen aus dem: schon ge-
fühlten morphologischen Gegensatz zwischen Epidermisbildungen — wie es
die äusseren Skeletttheile der Insecten sind — und Gliedern des Mesoderms,
zu welchen das Skelett der Wirbelthiere gehört. Blainville !) sagt aus-
drücklich, dass das äussere Skelett der ersten nur eine einfache Modification
der Haut, also auch nicht mit den Wirbeln zu vergleichen sei. Freilich
leugnet er nun, dass es zwischen beiden Thiergruppen wirkliche Verwandt-
schaftsbeziehungen gäbe (de veritables analogies), obgleich er die That-
sache zahlreicher Annäherungen (de rapprochements nombreux) auch aner-
kennt. Blainville urtheilt also, wie Cuvier: weil Geoffroy. bei den Insecten
keine echten Wirbel habe nachweisen können, seien sie auch nicht mit den
Wirbelthieren verwandt; auch er kann sich von der herrschenden Mode
nicht befreien, als Beweis einer wahren Analogie nur den Nachweis
des Vorhandenseins der für die höheren Thiere typischen Theile auch bei
den niederen gelten zu lassen. Aber ist denn Geofiroy zur Entdeckung der
Verwandtschaft zwischen Wirbelthieren und Gliederthieren erst durch das
Auffinden der (vermeintlichen) Wirbel bei diesen gekommen ? ist er nicht
vielmehr diesen nachgegangen, weil er zu jener Zeit nur auf solchem Wege
die praktischen Argumente für seine naturphilosophische Anschauung zu ge-
winnen hoffen konnte, die, wie er wähnte, die Richtigkeit dieser letzteren
auch den Anhängern der dogmatisch einseitigen Schule beweisen müssten ?
Die Waffen, die er brauchte, waren im Grunde genommen nicht seine
eigenen, und daher zweischneidig; ihre Schärfe kehrte sich naturgemäss
gegen den, der sie führte.
Wie wenig der Einzelne zu Cuviers Zeiten sich aus dem allmächtigen
Strome der Typentheorie und der absoluten Gegensätze zu befreien ver-
1) Blainville, Sur les animaux articule. Journ. d, Phys. Bl. 89. S. 469.
SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 123
mochte, geht aus einigen Aufsätzen hervor, welche ein anfänglich unbe-
kannter Autor!) im 2. und 3. Bande der Annales des Sciences veröffent-
licht hat, und welche sicherlich mit zu dem Besten gehören, was damals
über die Streitfrage zwischen Cuvier und Geoffroy geschrieben ward.
Diesem Anonymus ist offenbar die Geoffroysche Hypothese, bei den Insecten
habe sich der Wirbel der Vertebraten erweitert, um neben dem Nerven-
system auch noch sämmtliche Eingeweide aufzunehmen, unbequem und so
verändert er sie, nach einem eingehenden Referat über Geoffroys Ansichten,
so vollständig, dass an ihre Stelle nun eine ganz neue Anschauung tritt.
Das Einzige, was er von ihm nimmt, ist der Wirbelkörper Geoffroys, das
cyelecal; auch er sieht im sternum der Inseeten den Kern des Wirbelthier-
wirbels. Während aber Geoffroy, die Götter mögen wissen, aus was für
Gründen, die Wirbelsäule der Inseeten gegen die der Vertebraten um 90°,
ihre Eingeweide aber um 180° gedreht ansieht (s. oben), kehrt der Ano-
nymus jene entschlossen ganz auf den Rücken und sagt kurz und gut: „Le
tergum des Inseetes devient ainsi l’analogue du sternum des animaux
vertebres.“ eo ’
Dann aber fährt er fort (und ich kann mir nicht versagen, diesen
Satz hier wörtlich zu geben) „Toutes ces determinations se trouvent de-
montrees par les rapports de position du syst&me nerveux et du
1) Considerations philosophiques sur la determination du systeme solide et du
systeme nerveux des animaux articule. Ann. d. Sc. T. II. 1824, p. 295 —310.
Remarques additionelles sur la determination du systeme solide et du systeme
nerveux des animaux. articule. Ann. d. Sc. nat. T. III. 1824, p. 199.
Beide Artikel werden in Carus u. Engelmann, Bibliotheca Zoologica Bd I. p.
410 Geoffroy St. Hilaire selbst zugeschrieben. Wer des Letzteren Arbeiten aufmerk-
sam gelesen, wird, denke ich, ohne Weiteres zugeben, dass er unmöglich hat Autor
derselben sein können; ausserdem sagen die Herausgeber der Annales des Sciences
(T, II. p. 304) ausdrücklich, dass ein Herr N. ihnen Bemerkungen anderer Art
hierüber zugeschickt habe, die sie nun von pag. 304 — 310 folgen lassen. Der 2.
Aufsatz ist ganz und gar von diesem Herrn N. Auch die ersten Seiten in Bd II.
p. 295 — 304 gehören nicht Geoffroy selbst an, sie enthalten nur einen wahrschein-
lich von der Redaction (Audouin, Brongniart, Dumas) verfassten Bericht über seine
in den oben p. 119 und 120 citirten Aufsätzen niedergelegten. Anschauungen.
Der Autor dieser anonymen Bemerkungen war der berühmte Physiker Ampere,
wie aus den Lebensbeschreibungen beider Männer, Geoffroys wie Ampere’s, hervor
geht (Vie, Travaux et Doctrine scientifique d’Etienne Geoffroy St. Hilaire; par son
fils Isidore Paris 1847 p. 250). Auch in Carus Geschichte der Zoologie suchte ich
vergeblich nach dem Namen des Anonymus, dessen Aufsätze überhaupt gar nicht
erwähnt werden. Mein verehrter College Lacaze-Duthiers in Paris gab mir auf eine
Anfrage vollständigen Aufschluss in liebenswürdigster Weise, den ich seinem wesent.
lichsten Inhalt nach hier reprodueirt habe.
124 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
tube intestinal places dans la cavit& formee par les arceaux perisplanch-
niques. Le systeme nerveux des invertebres et le systeme ganglionaire des
vertebres sont egalement places entre la serie des cycleaux et le tube intes-
tinal. Elles semblent encore confirmees par la position que presente dans
les poissons et dans les crustaces le vaisseau faisant
fonetion de ventricule, qui distribue dans tout le corps le sang qui
a respire. En effet, ce tronc arteriel est situ6 dans les poissons sous
V’epine du dos, entre le systeme digestif et le syst&me ganglio-
naire; et les mömes fonctions sont remplies dans les erustaces par
un grand vaisseau appel& ventral, plac& de möme entre le tube in-
testinal et leur syst&äme nerveux.“
Freilich konnte dieser Ausspruch damals keine sonderliche Bedeutung
beanspruchen — obgleich er sie jetzt gewinnt —, da der Autor in dem-
selben Aufsatz und in dem späteren Nachtrag sich weder ganz von der
Wirbeltheorie Geoffroy’s lossagt, noch auch Consequenzen abweist, die sich
aus der Vermischung seiner richtigen Anschauungen über das Verhältniss
in der Orientirung des Gliederthierkörpers zu dem der Wirbelthiere mit
den falschen Geoffroy’schen Ansichten über den typischen Wirbel ergeben.
Er vergleicht ganz richtig und consequent den Bauch der Insecten mit dem
Rücken der Wirbelthiere; da er aber das sternum jener Thiere der
Wirbelsäule dieser gleichstellt, muss er auch, um nicht Geoffroy’s Ansicht
von der Oeffnung des Wirbelkörpers anzunehmen, die Insectenbeine den
Rippen, ihr Nervensystem aber dem System der peripherischen Nerven
(d.h. dem System der nicht centralen Ganglienketten der Wirbelthiere)
vergleichen. Hätte dieser Anonymus sich den Einwand Latreille’s gemacht,
dass das Gliederthierskelett Epidermisbildung sei, das der Wirbelthiere
aber nicht, er wäre sicherlich damals schon zu der Ueberzeugung gekommen,
dass sich wohl in der von ihm geübten Weise die Gliederthiere und
Wirbelthiere miteinander den allgemeinen Zügen nach vergleichen liessen,
doch aber das wirkliche Verständniss ihrer eigentlichen Verwandtschafts-
beziehungen noch vollständig fehle.
Dass er zu solchem Einblick nicht kam, gereicht ihm jedoch heute so
wenig, wie damals zum Vorwurf. Ein Jeder war und ist Kind seiner Zeit;
nur wenigen ist es vergönnt, diese selbst zu zeitigen. Für einen solchen
Reformator aber war damals die zoologische Welt nicht reif; einem Darwin
hätte gewiss ebenso, wie Geoffroy oder Ampere, die Grundlage sicherer
Beobachtung gefehlt.e. Aus diesem und allein aus diesem Grunde musste
Cuvier in seinem Streite mit Geoffroy siegen; ein richtiger Instinet leitete
ihn und seine Zeitgenossen, als sie ihren Zwist auf dem Boden speeieller
Fachkenntniss auszufechten versuchten. Wir, die wir Darwin als ein Kind
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 125
jener Periode haben entstehen, die wir ihn auch jetzt noch wirken sehen,
und uns rückhaltslos seinem treibenden Einflusse hingeben können, wir aber
dürfen nun nicht mehr so ungerecht sein, Geoffroy’s und seines physikalischen
Freundes vorahnendem Geiste das als einen Fehler anzurechnen, was man
gemeiniglich als den Vorzug und die Eigenschaft des seiner Zeit voraus-
eilenden Genies betrachte. Freuen aber müssen wir uns andrerseits,
dass die Cuvier'sche Schule in ihrer emsigen Arbeit die Grundlagen,
lieferte, auf denen stehend allein unser grosser Zeitgenosse, seinen Geistes-
Verwandten Lamarck und Geoffroy in philosophischem Einblick gleichend,
den Bau aufzurichten vermochte, welchen diese aus Mangel des Funda-
mentes vergeblich zu bauen versuchten.
Schon früher hatte Meckel die Gliederthiere und Wirbelthiere ver-
glichen, und den Bauch jener ersteren mit dem Rücken der letzteren
identifieirt. Später tauchte die Geoffroysche Ansicht immer von Zeit zu
Zeit auf; Rathke in seiner Entwicklungsgeschichte des Flusskrebses (1829),
J. Müller in der 1. Auflage seiner Physiologie (1833), Koelliker (1842),
Zaddach (1860) nahmen sie mehr oder minder entschieden an. Aber bei
Meckel vermischt sich fortwährend symbolisirende Auffassung mit morpho-
logischer Deutung, J. Müller verfolgt seine Anschauung nicht weiter,
Koelliker vergleicht die Extremitäten der Insecten mit den Rückenwülsten
der Vertebraten, Zaddach lässt die Insecten in ihrer physiologischen Lage,
obgleich er ihre Keimblätter denen der Wirbelthiere gleichstellt (in Bezug
auf das Amnion sicherlich mit Unrecht); selbst Rathke, der am Schärfsten
und Klarsten die Identität im Aufbau und der Gliederung des Crustaceen-
körpers und des der Wirbelthiere erkennt und beschreibt, behauptet nichts
desto weniger mit Baer den Gegensatz im Bautypus der Wirbelthiere und
Arthropoden. Ich kann deshalb auch nur Geofiroy als den eigentlichen
Verfechter der hier discutirten Ansicht von der Verwandtschaft beider
Thiergruppen ansehen, da nur er allein, noch entschiedener aber Ampere,
sich zu dieser allgemeinen Anschauung bekannte. Von den Neueren ist es
ausschliesslich Leydig, der die alte Meinung aufgenommen, festgehalten
und in seiner Weise consequent durchgeführt hat. — Beiläufig möchte ich
hier darauf aufmerksam machen, dass das Verdienst, die Keimblätterlehre
der Wirbelthiere auf die Wirbellosen übertragen zu haben, keinem Lebenden
zukommt; Rathke hat dies schon 1829 (Flusskrebs) gethan und zwar nicht
andeutungsweise und vorsichtig, sondern ebenso entschieden, wie die
Neueren und sicherlich ebenso schlagend.
Unser Ergebniss ist also Folgendes. Geofiroy und der Physiker
Ampere — und andere Gefolgsmänner — hatten instinetiv angenommen,
dass wegen der Gliederung der Gliederthiere und Wirbelthiere diese als
126 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
nahverwandte Thiere anzusehen, dass überhaupt die einzelnen Thierelassen
als Modificationen eines und desselben Typus aufzufassen seien. Der
Mangel specieller Fachkenntniss musste der Cuvier’schen entgegengesetzten
Anschauung von der Verschiedenheit der thierischen Typen Recht geben;
um so mehr, als Geofiroy und seine Anhänger sich nicht scheuten, mit
Waffen und auf einem Boden zu kämpfen, die für ihre speculative Auf-
fassung von gar keiner Schärfe oder Sicherheit sein konnten. Ihr leitender
Gedanke war richtig: nur die Ausführung war falsch. Da aber jener Zeit
überhaupt die Mittel zu dieser gebrachen, so ist Geofiroy die Niederlage
als solche nicht anzurechnen: er baute mit den Bausteinen seiner Periode
nach einem Plane, den die jetzige Zeit erst durch Darwin festzustellen
vermochte.
Aus ganz demselben Grunde aber, der uns Geoffroy’s weitsichtigem
Geiste unsere Achtung zollen heisst — obgleich ihn bei der Durchführung
der Aufgabe seine Kräfte im Stiche liessen — , aus derselben Ursache
müssen wir das richtige theoretische Gefühl und die Charakterfestigkeit
eines unserer geachtetsten Zeitgenossen hoch anerkennen, der unbekümmert
um den Widerspruch sogenannter Autoritäten und lediglich im Vollgefühl
seiner persönlichen Anschauungen und Erfahrungen einen Satz nachdrück-
lichst auf seine Weise verficht, den bis dahin alle Zoologen nach Cuvier’s
Machtspruch aufgegeben hatten: den der nahen (Stammes-) Verwandtschaft
der Gliederthiere und Wirbelthiere. Leydig ist der einzige Zoologe unserer
Zeit, welcher sich der scheinbar hoffnungslosen Aufgabe unterzieht, ver-
wandtschaftliche Beziehungen zwischen zwei Thiergruppen aufzusuchen,
welche von Jahr zu Jahr mehr durch die neueren Entdeckungen aus-
einandergerückt zu werden schienen.
$S. 2. Die Leydig’sche Vergleichung des Nervensystems der
Gliederthiere und Wirbelthiere.
Zwischen Geoffroy nnd Leydig liegen reichlich 40 Jahre. Während
dieser ganzen langen Zeit herrscht das Cuviersche Dogma von der typischen
Verschiedenheit der Gliederthiere und Wirbelthiere fast unumschränkt;
aber auch nach Leydig verliert es kaum an Kraft, wie sowohl die Lehr-
bücher der Zoologie (Gegenbaur, Claus etc.), als auch die Richtung be-
weisen, in welcher man bis in die letzten Jahre den Anschluss zwischen
Wirbelthieren und Wirbellosen zu suchen gewohnt war.
Leydig’s Werk (Vom Bau des thierischen Körpers), welches leider ein
Torso geblieben ist, erschien im Jahre 1864, 6 Jahre nach der Ausgabe
der ersten Auflage von Darwin’s Origin of Species. Es trägt die Spuren
der Einwirkung des letzteren in deutlichster Weise an sich; gleichzeitig
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 127
aber kann es sich doch nicht ganz frei machen von dem, auch heute noch
sehr wirksamen Einfluss der früheren Zeit. Vor Darwin suchten in theo-
retischen Erörterungen wie praktischen Fällen alle Zoologen die besser
bekannten Verhältnisse der höheren Thiere auch bei den niederen wieder-
zufinden; man denke nur an Ehrenberg’s Versuch, selbst bei den Infusorien
‚sämmtliche Organsysteme der Wirbelthiere nicht blos ihrer Funetion, son-
dern auch ihrem Bau nach aufzufinden. Dass aber Leydig nicht Hals
über Kopf die langgewohnte Methode mit und nach Darwin als eitel ın-
wissenschaftlich von sich warf, rechne ich ihm um so weniger zum Nach-
theil an, als er eben durch diese Beständigkeit, dies Festhalten an dem
doch einigermassen Erprobten, freilich nur für sich allein eine Anschauung
rettete, welche als in jeder Richtung begründet jetzt erst, wie ich glaube,
vollgültig und auch für den ausgemachtesten Darwinisten überzeugend nach-
gewiesen werden kann.
Leydig hält in entschiedenster Weise an dem alten Satze fest, dass
Anneliden und Arthropoden durch ihre Gliederung eine deutliche Verwandt-
schaft zu den Wirbelthieren bekundeten. Diese Annahme sucht er durch
verschiedene Argumente zu stützen; zunächst durch die in allen drei Thier-
elassen so streng und gleichartig durchgeführte Gliederung, dann durch
Spuren einer Chorda bei Insecten und vor Allem durch die Gleichstellung
des Gehirns der Wirbelthiere mit dem Schlundring der Würmer und
Arthropoden, des Bauchmarks der letzteren mit dem Rückenmark der
ersteren. Auch sucht er bei Gliederthieren nach Spuren einer Wirbelsäule,
die er indessen in keiner Weise morphologisch und selbst physiologisch nur
bei wenigen Krebsen und Insecten zu finden vermag.
Dieser Versuch Leydig’s wurde nicht anerkannt; und man muss zu-
geben, dass er namentlich in seiner specielleren Durchführung nicht über-
zeugend wirken konnte. Es beruhte dieser Misserfolg, wie mir scheint,
vornehmlich auf folgenden zwei Gründen: einmal waren die damals be-
kannten Thatsachen der Morphologie noch nicht ausreichend, dann aber
suchte Leydig vor Allem nach Anknüpfungspunkten zwischen den höchsten
Insecten und den Wirbelthieren. Damit aber trat er in eine Bahn, welche
ihn nothwendig im Einzelnen irreführen musste; und wenn auch, wie ich
jetzt glaube beweisen zu können, seine Vergleichung des Schlundringes der
Arthropoden und Anneliden mit dem Gehirn der Wirbelthiere eine sehr
weitgehende Berechtigung hatte, so war doch wohl sein Suchen nach den
verschiedenen Abtheilungen des Wirbelthiergehirns im Gehirn der Biene ein
missglücktes Unternehmen. Soviel wenigstens lässt sich jetzt schon sagen,
dass diese beiden Organe unter keinen Umständen so direct miteinander
verglichen werden können, wie dies Leydig gethan hat; aber es ist wahr-
128 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
scheinlich, dass in nicht zu ferner Zeit ein Versuch, sie beide als nach
besonderer Richtung hin erfolgte Umbildungen eines einfacheren Typus
nachzuweisen, gemacht werden und auch gelingen dürfte.
Es ist jetzt wohl so ziemlich allgemein als richtigste Methode der
vergleichenden thierischen Morphologie die der Erklärung complieirterer
Organisationen aus einfacheren heraus anerkannt; und man sucht, dem
entsprechend, nur selten noch nach directen Verbindungsgliedern zwischen
den höchsten Formen des niedrigeren Typus und den niedrigsten der höheren,
sondern vielmehr nach jenen noch tiefer stehenden Formen, durch deren
weitere Ausbildung nach verschiedenen Richtungen hin beide entstanden
und daher auch zu erklären sein möchten.
8.3. Die Beziehungen der drei gegliederten Thierclassen
zu einander.
In Bezug auf die drei gegliederten Thierclassen sind es meiner Ueber.
zeugung nach die Gliederwürmer, welche in sich Eigenthümlichkeiten des
Baues aufweisen, durch deren besondere Umbildung nach zwei verschie-
denen Richtungen hin die Wirbelthiere und die Gliederthiere entstanden
gedacht werden können. Der Nachweis der Richtigkeit dieses Satzes wird
uns zu gleicher Zeit den Beweis liefern, dass Leydig im Allgemeinen mit
der oben erwähnten Vergleichung des Gehirns der Wirbelthiere und der
Gliederthiere Recht hatte, aber nur darin irrte, dass er die speciellen
Vergleichungspunkte vorzugsweise in einer Thiergruppe (bei den Insecten)
aufsuchte, welche unter keinen Umständen als ein Uebergangsglied zwischen
Vertebraten und Anneliden anzusehen ist, vielmehr als Endpunkt einer
besonderen, derjenigen der Wirbelthiere gleichwerthigen Entwickelungsreihe
des in den Anneliden am Einfachsten durchgeführten Typus der gegliederten
Thiere betrachtet werden muss. °
Ausgeschlossen können von der jetzt vorzunehmenden Vergleichung
alle nicht gegliederten sogenannten Würmer werden, ebenso auch diejenigen,
welche, wie die Sipunculiden und Nematoiden, sicherlich nur rückgebildete
Anneliden, wenn überhaupt von ihnen abzuleiten sind. Zu diesem Aus-
schluss namentlich der Plattwürmer halte ich mich für berechtigt, weil ich
gegenüber dem vollständig unkritischen und gedankenlosen Zusammenwerfen
derselben mit den Anneliden und gegenüber der Aufstellung des wild zu-
sammengewürfelten Kreises!) der Würmer an dem Gegensatz der Anneliden
!) Ich sehe mit Freuden, dass Claus in der 3. Auflage seines Lehrbuches der
Zoologie den von mir verlangten Schritt gethan hat, den alten Kreis der Würmer
aufzulösen. Mit der Art dieser Auflösung kann ich indess nicht ganz einverstanden
sein. Auf die ebenda angebrachten hämischen Bemerkungen etc. dieses Zoologen
eine Antwort zu geben, halte ich für völlig überflüssig.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederteu Thiere, 129
und der übrigen Würmer festhalten muss. Nur die Anneliden kommen,
ich wiederhole, hier in Betracht, weil bei ihnen allein die nächsten An-
knüpfungspunkte zu den Wirbelthieren und den Gliederthieren zu finden
sind; die zu erwartende Behauptung der Gegner meiner Anschauungen,
die von mir geübte Vergleichung der Anneliden mit den Vertebraten be-
weise nichts, da dabei die Verhältnisse der übrigen Würmer unberück-
sichtigt geblieben wären, kann ich dort, wo sie erscheint, stehen lassen:
denn sie zeigte eben nur, dass selbstgefälliger Dogmatismus nicht vor
logischen Fehlern in der Argumentation schützt.
Die allgemeinsten morphologischen Verhältnisse werden (abgesehen von
Götte), mit Ausnahme eines einzigen Punktes, bei Wirbelthieren, Glieder-
thieren und Anneliden wohl als völlig gleich angesehen. Sie sind alle bi-
lateral symmetrisch gebaut; selbst da, wo eine Abweichung stattfindet, wie
bei den Rankenfüssern, den Copepoden ete., sind die Larvenstadien oder
Embryonalformen immer symmetrisch. Kopfende und Hinterleibstheil
werden ebenfalls in den drei Gruppen als gleich angesehen : an jenem liegt
der Mund und das Vorderende des Nervensystems, dieser trägt ausnahmslos
im Endgliede den After. Die durch parasitische Lebensweise rückgebil-
deten, darmlosen Formen ändern hieran Nichts; denn ihre Larven sind
denen der normal entwickelten Arten durchaus gleich.
Ein einziger durchgreifender Gegensatz wird nun allerdings angenommen
von der dogmatischen Schule, welche in Bezug auf die gegliederten Thiere
auf der alten Cuvierschen Anschauung weiter zu bauen versucht. Sie
identificirt bei allen drei Classen Bauch und Rücken; aber die Lagerung
der Organsysteme, namentlich des Nervensystem’s, soll bei den Wirbelthieren
eine andere sein, als bei Gliederthieren und Gliederwürmern. Man sagt,
nur diese letzteren hätten ein Bauchmark, nur den Wirbelthieren käme
ein Gehirn und Rückenmark zu; und dem Gehirn und Rückenmark der
letzteren sei das dorsale Schlundganglion jener gleichzustellen.
In diesen Behauptungen vereinigen sich zwei, hier gesondert zu be-
trachtende Sätze. Es wird einmal klar durch sie gesagt, dass bei Anne-
liden und Gliederthieren ein morphologischer typischer Gegensatz zwischen
dorsalen und ventralen Ganglien bestehe; zweitens liegt in ihnen die An-
sicht versteckt, dass Bauch und Rücken homologe Regionen des Körpers
bilateral-symmetrischer Thiere seien.
Ich beginne mit dem letzteren, allgemeineren Satze.
Es könnte die Behauptung, dass die Homologisirung der Regionen
Bauch und Rücken bei den verschiedenen symmetrischen Thieren noth-
wendig sei, in verschiedenartiger Weise gestützt werden. Man könnte ihre
morphologische Identität einmal auf vergleichend-anatomischem Wege zu
130 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
gewinnen versuchen; zweitens auch durch die embryologische Methode.
Bei beiden käme es auf die Vergleichbarkeit in den Lagerungsbeziehungen
der einzelnen Organe zu einander und die Entstehungsart ihrer gegen-
seitigen Lagerung an; dies aber führte zur Untersuchung des zweiten
speciellen, später zn besprechenden Punktes, in wiefern die einzelnen
Organe der drei hier in Frage stehenden Thierclassen miteinander homolog
seien oder nicht. Man könnte aber auch aus tiefer liegenden, allgemeinen
Gründen heraus die Homologie von Bauch und Rücken bei allen symmetri-
schen Thieren zu rechtfertigen versuchen. Diese Gründe würden aber fast
nur physiologischer Natur sein können; denn Bauch und Rücken sind dem
Begriffe nach ausschliesslich physiologischen Inhalts und wenn man hin und
wieder sie als morphologische Bezeichnungen anwendet, so geschieht dies
eben nur da, wo der physiologische Begriff nicht mehr zutreffend ist.
Als Bauch wird im Allgemeinen die der stützenden Fläche zugewandte
Seite des Körpers, als Rücken die abgewandte bezeichnet. Im Grossen und
Ganzen lassen sich bei den hier in Betracht gezogenen drei Thierclassen
diese Regionen sehr wohl physiologisch festhalten; aber es giebt doch auch
nicht ganz unbedeutende Beispiele, in denen von ihnen kaum die Rede sein
kann. Bei vielen in Röhren lebenden Anneliden ist dieser Gegensatz
gänzlich aufgehoben, Naiden, die limicolen Oligochaeten und manche
frei schwimmende Nereiden schwimmen in jeder Lage, die Regenwürmer
zeigen ebensowenig beim Kriechen eine genaue Orientirung im Raume nach
Bauch und Rücken. Apus unter den Krebsen schwimmt sehr oft, Bran-
chipus ganz regelmässig auf dem Rücken; ebenso bekannt sind die zahl-
reichen Fälle, in denen Wasserinsecten (Notonecta etc.) ihren Rücken
mit dem Bauche vertauschen. Bei den Rhizocephala unter den Cirrhipedien
fehlt diese Orientirung gänzlich, aber sie ist ersetzt durch eine um 90°
verschobene, indem, wie Kossmann überzeugend nachgewiesen hat, .bei
scheinbar äusserer seitlicher Symmetrie die beiden Seiten ungleich,
Rücken und Bauch aber gleichartig ausgebildet werden. Bei den Wirbel-
thieren sind ähnliche Fälle bekannt; der Mensch hat seinen Bauch um 90°
gegen den der übrigen Säugethiere gedreht, bei den Schollen jst eine ähn-
liche Wendung nach der Seite hin erfolgt, und in beiden Fällen ist sogar
eine Verschiebung oder Verdrehung einzelner Organe gegenüber der nor-
malen Horizontalebene erfolgt. Neben diesen finden sich genug Beispiele
der willkürlichen Drehung der Körperlage um 180° Die Froschlarven
schwimmen eben so häufig auf dem Rücken, wie auf dem Bauch; der
Schiffshalter (Echeneis) schwimmt zeitlebens auf dem Rücken, ebenso ein
ägyptischer Wels.
LUD Los ne
EEE GR
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 131
Es zeigen diese leicht noch zu vermehrenden Beispiele, dass die
Orientirung im Raume nur durch physiologische Lebensbeziehungen bedingt
ist, und dass die Homologisirung der einzelnen Organe nicht basirt werden
darf auf diese Orientirung; denn sonst würde man bei allen den oben ge-
nannten Thieren, welche beliebig verschobene Bauch- oder Rückenseiten
aufweisen, annehmen müssen, dass auch die morphologische Homologie der
einzelnen Organe durch diese Verschiebung gestört werde. Natürlich thut
man dies nicht, man sagt deshalb von der Notonecta oder der Echeneis,
sie schwämmen, statt auf dem (physiologischen) Bauch, auf ihrem Rücken.
Hier werden also beide Bezeichnungen morphologisch ; denn man sagt damit
eben nur, dass die Region ihres Körpers, mit welcher sie nach unten ge-
richtet schwimmen, diejenige ist, welche ihre nach andern, rein morpho-
logischen Charakteren nächsten Verwandten unter den Insecten oder Fischen,
nach oben gewendet tragen. In dieser durch physiologische Lebensbezie-
hungen offenbar bedingten Orientirung des Körpers kann also kein Grund-
gesetz gesehen werden, welches uns hinderte, bei der Frage nach der
morphologischen Uebereinstimmung verschiedener Thiergruppen, Bauch und
Rücken einstweilen ganz aus dem Spiele zu lassen und die hier auf dem
Bauch und dort auf dem Rücken liegenden Organe vergleichend auf ihre
Identität oder Verschiedenheit zu untersuchen. Stellte sich dabei für die
wichtigsten Organe die morphologische Verschiedenheit nach Entstehung
und Lagerungsbeziehungen zwischen Wirbelthieren einerseits, den Glieder-
thieren und Gliederwürmern andrerseits heraus, so würde damit freilich der
Mangel näherer Verwandtschaft, nicht aber die principielle morphologische
Gleichheit von Bauch und Rücken überhaupt erwiesen sein.
Gegenüber gewissen modernen Redensarten über dieses erste wissen-
schaftliche Prineip, dass der physiologische Bauch und Rücken auch homolog
seien, könnte ich mich mit dem Gesagten begnügen. Denn von einem
nach den Grundsätzen der neueren morphologischen Methode versuchten
Beweise seiner Richtigkeit ist nie die Rede, er gilt eben einfach als
Axiom. Man beruft sich vielleicht dabei auf K. E. v. Baer, als den
eigentlichen Verfechter dieser Ansicht, und auf seine Beweisführung; doch
vergisst man dann, dass der Begründer unserer vergleichenden Entwick-
lungsgeschichte hier wenigstens physiologische und morphologische Ge-
sichtspunkte in seiner Argumentation beständig vermischt. Dies zu thun,
ist aber dem Morphologen jetzt nicht mehr gestattet, da er nur und aus-
schliesslich noch das Geoffroy’sche „principe des connexions“ anzuwenden
das Recht hat; indessen, Consequenz ist nicht Jedermann’s Sache.
Anders aber stehe ich dem hochverehrten Manne gegenüber, welcher
Begründer dieser von den Späteren einfach nachgebeteten und unkritisch
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 10
132 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
aufgenommenen Ansicht ist. Denn einmal ist es jetzt, wo man ihn in
einem ganz modernen Streit als Autorität zu benutzen versucht, meine
Verpflichtung, in seiner Beweisführung die eben von mir behauptete Ver-
mischung physiologischer und morphologischer Argumente nachzuweisen; ich
habe zweitens auch die Pflicht, die von ihm benutzten morphologischen
Charaktere auf ihren Werth zu prüfen; und ich erachte es drittens ihm
persönlich gegenüber als nothwendig, die unbegrenzte Hochachtung, die ich
ihm zolle, durch ehrlichen Angriff zu bezeugen, da ich nur so glaube, den
Naturforscher recht ehren zu können, der vor Allen die Rückweisung eines
seiner Sätze weder als besondere Schädigung seines Besitzes, noch als
Beeinträchtigung seiner Autorität empfinden wird.
Baer ist, wie gesagt, der einzige Zoologe, welcher die beiden Begriffe
Bauch und Rücken zu definiren sucht. Er thut dies im 1. Bande seiner
Entwicklungsgeschichte an verschiedenen, doch ihrem Inhalt nach zusam-
mengehörigen Stellen. Bei seiner Untersuchung über die verschiedenen
Typen der Thiere sagt er ausdrücklich !) „der Typus also ist das Lagerungs-
verhältniss der Theile“. Diese Definition ist streng morphologisch ; sie
deckt sich vollständig mit dem oben angeführten Satz Geoffroy St. Hilaire’s ;
wenigstens wenn man annimmt, dass Baer damit nicht das Lagerungsver-
hältniss des Gesammtkörpers zum Erdboden, sondern die gegenseitigen
Lagerungsbeziehungen der Theile zu einander gemeint habe.
Bei der Erörterung aber über seinen Längentypus (der die Glieder-
thiere kennzeichnet) und den Vertebratentypus legt er vielfach, fast möchte
ich sagen vorzugsweise Gewicht auf physiologische Erwägungen; Gegensatz
der Aufnahme und Ausscheidung, Richtung der lebendigen Strömung sind
die hauptsächlichsten von ihm benutzten Momente. Der einzige wirklich
morphologische Gegensatz, der in seiner allgemeinen Charakterisirung der
zwei, hier allein in Frage kommenden Typen zu erkennen ist, besteht in
dem Unterschied der evolutio gemina (Längentypus der seitlich symmetrischen
Thiere) und der evolutio bigemina (Vertebratentypus der doppelt symmetri-
schen Thiere). Dieser Gegensatz ist aber in Wirklichkeit nicht vorhanden ;
es lässt sich jetzt zeigen, dass in Wahrheit die doppelte Symmetrie schon
bei den Anneliden der Anlage aller Primitivorgane nach vorhanden ist,
wenngleich sie erst in den Wirbelthieren durch das Auftreten des inneren
Skeletts ihre eigenthümlichste Ausbildung erfährt. Hierauf komme ich
natürlich später zurück.
Der Typus ist also, dem einzigen von Baer aufgestellten morpho-
logischen Charakter nach, bei Wirbelthieren und gegliederten Wirbellosen
1) Baer, Entwicklungsgeschichte I, Th, 1828, p. 208.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.e. 133
derselbe: die evolutio bigemina; und wir können, wie unten ausführlich
gezeigt werden wird, die Entstehung der Neuralseite (Bauch) und Cardial-
seite (Rücken) bei den Anneliden ebenso auf den doppelten Schluss zweier
über einander liegender und durch eine Axe getrennter Röhren zurückführen,
wie bei den Knochenfischen, (welche einen echten Primitivstreifen im Sinne
Baer’s haben), oder bei den Säugethieren, deren Axe (chorda) dann erst
auftritt, wenn sich der Schluss der beiden Röhren längst vollzogen oder
doch vorbereitet hat.
Nun kommt es ferner darauf an, zu untersuchen, durch welche Argu-
mente Baer die Annahme stützt, dass bei den Arthropoden der Keimstreifen
am Bauche läge, der Schluss des nach ihm einfachen Rohres auf der
Rückenseite erfolge. In der Erörterung!) über die „Symmetrische Ent-
wicklung in den Thieren des Längentypus“ findet sich indess kein einziges
morphologisches Argument dafür; es wird eben einfach vorausgesetzt, dass
die Stelle, wohin sich das behauptete einfache Rohr schliesst, der Rücken
sei und umgekehrt, dass der Keimstreifen am Bauche läge oder, wie er
sich ausdrückt ?), „dass in den gegliederten Thieren die Entwicklung eine
von der Bauchfläche fortgehende symmetrische sei“.
Erst im nächsten Abschnitte, betitelt „Was hier Rücken ist“, kommt
Baer zu einer wirklich morphologischen Erörterung über Bauch und Rücken,
indem er selbst die Frage berührt, ob man nicht besser thue, das Insect
umzudrehen und auf dem Rücken laufen zu lassen, um so eine allgemeinere
Vergleichbarkeit der Wirbelthiere und Gliederthiere zu erzielen. Um diesen
Entschluss abzuweisen, sagt er®): „Allein gegen diese Benennung spricht die
äussere Ansicht des Thieres, nicht nur die Stellung, die es gegen den Erd-
körper behauptet, sondern auch der Bau seiner Extremitäten, seiner Sinnes-
organe und überhaupt seiner Oberfläche, ja Mund, After und Geschlechts-
öffnungen“.
Die Stellung gegen den Erdkörper beweist nichts, da wir zahlreiche
Beispiele bei Wirbelthieren, wie bei Gliederthieren kennen, in denen jene gänz-
lich umgedreht oder verschoben wird. Die Sinnesorgane beweisen ebensowenig,
da sie gar nicht selten am Bauche, ja selbst am Hinterende des Thieres
vorkommen (s. unten). Der After liegt bei den Hirudineen, welche eine
über ihn nach hinten hinausgreifende Verlängerung ihres Körpers (einen
echten Schwanz) besitzen, nicht auf dem Bauch, sondern auf dem Rücken.
Die Lage der Geschlechtsöffnungen ist ganz unbestimmt und wechselnd bei
den Anneliden, bald unten, bald seitlich, bald selbst auf dem Rücken.
1) ]. c. pag. 244.
>; % cp. 245,
LE cp. 246.
10*
134 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
Bleiben noch die Extremitäten und der Mund. Einen Vergleich einzelner
Theile jener ersteren mit denen der Wirbelthiere könnte man nur dann
als beweisend ansehen, wenn nachzuweisen wäre, dass sie überhaupt, und
dann welche von ihnen (die dorsalen oder ventralen) mit denen der Verte-
braten übereinstimmten ; da hat nun Baer gerade, wie mir scheint, gezeigt,
dass eine solche Gleichstellung morphologisch nicht zulässig ist und dass
namentlich die Uebertragung technischer Ausdrücke einzelner Abschnitte
der Wirbelthiergliedmassen auf die physiologisch ähnlichen der Glieder-
thiere ein sehr unglücklicher Griff war. Wenn aber zwei Organe nicht als
materielle Umwandlungsformen eines und desselben typischen morpholo-
gischen Gliedes aufgefasst werden können, so dürfen sie auch nicht um-
gekehrt benutzt werden, um die Identität der Körperglieder zu beweisen
oder zu widerlegen, an denen sie angebracht sind.
Nur der Mund liegt — abgesehen von deformirten Formen —, nament-
lich aber bei allen erwachsenen Anneliden entschieden auf dem physiolo-
gischen Bauch, d. h. auf der Neuralseite. Dies einzige Argument kann
aber nicht als ausreichend angesehen werden, wenn es einmal gelingt, nach-
zuweisen, dass auch die Anneliden den doppelt symmetrischen Entwick-
lungstypus Baer’s (die evolutio bigemina) besitzen und wenn es zweitens
möglich ist, — wie ich dies weiter unten zeigen werde —, durch die
Thatsachen der Entwicklung die Lage des Mundes, hier bei den Annulaten
auf dem Bauche (d. h. der Neuralseite), dort bei den Wirbelthieren auf
dem Rücken (d. h. der Cardialseite), befriedigend zu erklären.
Diese Baer’sche Anschauung liegt der modernen Opposition gegen die
noch ältere Ansicht, dass die Gliederthiere auf dem Wirbelthierrücken
liefen, zu Grunde. Aber sie wird durch die Neueren gleichzeitig verdreht;
denn man schiebt ihr Argumente unter, welche Baer nicht gebraucht hat.
Ich bin daher gezwungen, um seine wirkliche Argumentation von der ihm
untergeschobenen zu trennen, hier nochmals auf die Opposition einzugehen,
welche moderne Zoologen gegen Leydig’s und meine Erneuerung der
Geofiroy-Ampere’schen Hypothese erhoben haben.
Wenn man, wie ich es zuerst gethan, einen Ringelwurm auf den
Rücken legt und nun einen Durchschnitt durch ein Metamer seines Körpers
mit einem solchen eines Haifischembryos vergleicht, so ergiebt sich eine
fast vollständige Uebereinstimmung in den gegenseitigen Lagerungsbeziehun-
gen der einzelnen Organe, wie ich bereits in einem früheren Aufsatz !) aus-
einandergesetzt habe. Zugleich machte ich auf einige, dabei gleichfalls auf-
2) Die Stammverwandtschaft der Wirbelthiere und Wirbellosen. Arbeiten a. d.
zool.-zoot. Inst. Bd. II. 1874.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 135
tretende Schwierigkeiten aufmerksam, denen ich theils durch Beobachtungen,
theils durch hypothetische Annahmen zu begegnen suchte. Die gewichtigste
Einwendung lieferte das Nervensystem der Anneliden und Gliederthiere,
bei welchen ein Schlundring und eine Bauchganglienkette angenommen werden.
Diese sollte nach der herrschenden Anschauung den Wirbelthieren fehlen;
dem Gehirn der letzteren vergleichen die meisten Zoologen das sogenannte
dorsale Schlundganglion, während allein Leydig den ganzen Schlundring
dem Wirbelthiergehirn, das Gliederthierbauchmark aber dem Rückenmark
der Wirbelthiere gleichstellt.
Sehen wir erst einmal die Gründe an, welche die neueren Gegner
meiner Auffassung für ihre widersprechende Ansicht anzuführen pflegen. Sie
sind äusserst schwach: die dorsale Lage des oberen Schlundganglions der
Gliederthiere, seine Verbindung mit den wichtigsten Sinnesorganen und
seine Entstehung aus den Medullarplatten. Alle drei Punkte habe ich
bereits früher kurz besprochen; gewisse Gründe zwingen mich indessen,
hier noch einmal auf sie zurückzukommen.
Der erste Grund enthält eine petitio principi. Dass bei morpho-
logischer Vergleichung die physiologische Orientirung im Raume ’d. h. die
Benennung der Körperregionen (Bauch und Rücken) gänzlich werthlos ist,
habe ich oben gezeigt. Der morphologische Werth der beiden Bezeich-
nungen ist somit erst zu erweisen durch die nach andern Gründen bestimmte
Gleichwerthigkeit der in diesen Regionen liegenden Organe. Gelänge es,
zu zeigen, dass Gehirn und Rückenmark der Wirbelthiere ihrer Entstehung
nach viel zu sehr mit dem sogenannten Gehirn der Gliederthiere überein-
stimmten, um nicht ihre Gleichwerthigkeit, und dass zweitens die Entstehung
des Bauchmarks von derjenigen des Rückenmarks viel zu sehr abwiche,
um nicht ihre grundsätzliche Verschiedenheit annehmen zu müssen: so
würde damit die Uebereinstimmung in der Lagerung des oberen Schlund-
ganglions mit dem Wirbelthiergehirn, also auch die Identität des physio-
logischen Rückens und Bauches bei allen gegliederten Thieren erwiesen
sein. Nie aber könnte die dorsale Lage des oberen Schlundganglions der
Gliederthiere als Argument für die Identifieirung des letzteren mit dem
Gehirn der Wirbelthiere benutzt werden, da ja grade nur durch jene an-
genommene Identität der genannten Organe auch die morphologische Gleichheit
des Rückens der Gliederthiere und Wirbelthiere nachgewiesen werden könnte.
Oder meint man im Ernst, dass Bauch und Rücken verschiedener Thiere
morphologisch immer gleich seien ? Man könnte sich fast versucht fühlen, anzu-
nehmen, in einem jüngst gemachten scurrilen Vergleich läge die Möglich-
keit eines Beweises angedeutet, dass es auch bei den Thieren eine Strati-
graphie der Schichtung, etwa bedingt durch die Schwerkraft und die zeit-
136 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
liche Aufeinanderfolge der Schichten, gäbe — natürlich kommt man doch gleich
wieder dazu, einzusehen, dass der angezogene Vergleich der Identification
von Bauchmark und Rückenmark mit einer fingirten falschen Gleichstellung
des Buntsandsteins und Quadersandsteins nur ein recht unverständliches,
unklares Bild für die Meinung liefert, dass jener erste Vergleich ein falscher
sei. Aber wo in aller Welt steht denn das morphologische Grundgesetz, nach
welchem unbedingt Bauch und Rücken bei Wirbelthieren, mit den gleichbe-
nannten Regionen der Gliederthiere und Anneliden identisch sein, also auch
die Theile des Nervensystems, welche bei ihnen in diesen Regionen liegen,
ebenfalls morphologisch übereinstimmen sollen? Mir wäre es schliesslich
ganz recht, wenn man dieses Grundgesetz nachgewiesen hätte; aber das
ist nicht geschehen, auch hat man es kaum zu thun versucht. Ein unbe-
wiesenes, doch zu dem speciellen Zweck allerdings recht brauchbares
Dogma allein wird aufgestellt; natürlich hat es Beweiskraft für Jeden, der
daran glaubt. Ich meinerseits glaube indessen an keine solchen Lehrsätze
um ihrer Quelle willen; ich bin daher auch berechtigt, zu constatiren, dass
dies Dogma absolut Nichts beweist, da es selbst erst bewiesen werden soll.
Auch die Verbindung des oberen Schlundganglions mit den wichtigsten
Sinnesorganen beweist (wenigstens für die Gegner) nichts, denn sie ist theil-
weise unrichtig. Ich habe früher schon darauf hingewiesen, dass — wie
allgemein bekannt — Augen wie Ohren bei manchen Gliederthieren !) von
N) Ich gebe hier eine Zusammenstellung der mir in dieser Beziehung bekannten
Thatsachen.
1) Anneliden.
Seitlich stehende, von den Ganglien der Bauchkette innervirte Augen mit Linse
finden sich bei:
Eunice vittata (Claparede Annelides du Golfe de Näples, III. p. 397).
Polyophthalmus (Quatrefages Histoire d. Anneles, II. p. 198 (Gegenbaur
nennt diesen Wurm Polyommatus; so heisst aber ein Schmetterling).
Leptochone aesthetica Clap. (Annel. d. Golfe de Näples, III. p. 514, PL.
RIVER: 9):
Das letzte Hinterleibssegment trägt gut entwickelte Augen bei:
Fabricia (die meisten Arten), zwei Augen.
Amphiglena mediterranea (Claparede, Glanures etc. p. 32, pl. 3 Fig. 1).
Oria Armandi Clap. (Glanures zool. etc. p. 36, pl. 3, Fig. 2).
Leptochone aesthetica Clap.
Claparede bemerkt hierzu, dass die Sabelliden mit Augen am Hinterende sehr
oft ihre Röhren verlassen und mit dem Afterende voran kriechen (Golfe de Näples
TIIE.-p. 516).
Gehörorgane kommen vor bei:
Amphicorina, Leptochone, Dialychone, Amphiglena und Oria (Claparede,
Annel. d. Golfe de Näples p. 516). Bei Leptochone liegen sie im zweiten
Segment des Körpers, werden also von einem Bauchganglion innervirt.
(
\
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 137
Nerven der Bauchganglienkette innervirt werden können. Diese Thatsache
zeigt, dass die Entwicklung von Sinnesorganen nicht an bestimmte Körper-
abschnitte gebunden ist. Will man aber dennoch das vorwiegende Auftreten
der Augen im Kopfe als Beweis für die Identität des oberen Schlund-
ganglions mit dem Gehirn der Wirbelthiere ansehen, so macht man (im
Hinblick auf den behaupteten Gegensatz zum Bauchmark) damit nur einen
Cirkelschluss: einmal werden eben nur diese mit dem oberen Schlund-
ganglion (der Gliederthiere) oder dem Gehirn (der Vertebraten) verbun-
denen Sinnesorgane gleichgestellt, um die Identität jener beiden nervösen
Centralorgane zu erweisen, dann wieder werden diese Sinnesorgane allein
deshalb als gleichwerthig angesehen, weil sie dorsal stehen und dem Gehirn
angehören sollen. !
Der dritte Grund ist der schwächste von allen: er ist eben einfach
falsch. Das heisst im Sinne seines Autors; denn dieser nimmt offenbar
an, die Medullarplatten lägen bei den Gliederthieren und Gliederwürmern
dorsal, und es entstünden ausschliesslich aus ihnen die dorsalen Schlund-
ganglien. Nun habe ich meinerseits noch nichts Sicheres gelesen über
Entstehung von dorsal liegenden Medullarplatten aus dem Ectoderm der
Gliederthiere, wohl aber von ventral liegenden, aus denen nach den über-
einstimmenden Berichten der verschiedensten Beobachter die Bauchganglien-
kette in änlicher Weise aus dem Ectoderm hervorgeht, wie bei den Wirbel-
thieren das Rückenmark. Dagegen wissen wir bis jetzt so gut wie nichts
über die Entstehungsweise des sogenannten Gehirns der Gliederthiere
und Anneliden; die wenigen hierauf bezüglichen Bemerkungen werde ich
unten genauer besprechen. Thatsächlich entstehen nun dennoch die dorsalen
Schlundganglien der Anneliden aus Medullarplatten, aber aus denselben,
aus welchen auch das Bauchmark hervorgeht, und es lässt sich (einstweilen
nur für die Anneliden) entwicklungsgeschichtlich nachweisen, dass das
sogenannte Gehirn der Gliederthiere (nach Gegenbaur u. A.) wenigstens zum
Arenicola trägt die Gehörblasen im Kopfglied.
Die Larve von Terebella conchilega (Claparede, Beobachtgn. u. Anat. u. Entwicklg.
1863 p. 65) hat zwei Gehörkapseln an der Bauchseite des vierten Körpersegmentes,
die später verschwinden, die von Terebellides Stroemii nur eine im Kopfe nach
Willemoes-Suhm (Z. f. w. Z. 1871, Bd. 21, p. 393, T. XXXII) Fig. 25).
2) Gliederthiere.
Augen an der Bauchseite bei Euphausia (Semper, Reisebericht, Z. f. w. Z.), welche
von den Bauchganglien innervirt werden.
Gehörblasen am Schwanze bei Mysis und andern Krebsen.
Gehörorgane von eigenthümlichem Typus: Beine vieler Heuschrecken.
Alle diese Organe werden nicht vom Gehirn, sondern von Ganglien des Bauch-
marks innervirt,
138 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
Theil nichts anders ist, als ein vom Bauchmark aus nach oben über den
Schlund hinübergewachsenes Bauchganglienpaar. Ehe ich den Beweis für
diese Behauptung liefere, muss ich zuvor noch einige andere Punkte
kurz berühren.
Selbst nämlich, wenn es Andern gelungen wäre, die Entstehung der
dorsalen Schlundganglien aus dorsal liegenden Medullarplatten und ihren
Gegensatz zu dem durch ventrale Medullarplatten entstehenden Bauchmark
nachzuweisen, so würde dies meiner Ueberzeugung nach gar Nichts gegen
Leydig’s und meine Auffassung von der Identität des Bauchmarks und
Rückenmarks beweisen. Denn es wären dann zwei Medullarplatten vorhanden,
von denen es nach ihrer Entstehung aus dem Ectoderm und ihrer späteren
Umbildung in die betreffenden Theile des centralen Nervensystems zweifel-
haft bleiben müsste, welche derselben (morphologisch) die dorsale, welche
die ventrale sei. Die Entstehung des Nervensystems selbst gäbe dann
keinen Aufschluss, ebensowenig die Verbindung mit den Sinnesorganen; diese
Unsicherheit würde endlich noch vermehrt durch die Thatsache, dass der
Seitennerv bei den Amphibien, wie Götte gefunden hat, und bei Selachiern,
wie ich hier auf Grund zahlreicher Beobachtungen wiederholt mittheile,
direct durch Verdickung aus dem Ectoderm hervorgeht. Dadurch wird
überhaupt der Werth der Entstehung der centralen nervösen Theile direct
aus dem Ectoderm für die morphologische Vergleichung im Allgemeinen
sehr herabgedrückt. Man sähe sich daher zur Fällung eines Urtheils über
diese Frage ausschliesslich auf die Lagerungsbeziehungen der zwei Haupt-
abschnitte des Nervensystems der Gliederthiere zu den übrigen Organen
angewiesen. Diese aber ergäben, wie ich früher schon erörtert habe,
nachher aber noch einmal weitläufiger auseinandersetzen will, als unab-
weisbares Resultat die Identification des Bauchmarks mit dem Rückenmark.
Nur über die morphologische Bedeutung des dorsalen Schlundganglions
könnten Zweifel und verschiedenartige Auffassungen bestehen.
Es wären in Bezug auf den letzteren Punkt drei Fälle denkbar.
Entweder hätten die Wirbelthiere in ihrem Nervensystem nirgends Theile,
welche dem dorsalen Schlundganglion zu vergleichen wären; dann wäre dies
letztere ein speciell für die Gliederthiere und Anneliden charakteristisches
Organ. Oder es wäre zweitens möglich, dasselbe in typischer Gestaltung
auch bei Wirbelthieren aufzufinden; dann hätte man bei diesen letzteren
einen wirklichen Schlundring nachgewiesen. Oder es könnten drittens Theile
im Gehirn der Wirbelthiere vorhanden sein, welche dem dorsalen Schlund-
ganglion entsprächen, doch aber in ihrer typischen Lagerung hinreichend
abwichen, um es nicht zur Bildung eines Schlundringes kommen zu lassen.
Den ersten Satz würden die Dogmatiker der neuern Schule aufs
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 139
Lebhafteste bestreiten, da sie ja gerade nur im oberen Schlundganglion der
Inseeten das Gehirn und Rückenmark der Wirbelthiere wiederfinden. Ich
selbst glaube auch nicht an seine Richtigkeit; unter keinen, Umständen
wäre er im Augenblick als richtig zu erweisen. Ich gebe ihn daher willig
preis und nehme unbedingt an, dass wirklich das sogenannte Gehirn der
Insectten und Anneliden einem Theile des Wirbelthiernervensystems ent-
sprechen müsse.
Es blieben somit zur Discussion nur der zweite und dritte Satz. Be-
stünde der bisher angenommene morphologische Gegensatz zwischen dorsalem
und ventralem Schlundganglion bei Anneliden und Gliederthieren, so hätte
man unbedingt auch bei Wirbelthieren nach einem Schlundring zu suchen.
Bestünde aber jener Gegensatz nicht, so wäre das Vorhandensein eines
Sehlundringes bei Wirbelthieren auch keine Nothwendigkeit.
Für die erste These dieser Alternative hatte ich mich — fussend auf
dem Dogma des Gegensatzes zwischen den zwei Ganglienpaaren des Schlund-
ringes — in einer früheren Arbeit entschieden, und ich hatte allerdings
nur ganz flüchtig darauf hingedeutet, dass. mit Schneider vielleicht in den
Ganglienpaaren des n. hypoglossus und glossopharyngeus die fehlenden
Ganglien des Schlundringes zu suchen seien. Voraussetzung dieser Ver-
gleichung war die Möglichkeit, dann auch den Mund der Insecten und
Anneliden dem der Vertebraten gleichzustellen.. Dohrn nahm die von
mir zuerst geäusserte und durch Beobachtungen begründete Ansicht von der
Stammverwandtschaft der Wirbelthiere und Anneliden auf, und er kam
gleichfalls dazu, bei jenen nach einem Schlundring zu suchen. Aber er
beantwortete diese Frage in ganz anderem Sinne, als ich. Dohrn setzte
voraus, dass die wurmartigen Stammväter der Vertebraten einen Schlund-
ring besessen, aber ihn bei ihrer allmähligen Umbildung in diese verloren
hätten dadurch, dass der Munddarm nicht mehr, wie früher, das Gehirn
durchbohrte, sondern an ihm vorübergehend auf die entgegengesetzte Körper-
seite gerückt sei; er nimmt jetzt an, die Rautengrube sei Rest einer
früher bestandenen Durchbohrung des vierten Ventrikels, während er früher
diese Durchbrechungsstelle des Gehirns in der hypophysis cerebri gesucht
hatte. Für diese letztere Ansicht sprachen immerhin einige Eigenthümlich-
keiten in der ersten Entstehung und Umbildungsweise des Munddarms;
jene erste ist in allen ihren Stücken nur eine willkürliche, durch keine
einzige Thatsache der vergleichenden Morphologie unterstützte Annahme.
Ueber solche Hypothesen hat man das Recht, mit dem trivialen Satze „kann
sein, kann auch nicht sein“ ohne Weiteres zur Tagesordnung überzugehen,
es dem Autor überlassend, sie durch Beobachtungen zu stützen und als
richtig oder wahrscheinlich zu beweisen,
140 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Ich zweifle indess, dass ihm dies gelingen möchte; denn ich glaube
jetzt im Stande zu sein, zu zeigen, dass gar keine Nöthigung zum Suchen
eines Schlundringes vorliegt, trotzdem aber die vollständigste Homologie des
ganzen Schlundringes mit dem Gehirn der Vertebraten, des Bauchmarkes
mit dem Rückenmark der letzteren durch Beobachtungen nachzuweisen ist,
Mit diesem Versuch gebe ich zugleich auch die frühere Annahme der
Schneiderschen Hypothese von einem Schlundring bei Wirbelthieren auf,
ohne freilich damit zu sagen, dass nicht doch einmal ein solcher nachge-
wiesen werden möge. Für mich besteht einstweilen keine Nothwendigkeit,
nach einem solchen zu suchen, da ich, wie gesagt, im Stande zu sein
glaube, den Leydig’schen Satz von dem durch den Schlund durchbohrten
Gehirn der Gliederthiere als annähernd richtig zu erweisen, wenngleich er
in seinen Einzelheiten nicht unwesentlich modificirt werden muss, zugleich
aber auch zu zeigen, dass das Suchen nach einem wirklich vorhandenen
Schlundring bei Wirbelthieren völlig überflüssig ist.
Es existirt nämlich factisch der bisher angenommene typische Gegen-
satz zwischen dorsalem und ventralem Schlundganglion der Anneliden gar
nicht: es ist das erstere in der That, wie die Entwicklungsgeschichte lehrt,
zum Theil nichts weiter, als ein von der Neuralseite her um den Schlund
auf den sogenannten Rücken gerücktes ventrales Ganglion! Dies durch
ausführliche Schilderung meiner bisherigen in dieser Beziehung angestellten
Untersuchungen zu beweisen, soll Aufgabe des jetzt zu beginnenden zweiten
Abschnittes sein.
H. Abschnitt. Die morphologische Bedeutung des Nervensystems
der Anneliden.
8. 4. Einleitende Bemerkungen über das Nervensystem
der Anneliden und seine Structur im Allgemeinen.
Das Nervensystem der Anneliden (unter Ausschluss der Sipunculiden,
Nemertinen und Myzostomum) ist ein, und zwar in hohem Grade gleich-
förmig gegliedertes. Im Kopfgliede liegt ausnahmslos der Schlundring; sein
dorsales Ganglion giebt die Augen- und Fühler-Nerven ab, sein ventrales
setzt sich fort in eine Bauchganglienkette, deren einzelne Anschwellungen
oft sehr regelmässig den Segmenten des Körpers entsprechen. So weit-
gehende Reductionen und Verschmelzungen der typisch isolirten Ganglien-
paare, wie sie bei den Gliederthieren vorkommen, treten bei echten Anne-
liden nie ein; Abweichungen vom typischen Schema sind indessen auch
hier nicht selten.
Verschmelzungen scheinen vorzugsweise am Kopf- und Schwanzende
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 141
vorzukommen; bei vielen Anneliden (Naiden, Chaetogaster, Serpula, Hiru-
dineen etc.) ist das Bauchganglion des Schlundringes nicht scharf oder
kaum getrennt von den Ganglien der nächsten Glieder; bei den echten
Blutegeln sieht man das grosse Ganglion des Hinterleibssaugnapfes als ent-
standen aus der Verschmelzung mehrerer ursprünglich isolirter Ganglien-
paare an. Bei einigen Anneliden sollen selbst die Ganglien des mittleren
Körpertheiles einander berühren, sodass bei ihnen von einer eigentlichen
Ganglienkette kaum die Rede sein könnte. Diese Form des Bauchstranges
liesse sich vielleicht als Uebergang zu dem gänzlich ungegliederten Nerven-
system der Sipunculiden auffassen.
Durch Trennung der einzelnen, je ein Ganglienpaar bildenden Hälften
oder Theile entsteht eine andere Form des Nervensystems: das sogenannte
Strickleiternervensystem (Serpula, Sabella). In den Lehrbüchern findet
sich noch eine dritte Form des Annelidennervensystems angegeben, die
von Malacobdella. Nach Gegenbaur soll für diese Form charakterisisch
sein, dass zwei einzelne ganglientragende Nerven seitlich am Körper
gelegen nur vorn und hinten durch eine Quercomissur verbunden seien. Ich
weiss nicht, ob dieser Zoologe für seine Angabe, es fände sich im Saugnapf
eine Comissur zwischen den zwei letzten Ganglien, eine andere Quelle hat,
- als Blanchard, welcher der einzige Zoologe ist, der bisher über Mala-
cobdella ausführlich geschrieben hat. Blanchard sagt von einer solchen hinteren
Comissur kein Wort. — Ich selbst habe kürzlich die Malacobdella grossa
0. F. Müller aus Cyprina islandica in zahlreichen Exemplaren zu unter-
suchen Gelegenheit gehabt. Ich kann hiernach aufs Bestimmteste ver-
sichern, dass die nordische Malacobdella gar keine Hirudinee, sondern eine
echte, rüsseltragende Nemertine ist, und dass ihr Nervensystem sich auf’s
Engste an das der typischen Nemertinen anschliesst. Es fehlen ihr alle
Ganglienknoten ; die Ganglienzellen bilden einen gleichmässigen Belag um die
seitlichen Nerven herum, wie bei allen Nemertinen. Diese Schneider’sche !)
Angabe kann ich durchaus bestätigen. Gehört dies Thier in dieselbe
Gattung, wie das von Blanchard untersuchte, so hat dieser Forscher dasselbe
fast in allen Einzelheiten seines Baues gründlich verkannt.
Man fasst gewöhnlich das Strickleiterbauchmark als die primitivere
Form, die einfache Ganglienkette als die höhere, aus jener abgeleitete auf);
man stützt diese Ansicht auf die Angabe, dass bei jungen Hirudineen das
Nervensystem die Strickleiterform besitzen, bei alten die eigentliche Gang-
lienkette vorkommen solle. In wie weit diese theoretische Auffassung be-
rechtigt ist, wird später untersucht werden.
1) Schneider, Untersuchungen über Plathelminthen, 1873, p. 33.
142 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Das dorsale Schlundganglion scheint niemals zu fehlen. Ich darf in-
dessen nicht verschweigen, dass ich es bis jetzt bei einem allerdings sehr
kleinen und ungünstigen Aeolosoma aus Kissingen vergeblich gesucht habe.
Gänzlich abweichend ist das ungegliederte Nervensystem der. doch
deutlich segmentirten Nemertinen; es besteht aus einem dorsalen Schlund-
ring und zwei seitlichen, ganz getrennten von diesem entspringenden
Hauptnerven. Die vorliegenden Beobachtungen geben kaum Anhaltspunkte
für eine hypothetisehe Verknüpfung desselben mit dem der echten Ringel-
würmer; doch muss bemerkt werden, dass die beiden seitlichen Nerven-
stämme mitunter ganglionäre Anschwellungen zeigen sollen. Diese Form,
sowie die womöglich noch mehr vom Typus abweichende Gestalt des
Nervensystems von Myzostomum und einiger anderer abweichender so-
genannten Würmer müssen wir von der später anzustellenden vergleichenden
Untersuchung ausschliessen.
Ueber die feinere Structur der einzelnen Ganglienpaare wissen wir
Genaueres eigentlich nur durch Leydig. Wir verdanken ihm den allgemein
geführten Nachweis, dass überall das Gedoppeltsein der ganglionären, wie
der faserigen Theile zu erkennen sei; selbst dann, wenn, wie bei den
Oligochaeten, jedes Ganglion ganz einfach zu sein scheint. Bei den meisten
Hirudineen und Oligochaeten besteht nach Leydig!) jedes Ganglion aus
drei Theilen: zwei seitlichen, welche beständig von einander getrennt sind,
und einem mittleren, an der Bauchfläche der beiden Nervenstränge liegen-
den, dessen Zusammensetzung aus zwei symmetrischen Hälften nach Leydig’s
Abbildung (I. c. Taf. I, Fig. 8 D. von Piscicola respirans) nur durch die
zwei senkrecht aufsteigenden getrennten Nervenfaserzüge angedeutet ist.
Bei Lumbricus läuft nach Leydig?) ein Belag von Ganglienzellen continuirlich
auf der ganzen Bauchfläche des Nervenstranges fort; seiner Lage nach ist
er entschieden der von Leydig zuerst gesehenen mittleren ventralen Ab-
theilung eines Ganglion’s der Hirudineen zu vergleichen.
Diese bei Lumbrieus scheinbar unpaare Lage von Ganglienzellen ge-
winnt durch die im nächsten Paragraphen mitzutheilende £ntstehungs-
weise eine ungeahnte Wichtigkeit: sie ist, um das wesentlichste Resultat
gleich vorweg zu nehmen, dem Centralnervensystem der Wirbelthiere zu
identificiren, während die beiden seitlichen Ganglien, zwischen welchen die
durch eine Quercomissur verbundenen Nervenstränge verlaufen, den Spinal-
ganglien der Vertebraten gleichzustellen sind. Der Beweis hierfür kann
erst später erbracht werden. Die Wichtigkeit dieser unerwarteten Auf-
!) Leydig, Vom Bau des thierischen Körpers u. Tafeln zur vergleichenden Anatomie.
2) Leydig l.c Taf. III, Fig. 8 k; Taf. I. Fig. 8 D.
SEMPER: Die Verwandtschaftsverhältnisse der gegliederten Thiere, 143
klärung zwingt mich auch bei anderen Anneliden die Structur des Bauch-
mark’s zu untersuchen; ich berichte hier kurz über die in dieser Richtung
bisher gewonnenen Resultate, indem ich mir ausführlichere, durch Abbil-
dungen belegte Beschreibungen einem andren Aufsatz vorbehalte.
Vorher muss noch der von Faivre entdeckte sogenannte intermediäre
Nerv der Blutigel kurz erwähnt werden. Ich glaubte eine Zeitlang, ihn
auf die oben erwähnte mittlere unpaare Abtheilung der Ganglien beziehen
zu können; aber dem widersprechen einmal die gleichlautenden Angaben
Leydig’s und Faivre’s t), dass er nie mit Ganglienzellen in Verbindung tritt,
zweitens die Thatsache, dass gerade bei den Hirudineen jene unpaare
Ganglienmasse recht stark entwickelt ist, nie aber in den intermediären
Nerv übergeht; drittens endlich, dass er den Lumbrieinen fehlt, während
die unpaare centrale Ganglienmasse hier immer vorkommt. Seine Be-
deutung ist also nur durch die Entwicklungverhältnisse der Hirudineen
selbst zu enträthseln.
$S. 5. Vergleichend-morphologische Bemerkungen über das
Nervensystem der Anneliden.
Bekanntlich stellt man das sogenannte Strickleiternervensystem von
Sabella und Serpula dem einfachen Ganglienstrang, wie er Lumbricus,
den Blutegeln, Nereiden, kurz den meisten Anneliden zukommt, gegenüber.
So abweichend jenes aber auch zu sein scheint, so ist doch im Grunde der
Bau typisch derselbe: es lässt sich, zum Theil schon durch die Angaben
Leydig’s und Claparede’s, zeigen, dass in allen Ganglienketten der Anneliden.
ohne Ausnahme dieselben drei Ganglienknotenreihen zu erkennen sind, wie
sie zuerst bei Oligochaeten und den Blutegeln nachgewiesen wurden. Die
Abweichung des Strickleiternervensystems von dem gewöhnlichen besteht
nun blos darin, dass hier das mittlere Ganglion in seine zwei typischen
Hälften auseinandergezogen ist, sodass also jedes Ganglion je eines seitlichen
Nervenstranges bei den Serpuliden aus dem Spinalganglion und einer Hälfte
des centralen besteht. Die theoretische Verwerthung oder Deutung dieser
Thatsache wird erst später gegeben werden können; hier handelt es sich
zunächst nur darum, durch vorläufige Mittheilung meiner Beobachtungen
jenes Factum sicherzustellen und zugleich einige andere bedeutungsvolle
Eigenthümlichkeiten des Annelidennervensystems zu beschreiben. Eine aus-
führliche Schilderung der nun folgenden Beobachtungen muss ich auf ge-
legeneren Ort und Zeit verschieben.
!) Faivre, Etudes sur l’Histologie comparee du systeme nerveux chez quelques
Annelides. Ann, d. Sc. nat. 4 Ser. Vol. VI. 1856. p. 29.
144 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
I. Anneliden mit einfachem Bauchmark.
Die Mehrzahl aller Ringelwürmer gehört zu dieser Gruppe, aus der
ich selbst folgende Gattungen bis jetzt habe untersuchen können. Fast
alle Oligochaeten, alle Hirudineen, dann Nereis, Ammotrypane, Terebella,
Syllis, Polynoe, Arenicola, Capitella, Maldane, Eunice, Nephthys,
Goniada. Bei allen ohne Ausnahme finden sich auf Querschnitten eines
' Ganglions die drei oben erwähnten Abtheilungen; die beiden Nerven-
'stämme verschmelzen nie vollständig, wie das Leydig schon besonders her-
\vorgehoben hat. Mitunter ist das mediane Ganglion,, so bei Piscicola nach
Leydig!), von den beiden seitlichen getrennt; viel häufiger scheint es in-
dessen, wie vollständige Querschnittsreihen lehren, durch zwei schmale
seitliche Zellbrücken (Taf. VIII, X, Fig. In.) mit jenenver bunden zu sein. Solche
seitliche Vereinigung der drei Abtheilungen eines Ganglions habe ich bei
folgenden Gattungen erkannt: Nais, Clepsine, Nephelis, Terebella, Ammo-
trypane, Nereis, Eunice, Polynoe, Ammotrypane, Sabella, Pectinaria etc.
Bei vielen Anneliden sind sicherlich die einzelnen, den verschiedenen
Segmenten angehörenden Ganglien von einander getrennt und nur durch,
aus Nervenfasern bestehende Längscomissuren verbunden; die Zahl der-
jenigen Arten indessen, bei welchen eine solche Längstrennung der centralen
Ganglien nach den Segmenten nicht erfolgt, scheint trotzdem nicht gering
zu sein. Leydig giebt an, dass bei Lumbrieus der mediane Ganglienzellen-
belag ohne alle Unterbrechung durch den ganzen Wurm hindurchgeht.
Dies kann ich. bestätigen. Das gleiche Verhalten habe ich ferner bei
folgenden Gattungen gefunden: Arenicola, Terebella, Capitella, Ammotry-
pane, vielleicht auch Maldane. Nach den allerdings in dieser Beziehung
nicht ganz zuverlässigen Angaben Claparöde’s, die ich mit Mühe aus seinen
verschiedenen Annelidenwerken herausgesucht habe, käme ein solcher
ventral gelegener durchgehender Ganglienzellstrang vielleicht auch der
nicht von mir untersuchten Gattung Dasybranchus zu.
Ich halte es für überflüssig, die hier angegebenen Verhältnisse genauer
zu beschreiben und durch zahlreiche Abbildungen zu erläutern; ich verweise
in dieser Beziehung auf die schönen und sorgfältigen Darstellungen Leydig’s
und Claparede’s. Dagegen muss ich ausführlich gewisse auffallende Ab-
weichungen in Lage und Structur beschreiben, die theils neu, theils wenig
bekannt sind und in einigen Gattungen an erwachsenen Thieren, sowie am
Hinterende noch nicht ganz ausgewachsener oder mitunter selbst schon er-
wachsener d. h. geschlechtsreifer Thiere von mir durch die Querschnitts-
methode festgestellt worden sind.
!) Leydig, Tafeln z. vergl. Anatomie,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 145
1) Terebella sp. von Helgoland. Ich hielt das untersuchte
Exemplar für ein junges Thier von Terebella conchilega, es hatte jedoch
reife Eier in der Leibeshöhle und da die Structur ganz ungemein abweicht
von derjenigen der gewöhnlichen Species, so muss ich die hier untersuchte
Art für eine zweite, leider nun namenlose, halten. Auf dem Querschnitt
vom Vorderende oder dem Mittelkörper sieht man ausserhalb der
dünnen Ringmuskelhaut das Bauchmark liegen. Der Querschnitt des-
selben ist sehr eigenthümlich. Die beiden Längsnervenstämme sind in der
Mittellinie so verschmolzen, dass sie kaum mehr als gesondert betrachtet
werden können; sie zeigen in derMitte eines Ganglions, wo die Seitennerven
abtreten, zwei paarige Vorsprünge; der eine, mehr stumpfe, tritt nach unten
(gegen die Epidermis), der andere gegen die Leibeshöhle zu. Innerhalb
dieses Querschnittes sieht man verschiedene Faserzüge, welche theils quer
zu verlaufen scheinen, theils von der centralen Ganglienzellmasse nach
beiden Seiten schräg nach oben und aussen sie durchsetzen. In der tiefen
äusseren Einbuchtung der Fasermasse liegt genau symmetrisch das centrale
Ganglion; nach beiden Seiten geht es über in eine schmale Zellbrücke,
welche an die seitlichen Ganglien herantritt. Aus diesen beiden tritt jeder-
seits ein starker Nerv hervor, welcher ursprünglich, wie die Ganglienkette,
ausserhalb der Musculatur verläuft. Die Zellen aller drei Ganglien
sind ungemein klein und ziemlich gleich gross. Einzelne Zellen scheinen
von dem centralen Ganglion aus fast durch die ganze Fasermasse der
Längsnerven zu dringen; bei der Kleinheit der Elemente liess sich indess
keine völlige Sicherheit darüber gewinnen, ob diese Zellen nicht vielmehr
einem bindegewebigen System angehörten, welches genau in der Mittellinie
vom centralen Ganglion entspringend, die beiden Längsnerven von einander
scheidet. Auf einem Querschnitt zwischen je zwei seitlichen Nerven fehlen
die beiden seitlichen Ganglien vollständig; dann greifen die unteren Hörner
der Nervenfasersubstanz noch viel mehr um die centrale Ganglienzell-
masse herum, welche hier fast noch an Masse zugenommen hat.
Was aber vor Allem auffallend ist, das ist die Lage des Nerven-
systems ausserhalb der Musculatur, zwischen dieser und der Epidermis.
Diese letztere scheint hier geschichtet und sehr eigenthümlich gebaut zu
sein; leider waren die Elemente nicht gut genug erhalten, um eine ge-
nauere Untersuchung zu gestatten. Dicht an die Ganglienmasse legte sich
eine, durch eigenthümliche Faserzüge in Lappen getheilte, zellige Schicht
mit grossen glashellen Zellen (oder Hohlräumen?), dazwischen fanden
sich eigenthümliche Züge einer glasigen Masse, die fast an den Inhalt von
Blutgefässen erinnerten; nach aussen zu traten dann kleinere Zellen mit
schmalen Kernen auf und die Randzone wurde eingenommen von einer
146 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Schicht schmaler Cylinderzellen, welche aber weder durch eine Muskellage,
noch auch durch eine Basalmembran von jenen andern Zellschichten scharf
geschieden war. ES liegt natürlich nahe, trotzdem in dieser letzteren nur
die eigentliche Epidermis, und in den übrigen Zelllagen eine zellige Cutis
zu sehen, wie sie ähnlich z. B. bei den Serpuliden vorzukommen scheint
(s. unten). Andrerseits sprechen gegen diese Auffassung die Thatsachen,
dass am hinteren Leibesende das gesammte Bauchmark doch in der ge-
schichteten Epidermis selbst liegt; dass zweitens die Ganglienzellen ohne
alle Unterbrechung in die wirklichen Epidermiszellen übergehen (obgleich
die Fasersubstanz der Längsnerven noch immer vollkommen deutlich ist),
und dass endlich drittens auch hier dieselben grossen blasigen Zellen
zwischen den Epidermiszellen liegen, wie ich sie oben mit Zweifel als
Cutiszellen besprochen habe. Die beiden Längsnerven lassen sich in der
Epidermis liegend bis über - den After hinaus verfolgen; am letzten
Schwanzende verlieren sie sich ganz allmälig zwischen den Zellen der
Epidermis; zugleich rücken sie immer näher aneinander heran. -
Leider kann ich mit dem mir vorliegenden Material diesen Punkt
nicht zur Entscheidung bringen. Soviel jedoch ist durch die mitgetheilten
Beobachtungen festgestellt, dass wenigstens am Hinterende des Thieres das
Nervensystem direct mit der Epidermis verschmilzt. Ob sich an dieser
Vereinigung nur der centrale (ventrale) Zellenbelag oder auch noch die
beiden seitlichen Zellgruppen betheiligen, liess sich nicht erkennen.
2) Terebella conchilega. Grosses Exemplar von Helgoland.
Das Nervensystem hatte ähnlichen Bau, wie bei der vorhergehenden Art;
aber es lag innerhalb der Ringmusculatur und erst ganz hinten ging es
in die Epidermis über. Bei dieser Art waren die zelligen Elemente, sowohl
des Nervensystems, wie der Epidermis, noch viel kleiner und ungünstiger,
als bei der vorliergehenden; die Epidermis war auch hier deutlich geschichtet.
3) Terebella zostericola. Diese Art steht, in Bezug auf das
Nervensystem, zwischen den beiden vorhergehenden. Der Nervenstrang
liegt in einem breiten Zwischenraum zwischen den beiden Neuralmuskeln,
füllt ihn aber nur zum geringsten Theile aus; der übrigbleibende Raum
wird eingenommen von einer eigenthümlichen lappigen Zellmasse, welche
zweifellos mit der geschichteten Epidermis oder der zelligen Cutis zu-
sammenhängt. Eine Ringmusculatur fehlt hier vollständig, dagegen sind
hie und da Faserbalken (musculöser Natur?) angebracht, welche mehrfach
sich, kreuzend theils über, theils unter dem Bauchmark fortziehen, mitunter
auch radial gegen die Epidermis zustreben. Die Comissuren des Schlund-
ringes laufen nicht innen, sondern aussen um die Musculatur herum,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 147
zwischen dieser und der Epidermis, mit ihren zelligen Theilen scheinbar
der letzteren angehörend.
4) Hyalinoecia tubicola. Das Bauchmark liegt ganz innerhalb
der Leibeshöhle, durch eine dünne, aber deutliche Ringmuskelschicht von
der Epidermis getrennt. Der Schlundring tritt allmälig immer näher an
die Oberhaut heran; das sehr starke dorsale Schlundganglion liest ganz
und gar zwischen Epidermis und Musculatur, so dass die Ganglienzellen
hier direct in die der Epidermis überzugehen scheinen. Dicht neben dem
mittleren Fühler stehen zwei eigenthümliche Organe in Form kugelförmiger
Becher, die sich nach aussen zu öffnen scheinen; ihr Epithel ist geschichtet
und in Continuität mit den eigentlichen Epidermiszellen; ‚dem dorsalen
Schlundganglion sitzen sie direct auf. Vielleicht sind diese Gruben, deren
innerste Zelllage Wimpern trägt, den eigenthümlichen Wimpergruben
gleichzustellen, welche bei manchen Anneliden (Capitella, Sabella, Erio-
graphis etc.) am Kopfe vorkommen.
Mit dem Schlundkopf, welcher aus zwei deutlich gesonderten Hälften
besteht, tritt auch der symmetrisch vorhandene vagus auf; seine Ganglien
sind zum Theil sehr stark entwickelt; er setzt sich am Hinterlappen des
dorsalen Schlundganglions an.
5) Maldane sp. Beide Hälften des Faserstranges des Bauchmarks
sind hier so innig verschmolzen, dass man versucht sein könnte, ihn einfach
zu nennen; eine genauere Untersuchung seines Faserverlaufs zeigt indessen
doch die typische Zweitheilung!). Er liegt überall der Epidermis hart an,
und seine Ganglienzellen sind stellenweise gar nicht von denen der Epi-
dermis zu unterscheiden. Im Kopfe tritt er etwas mehr nach innen, ohne
indessen je die Berührung mit der Epidermis aufzugeben. Der Schlund-
ring endlich und das dorsale Schlundganglion liegen so vollständig in oder
an der Epidermis, dass es gar nicht von dieser zu trennen ist.
Die andern bisher von mir selbst untersuchten Arten, deren Nerven-
!) Claparede meint, bei Myxicola infundibulum (Golfe de Näples, III. p. 511)
sei das scheinbar ganz einfache Bauchmark nicht entstanden durch eine „einfache
Fusion zweier typischer Ketten, sondern vielmehr durch normale Atrophie einer
derselben“. Dies ist wohl ein Irrthum: eine solche einseitige Rückbildung eines
symmetrisch angelegten Organs müsste nothwendig auch die abgehenden Nerven be-
troffen haben, was aber nicht der Fall ist. Genauere histologische Untersuchung
wird sicherlich auch hier, wie bei allen Anneliden, die beiden Hälften des Faser-
sStranges nachweisen. An dieser Auffassung kann auch die spätere Darstellung
Claparedes (Structure des Anndlides Sedentaires p. 120—122) nichts ändern, da
nicht der Versuch gemacht worden ist, den deutlich symmetrischen Ursprung der
Spinalnerven mit der behaupteten Atrophie des einen Nervenstranges in Einklang
zu setzen. SE
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. IH. 11
148 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
strang aus zwei dicht bei einander liegenden Hälften besteht, zeigen keine
erwähnenswerthen Eigenthümlichkeiten. Nur bei Capitella capitata finde
ich ein merkwürdiges Verhalten. Hier sind die zwischen zwei Ganglien-
knoten befindlichen Längscomissuren weit von einander getrennt, im Gang-
'lion selbst vereinigen sie sich. Während aber im Kopf der Schlundring,
das dorsale Ganglion und das Kopfbauchmark ganz in der Leibeshöhle
liegen, getrennt von üer Epidermis durch eine deutlich erkennbare Ring-
muskelschicht und zwei schräge Sagittalmuskeln, liegen im Rumpftheil des
Thieres die beiden Nervenstränge — solange sie nur Comissuren sind —
sanz ausserhalb der Musculatur, direct in der Epidermis, im Ganglion aber
wieder in der Leibeshöhle. Es treten dabei die Nerven, wenn sie das
Ganglion verlassen, von innen nach aussen durch die Musculatur hindurch.
Mit diesen Angaben stehen ältere Beobachtungen von Claparöde in
Einklang. Es hat dieser, leider so früh verstorbene Forscher, gezeigt,
dass in der Structur des Nervensystems eine viel grössere Mannichfaltig-
keit herrscht, als man bisher angenommen hat. Es ist ferner durch meine
Untersuchung einer ziemlich grossen Anzahl von Gattungen gezeigt worden,
dass das Nervensystem mehr oder minder entschieden auch bei den ge-
schlechtsreifen Thieren mit der Epidermis in Zusammenhang bleibt. Bald
sind es nur die Comissuren des Rumpfes (Capitella), bald nur der Schlund-
ring (Terebella zostericola) oder Schlundring und dorsales Ganglion (Hyali-
noecia tubicola), welche zwischen Ringmuskel und Epidermis liegen und mit
ihren zelligen Elementen direct in die der letzteren überzugehen scheinen;
bald gehört das Nervensystem ganz der Epidermis an (Maldane sp.), bald
ist es von ihr völlig getrennt (Nereis, Polynoe, Terebella conchilega etc.).
Im letzteren Falle geht dann mitunter das Bauchmark am Afterende in
die Epidermis über.
Wichtig ist auch die Bestätigung der schon von Clapar&öde hervorge-
hobenen Thatsache, dass die verschiedenen Abweichungen in der Structur
des Nervensystems gar keinen systematischen Werth besitzen; die nächst-
verwandten Arten — so z. B. die oben geschilderten drei Terebellen -—
unterscheiden sich oft sehr. Claparede hat gleichfalls gezeigt, dass die zu
den Sabelliden gehörige Gattung Myxicola der Structur ihres Nerven-
systems nach in die Gruppe mit typisch entwickeltem Bauchmark gehört,
während bisher das abweichende Strickleiternervensystem als für diese
Familie besonders bezeichnend angesehen wurde.
II. Anneliden mit Strieckleiterbauchmark.
Diese Form des Nervensystems kommt vorzugsweise bei den Serpuliden
vor und sie unterscheidet sich von jener ersten vor Allem dadurch, dass
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 149
nicht blos die beiden Ganglien der Länge nach, sondern die Ganglien-
hälften selbst der Quere nach auseinander gezogen sind. In allen von
Claparede und von mir untersuchten Fällen besteht jedes isolirte Ganglion
aus zwei Theilen, dem äusseren, welches einem Spinalganglion der typischen
Ganglienkette und einem unteren oder inneren, welches einer Hälfte des
eentralen Ganglions der letzteren entspricht. Die Entfernung der so ge-
trennten Hälften des centralen Theils des Bauchmarks ist sehr verschieden,
bei Eriographis lucullana sehr klein, bei Laonome Kröyeri treten die
beiden Nervenstämme innerhalb des Ganglions fast zusammen, bei den
echten Sabellen (Spirographis etc.) liegen sie wieder weiter auseinander.
Eine vollständige Verschmelzung, resp. Nicht-Trennung der beiden Hälften
kommt ferner nach Claparede bei Myxicola infundibulum vor. Dieser Aus-
nahme reiht sich andrerseits ein Beispiel echten Strickleiterbauchmarks in
andern Ordnungen an: Polydora ciliata hat nach eigener Untersuchung ein
echtes Strickleiternervensystem,, dessen beide Hälften sogar viel weiter von
einander getrennt sind — wenigstens verhältnissmässig —, als dies bei den
meisten Serpuliden der Fall ist.
In allen Fällen aber stehen die von einander getrennten Hälften des
centralen Ganglions miteinander durch eine Quercomissur in Verbindung.
In Bezug auf diese eigenthümliche Form des Bauchmarks sind drei |
Auffassungen möglich, Für die beiden Spinalganglien besteht keine
Schwierigkeit, denn diese verschmelzen nie, sondern sie sind immer durch
die Breite des Faserstranges von einander geschieden. Die Verschmelzung
trifft eben nur das centrale Ganglion, welches im Strickleiternervensystem
in seine zwei typischen Hälften zerfällt. Hierfür wäre eine dreifache Er-
klärung denkbar; man könnte erstlich annehmen — wie es mehrfach ge-
schehen ist —, dass immer die Trennung das ursprüngliche Verhalten an-
deute; oder zweitens, dass sie gerade das später erworbene bezeichne,
indem eine 'Zweitheilung und Auseinanderzerrung einer ursprünglich ein-
fachen, aber aus zwei symmetrischen Hälften bestehenden Anlage erfolgt
sei; oder endlich drittens, dass beide Typen nebeneinander in der Classe
der Anneliden existirten d. h. also, dass in dem einen Falle die Trennung
des Bauchmarks entstanden sei durch eine Spaltung einer symmetrischen
einfachen Anlage und dass sie im andern nur ein Festhalten der ursprüng-
lich getrennten Embryonalanlage des centralen Bauchmarks sei. Für
diese letzte Möglichkeit glaube ich die später zu beschreibenden Bildungs-
vorgänge bei Nais und Chaetogaster anführen zu können — da in der That
bei ihnen die beiden möglichen Entstehungsweisen neben einander existiren,
also auch bei den übrigen Anneliden die eine nicht die andere auszu-
schliessen braucht.
IE
150 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Dies erschwert natürlich, wenigstens einstweilen, die Auffassung von
der allgemeinen Bedeutung des Strickleiternervensystems. Man weiss, dass
man dies letztere als eine mehr embryonale Form, die in sich geschlossene
Ganglienkette als die höher entwickelte anzusehen geneigt ist. So lange
ich nun ausschliesslich die Bildungsweise des Bauchmarks der Naiden
kannte, wo sich eine aus symmetrischen Hälften bestehende, aber ganz
unpaare Ectodermverdickung zum centralen Bauchmark umbildet, war ich
geneigt, grade umgekehrt das Strickleiternervensystem als die abgeleitete
Form anzusehen, entstanden durch eine Auseinanderzerrung der zwei Hälften
des centralen Ganglions; grade so, wie bei den Naiden die Theilung der
‚centralen ungegliederten Neuralanlage in einzelne Ganglien durch eine
mechanisch bedingte wirkliche Trennung der ursprünglich zusammenhängen-
den Anlage entsteht. Aber die, wie mir scheint, unabweisbare Thatsache,
dass bei Chaetogaster das Bauchmark durch Vereinigung zweier ursprüng-
lich getrennter Anlagen entsteht, setzt die alte Deutung wieder in ihr Recht
ein, ohne freilich die andre geradezu zu entkräften. Denn wenn dieselbe
Form des einfachen Nervensystems auf zwei so sehr verschiedene Weisen
entstehen kann, wie das bei Nais und Chaetogaster der Fall ist, so darf
unmöglich andrerseits das Strickleiternervensystem nur auf eine Weise er-
klärt werden; man muss vielmehr versuchen, die Fälle festzustellen, in
denen es einmal durch Trennung der beiden Hälften einer einfachen, aber
symmetrischen Anlage, ein andres Mal aber durch einfaches Festhalten der
ursprünglich schon vorhandenen Trennung entstanden sei. Es lässt sich
dann weder die eine, noch die andre Form des Nervensystems als die
eigentlich embryonale bezeichnen; sie sind es beide oder auch nicht.
Diese Frage jetzt schon zur Entscheidung zu bringen, fehlen mir
einstweilen die Mittel. Ich unterlasse es daher auch, hier über die in
dieser Richtung bisher angestellten Untersuchungen zu berichten, da ich
hoffe, in nächster Zeit schon Gelegenheit zu endgültiger Erledigung zu
bekommen,
III. Sympathieus und vagus der Anneliden.
Schliesslich muss ich noch Einiges über das sympathische Nervensystem
bemerken. Man weiss, dass Leydig zuerst einen bei Anneliden vorkommenden
vagus von einem sympathicus unterschied; jener sollte nur den Vordertheil
des Darmes, den Schlundkopf ete. versorgen und vom dorsalen Schlund-
ganglion oder vom Schlundring entspringen, dieser dagegen aus Nerven
des Bauchmarks entstehen und an der Unterseite des hinteren Darmab-
schnittes verlaufen. Diese letzteren Nerven kennt Quatrefages gar nicht;
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 151
sein sympathieus entpricht dem Leydig’schen vagus, da er selbst angiebt )), |
er gehöre ausschliesslich dem KRüsseltheil des Darmes an und endige am |
Magentheil mit einigen Fasern.
Ueber den Leydig’schen Anneliden-sympathicus habe ich keine eigenen
Erfahrungen, dagegen kenne ich seinen vagus sehr gut, sowohl von
Oligochaeten, wie Polychaeten. Ich kann für alle von mir bisher unter-
suchten Formen die Leydig’sche Angabe bestätigen, dass er ausschliesslich
oder doch fast so dem Schlundkopf angehört; wenn seine hinteren Nerven
doch einmal auf den eigentlichen Darm übergreifen, so endigen sie an
diesem immer sehr früh.
Ebenso finde ich in Uebereinstimmung mit (Quatrefages?), dass sein
sympathicus — also der von Leydig als vagus gedeutete Nerv — bei den
Sabellen und Terebellen sehr schwach entwickelt ist, bei den Serpuliden
und bei Aonis aber gänzlich fehlt. Von den hier genannten Formen
sehört Aonis zu den Nerinidae (nach Quatrefages), die andern sind soge-
nannte Kopfkiemer. Aonis habe ich selbst nicht untersuchen können. Bei
echten Kopfkiemern aber (Sabella, Serpula etc.) finde ich am Kopfkiemen-
büschel Nerven, welche mit dem dorsalen Schlundganglion in genau der-
selben Verbindung stehen, wie es der vagus am ausgestülpten Schlund
einer Polynoe oder Nephthys thut. Man könnte daraufhin den Versuch
wagen, die Tentakelnerven der Kopfkiemer mit dem echten vagus
der Oligochaeten oder der Nereiden zu vergleichen, oder bei einer
Gleichstellung derselben dann auch den Kiemenkranz einer Sabella mit
einem Rüssel einer Nephthys oder Schlundkopf einer Nais zu identificiren.
Die dabei sich ergebenden Schwierigkeiten — welche vor Allem darin
gipfeln, dass ein vagus auch bei solchen Gattungen (Aonis) fehlen soll,
welche der dem Schlundkopf aequivalenten Kopfkiemen entbehren —
sind durch meine auf diesen Punkt gerichteten Untersuchungen nicht ganz
zu beseitigen, weil ich bis jetzt überhaupt eine zu geringe Zahl von
Gattungen erhalten habe, vor Allem aber Aonis nicht untersuchen konnte.
Doch gehörte zu einem vollgültigen Nachweis der Richtigkeit dieses Ver-
gleiches auch eine Untersuchung der Entstehungsweise der Kiemen bei den
Sabellen und den verwandten Formen; denn sollen ihre Kiemennerven
wirklich dem vagus der Nereiden gleichzustellen sein, so muss die
Bildungsweise ihres Kiemenbüschels mit derjenigen des Schlundkopfes oder
Rüssels wenigstens dem Typus der primären Anlage nach übereinstimmen.
!) Quatrefages, Histoire naturelle des Annelides, T. I, p. 84—87,
A) I, © 0: 80
152 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.,
$.6. Die Entstehung des Nervensystems bei Anneliden.
Die Entwicklungsverhältnisse des Anneliden-Nervensystems sind so gut
wie unbekannt: wir wissen nur, dass die Ganglienkette aus einem der
Bauchfläche angehörenden Keimstreifen hervorgeht. Ueber die Entstehung
des dorsalen Schlundganglions liegen kaum Andeutungen vor.
Was zunächst die Bildungsweise der Ganglienkette betrifft, so rühren
die ersten Angaben darüber von Grube!) her. Er sagt nur, dass derselbe
aus dem bauchständigen Keimstreifen entstehe; über die ferneren histolo-
gischen Vorgänge giebt er nach dem Gebrauch der damaligen Zeit nur un-
senügenden Aufschluss. In dem posthumen, durch Leuckart?) heraus-
gegebenen Werke Rathke’s über die Entwickelung der Hirudineen finden
sich nur wenig tiefer dringende Beobachtungen. Das Wichtigste ist m dem
hier wörtlich eitirten Satz angegeben: „Wie bei Nephelis, so scheidet sich
auch bei den Clepsinen ein jedes dieser Täfelchen (der Ursesmente des
bauchständigen Keimstreifens nämlich) in zwei neben einander liegende
Hälften, von denen die eine, die der Medianlinie des Körpers anliegt, zu
einem Theile des Bauchmarkes wird, während sich die andere in ein
plattes und dünnes Bündel quer verlaufender Muskelfasern entwickelt“.
Auch von Leuckart?) erfahren wir nur, dass die Bauchganglienkette aus
dem Primitivstreifen enitstehe. Es sind dies meines Wissens die einzigen
Untersuchungen neueren Datums über Hirudineen; sie sind alle vor jener
Periode gemacht, zu welcher man angefangen hat, in entschiedener Weise
die Keimblättertheorie auf alle Wirbellosen anzuwenden. Wir dürfen
uns daher nicht darüber wundern, wenn wir aus ihnen nichts über die
Betheiligung des Ectoderms am Aufbau des Nervensystems lernen, und alle
Beobachter sich damit begnügen, die Entstehung der Ganglienkette einfach
aus Flächenbildern oder Zerzupfungspräparaten zu construiren.
Die einzige*) Andeutung, welche sich vielleicht auf eine Betheiligung
1) Grube, Untersuchungen über die Entwickelung der Anneliden. Königs-
berg 1844.
2) Rathke, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Hirudineen. Leipzig 1862.
3) Leuckart, Die menschlichen Parasiten. 1863.
') Metschnikoff macht allerdings in einer vorläufigen Mittheilung Angaben über
Clepsine (Beiträge z. EntwickIng. ein. nied. Seethiere. Bullet. Acad. St. Petersbourg,
T. 15 1871, p. 502), die indessen ohne Abbildung nur schwer verständlich sind. Er
spricht von zwei Blättern des Keimstreifens, von denen er das mehr äussere mit
dem dritten einschichtigen dem oberen Blatte des Scorpions, also dem Eetoderm gleich-
stellt. Da nun aus jenem das Nervensystem hervorgehen soll, so würde hier eine
Uebereinstimmung mit Kowalewsky vorliegen, aber ein Widerspruch gegen Leuckart
und Rathke. Das zweite innere Blatt des Keimstreifens soll direct auf dem Dotter
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 153
der Eetoderms an der Bildung des Bauchstranges beziehen lässt, findet sich
bei Leuckart. Er beschreibt ') in der Mittellinie zwischen den zwei Hälften
des Primitivstreifens „eine helle Furche, die ziemlich bald von den sich
rasch entwickelnden Längsfasern ein etwas streifiges Ansehen annimmt.“
Weiterhin sagt?) er dann: „die Eintwickelung der Ganglien geht von dem
Innenrande der einzelnen Felder (der Ursesmente) aus und geschieht da-
durch, dass dieser zapfenförmig in die Längsfurche zwischen den beiden
Hälften des Primitivstreifens hineinwächst, sich an den hier, wie erwähnt,
schon früher vorhandenen Längsfaserstrang anlegt und schliesslich von der
übrigen Zellmasse des Feldes abtrennt. Ein jedes Ganglion entsteht aber
aus zwei Hälften .. “ Offenbar hat Leuckart keine Querschnitte ge-
macht; diese würden ihm vermuthlich gezeigt haben, dass zwischen den
zwei, aus den mittleren Theilen der Ursegmente herstammenden Ganglien-
zelloruppen noch eine dritte unter dem medianen Faserstrange lag, welche
den von Leydig zuerst bei Nephelis, Clepsine etc. gesehenen mittleren
Ganglienzellen entsprechen würde.
Durch Kowalewsky ?) werden diese Angaben vollständig verändert.
Er sagt ausdrücklich ®), dass die Angabe Rathke’s, es entstünden die Gang-
lien aus den medialen Theilen des Keimstreifens, also aus dem mittleren
Blatte, ganz falsch sei, da sie vielmehr „als paarige Verdickungen des
oberen?) (i. e. äusseren) Blattes, welche beiderseits der Mittellinie liegen“,
liegen, dieses spaltet sich allein in Ursegmente, und es gehen aus ihm die äussere
(vielleieht auch die innere, i. e. Entoderm) Schicht des Mitteldarmes, der sogen.
Fettkörper und die Segmentalorgane hervor. Ueber Bildung der Musculatur sagt er
nichts. Hiernach würde also das Mesoderm gänzlich aus dem Entoderm hervor-
gehen; dagegen geben andre Beobachter wieder ausdrücklich für die Gliederthiere an,
dass der Keimstreifen d. h. also das Mesoderm sich aus dem Ectoderm abspalte. Es
können, wie man sieht, auch die Metschnikoff’schen Beobachtungen, die wohl
immer noch einer ausführlicheren Publication harren, in keiner Weise zur Ent-
scheidung über den im Text hervorgehobenen Gegensatz der Anschauungen Ko-
walewsky’s, Leuckart’s und Rathke’s dienen,
!) Leuckart ]. 1. p. 702.
2) Leuckart ibid. p. 703.
®) Kowalewsky, Embryologische Studien an Würmern und Arthropoden. Mem.
d. Y Acad. d. Se. d, St. Petersbourg VII. Ser. T. XVI. 1871.
4) Kowalewsky, ibid. pag. 18.
5) Kowalewsky, ibid. Kowalewsky spricht in der hier angezogenen Arbeit be-
ständig vom oberen Blatt, wo er hätte vom äusseren Blatte sprechen sollen; alle
seine Angaben ohne Ausnahme, die er über Entwicklung des Nervensystems macht,
beziehen sich ausschliesslich auf die bauchständige Ganglienkette. Dies erschwert
natürlich das Verständniss sehr und kann oberflächliche Leser leicht irre führen, wie
154 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
auftreten. Diese Angabe macht er entschieden und nahezu gleichlautend
für Euaxes und Lumbricus, zwei Gattungen, welche den Oligochaeten an-
scehören, während die Rathke’schen Beobachtungen, sowie die von Leuckart
und Grube, sich ausschliesslich auf Hirudineen beziehen. Es wäre also,
wenngleich ungemein auffallend, immerhin möglich, dass die beiden extremen
Angaben in ihrem Gegensatz zu Recht bestünden; das hiesse dann nur,
dass bei den Hirudineen sich die Bauchganglienkette aus dem Mesoderm,
bei den Lumbrieinen aus dem Ectoderm entwickle.
Es wäre aber auch ebenso gut möglich, dass alle bisherigen Beobach-
ter zum Theil Recht hätten, zum Theil auch Unrecht; es liesse sich denken,
dass Kowalewsky ebenso gut an den Durchschnittsbildern die Betheiligung
des mittleren Blattes am Aufbau der Ganglien, wie Rathke und Leuckart
die des Ectoderms übersehen hätten. ‘Diese Annahme könnte streng ge-
nommen nur durch Nachuntersuchung derselben Objecte als richtig be-
wiesen werden; die gleich mitzutheilenden Beobachtungen an knospenden
Naiden machen sie indessen so wahrscheinlich, dass ich meinerseits glaube,
einstweilen der Wiederholung der Untersuchungen Anderer entrathen
zu können.
Noch viel ungenügender sind die Angaben über die Entstehung des
sogenannten Gehirns d. h. der dorsalen Schlundganglien. Kowalewsky sagst
in der angezogenen Arbeit kein Wort davon; er spricht zwar von einer
Medullarplatte bei Lumbricus, aber es gehört in der That eine starke
Phantasie °) dazu, in seiner Beschreibung auch nur die leiseste Andeutung zu
finden, als hätte er aus diesen Medullarplatten das Gehirn entstehen sehen.
Er bezieht dieselben vielmehr ausdrücklich auf die Bauchganglienkette, und
er erwähnt, hier wie bei Euaxes, des Gehirns mit keinem Wort.
Bestimmter drückt sich Leuckart aus. Er sast in seinem Parasiten-
werk °): „Die Bildung des Gehirns geschieht unabhängig vom Primitivstreifen,
durch Entwickelung eines Zellenstranges, der bogenförmig die Mundöffnung
umfasst und sich an die vordern Ecken des Primitivstreifens anlest, ohne
das Haeckel begegnet zu sein scheint, der in seiner Anthropogenie einen Durchschnitt
durch einen Regenwurmembryo abbildet, welcher in allen wesentlichen Punkten falsch
ist, und nach Kowalewsky gerade umgekehrt liegen sollte.
1) Ueber Entwickelung des Regenwurms haben auch noch Ratzel und Wenachuy Zul
(Z. f. w. Z. 1868, Bd. 18) geschrieben.
2) Leuckart, 1, e. pag. 705.
®2) s. Gegenbaur, Grundriss der vergleichenden Anatomie p. 148: Eine dorsale
Medullarplatte sondert sich ...... . zu einem allmählich in’s Innere gelangenden
Nervencentrum .....“
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehunsen der gegliederten Thiere. 155
jedoch gleich Anfangs damit in eine continuirliche Verbindung zu treten.
Da derselbe überdies eine Anfangs nicht eben sehr beträchtliche Dicke be-
sitzt, so kann man ihn leicht übersehen, bis die charakteristische Form des
Hirns später ein Verkennen unmöglich macht. Allerdings tritt diese Form
nicht gleich von Anfang an hervor. Man erkennt zunächst nur zwei ein-
fache seitliche Anschwellungen, die rechts und links vor der Mundöffnung
selegen sind und durch eine ziemlich lange Comissur sowohl unter sich,
als auch mit den jetzt hornförmis ausgezogenen Vorderenden der Unter-
schlundganglienmasse zusammenhängen. Die Lappenbildung am Hirn tritt
erst später auf. Sie fällt ungefähr in dieselbe Zeit, in der auch die Unter-
schlundsanglienmasse ihre ursprünglich einfache Form verändert.“
s Rathke drückt sich in Bezug auf das Gehirn von Nephelis gleich-
falls recht bestimmt aus. Er sagt‘): „Das Gehirn... . erschien mir,
als ich es zuerst gewahr werden konnte... . unter der Form eines Halb-
sürtels oder Bogens, der auf der oberen Seite des Schlundkopfes lag,
allenthalben eine gleiche und im Verhältniss zu seiner Länge ziemlich
grosse Breite und Dicke hatte, und an seinen Enden abgerundet war......
Bei Embryonen, die schon eine viel bedeutendere Ürösse erlangt hatten,
aber noch immer einen kugelförmigen Rumpf besassen, kam statt eines
solchen Bogens ein offener und aus kleinen rundlich- eckigen Zellen be-
stehender Ring vor, der den Schlundkopf von oben her umfasste, und mit
seinen mässig weit von einander abstehenden Enden in die ungefähr drei-
mal breiteren Bauchplatten überging. Der mittlere oder ursprünglich vor-
handene und auf dem Schlundkopfe liegende Theil dieses Ringes war ver-
hältnissmässig etwas breiter, als bei den jüngeren Embryonen, und von
oben her etwas abgeplattet. Die seitlichen Theile desselben, die erst später
sich gebildet hatten, waren dagegen strangförmig, etwas dünner als jener
mittlere, und ungefähr dreimal dünner, als die Bauchplatten in der Nähe
ihres vordern Endes.“
Ich habe absichtlich diese Angaben Rathke’s und Leuckart’s wörtlich
wiedergegeben, um dem Leser gleich die Ueberzeugung zu verschaffen, dass
bei Keinem ein Wort von dorsalen Medullarplatten vorkommt, aus denen
sich das Gehirn entwickeln könnte, und zweitens, dass Keiner von Beiden
den Entstehungsort genau bestimmt. Man hört von ihnen nur, dass das
Gehirn unabhängig vom Bauchstrang auftreten soll; ob es aus dem Meso-
derm oder Ecetoderm entstehe, erfährt man nicht. Der Eine, Rathke, lässt
?) Rathke, 1. c. pag. 49 sqq. $ 29.
156 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
es als Bogen auf dem Schlunde, der Andere !) in zwei seitlichen, nachher
zu einem dorsal gelegenen Bogen verwachsenden Anschwellungen entstehen.
Diese Beobachtungen stehen mit meinen Erfahrungen über die Ent-
stehung des sogenannten Gehirns bei knospenden Naiden theils in Wider-
spruch, theils in Einklang. Da ich diesen Punkt später ausführlich zu
discutiren haben werde, unterlasse ich es hier, wo es mir nur darauf an-
kam, das meiner Ansicht zum Theil entgegenstehende Beobachtungsmaterial
zu sammeln.
Andere brauchbare Untersuchungen über diesen Punkt sind mir nicht
bekannt. Es stammen also, wie. man sieht, alle Angaben über die Ent-
stehung des sogenannten Gehirns bei Anneliden aus einer Zeit, zu welcher
man weder die scharfe Unterscheidung der drei primitiven Keimblätter
auch bei Wirbellosen übte, wie sie jetzt gebräuchlich ist, noch auch die
einzige, brauchbare Methode der Herstellung von Querschnittsreihen in
consequenter Weise anwendete. Wirkliche Beweiskräftigkeit können daher
diese älteren Angaben erst dann erlangen, wenn sie durch neuere Unter-
suchungen bestätigt worden sind; und ein Zweifel an ihrer völligen Rich-
tigkeit ist um so mehr gerechtfertigt, als sowohl Kowalewsky’s, wie meine
eigenen Untersuchungen, die mit den neuesten Methoden gewonnen wurden,
gezeigt haben, dass alle früheren Beobachter die Betheiligung des Eetoderms
am Aufbau der Ganglienkette der Anneliden gänzlich übersehen haben.
Die Angaben endlich, welche wir über die erste Entstehung ?) des
Nervensystems der Meeresanneliden besitzen, sind vollständig unbrauchbar,
Das Einzige, das wir aus ihnen entnehmen können, ist die Thatsache, dass
bei den freischwimmenden Larven sehr frühzeitig am Kopfpol zwei Augen
auftreten; wie sie selbst und das sie innervirende Ganglion entstehen, ist
gänzlich unbekannt. Ebensowenig liegen auch nur die bescheidensten An-
‘) Leuckart’s Worte sind mir nicht recht verständlich; ich weiss nicht recht,
ob ich seine Meinung treffe, wenn ich sage, dass er den Hohlring auf dem Schlunde
durch Verwachsung zweier vorher vorhandener, seitlicher Anschwellungen ent-
stehen lässt.
*) In der ganzen, so reichhaltigen Literatur über Meeresanneliden finde ich nur
einige gelegentlich gemachte Aeusserungen von Claparede über diesen Punkt, Sie
sind aber so wenig erschöpfend, dass ich bekenne, nichts mit ihnen anfangen zu
können; er sagt zwar z. B. in Bezug auf Terebella, dass das Gehirn dorsal entstehe;
aber aus seiner Angabe, dass er die ersten Spuren desselben bei Larven mit sieben
vollständig ausgebildeten Gliedern gesehen habe, geht hervor, dass ihm die ersten
Vorgänge in der Bildung des Nervensystems völlig unbekannt geblieben sind. Die in
diesem Punkt allein zum Ziel führende Methode der Querschnitte ist von ihm nie
angewandt worden.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 157
sprüche befriedigende Angaben über die Entstehung der Bauchganglienkette
bei den Ringelwürmern des Meeres vor.
S. 7. Die Stellung der Frage.
Aus dem Vorangehenden ergiebt sich, dass wir die primäre Herkunft
des sogenannten Gehirns bei den Anneliden eigentlich nicht kennen, und
dass in Bezug auf die der Ganglienkette zweierlei diametral entgegen-
stehende Ansichten geäussert worden sind.
Diese Widersprüche und Gegensätze müssen versöhnt und ausgeglichen,
die Lücken ausgefüllt werden, ehe sich eine Entscheidung über die eine zu
Grunde liegende Frage geben lässt: welche Theile des Nervensystems der
Anneliden dem der Wirbelthiere gleichzustellen seien. Wenn es wahr ist —
wie Rathke und Leuckart wollen —, dass die Bauchganglienkette aus den
Ursegmenten entstünde: so wäre sie höchstens, wofern man mit Leydig
und mir die Vergleichbarkeit überhaupt zugiebt, mit der Spinalganglienkette
der Wirbelthiere zu identificiren, da nur diese paarweise aus den Urwirbeln
entstehen sollen. Ist dagegen richtig, was Kowalevsky ebenso entschieden
behauptet, dass die Ganglienkette nur aus dem Eetoderm ohne Betheiligung
der Ursegmente des Mesoderms entsteht, so wäre sie — die Vergleich-
barkeit überhaupt zugegeben — nach den bisher vorliegenden Angaben
ausschliesslich dem Medullarrohr der Wirbelthiere gleichzustellen. Will
man endlich den Bauchstrang der Anneliden gänzlich von der Vergleichung
ausschliessen, dem centralen Nervensystem der Vertebraten aber nur das
dorsale Schlundganglion gleichstellen, so muss man für dieses letztere
die Entstehung aus Medullarplatten nachweisen, welche ihrem ersten Ur-
sprung nach dem Medullarrohr der Wirbelthiere zu identificiren wären. Dies
letztere ist nach den fast ausschliesslich vorliegenden Beobachtungen
Rathke’s und Leuckart’s nicht möglich, und die einzige scheinbar positive
Angabe Beider, es entstünde das Gehirn auf dem Rücken, gestattet in
keiner Weise den ganz willkührlich von gegnerischer Seite her still-
schweigend gemachten Schluss, als sei eben wegen dieser — doch nur be-
haupteten, aber nicht entfernt erwiesenen — dorsalen Entstehung desselben
die Identität mit dem Gehirn der Wirbelthiere bewiesen.
Es handelt sich hiernach um die drei Fragen: 1) aus welcher Em-
bryonalschicht entsteht das dorsale Schlundganglion der Anneliden; 2) ent-
wickelt sich die Bauchganglienkette nur aus dem Mesoderm (Leuckart,
Rathke), oder 3) aus dem Ectoderm (Kowalewsky). Alle drei lassen sich
zusammenfassen in der einen Frage: besteht entwicklungsgeschichtlich der
bisher angenommene, und im ausgebildeten Thier so scharf ausgeprägte
158 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Gegensatz zwischen dem dorsalen Schlundganglion und der Bauchganglien-
kette der Anneliden wirklich, oder nicht ?
Entgegen dem zunächst liegenden Gedanken, diese Frage an den Ent-
wicklungsvorgängen im Ei zu untersuchen, zog ich es vor, ihre Beantwortung
auf anderem Wege zu versuchen. Ich ging von der Hypothese aus, welche
Grundlage unserer modernen morphologischen Untersuchungen ist: dass
kein Glied eines Thierkörpers auf zweierlei typisch verschiedene Weisen
innerhalb homologer Gruppen entstehen könne. Das heisst im vorliegenden
Falle: das sogenannte Gehirn und Bauchmark müssten trotz der verschie-
denen Entstehungsweisen der Individuen immer an derselben Körperregion
auftreten, es könnte das Gehirn nicht einmal am Bauche, ein anderes Mal
auf dem Rücken gebildet werden, oder einmal aus dem Mesoderm, das
andere Mal aus dem Ecetoderm (vorausgesetzt, dass die Gliederung in die
drei Keimschichten überhaupt früher aufträte, als die Abspaltung des
Gehirns). Giebt man dies zu, so muss man auch annehmen, dass das
dorsale Schlundganglion einer Nais, welche durch Knospung entstanden ist,
nicht ventral gebildet werden könne, wenn es im Embryo dorsal aufträte,
oder überhaupt, dass es auch bei der Knospung in ähnlicher Weise ent-
stehen müsse, wie im Embryo.
Es liessen sich gegen diese hypothetische Grundlage allerlei Einwen-
dungen machen. Die einzig gewichtige wäre, dass wir wissen, oder zu
wissen glauben, gar manche Glieder des Thierkörpers entstünden im
diametral entgegengesetzter Weise. Nach den Einen soll das Mesoderm
aus dem Ectoderm, nach Andern aus dem Entoderm oder selbst gar durch
secundäre Verschmelzung zweier ursprünglich getrennter Blätter entstehen.
Ein einziger Beobachter giebt an, es bildeten sich die Spinalganglien der
Vertebraten direct aus dem Centralnervensystem, während die Mehrzahl
und die erprobtesten Untersucher sagen, dass sie Theile der Urwirbel, also
des Mesoderms seien; das Medullarrohr entsteht bei Wirbelthieren bald
durch Schliessung einer Rückenfurche, bald durch Aushöhlung eines soliden
Zellstranges; das Entoderm selbst bald durch Einstülpung (echte Gastrula
nach Häckel), bald durch Aushöhlung (gefälschte Gastrula Häckel). Genug
der Beispiele. Sie erweisen, dass wir entweder die ersten Gliederungen
der Keimblätter in ihre Ogane noch nicht recht verstanden haben — da
wir sie einstweilen nicht auf gemeinsame und gleiche Anfänge zurückführen
können —, oder dass in der That eine Homologie in dem gewöhnlichen
Sinne des Wortes nicht durchführbar ist.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 159
Ich meinerseits glaube nun allerdings, dass eine solche doch allmälig!)
anzuerkennen sein, und dass damit auch die Möglichkeit der Aufstellung
homologer Gliederungen innerhalb der ganzen Thierreihe gegeben werden
wird; und weil ich dies annehme, glaube ich auch das Recht zu haben,
die Entstehungsweise des Nervensystems der Anneliden — zunächst
wenigstens — an den durch Knospung erzeugten Individuen verschiedener
Naidinen zu untersuchen, ohne mich sonderlich darum zu kümmern, ob bei
dem Embryo die identischen Vorgänge nachzuweisen seien oder nicht.
Wer diese letztere Untersuchung für allein beweisend ansieht, zeigt damit
nur, dass er im Grunde genommen die morphologische Verschiedenheit des
dorsalen Schlundganglions für möglich hält, je nachdem das eine Zooid
aus dem Ei, das andere aus der Knospe entstanden sei; und er würde,
wenn es ihm gelänge, die als möglich angenommene Verschiedenheit in der
Entstehungsweise des Gehirns wirklich als zu Recht bestehend nachzuweisen,
damit nur bewiesen haben, dass nicht einmal unter Eltern und deren
Kindern von einer Homologie eines ihrer wichtigsten Organe?) — des
1) Ich muss hier wiederholt und nachdrücklich darauf hinweisen, dass ich den
Beweis wirklicher Homologie z. B. zwischen den Keimblättern verschiedener Thiere
noch nicht als erbracht ansehen kann; das hindert aber nicht im Mindesten, dass
man sie annimmt und nun als Ausgangspunkt neuer Untersuchungen benutzt, um
festzustellen, ob die weitere Gliederung der als homolog angenommenen Blätter nun
auch zur Erkennung von Homologien der mehr und mehr sich differenzirenden
Glieder jener Keimblätter führt oder nicht. Gelingt es, durch jene hypothetische
Annahme wirklich eine grössere Menge von Homologien festzustellen, als ohne sie,
so wird dadurch natürlich die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit gestützt, aber
freilich nicht bewiesen. Der Beweis der morphologischen Identität der drei Keim-
blätter aller Thiere könnte weder hierdurch, noch durch eine Hypothese & la Gastraea
oder die willkührliche Fixirung eines Furchungspoles nach Götte geschehen, sondern
ausschliesslich durch den mittelst Beobachtungen gelieferten inductiven Nachweis,
dass alle die verschiedenen Weisen der Blätterbildung nur Modificationen eines und
desselben Typus seien. Diesen letzteren hat weder die Gastraea noch irgend eine
andere Hypothese bis jetzt gefunden.
?) Durch eine neuere Kowalewsky’sche Untersuchung scheint dies in der That
für die Aseidien bewiesen zu sein; er sagt ausdrücklich, dass aus dem äusseren
Blatt der Knospe nur die Epidermis würde, das Nervensystem aber aus dem Entoderm
entstünde, Mir scheinen seine Angaben nicht beweisend zu sein; seine Abbildungen
lassen vielleicht auch eine andere Auffassung zu. Sollte sich indessen herausstellen,
. dass das, was Kowalewsky Entoderm nennt, wirklich Entoderm sei und seine Angaben
über die Entstehung des Nervensystems aus demselben bei der Knospe vollständig
richtig wären, so würde ich der Erste sein, der zugäbe, dass von einer auf genealo-
gischen Zusammenhang deutenden Homologie der einzelnen Organe oder der Em-
160 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Gehirns — gesprochen werden könne. Damit aber wäre die thierische
Morphologie zu Grabe getragen.
Ich meinerseits fusse nun auf der entgegengesetzten Annahme, dass
eine morphologische Identität wahrscheinlicher sei, als Mangel derselben;
ich halte daher auch die bei der Untersuchung der Knospungserscheinungen
gewonnenen Resultate für beweisend und ich überlasse die Mühe, ihre Un-
richtigkeit durch die Untersuchung an Embryonen zu zeigen, denjenigen,
welche Opposition A tout prix dem ihren Anschauungen Widerstrebenden
machen, oder welche sich der wohl hoffnungslosen Aufsabe unterziehen
wollen, die Lehre von den embryonalen Homologien bei den Thieren zu
vernichten. Denn gelänge es Jemandem, zu zeigen, dass in dem speciellen,
hier zu untersuchenden Falle, einmal das Gehirn durch Verdickung aus
einer dorsal liegenden (Ectoderm-) Medullarplatte, das andere Mal, wie ich
gleich zeigen werde, vom Bauche und den Seiten her aus dem Keimstreifen
und aus einer seitlichen Neuanlage entstünde: so wäre damit der Beweis
gegeben, dass in der That von einer morphologischen Vergleichbarkeit
einzelner Glieder des Thierkörpers überhaupt nicht die Rede sein könne,
Vorausgesetzt ist dabei, dass das angenommene Resultat wirklich bewiesen
wäre, und dass es unmöglich sein müsse, die so erkannte diametrale Ver-
schiedenheit in der Entstehung desselben Organs im Embryo und in der
Knospe auf einen, beiden Vorgängen zu Grunde liegenden noch einfacheren
Process zurückzuführen.
Bei der nun vorzunehmenden Untersuchung über die Bildungsweise des
Nervensystems der Naiden bin ich indessen genöthigt, den Vorgang ihrer
Knospenbildung nach allen Richtungen hin zu untersuchen, da sich ohne
Bezugnahme auf die Entstehung auch anderer Organe keine vollständige
Antwort auf jene Hauptfrage geben lässt. Es werden sich dabei eine
bryonalschichten nirgends mehr die Rede sein könne. Ganz das Gleiche habe ich
auch gegenüber den Nitsche’schen Angaben über die Entstehung der Organe in den
Bryozoenknospen zu sagen; auch diese scheinen mir, so wie sie liegen, zu keinem
entschiedenen Auspruche zu berechtigen. Auch die Leuckart'schen Beobachtungen
über Echinorhynchen kann ich nicht für ganz beweiskräftig halten, da es mir nicht
ausgemacht zu sein scheint, dass in der That die Zellschicht, die er Mesoderm
nennt, auch wirklich solche sei. Die Schichtungsverhältnisse der Embryonen dieser
Thiere scheinen mir nach seinen eingehenden Untersuchungen so eigenthümlich, dass
ich meinerseits nicht wagen möchte, sie in der von Leuckart versuchten Weise zu
deuten. Man könnte dann auch leicht z. B. bei den Ammen der Cercarien, speciell
den Redien, dazu kommen, die Cercarien mit allen ihren Theilen als aus dem Meso-
derm hervorgehend anzusehen, da sie aus einer Schicht der Amme entstehen, welche
man ihrer Lagerung zwischen Darm und Muskelschicht nach als Mesoderm aufzu-
fassen genöthigt ist.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere. 161
Menge neuer, ungeahnter Beziehungen ergeben, welche theils die Blätter-
bildung, theils die Entstehung der Segmente und grossen Körperabschnitte
bei Anneliden mit den homologen Theilen bei Wirbelthieren und Glieder-
thieren zu verbinden geeignet sind: Resultate, die zwar auch so schon ver-
werthet werden können, nach mancher Richtung hin aber der Erweiterung
und Bestätigung bedürfen. Diese hier zu geben, war unmöglich, da ich
mich sonst von dem eigentlichen Thema allzuweit hätte entfernen müssen ;
dieses Thema ist, ich wiederhole, der Versuch, den Beweis vollständiger
morphologischer Identität vieler Organe der Vertebraten und der Anne-
liden durch die. Untersuchung der Knospungserscheinungen bei den Naiden
zu geben.
II. Abschnitt. Die Knospung der Naiden.
$.8. Die Knospungserscheinungen von Nais proboscidea
und barbata.
A. Historisches.
Der verdienstvolle O0. F. Müller !) ist der erste Zoologe, welcher die
Knospung der Naiden einer sorgfältigen Untersuchung unterzog. Thatsäch-
lich haben alle neueren Beobachter, bei mannigfacher Erweiterung seiner
Ansaben, keine speciell neuen Thatsachen dem von ihm Gegebenen hinzu-
zufügen gewusst, und alle späteren Untersuchungen sind nicht im Stande,
das Wesen des Vorganges weiter aufzuklären, als es schon Müller im Jahre
1771 gethan hat. Seine Hauptresultate sind (abgesehen von den ungemein
sorgfältigen und vollständigen Detailangaben) folgende:
1) Bei Nais proboseidea bildet sich durch Verlängerung des natür-
lichen Afterendes, welches er „Aftergelenk“ nennt, und durch Theilung
dieser Verlängerung in einzelne „Gelenke“ eine grössere Menge von Seg-
menten aus, die er alle als aus dem „Aftergelenk“ entstanden ansieht; er
siebt ferner an, dass das erste Glied am weitesten nach vorn zu liest, und
die jüngeren immer die hintersten sind. Dieses aus mehreren Gliedern be-
stehende „Aftergelenk“* wird dann durch einen jenseits der Mitte des After-
selenkes auftretenden schwärzlichen Querstrich getheilt- und aus dieser Zone
entsteht der Kopftheil des Thieres.. Das vordere Thier aber hat auch
wieder ein neues Aftergelenk erhalten, welches an das Kopfglied des alten
anstösst; es wächst dasselbe abermals aus, und durch einen zweiten
„schwärzlichen Querstrich“ wird das zweite segmentirte Aftergelenk
!) O0. F. Müller, Naturgeschichte einiger Wurmarten des süssen und salzigen
Wassers, Neue Ausgabe. Kopenhagen, 1800. (Die erste erschien 1771).
162 SEMPER:; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
wiederum in einen Kopf und in ein dem alten Thier zukommendes drittes
Aftergelenk geschieden.
Dieser Vorgang wird von Müller als „Zeugung aus dem Aftergelenk“
bezeichnet (p. 38), und er setzt dann ausdrücklich hinzu: „sie ist die ge-
meinste Art der Fortpflanzung der Naiden; es giebt eine andere, die beim
ersten Anblick von dieser verschieden zu sein scheint, im Grunde aber
dieselbe ist.“
2) Auch die eigentliche Theilung hat Müller gekannt. Er habe, so
sagt er, öfter Würmer von mehr als vierzig Gelenken besessen, bei denen
keine Spur des „schwärzlichen Querstrichs“, der so charakteristisch für die
Zeugung aus dem Aftergelenk wäre, zu bemerken sei; eines der mittelsten
Gelenke verlängere sich, dann trete der entscheidende Querstrich auf und
nun trenne sich, nach Entwickelung eines Rüssels und der Augen,- die
Naide „fast in der Mitte in zwei“. Und nun fügt er hinzu: „Dann, nach
der gemeinsten Art der Fortpflanzung bildet sich der Kopf und entwickelt
sich zugleich mit dem übrigen Leibe des neuen Wurms in dem After-
Gelenke; hier aber erscheint er, oder die Anzeige der künftigen Trennung,
erst alsdann, wann der übrige Theil des Leibes fast die völlige Grösse er-
halten hat.“
Weiterhin zeigt er dann durch seine Experimente,“ und drückt dies
auch klar in Worten aus, dass bei N. proboscidea der Mutternaide durch
die Zeugung aus dem Altergelenke immer mehr Glieder (Gelenke) geraubt
würden, sodass sie schliesslich bis auf 16. redueirt wird ; dann wächst sie hinten
wieder aus und nun tritt eine Theilung ein. Müller braucht dies letztere
Wort allerdings nicht, aber es ist klar, dass er der „Zeugung aus dem
Aftergelenk“ denjenigen Vorgang der Vermehrung gegenübergestellt hat, den
aan allein als Theilung bezeichnen kann.
Auf dieser Anschauung fussen alle neueren Beobachter; sie führen sie
im Detail mehr aus, so namentlich Minor und Tauber; aber Keinem gelingt
es, die Andeutung von Müller, dass beide Vorgänge doch nur Varianten
derselben Vermehrungsweise seien, als richtig zu erweisen. Auch mir ist
dies nur durch gewisse Glücksfälle und die consequente Anwendung ganz
moderner Untersuchungsmethoden gelungen.
B. Eigene Beobachtungen.
Untersucht wurden von mir vorzugsweise drei Arten: Nais barbata,
Nais (Stylaria) proboscidea und Chaetogaster diaphanus. Angestellt wurde
die Untersuchung theils in Kissingen, theils hier in Würzburg; dort
wurden vorzugsweise ganze Thiere lebend oder in durchsichtig gemachten
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 163
Lackpräparaten untersucht oder zu späterer Untersuchung vorbereitet, hier
in Würzburg hauptsächlich die durchaus nöthigen Schnittreihen angefertigt.
Von Nais proboscidea habe ich bis jetzt reichlich 30 brauchbare und
theilweise sehr gute Schnittreihen hergestellt, von Nais barbata über 40
und von Chaetogaster diaphanus mindestens 50.
Einige Worte über die vorhergehende Behandlung werden deshalb am
Platze sein, weil ich glaube, diesmal ausnahmsweise der Methode der
Präparation einen grossen Antheil am Erfolg zuschreiben zu müssen.
Bisher hat man die Knospung der Naiden immer nur an lebenden Thieren
untersucht. Diese bieten sich dem Beobachter fast ausnahmslos vom Rücken
oder Bauch dar; bringt man sie doch einmal in die Profillage, so sind sie
meist schon so misshandelt, dass man so gut wie Nichts mehr sieht. Man
kann indessen die Thiere zwingen, in der Profillage zu sterben: das Mittel
ist für Naiden Chromsäurelösung von dunkelweingelber Farbe, der man
gern etwa !/,, concentrirter Essigsäure zusetzen kann. Krümmen sich die
Thiere im Sterben stark, so kann man durch zwei Nadeln, die man am
Kopf und After an den Körper hält, die Streckung erzwingen. Be-
dingung für jedes gute Präparat ist möglichst rasches Sterben. Nach
einer halben Stunde, bei starkem Essigsäurezusatz oft schon nach zehn
Minuten, thue ich die Thiere auf 10 - 15 Minuten in gewöhnlichen
Sammlungsspiritus, dann ebensolange in etwas stärkeren und dann in
absoluten Alkohol. Die so zubereiteten Thiere lassen sich dann, da sie
fast alle in der Profillage liegen, sowohl zu Lackpräparaten der zusammen-
hängenden Colonien — ohne vorherige Färbung —, als auch nach Färbung
mit Carmin zur Herstellung von Querschnittreihen verwenden; der Zu-
sammenhang der Knospen mit dem Mutterthier ist dann fast immer ein so
inniger, dass man oft im Stande ist, durch mehrere, einer einzigen Colonie
angehörende Knospungszonen Querschnitte zu legen.
Ich schliesse die ganz gefärbten Thiere in Paraffın ein, nachdem ich
sie zuvor aus absolutem Alkohol in Terpentin gebracht habe. Dadurch
werden die dunkelroth gefärbten Thiere durchsichtig genug, um bei
schwacher Vergrösserung nach der Camera eine Profil-Zeichnung derjenigen
Theile machen zu können, welche zu schneiden nothwendig ist. Dies ist
durchaus nöthig, wenn man zu einem Verständniss der Querschnittreihen
gelangen will; man muss unbedingt und genau von jedem Schnitt in der
Zeichnung angeben können, wo er geführt wurde, da oft fundamentale Ver-
schiedenheiten in der Structur auf Entfernungen von je Yo — a, Milli-
‚ meter (der Länge des Thieres nach) eintreten. Ich habe ferner ausnahms-
‚ los jedes Thier für sich geschnitten, und auch, wenn bei einem etwas stark
t gekrümmten Thier der Schnitt vielleicht zwei Querschnitte von verschie-
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 12
164 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
denen Körperstellen ergeben hätte, den einen weniger wichtigen Körper-
theil vorher entfernt. Bei jeder meiner Querschnittreihen liegt eine Profil-
zeichnung bei, auf der ich da, wo jene mir sichere und brauchbare Re-
sultate ergaben, die Schnittstellen bezeichnete. Das gleiche Princip habe
ich bei meinen Zeichnungen angewandt; die Profilbilder sind den Umrissen
nach getreu nach dem Object mittels der Camera gezeichnet; um die wich-
tigen Abtheilungen der Knospungszonen, und ihre Ausdehnung zu bezeichnen,
habe ich eine conventionelle Schraffirung angebracht. Es entspricht dies
nicht dem natürlichen Verhalten; aber zur Erleichterung des Verständnisses
habe ich mir diese Freiheit gestattet. Auch glaube ich das Recht dazu zu
haben, weil ich mir in wesentlichen Dingen völligster Treue bewusst bin,
und weil ich weiss, dass eine mikroskopische Zeichnung immer conventionell
d. h. subjectiv sein muss, Ich wage zu behaupten, dass kein Mikroskopiker
je eine völlig getreue Zeichnung geliefert hat oder liefern kann. Ganz
getreu können nur die Conturen sein; mikroskopisches Licht und Schatten
sind mit den gewöhnlichen Zeichenutensilien des Mikrokopikers gar nicht
wiederzugeben. In einer getreuen Umrisszeichnung Abschnitte, Flächen
durch conventionelle Zeichen von einander abzusetzen, halte ich für erlaubt,
ja in vielen Fällen, so hier, für geboten. Mir sind die Zeichnungen nur
Erläuterungen für meine Beschreibung; den Beweis ihrer Richtigkeit er-
warte ich nicht durch ihren Anblick — der Schein trügt oft —, sondern
durch den Zusammenhang meiner Beschreibungen und Abbildungen, noch
lieber durch Nachuntersuchung von Seiten Anderer geführt zu sehen.
Ich unterscheide mit Müller die beiden Vorgänge der „Zeugung aus
dem Aftergelenk“ und der Theilung; diese letztere bedingt jene, und ist
genau, wie bei ihr, durch eine wirkliche Knospung neuer Segmente aus.
gezeichnet. Ich werde daher die ursprünglich ganz schmale Zone, welche
zwischen zwei alten Ringen den Knospungsprocess einleitet, als Knos-
pungszone bezeichnen. Jede Knospungszone enthält ausnahmslos zwei
gänzlich verschiedene Abtheilungen; die hintere wird zum Kopfende des
hinteren Thieres - ich werde diese die Kopfzone nennen --; die
vordere wird zum einstweiligen Hinterende des vorderen Thieres — ich
nenne sie Rumpfzone. Aus jener Kopfzone gehen bei den Naiden immer
nur eine geringe Zahl — höchstens 6 — von Segmenten hervor, die ich
als Kopfsegmente auffasse; aus dieser Rumpfzone entstehen in der längst
schon von Müller erkannten Weise, durch Segmentation von vorn nach
hinten, zahlreiche Segmente, welche die Rumpfsegmente bilden.
Jedes natürliche Rumpfende enthält immer nur eine Rumpfzone; erst wenn
sich durch ihr beständig fortgesetztes Wachsthum die Zahl der Rumpf-
segmente über das normale Maass hinaus vermehrt hat, schiebt sich
Da
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 165
zwischen zwei eine Knospungszone ein, welche genau, wie vorher, wieder die
hintere Kopfzone und die vordere Rumpfzone enthält.
Die Verbindung beider, ihre allmälige Umwandlung und die durch
sie bedingte Theilung des ersten Individuums in mehrere, die eine Zeitlang
colonienartig zusammenhängen, kann mannichfach wechselnd sein.
Auf diese Verhältnisse bei der Entstehung der Einzelthiere und ihre
Generationsfolge kann ich hier nicht eingehen; nothwendig ist es dagegen,
die histologischen Vorgänge — specielle wie allgemeine — beim Auftreten
und Umbilden der Knospungszone genau zu schildern. Als Voraussetzung
für das Verständniss derselben sehe ich die Entstehung der ausgebildeten
Körpersegmente an; ich beginne daher mit der Schilderung der Vorgänge,
wie sie am wachsenden Körperende einer ungeschlechtlichen Nais statt-
finden, und zunächst nur zur Ausbildung gewöhnlicher Rumpfsegmente führen.
B. I. Das Wachsthum am freien Afterende. — In genauer |
Profillage liegende Exemplare von Nais proboscidea und elinguis zeigen
(Taf. V, Fig. 13) ohne Weiteres, dass der Ganglienstrang dicht vor dem
After direct in die Epidermis übergeht.
Ist das hintere Thier der aus zwei oder mehr Individuen bestehenden
Kette, welches das natürliche etwas spitz abgerundete Afterende trägt, gut
entwickelt, so erkennt man leicht in den vordersten, an die Knospungszone
anstossenden Rumpfsegmenten durch die Haut hindurch (im optischen
Längsschnitt) die isolirten Ganglienknoten des Bauchmarks (Taf. VI, Fig.
7n). Es lassen sich ebenso leicht die zunächst der Haut liegenden Gang-
lienzellen, wie die darüber liegenden Nervenfasern erkennen; zwischen
Epidermis und Nervenstrang liegt die neurale Musculatur.
Je mehr man die dem After näherliegenden Theile ins Auge fasst,
um so mehr treten die Ganglien in der Längsrichtung an einander heran;
die Comissuren verschwinden bald gänzlich, die Nervenstränge werden
immer dünner und der Bauchstrang lässt isolirte Ganglienknoten bald gar
nicht mehr erkennen. Gleich danach scheint er nur noch aus einem
dieken Zellstrang (Taf. V, Fig. 13n) zu bestehen, der sich hart an die
Epidermis heranlegt, und von ihr nur durch einen ganz schmalen Muskel-
streif getrennt ist. Endlich verschwindet auch dieser, und der nun völlig
aus Zellen bestehende Nervenstrang verschmilzt unter ziemlich steilem Ab-
fall seiner oberen und hinteren Fläche mit der Epidermis. Auf eine kurze
Strecke hin erscheint diese noch stark geschichtet; etwas vor dem After
aber besteht sie, wie vor ihrer Verbindung mit dem Bauchmark, aus
einer dünnen Lage von Cylinderzellen (Taf. V, Fig. 13).
Ist aber dies hintere Individuum nicht völlig ausgebildet, so lassen
sich schon die ersten Ganglien der ersten, an die Knospungszone anstossen-
12,7
166 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
den Körpersesmente nicht scharf von einander trennen; hier geht die
(ventrale) Ganglienzellmasse ohne Unterbrechung unter dem Nerven fort (wie
bei den erwachsenen Lumbriceinen nach Leydig). Der Zusammenhang mit
der Epidermis am Hinterende ist natürlich auch dann vorhanden; er fehlt
in der That nie, so lange die Thiere sich in der Periode der Knospung
befinden. Nur, wenn sich ein solches anschickt, Geschlechtsorgane zu ent-
wickeln, — die hier bei uns zuerst Ende September vereinzelt, Anfang
October häufiger aufzutreten beginnen —, verliert die Ganglienkette mit-
unter ihren hinteren Zusammenhang mit der Epidermis. Zugleich damit
wachsen die an Zahl bedeutend zunehmenden Segmente aus und die eben
vorher noch einen zusammenhängenden Strang bildenden Ganglienzellen an
der Unterseite der Nervenfasern trennen sich der Länge nach von einander
in ebenso viele Zellgruppen, als Segmente des Körpers vorhanden sind;
in den Zwischenräumen sind nur noch die l,ängscomissuren zu bemerken
und eine typische Ganglienkette hat sich so im geschlechtlich werdenden
Thier durch Dehnung des ursprünglich ungegliederten Zellenstranges gebildet.
Wenn auch so die Untersuchung der” optischen Längsschnitte völligen
Aufschluss über den Zusammenhang eines Theils der Ganglienkette mit der
Epidermis am wachsenden Hinterende giebt, und den Anschein erweckt,
als ob das ganze Bauchmark direct aus der Epidermis (Ectoderm) entstehe:
so zeigen sorgfältig hergestellte, lückenlose Querschnittreihen doch wieder, dass
dies wahrscheinlich nur eine Täuschung ist. Es stellt sich durch die Unter-
suchung der letzteren nemlich heraus, dass die Epidermisverdickung wohl nur
den ursprünglich ganz ungegliederten centralen Theil des Bauchmarks liefert,
während die zwei seitlichen Bestandtheile seiner Ganglienketten aus den schon
vorher vom Eetoderm abgegliederten und rasch in Ursegmente zerfallenden
Mesodermplatten entstehen. Eine genaue Schilderung einer Querschnittreihe
von hinten nach vorn zu wird dies sehr wahrscheinlich machen. Ri
Eine Bemerkung in Bezug auf die gegebenen Abbildungen muss ich
hier noch einschalten. Es ist fast unmöglich und wäre ein Spiel des
Zufalls, wenn es gelänge, eine lückenlose Reihe von Querschnitten herzu-
stellen, welche alle gleich gut die Abbildung vertragen könnten. Die
dieksten überhaupt noch brauchbaren Schnitte dürfen höchstens !/;,—!/4, mm.
dick sein, wirklich gut werden sie erst bei !/,„, mm. Dicke; sie müssen
ferner absolut senkrecht auf die Längsaxe sein, weil die allergeringste Ab-
weichung solche Verzerrungen hervorbringt, dass die Schnitte, wenn auch
verständlich in der Reihenfolge, doch nicht in einer Zeichnung wieder-
zugeben sind. Nun ist es fast unmöglich, die Thiere ganz zu strecken,
namentlich krümmt sich das Hinterende immer etwas. Ein Schnitt also,
der den After völlig senkrecht getroffen, wird etwas weiter nach vorn
schon schräg ausfallen oder umgekehrt; das zu schneidende Objeet aber der
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 167
Krümmung entsprechend zu wenden, ist unmöglich; selbst mit der Lupe
sind nicht immer die Abweichungen des Thieres nach den verschiedenen
Seiten hin zu constatiren, die nachher beim Zerlegen desselben in so un-
gemein dünne Schnitte doch als vorhanden erkannt werden. Ich sah mich
daher genöthigt, in meinen Abbildungen eine Auswahl zu treffen; aber ich
bemerke dabei ausdrücklich, dass ich nur dann die Abbildung eines be-
stimmten Schnittes nach einem anderen, nicht zu derselben Serie gehören-
den, gemacht habe, wenn die absolute Uebereinstimmung beider Präparate
ersichtlich war. Natürlich werde ich jede kleine Abweichung, die ich mir
um der klareren graphischen Darstellung wegen erlauben musste, anzeigen;
wobei ich bemerke, dass alle Serien von Schnitten, aus denen ich einzelne
herausgenommen habe behufs der Abbildung, gleichzeitig mit den anderen
aufbewahrt und in der Sammlung des hiesigen zoologisch - zootomischen
Instituts niedergelegt habe. Da sie alle aus Dauerpräparaten — in Canada-
balsam oder Damarharz — bestehen, so ist zu erwarten, dass sie ihre
augenblickliche Klarheit auch mit der Zeit nicht einbüssen werden.
Aus dem Profilbilde (Taf. V, Fig.y6) des Individuums von Nais pro-
boscidea, welches mir bis jetzt die beste Schnittreihe des freien Afterendes
geliefert hat, ist ersichtlich. dass der ventral gelegene After nach hinten zu
ein wenig von der dorsalen Parthie des Körpers überragt wird; bei den ana-
logen Exemplaren von Nais barbata liegt der After meist etwas auf dem
Rücken und wird ein wenig von der ventralen Körperhälfte überragt. Ein
Durchschnitt durch dies letzte Ende zeigt immer eine einfache Zell-
kuppe, gleich darauf giebt er das Bild eines Ringes, dessen Wand eine
einschichtige Zelllage ist, und dessen Höhlung kleine schmalkernige Zellen
in regelloser Anordnung enthält, welche, wie die Beobachtung der lebenden
Thiere lehrt, kein Gewebe bilden, sondern frei in der die Leibeshöhle er-
füllenden Flüssigkeit herumschwimmen und beständig ihren Ort wechseln.
Es sind dies die längst bekannten Zellen in der Leibeshöhle der Naiden,
die natürlich ihre physiologische Bedeutung haben werden, morphologisch
aber wohl gänzlich bedeutungslos sind; die Beschreibung der nächsten
Schnitte wird vielmehr zeigen, dass der Aufbau der Organe am freien
Afterende genau, wie in einem Embryo, durch Blätterbildung und Gliederung
der Keimblätter vor sich geht.
Der Durchschnitt durch den After liefert ein Bild, das man als von
einer beliebigen Gastrula herrührend ansehen könnte; Entoderm und Ecto-
derm gehen am Afterrande (? Einstülpungsrande) direct in einander über,
ihre Zellen sind ungeschichtet, fast völlig gleich und in dem sie trennenden
spaltförmigen Leibeshohlraum sieht man höchstens einige der erwähnten schmal-
kernigen Zellen. Im nächsten Schnitt, eben vor dem After — welchen ich
_
168 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
einer zweiten Schnittserie von Nais barbata entnehme — hat sich die
Afteröffnung zum Darm geschlossen (Taf. V, Fig. 1), dessen Lumen hier
kreuzförmig eingeengt ist durch vier vorspringende Falten; zwei der Kreuz-
schenkel stehen so, dass sie die dorso-ventrale Mittelebene, also im Durch-
schnitt die Mittellinie bezeichnen; das Ectoderm hat sich hier bereits ver-
dickt, namentlich an der neuralen Seite; es hat sich endlich die im abge-
bildeten Schnitt linke Hälfte des Ectoderms bereits seitlich übermässig stark
verdickt zu einer, in die Leibeshöhle vorspringenden Mesodermplatte (Taf. V,
Fig. 1 mes.). Dass diese auf der rechten Seite noch nicht vorhanden ist, rührt
offenbar von der etwas schiefen Schnittführung her; denn im nächsten, auch
in der Serie darauffolgenden Schnitt (Taf. V, Fig. 2), sind bereits die beiden
Mesodermplatten deutlich als solche erkennbar. Sie umfassen etwa ein Dritt-
theil des Darmumfanges, stehen untereinander in der Mittellinie durch einige
vom Ectoderm deutlich gesonderte Zellen in Verbindung und lassen sich seitlich
nur undeutlich vom Ectoderm trennen; hie und da, so namentlich an der
neuralen Seite, sieht man wohl eine mehr oder minder scharf ausgesprochene
Linie, vielleicht eine Art Basalmembran, sich zwischen die Zellen des Meso-
derms und des Eetoderms einschieben; aber an andern Stellen fehlt die-
selbe ganz entschieden, sodass dann der Zusammenhang der Zellen beider
Blätter ohne Weiteres ersichtlich ist. Auch sind die Zellen beider Schich-
ten vollständig gleich in Grösse, wie in Ansehen; ihr Kern ist im Ver-
hältniss zur Zelle sehr gross, und er enthält häufig ein feines, scharfes
Kernkörperchen. Dass das einschichtige wimpernde Darmepithel sich in
keiner Weise an der Bildung des Mesoderms betheilist, ist an diesen
Stellen ungemein klar; seine Zellen sind sehr gross, ihr Ansehen und das
der Kerne ist ganz anders und von einer irgendwie erheblichen Vermehrung
oder gar einem Zusammenhang mit den Zellen des Mesoderms ist nichts
zu sehen.
Im nächsten Schnitt umfasst das dicker gewordene Mesoderm schon
den halben Umfang des Darmes; das Ectoderm hat sich seitlich und in der
neuralen Mittellinie noch mehr verdickt. Im (Taf. V, Fig. 3) darauffolgenden
(7. der Serie) theilt sich die symmetrische Mesodermplatte — die wir bis
dahin vielleicht als Axenstrang bezeichnen könnten — in zwei isolirte
Hälften, indem sich genau in der Mittellinie 2—4 mit eigenthümlichen
starkglänzenden Kernkörperchen versehene Zellen scharf absondern. Diese
Zellen lassen sich ganz regelmässig durch alle darauf folgenden Schnitte
hindurch verfolgen; sie behalten immer ihr eigenthümliches Aussehen und
sie bezeichnen eine Axe in den neu angelegten Segmenten des Thieres,
welche zu den aus dem Mesoderm und Ectoderm allmälig sich abgliedern-
den Theilen genau in derselben morphologischen Lagerungsbeziehung steht,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. | 169
wie die chorda dorsalis der Embryonen der Wirbelthiere und der Ascidien.
Unterhalb .dieser zelligen Axe liegt der Darm, seitlich hart an ihr (und
vielleicht zum Theil aus den nächstgelegenen kleineren Zellen) entsteht das
sogenannte Bauchgefäss (die aorta); oberhalb der Axe bildet sich das cen-
trale Nervensystem aus und ebenso greift die sich bildende Musculatur von
einer dieser Axe entsprechenden Linie aus, sowohl nach unten um den
Darm, wie nach oben um das Nervensystem herum. Obgleich nun der
Structur nach diese Zellenreihe erheblich von der chorda der Wirbelthiere
verschieden ist, so stehe ich doch nicht an, sie mit demselben Namen zu
belegen; denn sie spielt, wie ich glaube gezeigt zu haben und wie noch
klarer sich aus der weiter folgenden Schilderung ergeben wird, in dem
auswachsenden Hinterende einer Nais genau dieselbe Rolle, wie die echte
chorda der Vertebraten.
An demselben Schnitt (Taf. V, Fig. 3) erkennt man immer noch den
Zusammenhang der nun gesonderten Mesodermplatten mit dem Ectoderm,
wenigstens an einigen Stellen. Das Eectoderm ist noch stärker verdickt;
an den dicksten Stellen liegen bis zu fünf Zellen in der Dicke; genau in der
Mittellinie seiner späteren Bauchseite sieht man eine seichte Furche (Taf.
V, Fig. 3n), und hier liegen in der Dicke der Epidermis höchstens drei, auch
gewöhnlich noch etwas kleinere Zellen; dieser Furche entsprechend ist auch
eine Theilung der Ecetodermzellen in zwei symmetrische Hälften angedeutet,
welche in den Schnitten verschiedener Thiere allerdings sehr ungleich
deutlich ausgeprägt, aber doch wenigstens ausnahmslos angedeutet ist.
Im 9. Schnitt (Taf. V, Fig. 4) haben Gesammtumfang sowohl, wie
Dicke des Ectoderms und Mesoderms noch immer zugenommen; namentlich
das letztere ist sehr viel stärker entwickelt, und es greift nun mit seinen
zwei isolirten Platten schon um mehr als die Hälfte des Darmes herum.
Der Zusammenhang zwischen Mesodermplatten und Ectoderm ist hier nur
noch an einigen kleinen Stellen sichtbar; die Zellen beider Schichten sind
ziemlich viel kleiner geworden, während die des Ectoderms unverändert
blieben; die Mittelfurche des Ectoderms ist flacher, als in den beiden
vorhergehenden Schnitten und die mediale Spaltung zwischen den zwei
Hälften des verdickten Ectoderms ist ebenso deutlich, wie vorhin.
Der 10. Schnitt endlich (Taf. V, Fig. 5) zeigt, dass das Mesoderm
sich bereits in einzelne Zellgruppen, Vorläufer der beginnenden Gliederung
desselben in einzelne Organe, aufzulösen anfängt. Wahrscheinlich sind jetzt
auch schon die Mesodermplatten in Ursegmente zerfallen; das lässt sich
für das einzelne Object nicht bestimmen, da sich nicht gleichzeitig vom
selben Thiere Querschnitte und Längsschnitte gewinnen lassen. Nach den
mir vorliegenden Längsschnitten zu urtheilen, muss aber der Zerfall des
170 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Mesoderms in Ursegmente etwa mit dem 8., höchstens dem 9. Schnitt
eingetreten sein. Im 10. Schnitt nun ist die Grenze zwischen Mesoderm
und Ecetoderm überall deutlich; an zwei Stellen sogar sieht man hart dieser
Grenze anliegend zwei schmale Zonen, die aus schmalen radial gestellten
kurzen Blättern bestehen (Taf. V, Fig. 5m); es sind dies die ersten Spuren
der Musculatur. Diese beiden schmalen Muskelblätter liegen so, dass eine
sie verbindende Linie gerade zwischen dem Chordazellenstrang und der
oberen Kante des immer noch kreuzförmigen Darmes durchschneidet. Diese
Linie scheidet auch ziemlich genau zwei Zellgruppen des Mesoderms,
welche hart an den axialen Chordastrang anstossen (Taf. V, Fig. 5), von
den darunter liegenden Theilen der Mesodermplatten ab; lateralwärts ist
die Abgliederung derselben noch undeutlich, medialwärts gegen die chorda
zu aber schon deutlich ausgesprochen. Diese medialen Zellgruppen des
Mesoderms sind, wie die nächstfolgenden Schnitte lehren, wahrschein-
lich die Anlagen der Spinalganglien des Anneliden-Bauchmarks. Die äussere
neurale Furche ist hier schon gänzlich wieder ausgeglichen (Taf. V, Fig. 5n);
dagegen prägt sich die Spalte im Ectoderm an der neuralen Seite noch
schärfer aus als vorhin und zugleich sieht man von ihr nach links und
rechts eine bald sich verlierende Linie ausgehen, welche die centrale Zell-
masse des Ectoderms von einer äusseren einzelligen Schicht des letzteren
zu trennen beginnt. Die äussere einzellige Lage wird zur späteren Epi-
dermis; die durch die eben angegebenen lateralen Linien von ihr abge
trennten medialen Theile des verdickten Ectoderms sind dazu bestimmt,
das centrale Ganglion der Ganglienkette, d. h. zunächst den gänzlich un-
gegliederten dicken Zellstrang zu liefern, aus welchem jene sowohl, wie
die zwei Längsnerven hervorgehen. Es besteht also die primäre Anlage
des centralen Nervensystems hier bei Nais aus einer ursprünglich ventral
‚liegenden, symmetrisch gleichmässigen Verdickung; die äussere, bald
wieder verstreichende Furche muss man der ebenfalls später verschwindenden
Primitivrinne des Forellenembryos vergleichen und die in der Mittellinie
der symmetrischen Eetodermverdickung auftretende Scheidung könnte man
versucht sein, dem Centralcanal in der Rückenmarksanlage gleichzustellen.
Wir werden später sehen, dass mitunter wirklich an dieser Stelle bei den
Knospungszonen ein recht deutlich wahrnehmbarer Spalt oder Canal auftritt,
der allerdings immer unregelmässig ist und bald wieder verschwindet. Im
Hinblick auf die zahlreich vorkommenden Larvenorgane, die später wieder
vergehen, hat man wohl das Recht, einen, wenn auch noch so schwach an-
gedeuteten Hohlraum an der Stelle, wo bei den Vertebraten immer der
Centralcanal liegt, als einen embryonalen Versuch zur Ausbildung eines
solchen anzusehen.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 171
Ich habe bisher absichtlich das Wort Keimstreif vermieden, obgleich
es auf der Hand liest, dass der bisher an Querschnitten geschilderte Theil
des Afterendes von der Bauchseite her das Bild eines solchen bieten muss;
thatsächlich ist das auch der Fall und es sieht dies Hinterende einer
knospenden Nais genau so aus, wie das einer beliebigen Polychaetenlarve,
deren Keimstreif immer weiter nach hinten auswächst. Der Name aber
ist ein ziemlich unglücklich gewählter oder angewandter; denn wenn man
versucht, die Theile, welche nach den verschiedenen Autoren den Keim-
streifen bei den gegliederten Thieren bilden sollen, auf einander zu
reduciren, so stösst man auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Bald
scheinen die Autoren unter diesem nur die sich gliedernde Anlage des
Mesoderms zu verstehen — so Leuckart bei den Pupiparen, Ganin bei
den Ichneumoniden —, bald sieht es wieder aus, als hätten sie nur die
symmetrische Ectodermverdickung dabei im Sinne, aus welcher nach ihnen
nur das Nervensystem hervorgehen soll — so Kowalewsky bei Oligochaeten;
endlich giebt es drittens Beobachter, welche Ectoderm und Mesoderm in
ihrer ventralen Anlage zusammen so nennen — Metschnikoff bei den
Blutegeln —, obgleich nur dieses sich in Ursegmente auflöst, jenes aber
wenigstens kurze Zeit ungegliedert bleibt. Da nun die meisten vorliegenden
Angaben über Entstehung des Keimstreifens bei Annulaten und Arthropoden
nur auf Untersuchungen der unverletzten und nicht in Querschnittsserien
zerlesten Embryonen beruhen — Durchschnittsbilder z. B. von Anneliden-
embryonen besitzen wir nur durch Kowalewsky !) — so sind die Angaben,
dass dies oder jenes Organ aus dem Keimstreifen entstehe, so werthvoll
sie früher auch waren, jetzt ganz werthlos; denn selbst, wenn die Objecte
klein und durchsichtig genug sind, und genau in der' Profillage liegen, so-
dass sie gestatten, einen optischen Längsschnitt herzustellen, so genügt die
Combination desselben mit- den Oberflächenbildern in keiner Weise zur
vollständigen Klärung der Verhältnisse. Erst durch Querschnittsserien
gelangte ich zu einem richtigen Verständniss der Wachsthumsvorgänge bei den
Naiden. Einigt man sich dahin, das Wort Keimstreif nur auf den äusseren ’
Anblick der sich verdickenden und gieichzeitig gliedernden ersten Embryo-
nalschicehten zu beziehen, so ist dagegen natürlich nichts einzuwenden;
aber die Angabe, dieses oder jenes Organ entwickele sich aus demselben,
muss unter allen Umständen, wenn sie verständlich sein ‚soll, durch Quer-
!) Den gänzlich falschen Durchschnitt eines Regenwurmembryos oder gar das
ebenso vollständig unwahre und unmögliche Bild eines Uranneliden in Häckel’s
neuesten Erzeugnissen — Anthropogenie ete. — führt man mir hoffentlich nicht
als zweites Beispiel an.
172 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
schnittsreihen erläutert werden, und dann thut man besser, gar nicht mehr
vom Keimstreifen zu sprechen, sondern nur noch die längst gebräuchlichen
Worte Axenstrang (für die primäre, noch nicht in zwei Hälften gespaltene,
aber symmetrische Anlage des Mesoderms), chorda, Mesoderm, Ectoderm
und Ursegmente zu brauchen. Zugleich möchte ich mir hier den Vorschlag
erlauben, auch bei den Wirbelthieren das Wort „Urwirbel“ durch das
senden „Ursegment“ zu ersetzen.
Die weitere Umbildung der Glieder des Ectoderms nd Mesoderms
am Hinterende von Nais müssen wir nun wieder an Querschnitten von Nais
proboscidea untersuchen. - Zum Beweis, dass die jetzt zu besprechende
Reihe von Abbildungen sich fast genau an die letzte der von N. barbata
herstammenden Serie anschliesst, habe ich einen Schnitt (Nr. 24 von N.
proboscidea XXII B.) abgebildet, der fast genau das zuletzt besprochene
Stadium wiederholt. Es ist dies aus der Abbildung ohne Weiteres er-
sichtlich (Taf. V, Fig. 6). Natürlich bestehen einzelne Unterschiede in den
Detailverhältnissen; hier bei Nais proboseidea besteht das Entoderm (an
dieser Stelle) aus grossen, aber ganz platten Zellen in einschichtiger Lage;
die beiden kleinen Muskelblätter liegen im Verhältniss viel näher bei-
sammen, als bei N. barbata (vergl. Taf. V, Fig. 5m) und eine sie ver-
bindende Linie schneidet hart unter den Chordazellen, aber weitab vom
Darme durch; die übrigen Verhältnisse erklären sich von selbst.
Im zweiten darauffolgenden (22.) Schnitt hat die mediale Parthie der
Mesodermplatten bereits begonnen, sich, allerdings noch undeutlich genug,
von dem übrigen Mesoderm zu sondern. In der neuralen Verdickung des
Ectoderms dagegen hat sich das centrale Ganglion bereits nach aussen hin
fast vollständig von der sie bedeckenden einschichtigen Epidermis durch
eine feine, aber deutliche Furche getrennt (Taf. V, Fig. 8); die mediane,
die beiden symmetrischen Hälften dieser Anlage trennende Scheidung ist
auch hier deutlich vorhanden. Auch gegen das Mesoderm zu ist diese
Ganglionanlage scharf abgeschieden; eine sehr deutliche Linie zieht quer
unter jener durch von der innern Ecke einer Muskelplatte zur andern;
unter dieser Membran liegen genau in der Mitte die charakteristischen
Chorda-Zellen, seitlich bis an die Muskelplatten heran die medialen Zell-
gruppen des Mesoderms. Ueber dieser Scheidung aber liegen zwei fein-
körnige helle kleine Stellen, welche offenbar keine Zellen sind; sie stehen
(Taf. V, Fig. Sns) um die Breite der Chordazellen von einander ab und liegen
ganz umgeben von den nervösen Zellen der Ectodermverdickung; sie
können nur diesen letzteren ihren Ursprung verdanken, nicht aber den
Zellen des Mesoderms, da sie von diesen letzteren durch die vorhin er-
wähnte äusserst deutliche Scheidewand getrennt sind. Auch in dem vor-
(
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 173
hergehenden Schnitte (23) waren die Durchschnitte dieser feinen, nur schwach
in Carmin sich färbenden Punktsubstanz (Taf. V, Fig. 6.ns) schon deutlich ;
die nun folgenden Schnitte lehren, dass es die ersten Anfänge der sich
bildenden Längsnerven sind. Die Pünktchen sind vielleicht die ersten An-
fänge der sich bildenden Fasern, wenigstens sehen sie ebenso aus, wie in
den querdurchschnittenen Nervenstämmen ganz ausgebildeter Ganglien; wie
sie entstehen, ist mir ganz unklar geblieben. Man sieht mitunter mitten
zwischen dieser Punktsubstanz grössere Knoten mit ziemlich scharfer Contur ;
mitunter sogar auch echte, durch Carmin stark gefärbte Zellkerne. Der-
gleichen Zellkerne kommen übrigens auch bei andern Würmern nicht
selten mitten zwischen den Nervenfasern vor.
Der nächste Schnitt (der 21. der Reihe) zeigt (Taf. V, Fig. 9) die
im obigen nur eben angedeuteten Sonderungen schon schärfer ausgeprägt;
die Abtrennung der medialen Zellen des Mesoderms ist deutlicher er’
kennbar, und man sieht namentlich am Präparat — was im Bilde nicht
auszudrücken war —, dass sie sich durch stärkere Aufsaugungsfähigkeit
des Carmins von den übrigen Mesodermzellen auszeichnen. Sie legen sich‘
nun schon eng an die benachbarten Theile des centralen Ganglions an,
mit denen sie in den nächstfolgenden Schnitten allmälig zu dem dreitheilig
symmetrischen Nervensystem verschmelzen.
Diese Vereinigung ist im nächsten abgebildeten Schnitt (dem 18. der
Reihe, Taf. V, Fig. 10) schon vollständig geworden; überhaupt hat sich
hier die Gliederung des Mesoderms bereits fast ganz vollzogen. Das
centrale, dem Rückenmark der Wirbelthiere vergleichbare Ganglion, ist
sänzlich von der Epidermis getrennt; die beiden querdurchschnittenen
Nervenstränge sind bedeutend dicker geworden, und hier durch eine kurze
Brücke von Fasersubstanz verbunden; die sie früher vom Mesoderm trennende
Scheidewand ist in der Mitte über den axialen Chordazellen (Taf. V, Fig.
10ch) noch recht kenntlich, seitlich aber nicht mehr in Folge der Ver-
schmelzung der zwei medialen Parthien des Mesoderms mit den jederseits
angrenzenden Zellen des Centralganglions. Hin und wieder ist sie indessen
auch hier noch deutlich und dann durchdringt sie die Seitentheile des
Ganglions so, dass sie mit der mit m. bezeichneten, schon vorhin be-
sprochenen ersten Muskelplatte zusammenstösst.
Diese ersten Muskelplatten lagen ursprünglich so, dass eine sie ver-
bindende gerade Linie (s. Taf. V, Fig. 8m) die Chordazellen von den beiden
hart daranstossenden Nervensträngen schieden; in dem 18. Schnitt aber
sind sie weiter nach oben (in der Figur) gerückt, und eine gerade, ihre
inneren Ecken verbindende Linie würde nun sogar schon das centrale
Ganglion durchschneiden. Gleichzeitig mit dieser — wohl durch ungleich-
174 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
mässiges Wachsthum bedingten — Lageveränderung der primitiven Muskel-
platten haben sich noch zwei andere ausgebildet, die eine (nm) über, die
andere (lm) unter jener ersten. Ich will jene die neurale, diese die
laterale Muskelplatte nennen. Jene tritt zuerst immer sehr nahe an der
primären (axialen) Muskelplatte auf, und wächst allmälig von beiden
Seiten her in die Furche hinein, welche die Epidermis von dem Central-
ganglion schied; in dem hier abgebildeten Schnitt haben sich die beiden
seitlichen neuralen Muskelplatten noch nicht in der Mittellinie erreicht und
ihr Abstand von einander ist noch grösser, als jede einzelne breit ist. Die
laterale Muskelplatte (ml) entspringt in grösserer Entfernung von der
primären, als die neurale; sie endigt in diesem Schnitt noch über der
Mitte des Umfanges. Der, Zwischenraum, welcher m und Im trennt,
ist noch von embryonalen Zellen ausgefüllt; man sieht im Mesoderm
selbst schon eine Zellgruppe (Taf. V, Fig. 10 nb) sich abgliedern, deren Zellen-
kerne stark in die Länge gezogen sind, und die rechts wenigstens deutlich
vorhanden auf jenen von Zellen erfüllten Zwischenraum zwischen der ersten
und zweiten Muskelplatte zustrebt. Diese Mesodermzellengruppe ist der
Bauchborstenfollikel; die Stelle zwischen den zwei Muskelplatten ist der
Ort, wo später die Bauchborsten durchbrechen. An dieser Stelle scheint
auch niemals der ursprünglich vorhandene Zusammenhang zwischen Ecetoderm
und Mesoderm aufgehoben zu werden; darüber konnte ich indessen nie
recht entscheidende Bilder bis jetzt erhalten, was leicht erklärlich ist,
wenn man bedenkt, dass die hier abgebildeten Schnitte meist nur VY,, Mil-
limeter dick sind. Noch weiter cardialwärts sieht man auch schon die
Zellgruppen (Taf. V, Fig. 10 cb) sich sondern, welche die dorsalen Borsten-
büschel bilden sollen; doch treten diese immer ein wenig später auf, als
die ventralen. Gewöhnlich sind daher an dem auswachsenden Hinterende
einer solchen Nais zwei Paar Bauchborstenbüschel mehr als Rückenborsten-
büschel vorhanden.
Im nächsten (17.) Schnitt (Taf. V, Fig. 11nb) sind auch schon Bauch-
borsten ausgebildet und die neurale Muskelplatte ist der Mittellinie von
beiden Seiten her schon viel näher gerückt, im 15. erfolgt die Verschmel-
zung beider. Auch die laterale Musculatur ist weiter heramgewachsen. In
Schnitt 13 endlich (Taf. V, Fig. 12) ist die Gliederung des Mesoderms
ganz vollständig geworden. ‘Die zwei ersten Muskelplatten haben sich ganz
vereinigt (m und nm) und bilden durch Aufhebung ihres äusseren
Randes eine flache, das Nervensystem halb umfassende Rinne. Die Bauch-
borstenbüschel haben die Epidermis schon durchbrochen ; der eine derselben
(links in der Zeichnung) ist durch eine Zellgruppe von der neuralen Mus-
culatur geschieden, welche sich an die Epidermis anzusetzen scheint. Dies
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 175
ist die erste Anlage, des Segmentalorgans der einen Seite; auf der andern
hatte der Schnitt dasselbe nicht getroffen. Wie diese Segmentalorgane
entstehen, weiss ich nicht; bei der Fülle der mir momentan wichtiger
scheinenden neuen Thatsachen habe ich auf ihre Bildungsweise nicht genauer
geachtet. Das nur kann ich als positiv angeben, dass sie immer dicht
neben dem Nervensystem auftreten, zwischen diesem und dem ventralen
Borstenbüschel ; sie setzen sich also mit dem letzteren an die Stelle der
Epidermis an, wo sich. zwischen m und lm keine Muskelfasern ent-
wickeln. An die dritte Muskelplatte schliesst sich nun schon eine vierte
(Taf. V, Fig. 12 ml‘), welche wieder von jener durch einen schmalen zelligen
Raum getrennt ist; dann folgt (Taf. V, Fig. 12cb) die Ausmündungsstelle
des dorsalen Borstenbüschels und unter dieser legt sich nun an die Epi-
dermis eine Zellschicht an, welche sich schon in den nächsten Schnitten zu
dem letzten Theil der Musculatur, der medianen (dorsalen) Muskelplatte,
die ich die cardiale nennen will, umwandelt. Auch hier erfolgt das erste
Auftreten der Muskelsubstanz zunächst Im‘, (Taf. V, Fig. 11cm) allmälig
wächst sie von beiden Seiten her gegen den Rücken hin zu, bis sie in
der dorsalen Mittellinie ebenso vollständig verschmilzt, wie die neurale
Muskelplatte es in der ventralen thut.
Ich habe schliesslich noch auf eine, schon öfter hervorgehobene Er-
scheinung aufmerksam zu machen. Manche Glieder erfahren nemlich, so
namentlich das Nervensystem und die Musculatur, bei fortschreitender Aus-
bildung eine Verringerung ihres Gesammtvolums. Es geht dies aus den hier
mitgetheilten, bei gleicher Vergrösserung mit der Camera gemachten Zeich-
nungen (Taf. V, Fig. 9—12) namentlich klar für das Nervensystem hervor.
Vielleicht beruht es hier nur auf dem frühzeitigen Aufhören der Zellen-
bildung (?) im Nervensystem und dem gleichzeitig eintretenden Dehnen aller
Theile eines Segmentes. Die Dehnung muss eine sehr beträchtliche sein,
denn das Körperglied, dessen Durchschnitt etwa dem letzten abgebildeten
Querschnitt (Taf. V, Fig. 12) entspricht, hat nur eine Länge von 0,03 Mil-
limeter, ein ausgebildetes aber eine solche von 0,17 Millimeter. In jenem
Gliede aber stossen die aus den Ursegmenten entstehenden Seitenganglien
noch aneinander an und der centrale Ganglienstrang zeigt noch keine Spur
von Gliederung, er geht vielmehr continuirlich noch sehr viel weiter unter
dem Nervenstrang durch (Taf. V, Fig. 13); in dem ausgebildeten längsten
Segment aber sind nicht blos die seitlichen Ganglien, sondern auch das
eentrale von den Ganglienknoten der benachbarten Glieder durch einen,
allerdings nur kurzen Zwischenraum deutlich getrennt. Dies beweist, dass
eine Dehnung aller Theile und durch sie eine Trennung ursprünglich ver-
bundener Zellmassen des centralen Nervensystems stattgefunden haben muss:
176 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
die Bildung der Ganglienknoten, also das Auftreten einer Ganglienkette, ist
secundär durch rein mechanische Auseinanderzerrung ursprünglich ver-
einigter und typisch zusammengehöriger Theile zu erklären. Auf derselben
rein mechanischen Dehnung beruht auch die Ausbildung der Ganglienkette
bei den Embryonen der Blutegel.
Durch die hier mitgetheilten Beobachtungen glaube ich die zwei oben
aufgestellten Behauptungen bewiesen zu haben:
1) dass in dem auswachsenden Afterende einer Nais der centrale
Theil des Nervensystems durch eine ungegliederte Eetodermverdickung
entsteht; und
2) dass die beiden seitlichen Ganglien aus den medialen Theilen der
Mesodermplatten erst dann entstehen, wenn die Bildung der Ursesmente
schon vollendet ist und dass sie als ursprünglich und typisch segmentirte
Ganglien erst secundär mit dem centralen verwachsen.
Damit ist aber auch wohl endgültig die typische Uebereinstimmung des
Bauchmarkes der Naiden mit dem Rückenmark der Wirbelthiere erwiesen:
dort wie hier eine ungegliederte Anlage des Üentralnervensystems direet
aus dem Ectoderm heraus und eine secundäre Verwachsung desselben mit
primär gegliederten Theilen des Mesoderms, den Spinalganglien. Wir
werden im nächsten Abschnitt sehen, dass diese Uebereinstimmung noch
sehr viel weiter geht.
Auch nach anderer Richtung hin lassen sich aus den mitgetheilten®
Resultaten nicht unwichtige Folgerungen ziehen. Ich fasse diese in einige
Sätze zusammen, die allerdings erst später ihre volle theoretische Ver-
werthung finden können.
1) Es bildet sich eben vor dem After auf der neuralen Seite durch
Wucherung aus dem ursprünglich einfachen Ectoderm eine Axenplatte;
2) diese Axenplatte zerfällt dann in zwei Mesodermplatten, welche
von einem axialen Zellstrang getrennt werden, der, über dem . Darme
liegend, der Chorda der Wirbelthiere zu vergleichen ist; |
3) dieser Chordazellenstrang ist continuirlich durch alle Schnitte hin-
durch zu verfolgen, welche noch embryonalen Charakter tragen und er liegt
hart unter den beiden Nervensträngen des centralen Nervensystems;
4) die Muskelblätter wachsen gleichzeitig von zwei der Axe des
Körpers entsprechenden Linien aus neural- und cardialwärts, genau wie bei
Wirbelthieren: es wird somit
5) durch diese Vorgänge eine Axe auch im Anneliden bezeichnet, von
welcher nach unten hin sich das animale, nach oben hin das vegetative
Rohr schliesst.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. NDR
Es ist endlich
6) sehr wahrscheinlich, — obgleich ich es bis jetzt nicht völlig ausser
Zweifel stellen konnte —, dass das gesammte Mesoderm mit Einschluss
der Darmfaserplatte aus dem Ecetoderm herstammt.
Bei der ungemein grossen Aehnlichkeit in den hier besprochenen Vor-
gängen mit den embryonalen Blätterbildungen und Gliederungen der
primären Keimblätter scheint es mir geboten, nun noch einmal auf die
wenig zahlreichen Angaben über Embryologie der Anneliden zurück-
zukommen. |
Auf der einen Seite stehen Leuckart und Rathke mit ihrer Behauptung,
dass das Bauchmark der Hirudineen aus dem Keimstreifen entstünde. Dass
namentlich Rathke hier nicht etwa eine Verdickung des ungegliederten oberen
Keimblattes als Keimstreif bezeichnen wollte, geht sehr klar aus seiner
Beschreibung hervor; denn er sagt ausdrücklich, dass die Bauchganglien
aus den medialen Theilen der Ursegmente entstünden, während die mehr
äusseren die Musculatur lieferten und es ist eben nur das Mesoderm,
welches in Ursegmente zerfällt oder in „Täfelchen“, um mich eines Rathke’-
schen Wortes zu bedienen. Wendet man hierauf meine Schilderung von
der Entstehung des Nervensystems an, so ist die Deutung sehr leicht.
Rathke und Leuckart haben gewiss ganz Recht, wenn sie die Betheiligung
der medialen Parthien des Mesoderms am Aufbau des Bauchmarks be-
haupten; sie haben eben die Entstehung der beiden seitlichen Ganglien ge-
sehen, aber freilich das Hinzutreten des dritten medialen und ungeglieder-
ten Abschnittes — direct aus dem äusseren Blatt — übersehen. Dies ist
erklärlich, wenn man bedenkt, dass Beide keine Durchschnitte gemacht zu
haben scheinen.
Gegenüber diesen Beiden behauptet Metschnikoff in der oben citirten
vorläufigen Mittheilung, es entstehe auch bei den Hirudineen das Nerven-
system aus dem Ectoderm. Allerdings soll es nach ihm auch aus dem
Keimstreifen hervorgehen; aber mit diesem Worte bezeichnet er etwas
anderes, als Leuckart und Rathke. Es soll nach ihm derselbe zweischichtig
sein; aber nur das innere seiner beiden Schichten, aus welchem er ver-
muthungsweise das Entoderm werden lässt, liefere die Ursegmente, das
andere äussere dagegen für sich allein das Nervensystem. Nun stellt er
ebenda dieses nervöse Blatt des Keimstreifens zusammen mit dem äusseren
Blatt dem Ectoderm des Scorpions gleich, und gewiss mit Recht; dann
aber gehört jenes eben nicht zu dem Rathke’schen Keimstreifen. Diese
178 SEMEER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Widersprüche sind übrigens nur scheinbar und jetzt leicht zu beseitigen.
Metschnikoff’s inneres Blatt des Keimstreifens allein ist das Mesoderm,
dessen Betheiligung am Aufbau des Bauchmarks er nicht gekannt hat; sein
äusseres Blatt des Keimstreifens gehört dem Eetoderm an, und er hat hier
ganz richtig dessen Theilnahme an der Bildung des Nervensystems erkannt,
dagegen seine erste Entstehung aus dem Eetoderm nicht beobachtet. An-
genommen nun, Metschnikoff hätte nur Querschnitte untersucht, so wäre
dies Resultat sehr erklärlich; es tritt auf solchen das centrale Nervensystem
seiner Entstehung nach sehr deutlich hervor, die Betheiligung der medialen
Parthien des Mesoderms am Aufbau jedes Ganglions — wie sie sehr leicht
bei Anwendung der von Rathke angewendeten Methode constatirt wird —
kann dagegen an Querschnitten nur dann sicher festgestellt werden, wenn
man von verschieden alten Stadien vollständige Querschnittsreihen vor Allem
des Hinterendes anfertigt. Man mache mit den von mir mitgetheilten Ab-
bildungen den Versuch, und unterdrücke die mittleren der Reihe (z. B,
Taf. V, Fig. 8 und 9), man wird dann nur schwer oder gar nicht auf den
Gedanken kommen, dass das fertige Ganglion aus verschiedenen Theilen der
zwei Keimblätter gebildet worden sei.
Man kann also behaupten, dass sich Keiner der eben besprochenen
Untersucher geirrt habe in Bezug auf die von ihnen mitgetheilten positiven
Thatsachen; denn sowohl Mesoderm (oder Keimstreifen Rathke), wie Ecto-
derm nehmen thatsächlich am Aufbau des Nervensystems Theil. Aber sie
haben darin geirrt, dass der Eine nur die eine, die Andern die andere
Hälfte dieser Vorgänge für den vollständigen Bildungsvorgang nahmen: ein
Versehen, welches zum Theil wohl durch die Untersuchungsmethode zu er-
klären ist.
Ganz denselben Irrthum hat nun aber wohl auch Kowalewsky be-
gangen, obgleich er meint, blos mit seiner Versicherung, dass das Nerven-
system nur und ausschliesslich aus dem Ectoderm hervorgehe, die Rathke’sche
Behauptung von der Betheiligung des Mesoderms als ganz falsch erwiesen
zu haben. Er hätte sich an der sprichwörtlichen Sorgfalt Rathke’s ein
Muster nehmen und wirklich nachweisen sollen, dass sich kein Theil des
Mesoderms an der Bildung des Nervensystems betheilige. Dies hat er
nicht gethan; denn der vollständig richtige Nachweis von der Rolle, welche
das Ectoderm mitspielt, machte die von Rathke dem Mesoderm zuertheilte
Rolle noch durchaus nicht unmöglich; wir sehen vielmehr, dass sie beide
neben einander existiren und dass Kowalewsky genau in denselben Fehler
verfallen ist, welchen Metschnikoff begangen zu haben scheint: bei der
Anfertigung der Querschnitte vielleicht nicht genau genug die Reihenfolge
innegehalten oder etwa auch nur an einigen Stellen beliebig gemachte
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 179
Querschnitte als besonders und ausschliesslich beweisend angesehen zu haben.
Die Kowalewsky’schen Bilder von Euaxes und Lumbricus stimmen — ceteris
paribus — vollständig mit den von mir gegebenen, abgesehen von dem
einen Punkte der durch die meinigen erwiesenen Betheiligung des Meso-
derms an der Bildung der Spinalganglien. Kowalewsky giebt keine Reihen-
folge von Querschnitten, aus denen man in die von hinten nach vorn (auch
beim Embryo) immer schärfer hervortretende Gliederung des Mesoderms
Einblick erhielte. Doch aber wäre eine einzige solche Serie instructiver
gewesen, als die zahlreichen, aus dem Zusammenhange gerissenen Bilder,
da sich an einem einzigen Embryo alle Stadien : der Bildungsweise des
Nervensystems finden und also auch übersehen lassen müssen. Eine solche
Schnittreihe, deren Herstellung allerdings wohl ihre Schwierigkeit haben
möchte — deren zeitraubende Ueberwindung sich nicht Jeder gestattet —,
müsste aber meines Erachtens auch für Lumbricus und Euaxes den Beweis
liefern, dass auch hier die medialen Parthien des Mesoderms zu den Spinal-
sanglien werden und mit dem centralen Nervensystem verschmelzen, wie
es thatsächlich im freien wachsenden Afterende einer knospenden Nais !)
geschieht.
Die hier versuchte Deutung der früheren Beobachtungen, welche im
Grunde den Untersuchern keine Beobachtungsfehler, sondern nur ein mehr
1) Es steht meine hier vorgetragene Anschauung mit der schon früher erwähn-
ten von Balfour in scharfem Widerspruch; dieser eifrige Forscher leitet die Spinal-
ganglien direct vom Rückenmark selbst her. Ich muss bekennen, dass ich bis jetzt
noch nicht von der Richtigkeit dieser Angaben überzeugt bin; gleichfalls aber muss
ich eingestehen, dass mein Freund Hensen in einer Unterredung mit mir so
energisch für ihre Richtigkeit, auch in Bezug auf die Amnioten, eingetreten ist, dass
ich geneigt bin, einstweilen mein Urtheil hier zu verschieben, bis eine genauere
Darstellung des von Balfour Beobachteten vorliegt. Dann wäre mit Rücksicht hier-
auf die Untersuchung an den Anneliden wieder aufzunehmen, da ich gern zugeben
will, dass ich bei der ausserordentlichen Schwierigkeit der Untersuchung, nicht jeden
Punkt um jeden Preis aufrecht zu erhalten vermag. Vielleicht gelänge es dann, an
günstigeren Objecten zu zeigen, dass die Zellgruppen, welche die Spinalganglien
werden sollen, doch von der Neuralanlage her in das Mesoderm eingewuchert, nicht
aber von den beiden Mesodermplatten abgeschnürt worden seien; vielleicht, sage ich,
denn meine Gründe für die gegentheilige Annahme habe ich oben auseinandergesetzt.
Aber auch dann würde ich die beiden seitlichen Ganglien im Bauchmark der Anne-
liden als Spinalganglien auffassen müssen, da sie immer gegliedert sind und von
Anfang an gegliedert entstehen, während das centrale Ganglion immer anfänglich
ungegliedert ist und erst secundär durch Dehnung segmentirt wird; dazu käme der
Ursprung der seitlichen Nerven aus zwei Wurzeln, einer dorsalen und einer ventralen,
welcher bei allen Anneliden an den Nerven leicht nachzuweisen ist, die wie die
Spinalnerven der Wirbelthiere in die seitliche Muskelmasse eintreten.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 13
180 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
oder minder erklärbares Uebersehen nachweist, beruht aber auf der An-
nahme, dass die Bildungsweise des Bauchmarkes am freien Afterende der
geschlechtslosen Naiden übereinstimmen müsse mit derjenigen desselben
Organes im Embryo auch der übrigen Oligochaeten und Hirudineen. Würde
man nachweisen können, dass in dem einen Falle das Mesoderm, im andern
aber das Eetoderm wirklich die seitlichen Ganglien dieser Anneliden lieferte,
so wäre damit meines Erachtens bewiesen, dass von einer Homologie der
Keimblätter, wie ihrer weiteren Gliederungen (in die späteren Organe) nicht
die Rede sein könne. Die Wichtigkeit solches Resultats würde wohl ein-
mal eine speciell auf diesen Punkt gerichtete Untersuchung rechtfertigen;
ich für meinen Theil bekenne indessen, keine Neigung zu ihrer Anstellung
zu haben, da ich ausdrücklich erkläre, dass ich bei Untersuchung der
etwa erkennbaren morphologischen Identitäten die Gleichheit der primären
Keimblätter aller Thiere annehme, ohne sie indessen jetzt schon als er-
wiesen anzusehen.
B. H. Die Entstehung der ersten Knospungszone oder die Theilung
der Naiden.
Während des Winters oder früh im Jahre scheinen die Eier gelegt
zu werden. Die ersten aus diesen auskriechenden Naiden werden nicht in
Form einer Kette auftreten; die erste Bildung einer solchen Kette muss
dadurch geschehen, dass eine Nais, welche ungefähr doppelt so viel Seg-
mente hat, als ihr — so lange sie ungeschlechtlich bleibt — zukommen,
sich in der Mitte theilt. Dieser Vorgang ist von OÖ. F. Müller (und später
von Minor und Tauber) auch bei jenen älteren Zooiden der N. proboseidea
beobachtet worden, welche durch allmäliges Abgeben ihrer hinteren Seg-
mente an die Tochternaiden die Zahl ihrer eigenen Segmente bis auf 16
vermindert hatten: diese wachsen dann aus, bis sie mehr als 40 Glieder
erhalten haben, und nun theilt sich das so verlängerte Zooid in zwei nahe-
zu gleichlange.
Diese Theilung kommt aber ferner auch immer bei dem hinteren Zooid
einer Kette, welches den primären After trägt, vor, und sie beruht darauf,
dass überhaupt jedes Afterende irgend eines Thieres der Kette, also auch
das letzte freie Afterende, die Tendenz hat, in infinitum weiter zu wachsen ?).
!) O. F. Müller deutet dies schon an, Ray Lankester hat dies zuerst, Perrier
später klarer ausgesprochen (Histoire naturelle du Dero obtusa. Lacaze-Duthier's
Archives Vol. I. 1872, p. 90). Es ist wunderbar, dass diese fundamentale Thatsache,
ohne deren Kenntniss ein Verständniss der Vermehrungsweise ungeschlechtlicher
Naiden gar nicht zu gewinnen war, so zahlreichen erprobten Beobachtern ganz ent-
gehen konnte,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 181
Erhält so das hintere älteste Tochterthier mehr, als die doppelte Zahl
der ihm zukommenden Segmente, so theilt es sich gerade so gut, wie das
erste aus dem Ei gekrochene oder das vordere nach der Verkürzung durch
die Abschnürung sich nun verlängernde Mutterthier einer Kette. In allen
drei Fällen charakterisirt sich diese Theilung dadurch, dass die Theilungs-
zone sich zwischen zwei vollständig gleich gebaute und gleich grosse Seg-
mente einschiebt.
Allein diese Theilungszone ist eine echte Knospungszone, und Leuckart!)
hat schon vor langer Zeit ganz mit Recht darauf hingewiesen, dass sie als
vollständige Neubildung sich zwischen zwei Segmente einschiebt; er hat
ebenfalls ganz richtig gegenüber Schultze hervorgehoben, dass das vorderste
der zwei alten die Zone umfassenden Segmente am Vorderrande dieser
Zone endigt; er hat endlich klar erkannt, dass in ihr sowohl die Anlage
für die Kopfglieder des hinteren Thieres, wie für die Körperglieder des
nächst jüngeren, in zweiter Knospung entstandenen Zooids, enthalten seien.
Ueber die histologischen Vorgänge in dieser Zone finden sich bei keinem
Autor irgendwelche brauchbare Angaben; Minor hat freilich versprochen,
uns seine Beobachtungen hierüber mitzutheilen, dies aber bis jetzt, soviel
ich weiss, nicht gethan.
Eine jede, eine einfache Nais in zwei Zooide theilende, Knospungs-
zone (Taf. VI. Fig. 7 z.) hat also zwei Hälften, eine hintere, aus welcher
der neue Kopf des hinteren Thieres (C) wird und eine vordere, aus weicher
sich nach dem bekannten Gesetze der Annelidensegmentiruug von vorn
nach hinten neue Körperglieder entwickeln. Wir können dem entsprechend
die hintere Hälfte einer Knospungszone als Kopfzone, die vordere als
Rumpfzone bezeichnen; es versteht sich von selbst, dass sie nie ge-
sondert auftreten, da sie sich gegenseitig bedingen. Aber es ist zweck-
mässig, die beiden Hälften der Knospungszone mit besonderen Namen zu
belegen, da die ganz abweichenden Vorgänge bei ihrer späteren Umbildung
und Gliederung eine gesonderte Darstellung erheischen.
Ganz ebenso gebaut, wie diese ein scheinbar vollständiges Thier in
zwei Hälften theilende Knospungszone, ist diejenige, welche sich bei N,
proboseidea und nach Minor bei allen der Untergattung Stylaria angehörenden
Arten, ferner nach Tauber auch bei Nais elinguis, zwischen dem vorletzten
und dem letzten Körpergliede des alten vorderen Thieres einschiebt und so
(s. Taf. VI, Fig. 8 z‘) dem dahinterliegenden Körpertheil des neuen Zonids
ein altes Glied des ältesten Thieres mitgiebt. Die Anlage dieser Zone ist
genau die gleiche, wie bei jenen andern; ich werde daher in meiner
?) Leuckart, Arch. f. Naturgesch. 1851, p. 134, Taf. II, Fig. I—III.
13”
182 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Schilderung der ersten Entstehung einer solchen Knospungszone auch
die im Vorderthier der Ketten von N. proboscidea auftretende mit be-
rücksichtigen.
Einige orientirende Bemerkungen über den normalen Bau eines aus-
gewachsenen Segmentes von Nais scheinen mir hier am Platze zu sein.
Ein in der Mitte geführter Durchschnitt durch ein solches trifft ventral das
Ganglion, dorsal das Herz; zwischen Darm und Ganglion liest der Durch-
schnitt der Aorta. Die Segmentalorgane werden in ihrer Insertionsstelle
nicht getroffen, wohl aber die dorsalen und die ventralen Borstenbüschel.
Die Austrittsstellen dieser letzteren sind durch die Anordnung der Mus-
culatur bestimmt. Dorsal über dem Darm liegt eine breite, aus Längsfasern
bestehende Muskelplatte, welche ich die cardiale nenne (Taf. V u. VI
verschiedene Figuren c. m.), da sie auf der Seite des Herzens liegt; unter
dem Bauchmark liest eine zweite, weniger breite Längsmuskelplatte, deren
Seitenränder häufig um das Bauchmark mehr oder weniger weit herum-
geschlagen sind (Taf. V, Fig. 12, 15 n. m.; Taf. VI, Fig. 1 n. m.). Ich
nenne diese zweite Muskelplatte die neurale. Beide zusammen aber um-
spannen noch nicht den ganzen Umfang; links und rechts bleibt ein Feld
frei, das Seitenfeld, welches im Rumpfe immer, im Kopf nur anfänglich
durch zwei seitliche Muskelplatten (Taf. V, Fig. 11, 12, Taf. VI, Fig. 2, 9)
abermals getheilt ist. Die dorsal liegende seitliche Muskelplatte nenne ich
den cardialen, die ventral liegende den neuralen Seitenmuskel. Jener ist
durch einen schmalen Raum vom cardialen Muskel getrennt, aus welchem
die Rückenborsten hervortreten; in dem Zwischenraum zwischen neuraler
Muskelplatte und neuralem Seitenmuskel setzen sich die Segmentalorgane an
und treten die Bauchborsten aus. Zwischen den beiden Seitenmuskeln liegt
ein bei Nais immer vorhandener, in den Kopf übertretender Zellstrang
(Taf. V, Fig. 14 s. 1.; Taf, VII etc. s. 1.), dessen grosse, allgemeine Be-
deutung ich hier nicht erärtern kann. Ich werde ihn die Seitenlinie
nennen. Dies System von Längsmuskeln ist im Rumpfe von Nais nur
durch eine ganz dünne, oft gar nicht bemerkbare Basalmembran (vielleicht
ein Ringmuskel) von der umgebenden Epidermis getrennt.
Die Muskeln des Seitenfeldes sind bei den Anneliden ungemein starken
Variationen unterworfen, schon Chaetogaster hat nur einen solchen; bei
andern Anneliden fehlen oft beide vollständig. Das Seitenfeld selbst aber,
d. h. der Zwischenraum zwischen der cardialen und neuralen Muskelplatte
ist bei allen Anneliden vorhanden; in ihm finden sich immer die Durch-
trittsstellen der Borstenbüschel und der Segmentalorgane.
Es tritt die oben erwähnte Knospungszone (Taf. VI, Fig. 7, 8) immer
zwischen zwei Borstenbündeln auf, und ihre erste Spur ist, bei geringer
|
!
N
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 183
Verlängerung ihrer Distanz zwischen den Borsten, immer durch eine an
der Bauchseite auftretende schwache Verdickung angedeutet; gleichzeitig
damit nehmen die Zellen der Epidermis ein eigenthümlich verändertes Aus- |
sehen an. Die Verdickung wird theils durch Wucherung nach innen zu,
theils auch durch die Vermehrung der Epidermiszellen selbst hervorgebracht ;
diese letztere greift rasch von der Bauchseite her um beide Seiten des
Thieres herum auf den Rücken über und bildet nun den, die Theilung ein-
leitenden „schwarzen Querstrich“ O. F. Müller’s (Taf. VI, Fig. 7, 8 z. z’).
Weniger rasch wachsen die inneren Zelllagen, deren Entstehung und Neu-
bildung nur an Querschnitten zu verfolgen ist, um den Darm herum; haben
sie ihn aber zur Hälfte umwuchert, so ist auch die Zone schon nahezu so
lang wie ein ursprüngliches Glied geworden und in ihrer Mitte durch eine
feine Furche — die spätere Theilungsfurche der beiden Zooide — in zwei
fast gleichsrosse Hälften getheilt. Diese Furche ist aber anfänglich nur
eine äusserliche, und sie durchsetzt nicht einmal die Epidermis.
Damit ist die Knospungszone in ihren zwei Haupttheilen angelest. Da
sie sich nun zwischen zwei vollständige alte Glieder eingeschoben hat,
welche nichts von ihren Bestandtheilen verlieren, so müssten die verschie-
denen Organe derselben (Darm, Nerven, Muskelfasern), welche durch das
erste ungetheilte Zooid hindurchgingen, zerrissen worden sein, wenn nicht
auch hier eine Einschiebung neuer Theile oder eine Dehnung der alten
stattgefunden hätte. Eine wirkliche Lösung der Continuität des Zusammen-
hanges scheint nur die aus den bekannten Pigmentzellen bestehende Darm-
faserhaut getroffen zu haben, denn innerhalb der Zone fehlen dieselben ;
eine Dehnung ist sicherlich bei den Nervenfasern und den Muskelfasern
eingetreten, Neubildung aber, wenigstens zu grossem Theile, in dem der
Knospungszone entsprechenden Abschnitt des Darmes und in der neuralen
Muskelplatte.
Ich gehe nun über zur Beschreibung der Durchschnitte, die ich in
vollständiger Reihe von zwei der jüngsten Knospungszonen abgebildet habe.
Die erste dieser Zonen war so schmal, dass ich nur einen ganzen und zwei
halbe Schnitte von je !/,; mm. Dicke durch sie legen konnte, d. h. die
beiden vor oder hinter den abgebildeten Schnitt (Taf. VII, Fig, 7) ge- |
hörenden Schnitte zeigten ausser den einwuchernden Elementen auch noch
Theile der alten Glieder, Borstenbüschel, Leberzellen etc, Im absefildeten|
Querschnitt ist die Epidermis stark verdickt, 3—4 Zellen liegen an der
Neuralseite in der Dicke; in der Mittellinie ist hier eine seichte Furche
bemerkbar (Taf. VJI, Fig. 7 n). Die neurale Muskelplatte (Fig. 7 nm.)
hat sich um die er ensfeänes (Fig. 7 ns.) zusammengekrümmt ; die,
beiden seitlichen Muskelplatten stehen von jener, wie von der cardialen
184 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Muskelplatte und auch untereinander weit ab. Es befinden sich also jeder-
seits drei weite Zwischenräume zwischen den Muskelplatten. In diesen
sieht man auf der rechten Seite des Schnittes keine Spur einer das äussere
Ectoderm und den inneren Keimstreifen trennenden Basalmembran; links
dagegen ist sie schwach angedeutet. Da nun, wie Profilbilder der ganzen
Thiere lehren, der Keimstreif immer ventral auftritt, und eine deutliche
Vermehrung der Epidermiszellen und Umbildung derselben in embryonale
Eetodermzellen ihm vorhergeht, so ist aus dem eben beschriebenen Bilde
auch mit Sicherheit zu entnehmen, dass in den dem Seitenfelde ent-
sprechenden drei Muskelzwischenräumen die Einwanderung der Eetoderm-
zellen in die ihnen offen stehende Leibeshöhle erfolgte. Das Entoderm be-
theiligt sich zunächst gar nicht. Gerade so, wie am freien Afterende eine
Verdiekung der Epidermis in zwei seitlichen Hälften eintritt, welche dem
Seitenfelde entsprechen, so erfolgt auch hier die Neubildung des Keim-
streifens aus demselben Seitenfelde.
Die zweite junge Knospungszone (Taf. VI, Fig. 7 z) war in vier
“ Schnitte von etwa !/,, mm. Dicke zerlegt. In allen vieren ist die Epi-
dermis seitlich und gegen die Neuralseite zu schwach und gleichmässig ver-
dickt (Taf. VI, Fig. 1—4), sodass hier mitunter selbst drei Zellen in der
Dicke der geschichteten Epidermis liegen. Cardialwärts aber — also auf
dem Rücken des Thieres — besteht sie, wie überall in den ausgebildeten
Segmenten, aus einer einfachen Zellenlage. In der neuralen Mittellinie
(des Bauches) findet sich eine durchgehende flache Furche (Taf. VI, Fig,
1—4n.), durch welche also die Epidermisverdickung in zwei symmetrische
Hälften getheilt wird. Es ist dies die gleich mit der Zone auftretende
Neuralfurche.
Dicht unter der Epidermis liegt die Musculatur. Diese besteht, wie
im ausgewachsenen Thier, aus einer neuralen (ventralen) Muskelplatte,
einer cardialen (dorsalen) und links und rechts aus zwei seitlichen. Diese
letzteren sind von einander getrennt durch einen schmalen Zwischenraum
(Taf. VI, Fig. 1—4 sl.); eben so gross ist gewöhnlich der Abstand der
einen von der neuralen, der andern von der cardialen Muskelplatte. Im
ersten Schnitt von hinten (Taf. VI, Fig. 1 nm.) ist die neurale Muskel-
platte, beiderseits den Nervenstrang umfassend, in die Leibeshöhle vor-
getreten; ganz ebenso verhält sie sich in allen erwachsenen Segmenten.
Aber schon im nächsten Schnitt legt sie sich, wie die übrigen Muskel-
platten, hart an die Epidermis an. In den drei Zwischenräumen nun,
welche jederseits die vier Muskelplatten jeder Körperhälfte zwischen sich
lassen, gehen die Zellen der Epidermis mitunter direct in die des unter-
liegenden Mesoderms über, sodass auch hier der Gedanke nicht abzuweisen
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 185
ist, es sei dieses letztere durch eine Wucherung von der Epidermis her
entstanden.
Das neue Mesoderm umgiebt in allen vier Schnitten den Darm nahezu |
gleich weit. Es besteht aus zwei symmetrischen Hälften (Taf. VI, Fig.
1—4 mes.), welche mit breitem Ursprung das Nervensystem und die
ventrale Fläche des Darmes umfassend, dann aber gegen den Rücken hin
(in der Zeichnung nach unten) sich von diesem entfernen und mehr an
die Epidermis anlegen. In ihrem neuralwärts gelegenen Theile sind diese
Mesodermplatten ganz compact; gegen die Rückenseite des Thieres zu lösen
sie sich in einigen Schnitten rascher, als in andern, in ein dichtes Netzwerk
von Zellen auf, welches hie und da mit unregelmässig in der Leibeshöhle
zerstreuten sternförmigen Zellen in Verbindung steht. Mitten in dieser
Zone, also etwa zwischen dem zweiten und dritten Schnitt (Taf. VI, Fig.
2 u. 3) sollte das alte Dissepiment liegen, an welches sich die neugebildete
Mesodermmasse angelegt hatte; vielleicht sind jene Zellennetze, welche
sich allerdings auf allen vier Schnitten erkennen lassen, Reste desselben,
Ich glaube dies annehmen zu dürfen; denn man wird aus dem Verlauf der
Umbildungen in der Knospungszone ersehen, dass die Mesodermplatte in
der Rumpfizone bei älteren Knospungszonen kleiner zu sein scheint, als bei
jüngeren, und sie entspricht vielmehr in ihrer Ausdehnung dem compacten
Theile des Mesoderms, der in allen vier abgebildeten Schnitten gegen das
Zellennetz. ziemlich scharf abgesetzt erscheint. Man kann diese zwei Meso-
dermplatten zusammen als neuen Keimstreifen bezeichnen, da sich aus ihm
genau dieselben Organe hervorbilden, wie beim Embryo; ehe aber aus ihm
die neuen Dissepimente, Borstenbüschel, Muskeln, Segmentalorgane und
Gefässe hervorgehen, zerfällt er, wie der embryorale Keimstreif oder wie
der am natürlichen Afterende aller jungen Anneliden und Annelidenlarven |
entstehende, in Ursegmente.
Das Nervensystem ist noch genau in derselben Lage, wie in allen aus-
gebildeten Gliedern. Im ersten Schnitt (Taf. VI, Fig. 1) sind noch die /
drei Ganglienknoten gut ausgebildet, im zweiten fehlt der eine seitliche
ganz, im dritten sind nur noch die beiden Nervenfaserzüge vorhanden, im
vierten aber treten schon wieder einige Ganglienzellen auf (Taf. VI, Fig. 4).
Die Längscomissur, welche die beiden Ganglien der Segmente Bx und
C1 (Taf. VI, Fig. 7) trennt, ist ebenso dick, wie zwischen zwei normalen
Gliedern, und nur wenig länger. Man kann daher auch noch nicht ent-
scheiden, ob hier wirklich eine Dehnung der Nervenstränge stattgefunden
habe, oder ob die durch die Einschiebung der neuen Knospungszone
natürlich bedingte Verlängerung derselben nicht etwa hervorgerufen sei
durch eine Vermehrung ihrer Elemente.
186 _SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
| Dicht unter dem Nervensystem liest, so ziemlich überall die Mitte
einnehmend, ein Zellstrang (Taf. VI, Fig. 1—4ch), dessen Elemente
ziemlich unregelmässig gruppirt sind, und in ihrem Aussehen genau mit
‘den am Schwanzende als Chordazellen aufgefassten Zellen übereinstimmen ;
‚ihre Kerne sind immer gross, glashell und mit einem grossen, stark licht-
| brechenden Kernkörperchen versehen. Diese Chordazellen kommen aber
nicht blos hier vor, sondern sie liegen bald in langen Strängen, bald in
einzelnen Fretzen selbst in den ältesten Gliedern unter (über) dem Ganglien-
strang (Taf. VIII, Fig. 9ch.); vor Allem deutlich und stark gehäuft aber
sind sie ganz ausnahmslos in einer Knospungszone. Noch deutlicher, als
bei Nais tritt dies bei Chaetogaster hervor (Taf. X, Fig. 4ch.). Das
\Bauchgefäss liegt immer diesem Zellstrang hart an, mitunter zwischen ihm
und dem Darm, meistens aber seitlich abgerückt (Taf. VI, Fig. 1—4 a0.).
Im ersten Schnitt nun liegen sechs solcher Chordazellen, gänzlich isolirt
von den Mesodermplatten, unter dem Nervensystem; in den drei folgenden
Schnitten aber stehen sie in directester Verbindung mit der einen derselben,
nämlich mit derjenigen, welche nicht auf der Seite des Bauchgefässes (Taf.
VI, Fig. 2—4) liegt. Ich habe mich überall und immer vergeblich bemüht,
eine Grenze zwischen den Chordazellen und den Mesodermzellen zu ent-
decken; trotzdem scheinen die hier mitgetheilten Bilder zu beweisen, dass
ein genetischer Zusammenhang zwischen beiden nicht existiren könne; denn
wenn wirklich, wie es häufig den Anschein hat, die Mesodermplatten zum
Theil wenigstens durch Wucherung der Chordazellen entstanden wären, so
würde diese doch wohl symmetrisch nach beiden Seiten hin vor sich ge-
gangen sein; dass aber eine solche nicht nach der einen Seite hin statt-
gefunden haben könne, scheint durch die Lage des breiten Bauchgefässes
(Aorta) in allen Schnitten (Taf. VI, Fig. 1—4) bewiesen zu werden.
Durch andere Schnittreihen bin ich aber doch wieder unsicher gemacht;
und dies um so mehr, als es — wie sich später zeigen wird — in manchen
Fällen geradezu so aussieht, als wenn auch die beiden seitlichen (Spinal-)
Ganglien einen Antheil an der Hervorbringung der beiden Mesodermplatten
des neuen Keimstreifens haben könnten. Dem mag nun sein, wie ihm
wolle, soviel ist sicher, dass eine Grenze zwischen den Chordazellen und
denen der einen Keimstreifhälfte in keiner Weise in diesen Schnitten zu
entdecken ist.
Das Herz (Rückengefäss Taf. VI, Fig. 1—4c.) liegt nicht genau in
der Mittellinie, sondern etwas seitlich, aber in allen vier Schnitten dem
| Bauchgefäss gegenüber. Es ist immer leicht an seinem körnig geronnenen
| Inhalt zu erkennen.
Die Darmfaserhaut wird bei den Naiden bekanntlich im Rumpfe durch
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 187
grosse, runde mit körnig-braunem Inhalt versehene Zellen repräsentirt, |
welche in den ausgewachsenen Segmenten das Entoderm und die sehr dünne |
Muskelhaut (2), die ich indessen nie deutlich erkennen konnte, gleichmässig ı
überzieht. Man sieht ihre Zellen als Leberzellen an. Physiologisch mögen ||
sie dies sein, morphologisch sind sie es gewiss nicht, denn sie entstehen
nicht aus dem inneren, sondern aus dem mittleren Keimblatt. In den hier
beschriebenen vier Schnitten sind diese Körnchenzellen ganz ungleichmässig
auf dem Darm zerstreut, sie bilden nirgends mehr eine zusammenhängende
Sehieht und die Untersuchung einer älteren Zone zeigt denn auch deutlich,
dass sie im Bereiche derselben gänzlich fehlen. Dies haben frühere Be-
obachter schon gewusst, ohne freilich die Erklärung dafür zu geben. Da
sie dem Mesoderm angehören, und also aus dem neu angelegten Keim-
streifen heraus erst um den Darmtheil der Zone herumgebildet werden
sollen, so muss hier der Zusammenhang zwischen den Belegzellen des Darm-
stückes vor und hinter der Zone zerrissen werden. Dies geschieht einfach
mechanisch; denn indem in allen Theilen, deren Continuität nicht auf-
gehoben werden darf, Neubildungen von Zellen eintreten, fehlen sie hier
in den Belegzellen des Darmes, und so werden die alten schon vorher vor-
handenen, durch die Einschiebung des Zonendarmstückes auseinandergezerrt.
In der Zone, welche in die hier abgebildeten vier Schnitte zerlegt wurde,
ist diese Auseinanderzerrung deutlich erkennbar.
Der Darm selbst zeigt endlich eine sehr eigenthümliche Vermehrung
seiner Zellen, die ich allerdings nicht sorgfältig genug bis jetzt untersucht
habe, um eine genaue Darstellung des feineren histologischen Verhaltens
seben zu können. Man sieht in allen vier Schnitten vereinzelte Nester
kleiner, dicht gehäufter und stark gefärbter Zellen in der äusseren Wan-
dungshälfte des Darmes; die Zellen dieser Nester zeichnen sich durch die
kleinen hellen, mit deutlichem Kernkörperchen versehenen Kerne aus,
welche an diejenigen der Zellen im neugebildeten Mesoderm erinnern. Sie
können indess nur durch eine Vermehrung einzelner Zellen des Darm-
epithels, also des Ectoderms entstanden sein; denn sie liegen gänzlich in
diesen und innerhalb der Darmfaserhaut. Die Kerne des eigentlichen
Darmepithels sind in Folge ungemein schwacher Färbung nur undeutlich zu
sehen, ebenso auch die Zellgrenzen nur höchst selten angedeutet.
Im Allgemeinen sind, wie man sieht, die vier Schnitte der Zone so
ziemlich gleich gebildet, und die vorhandenen Differenzen in der vorderen 2 Kant
und hinteren Hälfte zeigen noch keine Spur so weitgehenden Gegensatzes,
wie sie bald darauf hervortreten. Selbst die Grenze, die durch das Disse-
piment zwischen beiden Hälften eigentlich angedeutet sein sollte, ist verwischt |
worden durch die theilweise Resorption desselben oder durch Verschmelzung
188 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
mit dem sich neubildenden Keimstreifen. Dieser liegt vollständig neural
(ventral) und seine Seitenplatten greifen an der Muskelhaut schon gegen
den Rücken des Thieres hin über, ohne aber hier irgendwie mit der Epi-
dermis in Verbindung zu stehen. Ventral dagegen scheint eine solche
zwischen der verdickten ventralen Epidermis und den Mesodermplatten
vorhanden zu sein. Die cardiale Musculatur ist nirgends unterbrochen ;
und die Epidermis besteht an der cardialen (dorsalen) Seite noch immer,
wie in den ausgebildeten Segmenten, aus einer einfachen Zellenschicht.
Aber es ist ebensowenig noch eine Spur der mittleren neuralen Epidermis-
verdickung zu sehen, welche auf der ventralen Seite in der vordern Hälfte
der Zone auftreten muss, wenn anders sich aus dieser ein neuer Rumpf
mit allen seinen Attributen in ähnlicher Weise bilden soll, wie die Ver-
längerung desselben im natürlichen Afterende beständig vor sich geht.
Ganz analog verhält sich einmal die neugebildete Zone bei Nais
barbata, welche sich, wie hier, zwischen zwei alte Segmente einschiebt;
ebenso bei N. proboscidea die zweite Zone, welche mit Ueberspringung
eines alten Gliedes (Taf. VI, Fig. 8z,; Taf. VII, Fig. 8 z,) das Vorder-
thier um ein Segment verkürzt, um dieses dem nächst hinteren, durch
Knospung entstandenen Zooid mitzugeben. Auf diese Schnitte werde ich
weiter unten zurückkommen, wenn es sich darum handelt, die eigenthüm-
liche Verwachsung der Kopf- und Rumpfzone bei Nais proboscidea genauer
zu untersuchen.
Es bildet sich hiernach die erste Anlage einer Theilungszone durch
Vermehrung der Epidermiszellen an den beiden Seitentheilen und durch Ein-
wucherung derselben im Bereiche der Seitenfelder; sie tritt in allen drei
Räumen ein, durch welche die seitlichen Muskel des Seitenfeldes unter
einander und von den beiden medianen Muskelplatten getrennt sind. Ein
Gegensatz zwischen den zwei Hälften einer solchen Zone ist anfänglich
nicht vorhanden, und so sind also Kopf- und Rumpfzone nicht durch die
primäre Entstehung ihres ungegliederten Keimstreifens, sondern nur durch
die Verschiedenartigkeit ihrer späteren Umwandlung unterschieden.
Die grossen und bedeutungsvollen Unterschiede in der weiteren Um-
bildung der beiden Zonenhälften lassen sich nur durch gesonderte Be-
trachtung der Entwicklung der Rumpf- und Kopfzone genügend hervor-
heben. Festzuhalten ist dabei, dass sie ihrer ersten Entstehung nach voll-
ständig gleich sind.
B. III. Die weitere Entwicklung der Rumpfzone.
Die Verhältnisse bei der weiteren Ausbildung der Rumpfzone schliessen
sich in Bezug auf die Entstehung der Ursegmente und deren Gliederung,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 189
des Nervensystems, der Borstenbüschel ete. durchaus an diejenigen an,
welche ich bei dem Wachsthum des freien Afterendes beschrieben habe;
wie denn ja auch jede zwischen zwei ausgebildete Zooide eingekeilte,
knospende Rumpfzone ein freies Afterende erhält, wenn sich jene beiden
trennen. Ich brauche auf diese Vorgänge hier nur soweit einzugehen, als
sie dazu dienen können, einige abweichende Erscheinungen zu erläutern,
welche immer dann sich darbieten, wenn diese Rumpfzone wächst, so lange
‘die beiden älteren, durch jene getrennten Zooide noch im Zusammen-
hang bleiben.
Dieser Zusammenhang wird aber allmälig gelöst; und bei der Vor-
bereitung zu der Ablösung des hinteren Zooids vom vorderen treten eine
Reihe eigenthümlicher Veränderungen in der Lagerung verschiedener Organe
der Rumpfzone, so namentlich der neuralen Musculatur und der Nerven
ein, die ausführlich erörtert werden müssen.
Die Rumpfzone charakterisirt sich vor Allem durch die allmälige Aus-
bildung einer medial und ventral gelagerten Ectodermknospe, welche ||
genau in derselben Weise das centrale Ganglion oder das centrale Nerven- |
system liefert, wie dieses im wachsenden Afterende aus einer ähnlichen |
Verdickung der Epidermis hervorgeht. Am übersichtlichsten lässt sich |
das Auftreten dieser Eetodermknospe an optischen Längsschnitten darstellen,
welche leicht an den passend zubereiteten und sehr durchsichtigen Exem-
.plaren von Nais barbata zu gewinnen sind; die gleich zu beschreibenden
Bilder wurden mit der Camera nach solchen in genauer Profillage liegenden
und in Grösse so ziemlich übereinstimmenden verschiedenen Ketten ange-
fertist. Um durch die äusserlich die verschiedenen Regionen leicht unter-
scheidenden Borstenbüschel auch dem Auge die einzelnen Zonen und ihre
Abtheilungen zu bezeichnen, habe ich — was streng genommen nicht
richtig ist — diese in den einen Längsschnitt darstellenden Bildern
(Taf. VIII, Fig. 11—14 von Nais barbata) mit hinzugefügt. Dadurch ent-
stehen allerdings schematische Bilder; doch wusste ich mir nicht anders zu
helfen, denn für das Auge waren die aufeinanderfolgenden Stadien in den
relativen Verhältnissen ihrer einzelnen Theile nicht anders zu bezeichnen.
Durch die Borstenbüschel sind nämlich Kopf und Rumpfglieder scharf von
einander unterschieden. Jene entbehren bei N. proboscidea und barbata
aller Rückenborsten, und zwar nicht deshalb, weil hier früher vorhandene
Rückenborsten ausgefallen seien !), sondern weil sie überhaupt nicht angelegt
2) In den verschiedenen Arbeiten über Entwicklung der Meeresanneliden be-
gegnet man häufigen Angaben über das Ausfallen von Borstenbüscheln in den
vorderen Segmenten eines jungen Ringelwurms. Da ich hierüber keine eigenen Er-
fahrungen habe, so kann ich auch nicht behaupten, dass jene Bemerkungen falsch
190 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
werden. Alle Figuren sind bei gleicher Vergrösserung gezeichnet und so
orientirt, dass immer das vordere Individuum A links steht.
In der ersten Figur (Taf. VII, Fig. 11) hängt am letzten Segmente
von A, welches durch die gut ausgebildeten dorsalen und ventralen Borsten
bezeichnet ist, eine kurze Rumpfzone mit nur drei, durch Bauchborsten
bezeichneten Segmenten, Rückenborsten fehlten noch. Ventral liegt genau
in der Mittellinie eine Ecetodermknospe (Taf. VIII, Fig. 11n,), die vorn
stumpf abgeschnitten endigt, hier auch schon durch eine schwache auf !/,
etwa eindringende Furche von der unterliegenden Epidermis abgetrennt
ist, hinten aber rasch mit der letzteren verschmilzt. Vor dem stumpfen
Ende dieser Ectodermknospe — welche die Anlage des centralen Ner4en-
systems darstellt —, ist die Epidermis schwach eingebuchtet, aber noch
nicht verdickt.
In der nächsten Figur (Taf. VIII, Fig. 12) ist die Rumpfzone von A’
reichlich doppelt so lang geworden. Auf der Bauchseite stehen schon fünf,
auf der Rückenseite nur drei Borstenbüschel; diese letzteren treten
überhaupt immer etwas später auf, als jene. Das hängt offenbar damit
zusammen, dass die Mesodermplatten früher am Bauche entstehen, und hier
auch eher in ihre Glieder zerfallen, als am Rücken; damit stehen die durch
Querschnitte gewonnenen Resultate in völligem Einklang. Vor der ent-
sprechend verlängerten, und stark von der Epidermis abgesetzten Ectoderm.
knospe hat sich der kurze Raum zwischen ihrem stumpfen Vorderende und
dem letzten alten Borstenbüschel von A zu einer ganz winzigen neuen Zone
(Taf. VIII, Fig. 12 z,) verdickt. Beachtenswerth -ist ferner, dass durch
beide Reihen der Borstenbüschel das allmälige Fortschreiten der Segmen-
tirung von vorn nach hinten sehr deutlich bezeichnet wird, und zweitens,
dass das erste grösste und auch älteste Bauchborstenbüschel dicht hinter
der Vorderspitze der Ectodermknospe steht.
In der dritten Figur (Taf. VIII, Fig. 13) hat die Rumpfzone von A’
bereits mehr als das Fünffache ihrer Länge in der ersten Figur erreicht;
seien; dennoch kann ich den Gedanken nicht unterdrücken, es möchten dieselben in
einigen Fällen wenigstens auf mangelndem Verständniss der Entwicklungsvorgänge be-
ruhen ; denn aus M. Edward’s Beobachtungen an Terebella geht zweifellos hervor, dass
auch bei den polychaeten Anneliden neue Kopfglieder vor dem ältesten Rumpfgliede
eingeschoben werden. Da wäre es denn doch nicht unmöglich, dass einige Beobachter,
unbekannt mit der wirklichen Entwickelung des Kopfes bei den Anneliden, die jungen
Kopfglieder für alte Segmente angesehen hätten, denen die alten Borsten ausgefallen
wären. Bei Capitella geht indessen wirklich, wie Claparede genau beschrieben hat
und ich bestätigen kann, ein solcher Borstenwechsel in den vordersten Segmenten
vor sich.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 191
Bauchborstenbüschel sind sieben vorhanden, Rückenborsten nur fünf; die |
neue Zone z, hat sich gleichfalls sehr in die Länge gezogen und es tritt
in ihr schon eine Andeutung der feinen äusseren Furche auf, welche sie
in eine für A’ bestimmte Kopfzone und in eine A“ angehörende Rumpfzone
zu theilen besimmt ist. Dem entsprechend ist ihr vorderer Abschnitt auch
schon erheblich in der Epidermis verdickt: eine Andeutung der nun
gleich darnach auftretenden zweiten Eetodermknospe.
Im vierten Bilde endlich (Taf. VIII, Fig. 14) hat sich die Kopfzone
von z, mit der Rumpfzone von z vereinigt, und so A‘ vervollständigt, in
dessen Rumpftheil nun schon neun Segmente deutlich durch Bauchborsten
bezeichnet sind. In der Rumpfzone von z, sind noch keine Segmente oder
Borsten zu erkennen; aber die stark verdickte Ectodermknospe (Taf. VIII,
Fig. 14 n 2) beginnt sich vorn mit stumpf abgerundetem Ende scharf von
der darunter liegenden Epidermis abzuheben, und vor ihr tritt schon eine
schwache Epidermisverdickung, Andeutung einer neuen Zone z,, auf.
Damit ist das an Profilbildern der Rumpfzone zu sehende erschöpft.
Ganz ähnlich verhält sich Nais proboscidea. Es kommen indessen bei
beiden Arten Abweichungen vor, welche ich hier nicht weiter beschreiben
kann, die aber vielleicht einmal mit später zu schildernden eigenthümlichen
Variationen in den specifischen Charakteren der Naisarten und ihrer
Lebensweise in Zusammenhang gebracht werden könnten.
‘ Die Untersuchung der Durchschnittsreihen verschiedenen Alters giebt
Aufschluss über eine Reihe wichtiger Veränderungen in der allmälig sich
verlängernden Rumpfzone. Man darf dabei nicht vergessen, dass diese
Verlängerung ungemein stark ist; vor Auftreten der Knospungszone waren
die zwei Nachbarsesmente A* und B, nur durch ein dünnes Septum ge-
trennt; wenn B durch die Kopfzonenhälfte vervollständigt zur Ablösung
bereit ist, (wie in Taf. VIII, Fig. 13), so hat die zugehörige und davor-
liegende Rumpfzone eine Länge erreicht, welche die eines normalen Segmentes
um mehr als das Doppelte übertrifft. Es müssen also die zwischenliegenden
Organe um ebensoviel verlängert worden sein; dass dies beim Darm, der
Epidermis und dem neuen Mesoderm durch Neubildung von Zellen ge-
schieht, geht ohne Weiteres aus der obigen Schilderung der Structur einer
jungen Knospungszone hervor. Aber auch die Muskelplatten und die
Nervenstränge von B und A bleiben mit einander in Verbindung, wie
einerseits aus der Bewegungsweise einer solchen Kette hervorgeht, anderer-
seits aus der Beobachtung, dass eine Berührung des Hinterendes von B
immer durch Bewegungen, die am Kopfe von A beginnen, beantwortet wird.
Zuerst ist der Zusammenhang durch die Muskel noch ziemlich fest; hat
aber die Knospungszone erst einige Kopfsegmente entwickelt, so löst sich
/
fp
192 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
das vordere vom hinteren Thier ungemein leicht in der durch die äusser-
lich sichtbare Ringfurche angedeuteten Grenze zwischen Kopf- und Rumpf-
Zone, Der Vorgang, welcher diese immer zunehmende Lösbarkeit der zwei
Hälften einer Knospungszone bedingt und allmälig zu der normalen Trennung
beider Zooide führt, ist durch Querschnitte leicht festzustellen.
ne Vorausschicken muss ich noch, dass die Trennungsfurche zwischen A
'und B zuerst an der Neuralseite durchschneidet, sodass sich hier, an der
_ ‚Stelle des neuen Mundes von B, die neue Schlundwandung mit der ventralen
‚Epidermis in Verbindung setzen kann, während die beiden Thiere noch
dorsal an einander hängen. Schliesslich stehen sie nur noch an der Spitze
der Stirn — bei N. proboseidea unterhalb des Stirnfühlers — miteinander
in Verbindung und das Herz geht selbst dann noch von einem zum andern
Thier, obgleich sonst fast in allen übrigen Theilen vollständige Lösung
eingetreten ist. Trennt man nun beide von einander, so tritt gewöhnlich
aus der kleinen Stirnwunde ein Häufchen von Zellen der Leibeshöhle,
mitunter selbst noch das Vorderende des Gefässes heraus; diese Stelle des
letzten Zusammenhanges ist häufig durch eine schwache trichterförmige
Einsenkung und einen dieser letzteren entsprechenden Zellhaufen in der
Kopfhöhle bezeichnet.
Aus den oben besprochenen Durchschnitten einer jungen Knospungs-
zone ist ersichtlich, dass anfänglich alle Muskelbänder in typischer An-
ordnung durch diese hindurchgehen. Zwischen den, den zwei ventralen
Borstenbüscheln entsprechenden Stellen liest die neurale Muskelplatte
(nm.), deren zwei sie zusammensetzende Theile vollständig zusammen-
hängen (Taf. VII, Fig. 7); die zwei seitlichen, durch eine Zellgruppe ge-
trennten Muskel gehen in die entsprechenden der normalen Segmente über
(lm. und Im.,) und sie sind durch einen kleinen Zwischenraum getrennt
von der ganz zusammenhängenden cardialen Muskelplatte (c. m.). Ebenso
gehen die beiden Nervenstränge durch die Zone ununterbrochen hindurch.
Dies Verhältniss bleibt längere Zeit so ziemlich gleich; auch wenn
die Rumpfzone durch die sich in ihr bildende Ectodermknospe schon stark
verändert worden ist und selbst schon die Gliederung in einzelne Urseg-
mente begonnen hat, so stehen doch noch die alten, nun durch die stark
verlängerte Zone getrennten Glieder A* und B, sowohl durch die
Nervenstränge, wie durch die Muskelplatten mit einander in Verbindung
(natürlich auch durch den Darm, dessen Verlängerung durch Zellwucherung
keine Schwierigkeiten bietet). Ich habe von dem in Taf. VI, Fig. 8 in
der Profillage gezeichneten Thiere eine vollständige Serie klarer Quer-
schnitte vor mir liegen, in denen allen sämmtliche genannte Muskeln auf-
zufinden sind; aber mit der neuralen Muskelplatte ist eine sehr eigen-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 193
thümliche Lagerungsveränderung vor sich gegangen, welche durch die all-
mälig von vorn nach hinten immer weiter fortschreitende neue Ectoderm-
knospe — Anlage des neuen centralen Nervensystems für das Zooid A’ —
bedingt wird. In dem Masse nämlich, wie diese Ectodermknospe länger
wird, schiebt sie sich zunächst an ihrem vorderen Ende immer weiter nach
innen vor — genau wie bei dem Wachsthum des freien Afterendes — und
hebt dabei sowohl den darunter liegenden doppelten Nervenstrang, wie die
gesammte alte neurale Muskelplatte empor. Zugleich krümmt sich diese
mit ihren beiden Rändern nach der Mittellinie vor, sie zerfällt unregel-
mässig in einzelne Fasergruppen und so geräth sie allmälig ganz tief ins
Innere (Taf. VI, Fig. 5, 6, 9, 10Onm), und wird dabei oben von der stark
verdickten und schon deutlich als neues centrales Neryensystem charakte-
risirten Ectodermknospe (Taf. VI, Fig. 5, 6 n.) bedeckt; seitlich aber
wird die Summe jener Stränge der alten Muskelfasern und Nervenfasern
von den beiden neuen Mesodermplatten (Taf. VI, Fig. 5, 9) eng umfasst.
Die beiden alten Nervenstränge sind immer noch deutlich erkennbar in
allen Schnitten ohne Ausnahme; aber sie sind viel dünner, als in den vier
Schnitten der ganz primitiven Knospungszone. Gleichzeitig mit dieser Ver-
änderung in der Lage der neuralen Muskelplatte geht auch eine solche mit
den beiden seitlichen Muskelplatten vor sich. Während diese in den aus-
gebildeten Segmenten sehr breit sind und für die beiden Borstenbüschel,
sowie den Zellstrang der Seitenlinie nur wenig Raum lassen — auch noch
in der-ganz jungen Knospungszone (Taf. VI, Fig. 1—4) —, haben sie sich
in den hier besprochenen Querschnitten einer etwas längeren, also älteren
Rumpfzone stark zusammengeballt und die Zwischenräume zwischen ihnen
und den andern Muskeln sind dadurch erheblich grösser geworden (Taf.
VI, Fig. 5, 6, 9). Am weitesten ist nun der Raum zwischen beiden, wo
in normalen Segmenten die Seitenlinie liest (Taf. VI, Fig. 5, 6, 9). Die
neuralwärts gelegene seitliche Muskelplatte liest in den vordersten Schnitten,
wo das neue Centralnervensystem (Taf. VI, Fig. 9) sich gerade vom Ecto-
derm zu sondern beginnt, hart am äusseren Rande dieser Ectodermknospe ;
von ihr aus geht eine feine Linie, welche die letztere von den medialen
Parthien des Mesoderms deutlich abtrennt (Taf. VI, Fig. 9), ab und trifft
mit der von der entgegengesetzten Seite kommenden so zusammen, dass die
beiden neuen Nervenfaserstränge (Taf. VI, Fig. Ins’) neuralwärts von ihnen,
dicht unter ihr aber die zusammengeballten alten Neuralmuskeln und Nerven
liegen (Taf. VI, Fig. 9ns). Von einer neuen neuralen Muskelplatte ist noch
nichts zu sehen, und die Trennung der Ectodermknospe von der eigent-
lichen Epidermis ist erst in der Mittellinie schwach angedeutet; es gehört
das sich neubildende Nervensystem mit seinem centralen Theil noch immer
194 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
der Epidermis an. Trotzdem sind in ihr deutlich die beiden neuen Längs-
nerven vorhanden (Taf. VI, Fig. 9); sie zeichnen sich sogar jetzt schon
durch besondere Verwandtschaft zum Gold aus, und ich habe vielfach
solche Durchschnitte gehabt, in denen beim ersten Anfang der beginnenden
Färbung sowohl die neuen, wie die alten Nerven dunkel gefärbt, die um-
gebenden Zellen und Fasern noch hell waren. Leider dunkelten diese
Schnitte allmälig so nach, dass sie ganz undurchsichtig wurden.
Endlich sieht man in dem vorletzten Schnitte (Taf. VI, Fig. 10, 1. m.)
hart an der cardialen Kante der neuralen Seitenmuskelplatte eine Zell-
gruppe schwach von den umgebenden Zellen des noch fast unsegmentirten
Mesoderms abstehen; sie scheint in dem letzten Schnitt, wo der Uebergang
in das alte zu A’ gehörende Segment A* stattfindet, mit der ihr zunächst
liegenden Muskelplatte zu verschmelzen. Aus den Schnitten einer älteren
Rumpfzone ergiebt sich nun, dass diese Zellgruppen Anlagen neuer Muskel-
fasern sind, welche in dem Maasse, wie der alte neurale Lateralmuskel zu
dem neuen Nervensystem in Beziehung tritt, ihrerseits an die Stelle des
neuralen Seitenmuskels geschoben werden. Dies Verhältniss kann erst
durch die Schilderung der nächsten Querschnittserie erläutert werden.
Im Entoderm des neugebildeten Zonenstücks des Darms ist gegen
früher eine Veränderung dadurch eingetreten, dass die ursprünglich in der
ganz jungen Zone isolirt auftretenden Zellnester sich überall mit einander
vereinigt haben, sodass nun dieses neue Darmstück ein geschichtetes Epithel
hat, in dessen Dicke oft drei, selbst vier Zellen liegen. Gleichzeitig sind
die grossen, gelbbraunen gekörnten Zellen der Darmfaserhaut — wie sie
für die Naiden so charakteristisch sind — völlig verschwunden; doch um-
giebt eine dünne Zelllage, deren Elemente mit denen der Mesodermplatten
recht sehr übereinstimmen, die Darmschleimhaut. Ob sie wirklich aus dem
neuen Mesoderm entstanden ist und sich allmälig vom Bauche her um
den Darm herumgelest hat, kann ich nicht entscheiden; doch ist dies
wahrscheinlich.
Wenn man nun die hier beschriebenen und abgebildeten Schnitte mit
den früher besprochenen vom natürlichen Afterende vergleicht, so leuchtet
die grosse Uebereinstimmung des Vorganges ein, und man wird jetzt schon
geneigt sein, zuzustimmen, wenn ich sage, dass auch hier, wie dort, die
Verwachsung der centralen ungegliederten Ectodermknospe mit den beiden
medialen Parthieen des Mesoderms zur Gesammtanlage des Bauchmarks er-
sichtlich ist. Deutlicher wird dies noch durch die nächste Schnittserie
gemacht werden. Ein doppelter, wesentlicher Unterschied aber besteht
dennoch: hier bei der Einschiebung einer neuen Knospungszone zwischen
zwei alte Glieder werden die alte Neuralmuskelplatte und der alte Nerven-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 195
strang gänzlich verschoben und verändert und so durch die Ectodermknospe
nach innen gegen den Darm hin gedrückt, dass nun der alte Nervenstrang
diesem viel näher liegt, als der Aussenfläche der Epidermis; dort bei dem
freien auswachsenden Afterende erfolgt einfach ein Wachsthum der vor-
handenen Theile von vorn nach hinten, ein Zuwachs derselben durch die
am Afterende vorhandene Embryonalmasse, welche sich in der früher be-
schriebenen Weise in die einzelnen Theile gliedert. Aber es liest auf der
Hand, dass diese Differenz keine principielle sein kann, sondern eben
bedingt ist durch die Einschiebung einer neuen, einen embryonalen Charakter
tragenden Zone zwischen zwei alte Glieder. Würde hier eine Lösung des
Zusammenhanges der beiden letzteren gleichzeitig mit der Anlage der Zone,
welche ja nur aus Zellen besteht, eintreten, so würde wohl die leiseste
Bewegung das Vorderthier A vom Hinterthier B trennen, da beide dann
ja nur sehr locker durch Zellen verbunden wären. Mit solcher frühzeitigen
Trennung aber würde das Zooid B wohl sehr geschädigt, vielleicht selbst
zerstört werden, da es sich ja erst mit der hintern Hälfte der neuen
Knospungszone zu einem neuen, lebensfähigen Thier vereinigen soll, diese
aber zu ihrer vollen Ausbildung nach Müller’s Beobachtungen ziemlich
lange Zeit braucht. Der durch Muskel, Nerven und Darm vermittelte Zu-
sammenhang von A und B aber gestattet der Zone, alle ihre Theile gut
auszubilden; in dem Masse, wie diese sich der Vollendung nähern, wird
jener Zusammenhang der Fasern lockerer, bis sie sich endlich in der Furche
zwischen Kopf- und Rumpf-Zone ganz trennen.
Wie aber geschieht es, dass die Trennung der Muskel- und Nerven-
fasern nicht früher eintritt, obgleich deutlich der Zwischenraum zwischen den
Borstenbüscheln A, und B, — welche vorher nur um die normale Länge
eines Segmentes auseinanderstanden — grösser geworden ist durch die
Einschiebung der neuen Zone? Es wäre einmal möglich, dass sich hier,
wie in den übrigen Organen (Darm, Epidermis etc.) durch Einschiebung neuer
Elemente die alten Fasern verlängerten. Bei den Muskelplatten könnte
man zweifelhaft sein, ob eine solche Neubildung nicht wirklich stattfände,
bei den Nervenfasern aber nicht; denn hier fehlen alle zelligen Elemente
dazu, und die umgebenden Theile sind vielmehr in offenbarer Degeneration
begriffen. Es leidet für die Längsnerven keinen Zweifel, dass sie in dem
Masse, wie die Knospungszone sich verlängert, gedehnt werden müssen ;
damit steht in Finklang, dass ihr Querschnitt immer dünner wird, je mehr
die Zone sich verlängert. Aber auch für einzelne Muskelplatten glaube ich
das Gleiche behaupten zu dürfen; auch sie unterliegen einer allmäligen
Streckung, wie das namentlich für die alte neurale Musculatur ungemein
deutlich ist; sie wird ersetzt durch eine neue, ganz und gar aus ihrer Lage
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 14
196 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
gebracht und zerfällt dabei in deutlichster Weise; trotzdem aber bleibt sie
continuirlich selbst durch alle Schnitte einer ganz alten Knospungszone
hindurch bestehen. Es muss hier eine Dehnung ihrer Elemente statt-
gefunden haben; Beweis dafür ist die Beobachtung, dass gerade, wie bei
den Nerven, ihr Querschnitt sich verkleinert in dem Masse, wie die Zone
länger wird.
Dagegen scheint die cardiale Musculatur sich durch Einschiebung neuer
Muskelzellen zu verlängern; denn ihre Ausdehnung, welche etwas mehr als
der Hälfte des Querschnittsumfanges entspricht, bleibt immer dieselbe, nie
ballt sie sich zusammen, wie die neurale Muskelplatte und ebensowenig
lockert sich der Zusammenhang ihrer Fasern. Unter solchen Umständen
muss wohl eine Einschiebung neuer Muskelelemente angenommen werden;
auch ist immer in der ganzen Länge einer Knospungszone eine Zellschicht
über der cardialen Muskelplatte ausgebreitet, welche direct vom Mesoderm
herzustammen scheint. Diesen Punkt habe ich, da er mich zu sehr auf
das Gebiet histologischer Liebhabereien geführt haben würde, nicht weiter
untersucht, als nöthig war, um festzustellen, dass niemals weder in jungen
noch alten Knospungszonen die cardiale Muskelplatte unterbrochen wird.
Die Bedeutung dieser Thatsache für die Entwickelung des sogenannten
Gehirns wird erst weiter unten klar hervortreten können.
Trotzdem aber so in dem alten Nervenstrang und einzelnen Muskeln
eine offenbar fortschreitende Degeneration und Rückbildung erfolgt, scheinen
‘ doch beide Theile ihre besondere Leistungsfähigkeit bis zum letzten Augen-
blick zu behalten; denn es bewegen sich — wie ich schon oben hervor-
gehoben habe — alle Thiere einer Kette so miteinander, als wären sie ein
Thier und eine Reizung ihres Hinterendes bedingt allemal eine spontane
und rasche Fortbewegung des vordersten Thieres: zum Beweis, dass die
Nervenleitung zwischen beiden nie aufgehoben wird.
Die älteste Rumpfzone (Taf. VII, Fig. 1—6, 8), welche dicht vor
der Ablösung des ihr anhängenden Zooids B steht, hat bei N. proboscidea
eine Länge, welche die eines normalen Segmentes von A fast um das
Dreifache übertrifft. Bei der Präparation der Kette hatten sich beide
Thiere von einander getrennt, was dann kaum mehr zu verhindern ist;
aus dem so künstlich gebildeten After von A, der sehr bald darauf zum
natürlichen geworden wäre, hing ein Fäcesballen heraus. Eine neue Knos-
pungszone (Taf. VII, Fig. 8 z,) hatte sich bereits zwischen dem letzten
(A x) und vorletzten (A,.,) Gliede von A eingeschoben, und in der Rumpf-
zone von A, waren bereits mindestens elf Segmente angelegt mit ebensoviel
Bauchborstenbüscheln und neun Rückenborstenbüscheln. Die vordersten
derselben waren die grössten; doch waren sie immer noch, namentlich die
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 197
Rückenborsten, erheblich viel kürzer, als die Borstenbüschel des Segmentes
A, , welches ja, wie bekannt, zu einem integrirenden Bestandtheil des
neuen Zooids A, wird, indem das älteste erste Körperglied der neuen Rumpf-
zone z und das jüngste Kopfglied der Kopfzone der neuen Knospungs-
zone z, jenes zwischen sich nehmen und mit ihm verwachsen.
Der zweite, dicht vor dem After geführte etwas defecte Schnitt war
schräg gegangen (Taf. VII, Fig. 1); zum Glück waren wesentliche Theile
nicht verletzt worden. Rechts im Durchschnitt fehlen alle Muskeln; die
cardiale Muskelplatte fehlt gleichfalls vollständig, nur links sind die beiden
seitlichen vorhanden (Taf. VII, Fig. 1 1.m.). Beide aber sind ungemein
zugespitzt, und der sie trennende Zwischenraum der Seitenlinie ist ganz
unverhältnissmässig gross. In der neuralen Mittellinie endl;ch sind nur
noch ganz undeutlich einige verdünnte Muskelfasern und die sehr kleinen
Nervenfasern zu erkennen (Taf. VII, Fig. 1 ns). Die Epidermis hat
sich zu einem starken mehrschichtigen Eetoderm verdickt; aber ihre beiden
neuralen Hälften sind durch eine sehr tiefe Furche, welche fast bis auf
die darunter liegende alte neurale Muskelplatte herabgreift, getrennt. Diese
Furche kehrt in sehr ausgesprochener Gestalt immer wieder, wenn die zwei
Individuen dicht vor der Trennung stehen; bei Eintritt derselben greift sie
über in den neu sich bildenden After, wird dann aber rasch durch das
Auswachsen des Hinterendes abgeflacht. Sie ist indessen am Hinterende
aller Knospungszonen und auch am freiwachsenden Afterende (Taf. V,
Fig. 3, 4) immer deutlich zu erkennen. Ich werde sie hier, wie dort, die
Neuralfurche nennen. Schliesslich ist in Bezug auf den hier abgebildeten
Sehnitt noch hervorzuheben, dass der Zusammenhang der (gelben) Meso-
dermplatten mit dem (blaugrauen) Ectoderm an einigen Stellen ungemein
deutlich ist.
Im nächstfolgenden Schnitt (Taf. VII, Fig. 2), welcher ganz voll-
ständig ist, sind rechts wie links die beiden Seitenmuskeln vorhanden,
ebenso tritt schon die cardiale Muskelplatte auf; und unter der medianen
Eetodermknospe liegt in einem kleinen Hohlraum die ungemein stark ver-
dünnte, alte neurale Musculatur mit den beiden Nerven deutlich erkennbar
(Taf. VII, Fig. 2 und Fig. 4 n.s. + n. m). Die Ectodermknospe (ek) springt
buckelig gegen den Darm hin vor; die tiefe Neuralfurche flacht sich in
diesem Schnitt plötzlich ab, ohne freilich ganz zu verschwinden und an der
entgegengesetzten (dorsalen) Seite der Ectodermknospe liegen schon, hart
der alten Neuralmuskelplatte angränzend, zwei kaum bemerkbare neue
Nerven, obgleich jene sich noch in keiner Weise von der Epidermis (Ecto-
derm) abgelöst hat. Dort, we die Ectodermknospe in die minder stark
verdickten Seitentheile der Epidermis abfällt, liegt die neurale seitliche
14*
men nern
198 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Muskelplatte (Taf. VII, Fig. 2 1. m.), die durch einen ungemein weiten
Zwischenraum der Seitenlinie von dem cardialen Seitenmuskel getrennt ist.
Im nächstfolgenden Schnitt haben sich diese Verhältnisse nur wenig
verändert (Taf. VII, Fig. 3). Die Ectodermknospe (ek) springt sowohl
nach aussen, wie nach innen ziemlich weit vor; auf der Bauchseite ist die
flache Neuralfurche (n) deutlich erkennbar. In ihr trennt sich schon die
centrale Parthie von einer äusseren Lage von Zellen durch eine in der
Mittellinie zuerst beginnende Spalte; die beiden neuen Nervenstränge sind
schon recht deutlich (n. s’), ebenso die unter ihnen liegenden alten (n. s);
auch die alten neuralen Muskelfasern (n. m.) sind erkennbar, während eine
neue neurale Muskelplatte noch gänzlich fehlt. Eine Gliederung des Meso-
derms ist noch nicht eingetreten.
Im fünften Schnitt endlich (Taf. VII, Fig. 4) beginnt die Vervoll-
ständigung der Musculatur. Die Neuralfurche ist noch immer vorhanden,
obgleich die Ecetodermknospe sich bereits von der über ihr liegenden Epi-
dermis gänzlich getrennt hat; von den beiden neuralen Seitenmuskeln (l. m.)
her hat sich jederseits eine Neuralmuskelplatte zwischen Epidermis und
Anlage des centralen Nervensystems eingeschoben (n. m‘.), welche jedoch
noch nicht bis zur Mittellinie vorgedrungen ist. Das centrale Nervensystem
besteht aus zwei deutlichen Hälften, welche durch einen genau die Mittel-
linie einnehmenden, keine Zellen enthaltenden schmalen Spalt getrennt sind.
Die neuen Nervenstämme (n. s‘) sind dicker geworden; dicht unter ihnen
liegen, von ihnen nur durch eine feine Membran getrennt, die alten Muskel-
fasern und Nerven in einem Strang (n. m. und n. s) zusammengeballt.
Zwischen dem alten neuralen und dem alten cardialen Seitenmuskel liegt
endlich eine dritte Seitenmuskelplatte (Taf. VII, Fig. 1. m‘), welche in den
hinteren Schnitten fehlte und hier zuerst in Form ganz feiner mit Zellen
verbundener Blättchen auftritt.
Wir haben also in diesem Schnitt drei Seitenmuskeln; den ausgebil-
deten Segmenten aber kommen ausnahmslos nur zwei zu. Man würde
vielleicht annehmen mögen, es sei hier etwa nur eine Abnormität be-
schrieben. Dieser Einwand wird widerlest durch die Thatsache — die ich
nicht erst durch zahlreiche Abbildungen zu belegen brauche —, dass aus-
nahmslos in allen von mir geschnittenen Kopfzonen von N. proboscidea und
barbata dieser dritte Seitenmuskel zwischen den beiden ursprünglich vor-
handenen gefunden wurde. Selbst in sehr jungen Zonen kann man schon
die Vorbereitungen zu seiner Ausbildung erkennen; es liegt in den vorhin
besprochenen Schnitten (Taf. VI, Fig. 6, 9, 10) eine Zellgruppe dem neu-
ralen Seitenmuskel so an, dass er unbedingt auf diese zurückgeführt werden
muss. Allerdings stossen dort der alte neurale Seitenmuskel und die Zell-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 199
gruppe, aus deren Umwandlung der neue Seitenmuskel entsteht, hart an
einander an; während in dem hier zuletzt besprochenen Schnitt beide
Muskeln durch einen kleinen Zwischenraum von einander getrennt sind.
Diese [Trennung beider erfolgt einfach durch das allmälige Wachsthum
und ihre dadurch hervorgerufene Lageveränderung: es wird nemlich der
alte neurale Seitenmuskel (Taf. VII, Fig. 4 1. m.), von dem aus die neuralen
Muskelplatten nach oben wachsen, im neuen Zooid zu einem integrirenden
Bestandtheil der neuen neuralen Muskelplatte; der neue Seitenmuskel dagegen
tritt an seine Stelle und bleibt vom cardialen Seitenmuskel durch die zellige
Seitenlinie, von der seitlichen Parthie der neuen Neuralmuskelplatte durch
den Zwischenraum getrennt, in welchem die Bauchborsten heraustreten.
Der Zerfall des Mesoderms in Ursegmente ist wahrscheinlich schon in
den beiden letzten Schnitten vor sich gegangen; denn im nächsten nun zu
besprechenden tritt auch schon die Gliederung jedes einzelnen Ursegmentes
in die typischen Theile ein, welche in dem eben besprochenen nur schwach
angedeutet waren.
In diesem Schnitt (Taf. VII, Fig. 5) hat sich die neurale Muskelplatte
fast vollständig über dem Centralnervensystem geschlossen; zwischen dem
eardialen Seitenmuskel und dem Ende der Cardialmuskelplatte heften sich | F
die kleinen, rundlichen Zellsäcke an, in denen später die Rückenborsten| /
(e. b.) entstehen ; die Seitenlinienzellgruppe (s. 1.) hat sich deutlich abgesondert ;
in dem einen der Bauchborstenfollikel (n. b.) steckt schon eine Borste, deren \
Richtung auf den Zwischenraum zwischen dem neuralen (neuen) Seiten-
muskel und dem alten Seitenmuskel zustrebt, der nun zur seitÖchen Parthie
des neuen Neuralmuskels geworden ist. Auch das Nervensystem hat sich
vervollständigt und zwar genau in der Weise, wie beim freien wachsenden
Afterende: die medialen Parthien der Ursegmente des Mesoderms (spg) —
welche die alte zusammengeballte Musculatur und Nervenfasern zwischen sich
fassen (Taf. VII, Fig. 3—5) — haben sich mit dem aus der Ectoderm-
knospe hervorgehenden centralen Nervensystem (c. g.) zu einer Masse ver-
einigt. Aber die in den vorhergehenden Schnitten bestehende scharfe
Grenze zwischen dem medianen (centralen) Ganglion und den beiden seit-
lichen (Spinal-) Ganglien des Mesoderms ist auch hier noch deutlich zu
erkennen (Taf. VII, Fig. 4); sie verwischt sich erst weiter nach vorn,
wenn durch die allmälige Längsstreckung der einzelnen Segmente eine
Zerfällung des ursprünglich ungegliederten Centralnervensystems in einzelne
Ganglien hervorgerufen wird. Dass in der That auch hier, wie beim freien
Afterende, die sich neubildende Ganglienkette durch Verwachsung eines
mittleren, aus dem Ectoderm stammenden, und zweier seitlicher von den
medialen Theilen des Mesoderms abgeschnürten Anlagen entsteht, geht wohl
200 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
mit ziemlich bedeutender Sicherheit aus den hier besprochenen aufeinander-
folgenden Querschnitten einer vollständig lückenlosen Reihe hervor. Denn
wenn man annehmen wollte, dass doch vielleicht die beiden seitlichen
Ganglien aus der. Ectodermknospe hervorwüchsen, so würde man in dem
fünften und sechsten Schnitt (Taf. VII, Fig. 4, 5) die seitlichen Ganglien
nicht gleich in ihrer vollen Grösse auftreten sehen, wie doch aus den Ab-
bildungen deutlich hervorgeht; es müsste ferner die dünne Membran, welche
in den hinteren Schnitten eine scharfe Grenze zwischen den medialen
Parthien des Mesoderms und der Eetodermknospe bildet, durch das seitliche
Auswachsen der letzteren verschoben werden, was aber nicht der Fall ist
(Taf. VII, Fig. 3, 4); es liesse endlich diese Annahme gänzlich unberück-
sichtigt, dass hier, wie im freien auswachsenden Afterende, die allmälig
von hinten nach vorn immer schärfer hervortretende Absonderung der
medialen Mesodermparthien so erfolgt, dass die Grösse und Lage der vom
Mesoderm so abgetrennten Zellparthien genau übereinstimmt mit den beiden
Zellgruppen, welche sich (Taf. VII, Fig. 3—6; Taf. IX, Fig. 20) in un-
zweifelhaftester Weise als die seitlichen Ganglien zu erkennen geben. Als
weiteres Argument gegen solche etwa zu machende Einwände könnte endlich
auch noch die Lagerung der alten neuralen Musculatur und der alten Nerven
Taf. VII, Fig. 3 6) angeführt werden.
Hervorzuheben ist endlich noch, dass hier die Neuralfurche gänzlich
verstrichen, die mediane Spalte aber, welche das centrale Nervensystem in
zwei seitliche Hälften theilt, noch deutlich erkennbar ist (Taf. VII,
Fig. 4, 5).
Die nun folgenden Schnitte erklären sich von selbst. Im neunten (Taf.
VII, Fig. 6), noch mehr im zehnten nicht abgebildeten, hat die neurale
Muskelplatte ihre definitive Form angenommen, indem sie sich in der
Mittellinie vollständig geschlossen hat, und ihre Seitentheile (die aus den
alten neuralen Seitenmuskeln entstanden sind) sich um das Nervensystem
herum und in die Leibeshöhle hinein zu krümmen beginnen. Unter den
beiden neuen, dicken Längsnerven liegen die alten Nerven und Muskeln,
tief zwischen die Seitenganglien eingesenkt; zwischen diesen und dem Darm
links die Aorta, in der Mitte Reste der Mesodermzellen, welche genau da
liegen, wo auch sonst die Chordazellen vorkommen. Neben den Bauch-
borstenbüscheln endlich sieht man medialwärts je eine Zellgruppe, aus
welcher, wie die darauffolgenden Schnitte lehren, das Segmentalorgan (sg.)
hervorgeht. Es war mir unmöglich’ an diesen so ungemein kleinen Objecten
die erste Entstehung der letzteren zu erforschen; doch schien es mir, als ob
sie genau so, wie die Borstenfollikel, aus dem Zerfall der Ursegmente
entstünden.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 201
Noch weiter nach vorn zu liegende Durchschnitte dieser Reihe abzu-
bilden, ist überflüssig; doch muss ich bemerken, dass hier an das Vorder-
ende der Zone, also bis an das alte Glied A, heran (Taf. VII, Fig. 8),
die alten Muskelfasern und Nerven unter und theilweise umfasst von dem
neuen Nervensystem zu verfolgen waren. Aber sie wurden, je weiter nach
vorn zu, um so dünner und mehr und mehr zu einem gemeinsamen
Strang zusammengeballt, dessen weitere Schicksale wir jetzt noch kurz ver-
folgen müssen.
Am Vorderende der Rumpfzone setzt, wie oben angegeben, die Ecto-
dermknospe (Taf. VIII, Fig. 11, 12, 14 n n,) stumpf und schroff ab; zu-
gleich auch verbindet sich der alte, von der Ectodermknospe emporgehobene
Muskel (Taf. VIII, Fig. 12 n. m.) der Rumpfzone mit dem alten des
davorliegenden Segmentes, er fällt also auch dicht vor dem Vorderende
der Ectodermknospe steil ab, wie in gut gelungenen Längsschnitten oder
selbst in optischen Längsschnitten leicht zu erkennen ist. Bildet’sich dann
vor der Rumpfzone A, eine neue Knospungszone z, (Taf, VIII, Fig. 12,
zı 13), deren hinterer Abschnitt den Kopf für A, liefern soll, so wird nun
nicht etwa auch die alte Musculatur in der neuen Kopfzone empor-
gehoben, sondern es wächst das Vorderende der Ectodermknospe, sich in
seine symmetrischen Hälften theilend, nach vorne aus. Gleichzeitig löst
sich hier die alte emporgehobene Museulatur in drei isolirte Bündel (Taf.
VIH, Fig. 2; Taf. V, Fig. 15), deren mittleres (n. m ,) das centrale Ganglion,
deren seitliche (n.ma und n. m c) die beiden Spinalganglien steil durchsetzen.
Später scheint hier der Zusammenhang unterbrochen zu werden; denn an
ausgewachsenen Thieren finde ich wohl noch unter dem Bauchmark des
Rumpfes (Taf. V, Fig. 15 n. ma,b,.) Reste der alten Muskel in Form
dünner, aber durch die ganze Länge des Zooids hindurchgehender Fasern,
welche ganz das charakteristische Aussehen echter Muskelfasern haben;
aber ich habe vergeblich nach einer Verbindung zwischen ihnen und den
neuralen Muskeln des zugehörigen Kopfes gesucht.
Bei dem ausgewachsenen Zooid liegt also zwischen Bauchmark und
Aorta eine ganz dünne Muskelplatte in Form dreier isolirter Muskelzüge.
Der mittlere liegt genau in der Mittellinie. Von den beiden alten Nerven
ist keine Spur mehr zu sehen. Es befinden sich also die mittleren alten
Muskelfasern ziemlich genau an der Stelle, wo bei den Oligochaeten die von
Leydig entdeckten drei grossen und von ihm als dunkelrandige Nerven-
fasern beschriebenen Faserstränge liegen. Eine Zeitlang glaubte ich in der
That, es seien diese letzteren nur hervorgegangen aus dem Zerfall und
eigenthümlichen Umbildung der alten neuralen Muskeln und Nerven; das
gleichzeitige Vorkommen beider (Taf. V, Fig. 15 ,) an erwachsenen Thieren,
202 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
sowie die Lage der Leydig’schen Fasern innerhalb des hier bei Nais sehr
feinen Neurilemms schliesst indessen diese Annahme aus.
Ich habe früher in Uebereinstimmung mit Anderen diese Leydig’schen
Fasern der Chorda gleichgestellt. Ihre Lage und Structur hier bei Nais,
wie überhaupt bei den Anneliden !), spricht indessen gegen eine solche
Deutung; und da ich nun einen Zellstrang aufgefunden habe, welcher in
der Zone, wie im freien Afterende die beiden Mesodermplatten des neuen
Keimstreifens trennt und gleichzeitig eine ähnliche Axe bei den Naiden
bezeichnet, wie die Chorda dorsalis bei Wirbelthieren, so halte ich es für
geboten, jenen ersten Vergleich gänzlich fallen zu lassen. Damit wird
freilich scheinbar ein Rückschritt gethan,, insofern nun jene drei Leydig’-
schen Fasern ihre alte problematische Natur abermals annehmen müssen,
und das scheinbar hinweggeräumte Fragezeichen wieder aufgerichtet wird.
Andere würden vielleicht im Interesse verschwommener Auffassung und
unklarer Ausdrücke irgend einen nichtssagenden Vergleich dem Be-
kenntnisse vorziehen, dass wir einstweilen nichts mit den Leydig’schen
Fasern anfangen können; ich meinerseits will lieber eine klare Frage ge-
1) Diese Leydig’schen „riesigen Nervenfasern“ verlangten wohl einmal eine
genauere vergleichende Untersuchung. Dass sie keine echten Nervenfasern sind,
scheint durch ihr Verhalten zu Färbungsmitteln angedeutet zu werden; sie färben
sich (bei Nais) in Chlorgold gar nicht, die Nervenfasern selbst thun dies aber sehr
leicht. Auch Carmin nehmen sie schwer an. Mitunter auch scheint es mir, selbst
bei unseren Oligochaeten, als seien es gar keine Fasern, sondern Röhren, in denen
eine leicht gerinnbare Substanz lieg. Bei den Meeresanneliden kommen ganz
ähnlich aussehende, auch gegen Färbungsmittel sehr indifferente Fasern vor, welche
Claparede zuerst sah und ohne Weiteres mit den Leydig’schen Fasern der Oligo-
chaeten identificirte. Er nennt sie aber oft genug Röhren; und in der That haben
sie hier, wie ich aus eigener Anschauung von Sabella, Spirographis ete. ‚bestätigen
kann, ganz entschiedene Röhrennatur; die sie erfüllende Flüssigkeit gerinnt und
biliet dann einen bald der Wand der Röhre anliegenden, bald frei in ihr liegenden
Strang. Nie sieht man darin Zellen; die geronnene Flüssigkeit verhält sich gegen
Färbungsmittel ganz anders, wie geronnenes Blutplasma, so nimmt es im Pikrocarmin
nie die schöne gelbe Farbe an, welche sonst den Verlauf der Blutgefässe ungemein
sicher zu verfolgen gestattet. Es können somit keine echten Blutgefässe sein.
Bei andern Anneliden wieder scheinen diese Fasern solid zu sein. Bald liegen
sie (Lumbricus, Nais etc.) über den Nervensträngen, bald ganz in ihrer Mitte
(Polynoe, Nephthys), bald selbst an der unteren Seite (Hyalinoecia), also zwischen
den Nerven und ihren centralen Ganglien; bald ist nur ein solcher Strang vorhanden,
der dann genau in der Mittellinie liegt (Hyalinoecia tubicola), bald sind es zwei
oder drei (Sabella, Lumbricus), ja oft noch mehr (Polynoe (4), Goniada etc.). Ob
alle hier besprochenen Elemente wirklich zusammengehören und mit den Leydig’schen
Fasern der Öligochaeten zu identificiren sein werden, kann einstweilen nicht ent-
schieden werden.
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SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 203
stellt, als eine unklare Antwort gegeben haben. Es wird hier freilich
ähnlich wie in manchen Dingen, so z. B. wie bei der Definition des Wurm-
typus in den Handbüchern gehen; man wird, damit das dogmatische und
elassificatorische Bedürfniss des Menschen befriedigt werde, auch für sie
irgend eine beliebige Rubrik machen, zugleich aber auch zugestehen, dass
diese eigentlich nichts tauge. Ein Messer, das nicht schneidet, ist
schlechter, als gar keines; es ist bekannt, dass man bei seinem Gebrauch
eher sich selbst verwundet, als das Brot zertheilt, das man schneiden will.
Einfach allerlei Unzusammengehöriges in eine Rumpelkammer werfen, und
diese dann einen Typus nennen, scheint mir auch ein stumpfes Messer zu
sein; man schneidet der Wissenschaft die Möglichkeit rascher und natür-
licher Entwickelung ab, die vor Allem bedingt wird durch möglichst
scharfe Sonderung des Bekannten vom Unbekannten, und durch präcise
Fragestellung, nicht aber durch im Interesse dogmatischer Lehrthätigkeit
gemachte ganz willkürliche, nebelhafte Schematisirung.
Der mehrfach besprochene Axenzellstrang — den ich der Wirbelthier-
chorda vergleiche — geht übrigens bei der allmäligen Ausbildung der
Segmente nicht ganz zu Grunde; er verliert allerdings seinen Zusammen-
hang, aber die ihr charakteristisches Aussehen nie einbüssenden Zellen
bleiben in mehr oder minder grossen Gruppen unter dem Bauchmark und
neben der Aorta liegen (Taf. VIII, Fig. 9 ch). Namentlich gehäuft finden
sie sich immer in der Nähe einer neuen Knospungszone und es scheint fast,
als ob ein Theil der Neuanlage der Kopfzone durch eine Vermehrung
dieser Chordazellen bedingt werde.
; Es ist hier endlich noch der Entstehung der neuen Musculatur kurz
zu gedenken. Aus der oben gegebenen Beschreibung der Durchschnitte
verschieden alter Rumpfzonen (pag. 196— 202) geht hervor, dass die cardiale
Muskelplatte und der cardiale Seitenmuskel, also alle dorsal von der Seiten-
linie liegenden Muskeln continuirlich sich verlängern, wie die Zone breiter
wird; eine Unterbrechung ihrer Continuität tritt erst bei der Loslösung des
hinteren Zooids ein. Es muss also in dem Masse, wie die Zone sich ver-
längert, auch die Zahl der Muskelzellen in der dorsalen Hälfte zunehmen:
die dabei eintretenden histologischen Vorgänge habe ich, als zunächst un-
wesentlich, ununtersucht gelassen. Die neurale Musculatur wird im ganzen
Bereich der Rumpfzone durch die neue Ectodermknospe emporgehoben;
zwischen das neue Nervensystem und die Epidermis schiebt sich, von dem
Seitenfelde her beginnend, die neue Musculatur ein. Dieser Vorgang wird
dadurch eingeleitet, dass der neurale Seitenmuskel (Taf. VII, Fig. 9), sich
in zwei Hälften spaltet, deren der Seitenlinie anliegende (l. m.‘) in gerader
Richtung fortwächst; die ventralwärts gelegene Hälfte biegt sich nach unten
204 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
und wird zur lateralen Parthie des neuen Neuralmuskels (Taf. VII, Fig. 9 nm‘);
von ihr aus beginnt die Umwachsung des Nervensystems durch das zuerst
an beiden Seiten in zwei Hälften auftretende und erst spät sich in der
ventralen Mittellinie völlig schliessende Muskelblatt (Taf. VII, Fig. 4—6).
Durch die jetzt beendete Untersuchung der Wachsthumsvorgänge in
der Rumpfzone sind eine Reihe wichtiger Vorgänge festgestellt worden, die
sich aber alle mit den im frei auswachsenden Afterende beschriebenen in
principiellen Einklang setzen lassen. Dort, wie hier, entstehen der centrale
Theil des Bauchmarks durch ursprünglich ungegliederte Verdickung des
Eetoderms, die beiden lateralen (Spinal-) Ganglien gleich von vornherein
gegliedert und wahrscheinlich aus dem Mesoderm; die symmetrische Meso-
dermplatte des Keimstreifens entsteht zuerst auf der Bauchseite und zerfällt
in Ursegmente vor ihrer weiteren Gliederung; die neurale Muskelplatte
tritt in beiden Fällen nicht zuerst in der ventralen Mittellinie, sondern im
Seitenfelde auf, und sie umwächst hier wie dort das Nervensystem von
beiden Seiten her. Ein wesentlicher Unterschied aber wird durch die
Wachsthumsweise der Musculatur bedingt, sowie durch die zweifellos ein-
tretende Dehnung der alten Nervenstränge; beide werden durch die neue
Eetodermknospe aus ihrer Lage gebracht, und unterliegen theilweise einer
Resorption, sicherlich einer bedeutenden Dehnung. Dieser Unterschied
ist aber kein principieller, da er ausschliesslich bedingt ist durch die
Verschiedenartigkeit des Platzes, an welchem die neuen Keimstreifen
oder Ursegmente auftreten; in allen wesentlichen Punkten der typischen
Bildungsweise herrscht vollständige Uebereinstimmung zwischen einer neuen
Rumpfzone und dem einfach auswachsenden Afterende einer Nais.
B. IV. Die weitere Entwickelung der Kopfzone.
Im ersten Anfang ist, wie wir gesehen haben (pag. 180— 188), die junge
Kopfzone genetisch nicht von der Rumpfzone unterschieden. Ihr Ecetoderm
ist gleichfalls symmetrisch verdickt; neural liegt eine doppelte Mesoderm-
platte über und neben dem Darm und umschliesst die alten Nerven und
das Ende des vorderen Ganglions des zugehörigen Rumpftheils (Taf. VI,
VI). Die Muskeln sind gleichfalls alle vorhanden und der Darm hat
hier dieselben isolirten Zellennester, wie in der ebenso jungen Rumpfzone.
Sowie aber in dieser sich die mediale Verdiekung als Anlage der Ecto-
dermknospe zu zeigen beginnt, tritt auch eine ganz äusserliche Ringfurche
auf, welche den Kopftheil der Zone vom Rumpftheil scharf absetzt (Taf. VI,
‚Fig. 7, 8,). Gleichzeitig erfolgen nun Veränderungen, die wesentlich
‚ darin bestehen, dass die beiden Mesodermplatten rascher um den Darm
herumwachsen, als dies in der Rumpfzone geschieht, und zweitens in dem
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 205
vollständigen Mangel einer medianen Ectodermverdickung der Neuralseite.
Es findet hier also nicht, wie in der Rumpfzone, eine Neubildung des
centralen Nervensystemes direct aus dem Ectoderm her statt. Da dasselbe
indessen an ausgewachsenen Thieren bis hart an den Mund heran zu ver-
folgen ist, so muss es auf andere Weise dahin gelangen. Die optischen
Längsschnitte der im genauen Profil liegenden kleinen Exemplare von Nais
barbata geben hierüber vollkommenen Aufschluss; zur Bestätigung dienten
sagittale Durchschnitte einzelner Stadien.
Es tritt bei dieser Art die neue Knospungszone immer dicht vor dem
alten Rumpftheil der vorhergehenden Zone, dicht zwischen dem stumpfen
Vorderende der Ecetodermknospe und dem letzten Borstenpaar des alten
Zooids A auf (Taf. VIII, Fig. 11—14 zz, z2,). Es wird hier also nicht, wie bei
N. proboscidea, ein altes Segment dem Mutterthier weg und in das neue
aufgeammte Zooid herübergenommen. Abgesehen von diesem einen Unter-
schiede scheint sonst das Auftreten der neuen Knospungszone in beiden
“Arten ganz gleichartig zu geschehen. Zuerst zeigt sich nur an der neuralen
Seite eine schwache Verdickung des Ectoderms; die damit verbundene Ver-
mehrung und Veränderung der Epidermiszellen greift bald ringförmig um
den Körper herum auf den Rücken über. Hat sie (Taf. VII, Fig. 13z,)
etwa die Länge der vier ersten Segmente der Rumpfzone A! erreicht, so
tritt die äussere Ringfurche in ihrem hinteren Drittheil auf; dies letztere
ist die neue, für A! bestimmte Kopfzone.
Ursprünglich greift das stumpfe Ende der Eetodermknospe des Rumpf- |
theils von A! (Taf. VIII, Fig. 12, 13n,) nur schwach über das erste
Rumpfsegment vor. In dem Masse aber, wie diese Kopfzone länger wird
und ihre Mesodermplatten sich um den Darm herumzukrümmen beginnen,
tritt auch dies Vorderende der Ectodermknospe von At, welche nun schon
zu einem schwach gegliederten centralen Nervensystem geworden ist, in
jene Kopfzone mehr und mehr vor; es hat längst das Vorderende der
Kopfzone (Taf. VIII, Fig. 11n.) erreicht, ehe noch die vordersten Ab-
schnitte der Mesodermplatten den Darm — oder besser gesagt den Schlund
des neuen Thieres — umspannt und sich auf dem Rücken zum Gehirn-
ganglion vereinigt haben (Taf. VIII, Fig. 11n.!) Gleichzeitig damit ist
1) Es schliesst sich nämlich Fig. 11 so an Fig. 14. an, dass die Kopfzone von
B (in Fig. 11) das gleiche Stadium repräsentirt, wie es nun die von A, (in Fig. 14)
erreicht haben würde. Ich habe geglaubt, aus Sparsamkeitsrücksichten die an Fig. 14
sich anschliessende Figur weglassen zu dürfen, da sie eine vollständige Wiederholung
des in Fig. 11 gegebenen Bildes sein würde. Man braucht in dieser letzteren nur
statt der Buchstaben B—A,, und statt z nur z, zu setzen, um beide Bilder mit-
einander in Uebereinstimmung zu bringen,
206 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere.
auch die Gliederung des Mesoderms im Ursegmente erfolgt und zwar tritt
zuerst, wie eine Vergleichung der Abbildungen zeigt, das vorderste Segment,
dann das nächst hintere und so weiter auf. Hat sich (Taf. VIII, Fig,
12n) durch dorsalen Schluss des Mesodermringes schon das Gehirn gebildet
und seitlich das Auge angelegt, so ist doch noch das Borstenbüschel des
vierten Kopfsegmentes sehr klein, obgleich es später ebenso gross wird,
wie die aller übrigen Segmente. Bekanntlich fehlen diesen vier ersten
Segmenten die Rückenborsten; nicht aber, weil sie etwa ausgefallen seien,
sondern weil sie überhaupt nie gebildet werden.
Es entsteht also auch in der Kopfzone ein neuer Bauchkeimstreif;
aber seine erste Bildungsweise, wie seine spätere Umbildung ist im höchsten
Grade dem der Rumpfzone entgegengesetzt. Nur in einem wesentlichen
Punkte stimmen beide überein: beide zerfallen vor der weiteren Umbildung
nach dem Gesetze der Annelidensegmentirung in Ursegmente; in beiden
ist das vorderste Glied das älteste, das hinterste das jüngste. Es muss
somit bei der Verwachsung der Kopfzone z’ mit der Rumpfzone z zu dem
neuen Zooid A’, das jüngste Kopfglied sich mit dem ältesten Rumpfgliede
vereinigen. Dieser Vorgang erinnert genau an die Verhältnisse bei Wirbel-
thieren und Gliederfüsslern; doch muss ich die Durchführung dieses Ver-
gleiches auf das Schlusscapitel verschieben.
Profilbilder geben indessen nur über diese ganz allgemeinen Verhält-
nisse Aufschluss; aber sie lassen völlig im Stich, wenn es gilt, die Ent-
stehung des Schlundringes und des sogenannten Gehirns genau zu verfolgen.
Man kann zwar aus den eben besprochenen Bildern schon folgern, dass das
dorsale Schlundganglion nicht aus einer medianen Ectodermverdiekung des
Rückens entsteht, sondern dass es vom Bauche oder den Seiten her um
den Schlund herumwächst; aber die durch Darminhalt hervorgerufene Un-
durchsichtigkeit und die Unmöglichkeit, doch ziemlich unbestimmte Flächen-
bilder in Profilbilder umzusetzen, zwingen auch hier wieder zu einer genauen
Schilderung vollständiger Querschnittserien. Ich wähle aus gewissen Gründen
hierzu Nais barbata; die geringfügigen bei N. proboscidea vorkommenden
Abweichungen werde ich dabei gelegentlich mit einflechten.
Als wichtigstes Resultat der nun vorzunehmenden Untersuchung stellt
sich der Nachweis heraus, dass das Vorderende des Bauchkeimstreifens
mit zwei Schenkeln um den neuen Schlund herumgreift, auf seinem Wege
mit den von den Seiten herkommenden Sinnesplatten verwächst und mit.
diesen zusammen auf dem Rücken des Schlundes das dorsale Schlundgang-
lion bildet. Eine mediane Medullarplatte des Rückens tritt nie auf.
Gleichzeitig damit tritt eine sehr merkwürdige Umbildung des Darmes ein,
welche theils durch eine Vermehrung der alten Darmelemente, theils aber
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 207
auch durch eine Neubildung eingeleitet wird; so dass der neue Kopfdarm |
zum Theil als vollständig neu entstanden angesehen werden muss. (Bei,
Chaetogaster werden wir sehen, dass fast der ganze Kopfdarm eine vom
Ectoderm her sich entwickelnde neue Anlage ist, und dass der alte Darm im |
Kopf fast vollständig zu Grunde geht.) |
Die erste Anlage der Kopfzone entsteht durch Einwucherung des neuen
Mesoderms von den beiden Seitenfeldern, und zwar, wie es scheint, von
allen drei Muskelzwischenräumen her. Es tritt indessen die Einwucherung
zwischen cardialem Muskel und dem dorsalen Seitenmuskel später auf, als
in der Seitenlinie und in der Bauchborstenfurche. Durch diese Einwuche-
rung entsteht ein Keimstreif, dessen einzelne Abtheilungen anfänglich kaum
von einander zu unterscheiden sind; seine beiden weit den Darm umgreifen-
den Hälften stehen an der Neuralseite in so inniger Berührung mit den
Zellen des Bauchmarks und denen der Chorda, dass es mir in der That
völlig misslang, Grenzen zwischen den Zellgruppen nachzuweisen, welche
etwa aus dem Seitenfelde her eingewuchert, oder vom Nervensystem oder
den Chordazellen her gebildet sein mögen. Selbst die anfänglich ganz
scharfen Grenzen zwischen dem Darm und gewissen Theilen der Mesoderm-
platten verschwinden bald an zwei bestimmten Stellen. (Taf. VIII, Fig. 4, 7).
Dieser vollständige Mangel aller scharfen Grenzen zwischen den
wuchernden Zellgruppen lässt es daher auch überflüssig erscheinen, alle
Umwandlungen des Kopfkeimstreifens genauer zu verfolgen; es sind manche
Vorgänge um so eher bei Seite zu lassen, als sie im Ganzen nur das Bild
der Gliederung des Rumpfkeimstreifens wiederspiegeln. So beginnt auch
hier die Ausbildung der Ursegmente ganz vorn zuerst, das vierte (resp.
fünfte) Kopfsegment, welches an das älteste Rumpfsegment anstösst, ist auch
das jüngste. Diese Thatsache ist leicht zu constatiren, da die Bauchborsten-
büschel in den Kopfsegmenten, denen die Rückenborsten völlig fehlen, hier-
zu ein untrügliches Mittel abgeben. Die Follikel der Bauchborsten ent-
stehen, genau wie im Rumpf, durch Sonderung bestimmter Gruppen des
Mesoderms (Taf. IX, Fig. 7, 8, 16), nicht durch spätere Einstülpung von
der Epidermis her. Claparöde hat in seiner Histologie des Regenwurms
bereits darauf hingewiesen, dass die Follikel der Annelidenborsten über-
haupt nicht durch isolirte Einsenkung, sondern aus inneren Theilen heraus
gebildet werden. Segmentalorgane und gut ausgebildete Dissepimente ent-
stehen in den vier (fünf) Kopfsegmenten nicht.
Die zwei genauer zu besprechenden Punkte sind die Entstehung des
Kopfmarks und die Neubildung des Kopfdarms.
1) Die Bildung des Kopfmarks. Es lassen sich, ihrer Lagerung
im ausgebildeten Thiere nach, zwei Abschnitte desselben unterscheiden :
208 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
das dorsale Schlundganglion und das eigentliche Kopfbauchmark. Jenes
allein wird von manchen Zoologen dem Gehirn und Rückenmark der Wirbel-
thiere gleichgestellt; Leydig vergleicht es der vorderen Gehirnhälfte und
dann nimmt er als zum Gehirn gehörig das vorderste Bauchganglion mit
dazu, bei ihm ist das Gehirn der eigentliche Schlundring, die übrigen Theile
des Bauchmarks werden dem Rückenmarke parallelisirt. Baer wieder —
und manche Aeltere — sehen das obere Schlundganglion nur als vorderstes
Ganglion der Bauchganglienkette an, vergleichen diese aber nur dem System
der Spinalganglien '). Dies ist auch Serre’s Ansicht.
Ich meinestheils muss den ganzen, im eigentlichen Kopf oder in der
Kopfzone liegenden Abschnitt des Bauchmarks, also den Schlundring mit
den ersten, den eigentlichen Kopfsegmenten entsprechenden Ganglienknoten
dem Gehirn und verlängerten Mark, die Rumpfganglienkette allen dem
Rückenmark und den Spinalganglien der Wirbelthiere vergleichen. Ich
glaube durch die nun zu gebende Beschreibung der Entstehung jenes ersten
Abschnittes in der Kopfzone den Beweis liefern zu können, dass dieser
Vergleich der richtige ist.
Aus den in Tafel VIII und IX mitgetheilten Bildern von Durchschnitten
junger Kopfzonen ist ersichtlich, dass anfänglich das Vorderende des Rumpf-
bauchmarks sich nicht in jene hinein verlängert. In etwas älteren Kopf-
zonen dagegen ist auch hier schon ein Kopfbauchmark (Taf. VII, Fig. 11,
14) zu erkennen. In Bezug auf seine erste Entstehung war nur zweier-
lei festzustellen: einmal der vollständige Mangel einer ähnlichen unpaaren
Ectodermverdickung, wie sie in der Rumpfzone auftritt und zweitens die
Thatsache des Vorwärtswachsens des stumpfen Vorderendes des Rumpf-
bauchmarks. Man wird sich erinnern (Taf. VIII, Fig. 11—14), dass dieses
Vorwärtswachsen ohne Weiteres an den optischen Längsschnitten einer allmälig
wachsenden Kopfzone zu Tage tritt; ist diese so breit geworden, dass in
ihr vorne schon das erste Bauchborstenbüschel gebildet ist, so stösst nun
das stumpfe Ende des centralen Theils des Bauchmarks hart an das Hinter-
ende der davorliegenden neuen Rumpfzone an (Taf. VII, Fig. 11). Auf
diesem Wege aber tritt es gegen die Verbindungsbrücke zwischen der alten im
Rumpftheil emporgehobenen neuralen Muskelplatte (Taf. VIII, Fig. 1—3 nm)
und der hart an der Epidermis liegenden mit der Kopfzone fortwachsenden
neuralen Muskelplatte des Kopfes (Taf. VIII, Fig. 5—7nm). Ich habe
schon angegeben, dass diese schräg herabsteigende Muskelbrücke sich in
zwei seitliche und eine mittlere Parthie auflöst; jene beiden treten zwischen
1) In meinem Bericht über einen hier gehaltenen Vortrag (Plasik. med. Verh.
N. F. Bd. IX 1876) habe ich einen unangenehmen lapsus calami bei der Correetur
stehen lassen, indem ich bei der Discussion von Baer’s Ansichten ihm die zuschrieb,
er habe die Ganglienkette dem System der sympathischen Nerven gleichgestellt.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thieree 209
je einem seitlichen und den centralen Ganglion, diese mittlere zwischen den
zwei symmetrischen Hälten des centralen Ganglions hindurch. Da nun
aber die schräge dreigetheilte Muskelbrücke früher da ist, als das Kopf-
mark, so folgt aus den hier besprochenen optischen und wirklichen Längs-
schnitten, dass der centrale Theil des Bauchmarks sich beim Vorwachsen ge-
theilt haben muss, um die mittlere Muskelbrücke umfassen zu können.
Weiter nach vorn hin vereinigen sich beide Hälften wieder mit einander.
Das Vorwärtswaehsen des Rumpfbauchmarks in die Kopfzone steht
hiernach ausser allem Zweifel, wenigstens soweit es den centralen Theil
desselben betrifft. Leider geben nun weder Profilbilder, noch Längs- oder
Querschnitte darüber Aufschluss, wie sich die vordersten seitlichen Ganglien
des Kopfmarks verhalten. Es liegt natürlich sehr nahe, anzunehmen, dass
sie gleichsam nach vorn hin auswachsen; aber diese Annahme lässt sich —
wenigstens bei den Naiden — ebensowenig beweisen, wie die andern noch
vorhandenen Möglichkeiten. Es könnte nämlich zweitens, wie ich das für
die Rumpfzone sehr wahrscheinlich gemacht zu haben glaube, aus jedem
Ursegment des neuen Kopfkeimstreifens die mediale Parthie abgeschnürt
und dem vorwärtswachsenden, centralen Theil des Bauchmarks angefügt
werden; es wäre drittens auch die Möglichkeit denkbar, dass im Kopfe
überhaupt gar keine, den Spinalganglien vergleichbare Zellgruppen auf-
träten; es wäre endlich viertens anzunehmen, dass hier die den Spinal-
ganglien entsprechenden Abschnitte sich aus dem vorwachsenden centralen
Theile abgliederten. Die dritte Möglichkeit muss unbedingt verworfen
werden, da ein Durchschnitt durch die Ganglien des Kopfmarks dieselben
drei typischen Abtheilungen, wie in jedem Rumpfganglion zeigt. Die erste
Annahme setzt voraus, dass das vorderste Spinalganglion des Rumpfes nach
vorne in den Kopf hinein ursprünglich ungegliedert auswachsen könne, um
sich erst später zu theilen; ein solcher Vorgang stünde der typischen
Bildungsweise eines Rumpfspinalganglions in von Anfang an segmentirter
Form schroff gegenüber. Diese Möglichkeit muss daher als sehr unwahr-
scheinlich gleichfalls verworfen werden. Es bleiben somit nur die zweite
und die vierte zur Discussion übrig; dieselben Möglichkeiten, die auch bei
der Schilderung der Entstehung des Rumpfmarks zu discutiren waren.
Wenn es mir aber dort schwer schien, einen sicheren Entscheid zu fällen,
so ist dies hier geradezu unmöglich; denn die Aehnlichkeit der verschie-
denen Zellen in der jungen Kopfzone (Taf. VIII, Fig. 1—7) ist so gross
und sie sind so ganz ohne alle Grenzlinien aneinander gepackt, dass ich
es aufgeben muss, hier auch nur eine hypothetische Meinung durch Deu-
tung von Beobachtungen zu gestatten. Wahrscheinlich ist es indessen,
dass die Entstehung der seitlichen Ganglien hier in der Kopfzone nicht in
210 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
typischer Weise von derjenigen im Rumpftheil abweichen werde. Sollte
sich daher für das Rumpfmark die Ansicht bewahrheiten,, welche ich oben
als mindestens sehr wahrscheinlich glaubte aufstellen zu müssen, so wäre
fast mit Sicherheit anzunehmen, dass auch die Spinalganglien des Kopfes
in gleicher Weise, d. h. also aus den medialen Parthien der zwei Mesoderm-
platten entstünden.
Diese letzteren bilden sich, wie schon bemerkt wurde, in derselben
Weise, wie die der Rumpfzone: durch Einwucherung von Eetodermzellen
durch die Borstenfurchen oder das Seitenfeld. Nie aber betheiligt sich
das Epithel des Darmes, oder das Ectoderm, an der Erzeugung des Meso-
derms und es gehen, wie sich hier aufs Klarste zeigen lässt, nicht blos die
Darmfaserplatten, Gefässe, Muskel etc. aus jenen beiden Mesodermplatten
hervor, sondern selbst gewisse Neubildungen, die mit dem alten Darm ver-
schmelzen, und so aus Anlagen des Mesoderms zu solchen des Entoderms
werden.
Es muss also weiteren Untersuchungen überlassen bleiben, zu entschei-
den, in welcher histogenetischen Weise der bauchständige Theil des Kopfmarks
entsteht; nur das eine Resultat kann als sichergestellt angesehen werden,
dass das vorderste centrale Rumpfganglion in die Kopfzone hineinwächst.
In dem Masse nun, wie die Kopfzone sich verlängert, greift auch der
vorderste Abschnitt (Taf. VIII, Fig. 11, 12) des Kopfkeimstreifens in Form
eines breiten Bandes um den beständig mit fortwachsenden Darm herum.
Auf der entgegengesetzten Seite, also auf dem Rücken des sich bildenden
Kopfes, fehlt jede Spur einer Medullarverdickung, die cardiale Muskel-
platte geht in voller Breite ununterbrochen durch die Kopfzone hindurch
und auf der Rückseite des Darms sieht man, selbst wenn die Mesoderm-
platten sich schon weit um denselben herumgekrümmt haben, keine Spur
eines dorsalen Schlundganglions. Dies Resultat ist mit grösster Leichtig-
keit an optischen Längsschnitten der kleineren Exemplare, oder an wirk-
lichen Quer- und Längs-Schnitten festzustellen; in den getreu nach dem
Object angefertisten Abbildungen solcher Querschnitte junger Kopfzonen
(Taf. VII, Fig. 1—7; Taf. IX, Fig. 18, 19) wird man vergebens nach
einer Andeutung eines sogenannten Gehirns oder einer dorsalen Anlage
eines solchen suchen. Sowie aber die beiden Mesodermbrücken den Darm
umspannt haben, gliedert sich auch ein Theil desselben zu einem deutlich
charakterisirten Nervenstrang und der ganglionären Zellbelegmasse jederseits
ab; diese beiden Gehirnhälften verschmelzen etwas später in der Mittel-
linie (Taf. IX, Fig. 15, 16). Es ist damit der Beweis geliefert, dass hier
der Schlundring und theilweise auch das obere Schlundganglion gebildet
wird aus dem vom Bauche her den Darm umwachsenden Kopfkeimstreifen.
eh
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 2/1
Leider aber liess Sich trotz aller aufgewandten Mühe nicht entscheiden,
ob und in welcher Weise das vom Rumpf her in den Kopf hineinwachsende
Bauchmark und in wie weit auch die vielleicht durch Einsenkung vom
Eetoderm her neuentstandenen Theile des Kopfkeimstreifens an der Bildung
des Schlundringes theilnähmen.
Sichergestellt wurde dagegen ein anderes, höchst wichtiges Resultat: |]:
die Entstehung gesonderter Sinnesplatten aus dem Eetoderm und ihre Theil- \\ )
nahme am Aufbau des dorsalen Theiles des Schlundringes. Die früheren
Angaben über die Bildung des Gehirns bei Arthropoden und Anneliden
lassen sich dahin deuten, dass die sogenannten Scheitelplatten oder Kopfplatten
— soweit sie zur Bildung des oberen Schlundganglions beitragen — den
hier zu beschreibenden Sinnesplatten gleichzustellen sein möchten.
Das hintere Ende einer jungen, noch nicht die Anlage der Bauchborsten
zeisenden Kopfzone von N. barbata (Taf. VIII, Fig. 2) lässt in allen drei
Zwischenräumen des Seitenfeldes die Einwucherung der Ectodermzellen be-
hufs Bildung eines neuen Kopfkeimstreifens erkennen. Im nächsten Schnitt
dagegen (Taf. VIII, Fig. 3sp) hat sich zwischen cardialem Seitenmuskel
und dem cardialen Muskel eine ziemlich scharf begrenzte Zellgruppe einge-
schoben, die — rechts im Bilde weniger deutlich — an den Darm heran-
tritt und sich gleichzeitig über diesen weg cardialwärts zu wenden scheint.
Im darauffolgenden Schnitt (Taf. VIII, Fig. 4) ist sie nun rechts deutlicher,
als links, und mit ihm hört sie auf. Diese nur in 2 — etwa je '/,, mm.
dünnen — Schnitten sichtbare, nach innen zu angeschwollene Zellgruppe
ist die Sinnesplatte, welche sich allmälig um den Darm herumzukrümmen
beginnt und gleichzeitig mit dem von der Neuralseite her kommenden
Bogen des Schlundringes sich vereinigt. Man könnte geneigt sein, in der
hier beschriebenen Zellmasse nur die Anlage von dorsalen Borstenbüscheln
zu sehen, da sie ja in der dorsalen Borstenfurche — dem Zwischenraum
zwischen cardialem Muskel und Seitenmuskel — einwuchert; aber einmal
fehlen solche Rückenborsten ausnahmslos bei den beiden von mir unter-
suchten Arten in den Kopfsegmenten, dann auch wird jene Annahme wider-
legt durch die Beobachtung der weiteren Entwickelung jener Sinnesplatten.
Erwähnt mussnoch werden, dass schon bei ihrer ersten Anlage der cardiale
Seitenmuskel durch sie ein wenig nach innen hineingedrückt wird. (Tat.
BEN, Fig. 3 im). :-
Bei einer etwas weiter entwickelten Kopfzone (Taf. VII, Fig. 5—7)
derselben Art hatten die Sinnesplatten schon eine ziemlich bedeutende
Länge erreicht und zugleich: den cardialen Seitenmuskel, der an ihrem
Vorderende fast verschwindet (Taf. VIIBaRiO, 7 1. m.), tief in den Körper
hineingedrückt. Gegen das Eetoderm zu lassen sie sich deutlich bis zur
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 15
21 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Seitenlinie (Taf. VIII, Fig. 7 s. 1.) verfolgen; ihre stumpfen, scharf be-
gsrenzten Leibeshöhlenenden sind entschieden cardialwärts gerichtet, aber
doch noch immer sehr weit von einander entfernt. Gleichzeitig lässt sich
auch schon links in der Zeichnung ein nur schwach vom Mesoderm abge-
setzter Zellstrang, hart der Darmwandung anliegend (Taf. VIII, Fig. 7 com.),
erkennen; Durchschnittserien älterer Kopfzonen zeigen , dass dies die sich
bildende Commissur des Schlundringes ist. Wie dieselbe entsteht, lässt
sich, wie schon erwähnt, hier nicht entscheiden. Da sie aber sicherlich
das Bauchganglion mit dem sich bildenden Rückenganglion verbindet, und
sich gleichzeitig mit den Sinnesplatten an der Ausbildung dieses letzteren
betheiligt, so ist der ganze hier beschriebene Vorgang als ein Umwachsen
des Schlundes vom Bauch und dem Seitenfelde her zu bezeichnen. Nie
wird irgendwo in der Kopfzone die cardiale Muskulatur unterbrochen, und
es ist ausnahmslos die Epidermis in der Mittellinie des Rückens am dünnsten,
wo sie sich doch unbedingt zuerst verdicken müsste, wenn hier ein für
sich bestehendes dorsales Schlundganglion aus dorsal liegenden Medullar-
platten entstehen sollte.
In den auf Taf. IX, Fig. 15, 16 mitgetheilten Durchschnitten end-
lich ist der cardiale Schluss des Schlundringes fast vollendet. Diese beiden
Abbildungen sind allerdings nach Präparaten von N. proboscidea gemacht,
welche sich indess auch — mutatis mutandis — auf N. barbata anwenden
lassen; um Platz zu sparen, habe ich es unterlassen, auch von dieser Art
noch Abbildungen aus dem betreffenden späteren Stadium zu geben. Ein
Unterschied zwischen beiden Arten ist hier kurz zu erwähnen. Während
bei N. barbata (Taf. VIII, Fig. 7) die cardialen Lateralmuskel durch die
ungemein deutlich erkennbare Sinnesplatte nach innen geschoben werden,
und dort im Kopfe wenigstens anfänglich die beiden Seitenmuskel immer
deutlich gesondert sind, scheint bei N. proboscidea der cardiale Seitenmus-
kel in der Kopfzone sehr früh zu verschwinden. Dadurch träte dann eine
Vereinigung der Seitenlinie und der cardialen Borstenfurche ein, und aus
\ dieser Furche heraus tritt die Einsenkung der Sinnesplatte nach innen vor.
Auch scheint es fast, als träte sie bei N. proboscidea erheblich viel später
auf, als bei N. barbata; nie auch ist ihre Einsenkungsstelle so deutlich
wahrnehmbar, wie bei jener Art. Weiter unten werden wir sehen, dass
bei Chaetogaster grade umgekehrt die Einwucherung der Sinnesplatte fast
ebenso früh eintritt, wie die des neuen Keimstreifens. Bei allen drei unter-
suchten Arten aber ist es ausnahmslos die cardiale Hälfte des Seitenfeldes,
aus welchem die Einsenkung der Sinnesplatte erfolgt.
Es ist auch noch zu erwähnen, dass die Entstehung des Schlundringes
in jener Kopfzone von N. proboscidea, welche sich — bei Eintritt der
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 213
sogenannten Theilung — zwischen dem letzten und dem vorletzten alten
Gliede des vorderen Thieres anlegt, ganz übereinstimmt mit derjenigen,
wie sie bei einfacher Knospung oder überhaupt bei N. barbata vorkommt.
Wesentlich verschieden müssen dagegen dann die Verhältnisse bei der Aus-
bildung des Kopftheils des Bauchmarks sein.
Bei der sogenannten Theilung wird bekanntlich ein altes Glied eines
Vorderthiers A (Taf. IX, Fig. 10 A *) durch eine neue Zone (z,) von diesem
abgeschnürt. Da nun die hintere Hälfte der Zone den Kopftheil für das
hintere Thier (A,) bilden soll, so muss jenes alte Glied zum ersten Rumpf-
glied des Thieres A,, sein Ganglion zum ersten Rumpfganglion werden.
Vorn verlängert sich dieses einfach in der vorhin beschriebenen Weise in
die neue Kopfzone hinein; hinten aber geht sein Faserstrang über in den
durch die Ectodermknospe emporgehobenen alten Nervenstrang, während
ein neuer Nervenstrang in der Ectodermknospe entsteht. Wo diese bei x
endist, muss offenbar eine Verwachsung zwischen den neuen Nervensträngen
und dem alten des Ganglions eintreten. So interessant es nun auch ge-
wesen sein würde, die Verhältnisse dieser eigenthümlichen Verwachsung
alter und junger Nerven und Ganglien zu verfolgen, so musste ich diesen
Punkt doch ausser Acht lassen, da er im Grunde nicht mit dem hier be-
ı handelten Thema zusammenhängt und die‘Fülle der so schon aufgefundenen
| neuen Thatsachen eine Abschweifung auf ein anderes, noch so wichtiges
‚ Gebiet gänzlich unstatthaft erscheinen liess.
Schliesslich habe ich noch die Bezeichnung Sinnesplatte zu rechtfertigen. |
‚ Thatsächlich bildet sich nämlich an derselben Stelle, wo die Einsenkung/
‚ jener Sinnesplatte erfolgt, bei den sehenden Naiden das Auge, welches be-\
kanntlich !) nur aus zu Augen metamorphosirten Epidermiszellen besteht, N
(s. Taf. IX, Fig. 60). Ein Theil der Sinnesplatte wird sicherlich integriren-
„ der Bestandtheil des dorsalen Schlundganglions; ein anderer aber, die Brücke
, zwischen der Einsenkungsstelle — wo das Auge entstehen soll — und dem
Ganglion, wird direct zum Sehnerven, welcher sich bei ausgebildeten Köpfen
dem Schlundring selbst, nicht aber dem ganglionären Theil des oberen
Schlundsanglions anfügt. Von grösstem Interesse scheint mir nun zu sein,
dass auch bei dem blinden Chaetogaster doch eine Sinnesplatte auftritt
(s. unten). Dadurch wird diese symmetrische Eetodermeinsenkung am
Kopfe zu einem mor phologisch viel bedeutungsvolleren Gliede, als sie sein
würde, wenn sie ausschliesslich zur Production der Augen und Augennerven
oder der von ihnen direct abhängigen Theile im dorsalen Ganglion diente;
wir können daraus folgern, dass überhaupt die Bildung des vordersten
| 1) Leydig, Vom Bau des thierischen Körpers, Atlas.
lo
214 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten “Thiere.
Abschnitts des Annelidengehirns sich dadurch auszeichnet, dass eine auf den
\/Rücken gerathende Fortsetzung des Bauchmarks sich mit zwei neuen, im
| Seitenfeld sich bildenden Anlagen vereinigen muss, um das Kopfmark erst
‘zu dem zu machen, was es ist: zum Gehirn. Dadurch ist natürlich das
vorderste Ende des Bauchmarks ‚von den übrigen Ganglien desselben recht
sehr ausgezeichnet, aber doch, wie mir scheint, in keinen typischen Gegen-
satz gebracht. Denn es lässt sich annehmen, dass bei den oben aufgezählten
Anneliden, welche Augen an den Rumpfgliedern oder am Schwanzende
tragen (Polyophthalmus, verschiedene Sabelliden, Eunice etc.), die Eint-
stehung dieser Sinnesorgane gleichfalls an solche Sinnesplatten gebunden
sein wird; und es wäre somit das ausschliessliche Vorkommen einer solchen.
im ersten oder einem der ersten Kopfsegmente nur eine Reduction eines
früheren, gleichartigen Verhaltens. Ja, es liesse sich sogar hier die Frage
aufwerfen, ob nicht die von Quatrefages bei Nereis regia beschriebenen,
mehr oder minder deutlichen Nervenringe in den Segmenten des Rumpfes
auf einer stärkeren und eigenthümlichen Ausbildung solcher, in den
einzelnen Rumpfsegmenten sich wiederholenden Sinnesplatten beruhten.
Natürlich können nur Beobachtungen hierüber entscheiden; aber ich
glaubte den Grund angeben zu müssen, der mich — allerdings zunächst
hypothetischer Weise — jeglichen typischen Gegensatz zwischen dem
dorsalen Schlundganglion und denen des Bauchmarks läugnen lässt.
Aber -selbst dann, wenn dieser hypothetisch angenommene Grund hin-
fällig werden sollte, könnte ich doch niemals zugeben, dass durch die Ein-
senkung der beiden Sinnesplatten im Kopf ein solcher typischer Gegensatz
bezeichnet sei, wie er von meinen dogmatischen Gesnern als vorhanden an-
genommen wird, denn von einem Vergleich derselben mit den ganzen Me-
Aullarplatten der Wirbeithiere kann unter keinen Umständen die Rede sein.
Dieser Punkt wird indessen erst im dritten Abschnitt ausführlich discutirt
werden können.
Mit den hier mitgetheilten Beobachtungen über die Entstehung des
Schlundringes bei Nais lassen sich die Angaben von Leuckart gut in Ein-
klang bringen. Die zwei Halbbögen, welche nach ihm gesondert
vom Keimstreifen entstehen, sind offenbar den Sinnesplatten zu vergleichen;
ihre Verbindung mit den sich theilenden Schenkeln des Bauchmarks und
ihr späterer Schluss auf der dorsalen Seite des Schlundes lassen hierüber
kaum einen Zweifel. Mit Rathke’s Angaben dagegen sind sie. schwer zu
versöhnen. Es fragt sich indessen, ob dieselben ganz erschöpfend und getreu
sind. Die Bildungsweise des Kopfes der Hirudineen ist nämlich, wie ich
nach eigenen Untersuchungen versichern kann, viel complicirter, als dies”
nach Rathke’s und Leuckart’s Schilderungen scheinen könnte, sodass ohne
|
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 215
Durchschnitte — woraus ich ihnen indessen keineswegs einen Vorwurf
machen will — in keiner Weise ein klarer Einblick in die Verhältnisse zu ge-
winnen ist. Meine eigene Untersuchung an Hirudineen ist noch nicht weit
genug gediehen, um hierüber endgültigen Aufschluss geben zu können; doch
glaube ich soviel sagen zu können, dass entgegen der Rathke’schen Angabe
bei Clepsine, wie bei Nephelis der Schlundring und das dorsale Schlundganglion
srade so wie bei Hirudo, durch Verwachsen zweier Sinnesplatten auf der
dorsalen Mittellinie und mit dem Bauchmark entsteht.
Zum Schluss muss ich hier noch einmal’kurz auf die schon mehrfach, |
aber immer nur beiläufig besprochene Seitenlinie hinweisen. Mit diesem
Namen bezeichnete ich einen dem Seitenfelde angehörenden und zwischen
den zwei lateralen Muskeln liegenden Zellstrang, von welchem aus in der |
Kopfzone die Einwucherung der Sinnesplatte erfolgt. Diese letztere kann
man daher als eine directe Verlängerung der Seitenlinie betrachten. Diese
bleibt nun bei allen bisher von mir untersuchten Naiden in der ganzen
Körperlänge bestehen; und es ist an Eissigsäurepräparaten (Taf. XI, Fig. 3sl)
sogar ziemlich leicht, sich zu überzeugen, dass die vom After an beginnende
Seitenlinie einer geschlechtsreifen Nais vorn am Kopf in den Schlundring über- |
geht. Würden die Zellen dieser Seitenlinie sich, wie die des Schlundringes, in |
einen Nerven zum Theil umwandeln, so würden wir hier bei den Naiden |
gradezu von einem Seitennerven sprechen können, welcher, zwischen dorsaler
und ventraler — oder besser zwischen cardialer und neuraler — Muscu-
latur liegend, gradezu dem Seitennerven der Fischseitenlinie zu vergleichen
sein würde. Die gleiche zellise Seitenlinie kommt auch noch bei anderen |
Anneliden vor (s. unten $ 12).
2) Die Bildung des Kopfdarms. Auf das erste Stadium der
indifferenten Knospungszone, in welcher der neue Keimstreif durchaus
gleichartig gebaut ist (Taf. VII, Fig. 7), folgt sehr bald das zweite, in
welchem sowohl durch die Einwucherung der Sinnesplatten, wie durch Neu-
anlage gewisser Darmtheile die Kopfzone von der Rumpfzone leicht unter-
scheidbar wird. Ehe ich indessen die Entstehung des neuen Kopfdarms
schildere, muss ich an einer Durchschnittserie den Bau des ausgebildeten
Kopfdarms erläutern, wie er in jedem vordern freien Kopfende der ge-
schlechtlichen, wie ungeschlechtlichen Zooide zu sehen ist.
In dem Abschnitt, welchen ich als Kopf bezeichne, und der vom Rumpfe
— wenigstens bei N. proboscidea und barbata — durch den Mangel der R
Rückenborsten ausgezeichnet ist, findet sich ein eigenthümlicher Schlund-
kopf, welcher oft von den Thieren zum Munde hervorgestülpt und dann
als Saugstempel beim Kriechen benutzt wird. Dieser Schlundkopf kommt
mit mehr oder minder grossen Abweichungen bei allen mir bekannten Oli-
216 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
gochaeten vor — mit Ausnahme von Chaetogaster. In den Abbildungen
Fig. 1—6 auf Taf. IX habe ich verschiedene Durchschnittsbilder gezeichnet.
Das erste entspricht dem hintersten Ende dieses Schlundkopfs; das Lumen
des Darms ist durch einen .neuralen Wulst (Taf. IX, Fig. 1, w.) in zwei
symmetrische Hälften getheilt; ringsum ist der Darm umgeben von einem
dicken Drüsenzellenbelag (Taf. IX, Fig. 1 gl... Etwa sechs Schnitte weiter
nach vorn (Taf. I, Fig. 2) hat sich der letztere schon auf der neuralen
Mittellinie des Darms von diesem zurückgezogen; überhaupt ist er auf der
neuralen Hälfte des Darms viel dünner, auf der cardialen viel dicker ge-
worden, und hier haben sich noch radiäre Muskelzellen zwischen die Drüsen-
zellen eingeschoben. Der Darm selbst ist durch eine Doppelfurche in zwei
Abschnitte getheilt, deren einer unpaar, der andere paarig ist; die neurale
Hälfte wird nemlich durch den stark vorspringenden Neuralwulst (Taf. IX,
Fig. 2 w.) in zwei Abtheilungen gespalten. In der äusseren Einbiegung
liegt links und rechts ein deutlicher Nerv (Taf. IX, Fig. 2 v.), dessen
hinteren Anfang (oder Ende) ich hier bei Nais bis jetzt nicht auffinden
konnte, der aber in allen folgenden Schnitten bis zum oberen Schlundgang-
lion hin zu verfolgen ist. Es ist dies der Nerv, welchen Leydig dem vagus
der Wirbelthiere, andere dagegen ihrem sympathicus verglichen haben. Der
cardiale Abschnitt des Darmes trägt ein wimperndes, geschichtetes Epithel.
Bis zum 18. Schnitt hin (Taf. IX, Fig. 3, 4) ist der Drüsenbelag auf der
Cardialseite des Darmes zu verfolgen; dann hört er auf; gleichzeitig flacht
sich die cardiale Darmhöhlung immer mehr ab, indem die beiden seitlichen
Gruben, in welchen der vagus liest (Taf. IX, Fig. 3, 4 v.) immer tiefer
werden, also durch Vortreiben der Darmwandung zwei in den Darm vor-
springende Längsfalten bilden. Wenn die Drüsenzellen des Schlundkopfes
aufhören (Taf. IX, Fig. 5), hört auch der wimpernde, cardiale Abschnitt
desselben auf, statt seiner sieht man eine breite mediane Furche, welche
von den eben erwähnten Längswülsten begränzt wird. Dadurch hat das
Lumen des Kopfdarmes eine T-Gestalt angenommen; an den beiden aus-
springenden Ecken liegen die beiden vagi (Taf. IX, Fig. 5 v). Noch vier
Schnitte weiter nach vorn (Taf. IX, Fig. 6) öffnet sich der Schlund auf
der Neuralseite; die Theilung des Bauchmarks in den Schlundring ist schon
in dem vorher abgebildeten Schnitt eingetreten (Taf. IX, Fig. 5 com), die
Vereinigung des vagus mit einem der dorsalen Schlundganglien oder mit
dem Schlundring erfolgt dicht hinter dem Munde.
Der drüsig-muskulöse Schlundkopf besteht also aus zwei Hälften, einer
neuralen, meist ziemlich dünnwandigen und einer dicken cardialen, welche innen
Wimperepithel, aussen die Hauptmasse der Drüsen und Muskel trägt und
bei der Ausstülpung aus dem Munde zu einem breiten Polster oder Stempel
in ng
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 217
vird. Die jetzt zu schildernde Entwickelungsweise des Kopfdarms wird
uns zeigen, dass dieser letztere Wimperabschnitt des Schlundkopfs in höchst
auftallender Weise bei der Knospung gebildet wird.
Es war sehon früher erwähnt (pag. 187), dass in der jungen Knos- '/
pungszone eigenthümliche Zellnester auftreten , welche bald das ursprüng-
lich einschichtige Epithel des betreffenden Darmstücks in ein geschichtetes
verwandeln und durch die starke Vermehrung ihrer Zellen die nothwendige
Verlängerung desselben ermöglichen. Dagegen wird die Continuität in der
Schicht der bekannten Leberzellen unterbrochen; schon in der ganz jungen
Knospungszone (Taf. VI, Fig. 1—4) war sie in Fetzen aufgelöst, später
ist — wie schon Tauber und Andere richtig hervorgehoben haben — keine
Spur derselben in der Zone zu erblicken. Der Keimstreif selbst lässt in
dieser jüngsten Periode keine weitere Gliederung erkennen.
In einer etwas älteren Zone dagegen (Taf. IX, Fig. 10, 17—19) hat
sich der Keimstreif im Kopftheil sehr von dem im Rumpftheil abgegliedert.
Während er hier nemlich den dicken, auf dem Querschnitt fast runden
Darm berührt, aber ohne ihn irgendwie zu beeinflussen, tritt in der Kopf-
zone (Taf. IX, Fig. 18 kg.) ein dicker Zellwulst von links und rechts her
an den Darm heran, treibt diesen gleichfalls wulstartig vor und scheint an
diesen beiden Stellen so mit den Darmzellen zu verschmelzen, dass hier
unter keinen Umständen eine so scharfe Grenze zwischen beiden Theilen zu
erkennen ist, wie solche ausnahmslos in der Rumpfzone den Darm vom
Keimstreif scheidet. In Fig. 17 habe ich den 21. Schnitt der ganzen
Serie abgebildet, welcher grade die Grenze zwischen dem alten Gliede und
der neuen Kopfzone getroffen hat; der darauffolgende Schnitt (Fig. 18) ist
ganz durch die Kopfzone gegangen; der nächste (Fig. 19) zum Theil schon
durch die Rumpfzone, er zeigt noch die beiden in das Lumen des Darmes
vorspringenden Wülste, aber äusserlich hat sich dieser schon scharf vom
Keimstreifen gesondert. Der nächste, nicht abgebildete, ganz der Rumpf-
zone angehörende Schnitt zeigte die bekannten Verhältnisse des Rumpfkeim-
streifens; dann folgt das letzte ausgebildete Segment vom Zooid A. Im
Ganzen war hiernach die Zone nur etwa !/,,. mm. lang, da ich die Schnitte
etwas dick, nemlich !/;,. mm. gemacht hatte.
Die beiden dicken Zellwülste des Keimstreifens nun schliessen sich,
obgleich sie eigentlich dem Mesoderm anzugehören scheinen, dennoch dem sich \
neubildenden Kopfdarm an, wandeln sich also allmälig in das Entoderm um.
Zuerst sind sie, entsprechend der Kürze der Kopfzone ungemein kurz.
Mit der Verlängerung dieser letzteren aber strecken sie sich auch, und zwar
so, dass sie hinten zuerst, also an der Grenze von Kopf und Rumpf des-
selben Zooids ihren Zusammenhang mit dem Mesoderm aufgeben, vorn da-
218 SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
gegen ihn noch länger beibehalten. Eine Querschnittsreihe durch aan
Zonen gemacht, giebt daher von hinten nach vorn zu die in Taf. VOL,
Fig. 1—4 möglichst getreu nach den Objecten gezeichneten Bilder. Im’
hintersten Schnitt liegen die beiden Zellwülste, die ich — einstweilen ohne‘
Rechtfertigung -- als Kiemengangwülste bezeichnen will (Taf. VII,
Fig. 1, 2 kg.), an den beiden neuralen Seiten des im Querschnitt des
Lumens fast dreieckigen Darmes (von N. barbata). Die Grenze gegen das
sich schon in seine einzelnen Theile gliedernde Mesoderm ist sehr scharf;
auch gegen die eigentlichen Darmepithelzellen sind sie an der Neuralseite
ziemlich deutlich abgesetzt, cardialwärts dagegen gehen sie ohne Weiteres
in die äussere Schicht des nun durch ‘Wucherung seiner Zellen stark ver-
diekten Darmepithels über. Hiernach scheinen sie hinten schon den Darm
zu umspannen; doch muss es unentschieden bleiben, ob sie dies wirklich
thun oder nicht. In Fig. 3 liegen sie ganz entschieden nur auf der Neu-
ralseite; in dem abgebildeten Präparate hatte sich, wie das überhaupt sehr
leicht geschieht, links der Kiemengangwulst von dem Darmepithel abgelöst,
wohl weil hier die Vereinigung mit diesem noch keine so innige geworden
war. Die Grenze zwischen ihm und dem Mesoderm war auch hier noch
deutlich; im nächsten Schnitt aber (Taf. VIII, Fig 4 kg.) verwischt sie
sie sich fast völlig, sodass hier der ursprüngliche Zusammenhang mit dem
Keimstreifen noch nicht aufgehoben war. Die Länge dieser in vier Schnitte
zerlegten Kopfzone betrug etwa */; mm., also schon mehr, als die ganze
Zone, deren Kopftheil weiter oben beschrieben wurde.
Etwas weniger weit war offenbar der Kopfdarm eines andern Indivi-
duums ausgebildet (Taf, VIII, Fig. 5—7), obgleich die Sinnesplatten sich
ein wenig weiter entwickelt hatten. Kleine individuelle Verschiedenheiten
in der Zeitfolge der einzelnen Stadien scheinen überhaupt nicht selten zu
sein. Hat sich aber der Schlundring geschlossen, oder ist er nahe daran
(Taf. IX, Fig. 15, 16 von N. proboscidea), so haben sich auch die beiden
Kiemengangwülste gänzlich vom Keimstreifen abgelöst, mehr an die Seite
des Darmes, vielleicht zum Theil sogar auf die Cardialseite desselben herum-
. gezogen und zugleich so mit den Darmepithelzellen vereinigt, dass eine
Grenze zwischen ihnen nirgends mehr deutlich ist. Nur die innerste Lage
des Darmepithels setzt sich bald mehr, bald minder scharf von der aus den
früheren Zellnestern entstandenen äusseren Schicht ab. Es macht dabei
häufig den Eindruck, als sei eben diese innere, meist aus platten Zellen
bestehende Lage das alte Darmepithel; obgleich im Grunde genommen doch
von einem solchen nicht gesprochen werden kann, da innerhalb der Zone
gar keine alten Zellen in continuo liegen bleiben, und die Continuität der
einer Kette zugehörigen Darmabschnitte nur durch eine Neubildung und
SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 219
Vermehrung der zelligen Elemente innerhalb der Zonen aufrecht erhalten
werden kann.
Haben nun die beiden Kiemengangwülste (Taf. IX, Fig. 11—14 von!
N. proboseidea) sich so weit um den Darm auf dessen cardiale Seite herum-
in der muthmasslichen Grenze zwischen ihnen und dem eigentlichen Darm-
epithel zwei ursprünglich ganz getrennte Höhlen auf, welche aber noch
vom Lumen des Darmes durch das Darmepithel geschieden sind (Taf. IX,
Fig. 12, 13, 14 kgh). In den vier abgebildeten aufeinanderfolgenden Schnitten
einer etwa 0,5 mm. langen Kopfzone ist Fig, 11 dicht hinter dem Mund
geführt; er zeigt nur eine ganz schwache Andeutung des Kiemengangwulstes
an der rechten Seite. Im nächsten Schnitt (Fig. 12) sind beide vorhanden,
beide zeigen auch schon die erwähnte Höhlung. Im darauffolgenden (Fig. 13 kgh)
sind diese beiden Höhlen grösser, im nächsten (Fig. 14) verschwindet
die eine, gleich darauf die andere, obgleich die beiden Kiemengangwülste
noch etwas weiter nach hinten als ganz solide Zellmassen gehen.
In einer abermals älteren Kopfzone (Taf. IX, Fig. 7—9) haben sich |
beide Kiemengangwülste überall auf dem Rücken des Darmes vereinigt;
ihre Höhlen sind grösser geworden und haben sich (Taf. IX, Fig. 9kgh) vorn
dicht hinter dem Munde bereits mit einander in Verbindung gesetzt, während
sie nach hinten zu (Taf. IX, Fig. 7, 8) noch gänzlich getrennt nebeneinander |
_ herziehen. Diese zuerst vorne auftretende Vereinigung der beiden, ursprüng- |
lich getrennten Höhlen der Kiemengangwülste greift aber bald nach hinten |
über, sodass schliesslich ein einfacher Hohlraum über dem eigentlichen |
Darmlumen liegt, welcher durch Vereinigung der zwei Kiemenganghöhlen
entstanden ist und von der Darmhöhle durch das dorsale Darmepithel voll-
ständig abgeschieden ist. Während diese Verschmelzung der beiden Kiemen-
sanghöhlen vor sich geht, wird der eigentliche. Darm stark neuralwärts
gedrängt, sein Lumen erhält eine deutlich dreieckige Gestalt (Taf. IX,
‚gezogen, dass sie sich vollständig in der Mittellinie berühren, so treten |
Fig. 7—9) und äusserlich wird er durch eine Einbuchtung von der, |
durch die Verschmelzung der beiden Kiemengangwäülste entstandenen
dorsalen (oder cardialen) Abtheilung geschieden. In dieser Einbuchtung |
verläuft später der vagus; ihr gegenüber steht die Scheidewand (Taf. IX,
Fig. 8, 9), welche einstweilen noch die Höhlung der verschmolzenen Kiemen- |
sänge von der des Darmes trennt. In jener entsteht nun ein Wimper-
epithel; die äusseren Schichten der beiden Kiemengangwülste entwickeln
theils radiäre Muskelfasern, theils Drüsenzellen; endlich reisst die Scheide-
"wand zwischen beiden Höhlen der Länge nach ein (Taf. VIII, Fig. 10 von
N. barbata) und der Schlundkopf ist fertig. : Die verschmolzenen Kiemen-
ganghöhlen sind zum wimpernden, cardialen Abschnitt desselben geworden,
2920 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
das durch einfache Verlängerung entstandene Darmlumen zum neuralen
Theil. In Taf. VII, Fig. 10 habe ich einen Schnitt abgebildet, welcher
einer Serie entnommen ist, bei der vorne die Vereinigung beider Hälften
bereits eingetreten war, hinten aber noch nicht.
Es entsteht somit der Kopfdarm der Naiden durch die Vereinigung
zweier ursprünglich getrennter Anlagen. Der Darmtheil desselben bildet
sich durch Streckung des Zonendarmstücks, welches als Verbindungsstück
zwischen den Därmen der Nachbarzooide sitzt; der obere Abschnitt, den
ich den Kiementheil des Kopfdarms nennen will, entsteht durch Ver-
einigung zweier Höhlen, die in den von mir sogenannten Kiemengang-
wülsten auftreten.
Diese letzteren gehen zweifellos aus dem Keimstreifen hervor. Man
würde — wenn man nur diese Verhältnisse bei Nais kennte — hier wohl
sicherlich den Ausspruch gerechfertigt finden, dass entschiedene Entoderm-
theile — das wimpernde Epithel des Kiementheils des Kopfdarms — aus
dem Mesoderm entstanden wären. Dies Resultat würde mit den bisherigen
Anschauungen über die Abstammung des Entoderms in schroffem Wider-
spruch stehen. Durch die gleich zu schildernden Vorgänge bei der Ent-
wickelung des Kopfdarmes von Chaetogaster glaube ich indessen eine andre
und mehr befriedigende Lösung dieses Räthsels erhalten zu haben. Die
später folgende Erörterung darüber wird zugleich auch die Rechtfertigung
für die ungewohnte Bezeichnung des dorsalen Abschnittes des Schlundkopfs.
als Kiementheils des Kopfdarms liefern.
Zu diesen beiden Abschnitten aber, von denen der eine aus einer
paarigen Einsenkung vom Ectoderm her, der andere durch das Wachsthum
‚und die Umwandlung des vorher bestandenen Darmes, also des Entoderms
entsteht, kommt noch ein dritter Theil: die unpaare Mundeinsenkung.
Es entsteht dieselbe nemlich in dem Masse, wie das hintere Thier sich von
dem vorderen abzulösen beginnt; zuerst erfolgt genau in der Mitte die Lösung
der Epidermis in der Trennungsfurche zwischen Kopf- und Rumpfzone; hier
senkt sich die Epidermis des hinteren Thieres gegen den Schlund zu, des
vorderen zum Enddarm zu ein, gleichzeitig trennt sich erst die neurale
Musculatur, dann auch der Nerv, während die äussere Furche immer weiter
nach oben hin übergreift. Schliesslich hängt (Taf. XI, Fig. 6) der neue Kopf
von B. nur noch mittels des alten Darmes und Rückengefässes mit dem Vorder-
thier zusammen, der Kopf hat sich vorn in Stirn und Oberlippe ausgezogen und
die ventrale unpaare Einsenkung (Taf. XI, Fig. 6 m) hat sich bereits mit
dem Kopfdarm als definitiver Mund in Verbindung gesetzt. Reisst dann das
Thier ab, so findet sich, aber offenbar nur kurze Zeit, über dem neuen
Mund ein ganz kleines, abgerissenes Stück des alten Darmes, das zur
a
|
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 221
Wunde gleichzeitig mit dem Gefäss heraushängt. Vernarbt die Stirn, so
hat sich auch dies vordere kurze Darmende gänzlich geschlossen ; beim aus-
gebildeten Kopf geht die dorsale Wand der Mundhöhle ohne Weiteres
glatt in den Schlund über, sodass jegliche Spur der durch den alten Darm
früher vermittelten Verbindung mit einem andern Zooid verschwunden ist.
8.9. Die Vorgänge bei der Knospung von Chaetogaster
diaphanus.
Es weichen dieselben in vielen Punkten so erheblich von denen der
Naiden ab, dass es schwer gewesen wäre, sie in dem vorhergehenden
Capitel zu berücksichtigen. Auch bot mir das ungünstige Object solche
Schwierigkeiten der Behandlung, dass es mir bis jetzt nicht gelang, über
einige wesentliche Dinge vollständigen Aufschluss zu erhalten. So war es
mir vor Allem unmöglich, die Entstehungsweise des Nervensystems in der
Rumpfzone genau zu verfolgen; theils ist die Kleinheit der Thiere und
ihrer Elemente, theils auch die Körpersestalt und ihre Krümmung daran
schuld; man kann Dutzende von Knospungszonen schneiden, ohne jemals
eine vollständige Serie genau senkrechter Schnitte zu erhalten. Ausserdem
geht die vollständige Umbildung der Anlagen der Keimstreifen in die
Theile der ausgebildeten Segmente so ungemein rasch vor sich, dass man
hier genöthigt ist, alle Schnittserien, deren Schnitte dicker als !/,) mm.
sind, ohne Weiteres wegzuwerfen; erst solche von 1.o—!/;, mm. sind
hinreichend dünn, um sicheren Aufschluss zu gewähren.
Die oben beschriebene Behandlung mit reiner Chromsäure oder chrom-
saurem Kali führte hier bei Chaetogaster nicht zum Ziele; die Thiere
krümmten sich stark und zerfielen in ihre einzelnen Abschnitte. Gute
Dienste leistete mir Chromsäure mit Zusatz von etwa !/;-—!, starker
Essigsäure; zuerst krümmen sie sich stark, dann aber dehnen sie sich aus
und sterben häufig ganz gerade gestreckt, ohne dass die einzelnen in
Bildung begriffenen Zooide sich von einander trennten. Tritt nach der
Streckung vor dem Tode eine abermalige Krümmung ein, so war der
Essigsäurezusatz nicht stark genug. In dieser Mischung blieben die Thiere
nur gerade so lang, als hinreichte, um sie abzutödten; dann that ich sie
auf 5—10 Minuten in schwachen Spiritus und dann zur Erhärtung in
absoluten Alkohol. Bei dieser Behandlung trat nie ein Schrumpfen ein; in
vielen meiner Schnitte steht die Körperwandung ganz weit und gleichmässig,
wie im lebenden Thier, vom Darm ab; auch dieser, obgleich dünnwandig
und mit sehr weitem Lumen, behält meist seine natürliche Gestalt bei. An
den so zubereiteten und in Balsam eingebetteten Colonien sind alle Organe,
222 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
das Nervensystem, die beiden Gefässe, Darm, die radialen Muskelfasern
des Kopfes, Segmentalorgane, Knospungszonen etc. viel klarer zur An-
schauung zu bringen, als an den lebenden Thieren; namentlich dann, wenn
die Chromsäure ihre Gewebe etwas gelblich gefärbt hat, wie durch con-
centrirtere Lösung leicht geschieht.
A. Orientirende Bemerkungen.
Untersuchungen, die ich bei den gleich zu schildernden Vorgängen
hätte benutzen können, liegen nicht vor; auf die Angaben von Claus und
Tauber über die Generationsfolge brauche ich hier nicht einzugehen.
Eine Chaetogasterkette ist viel complicirter gebildet, als die einer
Nais; sie enthält oft bis zu 16 Zooide (Claus), die in den verschiedensten
Stadien der Ausbildung begriffen sind. Die Vermehrung derselben aus
einem einfachen Chaetogaster beruht auf denselben allgemeinen Wachs-
thumsgesetzen, wie ich sie für Nais genau formulirt habe: jedes freie oder
zwischen zwei Zooiden zeitweilig eingeschlossene Afterende hat die Tendenz
in infinitum fortzuwachsen. Wenn aber so ein Zooid — das letzte mit
freiem Afterende (B) oder ein zwischen andere eingekeiltes (B’ oder A') —
mehr als fünf oder sechs Segmente aus dem Afterkeimstreifen entwickelt
hat, so tritt zwischen zwei völlig oder doch nahezu ausgebildeten Segmenten
(Taf. X, Fig. 8, Taf. XII, Fig. 11, Taf. XII, Fig. 15) eine dies Zooid
theilende Knospungszone auf. Vor jeder solchen aber, die wie bei Nais
die beiden typischen Abtheilungen (vordere Rumpf- und hintere Kopfzone)
enthält, schiebt sich immer wieder eine neue Knospungszone ein, genau wie
bei Nais barbata, elinguis etc. Eine Verminderung der Zahl der Rumpf-
segmente des vorderen Thieres, wie sie bei N. proboscidea vorkommt, tritt
hier nie ein!) Da nun die Zahl der Segmente jedes ungeschlechtlichen
Zooids ungemein klein ist (3—5 Rumpfsegmente), die ausgebildeten aber
unverhältnissmässig gross und selbst absolut viel grösser sind, als die der
Naiden, so muss natürlich hier die Reife jedes Zooids und seine Ablösung
ausserordentlich viel später erfolgen, als bei Nais oder 'mit andern
Worten: die grosse Zahl der in einer Kette vereinigten Zooide — gegenüber
Nais — wird dadurch bedingt, dass die Ablösung vor Allem von dem
Auswachsen der Kopfsegmente abhängt und nur spät eintritt, die Neu-
') Tauber giebt allerdings an, eine solche auch hier beobachtet zu haben. Ich
kann dies nicht als unmöglich bezeichnen; die Varianten sind in dieser Beziehung
so mannichfaltig, dass ich fast Alle für möglich halten möchte. Ich selbst habe
freilich, obgleich ich viele Hunderte von Chaetogaster- Exemplaren durchmusterte, |
nie ein Ueberspringen eines alten Gliedes durch eine Knospungszone beobachtet,
während dies als Regel bei N, proboscidea sehr leicht festzustellen ist.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 293
bildung neuer Zooide aber bedingt ist durch die rasch eintretende neue
Knospungszone, wenn sich am Afterende mehr als sechs oder sieben Rumpf-
sesmente gebildet haben.
Die Theilungszone im hinteren Thier und die neue Knospungszone vor
jeder älteren scheinen in ihrem speciellen Verhalten ganz und gar über-
einzustimmen; das Afterende verhält sich natürlich anders, aber es ist auch
von dem bei Nais recht sehr verschieden. Leider sind, wie oben erwähnt,
meine Untersuchungen hier von keinem vollständigen Erfolg gekrönt ge-
wesen, sodass ich mich über manche Verhältnisse nur mit grosser Reserve
aussprechen kann. Ein sehr wichtiges Resultat glaube ich indessen fest-
gestellt zu haben: die bei Nais so ungemein deutliche unpaare Ectoderm-
knospe fehlt hier in den Knospungszonen gänzlich.
Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass der Zerfall des
Keimstreifens in die Ursegmente, dieser letzteren in die eigentlichen Organe
so ungemein rasch eintritt, dass man kaum mehr von einem wirklichen
Keimstreifen sprechen kann; denn sowie die Einwanderung vom Ectoderm
aus in der auch für Nais charakteristischen Weise in die Leibeshöhle
hinein beginnt, fängt auch schon die Ausbildung der Ursegmente an (Taf.
XI, Fig. 1 mes).
Die erste noch ungetheilte Knospungszone, wie sie im hintersten Zooid
immer auftritt, hat eine Breite von 0,03 mm., die beiden ihr benachbarten
Segmente eine solche von 0,03— 0,05 mm.; hat jene erste die Breite von
0,05 mm. erreicht, so tritt auch schon die Segmentirung ein. Ganz anders
bei Nais. Hier wächst sowohl die Rumpfzone wie die Kopfzone verhältniss-
mässig viel mehr in die Länge, ehe ihre Gliederung beginnt. Diese
ungemein rasche Ausbildung der Ursegmente erschwert die Untersuchung
ganz ausserordentlich.
Da ich nun in Folge dieses Umstandes nicht dazu gelangt bin, die
allmäligse Umbildung der Knospungszone in ähnlich vollständiger Weise
aufzuklären, wie mir dies bei Nais gelungen ist, so erscheint es mir auch
überflüssig, ihre beiden Hälften — die Kopf- und Rumpf-Zone — so ein-
gehend zu behandeln, als es mir bei dieser Gattung möglich war. Dagegen
muss ich die Entstehung des neuen Kopfdarmes hier ausführlicher be-
sprechen, da ich über diesen Punkt wirklich ganz ins Klare gekommen
bin und da er wegen später zu discutirender allgemeiner Beziehungen von
srösster Bedeutung erscheint.
Der Durchschnitt durch ein ausgebildetes Chaetogastersegment, mitten
durch ein Ganglion geführt, zeigt im Wesentlichen Uebereinstimmung mit
dem von Nais (Taf. XII, Fig. 6, 8). Die neurale Muskelplatte hebt sich
hier ebenso, wie bei Nais, von der Haut ab, sodass sie wie eine weite
294 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
halboffene Rinne das Nervensystem umgiebt. Die cardiale Muskelplatte ist
ungemein breit; sie umspannt mehr, als die Hälfte des ganzen Umfanges.
Das zwischen beiden liegende Seitenfeld ist in seiner cardialen Hälfte von
einer einzigen seitlichen Muskelplatte eingenommen, in der ventralen Hälfte
tritt das breite Borstenbüschel durch. Es ist also nur eine seitliche
Muskelplatte vorhanden, während Nais deren zwei besitzt. Ein weiterer,
wesentlicher Unterschied liegt in dem Vorhandensein einer äusseren Ring-
muskellage (Taf. X, Fig. 1, 2r.m.), welche im Rumpf, wie im Kopf die vier
Längsmuskelplatten rings umgiebt; im Kopf ist sie immer stärker ent-
wickelt, als im Rumpf. Diese Ringmuskelschicht fehlt bei Nais. Der bei
dieser Gattung als Seitenlinie bezeichnete Zellstrang tritt hier also, da er |
zwischen den zwei seitlichen Muskelplatten im Seitenfelde liegt, hart an die
Epidermis heran, von dieser nur durch eine äusserst dünne Basalmembran
getrennt. Bei den ausgewachsenen Segmenten von ÜChaetogaster dagegen
fehlt diese Seitenlinie; doch sieht man hie und da zwischen der fast ver-
schmolzenen seitlichen und cardialen Muskelplatte eine Zellengruppe (Taf.
X, Fig. 1, 2, s. 1.) ähnlich derjenigen, welche bei Nais continuirlich durch
alle Schnitte hindurch zu verfolgen ist: hier bei Chaetogaster aber scheinen
sie keinen der Länge nach zusammenhängenden Strang zu bilden. Sie
sind aber, wie die Umbildung der Knospungszone lehrt, nur Ueberbleibsel
einer ursprünglich auch bei dieser Gattung vorhandenen Seitenlinie.
B. Das Wachsthum am freien Afterende.
Hier bei Chaetogaster ist es sehr viel schwieriger, zu entscheiden, ob
das hinterste Thier einer Kette ein freies Afterende hat oder nicht, als
bei Nais; denn es ist weder am lebenden, noch an conservirten Thieren
mit Sicherheit ein Zusammenhang des Nervensystems mit der Epidermis an
Profilbildern zu erkennen. Es ist ferner der Enddarm hoch nach dem
Rücken hinaufgerückt, ihm folgen das Nervensystem und die Borsten-
büschel so ungemein dicht (Taf. XII, Fig. 11 a), dass der Raum, welcher
dem ungegliederten Keimstreifen angehören könnte, ganz ungemein schmal
ist. Die durch die starke Krümmung des Afterendes (Taf. XII, Fig. 11,
Taf. X, Fig. 8) bedingte gebogene Lagerung der Borstenbüschel — die bei
Nais fast in einer geraden Linie liegen — verhindert endlich die An-
fertigung vollständiger Querschnittsreihen desselben Thieres; horizontal und
sagittal geführte Schnitte sind ebenfalls wenig übersichtlich, da man in
beiden Fällen Theile in derselben Schnittebene erhält, welche verschiedenen
hintereinander liegenden Segmenten angehören. Bei diesem Object dürfte
wohl nur der Hensen’sche Querschnitter Erfolge versprechen; leider bin ich
nicht in der Lage, meine Untersuchung mit einem solchen anzustellen.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 295
Ueber einige wesentliche Punkte glaube ich indessen doch schon be-
stimmten Bescheid geben zu können.
Es ist zunächst festgestellt worden, dass hier am freien Afterende
genau, wie in der Knospungszone, eine sehr starke und rasche Einwucherung
von Ectodermzellen aus den Seitenfeldern her in die Leibeshöhle hinein
erfolgt. Sie geschieht so rasch, dass fast von Anfang an einzelne Zell-
gruppen sich gegenseitig zu drängen scheinen; auf einem Horizontalschnitt
(Taf. XI, Fig. 1) biegen sich die den Keimstreifen bildenden Zellmassen
_ weit nach vorn hin vor, während ihr seitlicher Zusammenhang am hintersten
Ende immer nur ganz schmal ist. Zugleich sind diese einwandernden Zell-
gruppen fast von Anfang an von einander getrennt, und ihre Trennungs-
linien entsprechen den Grenzen zwischen den Ursegmenten; ja es sieht fast
aus, als ob die Eutstehung der letzteren einer periodischen Einwanderung
vonsEctodermzellen ihren Ursprung danke.
Es ist ferner auf Horizontal- wie auf Querschnitten (Taf. XI, Fig. 1,
Taf. X, Fig. 5—7) gar keine Grenze zwischen dem Nervensystem und
de:n eigentlichen Mesoderm zu erkennen; am hintersten Ende gehen alle
diese Theile so ineinander über, dass es mir ganz unmöglich erscheint, hier
über die speciellere Herkunft der Spinalganglien ins Klare zu kommen.
Doch kann ich nicht umhin, meine Ansicht — die sich mir als wahr-
scheinlich allmälig gebildet hat — dahin auszusprechen, dass durch die
Einwanderung von Ectodermzellen von den beiden Seitenfeldern her sich
ein ursprünglich ungegliederter, wenn auch sehr kurzer Keimstreif bildet,
ohne dass eine unpaare Ectodermknospe hinzutritt. Aus dem mittleren,
ungegliederten Theil entsteht das mittlere centrale Ganglion, seitlich davon
aus den beiden nächsten Theilen des Keimstreifens die segmentirten Spinal-
ganglien, endlich aus den noch weiter zur Seite liegenden Zellgruppen die
Muskelplatten, Borstenbüschel, Sagittalmuskeln und Segmentalorgane. Hierfür
spricht auch die Ansicht junger Knospungszonen von der Neuralseite her
erar. X], Fig. 5).
Ich kann es nun allerdings nicht bestreiten, dass möglicher Weise
doch dicht am After eine ganz kleine Ectodermknospe. vorhanden sei, aus
welcher das centrale Ganglion entstünde; doch halte ich es namentlich
desshalb für unwahrscheinlich, weil ich glaube mit Bestimmtheit ihr Vor-
handensein in der Knospungszone in Abrede stellen zu können. Es würde
sich hiernach der Keimstreif am Afterende in ähnlicher Weise verhalten,
wie bei den Blutegeln, bei welchen zweifellos zwei gänzlich getrennte
Hälften allmälig in der Mittellinie verwachsen, um dann erst bei ein-
tretender Segmentirung scheinbar wieder auseinanderzurücken.
2936 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
C. Die Bildung der Knospungszone.
Die erste Anlage der Knospungszone geschieht, genau wie bei Nais,
in der Epidermis durch eine Vermehrung und Umwandlung ihrer Elemente,
ı vor Allem in den beiden seitlichen Theilen. Gleichzeitig mit derselben
tritt eine Einwanderung der so entstandenen Eetodermzellen ins Innere der
Leibeshöhle ein; diese Einwanderung ist so energisch, dass man auf Längs-
schnitten Bilder erhält, welche durch die Anordnung ihrer Elemente (Taf.
XT, Fig. 1) auch für das Auge den Eindruck eines activen Einwanderns
hervorrufen, Sie erfolgt vom Seitenfelde aus und zwar fast gleichzeitig von der
Seitenlinie — welche den cardialen Muskel von dem Seitenmuskel trennt —
und von der Borstenfurche her, die zwischen neuraler und seitlicher Muskel-
platte liegt. |
Zugleich mit dieser Einwanderung scheint aber auch eine Wucherung
der schon zuvor im Innern liegenden Theile aufzutreten, so namentlich der
Ganglienzellen und der unter den Nervensträngen liegenden Chordazellen.
Diese letzteren bilden hier bei Chaetogaster selbst noch an ganz aus-
gewachsenen Segmenten nicht selten mehr oder minder lang zusammen-
hängende Zellreihen (Taf. XI, Fig. 4 ch); gegen eine junge Knospungs-
zone nehmen sie rasch an Zahl zu und füllen den sonst ziemlich grossen
Zwischenraum zwischen Darm und Nervenstrang aus. Bei hinreichend auf-
gehellten, genau im Profil liegenden Ketten (Taf. X, Fig. 3, 4) ist dies
schon im optischen Längsschnitt zu erkennen; es wird dies Resultat durch
gelungene Sagittalschnitte, wie Querschnitte bestätigt.
In Bezug auf die erste Entstehung der Mesodermanlagen in der neuen
Knospungszone stimmen also Chaetogaster und Nais genau überein: bei
beiden geschieht die Einwucherung der Eetodermzellen durch das Seitenfeld
und ebenso ist bei ihnen anfänglich die hintere Hälfte (die Kopfzone)
nicht von der vorderen (der Rumpfzone) unterschieden. Die weitere Um-
bildung derselben in Rumpf- und Kopfzone aber ist bei beiden Gattungen
ganz ungemein verschieden, sodass es auf den ersten Blick fast scheinen
möchte, als sei ein principieller Gegensatz vorhanden.
Dieser Schein eines principiellen Unterschiedes wird, wie ich glaube,
ausschliesslich dadurch hervorgerufen, dass bei Chaetogaster alle Vorgänge
sich viel rascher, ich möchte sagen, stürmischer abspielen, als bei Nais,
und auch die Umbildung, so vor Allem die Gliederung des Nervensystems,
eine viel vollständigere als bei dieser ist. Bei Nais proboseidea beginnt
die Gliederung des centralen — aus der Ectodermknospe entstandenen —
Bauchmarks erst, wenn mindestens fünf Segmente neu entstanden sind;
selbst in den ältesten Segmenten erreicht die Längscomissur zwischen zwei
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 297
Ganglienknoten niemals die Hälfte der Länge eines Ganglions. Ganz anders |
ist dies bei Chaetogaster. Hier sind in den Rumpfsegmenten eines er- |
wachsenen Thieres die Comissuren oft länger, selbst wohl gar zweimal so
lang, als ein Rumpfganglion; und die Trennung der zwei Mesodermplatten
in Ursegmente und dann in deren einzelne Organe erfolgt so rasch, dass
das vorderste Rumpfsegment meist schon zur Haut heraustretende. Bauch-
borsten hat (Taf. XIII, Fig. 15 z A,), wenn dicht dahinter das” dritte oder
vierte Borstenpaar noch tief im Mesoderm steckt oder noch gar nicht an-
gelegt ist. Da nun gleichzeitig auch die Sonderung des Bauchmarks in
einzelne Ganglienknoten vor sich geht, so muss natürlich der anfänglich
vorhandene Zusammenhang zwischen den einzelnen Parthien des centralen
Nervensystems sehr rasch aufgehoben werden d. h. eine so langgestreckte
ungegliederte Ectodermknospe (— centralem Nervensystem), wie bei Nais
könnte hier gar nicht vorkommen.
Ich möchte indessen glauben, dass eine mittlere Ectodermknospe über-
haupt nicht in der neuen, zwischen zwei Zooide sich einschiebenden Knos-
pungszone gebildet wird, sondern dass entweder das neue centrale Nerven-
system entsteht durch Verwachsung aus zwei seitlichen Hälften, welche in
der Borstenfurche des Seitenfeldes einwuchernd ‚hier sich zwischen die alten
Ganglien einschieben, oder auch, dass diese letzeren in dem Maasse wie
die Knospungszone breiter wird, wuchern. Ich muss bekennen, dass ich
trotz aller hierauf verwandten Mühe nicht im Stande war, die neuen
Glieder der Ursegmente mit voller Sicherheit auf einzelne Entstehungsheerde
zu beziehen. Ich ziehe es daher auch vor, nur wenige Schnitte abzubilden,
welche vor Allem dazu dienen sollen, einige wesentliche Punkte festzustellen.
Die Schnitte (Taf. XI, Fig. 1; Taf. X, Fig. 5, 6, 7) zeigten zunächst,
dass eine Einwucherung von dem Seitenfelde her erfolgt ist; der so ge-
bildete Keimstreifen greift bis an den Darm (an der Neuralseite) heran,
er steht ferner direct mit dem Nervensystem in Verbindung, sowie mit
einer Zellgruppe, welche zwischen diesem und dem Darm liegend und die
Aorta umfassend aus einer Wucherung der früher erwähnten Chordazellen
(Taf. XI, Fig. 4) entstanden zu sein scheint. Auch eine Grenze zwischen
den Zellen des Bauchmarks und denen der eigentlichen Mesodermplatten
ist nicht zu sehen (Taf. XI, Fig. 1; Taf. X, Fig. 5—12); vielmehr
scheinen innerhalb einer jungen Knospungszone alle zwischen Darm und
Epidermis liegenden Bildungszellen gleichartiger Natur zu sein. Es ist be-
greiflich, dass bei dem vollständigen Mangel aller Grenzen und aller aus-
geprägten Unterschiede im Aussehen der einzelnen Zellen hier der Unter-
suchung eine Grenze gezogen ist.
Dass zweitens wohl kaum durch mittlere Verdickung des Ectoderms
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 16
Set
228 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederteu Thiere,
an der neuralen Seite eine Ectodermknospe und so ein centrales Nerven-
system gebildet werden kann, folst vor Allem daraus, dass die neurale
Muskulatur, wie sagittale Längsschnitte zeigen, nie unterbrochen oder empor-
‚gehoben wird, und dass die bei Nais so auffälligen, zwischen Darm und
meuem Nerv liegenden alten Muskelfasern hier gänzlich fehlen. Obgleich
ich glaube, dass diese starke Abweichung wirklich vorkommt, so wage ich,
im Hinblick auf das so ausserordentlich schwierige Object, doch nicht,
hierüber einen ganz entschiedenen Ausspruch zu thun. Auch will ich offen
bekennen, dass mir die Untersuchung anderer Punkte von grösserem
Interesse zu sein schien; denn wenn es auch gelingen sollte, festzustellen,
dass in der That hier bei Chaetogaster die centrale Parthie eines Ganglions
nicht als unpaare Verdickung aus dem Ectoderm, sondern durch Ver-
wachsung zweier seitlicher Hälften entstünde, so wäre damit, wie mir
scheint, doch kein typischer Gegensatz in der Bildungsweise des centralen
Nervensystems erwiesen. Denn auch bei Nais — und überhaupt bei allen
gegliederten Thieren — entsteht dasselbe aus zwei Hälften, welche mehr
oder minder deutlich in der Mittellinie unterbrochen sind; ob sie nun
gleich im Anfang, noch dem Eetoderm angehörend, so miteinander ver-
wachsen, dass sie bei ihrem Dickenwachsthum das überlagernde Muskelblatt
aufheben müssen; oder ob sie sich zunächst vom Ecetoderm sondern, über
den Muskel wegwachsen und dann erst sich in der Mittellinie vereinigen,
ist im Grunde nicht sehr verschieden. Sollte sich dagegen zeigen — was
ich fast als wahrscheinlich annehmen möchte —, dass das centrale Nerven-
system der neuen Zooide durch Auswachsen der Ganglien der alten Zooide
entstünde, so wäre der Unterschied noch geringer; denn so gut, wie bei
der Hervorbringung einer neuen Kopizone bei Nais das Vorderende des
Rumpfbauchmarks (oder eines ausgewachsenen Ganglions bei N. proboscidea)
in jene hineinwächst, ebensogut kann bei Chaetogaster der einmal angelegte
Nervenstrang auch die Fähigkeit besitzen, nicht blos in neue Kopf-, sondern
auch in neue Rumpfzonen hineinzuwachsen. Das in Taf. XI, Fig. 5 ge-
gebene Flächenbild ‘der Bauchseite einer Chaetogasterkette könnte allerdings
die Meinung erzeugen, es betheilige sich das Ganglion des ältesten Rumpf-
segments nicht an der Ausbildung des neuen Kopfmarks; denn bei On ist
derselbe ganz deutlich vom Schlundring oder vielmehr vom Keimstreifen
getrennt. Aber die jüngeren Zonen zeigen diese Trennung nicht; in diesen
stossen die schon vorhandenen Ganglien des Bauchmarks vorn wie hinten
an die Zellen der neuen Zone an. Eine sichere Entscheidung ist in dieser
Beziehung also weder durch Schnitte, noch durch unversehrte Ketten
zu liefern.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 299
D. Weiteres Wachsthum der Kopfzone.
Im vorhergehenden Abschnitt ist gezeigt worden, dass Kopf- und
Rumpfzone hier, wie bei Nais, ihrer ersten Entstehung nach völlig identisch
sind. Während aber bei Nais die Sinnesplatte verhältnissmässig spät auftritt
(s. oben pag. 211, 212), wird sie hier bei Chaetogaster so früh angelegt, dass
dadurch die beiden Abschnitte der Zone fast schon von Anfang an zu
unterscheiden sind. Noch verschiedener aber verhält sich diese Gattung
in Bezug auf die beiden seitlichen Ectodermeinsenkungen, welche dort bei
Nais zur Ausbildung des dorsal liegenden Schlundstempels führten ; diese
treten hier an die neurale Seite des Darmes heran , heben diesen allmälig
empor und vereinigen sich zu einem ganz neuen Kopfdarm, welcher den
alten Darm im Bereiche des eigentlichen Kopfes vollständig verdrängt.
Der Schlundring und das sogenannte Gehirn entstehen, ganz wie bei Nais,
durch Verwachsen der beiden Sinnesplatten mit den von der Bauchseite
her um den Schlund herumwachsenden Schenkeln des Bauchmarks. Eine
dorsal liegende Medullarplatte fehlt hier ebenso, wie bei Nais.
Wir wollen die Entstehung des Kopfmarks (Gehirns) und des Kopf-
darms gesondert untersuchen. Zuvor muss noch kurz der Bau des Kopfes
eines ausgewachsenen Zooids geschildert werden.
Das Vorderende (Taf. XIII, Fig. 15), der sogenannte Rüssel der ge- |
schlechtslosen Exemplare von Chaetogaster, setzt sich bekanntlich schroff |
gegen den Rumpf ab, welcher nur 3—5!) ausgewachsene Segmente besitzt;
die Zahl dieser Rumpfsegmente ist nicht Constant. ‘Einem jeden derselben
") Die Variabilität ist überhaupt in der Familie der Naiden ungemein stark.
Dieselbe Chaetogasterart hat im ungeschlechtlichen Stadium bald nur drei, bald vier,
selbst fünf Körpersegmente; dass dies kein specifischer Unterschied ist, zeigt die
Thatsache, dass mitunter in Ketten, deren Zooide sonst vier Glieder besitzen,
plötzlich eines auftritt mit drei Segmenten und umgekehrt. Noch merkwürdiger ist,
dass je nach den Localitäten die Zahl der Körpersegmente derselben Art verschieden
ist; in Kissingen hatte Chaetogaster diaphanus im September fast ausnahmslos vier
Glieder, hier in Würzburg nur drei, jetzt im Juni hier in Würzburg meistens vier,
mitunter sogar fünf. Augen, Grösse, Generationsfolge sind ebenso variabel; selbst
die Borstenform scheint bei Nais den grössten Schwankungen unterworfen zu sein. Ich
finde jetzt — im Monat Juni — hier in der Nähe von Würzburg eine ungeschlecht-
liche, durch Knospung sich vermehrende Nais. die ich in keiner Weise von der so
vielfach von mir untersuchten N. barbata zu unterscheiden weiss; aber in den Borsten-
büscheln des Rückens finde ich neben den Haarborsten noch getheilte Hakenborsten.
Dies würde die Art zur Gattung Tubifex stellen; aber von dieser ist keine Knospung
bekannt, auch ist der ganze Habitus des Thieres entschieden naidenartig. In einem
späteren Aufsatze werde ich meine bisherigen Erfahrungen über die ungemein grosse
Variabilität der Oligochaeten ausführlich mittheilen.
16*
230 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
entspricht ein Ganglion, welches von seinen Nachbarn durch eine lange
Comissur getrennt ist. Vor dem ersten Rumpfganglion liest, scheinbar dem
Rumpf noch angehörend, ein anderes Ganglion (Taf. XIII, Fig. 15 9),
welches aber vorn direct übergeht in das hinterste, bereits entschieden im
Kopf liegende. In Bezug auf die Gestalt des Kopfbauchmarks (Gehirntheil)
verweise ich auf Leydig’s eingehende Schilderung. Der eigentliche Kopf
ist vom Rumpf durch ein muskulöses Diaphragma getrennt; wo dieses
(Taf. XIII, Fig. 15) den Darm umgiebt, ist dieser letztere ungemein eng
geworden, und umgeben von einem dicken, aus Ringmuskeln gebildeten
Sphincter. Von diesem Diaphragma an lassen sich im Kopfe drei Ab-
schnitte des Kopfdarms unterscheiden; der hintere (Taf. XIII, Fig. 14)
kürzeste liegt von jenem Sphincter umgeben, und hat ein sehr enges, fast
kreisförmiges ausgezacktes Lumen; der mittlere ist der längste, er ist sehr
weit (Taf. XIII, Fig. 12, 13), im Querschnitt ziemlich regelmässig dreieckig
mit dünnem glattem Epithel; der vorderste ist wieder kürzer im Querschnitt
(Taf. XIII, Fig. 11), rund und eng und er weitet sich dann plötzlich m
die fast terminal liegende Mundöffnung aus. Ringsum ist dieser Kopfdarm
umgeben von einer dünnen inneren Ringmuskel- und einer äusseren Längs-
muskellage (Taf. X, Fig. 1; Taf. XIII, Fig. 11-14); diese letztere wird
durchsetzt von einem dichten Filz radial stehender Muskelfaserzellen,
welche nach allen Richtungen an die Haut ausstrahlend offenbar eine starke '
Erweiterung des Kopfdarms zu erzeugen vermögen. Die neuralen Muskel-
faserzellen treten, wie schon Leydig!) hervorgehoben hat, zwischen den zwei
Hälften des Kopfbauchmarks, wie des dorsalen Schlundganglions hindurch.
Ventral dicht unter und seitlich vom Munde (Taf. XIII, Fig. 15) tritt ein
grosses Borstenbüschel aus, das einzige, welches dem Kopfe zukommt. Der
Schlundring endlich biegt sich ziemlich früh und weitab vom Munde
(Taf. XII, Fig. 15) um den Schlund herum; der vor ihm liegende Raum
wird zum Theil ausgefüllt durch einen vorderen Sphineter, den ich im
Gegensatze zu dem am Hinterende des Kopfdarms gelegenen Schlund-
sphineter als Mundsphincter bezeichnen will (Taf. XII, Fig. 11).
Das einzige Borstenpaar und die tonnenähnliche Gestalt des Kopfes
könnten zu der Meinung verführen, es sei derselbe nur durch die Umwand-
lung eines einzigen, des vordersten, Segmentes entstanden. Gegen diese
Annahme liesse sich schon die Gestalt des Kopfbauchmarks ins Feld führen ;
nach Leydig hat es — abgesehen vom dorsalen Schlundganglion — deutlich
mehrere Einschnitte, welche trotz der Continuität des ganzen Kopfmarks
doch eine gewisse Segmentation anzudeuten scheinen. Die Bildungsweise
!) Leydig, Vom Bau des thierischen Körpers. Atlas Taf. II, Fig. 1 k.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 231
des neuen Kopfes der durch Knospung entstandenen Zooide zeigt in der
That, dass er angeschen werden muss als durch die Verschmelzung mehrerer
ursprünglicher Segmente entstandenes, nur scheinbar einfaches Gebilde,
1) Die Bildung des Kopfnervensystems. Ich hatte oben |
bereits bemerkt, dass ich aus dort erörterten Gründen keine klare |
Einsicht in die erste Entstehung des Bauchmarks der neuen Knospungszone
gewinnen konnte. Der zur Kopfizone werdende Abschnitt derselben wird
aber sehr früh dadurch scharf bezeichnet, dass in ihm nicht blos die neural
gelegene Platte des Keimstreifs vorhanden ist — wie in der Rumpfzone —,
sondern dass davor noch eine zweite Einsenkung vom Ectoderm herkommt,
welche in der Rumpfzone ausnahmslos fehlt. Diese Einsenkung beginnt von
der Seitenlinie, also von dem Zwischenraum her, welcher den einfachen
Seitenmuskel vom cardialen Muskel trennt (Taf. X, Fig. 5—7); sie wächst
zunächst gegen den Darm zu, krümmt sich später auf die Rückseite
desselben, vereinigt sich dabei mit dem von der Neuralseite herkommenden
ventralen Schenkel des Schlundringes, um mit diesem zusammen auf der
Rückseite des Darms zum oberen Schlundganglion zu werden. Diese Ein-
senkung bildet die Sinnesplatte.
Leider bin ich auch hier nicht im Stande, über die feineren Ver-
hältnisse bei diesen Vorgängen Genaueres anzugeben; denn auch hier
wieder ist das Gewirre der einzelnen Elemente so gross, sind sie selbst so
klein, so dicht aufeinandergepackt und anfänglich so wenig untereinander
unterschieden, dass es unmöglich erscheint, mit Sicherheit die Herkunft
einzelner Gewebsgruppen zu bestimmen. So war es mir unter Anderem
nicht möglich, über die Abkunft der radiären Muskelzellen oder der
Muskelschicht des Kopfdarms zur Klarheit zu kommen; und es schien mir,
als ob nicht blos die Zellenlagen, aus denen ventral das Kopfbauchmark
oder der neue Kopfdarm entstehen, sondern auch die seitliche Einwucherung
aus der Seitenlinie, welche unzweitelhaft zu einem Theil des Schlundringes
und Gehirnes wird, Muskelfasern zu erzeugen vermöchten.
So interessant es nun auch sein würde, diese und andere histologische
Fragen zu untersuchen, so kann ich sie hier doch um so eher bei Seite
lassen, als ihre Beantwortung nichts zur Lösung der eigentlichen Aufgabe bei-
tragen würde: die Entstehung des Schlundringes zu erforschen. Dass dieser
aber gebildet wird durch die Umwachsung des Schlundes von der Neural-
seite her, und durch die Vereinigung zweier ursprünglich gesonderter An-
lagen — des Bauchmarks und der Sinnesplatte —, leidet keinen Zweifel.
Es zeigen einmal Durchschnitte durch die jüngsten, wie ältesten Kopf-
zonen (Taf. X, Fig. 5—12; Taf. XII, Fig. 9, 10 etc.) keine Spur einer
dorsalen Medullarplatte; die cardiale Muskelplatte geht ausnahmslos con-
232 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
tinuirlich durch alle Zooide einer Kette hindurch und sie muss sich daher,
in dem Maasse wie neue Knospungszonen gebildet werden, durch Ein-
schiebung neuer Muskelelemente verlängern, ohne dass je die Continuität
dieser Muskelschicht unterbrochen wird. Das Ectoderm zeigt hier allerdings
(Taf. X, Fig. 5; Taf. XI, Fig. 2) eine schwache Verdickung; aber es
findet so wenig bei Chaetogaster, wie bei Nais (s. pag. 206) eine Ein-
wucherung aus der cardialen Hälfte des Ecetoderms statt. Diese umgreift
aber den Umfang eines Querschnittes mehr als zur Hälfte; es liegt somit
die erste Stelle, von welcher aus eine Einwucherung neuer Ectodermelemente
stattfindet, die Seitenlinie (Taf. X, Fig. 5—7), schon auf der Bauchseite.
Es ist damit bewiesen, dass in dieser Gattung so wenig, wie bei Nais, das
sogenannte Gehirn gebildet wird durch eine dorsal liegende Medullarplatte.
Es geben ferner die Beobachtungen am unverletzten Thiere schon ohne
Weiteres Aufschluss darüber, dass der Schlundring in der That vom Bauche
her um den Schlund herum und auf den Rücken hinaufwächst. Bei genau
im Profil liegenden Ketten (Taf. X, Fig. 8 zz, +x; Taf. XII, Fig. 15)
erreicht die jüngste Theilungszone von B, (Taf. X, Fig. 8) noch nicht
einmal die Höhe der Seitenmuskel; tritt dann die Einwucherung der
Sinnesplatte von der Seitenlinie her ein, so vergrössert sie den Umfang
der Kopfzone (Taf. X, Fig. 5) und hat sich die Sinnesplatte von dem
Ectoderm abgelöst, näher an den Darm herangelegt und schon fast den
ganzen Umfang des letzteren umwachsen (Taf. XIII, Fig. 15 com A,), so
sieht man doch sowohl an Querschnitten, als an wirklichen und optischen
Sagittalschnitten (Taf. X, Fig. 4), dass die beiden etwas angeschwollenen
oberen Enden des Schlundringes sich noch nicht in der dorsalen Mittellinie
vereinigt haben. Auch an genau auf dem Rücken liegenden Ketten (Taf.
XI, Fig. 5) ist dasselbe Resultat leicht zu gewinnen; die ganz junge
Knospungszone zyı greift nicht einmal auf der Bauchseite soweit seitlich
über, dass die seitliche Darmwand dadurch verdeckt würde; in z. ist diese
letztere fast erreicht; in beiden fehlt noch die Sinnesplatte. In der etwas
älteren Zone zu ist diese vorhanden, und hat sich schon mit dem von der
Neuralseite her kommenden Keimstreif verbunden; der so angelegte Schlund-
ring legt sich zwischen Haut und Darm beiden eng an; stellt man dann
aber — was in der Zeichnung natürlich nicht auszudrücken war —, noch
tiefer ein, so sieht man, dass dieser Schlundring plötzlich stumpf endigt
ohne auf die Rückenseite des Darmes überzugreifen. In dem Maasse nun,
wie Schlundring und Sinnesplatte sich mehr um diesen herumkrümmen,
wird auch der Darm immer mehr eingeengt, sodass in späteren Stadien der
Schlundring viel weiter, als ursprünglich, von der Haut entfernt, dagegen
hart am Darm liegt. Die wirkliche Verbindung beider Hälften, also der
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 233
dorsale Verschluss des Schlundringes geschieht ebenfalls viel früher, als bei
Nais. Es geht endlich aus den verschiedenen Durchschnitten hervor, dass
noch in ziemlich späten Stadien, wenn der Schlundring bereits geschlossen
oder nahe vor dem Schluss ist, die Sinnesplatte sich nicht von der Seiten-
linie gelöst hat; sie tritt als ein schmaler Zellstrang (Taf. XII, Fig. 9 sl)
von ihr ab gegen das dorsale Schlundganglion zu, an das sie gleichzeitig
mit dem vom Bauchmark herkommenden Bogen (Taf. XII, Fig. 9 com)
anstösst. Leider sind diese beiden Zellenzüge, namentlich der letztere, in
ihrer ersten Entstehung undeutlich, da sie allzusehr verhüllt sind von
Bildungszellen der verschiedenen Muskelschichten. Da aber die anfängliche
Einsenkung von der Seitenlinie her gegen den Darm zu ungemein klar zu
erkennen ist (Taf. X, Fig. 5—12), und auch über die spätere Verbindung
der von ihr ausgehenden Sinnesplatte mit dem Schlundring kein Zweifel
bestehen kann: so ist auch hier dasselbe Resultat, wie für Nais festgestellt,
die Entstehung des dorsalen Schlundganglions durch die Vereinigung der
zwei getrennten Anlagen des Bauchmarks und der Sinnesplatte. Darin auch
wieder liest die Berechtigung zu der hier geübten Benennung der letzteren.
Denn wenn die von der Seitenlinie aus gegen den Darm zu sich wendende
Einsenkung hier bei Chaetogaster auch niemals Sinnesorgane entwickelt,
und später sogar ihre Verbindung mit der Epidermis völlig aufgiebt: so
entspricht sie morphogenetisch doch durchaus der ein Auge erzeugenden
Sinnesplatte von Nais. Denn für beide Theile ist das Doppelte charakte-
ristisch, dass sie sich mit der vom Bauche herkommenden Comissur dorsal
zum sogenannten Gehirn verbinden und dass sie aus dem Seitenfelde und
zwar aus einem ganz bestimmten Theil desselben, der sogenannten Seiten-
linie entstammen. Selbst das Fehlen der Augen ist nicht einmal aus- |
schliesslich für Chaetogaster bezeichnend; denn auch bei Nais barbata
kommen nicht selten blinde Individuen vor, die aber trotzdem ein typisch
gebautes Gehirn und einen zur Epidermis tretenden Sehnerv besitzen. |
Ein wesentlicher Unterschied besteht aber dennoch. Bei Nais und
andern Olisochaeten bleibt die Seitenlinie in der ganzen Länge des Körpers
- bestehen und ihre Zellen vereinigen sich im Kopfende mit der Comissur
des Schlundringes (Taf. XI, Fig. 3 s.1. von Psammoryctes); sie ist in ihrer
ganzen Länge von der Epidermis nur durch eine ganz dünne Haut getrennt,
die ich nur als eine Basalmembram auffassen kann, obgleich sie an der
Stelle des sonst für die Anneliden so charakteristischen Ringmuskels liegt.
Bei Chaetogaster dagegen tritt die Seitenlinie, welche anfänglich sogar
schärfer ausgeprägt ist (Taf. X, Fig. 2 s.1.) als bei Nais, mehr und mehr
zurück und geht schliesslich ganz oder fast völlig zu Grunde; an ihrer Stelle
schliessen sich die vorher durch jene getrennten Muskelplatten vollständig
234 SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederien Thiere.
und schliesslich bildet sich auch noch zwischen der Epidermis und den
Längsmuskeln die bekannte Ringmuskulatur aus (Taf. X, Fig. 1 r. m.). Im
Kopfe erreicht diese letztere durchgehends eine grössere Mächtigkeit, als
im Rumpfe. Im Kopfe schliesst sich die Längsmuskulatur ringsum , selbst
in der ventralen Borstenfurche (Taf. XII, Fig. 11—14; Taf. X, Fig. 1);
frei bleibt natürlich nur die Stelle zum Durchtritt des vordersten Borsten-
büschels; im Rumpfe dagegen erhält sich die Bauchborstenfurche als weiter,
von Ringsmuskulatur bedeckter Zwischenraum zwischen der unpaaren, neu-
ralen und den beiden seitlichen Muskelplatten.
Ich glaube hiermit die Identität in der Entstehung des Kopfmarks von
Chaetogaster und Nais und zugleich auch die Behauptung als richtig erwiesen zu
haben: dass bei beiden Gattungen das obere Schlundganglion als vorderster
Abschnitt des Bauchmarks entsteht, dem sich zur Auszeichnung von allen
übrigen Ganglien desselben eine besondere Anlage durch die selbständige
Einsenkung der Sinnesplatte zugesellt.
2) Die Entstehung des Kopfdarms. In Bezug auf die erste
' Anlage der Kopfzone stimmen Nais und Chaetogaster überein; bei beiden
erfolgt die Anlage eines neuen Kopfkeimstreifens durch Einwucherung aus
den beiden Bauchborstenfurchen her. Während aber der an den Darm
herantretende Theil der zwei Keimstreifhälften bei Nais allmälig von der
Bauchseite her um den Schlund herum und auf den Rücken hinaufrückt,
um hier den sogenannten Schlundkopf zu bilden (s. pag. 215 sqq.): vereinigen
sich bei Chaetogaster jene Keimstreifhälften unter dem Darm, zwischen
diesem und dem Nervensystem, zu einem anfänglich ganz soliden Zellwulst,
welcher mit der Kopfzone und dem alten Darm in die Länge wachsend
in der That diesen letzteren als neuer Kopfdarm fast gänzlich zu verdrängen
bestimmt ist. Damit ist ein anderes Extrem in der Umbildung der gleichen,
primären Anlage festgestellt: dort entstand durch Verwachsung zweier vom
Seitenfelde her sich bildender Einsenkungen (der sogenannten Kiemengang-
wülste), dorsal über dem alten Darm ein scheinbar unpaares Anhangsorgan
des letzteren, hier bildet sich aus der morphologisch gleichen Einwucherung
heraus an der Bauchseite des alten Darms ein gänzlich neuer Kopfdarm,
während jener fast vollständig resorbirt wird.
Die grosse allgemeine Bedeutung dieses Resultats wird es rec
fertigen, wenn ich die interessante Bildungsweise des neuen Kopfdarms
genauer schildere.
Wenn die erste Anlage der noch nicht getheilten Knospungszone er-
folgt, so wächst sie von zwei Seiten her rasch an den Darm heran (Taf.
X, Fig. 5—7), ohne dass ihre beiden Hälften sich in der Mittellinie ver-
einigten (wie bei Nais); das Nervensystem scheint mit allen seinen Theilen
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 235
gleichmässig fortzuwachsen, ja selbst zum Theil sich an der Bildung jenes
Keimstreifens zu betheiligen; seine Zellen gehen ohne alle Grenze in die
benachbarten Theile, ja selbst in die Zellgruppe über, welche unter den
Nervensträngen liegend in den ausgewachsenen Segmenten (Taf. XI, Fig. 4)
ganz das charakteristische Aussehen der bei Nais beschriebenen Chordazellen
. haben. Auch diese scheinen bei der Ausbildung der Zone betheiligt zu
sein, wenigstens vermehren sie sich in dem Bereiche der letzteren ungemein
stark und liegen dann als dicker Zellenhaufen zwischen Darm und Kopf-
mark. Ein mehr oder minder weiter Zwischenraum zwischen Darm, den
zwei Keimstreifhälften und dem Nervensystem wird zum Theil ausgefüllt
von der Aorta (dem Bauchgefäss s. Taf. X, Fig. 5—7 ao, Fig. 9— 12).
Der Darm endlich zeigt noch keine sonderliche Vermehrung seiner Elemente; _
sein Epithel ist mehrschichtig; die inneren Zellen sind meistens gross, ,
slashell mit kleinem Kern, der sich in Carmin schlecht färbt; die äusseren
klein, und in mehreren Lagen ungemein dichtgedrängt. Diese färben sich
immer sehr stark, jene inneren aber schwach; doch ist keine scharfe
Grenze zwischen ihnen wahrzunehmen.
Das nächste Stadium (Taf. XII, Fig. 12) wird einmal durch die Ein- |
wucherung der beiden Sinnesplatten nach dem Rücken zu und dann durch |
die unter dem Darm stattfindende Vereinigung breiter Zellbrücken (der.
Kiemengangwülste) des Keimstreifens und auch durch stärkere Vermehrung
der Darmepithelzellen bezeichnet. Gleichzeitig damit haben sich die beiden
Bauchborstenbüschel d. h. deren Bildungszellgruppen und der Schlundring
aus dem Keimstreifen gesondert. Dieser letztere umfasst den Schlund so,
dass seine beiden Schenkel, die sich oben schon mit den Sinnesplatten zu
verbinden scheinen, dicht hinter den zwei Kiemengangwülsten liegen, welche
von den beiden Bauchborstenfurchen her schräg nach unten und innen
gegen den Darm zu treten (Taf. XII, Fig. 12 kg). Hier vereinigen sie sich
in einer mittleren unpaaren Zellgruppe (Taf. XII, Fig. 12 k; Taf. XI,
Fis. 2 k), welche ebenso sehr jenen beiden Wülsten, wie der ventralen
Wand des Darms anzugehören scheint; denn eine Grenze ist zwischen
diesen drei Theilen nicht aufzufinden. Die Zellen des Darms sind nun
schon ringsum in starker Vermehrung begriffen, namentlich aber an seiner
ventralen Seite; diese Vermehrung trifft aber nie die grossen, inneren,
sondern immer nur die kleineren äusseren Zellen. Die nothwendiger Weise
eintretende Verlängerung der grosszelligen inneren Epithellage wird wahr-
scheinlich durch Zwischenschieben kleinerer Zellen aus der äusseren Schicht
bewirkt; wenigstens fand ich immer zwischen den grossen Zellen schmale,
eylindrische, die sich stärker färbten, als jene, nie aber Theilungsstadien
der grossen Zellen. Während der hier beschriebenen Vorgänge hat die
236 SEMPER:; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Kopfzone eine Länge von etwa 0,07 — 0,09 mm. erreicht; auf der
ventralen Seite sind die wesentlichsten Organe schon angelegt. Der alte
Darm hat sich entsprechend verlängert; seine ventrale Wand hat sich etwas
verdickt und mit den vorhin erwähnten zwei Seitenbalken zu dem un-
paaren dicken Zellwulst vereinigt. Es steht somit der alte Darm durch
den mittleren Zellwulst und die beiden von ihm ausgehenden Kiemengang-
wülste mit dem Ectoderm in directer Verbindung (Taf. XII, Fig. 12).
Der unpaare Zellwulst und die beiden Kiemengangwülste bilden die erste
Anlage des neuen Kopfdarms, die, wie wir gesehen haben, gleichzeitig mit
der Ausbildung des Schlundringes beginnt. Während dieser sich aber
rasch zum sogenannten Gehirn schliesst, erfordert die vollständige Aus-
bildung des neuen Kopfdarms ungemein lange Zeit; denn sie vollendet
sich erst, wenn das Zooid sich bereits als lebenfähiges Individuum von der
vordern Hälfte der Kette abgelöst hat.
Im nächsten Stadium (Taf. XII, Fig. 6—8 k) hat der unpaare Zellwulst
bedeutend an Dicke (und natürlich auch an Länge) zugenommen; die ihn
mit der Epidermis verbindenden seitlichen Kiemengangwülste sind ent-
sprechend der Verlängerung des vordersten Stückes der Kopfzone länger
und dünner geworden (Taf. XI, Fig. 2 kg). Jener Wulst setzt sich nun
von der grosszelligen Zelllage des Darmepithels durch eine fast grade Linie
(Taf. XII, Fig. 7, 8) scharf ab; sein Querschnitt (Taf. XII, Fig. 7, 8 k)
ist fast dreiseitig, mit dem einen etwas abgerundeten Winkel hart an das
Kopfmark herangreifend. Gleichzeitig damit hat sich in ihnen die Zell-
masse gegen das Centrum zu mehr oder minder regelmässig radial geordnet
und ebenso stehen in den beiden seitlichen Zellbalken die Zellen, die un-
deutlich cylindrisch sind, in der Mitte fast von einander getrennt und
epithelartig geordnet. Beide Theile aber sind doch noch vollständig solid.
Jene allmälig regelmässiger werdende Anordnung ihrer Zellen deutet in-
dessen eine sich vorbereitende Aushöhlung an, welche — wie es scheint —
in den beiden seitlichen Zellbalken, wie in dem unpaaren Zellwulst gleich-
zeitig, aber ursprünglich gesondert, auftritt.
Wenn diese Höhlungen, die einfach durch Auseinanderweichen der
vorher sich berührenden Elemente entstehen, deutlich erkennbar sind, so
hat nun der unpaare Zellwulst, oder, wie ich jetzt sagen kann, der neue
Kopfdarm einen Umfang, welcher den des alten Darms bereits übertrifft:
seine obere, fast grade Fläche hat diesen letzteren stark nach oben gedrückt
(Taf. XII, Fig. 9)'). Der alte Darm vermittelt aber natürlich immer noch
v) Die Figuren 9 und 10 sind von einer anderen Querschnittreihe, als Fig. 6-8;
aber sie schliessen sich hier genau an, sodass ich glaube, in der Schilderung beide
vereinigen zu können.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 2337
die Verbindung zwischen den verschiedenen Zooiden der ganzen Colonie,
und die im neuen Kopfdarm aufgetretene Höhlung steht mit der des alten
Darms in keiner Verbindung. Es geht dies aus Sagittalschnitten, optischen
(Taf. XIII, Fig. 16) wie wirklichen (Taf. XII, Fig. 13—16), zweifellos her-
vor; bestätigt wird dieser Befund durch vollständige Querschnittsserien.
In Taf. XII, Fig. 13—16 sind vier aufeinanderfolgende Längsschnitte durch
eine Knospungszone abgebildet, deren Schlundring sich schon geschlossen
hatte. Fig. 13 und 14 entsprechen einem Schnitte seitlich der Mitte, in
Fig. 15 und 16 hat der Schnitt die Mittellinie getroffen; in jenen sind
daher die beiden Darmabschnitte von A und B getrennt, in diesen deutlich
verbunden. Im neuen Kopftheil liegt unter dem Darm ein dicker Zellwulst
(k) der in Fig. 13 und 14 eine kleine, hart an der Grenze zwischen Kopf-
theil von B und Rumpftheil von C liegende Höhlung (k gh) aufweist; diese
Höhlung tritt in Fig. 15 ziemlich weit nach hinten, also in den mittleren
Zellwulst hinein, in der darauffolgenden Figur, deren Schnitt etwas schräg
gegangen war, schiebt sie sich wieder weiter nach vorn hin vor, und hier
sieht man deutlich den Kiemengangwulst am oberen Rande des Schnittes
in die Epidermis übergehen.
Die Furche, welche in der so in Schnitte zerlegten Zone die Kopfzone ,,,
von der Rumpfzone scheidet, hat hier schon ziemlich tief eingegriffen, aber
stärker an der neuralen, als an der cardialen Seite. Auf jener (Taf. XII,
Fig. 14—16 m) soll sich später der Mund bilden: gegen dieselbe streben
natürlich auch die beiden hohlen Kiemengangwülste zu, zugleich aber auch
sich stark nach aussen wendend. An der neuralen Seite findet sich ferner
zwischen dem Kopftheil von B und dem Rumpftheil von C eine kleine
Höhle (Taf. XII, Fig. 14—16 m, Taf. XI, Fig. 1 m), welche in dem mittleren
Schnitt (Fig. 15 m) am grössten ist, dann nach beiden Seiten hin abnimmt.
Diese Höhlung ist anfänglich eine innere, rings geschlossene; man sieht sie
sehr leicht an auf dem Rücken liegenden Colonien oder auch an Horizontal-
schnitten (Taf. XI, Fig. 1), aber man überzeugt sich auch an solchen
Flächenbildern, dass anfänglich hier neurale Muskulatur, Nerv und Epider-
mis quer herüber von B nach C gehen und die innere Höhlung von der
tiefen Einsenkung der Trennungsfurche zwischen Kopf und Rumpf scheiden.
Sehr bald aber löst sich hier und zwar genau in der Mittellinie der Zu-
sammenhang zwischen Epidermis, Muskulatur und Nerv und nun communi-
eirt die innere Höhle durch einen rautenförmigen Spalt mit dem umgeben-
den Wasser (Taf. XI, Fig. 7 m). Auch an optischen Längsschnitten —
die an günstigen Präparaten recht klar sind — sieht man (Taf. XIII,
Fig. 16), dass der enge Darm der Kopfzone die beiden Zooide noch ver-
9238 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
bindet, und dass der Kiemengang (Taf. XII, Fig 16 kgh) und die Höhle
des unpaaren Zellwulstes noch sehr klein sind und in keiner Weise mit
dem alten Darm in Verbindung stehen; zugleich sieht man dann aber auch,
dass die eben besprochene kleine Höhlung zwischen den beiden Kiemen-
sanghöhlen liest und die rautenförmige Oeffnung nur zwischen diesen (Taf.
XI, Fig. 7 ksp) nach aussen mündet. Bi; |
Gleichzeitig aber mit dem Aufheben des Zusammenhanges der neuralen
'Muskelplatte und der Nerven zwischen B und C, und dem dadurch beding-
ten Durchbruch der kleinen inneren Höhle — die wir nun schon als Mund-
‚höhle bezeichnen können —- nach aussen, haben sich auch schon die beiden
‚Kiemengänge mit der Höhlung des mittleren Darmwulstes in Verbindung
‚gesetzt und zugleich seitlich von der Mundhöhle nach aussen hin geöffnet.
(Taf. XI, Fig. 7 ksp; Fig. 2 kg; Taf. XII, Fig. 5). Sowohl die Unter-
suchung ganzer Thiere, wie die von Horizontalschnitten (Taf. XII, Fig. 3—5)
stellen dies Resultat zweifellos fest. In Fig. 3 hat der Horizontalschnitt
die neue Kopfdarmhöhle (k) eben gestreift; in Figur 4 setzt diese sich ganz
deutlich in zwei schmale Canäle über (kgh), welche in äusserst klarer
Weise sich im nächsten Schnitte in zwei Löchern seitlich öffnen (Taf. XII,
Fig. 5), während die hintere Kopfdarmhöhle nur noch ganz schwach kennt-
lich ist. Es entsprechen diese 3 Schnitte einem etwas früheren Stadium,
als dasjenige ist, von dem ich in Taf. XIII, Fig. 17 einen optischen Sa-
gittalschnitt abgebildet habe. Hier ist die vom Bauch her beginnende
Trennung zwischen B und C schon so weit gediehen, dass fast der alte
Darm erreicht ist; die Mundhöhle — neben welcher sich die beiden Kiemen-
spalten öffnen — hat sich schon ziemlich tief eingesenkt (Taf. XIII, Fig.
17 m.), aber sie ist von der dahinter liegenden Kopfdarmhöhle durch eine
breite Scheidewand (z) getrennt, welche nichts anderes ist, als der Rest der
Membranen, welche die beiden mit der Kopfdarmhöhle hinten in Verbin-
dung getretenen Kiemengänge von der vorhin beschriebenen inneren Höhle
an der Grenze zwischen Kopf- und Rumpfzone scheiden. Diese Scheidewand
bleibt auch ziemlich lange bestehen; sie wird erst resorbirt, wenn B sich
von C gelöst hat, aber immer noch früher, als der nun schon vollständig
gewordene neue Kopfdarm in Verbindung mit dem alten Rumpfdarm tritt.
Da diese Scheidewand zwischen den beiden Kiemengängen und der
dazwischen liegenden Mundhöhle schräg läuft und auch ziemlich dünn ist,
so zeigen sagittal geführte Schnitte meist nur Bruchstücke derselben; in
optischen Längsschnitten (Taf. XIII, Fig. 17) ist sie dagegen sehr deutlich.
Eine Querschnittsreihe durch eine Kopfzone geführt, welche dem in Taf.
XIII, Fig. 17 abgebildeten optischen Schnitt nahezu entspricht, bei der
also die Verbindung zwischen den zwei in Trennung begriffenen Zooiden
SEMEER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 239
nur durch den alten Darm, die cardiale Muskelplatte und Epidermis ver-
mittelt wird, muss, von vorn nach hinten geführt, zuerst (Taf. XIII, Fig.
9, 10) die bis an den alten Darm herantretende, tief eingesenkte Mund-
höhle (m) zeigen mit dem Mundspalt; der nächste auf Figur 9 folgende
Sehnitt (Taf. XIII, Fig. 3) zeigt schon die Scheidewand, welche die nun
ringsum abgeschlossene Mundhöhle in zwei Hälften zu theilen beginnt (Taf.
XII, Fig. Skgh). Die hier noch. nicht vereinigten Kiemengänge sind neben
einander noch auf mehreren Schnitten zu verfolgen, bis sie sich endlich
zu der neuen Kopfdarmhöhle verbinden. Diese letztere ist bedeutend er-
weitert, fast dreieckig geworden und schon grösser als der Durchschnitt des
ihrer dorsalen Wandung anliegenden alten Darms. Die an Fig. 8—10
sich nach hinten anschliessenden Schnitte habe ich nicht abgebildet, um
allzu häufige Wiederholungen möglichst zu vermeiden.
Bald nach Erreichung des (durch Taf. XIII, Fig. S—10 und Fig. 17
repräsentirten) Stadiums lösen sich die beiden Zooide mit ihren zuge-
hörigen jüngeren Ketten von einander. Es hängt dann der abgerissene
Darm am Vorderende des einen Thieres hervor, aber der neue Kopfdarm
ist trotzdem noch nicht functionsfähig geworden. Die allgemeinen Verhält-
nisse sind ebenfalls noch ganz andere, als beim völlig ausgebildeten Kopf.
Dieser ist (im Durchschnitt) fast doppelt so lang, wie bei der Ablösung;
er hat eine vordere abgestutzte Fläche, welche von dem weitklaffenden
Maul (Taf. XIII, Fig. 20 m) vollständig eingenommen wird; das dorsale
Schlundganglion liest bei ihm auf etwa !/, der Gesammtlänge des Kopfes
vom Maul entfernt (Taf. XIII, Fig. 20 dg) und der Raum vor ihm wird
bis zum Munde hin durch den breiten, vorderen Sphincter (sph) einge-
nommen. Das obere Schlundganglion liegt endlich hart auf dem neuen
Kopfdarm, welcher mit dem Rumpfdarm in Verbindung steht und keine
Spur mehr von der Scheidewand zeigt, welche ursprünglich die beiden Kie-
mengänge von einander trennte.
Bei dem eben abgelösten Kopf dagegen liegt der neue Mund in der
unteren Hälfte der freien vorderen Fläche, über ihm liegt der alte Darm
oder die Narbe an der Stelle seines früheren Durchtritts. Dicht dahinter
und über dem alten Darm liegt das dorsale Schlundganglion; zwischen
altem Darm und der sich einsenkenden Mundhöhle der noch sehr kleine
vordere Sphincter (Taf. XIII, Fig. 17 sph); die Kiemengänge sind noch
durch die senkrechte Scheidewand von einander getrennt, der hintere, sehr
breit gewordene Theil des Kopfdarms steht noch nicht mit dem Rumpf-
darm in Verbindung. Eine Querschnittsreihe durch einen solchen Kopf,
dessen Verbindungsstelle mit dem Afterende eines andern bereits völlig
vernarbt war, zeigte die in Taf. XIII, Fig. 1—7 dargestellten Bilder.
240 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Der erste entsprach dem hinteren, den Rumpfdarm gegen den Kopf zu ab-
schliessenden Sphineter; das Darmlumen ist hier sehr klein (vergl. auch
Taf. XIII, Fig. 17—19). In Fig. 2 ist der alte Darm auf die Rückseite
geschoben und der Beginn der neuen Kopfdarmhöhle bereits angedeutet;
vollständig deutlich ist sie in Fig. 3. Hier hat dieselbe eine dreieckige
Gestalt angenommen und in der Mitte ihrer dorsalen (cardialen) Wandung
liest der alte Darm (Taf. XIII, Fig. 3). Die vierte Figur zeigt nur un-
bedeutende Veränderungen; in Fig. 5 hat sich der alte Darm vom neuen
Kopfdarm etwas entfernt und in der Fig. 6 ist das dreieckige Lumen des
letzteren durch das Kiemengangseptum deutlich in zwei Hälften getrennt
(kgh). Weiter nach vorn zu aber (Taf. XIII, Fig. 7) vereinigen sich
diese beiden wieder zur Mundhöhle, während sich der alte Darm noch
weiter von dem neuen entfernt hat. |
Die nun noch während des freien Lebens eintretenden Veränderungen
sind sehr einfacher Art, die man leicht an wirklichen, oder selbst an op-
tischen Längsschnitten verfolgen kann. Zunächst wird die Scheidewand
resorbirt, welche die beiden Kiemengänge von einander trennte (Taf. XII,
Fig. 18). Es hat sich jetzt also durch Vereinigung der mittleren Mund-
höhleneinsenkung mit den beiden Kiemengängen und dieser unter einander
und mit der Höhlung des hinteren unpaaren Kopfdarmwulstes die neue, ein-
fache Kopfdarmhöhle gebildet. Aber sie steht auch jetzt noch mit dem
Rumpfdarm nicht in Verbindung. Diese tritt erst ein, wenn der alte bei
Seite geschobene Verbindungsdarm noch stärker reduecirt ist, etwa auf ein
Dritttheil seiner ursprünglichen Länge (Taf. XIII, Fig. 19). Eine Zeit
lang hängt er dann als vorderer Blindsack am Kopfdarm an, in ähnlicher
Lage, wie sie etwa bei manchen rhabdocoelen Turbellarien (Miero-
stomum etc.) vom vorderen Darmzipfel über dem tonnenförmigen Schlund
eingenommen wird; schliesslich aber verschwindet auch dieser Blindsack
spurlos und gleichzeitig haben alle übrigen Organe, so vor Allem die Sphine-
teren und das dorsale Schlundganglion ihre volle Grösse und normale Lage
erreicht.
8. 10. Die Bedeutung der Beobachtungen für die ver-
gleichende Morphologie der Anneliden.
A. Nais und Chaetogaster. In vielen Puncten ist die Aehnlich-
keit in den Entwickelungsvorgängen beider Gattungen so ausgesprochen, dass
es überflüssig ist, hier noch einmal auf alle in den vorhergehenden Capiteln
besprochene Verhältnisse ausführlich zurückzukommen. Bei Beiden ist die
Entstehung der Zooide charakterisirt durch eine symmetrische, aus beiden
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 241
Seitenfeldern her nach innen einwuchernde Knospungszone, deren hintere
Hälfte, die Kopfzone, sich mit einer älteren Rumpfzone zu einem Zooid
vereinigt, während die vordere Hälfte eine jüngere Rumpfzone liefert,
deren Vervollständigung zu einem Zooid nur durch Auftreten einer neuen
Knospungszone ermöglicht werden kann. Eine Umwandlung eines in der
Rumpfzone gebildeten Segmentes in eine Kopfzone oder in ein Kopfsegment
ist einfach unmöglich, weil bei beiden Gattungen die Kopfzone durch eine
verschieden früh auftretende und gleichfalls aus dem Seitenfelde einwuchernde
Sinnesplatte bezeichnet wird, diese aber allen Rumpfsegmenten ausnahmslos
fehlt. Das Vorhandensein einer Seitenlinie, welche im Kopfe in die Sinnes-
platte übergeht, das späte Auftreten der Muskulatur und ihre Structur,
die Entstehung der Borstenbüschel und der Segmentalorgane aus dem Keim-
streifen und ihre Insertionsstellen in dem Seitenfelde, die Umwachsung des
Schlundes durch den Schlundring und die Sinnesplatte und ihre Vereinigung
zum oberen Schlundganglion stimmen in beiden Gattungen vollständig
überein.
Wesentlich verschieden scheint dagegen die Entstehungsweise des
Bauchmarks bei beiden zu sein, doch lässt sich, wie ich glaube, un-
schwer auch hier die typische Uebereinstimmung nachweisen.
Die erste Entstehung des Keimstreifens — am freien Afterende, wie
in der Knospungszone — geschieht bei beiden Gattungen in gleicher Weise
durch Einwucherung zweier Zellplatten aus dem Seitenfelde nach innen zu;
es kommt bei Nais aber die höchst wahrscheinlich bei Chaetogaster fehlende
Eetodermknospe hinzu, welche eine scheinbar unpaare Anlage bildet und
aus der ausschliesslich das centrale Nervensystem hervorgeht. Dort bei
Chaetogaster entsteht aus der Verwachsung zweier getrennter Anlagen der
Keimstreif, ähnlich wie bei den Hirudineen oder selbst den Knochenfischen ;
aus den medialen Parthien desselben werden sehr wahrscheinlich die Gang-
lien, welche in allen ihren drei typischen Abschnitten von vorn herein ge-
gliedert auftreten, gebildet, während die seitlichen Theile sich in die Mus-
kulatur, Segmentalorgane und Borstenbüschel umwandeln. Hier bei Nais
dagegen entwickeln sich die medialen Parthien des Keimstreifens nur zu
den Spinalganglien, während das centrale Nervensystem, ursprünglich ganz
ungegliedert aus der Ectodermknospe entstanden, erst spät in einzelne
Knoten zerfällt. Der hierdurch bedingte Unterschied ist — das lässt sich
nicht läugnen — recht gross. Dennoch, so glaube ich, ist er nur scheinbar.
Der ganze in der Knospungszone auftretende Keimstreif entsteht aus
der äussersten Zelllage, welche durch Umbildung aus den Epidermiszellen
zweier benachbarten Segmente hervorgegangen ist und unter Annahme em-
bryonalen Charakters geradezu als Eetoderm zu bezeichnen ist. Es blieb
9242 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere.
fraglich, ob die neue Leberzellenlage des Darms, welche ich dem Darm-
faserblatt gleichstellen muss, aus diesem Keimstreifen hervorgeht oder nicht;
die grössere Wahrscheinlichkeit sprach für die erste Alternative; dass aber
alle wesentlichen, hier in Betracht kommenden Theile aus dem Keimstreifen,
dieser aber in seiner Totalität aus dem Ectoderm der Zone hervorgehen,
leidet keinen Zweifel. Es ist ferner die Entstehung desselben aus zwei
gesonderten Hälften erwiesen. Diese spalten sich nach ihrer Vereinigung
in verschiedener Weise in die einzelnen, zu den Organen sich umbildenden
Glieder; bei Chaetogaster ungemein rasch, langsamer bei Nais. Nun ist
es eine allbekannte Thatsache, dass die Zeitfolge im Auftreten der einzel-
nen Glieder eines Keimblattes durchaus nicht eine strenge ist: die Zeit-
Intervalle im Entstehen der einzelnen Theile eines Organsystems können
ungemein verschieden und sogar ganz verschoben sein. Beweis: das Uro-
genitalsystem der Wirbelthiere. Auch bei den hier allein in Betracht
kommenden Gattungen lassen sich einzelne, wenngleich nicht sehr scharf
ausgesprochene Beispiele auffinden ; bei Nais proboscidea tritt die Sinnesplatte
ziemlich spät, früher bei N. elinguis, sehr früh bei Chaetogaster diaphanus
auf; bei Nais bildet sich der Kiementheil des Schlundes zum Schlundstempel
aus, ehe der Mund auftritt, bei Chaetogaster dagegen ist der Mund früher
vorhanden, als der neue Kopfdarm vollendet und functionsfähig ist.
Grade so gut nun, wie eine Embryonalschicht — ein Keimblatt — sich
in die homologen Organe zu spalten vermag, ohne dass diese der Zeit ihres
Auftretens nach immer an dieselbe Reihenfolge und die gleichen Zeitinter-
valle gebunden zu sein brauchten, ebensogut ist doch auch als möglich
anzunehmen, dass einmal die Abtrennung eines bestimmten Theiles, eines
Gliedes des Keimblattes früher aufzutreten vermöchte,; ehe dies Keimblatt
selbst sich mit seinen übrigen Gliedern vollständig vom gemeinsamen
Mutterboden gesondert hätte. Dieser ist bei beiden Gattungen das Eeto-
derm; denn bei Chaetogaster entsteht der aus zwei Hälften verwachsende
Keimstreif aus ihm, grade so gut, wie die bei Nais ausserdem noch hinzu
kommende Ectodermknospe. Die letztere aber zeigt immer sehr deutlich
in der Mittellinie (s. oben pag. 169, 170) eine Trennung in zwei sym-
metrische Hälften, die beiden Nervenstränge entstehen ferner ursprüng-
lich ganz von einander gesondert (Taf. V, Fig. 4, 5, 6ns) und auch in
der zur Ecetodermknospe werdenden Verdickung des Eetoderms ist deutlich
eine symmetrische Anlage zu erkennen, denn sie ist zu beiden Seiten
der Neuralfurche stärker, als in dieser. Man kann also auch die un-
paare Ectodermknospe von Nais ansehen als entstanden aus den medialen
Theilen der zwei gänzlich getrennten Keimstreifhälften von Chaetogaster,
welche sich noch dem Ectoderm angehörend schon in der Mittellinie ver-
nm
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 243
einigten, während bei Chaetogaster die Trennung beider Keimstreifhälften
vom Eetoderm früher erfolst, als die mediane Verschmelzung derselben
zum centralen Nervensystem. Damit steht in Einklang, dass bei Nais die
beiden Nervenstränge auftreten, wenn die Ectodermknospe noch gar nicht
durch die sich einschiebenden Muskelplatten von der Epidermis gesondert
ist, und dass sie auf eine lange Strecke (Taf. V, Fig. 4, 5, 6, 8) ganz
der Epidermis angehören ; während die Zellgruppen, welche sich bei Chaeto-
saster aus dem Keimstreifen als Bauchmark abgliedern, längst von dem
Eetoderm durch die neurale Musculatur geschieden sind, ehe sich in ihnen
Nervenstränge angelegt haben.
Die beiden Formen, unter denen die erste Anlage des Bauchmarks
bei Nais und Chaetogaster auftritt, lassen sich also doch leicht auf dasselbe
Schema zurückführen: das der Entstehung aus einem Keimstreifen, dessen
‚ zwei getrennte Hälften aus dem Fetoderm hervorgehen und in der Mittel-
‚ linie auf der Neuralseite mit einander verwachsen. Bei Chaetogaster tritt
die Verwachsung derselben ein, nachdem sie sich mit allen zugehörigen
Theilen vom Eetoderm getrennt haben, bei Nais tritt die Scheidung in
' einzelne Glieder und die dadurch bedingte Absonderung des Keimstreifens
von der Anlage des centralen Nervensystems früher auf, als die Abgrenzung
des letzteren vom Ectoderm; es ist damit natürlich eine Verspätung im
Auftreten der Ectodermknospe d. i. des centralen Nervensystems ver-
bunden.
| Das so gewonnene Resultat scheint mir nicht unwichtig für die Auf-
' fassung der Keimblättertheorie zu sein. Man will gewöhnlich ohne Weiteres
_ die drei Keimblätter —- oder meinetwegen auch vier — durch die ganze
Thierreihe hindurch verfolgen, der Zeit und Art ihres Entstehens, wie
ihrer Umbildung in einzelne Glieder (Organe) nach. Was aber würde man
im vorliegenden Falle als Mesoderm und was als Eetoderm zu bezeichnen
haben? Bei Nais liegen die Verhältnisse ganz ähnlich, wie bei Wirbelthieren ;
die beiden in den ersten Tafeln gelblich gehaltenen Zellgruppen entsprechen
der Anlage, wie der späteren Umbildung nach zweifellos dem Mesoderm,
da aus ihnen die Ursegmente, Muskelplatten etc. hervorgehen; die mittlere
Eetodermknospe schliesst sich ihrer Entstehung nach ganz und gar an das
centrale Nervensystem der Knochenfische an, sie entsteht als ungegliederte
Anlage direct aus dem Eetoderm. Bei Chaetogaster würde man hiernach
wohl geneigt sein, die beiden Hälften des Keimstreifens, wie bei Nais, als
Mesoderm aufzufassen; aber es ist nach den oben gegebenen Beobachtungen
mehr als wahrscheinlich, dass aus ihnen nicht blos die Spinalganglien, son-
dern auch das centrale Ganglion d. h. also das centrale Nervensystem ent-
steht. Dieses letztere würde also bei dieser Gattung nicht aus dem Ecto-
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom, Institut in Würzburg. TI. 17
244 SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
derm, sondern aus dem Mesoderm hervorgehen. Versucht man aber, diese
beiden Entwickelungsweisen des Nervensystems mit einander zu versöhnen,
— was in der That leicht auf Grund von Beobachtungsthatsachen gelingt —,
so gelangt man andererseits zu dem Resultat, dass die Keimblättertheorie
in ihrer Schroffheit keine Geltung beanspruchen kann. Das heisst, die
Annahme — eine Reminiscenz an eine hoffentlich bald verschwundene
Periode —, es müssten die Keimblätter auch bei den niederen Thieren
genau in derselben Weise entstehen und sich ausbilden, wie bei den höheren,
ist eben so falsch, wie die längst aufgegebene, doch aber immer noch
nachklingende Ansicht, es müssten bei den niederen 'Thieren dieselben Or-
gane, wie bei den höheren, ihrem Bau und ihrer Function nach auf-
zufinden sein. Wir haben uns jetzt längst daran gewöhnt, die höher aus-
gebildeten Organe als Umbildungen einfacherer anzusehen; wir bemühen
uns, in diesen die Theile nachzuweisen, welche durch ihre besondere und
einseitige Ausbildung zur Auseinanderlegung der in jenen einfacheren Or-
ganen enthaltenen Möglichkeiten geführt haben. Warum wollen wir dies
Prineip nicht auch auf die Keimblätter übertragen, diese selbst im Anfang
als etwas Flüssiges, Variables ansehen, das erst in den höher entwickelten
Thiergruppen die scharfe Fassung erhalten hat, die wir bei diesen zu er-
kennen glauben? Damit ist natürlich die Keimblättertheorie als solche nicht
aufgegeben, sondern nur modificirt, oder vielmehr auf ihren richtigen Werth
eingeschränkt: auf den eines heuristischen Princips, nicht aber eines subjectiven
Dogmas. Von diesem letzteren aus betrachtet — mag man nun die Lehre
von den vier oder drei ursprünglichen Keimblättern annehmen —, bleiben
die mitgetheilten Thatsachen aus der Entwickelungsgeschichte von Nais und
Chaetogaster unverständlich. Fasst man aber die Keimblätter selbst als etwas
Gewordenes und desshalb im ersten Anfang Flüssiges, Variables auf — wie
ich es thue —, so ist das Verständniss für jene Thatsachen gewonnen, zZu-
gleich aber auch, wie wir bald sehen werden, die Anknüpfung des Ent-
wickelungstypus der Anneliden an den der Vertebraten einer- und der
Nemertinen, ja vielleicht selbst der Turbellarien andrerseits ermöglicht.
Auch der Kopfdarm bildet sich in beiden Gattungen in recht ver-
schiedener Weise. Sie betrifft indessen eigentlich nur die Verschiedenheit
in der Umbildung einer ursprünglich ganz gleichartigen Anlage. Wir hatten
oben gesehen, dass bei Nais, wie bei Chaetogaster, zwei dicke Zellbalken
aus dem noch mit dem Ectoderm in Verbindung stehenden Keimstreifen
an die Neuralseite des Darmes herantreten. Ich hatte dieselben die
Kiemengangwülste genannt. Während diese nun bei Chaetogaster
lange Zeit mit dem Eetoderm in Verbindung bleiben, sich aushöhlen und
sogar mit Kiemenspalten neben dem neuen Munde (Taf. XI, Fig. 7; Taf. XI],
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 245
Fig. 5 ksp) ausmünden. sondern sie sich bei Nais ungemein früh vom
Keimstreifen, also auch vom Ecetoderm, und legen sich als zwei breite solide
Zellgruppen an den Darm. Von da an freilich tritt ein vollständiger Gegen-
satz hervor. Bei Chaetogaster verwachsen sie zwischen Bauchmark und
Darm mit dem unpaaren Zellwulst, der zum Theil gewiss aus einer Wuche-
rung der Zellen des Darmes hervorgeht; jener, wie die beiden Kiemen-
sangwülste, höhlen sich aus, ihre Höhlungen verschmelzen untereinander,
wie mit dem später sich einsenkenden Munde, zum neuen Kopfdarm, während
der alte dadurch nach oben geschoben und bald gänzlich resorbirt wird.
Der Kopfdarm von Chaetogaster repräsentirt somit im Grunde nur den
Kiementheil und die Mundhöhle; von einem mit diesen vereinigten Darmtheil
kann man höchstens in Bezug auf den hintersten Abschnitt des Kopfdarms
sprechen, wo der unpaare Darmzellwulst sich mit den beiden Kiemengang-
wülsten vereinigt hat.
Bei Nais dagegen schieben sich diese letzteren, nachdem sie ihre ur-
sprüngliche Verbindung mit dem Ectoderm aufgegeben haben, nicht zwischen
Nervensystem und Darm ein, sondern seitlich um diesen herum auf die
Cardialseite über; haben sie sich hier vereinigt, so treten auch wieder
zwischen ihnen und dem dorsalen Darmtheil zwei Höhlen — den Kiemen-
eängen von Chaetogaster vergleichbar — auf, welche sich bald in der
dorsalen Mittellinie untereinander und dann auch durch Ruptur der dorsalen
Darmwandung mit der Höhlung des Darmes vereinigen. So bildet sich eine
Schlundkopfshöhle, welche zwei Abtheilungen erkennen lässt; die dorsale
oder cardiale ist der Kiementheil, entstanden aus der Vereinigung der
beiden seitlichen Kiemengangwülste, die neurale oder ventrale ist der Darm-
theil, gebildet durch Verlängerung des alten Darmes und Resorption seiner
dorsalen Wandung (s. Taf. XV, Fig. 27 k). Mit dem Nachweis der typi-
schen Uebereinstimmung des Kopfdarms bei Chaetogaster und Nais, trotz
des später sich ausbildenden schroffen Gegensatzes, ist denn auch die an-
fänglich bei Nais scheinbar ganz unberechtigt gebrauchte Bezeichnung der
zwei seitlichen Zellwülste als „Kiemengangwülste“ zur Genüge gerechtfertigt.
B. Nais, Chaetogaster und die übrigen Anneliden. Nais
und Chaetogaster repräsentiren, wie man gesehen hat, zwei ziemlich weit
von einander abstehende Extreme der Bildungsweise des Kopfes und
Rumpfes; innerhalb der durch sie bezeichneten Grenzen lassen sich fast
alle übrigen Anneliden unterbringen, etwa nur mit Ausnahme der Kopf-
kiemer und der Hirudineen. Für diese beiden Gruppen sind erneute ent-
wicklungsgeschichtliche Untersuchungen durchaus nothwendig; aber auch für
die polychaeten Ringelwürmer wäre es sehr wünschenswerth, wenn wenigstens
mehrere Familien derselben genau und auf Grund embryologischer That-
17%
246 SEMPER:; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
sachen mit den Oligochaeten verglichen werden würden. Einstweilen ist
ohne diese nothwendige Grundlage eine vergleichende Morphologie der
Anneliden nicht durchzuführen; die nun folgenden Bemerkungen wollen
nur als eine Vorbereitung dazu angesehen sein.
Aus dem, was früher über die Structur des Nervensystems der Anne-
liden (pag. 143—151) mitgetheilt worden ist, wird die Uebereinstimmung
im Bau des Bauchmarks ohne Weiteres ersichtlich sein; überall finden sich
die zwei Spinalganglienreihen und das centrale Nervensystem; das letztere
ist bald in Form eines continuirlichen Zellenstranges vorhanden, bald in
einzelne Ganglien getrennt, deren zwei seitliche Hälften sogar im Strick-
jeiternervensystem beständig getrennt bleiben. Wo die Ursprünge der
seitlich abtretenden Nerven untersucht worden sind (Hirudo, Terebella etc.),
zeigen sie eine Zusammensetzung aus zwei Wurzeln, genau wie bei
Wirbelthieren.
Es lässt sich hiernach annehmen, dass auch bei den übrigen Anneliden
das Nervensystem in ähnlicher Weise aus dem Eetoderm entsteht, wie bei
Nais und Chaetogaster; und zwar scheinen sich nach den vorliegenden
Beobachtungen die Hirudineen an Chaetogaster, die Oligochaeten aber an
Nais anzuschliessen. Nach eigenen Untersuchungen kann ich für Nephelis
die Angaben Rathke’s bestätigen, dass die Ganglien entstehen durch Son-
derung der medialen Parthien des Keimstreifens ; eine mittlere, von diesem
unabhängige Ectodermverdickung tritt bei dieser Gattung so wenig, wie bei
Chaetogaster ein. Die vorhin schon eitirten Angaben Giard’s über Sal-
macina machen es dagegen wahrscheinlich, dass bei dieser Gattung wieder
der Naidentypus der Entstehung des Nervensystems eintritt.
Auch in Bezug auf die Sinnesplatte oder den mit ihr fast identischen
Kopfkeimstreifen besteht völlige Uebereinstimmung zwischen Nais, Chaeto-
gaster und den Hirudineen. Man wird sich erinnern, dass ich oben bereits
darauf hinwies, es enthalte sowohl bei Chaetogaster, wie bei Nais die Sinnes-
platte nicht blos nervöse Elemente, sondern auch Muskel- und vielleicht
selbst Drüsenzellen. Jene Benennung ist also nur insofern gerechtfertigt,
als durch sie die hervorstechendste Rolle bezeichnet wird, welche der sym-
metrischen, aus dem Seitenfelde des Kopfes erfolgenden Ectodermeinsenkung
zuertheilt ist; und als Sinnesplatte im strengsten Sinne des Wortes wäre
eigentlich nur die von Nais- barbata zu bezeichnen, während sie bei Chaeto-
gaster mit den andern Theilen des Kopfkeimstreifens anfänglich sehr innig
verbunden ist. Noch schärfer tritt dies bei den Hirudineen hervor. In
Bezug auf Nephelis muss ich nämlich im Gegensatz zu Rathke unbedingt
Leuckart Recht geben; es entsteht hier der obere Theil des Schlundringes
und das dorsale Schlundganglion (zum Theil?) aus der Vereinigung zweier
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 247
in Halbkreisbögen den Schlund des Embryos umspannenden Einsenkungen
aus dem Eetoderm (s. Taf. XV, Fig. 21, 22ks‘). Diese repräsentiren indessen
nicht, wie es nach Rathke und Leuckart scheinen könnte, ausschliesslich
nervöse Theile, sondern es sind echte Kopfkeimstreifen, von deren Bil-
dungszellmasse nur ein Theil zum Nervensystem wird, während ein anderer
Theil sich in die übrigen Organe des Kopfes, vor Allem in die mit dem
Schlunde sich verbindenden Organe umwandelt. Den näheren Vorgang
dieser Umbildung der zwei symmetrischen Kopfkeimstreifen in die Glieder
des Kopfes zu schildern, ist hier nicht der Ort; da es mir nur darauf
ankam, zu constatiren, dass das von Rathke gesehene erste Bildungsstadium
des oberen Theiles des Schlundringes — ein im Halbbogen auf dem
Schlunde liegender Gürtel — in der That entstanden ist durch Ver-
wachsung zweier seitlicher Zellstränge. Von einer dorsalen Medullarplatte
kann also auch hier bei Nephelis so wenig, wie bei Hirudo nach Leuckart
die Rede sein.
Es setzt sich also auch im Embryo der Hirudineen genau, wie in den
Knospen der Naiden etc. das Nervensystem zusammen aus zwei symme-
trischen Hälften im Rumpfe, wie im Kopfe; die zwei Sinnesplatten des
letzteren scheinen immer getrennt von einander aufzutreten, die beiden
Hälften des Rumpfnervensystems treten oft schon in Verbindung, ehe noch
ihre Abtrennung vom Ectoderm erfolgt ist (Nais, vielleicht auch Salmacina
und Clepsine), in andern Fällen (Chaetogaster, Nephelis) treten sie anfäng-
lich auch getrennt auf. Beide Abschnitte des Nervensystems und ferner
auch die bei den Oligochaeten, wie es scheint, am Deutlichsten ausgebildete
Seitenlinie sind also Ectodermbildungen, gerade so, wie centrales Nerven-
system, Seitennerven (und vielleicht selbst die Spinalganglien) der Wirbel-
thiere und die Bauchganglienkette und Schlundganglion der Gliederfüssler
aus dem Ectoderm entstehen. Aber während bei diesen beiden Thier-
elassen die Sonderung aller nervösen Theile vom Ectoderm ausnahmslos
eine vollständige wird — soweit wir wissen! —, ist für die Anneliden
nachgewiesen (pag. 144—148), dass die Trennung ihres Nervensystems
von der Epidermis nur selten eben so weit geht. Es bleibt vielmehr bei
der grössten Zahl der bisher hierauf untersuchten Arten eine mehr oder
minder weitgehende, auch bei geschlechtsreifen Zooiden vorkommende Ver-
bindung mit der Epidermis bestehen. Dabei ist vor Allem wichtig, dass diese
Verbindungsweise ungemein wechselnd und bei den nächstverwandten Gat-
tungen, ja selbst Arten (Terebella), sehr verschieden sein kann. Mitunter
vereinigen sich Ganglienkette und Epidermis nur am Afterende (Psammo-
ryetes, Nais, Terebella), mitunter liegt der ganze Schlundring zwischen
Epidermis und Musculatur (Terebella sp. pag. 145); bei Capitella capitata
248 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thhiere.
(p. 148) gehört der Bauchstrang des Kopfes der Leibeshöhle an, während
die Längscomissuren des Rumpfbauchstranges ganz in der Epidermis liegen;
bei Maldane sp. (p. 147) endlich findet sich das ganze Nervensystem so-
wohl des Rumpfes, wie des Kopfes zwischen Museulatur und Epidermis,
von dieser kaum gesondert. Durch diese ungemein grosse Variabilität in
der Abtrennungsweise des Nervensystems von seinem Mutterboden, dem
Eetoderm, ist also wiederum ein embryonaler Charakter der Anneliden be-
zeichnet, zugleich aber auch der Beweis geliefert, dass das Festhalten
embryonaler Formen oder Bildungsstadien nicht blos an den Zooiden
selbst, sondern auch an ihren einzelnen Organen zu beobachten ist.
Das Strickleiternervensystem bildet bekanntlich eine recht eigenthüm-
liche Abweichung von dem durch die einfache Bauchganglienkette be-
zeichneten Typus; oder vielmehr, es repräsentirt diese den ausgebildeten
Zustand, jenes aber den embryonalen. Das hat schon Leydig mit Recht
hervorgehoben. Nur ist es im Grunde nicht ein blosses Festhalten, sondern
vielmehr ein Ausbilden des embryonalen Typus; denn die beiden
ursprünglich getrennten Hälften des centralen Ganglions stehen bei den
Serpuliden am Hinterende — wo bei jungen Thieren der Zuwachs der
Rumpfsegmente erfolgt — näher beisammen, als vorne, sie müssen sich
also auch bei der allmäligen Grössenzunahme der Segmente mehr und
mehr von einander entfernt haben. Jeder Ganglienknoten einer Serpula
enthält ein ganzes Spinalganglion und ein halbes centrales: ein Resultat,
welches auch schon durch die Untersuchung der Structur der Bauchknoten
ohne Weiteres zu gewinnen war. Von einem typischen Gegensatz zwischen
dieser Form des Bauchmarks und dem der einfachen Ganglienkette kann
also auch nicht mehr die Rede sein. Noch weniger darf das Nervensystem
von Malacobdella als ein den Typus störendes angesehen werden; denn es
ist erstlich — wie ich oben schon gezeigt habe (pag. 141) — dieser
Parasit eine ganz echte Nemertine mit Saugnapf, und es ist zweitens die
Schilderung Blanchards in Bezug auf die Knoten der beiden seitlichen
Nerven völlig falsch. Es reiht sich vielmehr Malacobdella durch das Vor-
handensein eines den Rüssel umgebenden Schlundringes und den gleich-
mässigen, nie unterbrochenen Ganglienzellenbelag der beiden Seitennerven
den echten Nemertinen ganz ungezwungen an.
Bei allen borstentragenden Anneliden ohne Ausnahme ist die Musku-
latur nach demselben Typus gebaut. Die neurale, wie die cardiale Muskel-
platte fehlen nie und sie bestehen immer aus je zwei symmetrischen Hälften
(Taf. XIV, Fig. 31); diese können in der neuralen, wie cardialen Mittel-
linie vereinigt (Nais, Chaetogaster, Lumbricus, Arenicola ete.), oder in der
einen oder beiden mehr oder minder weit getrennt sein (die meisten Poly-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 249
chaeten). Dann legt sich häufig das Bauchmark mitten zwischen die beiden
neuralen Muskelplattenhälften. Die lateralen Muskel des Seitenfeldes,
sowie die sagittalen sind dagegen ungemein variabel; beide können nament-
lich im Bereich der Fussstummel in zahlreiche, einzelne Muskelgruppen auf-
gelöst sein. Ganz abweichend dagegen erscheint auf den ersten Blick die | Yu.
Muskulatur der Blutegel. Bei diesen ist keine Spur eines Seitenfeldes, noch |
auch der neuralen und cardialen Medianlinien zu erkennen; die Längsmuskel-
gruppen bilden eine continuirliche, den ganzen Körper umhüllende Schicht
ohne jegliche Unterbrechung. Die Entwicklungsgeschichte lässt indessen
auch hier den Annelidentypus !) erkennen. Nach eigenen, in diesem Sommer
angestellten Beobachtungen an Clepsine und Nephelis kann ich aufs Be-
stimmteste versichern, dass hier — wie bei Nais und Chaetogaster — die
Muskelplatte zuerst an der Seitenlinie auftritt und nun gleichfalls nach der
einen Seite um den Darm herum auf die Oardialseite, nach der andern
um das Nervensystem herum auf die Neuralseite rückt. Es ist also auch
hier bei der abweichendsten Familie der Anneliden der bigeminale Typus
in der Entwicklung der Muskulatur des Embryos nachgewiesen; wir sind
somit auch bei der sonstigen Uebereinstimmung im Bau der Muskulatur
der Olisochaeten und Polychaeten berechtigt, anzunehmen, dass auch bei
diesen die Anlage der Muskulatur nach dem bigeminalen Typus erfolge.
Der Kopfdarm der Anneliden bietet für die Vergleichung grössere
Schwierigkeiten, als die bisher betrachteten Organe. Dies liegt zum Theil
an der ausserordentlich grossen Mannichfaltigkeit seines Baues, theils auch
an dem fast vollständigen Mangel aller Angaben über seine Entstehungs-
weise. Abgesehen von den oben ausführlich geschilderten Beobachtungen
") Es muss hier überhaupt darauf hingewiesen werden, dass die Hirudineen
ganz echte Anneliden sind und in keiner Weise als ungegliederte Plattwürmer oder
diesen überhaupt nahe stehende Formen aufgefasst werden dürfen. Es genügt voll»
ständig, einmal einen Embryo einer Clepsine oder Nephelis neben den eines Lum-
brieus zu legen, um dies zu erkennen; bei beiden sind die typischen Embryonaltheile,
die bauchständige Ganglienkette, die seitlichen Muskelplatten, die Höhlen der Ur-
segmente, Dissepimente, Segmentalorgane in vollständig gleicher Weise vorhanden.
Die später hervortretende Verschiedenheit entspringt ausschliesslich aus der ver-
schiedenartigen Umbildung der ganz gleichen Anlage; hier bei den Oligochaeten
gehen die Ursegmenthöhlen in die weite Leibeshöhle über, dort werden sie fast völlig
ausgefüllt — nur bei Clepsine bleiben sie in Form contractiler Gefässstämme be-
stehen —: Muskulatur, Dissepimente und Segmentalorgane bilden sich ebenfalls in
verschiedener Weise bei beiden Gruppen um. Die Aehnlichkeit des Genitalapparates
der Hirudineen mit dem der Trematoden ist eine ganz oberflächliche, ebenso die des
Darmcanals. Jene sind eben gegliedert in ihren beiden Hauptabtheilungen des
Körpers, diese aber nicht.
250 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
von Nais und Chaetogaster liegen meines Wissens nur zwei Andeutungen
ganz vager Natur hierüber vor. Leuckart') sagt in seinem Parasitenwerke,
es entstehe der Schlundkopf von Hirudo durch eine secundäre Einsenkung
vom Eetoderm her; ob er damit eine unpaare oder paarige bezeichnen J
wollte, ist nicht ersichtlich. Metschnikoff?) giebt zweitens von Mitraria an,
es bilde sich hinter dem primitiven Mund eine zweite Einsenkung, aus
welcher die spätere Zunge werden solle; aber er sagt auch nicht ausdrücklich,
dass diese Einsenkung eine unpaare sei — obgleich er sie so zeichnet —
und er theilt uns zweitens gar nicht mit, was für einen Theil des Kopf-
darms er hier bei den Anneliden als „Zunge“ bezeichnet. Wahrscheinlich
ist es allerdings, dass er damit den sogenannten Schlundkopf gemeint habe,
Sollte sich nun heraustellen,, dass Metschnikoff die paarige Einsenkung
übersehen habe, so würde auch bei Mitraria der Schlundkopf durch
Verwachsung zweier Kiemengänge mit dem alten Darmtheil entstehen. Bei
Nephelis finde ich keine Spur einer mittleren unpaaren Einsenkung, welche
sich mit dem primitiven Kopfdarm verbände; wohl aber scheint es mir,
als ob auch hier der doppelte Kopfkeimstreif Theile abgäbe, welche später
mit dem Schlunde zum eigentlichen Kopfdarm verwachsen. Leider fehlte
mir bis jetzt die Zeit, um diesen Punkt vollständig aufzuklären. Sollte
sich aber die eben aufgestellte Hypothese bewahrheiten, so wäre damit für
die Hirudineen und eine Polychaetengattung der Nachweis geliefert, dass
der definitive Kopfdarm, wie bei Nais und Chaetogaster, zusammengesetzt
wird aus einem eigentlichen Darmtheil und einem aus den Kiemengängen
entstandenen Kiementheil.
Auch eine Vergleichung der Structur des ausgebildeten Kopfdarms der
Anneliden führt zu keinem sicheren Ergebniss, da es unmöglich ist, ohne
Untersuchung der Entwicklungsweise hier zu einer richtigen Vergleichung
zu kommen. Die sogenannte vergleichend -anatomische Methode kann hier
gar nicht zum Ziele führen, weil aus der Structur und gegenseitigen La-
gerung der Theile nicht mit Sicherheit die Homologieen zu erschliessen sind.
Der Kopfdarm von Chaetogaster besteht nach meinen Untersuchungen zum
grössten Theil aus dem Kiemenabschnitt; der mittlere, zwischen den beiden
Sphineteren liegende und im Querschnitt dreieckige Schlundtheil entbehrt
des eigentlichen Darmtheils vollständig (Taf. XV, Fig. 28). Anfänglich
glaubte ich nun, nach der Structur des ihm sehr ähnlichen Rüssels der
!) Leuckart, Menschliche Parasiten I, p. 692. ‚(Der Pharynx) ist wahrschein-
licher Weise durch Abspaltung aus der schon oben erwähnten Verdiekung entstanden,
die sich lippenförmig im Umkreis der Mundöffnung entwickelt hatte.‘
2) Metschnikoff, Ueber die Metamorphose einiger Seethiere. Z. f. w. Z. Bd. 21,
1871, p. 237, Taf. XVIII, Fig. 7—9 ce.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 251
Clepsinen, annehmen zu dürfen, dass auch dieser den Kiementheil reprä-
sentire und wohl auch bei ihnen der aus dem primären Entoderm hervor-
gehende Darmtheil theilweise verschwunden sei. Die Untersuchung der
Entwicklung von Clepsine hat diese Vermuthung nicht bestätigt; es ent-
steht vielmehr der Rüssel direct durch die Umwandlung des primären
Kopfdarms der Larve; allerdings scheinen sich mit diesem noch sym-
metrische Anlagen aus dem Kopfkeimstreifen, die dann den Kiemengang-
wülsten von Chaetogaster und Nais zu vergleichen wären, zu verbinden.
Andrerseits erinnert der Querschnitt vom Kopfdarm z. B. einer
Nereis, Eunice, Polynoe etc. sehr an den des Schlundkopfes von Nais
(Taf. XV, Fig. 2, 27, 31), sodass man geneigt sein könnte, ohne
Weiteres die cardiale Hälfte desselben als Kiementheil, die neurale als
Darmtheil zu bezeichnen. Bedenkt man indessen, dass bei Chaetogaster
die Kiemenganganlage sich auf der Neuralseite dem Darm anlegt, nicht auf
der Cardialseite, wie bei Nais, so wird man wieder schwankend, um so
mehr, als esAnneliden giebt, bei welchen der muskulöse Schlundkopf oder
Kiefersack (Ehlers), obgleich er in seiner Structur mit dem von Nais und
Lumbricus übereinstimmt, nicht auf der Cardial-, sondern auf der Neural-
seite liegt, also zwischen Darm und Bauchmark (s. Taf. XV, Fig. 31 von
Lumbrieonereis und Taf. XV, Fig. 2 von Eunice Harrassii, copirt nach
Ehlers, Borstenwürmer).
Es giebt im Grunde nur ein einziges vergleichend - anatomisches Kri-
terium, welches vielleicht bei hinreichend vollständiger Durcharbeitung des \
ganz unbearbeiteten Materials zu einem Resultat führen könnte; es ist dies
der von Leydig !) als vagus, von allen andern Zoologen aber als Kopf- |
sympathicus der Anneliden bezeichnete Schlundnerv. Dieser kommt bei
den Arten mit entwickeltem Schlundkopf und Zweitheilung des Kopfdarm-
lumens immer vor; er greift nie oder nur mit kleinen Aesten auf den |
Rumpfdarm über und er besteht immer aus symmetrisch liegenden doppelten
Seitensträngen, die sich hinten meist zu einem zweiten Nervenring ver-
binden, ferner aus eingelagerten Ganglien und verbindendem Schlundgeflecht.
Seine beiden Hauptstämme lösen sich oft in vier, selbst in sechs der Länge
nach verlaufende Nerven auf; und diese liegen dann sehr häufig (Polynoe,
Nephthys etc.) nicht in der Darmmuskulatur, sondern zwischen dieser und
dem Darmepithel, ja nicht selten sogar ganz in diesem. In solchem Falle
sind die ihm zugehörigen Ganglienzellen fast gar nicht von den eigentlichen
Darmepithelzellen zu unterscheiden. Die Hauptstämme des vagus liegen nun
immer (bei Naijs, Chaetogaster, Nereis, Polynoe etc.) zwischen den zwei
!) Leydig, Vom Bau des thierischen Körpers.
252 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Abtheilungen des Darmes, aber sie scheinen doch eigentlich dem Kiemen-
‚theil des Kopfdarms anzugehören. Dieser vagus fehlt nun nach Quatrefages
Angaben, die ich nach eigenen Untersuchungen vollständig bestätigen kann,
allen Kopfkiemern; zugleich aber entbehren sie auch der Zweitheilung des
Kopfdarms. Diese Thatsache wirft die Frage auf, ob denn nicht vielleicht
der Kiemenbüschel der Serpuliden dem Kiementheil des Schlundkopfes
anderer Anneliden entspreche.
Denkt man sich, um diese Frage zu beantworten, den Rüssel einer
Polynoe oder einer Nephthys zur Mundöffnung vorgestülpt, und zugleich
in einzelne Büschel gespalten, so würde er gerade so am Kopfe stehen,
wie der Kiemenbüschel einer Sabella; der vagus ihres Schlundkopfes
würde ferner ebenso angebracht sein, wie der Kiemennerv des Kiemen-
büschels bei diesem Kopfkiemer. Denkt man sich umgekehrt diesen
letzteren in den Schlund zurückgezogen — wie das z. B. thatsächlich ge-
schieht bei dem von Claparede genau untersuchten Stylarioides monilifer %)
(s. Taf. XV, Fig. 30) —, so nähme er mit seinen Nerven genau die-
selbe Lage ein, wie der Rüssel einer Polynoe sie im Ruhezustande besitzt.
Es ist hierdurch allerdings noch nicht der Beweis geliefert, dass wirklich
der Kiemenbüschel der Sabellen als der ausgestülpte Kiementheil des Kopf-
darmes der übrigen Anneliden anzusehen, ihr Kiemennerv aber dem vagus
der letzteren gleichzustellen sei; erst die Bildungsweise könnte schlagende
Gründe für diese Annahme an die Hand geben. Aber ein hohes Maass von
Wahrscheinlichkeit für ihre Richtigkeit ist durch die eben bezeichneten
Thatsachen gegeben; und dieses Maass erhöht sich durch die jetzt noch
kurz zu beschreibende eigenthümliche Structur des Kopfes aller Sabelliden.
Man weiss aus Kölliker’s und Claparede’s Darstellungen, dass die
Kiemenbüschel der Sabelliden getragen werden von Knorpelsträngen, welche
sich im Kopfe allmälig vereinigen und schliesslich mit einer tief in ihm
liegenden Knorpelplatte endigen. Dort, wo diese in die Knorpelstrahlen
übergeht (s. Taf. XV, Fig. 1), treten zwischen den letzteren verschieden
srosse, den Kopfumfang einnehmende Hohlräume auf, welche sich zuerst auf
der Cardialseite nahe der Mittellinie nach aussen hin öffnen. Das Epithel
dieser Hohlräume, welche nach vorn direct in die Spalten oder Furchen
zwischen den Kiemenstrahlen übergehen, wimpert stark. Mit ihnen ver-
bindet sich ein System von gleichfalls wimpernden, bald mehr, bald minder
stark verästelten spaltförmigen Canälen (Taf. XV, Fig. 1 kg.), welche sich
jederseits in jeder Kopfhälfte zu einem ganz gegen den Schlund zustreben-
den Canal vereinigen; dieser letztere ist geradezu ein Abschnitt des Kopf-
1) Copirt nach Claparede, Annelides Sedentaires Pl. X, Fig. 8.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.e. 9253
darmes, welcher sich auf der Neuralseite nach aussen im Munde öffnet.
Der Mund liest also auch bei dieser Annelidengattung an seiner normalen
Stelle, an der Neuralseite; der Schlund theilt sich in zwei Kiemengänge,
diese wieder in zahlreiche Nebenkiemengänge; die letzteren setzen sich an
die peripherischen Kiemensäcke und diese wieder öffnen sich zuerst an der
Cardialseite in echten Kiemenspalten; der ganze Apparat endlich ist gestützt
durch einen stark entwickelten knorpeligen Kiemenkorb. Reduecirt man den
so complicirten Apparat auf sein einfachstes Schema, so würde dies ungefähr
mit dem vorhin geschilderten Bildungsstadium des Kopfes von Chaetogaster
übereinstimmen, in welchem die beiden Kiemengänge mit seitlichen Kiemen-
spalten neben dem neuen Munde ausmünden — abgesehen natürlich von
der neuralen Lage der letzteren und dem Mangel von Knorpelstützen.
Dass diese bei Chaetogaster fehlen, kann nicht Wunder nehmen, da das
Stadium ein vorübergehendes ist; und die Lage der Kiemenspalten hier
an der Neuralseite, dort bei Sabella an der Cardialseite ist auch nicht von
Belang, da sie dort, wie hier entschieden dem Seitenfelde angehören und dem
entsprechend mit ihm und den sich darin entwickelnden Organen ihre Lage
mannichfach wechseln können. Viel wichtiger scheint mir ein Punkt der
Uebereinstimmung zu sein: die beiden Kiemengänge, welche bei Sabella im
Kopfbüschel liegen, bei Chaetogaster den neuen Kopfdarm, bei Nais die
dorsale Hälfte des Schlundkopfes hervorbringen, gehören dem vor dem
dorsalen Schlundganglion liegenden Kopftheil an. Diese typische Ueberein-
stimmung im Verein mit den oben hervorgehobenen Thatsachen des Ver-
hältnisses zwischen vagus und Kiementheil des Darmes einerseits, Kiemen-
nery und Kiemenbüschel der Kopfkiemer andrerseits; lässt es fast als
gewiss erscheinen, dass der Kopfkiemenbüschel der Serpuliden nur ein
metamorphosirter, zum Kopf hervorgestülpter Annelidenschlundkopf sei.
Diese Annahme würde das sonst schwer begreifliche Fehlen des vagus bei
den Kopfkiemern völlig verständlich machen.
Es lassen sich also mit mehr oder minder grosser Sicherheit die
Structurverhältnisse im Kopf und Rumpf aller, selbst der abweichendsten
Anneliden in befriedigender Weise auf das, durch Nais und Chaetogaster
in zweien seiner Extreme bezeichnete Schema zurückführen und die an den
Knospen der Naiden festgestellten Vorgänge liessen sich zum Theil in ganz
übereinstimmender Weise auch bei den Embryonen — soweit solche über-
haupt genau genug untersucht worden sind — nachweisen. Es gilt dies
namentlich für die Muskulatur, deren Entstehungsweise in der abweichend-
sten Annelidengruppe, bei den Hirudineen, nach meinen Beobachtungen sich
aufs Engste an die der Naidenmuskel anschliesst, sodass auch für diese
Gruppe der bigeminale Entwicklungstypus (Baer) festgestellt worden ist.
254 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Aber auch das in den Knospungsvorgängen so sehr hervorstechende
allgemeinste Verhältniss des Gegensatzes von Kopf und Rumpf lässt sich,
trotzdem die Untersuchungen nie hierauf besonders gerichtet waren, doch
schon an einer nicht unbedeutenden Zahl von Arten mit völliger Sicherheit
als ein embryonaler Vorgang !) nachweisen.
Am Bestimmtesten lauten die Angaben von M. Edwards), die schon.
von Minor eitirt werden. Er sagt, dass bei Terebella nebulosa zuerst die
Körpersegmente auftreten, und dass, wenn die junge Larve bereits 38 —40
Körperfusspaare entwickelt hat, nun erst sich die kiementragenden Kopf-
glieder zwischen das Stirnsegment und das erste, älteste Körperglied ein-
schieben. Es geht ferner aus seiner Schilderung der Entwickelung von
Protula elegans®) hervor, dass sich auch bei dieser Art die Segmente,
welche am Halstheil des ausgewachsenen Thieres die blattförmigen Anhänge
tragen, zwischen das alte Stirnsegment und das älteste Rumpfsegment ein-
schieben. Endlich macht er ausdrücklich darauf aufmerksam, dass eine
morphologische Vergleichung der Körpersegmente der Gliederthiere immer
Rücksicht nehmen müsse auf die Thatsache, dass sich neue Glieder zwischen
Thorax und Abdomen, oder zwischen Kopf und Rumpf einschieben können.
Die blosse Zählung der hintereinander liegenden Segmente bei ausgebildeten
Thieren gestattet also noch keine Entscheidung über die wirklich vor-
handenen Homologieen.
Dies sind die einzigen mir bekannten, einigermassen ausführlichen Be-
obachtungen. Daneben giebt es eine Anzahl beiläufg gemachter Bemer-
kungen, die ich hier ausführlich angeben will. Pagenstecher *) sagt von
Spirorbis, dass der Kopftheil sich später absetze, als der Rumpftheil; dem
entsprechend ist auch das erste völlig ausgebildete Segment ein durch eine
Sichelborste ausgezeichnetes Rumpfsegment, und das erste Kopfborsten-
büschel tritt erst auf, wenn sich am Rumpf bereits drei borstentragende
und wohl mindestens ebensoviele Ursegmente ausgebildet haben. Leider
1) Ich brauche dieses Wort trotz des emphatischen Protestes von Seiten Boll’s
Er hat ganz recht, zu sagen, dass in sehr vielen Fällen den Histologen nur ein
fertiger Zustand, nicht aber ein Entwickelungsvorgang, ein Process, zur Beobachtung
komme. Nichts desto weniger hat man das Recht, von der Feststellung eines Vor-
ganges durch Beobachtung einzelner fertiger Zustände zu sprechen, wofern man diese
nur der Natur des Vorganges entsprechend aneinander zu reihen vermag. In diesem
Sinne, glaube ich, ist überhaupt immer die Anwendung des Wortes „Vorgang‘‘ ge-
macht worden. s. Boll, Das Prineip des Wachsthums, 1876, pag. 3.
2) M. Edwards, Ann. d. Se. Nat. 3. Ser. T. III.
®) M. Edwards, 1. c. p. 174, 175.
*) Pagenstecher, Untersuchungen über niedere Seethiere aus Cette. Z. f. w. Z.
Bd. 12, 1863, p. 437, T. XXXIX.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 255
giebt uns Pagenstecher gar keine Beobachtungen über die dabei im Keim-
streifen eintretenden Vorgänge. Nach A. Agassiz!) hat die Larve von
Phyllodoce maculata bereits acht Rumpfsegmente, ehe die Kopfsegmente
entstehen; auch bei Terebella fulgida hat er ein spätes Einschieben neuer
Kopfsegmente beobachtet. Nach Kölliker ?) liegen bei der Larve von
Exosone cirrata noch unverbrauchte Dottertheile im Kopf, während der
Rumpf schon vier deutlich abgesetzte Segmente besitzt. Auch die Angaben
von Claparede°) über Leucodore ciliata, Protula Dysteri und Terebella
eonchilega, von Carpenter und Claparede *) über Tomopteris, von Claparede
und Panceri?) über Aleiope, von Ray Lankester ©) über Anneliden und
Giard ’) über Salmacina lassen kaum einen Zweifel darüber zu, dass auch
bei diesen Arten sich neue Kopfglieder zwischen das älteste Rumpfsegment
und das vorderste Kopfsegment einschieben und zwar nach dem Gesetz der
Annelidensesmentirung so, dass das jüngste hinterste Kopfglied an das
älteste, vorderste Rumpfglied anstösst. Ganz das Gleiche gilt nach eigenen
Untersuchungen auch für die Hirudineen. Schon Rathke hat darauf hin-
gewiesen, dass der Schlundring und das vorderste Bauchganglion anfänglich
gleichmässig dick und ungetheilt sind, aber später — wenn längst die Aus-
bildung der Rumpfsegmente vollendet ist — in mehrere Abtheilungen zer-
fallen. Nun ist aber das, was Rathke Schlundring nennt, im Grunde nur
ein Kopfkeimstreifen, der sich gliedert und dann erst in den eigentlich
nervösen Schlundring und in die umgebenden Theile (Muskel, Drüsen etc.)
zerfällt, sodass die nach Rathke scheinbar nur dem Kopfmark zukommende
Theilung in Wahrheit eine Segmentirung des Kopfkeimstreifens ist. Diese
aber tritt erst auf, wenn längst die Ausbildung der Ursegmente im Rumpf-
theil vollendet ist. 2
Leider wissen wir nun weder etwas Genaueres über die histologischen
Vorgänge bei der Entstehung dieser neu sich einschiebenden Segmente, noch
auch überhaupt etwas von der Bildungsweise des Kopfendes der marinen,
durch Knospung sich vermehrenden Anneliden. Nach den wenig zahlreichen
1) A. Agassiz, On the young Stages of a few Annelids. Ann. Lyc. N. Hist
New-York Vol. VIII. 1866.
2, Kölliker im Nachwort zu Koch, Entwickelungsgeschichte von Eunice, p. 30.
3) Claparede, Normandie, p. 31, 63, 69.
3) Carpenter und Claparede, Linnean Transactions, 1860, Vol. XXIII.
5) Claparede und Panceri, Memorie d. Soc. Italiana di Science Naturali (Nota.
sopra un Alciopide Parassito della Cydippe densa) 1867, Vol. III.
6; Ray Lankester, A Contribution to the knowledge of the lower Annelids.
Trans. Linn. Soc. 1867, Vol. XXVI, p. 638 Anmerk.
?) Giard, Note sur le Developpement de la Salmacina Dysteri. C. R, 1976,
24. Januar.
256 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Abbildungen solcher Knospungsstadien aber ist mit einiger Sicherheit zu
schliessen, dass dabei eine Neubildung des Kopfes aus einer Knospungszone
in ähnlicher Weise erfolgt, wie ich sie für die - Naiden nachgewiesen
habe; und wir könnten daher auch mit Wahrscheinlichkeit annehmen, dass
auch bei ihnen ein neuer Kopfkeimstreifen auftritt, welcher sich im Kopf-
theil des Zooids ebenso ausbildet und gliedert, wie ich das von Naiden
beschrieben habe. Natürlich ist das nur eine Vermuthung. Sollte sie sich
aber bestätigen — wie ich überzeugt bin —, so wäre auch für die knos-
penden Meeresanneliden nachgewiesen, dass Kopftheil und Rumpftheil eines
Zooids durch zwei verschiedene Keimanlagen entstehen und secundär mit
einander verwachsen, indem das jüngste Kopfglied sich an das älteste
Rumpfglied anlegt.
Da nun bei allen Anneliden !) die Entwickelung durch einen echten
Keimstreif erfolgt, und bei einigen die Einschiebung neuer Segmente zwischen
dem ersten Segmente im Rumpftheil des Keimstreifens und dem Kopfelied
der ersten ungegliederten Larve nachgewiesen (Terebella, p. 144), bei anderen
sehr wahrscheinlich ist; und da der Keimstreif der geschlechtslosen Naide
dieselbe Gliederung und Umbildung aufweist, wie bei den aus dem Ei ent-
stehenden Larven: so können wir jetzt schon mit ziemlieh hohem Grade
von Wahrscheinlichkeit den Schluss ziehen, dass überhaupt der Gegensatz
eines Kopfes und Rumpfes bei den Anneliden typisch sei und dass dieser
Gegensatz vor Allem darin sich ausdrücke, dass bei der Vereinigung von
Kopf und Rumpf das jüngste Kopfglied mit dem ältesten Rnmpfgliede ver-
wachse.
Natürlich verlangt dies Resultat sorgfältige Prüfung an zahlreichen
und verschiedenen Formen; denn wenn es mit Sicherheit die Geltung soll
beanspruchen können, die es meiner Meinung nach besitzt, so muss der
hier scharf hervorgehobene Gegensatz zwischen Kopf und Rumpf auch bei
den abweichendsten Annelidenformen nachgewiesen werden können. Für
die Naiden, Terebella, Spirorbis und Protula ist dieser Gegensatz von mir
und Anderen festgestellt; für die sonst so abweichenden Hirudineen habe
ich ihn (s. oben pag. 255) aufgefunden. Es ist damit eine Eigenthümlichkeit
aller Anneliden aufgedeckt, welche sicherlich von grösster Bedeutung für die
morphologische Vergleichung sein wird. Denn es handelt sich nun darum,
nicht blos den Vorgang als solchen nachzuweisen, sondern auch die Seg-
mentzahl festzustellen, welche dem Kopf und dem Rumpfe bei den Anne-
liden zukämen. Die blosse Zählung nemlich der Reihenfolge nach würde,
!) Claparede und Metschnikoff, Entwickelung einiger Chätopoden. Z.f. w. Z.
Bd. 19, p. 165, 166, 167.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 257
wie schon M. Edwards hervorhebt, nicht genügen zu einer Homologisirung
der einzelnen Segmente bei den verschiedenen Anneliden. Die Zahl der
Rumpfsegmente scheint nun bei diesen Thieren ganz ausserordentlich vari-
abel zu sein; die Menge der Kopfsegmente ist aber immer eine sehr ge-
ringe und schwankt daher auch zwischen engeren Grenzen. Bei den echten
Naiden (Nais, Stylaria, Dero) scheint ihre Zahl meistens vier, mitunter
sechs zu betragen ; bei manchen tubicolen Anneliden ist sie sicherlich grösser,
wenn man nach dem Aussehen der vorderen Segmente des ausgebildeten
Thieres urtheilen darf. Nicht selten kommt aber auch wieder eine sehr
bedeutende Reduction vor; Chaetogaster hat nur ein Kopfglied, wenn wir
es blos nach der Anwesenheit der Kopfborstenbüschel bestimmen wollen;
doch scheint die Gliederung des Bauchmarks anzudeuten, dass der grosse
sogenannte Rüssel durch Verschmelzung aus mehreren Segmenten ent-
standen sei.
Einstweilen ist nun eine Feststellung der Grenzen, innerhalb welcher
die Zahl der Kopfsegmente bei den Anneliden überhaupt schwankt, und
eine Beantwortung der Frage, ob sie vielleicht selbst — wie zweifellos die
des Rumpfes — bei den Zooiden einer und derselben Art variabel sein
könne, aus Mangel an Beobachtungsthatsachen nicht zu geben. Soviel in-
dessen lässt sich aus den hier mitgetheilten Beobachtungen, sowie aus der
Verschiedenartigkeit der Segmentbildung der verschiedenen Körperabschnitte
bei manchen Anneliden schon folgern, dass die Zahl der Kopfsegmente hier
bei den Ringelwürmern eine bedeutend grössere sein kann, als bei den
meisten Wirbelthieren und allen Gliederthieren. Wichtig ist — und auch
ganz allgemein verwerthbar — vor Allem das eine Resultat, dass selbst
bei Arten derselben Gattung, z. B. bei Nais, die Kopfsegmentzahl unbestimmt
ist; neben Arten mit 4 Gliedern giebt es deren auch mit sechs, ja selbst
vielleicht nur mit 2 Gliedern (N. longiseta). Es folgt daraus, dass für die
Anneliden eine Normalzahl der Kopfsegmente nicht aufgestellt werden kann.
Es ist endlich noch kurz der Segmentalorgane, Genitalien und Leibes-
höhle zu gedenken. Die letztere ist bei allen echten Anneliden leicht nach-
zuweisen; bei den Hirudineen soll sie übergegangen sein in die Gefässe.
Dies ist streng genommen nicht richtig. Bauch und Rückengefässe, also
Aorta und Herz, entstehen nach eigenen Untersuchungen selbständig, wie
bei allen Anneliden, und sie liegen beim jungen Embryo innerhalb einer
ursprünglich sehr weiten Leibeshöhle, mit welcher die Ursegmenthöhlen in
Verbindung stehen. Allmälig wird diese ausgefüllt durch zelliges Bindege-
webe und Muskeln; sie bilden um die medianen Gefässe verschieden weite
Hohlräume und seitlich die bekannten contractlichen Seitengefässe. Im
258 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Grunde existirt also kein Unterschied in dieser Beziehung zwischen Hiru-
dineen und den übrigen Anneliden.
Auch die Segmentalorgane sind bei den Hirudineen ebensogut vorhan-
den, wie bei den Borstenwürmern; nur erleiden sie dort andere und schwerer
verständliche Veränderungen in Folge der Umbildung der sie einschliessen-
den Kammern der Leibeshöhle. Es wird z. B. gesagt, die Wimpertrichter
der Segmentalorgane lägen bei Nephelis in sackförmigen Anschwellungen
der Blutgefässe. Das ist morphologisch gewiss nicht richtig; denn diese
Anhänge stehen mit den Seitengefässen in Verbindung, und sind wie diese
entstanden durch eine Umbildung der eigentlichen Leibeshöhle; der Seg-
mentaltrichter sieht also auch genau, wie bei den Polychaeten oder Oligo-
chaeten in die Leibeshöhle hinein. Ein Unterschied besteht allerdings, m-
sofern nemlich bei den Borstenwürmern das Blutgefässsystem gänzlich ab-
seschlossen ist von der Leibeshöhle, bei Clepsine aber — und wohl auch
bei Nephelis — mit dieser in Verbindung steht, sodass wirklich aus dem
Herzen kommendes Blut direct in die Leibeshöhle übertreten kann.
Die Geschlechtsorgane zeigen, wie alle übrigen Theile, eine grosse
Mannichfaltigkeit; sie entwickeln sich bald in besonderen Organen (Oligo-
chaeten, Blutegel), bald aus dem Peritonalepithel heraus; mitunter finden
sie sich nur in den Fussstummeln (Tomopteris), in der vorderen Hälfte des
Körpers oder der hinteren, oder in allen Segmenten; bald entstehen sie aus
dem die Gefässe überziehenden Epithel, bald nur in der Neural- oder Car-
dialseite; im ersteren Falle bilden sich häufig besondere Organe (Sabelliden)
aus, welche in Form von echten Genitalfalten dicht neben dem Nervensystem '
von der neuralen Borstenfurche her in die Leibeshöhle hineinhängen. Bei
den Naiden und Lumbrieiden ist die Entwickelung der Keimdrüsen immer |
auf die Neuralseite einiger weniger Segmente beschränkt, welche theils
dem Kopfe, theils dem Rumpfe angehören ; sie stehen dann hart am Bauch- |
mark, nach aussen von ihnen aber finden sich die Segmentalorgane oder
deren Gänge; sodass man oft Durchschnitte erhält, in welchen diese zu
den Keimfalten genau so liegen, wie bei den Wirbelthieren die Urnieren-
gänge.
Die nun beendete Vergleichung der Anneliden und ihrer Entwicklungs- |
vorgänge mit denen der Knospen von Nais und Chaetogaster hat gezeist,
dass der, durch diese letzteren festgestellte Typus sehr wohl benutzt werden
kann, um bis in Einzelheiten hinein die Homologie der Organe der Anne-
liden aufzudecken; und es liess sich durch die Angaben über einzelne
Punkte aus der Eintwicklungsgeschichte der Hirudineen und Borstenwürmer
gleichfalls erweisen, dass diese in keiner Weise den durch die Untersuchung
der Knospung gelieferten Resultaten widerspricht. Auf diese Punkte der
}
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 259
nachgewiesenen Uebereinstimmung nun noch einmal hinzudeuten, ist über-
flüssig. Dagegen muss ein ganz allgemeines und für die später vorzu-
nehmende Vergleichung sehr wichtiges Resultat kurz besprochen werden.
Wenn wir nemlich die Bildungsweise und die Structur der einzelnen
Organe der Anneliden der Reihe nach miteinander vergleichen, so fällt auf,
dass in allen ohne Ausnahme eine grosse Labilität der Verhältnisse herrscht,
trotz des Festhaltens am Typus. Es giebt Anneliden mit und ohne Knos-
pung; der Keimstreifen, welcher im Embryo oder in der Knospe neu an-
selest wird, wird mitunter vollständig ausgebildet (Chaetogaster, Hirudineen),
ehe sich die Sonderung in einzelne Glieder vollzieht, mitunter trennt sich
von ihm die mediale Parthie d. h. also die Anlage des centralen Nerven-
systems, ehe die Abtrennung vom Ectoderm erfolgt ist (Nais); die embryo-
nale Verbindung des Nervensystems mit dem zur Epidermis werdenden
Eetoderm bleibt bei den meisten Anneliden in mehr oder minder entschie-
dener Weise bestehen und die Art derselben ist im höchsten Grade mannich-
faltis; die Geschlechtsorgane sind gleichfalls in Anlage und Bau ungemein
wandelbar; die Segmentalorgane können bald in allen Segmenten (Lumbri-
einen) vorkommen, bald in allen bis auf eines fehlen (Audouinia, Cirratulus,
Polyophthalmus), oder in der mannichfaltigsten Weise, so namentlich im
Kopfe, metamorphosirt werden; Gefässsystem, Athmungsorgane, Musculatur,
Borstenbüschel, kurz, alle Organe werden in identischer Weise angelegt,
ihr Typus bleibt immer erkennbar, aber die Art der Ausführung ist eine
ausserordentlich verschiedene. Vergleicht man damit die grosse Constanz,
wie sie z. B. in den höher als die Anneliden stehenden Wirbelthieren und
Arthropoden fast überall auch im Speciellen eintritt, so lassen sich wohl
die Anneliden im Allgemeinen als eine embryonale Gruppe bezeichnen, deren
ausserordentlich weitgehende Flüssigkeit der Charaktere die Möglichkeit der
Auseinanderlesung in verschiedene Richtungen ebenso andeutet, wie z. B.
im Embryo eines Wirbelthieres Charaktere neben einander gefunden wer-
den, welche in vollkommener Sonderung und Ausbildung in den Thieren ver-
schiedener Ordnungen vorkommen. Damit steht endlich auch noch die
weitere Thatsache in Einklang, dass bei allen Anneliden — soweit wir
wissen — die Anlage des gegliederten, aus Kopf und Rumpf bestehenden
Zooids in einem ungegliederten, aber durch primitive Larvenorgane (Mund
und Darm, Augenflecken und Ganglion, Muskel, Excretionsorgane, selbst
Borstenbüschel, Leibeshöhle) deutlich als Zooid gekennzeichneten Wesen
erfolst, während bei den Wirbelthieren das Stadium der fressenden Keim-
blase vollständig aufgegeben worden ist, bei den Arthropoden aber neben
dem der ruhenden persistirt (Nauplius ete.). Die Abkürzung der Entwicke-
a lung, welche allemal in den primitivsten Embryonalstadien zuerst eintritt,
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 18
' bigemina. auch für die Anneliden charakteristisch ist. Die wenig syste-'
260 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
hat also bei den Wirbelthieren die embryonalen T,arvenorgane des primi-
tiven Zooids (der Keimblase) vollständig unterdrückt, bei den Arthropoden
weniger stark; nur bei den Anneliden sind sie vollständig entwickelt und
es lässt sich sogar, wie man weiss, bei ihnen schon in der ungegliederten _
erst spät den Keimstreif des Rumpfes und Kopfes entwickelnden Larve,
ein auch in einzelnen Organen scharf ausgesprochener Gegensatz‘ zwischen
Kopf und Rumpf erkennen. Am klarsten tritt derselbe an den mit einem
Augenganglion versehenen Larven mancher Meeresanneliden hervor.
IV. Abschnitt. Die allgemeine Bedeutung der Beobachtungen.
‘ Es handelt sich in diesem Capitel darum, diejenigen Aehnlichkeiten
zwischen Anneliden, Vertebraten und Arthropoden festzustellen, welche jetzt
schon eine Homologisirung erlauben. In einem andern Paragraphen sollen
dann die etwa dagegen sprechenden exotherischen Argumente discutirt
werden. Um nicht in der Fülle des hier verwerthbaren Materials zu er- |
liegen, wird es nöthig sein, eine Gliederung desselben in einzelne Abschnitte
eintreten zu lassen; ich schreite dabei von allgemeineren zu specielleren
Verhältnissen vor.
$. 11. Die evolutio bigemina der Wirbelthiere.
Baer stellt bekanntlich die doppelt-symmetrische (evolutio bigemina)
Entwickelung der Wirbelthiere der einfach-symmetrischen (evolutio gemina)
der Gliederthiere (Anneliden und Arthropoden) scharf gegenüber. Der so
in beiden Thiergruppen vorhandene Unterschied soll keine Aufhebung er-
lauben; der Typus der Wirbelthiere ist daher demjenigen der Gliederthiere |
schroff entgegengestellt. Von einer Vereinigung beider will er auch in.
seinem jüngsten Werke nichts wissen. ’ |
Bei der evolutio bigemina findet sich eine Axe — die chorda —, von,
welcher aus die Rückenplatten sich um das Nervenrohr, die Bauchplatten um |
den Darm herum als Rohr krümmen. Bei der entgegengesetzten evolutio
gemina fehlt die innere Axe, ein Bauchkeimstreif krümmt sich nur um den
Darm herum, das zweite Rohr der Muskel- Rückenplatten fehlt gänzlich. |
Auch die Lagerung zum Erdboden ist verschieden; hierauf gehe ich nicht:
weiter ein, da ich im ersten Abschnitt mich darüber geäussert habe. 7
Durch die oben ausführlich geschilderte Entstehungsweise der ver-
schiedenen Schichten und Glieder in der Knospungszone der Naiden glaube.
ich nun aber bewiesen zu haben, dass, trotz Baer’s Annahme, die evolutio
matische, nie auf diesen Punkt gerichtete Untersuchung der Entwickelungs-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 261
verhältnisse der Gliederthiere erklärt es, dass dieser ganz willkürlich be-
hauptete Gegensatz sich so fest hat einnisten können, wie es thatsächlich
der Fall gewesen ist. Ein grosser Theil unserer modernen vergleichenden
Morphologie beruht auf ihm.
Am natürlich auswachsenden Afterende der Nais erzeugt sich zunächst |
ein neural gelegener Keimstreif und zwar in Form eines aus dem Eetoderm |
entstehenden symmetrischen Mesodermblattes und einem in der Mittellinie |
liegenden Zellstrang, den ich als Chorda bezeichnet habe. Dicht am After
scheinen alle drei Theile sogar eine einzige ungetheilte Anlage zu bilden,
welche man ohne Weiteres mit dem bei Wirbelthieren gebräuchlichen
Namen als Axenplatte bezeichnen könnte (s. Taf. V, Fig. 1—3).
Die aus der Mitte derselben hervorgehende, zwischen der Neuralver- |
diekung des Ectoderms und dem Darm — genau wie bei den Wirbel-
thieren — liegende chorda bestimmt eine Horizontalebene, welche das
Eetoderm jederseits in einer Linie trifft, von welcher aus sich die eine
Muskelplatte nach der Neuralseite, die andere nach der Cardialseite hin
entwickelt. Das animale (Muskel-) Rohr der einen Seite (Rückenplatten)
schliesst sich von beiden Seiten her um das sich einsenkende Nervensystem,
das der andern (Bauchplatten) um den Darm, genau wie bei den Wirbel- |
thieren. Damit aber ist die evolutio bigemina auch für die Anneliden
nachgewiesen.
Es thut dabei nichts zur Sache, dass bei den Naiden die Muskelplatten
dünn, bei den Wirbelthieren dick sind; auch bei Meeresanneliden kommen
. sie oft in recht starker Entwickelung vor. (Nereis, Sabella, Serpula etc.).
Ueber die Entstehung der Muskel bei den letzteren wissen wir allerdings
nichts; aber aus der grossen Uebereinstimmung in ihrer Structur mit denen
der Naiden lässt sich auch die gleiche Entwickelungsweise folgern. Die
vier seitlich symmetrischen Muskelplatten (die neuralen und cardialen)
kommen allen echten Anneliden zu, trotz mannichfaltigster Varianten ;
wandelbar dagegen im höchsten Grade sind die lateralen Längsmuskel,
die äussere und innere Ringmusculatur, sowie die Sagittalmuskel. In den
bis jetzt vorliegenden Untersuchungen über Entwickelung der Anneliden
findet sich immer nur die ganz vage, nichts beweisende Angabe, es ent-
stünde die Musculatur aus den seitlichen Theilen des Keimstreifens.
Man könnte ferner einwenden, es sei der in der Axe liegende Zell-
strang nicht der chorda zu vergleichen, da er gar keine Aehnlichkeit in
Structur und Umbildung mit derjenigen der Wirbelthiere zeige. Auf die
Discussion dieses Einwurfes habe ich erst später einzugehen; hier kann ich
denselben ruhig bei Seite legen. Denn es ist für den Nachweis einer, auch
bei Anneliden eintretenden evolutio bigemina vollständig gleichgültig, ob
18*
A,
ILW
L
Ic I ıamEk
sd, balria
262 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
der in der Axe liegende Zellstrang diese oder jene Structur habe oder Um-
wandlung erleide. Die Thatsache seiner Existenz wird nach den ausführ-
lichen Beobachtungen, die ich über ihn mitgetheilt habe, Niemand bestreiten
wollen, seine Bedeutung auch nicht; ebensowenig wird man leugnen können,
dass durch ihn eine Horizontalebene bezeichnet sei, von welcher aus sich
das eine Muskelrohr um das centrale Nervensystem, das andere um den
Darm herumlegt.
Man könnte drittens geneigt sein, die Ausbildung eines echten Rücken-
markrohrs durch Schluss der Rückenwülste als ausschlaggebend anzusehen;
denn es kommt ein solches — soweit wir wissen — unter den hier- ver-
glichenen Thieren nur den Wirbelthieren zu. Nach den jetzt vorliegenden
Beobachtungen lässt sich dies Argument indessen leicht widerlegen.
| Es ist nämlich, wie ich bereits früher hervorgehoben habe, die Ent-
' stehung des Keimstreifens bei Anneliden und Knochenfischen völlig identisch.
'In beiden Thiergruppen ist eine mediane Neuralfurche vorhanden; aber sie
\ verstreicht in beiden wieder und wird nie (soweit wir wissen!) zum Hohl-
‚raum des Rückenmarkrohrs. Diese Neuralfurche ist so gut in den Ko-
walewsky’schen Durchschnittsbildern der Embryonen von Lumbriceus und
Euaxes, in den Knospungszonen und am auswachsenden freien Afterende
der Naiden zu erkennen (s. Taf. V, Fig. 1—4; Taf. VII, Fig. 1, 2, 3),
ı wie bei den Knochenfischen nach verschiedenen Autoren vorhanden. Es
schliessen sich also weder bei den Knochenfischen, noch bei den Anneliden
die beiden die primäre Neuralfurche begrenzenden Keimwülste zum Nerven-
rohr zusammen, wie das bei den höheren Wirbelthieren geschieht. Auch
die weitere Umbildung des Keimstreifens ist, wie wir gleich sehen werden,
in beiden Thierclassen wenigstens anfänglich gleich. Man darf somit die
Rohrnatur des embryonalen Nervensystems der Wirbelthiere nicht mehr als
ausschliesslich typisch ansehen; auch scheint Baer geneigt zu sein, hierauf
kein sonderliches Gewicht mehr zu legen. Giebt man dies zu, so fällt auch
der einzige Unterschied weg, welcher zwischen Anneliden und Wirbelthieren
zu bestehen scheint; denn nun krümmt sich das neurale Muskelrohr bei
beiden in durchaus gleichartiger Weise um die Anlage des centralen
Nervensystems herum. y
Man würde endlich hier, wie überhaupt, einwenden können, dass die
an Knospen gewonnenen Resultate nichts bewiesen, da der Vorgang bei
den Embryonen ja ein ganz verschiedener sein könne. Ich muss nun
allerdings aufs Entschiedenste bestreiten, dass eine typische Verschieden-
heit in der Entstehungsweise irgend eines Organes derselben Species möglich
sei, je nachdem es sich im Embryo oder in einer Knospe bildete. Es ist
unmöglich, dass z. B. der Keimstreif das eine Mal ganz aus dem Eetoderm,
u A
ar N ER
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 263
das andere Mal aus dem Entoderm entstehe, das dorsale Schlundganglion
das eine Mal aus einer unpaaren dorsalen Medullarplatte, oder im andern
Falle durch Verwachsung zweier Sinnesplatten mit dem vom Bauch her-
kommenden Schlundring. Ich habe mir indessen auf die Entstehung der
Muskulatur die abweichendste Annelidengruppe, die der Hirudineen, genau
angesehen (s. pag. 249), und ich kann versichern, dass auch hier das |
Muskelrohr ein doppeltes ist, und dass die Muskelplatten in zwei seitlichen |
Feldern entstehen, von denen aus sie als neurales Muskelrohr um das '
Nervensystem herumwachsen und dies dadurch vom Ectoderm trennen,
nach der anderen Seite als cardiale Muskelplatten um den Darm. Der
biseminale Entwickelungstypus tritt also auch bei den Embryonen der
Anneliden ein; seine allgemeine Gültigkeit kann ferner auf Grund des
gleichartigen Typus im Bau der Muskulatur aller Anneliden angenommen
werden.
Ich nehme es also als ausgemacht an, dass die beiden Rohre einander in
beiden Classen der Wirbelthiere und Anneliden entsprechen, obgleich ihre
Lagerung zum Erdboden meistens eine diametral entgegengesetzte ist. Man
thut daher gut, die nur für die Wirbelthiere brauchbaren Bezeichnungen
Rückenplatten und Bauchplatten ganz fallen zu lassen, und sie durch die
passenderen „Neuralplatten und Cardialplatten“ zu ersetzen; diese sind
rein morphologisch, da sie nur das gegenseitige Lagerungsverhältniss der
Glieder des Körpers, nicht aber des letzteren Richtung zum Erdboden in
Betracht ziehen.
Es fragt sich nun, ob wir auch bei den Gliederfüsslern eine evolutio
bigemina nachweisen können. Leider ist dies einstweilen nicht der Fall.
Ich selbst habe bis jetzt weder Zeit noch Gelegenheit dazu gehabt; in der
doch so reichhaltigen entwickelungsgeschichtlichen Literatur habe ich mich
aber völlig vergebens nach Beobachtungen umgesehen, die sich in dieser
Richtung verwerthen liessen. Aber die sparsamen Aeusserungen über erste
Entstehung und Wachsthum der Muskulatur sind ebensowenig geeignet, die
hypothetische Annahme, dass auch bei den Arthropoden ein doppeltes
Muskelrohr entstehe, zurückzuweisen: es bleibt eben in Bezug auf diesen
Punkt eigentlich noch Alles zu thun übrig. Das Einzige, was mit Sicher-
heit aus den vorhandenen Angaben zu folgern sein dürfte, ist die Ent-
stehung der Muskelplatten aus den seitlichen Theilen des Keimstreifens.
Nichts desto weniger glaube ich aus vergleichend morphologischen Gründen
annehmen zu dürfen, dass auch die Arthropoden bei sorgfältiger Unter-
suchung denselben Typus der Entwickelung werden erkennen lassen; denn
es lässt sich ihre Längsmuskulatur, sowie das System ihrer Sagittalmuskeln
264 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
ungezwungen auf das der typischen Anneliden zurückführen. Weiter auf
diesen Punkt hier einzugehen, erscheint mir überflüssig.
I Entstehung der Axenplatte, ihr Zerfall in zwei Mesodermplatten und
| chorda und die evolutio bigemina sind also 'für Anneliden (Naiden) wie
l Wirbelthiere nachgewiesen; die Arthropoden müssen hierauf abermals
| untersucht werden. Es wird sich dann, wie ich überzeugt bin, auch für
| diese die Uebereinstimmung mit den beiden andern Gliederthierclassen
\ herausstellen.
8.12. Der Keimstreif bei den drei gegliederten Thierelassen
und seine Gliederung.
Es herrscht in Bezug auf das, was wir bei Gliederthieren Keimstreif
zu nennen haben, nicht geringe Verwirrung; das heisst die Angabe, dieser
oder jener Theil entstehe aus dem Keimstreifen, lässt sich meist gar nicht
verstehen und verwerthen, da es oft unentschieden bleibt, ob dieselben aus
dem Ectoderm oder dem Mesoderm hervorgehen.
Mir scheint es kaum zweckmässig zu sein, als Keimstreifen die Em-
bryonalanlage nach ihrer Gliederung in Ursegmente mit allen ihren Theilen
zu bezeichnen. Denn er zeigt an den verschiedenen Stellen verschiedene
Grade der Ausbildung, sodass ein einziger Durchschnitt nie zur vollen
Aufklärung über seine Structur genügt. Dort, wo hart am After der Nais
eine einfache, aber symmetrische Axenplatte gebildet ist, giebt der Quer-
schnitt des Keimstreifens ein anderes Bild (Taf. V, Fig. 1, 2), als weiter
vorn, wo die vollständige Sonderung in zwei Mesodermplatten und in den
axialen Chordastrang bereits eingetreten ist; wieder anders: ist das Durch-
schnittsbild gleich davor, wo die mediane Ectodermknospe sich gegen den
Darm hin vorzuschieben beginnt. Noch mannichfaltiger gestalten sich die
Verhältnisse, wenn man auch den schon segmentirten Theil der Embryonal-
anlage mit zum Keimstreifen rechnet; denn es geht, wie die oben ge-
schilderten Beobachtungen lehren, die Umbildung in die einzelnen Glieder: |
(Organe) so rasch vor sich, dass nie die Betrachtung des Oberflächenbildes
des Keimstreifens oder ein einzelner Durchschnitt allein, sondern nur eine
vollständige Durchschnittsreihe Aufschluss geben kann über die Verän-
derungen, welche an ihm von hinten nach vorn zu fortschreitend zu
beobachten sind. Auf der häufigen Nichtbeachtung dieses Verhältnisses
beruhen eine grosse Menge der Irrthümer, welche sich allmälig in recht
anständiger Fülle angehäuft haben.
Ich benutze daher das Wort Keimstreif auch nicht mehr, um eine
| histologische Einheit (ein Glied), sondern höchstens, um damit den
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 265
allgemeinsten Charakter der primitivsten Embryonalanlage aller geglieder- |
ten Thiere zu bezeichnen. Es tritt dieselbe — wie wohl nicht erst
weiter durch besondere Anführungen belegt zu werden braucht — in |
Form einer mehr oder minder langgestreckten symmetrischen Verdickung
(Axenplatte) des äusseren Blattes auf, welche sehr bald in das eigentliche
Mesoderm und Ectoderm und die chorda und dann in die Ursegmente
zerfällt. Bei vielen Wirbelthieren ist diese symmetrische Embryonalanlage \
"durch eine mehr oder minder weite Furche (Primitivrinne) in zwei
symmetrische Hälften getheilt, welche aber ihrer Längsausdehnung nach | |
immer nur dem Rumpftheil des Embryos zu entsprechen scheint. Vor |
|
dieser Primitivrinne, welche immer bald verstreicht, bildet sich bei den
höheren Wirbelthieren die sogenannte: Rückenfurche aus, die, allmälig
auch auf den Rumpftheil übergreifend, sich später zum Rückenmarksrohr |
„schliesst. Es ist schon von Anderen hervorgehoben worden, dass eine solche |
Rückenfurche bei Knochenfischen nicht existirt und dass die, auch hier in |
der Embryonalanlage vorkommende‘ Mittelfurche nicht der eigentlichen
Rückenfurche, sondern vielmehr der Primitivrinne entspricht, da sie wie
diese verstreicht.
Eine echte Rückenfurche scheint (immer abgesehen von Kunphiate |
und den Ascidien) eben nur den Wirbelthieren zuzukommen. Da nun die
zweite Furche, die Primitivrinne, mitunter neben jener existirt, dann aber
immer früher auftritt, so lässt sich die letztere als die primäre, jene
als secundäre Neuralfurche bezeichnen. Damit soll natürlich nicht |
gesagt sein, das diese sich aus jener heraus entwickelt — was ja nicht der
Fall ist —, sondern nur dass sie zeitlich nach ihr entsteht. Die Be-
zeichnung Neuralfurche selbst aber ist nöthig, weil sich zeigen lässt, dass
homologe Theile auch bei Gliederfüsslern und Anneliden vorkommen, die
‚bisher ausschliesslich bei Wirbelthieren angewandten Namen aber sich nicht
ohne Unzukömmlichkeiten auf die Wirbellosen übertragen lassen.
Eine secundäre Neuralfurche fehlt nun, soviel wir wissen, den echten
Anneliden und Arthropoden; es wird also auch hier nie die äusserste
Lage der Ectodermzellen in das Innere des Nervenrohrs hereingezogen, wie
bei Wirbelthieren. Dagegen ist die bei vielen Wirbellosen nachgewiesene
mittlere äussere Furche des Keimstreifens der primären Neuralfurche
(=Primitivrinne) zu vergleichen, da sie wie diese bald wieder verstreicht,
und da zugleich damit das äussere Eetodermblatt glatt über die Anlage
des centralen Nervensystems hinwegzieht, wie bei Knochenfischen.
Ich selbst habe, wie oben gezeigt, bei Nais überall am ungegliederten
Keimstreifen des Rumpfes diese Neuralfurche beobachtet; allerdings nicht
bei Chaetogaster. Dies mag vielleicht an den eigenthümlichen Verhältnissen
266 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
des Wachsthums dieses Wurmes liegen, sodass ich das Fehlen der Furche
nicht mit Sicherheit behaupten könnte. Ist sie vorhanden, so ist sie
sicherlich ganz ungemein kurz. Aber selbst wenn sie hier fehlen sollte,
so würde dies noch kein Argument gegen die obige Gleichstellung sein;
\denn beide Neuralfurchen sind als Andeutungen einer ursprünglichen Trennung
‚des Keimstreifens in seine zwei symmetrischen Hälften aufzufassen. Unter
den Wirbelthieren ist bei den Knochenfischen diese Trennung am Schwanzwulst
thatsächlich vorhanden, hier verwachsen nach His die beiden Randwülste
(s. Taf. XIV, Fig. 1—4) in der Mittellinie zum Keimstreifen, Ganz das
gleiche Verhalten bietet das Schwanzende von Chaetogaster unter der An-
nahme der Richtigkeit der oben gelieferten Darstellung, da auch hier die
Bildung des neuen Keimstreifens durch Wucherung von den zwei Seiten-
feldern her geschieht; und es beruht das (immer noch etwas problematische)
Fehlen einer primären Neuralfurche wohl sicher nur auf der ungemein
raschen Ausbildung der einzelnen Glieder, welche es zu so ausgeprägten
Zwischenstufen, wie sie bei Nais erkannt wurden, nicht kommen lässt.
Es liesse sich hier mit Recht der Einwand erheben, dass die Neural-
furche einer Wurm-Knospe nicht ohne Weiteres mit der eines Wirbelthier-
Embryos gleichgestellt werden könne. Gerechtfertigt wird indessen diese
Gleichstellung durch die Thatsache, dass auch bei Embryonen von Anne-
liden solche primäre Neuralfurchen vorkommen. Es geht dies unwider-
leglich aus Kowalewsky’s!) Beobachtungen an Euaxes und Lumbricus
hervor; auch Giard ?) beschreibt bei Salmacina eine solche,
Bei den Arthropoden indessen scheint dies nach Zaddach ?) anders zu
sein. Er parallelisirt, wie ich, den Keimstreifen der Arthropoden mit dem
der Wirbelthiere; aber er findet eine Längsfurche nicht an seiner äusseren,
sondern an seiner inneren, dem Darm zugekehrten Fläche. Er schliesst
— merkwürdig genug —, dass trotz der von ihm behaupteten Identität
des Bauchmarks der Gliederthiere mit dem Rückenmark der Wirbelthiere,
dass die innere Seite des ersteren auch der Rückenseite der letzteren ent-
spreche, also bei ihnen mit Bär eine Identität des Bauches und Rückens,
gegen Bär aber eine Gleichheit der Nervensysteme beider Thierclassen an-
zunehmen sei. Es beruht diese Schlussfolgerung auf der Annahme, dass
eine Mittelfurche am Keimstreifen immer nur an derselben, morphologisch
identischen Seite auftreten könne; das wäre aber ein erst zu beweisender
Satz. Es ist jetzt übrigens überflüssig, denselben zu kritisiren; denn es
!) Kowalewsky, Arthropoden und Würmer; Taf. X, Fig. 27, 28, 30, 33 ete.
?) Giard, Note sur l’embryogenie de la Salmacina Dysteri. C. R. 17. Jan. 1875.
®) Zaddach, Untersuchungen über die Entwickelung und den Bau der Glieder-
thiere, 1854.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere., 267
ist von verschiedenen Zoologen eine, auf der Aussenseite des Keimstreifens |
liegende neurale Furche beschrieben und abgebildet worden. Ich verweise |
in dieser Beziehung nur auf Kowalewsky’s Abbildungen zur Entwickelung |
von Hydrophilus !), auf die von Bobretzky ?) über Oniscus etc. etc.
Die primären Verhältnisse des schon vorhandenen Keimstreifens sind
also bei den drei gegliederten Thierclassen gleich. Es fragt sich indessen,
ob die erste Entstehung, sowie die weitere Umbildung desselben auch
überall gleich seien; beides muss der Fall sein, wenn überhaupt von einer
morphologischen Identificirung der einzelnen Glieder der Keimblätter bei
ihnen die Rede sein soll.
Die erste Umwandlung der Axenplatte der Wirbelthiere erfolgt durch |
Auswachsen ihrer zwei Ränder (nach Kölliker und Hensen) zwischen dem
Entoderm und dem Ectoderm von der Neuralseite zur Cardialseite, und
durch Trennung der in der Axe gelegenen Chorda dorsalis von den hart
anstossenden zwei symmetrischen Hälften des Mesoderms. Diese Spaltung
beginnt zuerst vorn am Rumpfende und schreitet in dem Maasse, wie hinten
an der Schwanzknospe neues Bildungsmaterial dem Keimstreifen hinzugefügt
wird, weiter nach hinten fort. Ganz ebenso tritt auch am Vorderende des |
Rumpftheils des Keimstreifens das erste Ursegment (Urwirbel) auf, und die
Zahl derselben vermehrt sich in der Richtung von vorn nach hinten. Auf
den letzten jüngsten Urwirbel folgt immer, so lange der Embryo noch in
Segmentneubildung (Metamerenbildung) begriffen ist, ein ungegliederter Ab-
schnitt des Keimstreifens vor der eigentlichen Schwanzknospe.
Genau die gleichen Verhältnisse treten bei Anneliden auf. Die Axen-
platte — bisher erst von mir am freien Afterende der ungeschlechtlichen
Naiden gesehen (s. Taf. V, Fig. 1, 2) — ist allerdings sehr kurz, aber
doch vorhanden; sie löst sich noch vor Auftreten der medialen Ectoderm-
verdickung in die zwei seitlichen Mesodermplatten und den axial gelagerten
Chordazellenstrang auf (s. Taf. V, Fig. 3, 4). Auch bei Embryonen
kommen nach Kowalewsky dieselben Theile vor; er sagt ausdrücklich, dass
‚er geneigt sei, den Zellenstrang, welcher bei Euaxes°) und bei Lumbrieus ?)
unter der Neuralfurche liegend die beiden Mesodermplatten von einander
trenne, als ein der Wirbelthierchorda homologes Gebilde anzusehen. Auch
hier erfolgt, wie bei Wirbelthieren, die Spaltung in die einzelnen Blätter
zuerst am Vorderende des Rumpftheils. Bei Gliedertkierfüsslern hat sich
Hnläsc. .
2) Bobretzky, Zur Embryologie des Oniseus murarius. Z. f. w. Z. Bd. 34, 1874,
Taf. XXII, Fig. 21.
®) Kowalewsky, Würmer und Arthropoden, Taf. V, Fig. 34e.
*) Kowalewsky, 1. ec. Taf. XII, Fig. 22.
268 SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
bis jetzt ein Chordazellenstrang nicht auffinden lassen; denn der von
Leydig der Chorda verglichene eigenthümliche Zellenstrang über dem Bauch-
mark verschiedener Sphingiden scheint doch kaum hierher zu gehören, da
ich mich überzeugt zu haben glaube, dass er nicht allen Raupen zukommt
und auch den ganz jungen Raupen der von Leydig!) untersuchten Arten
(Sphinx convolvuli, Zygaena, Vanessa etc.) zu fehlen scheint. ‘Dieser Punkt
muss also vor Allem erst genauer untersucht werden. Ob bei den Arthro-
poden die Trennung des ursprünglich einfachen, dann sich verdickenden
Keimblattes in Ectoderm und Mesoderm auch vorn zuerst beginnt und nach
hinten fortschreitet, lässt sich aus den vorhandenen Arbeiten nicht mit
Sicherheit entnehmen, da vollständige Querschnittsserien ihrer Embryonen
bis jetzt wohl kaum beschrieben, mir wenigstens nicht zu Gesicht gekommen
sind. Aber es ist wahrscheinlich; denn aus manchen Arbeiten über Ent-
wickelungsgeschichte der Arthropoden geht hervor, dass häufig das erste
Ursegment am Vorderende des Keimstreifens des Rumpfes beginnt, und
dass die nächstjüngeren sich immer zwischen das davorliegende, schon
ausgebildete und das den After tragende Analsegment einschieben. Genau
die gleiche zeitliche Segmentfolge ist am Rumpftheil aller Anneliden fest-
gestellt worden, deren Entwickelung sorgfältiger untersucht wurde; die
neuen Glieder gehen immer aus dem Hinterende des vor dem Analsegment
liegenden Keimstreifens hervor. Es ist überflüssig, hierfür Gewährsmänner
anzuführen, denn in Bezug auf diesen Punkt stimmen alle Beobachter überein,
Es ist aber damit die allgemeine Identität in der Bildungsweise der
ı Ursegmente bei Wirbelthieren, Arthropoden und Anneliden erwiesen. Natür-
‚lich bestehen darum doch noch genug Verschiedenheiten; so scheinen z. B.
die Höhlen der Ursegmente der Vertebraten den meisten Anneliden und
Arthropoden zu fehlen; doch soll nach Metschnikoff ?) Geophilus echte ab-
geschlossene Höhlen in seinen Ursegmenten haben, und bei Euaxes giebt
Kowalewsky ?) solche an; ich selbst finde sie ganz deutlich bei allen
Hirudineen.
Der zweite Punkt betrifft die primäre Entstehung des Keimstreifens
und Mesoderms. |
Bekanntlich stehen sich in dieser Beziehung die Ansichten nach wie
vor schroff gegenüber. Die Einen behaupten, so neuerdings noch Kölliker %),
1) Leydig, Vom Bau des thierischen Körpers, p. 213, 217, 218.
?) Metschnikoff, Embryologisches über Geophilus. Z. f. w. Z. Bd. 25, 1875, pag.
316, Taf. XX, Fig. 9, 10.
®2) Würmer und Arthropoden, Taf. V, Fig. 35.
#) Kölliker, Zur Entwickelung der Keimblätter im Hühnerei. Phys. med. Verh.
N. F. Bd. VIII. 1875. Ueber die erste Entwickelung des Säugethierembryo. Phys.
med. Verh. Bd. IX. 1876.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 269
mit grösster Entschiedenheit, dass es seinen Ursprung aus dem Ectoderm
nehme. Der jüngere v. Beneden !) sagt ebenso positiv, es stamme aus dem
Entoderm ab. Hensen ?) wieder leitet es vom Ectoderm ab, scheint aber
doch die Meinung nicht ganz ausschliessen zu wollen, dass der Axenstrang
— aus: dessen weiterer Umbildung das Mesoderm und die chorda entsteht —
neben unzweifelhaften Elementen aus dem Ectoderm auch vielleicht noch
Theile aus dem Entoderm aufnehme: die alte His’sche Ansicht. Doch sagt
er dies nicht ausdrücklich, sondern es lässt sich nur aus der Bemerkung
herauslesen, dass der Axenstrang, dessen direete Entstehung aus dem
Eetoderm er, wie Kölliker, angiebt, doch auch mit dem Entoderm recht
innig zusammenhänge.
Ich habe absichtlich die allerneuesten Aeusserungen angeführt, um zu
zeigen, dass auch jetzt noch die alte Divergenz der Meinungen bestehen
‚bleibt. Ohne erneute Untersuchungen, welche nicht auf ein einzelnes Thier,
sondern auf zahlreiche basirt werden in der Absicht, die verschiedenen
Möglichkeiten in Bezug auf die Herkunft des Mesoderms festzustellen, wird
man nicht zur Klarheit kommen. Man ist zwar immer geneigt, im
Interesse einheitlicher Auffassung, nur eine einzige Ableitung gelten zu
lassen, und sehr erklärlich ist es, dass jeder Untersucher gerade den von
ihm beobachteten Vorgang für den allein richtigen hält. Wir sind aber
schon so oft gewarnt worden vor allzurascher Verallgemeinerung einzelner
Beobachtungen oder Auslegungen, dass es schwer begreiflich bleibt,. wie doch
immer und immer wieder dieser Fehler gemacht wird. Ich halte dafür,
dass sich einstweilen in Bezug auf die allgemeine Werthigkeit des Meso-
derms nichts bestimmtes sagen lässt; denn die Resultate widersprechen sich
zu direct. Sollten sie nun nicht alle wahr sein können? dann wäre eben
die Erklärung für den Gegensatz in der Entstehung des Mesoderms nicht
gegeben durch die bisher vorliegenden Untersuchungen.
So lange nun aber der Streit unentschieden ist, muss es auch ge-
durch Knospung sich vermehrenden Naiden habe ich mit aller wünschens-
werthen Schärfe nachweisen können, dass das Entoderm in der Knospungs-
zone, obgleich in starker Wucherung begriffen, doch in keiner Weise an
dem Aufbau des Mesoderms theilnimmt. Zweifelhaft blieb mir nur, ob
nicht die neue Darmfaserplatte — welche durch die bekannten sogenannten
2) v. Beneden, La maturation. de l’oeuf ete. ete. Bulletin d. l’Acad. roy. o.
Belgique, Taf. XL, 1575, p. 40—42.
2) Hensen, Beobachtungen über die Befruchtung und Entwickelung des Kanin-
chens und Meerschweinchens. His, Zeitschr. f. Anat. u. Entwicklgsg. Bd. I, p. 271.
_ stattet sein die Anknüpfungen da zu suchen, wo man sie findet. Für die |
270 SEMPER:; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Leberzellen repräsentirt ist — ihre Entstehung einer Wucherung der alten
verdanke, obgleich mir dies nicht wahrscheinlich schien; dass aber die
übrigen Theile des Mesoderms, so namentlich der ganze neurale Keimstreif
nur aus dem Ectoderm abstamme, habe ich oben bewiesen. Diesen Vor-
gang!) habe ich das Recht, mit dem von Kölliker und Hensen bei Wirbel-
thieren beschriebenen zu vergleichen. Wollte ich v. Beneden’s oder His’
Deutung annehmen, so würde ich nicht blos meine eigene Beobachtung
ausser Zusammenhang setzen, sondern auch behaupten, dass Kölliker und
Hensen sich geirrt hätten. Diesen Letzteren aber stehe ich in dieser Be-
ziehung ebenso gegenüber, wie v. Beneden: alle drei sind mir zunächst
gleich glaubwürdig. Wenn ich aber bei Hensen und Kölliker Anknüpfungs-
punkte finde, bei v. Beneden nicht, so benutze ich die Beobachtungen Jener,
so lange sie nicht als thatsächlich falsch nachgewiesen worden sind. Dieses
echt kann mir nicht bestritten werden; denn es wird von der gegnerischen
Seite genau in der gleichen Weise in Anspruch genommen, Das Ergebniss
ist also, dass die Uebereinstimmung in der Entstehung des Mesoderms bei
Anneliden und Wirbelthieren nach meinen, Hensen’s und Kölliker’s Beo-
bachtungen für mich wahrscheinlich ist, und die schon vorhandenen für die
Stammverwandtschaft der gegliederten Thierclassen sprechenden Argumente
zu vermehren vermag.
Man hat in jüngster Zeit mitunter von einem wunderbaren Versuch
lesen müssen, die Schwierigkeiten, welche die diametral entgegenstehenden
Ansichten über die Entstehung des Mesoderms bieten, zu heben durch Auf-
stellung einer Hypothese, welche nicht blos noch viel grössere Schwierig-
keiten erzeugt, sondern auch beobachtete Thatsachen vollständig verdreht,
oder unkritisch benutzt. Ursprünglich sollen nach ihr aus den zwei
primären Keimblättern durch Spaltung vier gebildet werden; das einfache
dritte mittlere Keimblatt denkt sich jene Hypothese überall da, wo es
wirklich als solches auftritt, durch Conerescenz aus den ursprünglich vor-
handenen mittleren zwei entstanden. Ich halte es für überflüssig, hier
weiter auf diese „Fälschung der Ontogenie“* des Mesoderms einzugehen, da
ich mit ihr nichts anfangen kann und sie mir in keiner Weise die That-
1) Damit stehen eine ziemliche Anzahl von Beobachtungen über Gliederfüssler,
die von Kowalewsky über Euaxes, in Einklang; die überwiegende Zahl der sorgfäl-
tigen Beobachtungen zeigt, dass auch bei den gegliederten wirbellosen Thieren das
Mesoderm direet und in toto aus dem Ectoderm abstamme. Ich verweise hier nur
auf die ganz besonders schlagende Darstellung von Bobretzky über Oniscus und
dessen vortreffliche Durchschnitte. Die früheren Angaben über die Abspaltung des
Keimstreifens aus dem Hautblatt sind kaum zu benutzen, da man bei völligem
Mangel von Durchschnittsbildern nie recht weiss, was Mesoderm sei und was nicht.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. o7l
sache erklärt, dass der Keimstreif am freien Afterende einer Nais — wel-
cher in jeder Beziehung dem am Schwanzende eines Blutegelembryos oder
einer Terebellen-Larve entspricht — nicht durch Verwachsung aus zwei
Hälften, sondern ganz ausschliesslich aus dem Eetoderm entsteht.
Mit dem Nachweis des Auftretens einer Axenplatte aus dem Ectoderm,
ihrer Theilung in zwei Mesodermplatten und einen axialen Chordazellen-
strang, der Ausbildung einer durch zwei Keimwülste des Ectoderms be-
sränzten primären Neuralfurche und der Umbildung jener Mesodermplatten
in Ursegmente bei den Naiden (freies Afterende) ist aber die Identität des
Annelidenkeimstreifens mit dem der Wirbelthiere erwiesen. Würden, was
ich für unmöglich halte, Kölliker’s und Hensen’s Beobachtungen über die
Entstehung des Mesoderms bei Wirbelthieren sich als absolut falsch heraus-
stellen, so wäre damit noch immer nicht die ungemein grosse Aehnlichkeit
im Keimstreifen der gegliederten Wirbellosen aufgehoben, sendern nur die
Frage aufgeworfen, wie denn der Gegensatz in der Entstehung des Mesoderms
— hier aus dem Ectoderm, dort aus dem Entoderm heraus — zu erklären sei.
Es ist aber endlich drittens auch die Art der ersten Entstehung des
noch ungegliederten Keimstreifens bei Wirbelthieren und den gegliederten
Wirbellosen identisch; natürlich darf man dabei die Würmer nicht mit
den Säugethieren vergleichen. Wenn man aber die Abbildungen von Ro-
bin über Clepsine (Taf. XIV, Fig. 5—13) und die von Kowalewsky über
Euaxes (Taf. XIV, Fig. 14 — 19) neben die von His gegebenen Schemata
der Keimstreifbildung bei Knochenfischen (Taf. XIV, Fig. 1 —4) und die
Götte’schen Abbildungen der primitiven Stadien der Unkenentwickelung
(Taf. XIV, Fig. 23) stellt, nachdem man sie alle gleichmässig orientirt —
mit dem Afterende nach links — und zur Erleichterung der Uebersicht
den Keimstreif, die von diesem umwachsene Cardialseite und die schliesslich
nur noch im Rusconi’schen After kurze Zeit frei bleibende Stelle durch
verschiedene Färbung von einander abgesetzt hat, so springt die Ueberein-
stimmung sofort in die Augen. In allen drei Fällen liegen die beiden |
Keimstreifhälften zuerst auf der Cardialseite; allmälig wachsen sie auf die
Neuralseite hinüber, und das ursprünglich grosse freie Feld derselben wird |
immer kleiner; endlich bleibt es nur noch als Rusconi’scher After am |
Schwanzende bestehen, welcher ja auch bei Amphibien (Taf. XIV, Fig. 23)
von dem hinteren Bogen der Keimstreifhälften umfasst wird. Der hier von |
Götte zu machende Einwand, dass ja nach seiner Axenhypothese der Axial-
pol der Wirbelthiere dem Mundpol der Anneliden entspreche, wird weiter
unten besprochen werden; es genügt, hier anzuführen, dass die Götte’sche
Auffassung nicht mit den längst bekannten Thatsachen im Einklang steht.
Ebenso wenig aber kann der in seiner Hälfte gleich von Anfang an ver-
272 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.,
schmolzene Keimstreif der höheren Wirbelthiere als ein Argument gegen
diese Vergleichung angeführt werden; man muss ihn vielmehr als durch
Verkürzung der Entwickelung entstanden ansehen, so dass dasselbe Stadium,
welches bei den niederen Wirbelthieren erst spät durch allmälige Ver-
einigung der zwei ursprünglich getrennten Hälften zu Stande kommt, bei
den höheren gleich im Beginn auftritt. Denn es findet bei den doch so
ungemein nahverwandten Hirudineen genau dieselbe Abstufung statt: bei
lepsine sind die Keimstreifhälften am Weitesten von einander entfernt,
bei Nephelis stehen sie sich gleich von Anfang an ziemlich nahe, bei
Hirudo endlich fehlen sie ganz und der Keimstreif ist ein einfacher, wie
bei den Arthropoden oder den höheren Wirbelthieren. Leuckart !) hat in
seinem Parasitenwerke auf diese Abstufung bereits vor langen Jahren auf-
merksam gemacht.
8.13. Die Segmentirung und der GegensatzvonKopf, Rumpf
und Schwanz.
Die allgemeinste Erscheinung der Segmentirung (Metamerenbildung) des
Keimstreifens ist bei allen gegliederten Thierclassen völlig identisch. Bei
allen bisher untersuchten Wirbelthieren, Arthropoden und Anneliden gilt
das gleiche Gesetz: die ersten Ursegmente treten vorn auf, die letzten
jüngsten liegen immer oben vor dem noch ungegliederten Aftersegment oder
Schwanzsegment. Das hinterste Glied resp. vorletzte, wenn man das After-
glied mitzählt, des Thierkörpers ist immer das in der Zeit zuletzt ent-
standene.
Der ältere M. Edwards hat bereits in seiner trefflichen Arbeit über
Entwickelung der Anneliden dies Gesetz festgestellt; es ist später von ver-
schiedenen Anderen bestätigt, aber auch in seiner allgemeinen Fassung zurück-
gewiesen worden. So z. B. von Kölliker.?) Dieser sagt, dass das Einschieben
neuer Segmente zwischen dem Analsegment und dem jüngsten echten Gliede
sicherlich bei vielen Gliederthieren stattfinde, bei andern, so bei den von
ihm entwickelungsgeschichtlich untersuchten Inseeten (Donacia, Simulia, Chiro-
nomus) und ferner bei den Hirudineen aber nicht; denn bei diesen er-
halte das Thier unzweifelhaft gleich auf einmal alle seine Segmente. Das
ist indessen nur richtig, wenn man das ausgewachsene Thier allein als solches
ansieht, den Embryo aber nicht; untersucht man diesen aber auf die em-
bryonale Bildung seiner Segmente, so gilt auch für ihn das M. Edwards’sche
Gesetz ausnahmslos: die Segmente treten zeitlich hintereinander auf und das
1) Leuckart, Parasiten Bd. I, 1863, p. 701.
2) Kölliker, Observationes de prima insectorum genesi. Zürich 1842.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 273
jüngste entsteht durch Abtrennung aus dem ungegliedert bleibenden Anal-
segment. Selbst bei den Gliederthieren mit geringster Segmentzahl (Arach-
niden, Insecten) ist dies festgestellt. Dass es auch für die Wirbelthiere
silt, weiss alle Welt. Natürlich kann der Schein gleichzeitigen Auftretens
aller Segmente leicht entstehen, wenn die Zeitintervalle zwischen ihnen sehr
klein sind; dies ist offenbar bei vielen Inseeten und Crustaceen der Fall.
Das aber steht dem M. Edwards’schen Gesetze gar nicht im Wege.
Für diese allgemeinste Uebereinstimmung jetzt noch ausführliche Be-
lege anführen, ist überflüssig. Dagegen muss ein anderer Punkt eingehend
besprochen werden, weil er mir von der grössten allgemeinen Wichtigkeit,
doch aber kaum beachtet zu sein scheint.
Durch die oben mitgetheilten Beobachtungen habe ich den Beweis ge- “= ‘
liefert, dass bei der Ausbildung eines Naidenzooids durch Knospung zwei
Resionen des Körpers scharf unterschieden sind, die ich einstweilen ohne
weitere Rechtfertigung als Rumpf- und Kopfzonen bezeichnet habe. Zuerst
wird die Rumpfzone angelegt; sie ist bei Nais durch einen vollständig aus-
gebildeten Keimstreifen mit Keimwülsten, Neuralfurche und der zum cen-
_ tralen Nervensystem werdenden Ectodermknospe ausgezeichnet. Erst später
entsteht die Kopfzone, aber ohne Keimwülste und Ectodermknospe; in sie
wächst das vordere Ende des Nervensystems der Rumpfzone hinein, indem
es sich gleichzeitig zum Schlundring um den Darm herumkrümmt, damit
verbinden sich die seitlich vom Eetoderm her sich einsenkenden Sinnes-
platten zum oberen Schlundganglion. In jeder Zone erfolgt die Segmen-
tirung von vorn nach hinten; es stösst also das jüngste Kopfglied an das
älteste Rumpfglied an.
Die bei den Anneliden festgestellten Thatsachen, welche für manche
Gattungen beweisen, für alle aber sehr wahrscheinlich machen, dass auch
dasselbe Gesetz des Gegensatzes von Kopf und Rumpf bei ihnen zu er-
kennen sei, habe ich weiter oben (III. Abschnitt, pag. 254) ausführlich be-
sprochen. Ebenda habe ich darauf hingewiesen, dass für die Anneliden
eine eigentliche Normalzahl der Kopfsegmente nicht festzustellen, doch aber
vollständigste Homologie der Köpfe aller Anneliden — trotz überaus
schwankender Zahl ihrer Segmente — zu erkennen sei, da auch im Em-
bryo derselbe Gegensatz im zeitlichen Auftreten von Kopf und Rumpf und
die gleiche Richtung der Segmentirung beider Abschnitte vorhanden wäre,
wie in den Knospungszonen der Naiden- und Chaetogaster-Zooide.
Noch ein anderer Punkt ist hier kurz zu berühren. Man sagt ge- |
wöhnlich, der After läge bei den Anneliden am Hinterende des Körpers,
meist auf dem Bauche, mitunter auf dem Rücken. Will man damit sagen,
dass es immer das letzte Segment sei, welches den After trage, so ist dies
274 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
in jenen Fällen, wo der After dorsal liest, doch wohl kaum richtig. In
solchen Fällen finde ich nämlich oft noch eine Verlängerung des Bauch-
marks über den After hinaus; bekannt ist, dass in dem hinteren Saugnapf der
Hirudineen sieben Ganglienpaare verschmolzen sind, und dass der Keimstreif
von Hirudo weit vor dem Ende des Embryos endist. Da nun einem Seg-
ment des Körpers je ein Ganglion entspricht, so glaube ich bei diesen mit
dorsalem After versehenen Thieren das hinterste Körperende als echtes
Schwanzende ansehen zu dürfen, welches sich durch das Hinausgreifen über
den dorsal liegenden After charakterisirt, und welches bei den Anneliden
mehrfach vorkommt, den Arthropoden aber gänzlich fehlt. Zugegeben, dass
sich die drei-gegliederten Thierclassen einander morphologisch gleichstellen
lassen, so wäre dieser echte Schwanz der Anneliden dem Schwanzende des
Wirbelthierkörpers zu vergleichen, und 4 hätten dann schon bei den
Ringelwürmern in allerdings viel grösserer Einfachheit die Regionen von
Kopf, Rumpf und Schwanz vor uns, die erst bei den Wirbelthieren durch
die besondere Ausbildung jedes einzelnen Abschnittes ihre höchste Bedeu-
tung erlangen.
Dieser Vergleich abersetzt voraus, dass auch bei den Wirbelthieren
Kopf und Rumpf in derselben Weise entstehen, wie bei den Anneliden.
Der Nachweis ist nach den längst vorhandenen Beobachtungen, in Verbin-
dung mit einigen ganz neuen, leicht zu liefern. Die Region des Schwanzes
bietet keine Schwierigkeiten; denn er ist bei Wirbelthieren wie bei Anne-
liden nur eine Verlängerung des Rumpfes über das Analsegment hinaus,
Nur der Gegensatz zwischen Kopf und Rumpf scheint hier bei den Wirbel-
thieren, wenigstens in der embryonalen Periode, nicht so scharf hervor-
gehoben zu sein, wie bei den Anneliden.
Es tritt die Spaltung des Keims in zwei Mesodermplatten, Haut und
Medullarplatten, genau wie bei den Anneliden, so auch bei den Wirbel-
thieren zuerst am Hinterende (Rumpftheil der Embryos) auf. Nach Bal-
four !) entsteht bei Plagiostomen der ungegliederte Keimstreif zuerst im
Rumpftheil, später erst im Kopftheil; es ist also auch hier die Wachs-
thumsrichtung von hinten nach vorn, wie bei den knospenden Naidenzoo-
iden zu erkennen. Ganz das gleiche Resultat ist für die Knochenfische den
Beobachtungen von Oellacher ?2) und His?) zu entnehmen. Bei der Unke
2) Balfour, A Preliminary Account of the Development of the Elasmobranch
Fishes. Q. J. M. Sc. Oct. 1574 and: The Development of Elasmobranch Fishes,
Journ. Anat. Phys. Vol. X. 1876.
?), Oellacher, Beiträge z. Entwickelung d. Knochenfische, Z. f. w.Z., 1873,
Bd. 23, p. 4 etc.
3) His, Unsere Körperform. Erster u. zweiter Brief.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 275
vollzieht sich nach Götte!) die Sonderung in die drei Keimblätter, also die
Anlage des ungegliederten Keimstreifens, zuerst im Hintertheil der Embryo-
nalanlage; es wächst diese Anlage nach vorn und die Hirnplatte tritt erst
später auf. Kölliker ?) sagt in seiner neuesten vorläufigen Mittheilung aus-
drücklich: „Die erste Spur des Kaninchenembryo erscheint am hinteren
spitzeren Ende des birnförmig gewordenen Fruchthofes in Gestalt einer
rundlichen kleinen Verdickung. Diese bildet sich allmälig, nach vorn
sich ausbreitend, zu einem länglichen Streifen mit einer Rinne, dem
Primitivstreifen und der Primitivrinne um, und vor diesem Streifen er-
scheint dann, wie beim Hühnchen, die Rückenfurche mit den Rückenwülsten.
Die Medullarplatte am Kopfe oder die Anlage des Gehirns erscheint als
eine breite, auch von der Höhe erkennbare sichelförmige Platte mit einer
tiefen schmalen Rinne in der Mitte, die noch als flache Piatte sich gliedert
und verhältnissmässig spät zum Hirnrohre sich schliesst, nachdem schon
lange Urwirbel entstanden sind.“
Es geht hieraus hervor, dass bei den Amniota, wie den Anamnia die |
erste Anlage des Mesoderms am hintern Finde erfolgt, und dass eine Wachs-
thumsrichtung nach vorn hin erkennbar ist, gerade so, wie bei den Naiden
die Kopfzone später auftritt als die Rumpfzone und zum Theil durch Aus-
wachsen des Rumpfnervensystems nach vorn zu gebildet wird; damit ver-
binden sich Neuanlagen vom Ectoderm her, welche einen ursprünglich un-
segmentirten Kopfkeimstreifen (= Kopfplatte) herstellen. |
Ein so scharfer Gegensatz zwischen Kopfitheil und Rumpftheil des \
Keimstreifens, wie ich ihn bei den Anneliden nachgewiesen habe, kommt |
hiernach bei den Wirbelthieren nicht vor, nur die allgemeine Zuwachsrich- |
tung von hinten nach vorn ist durch die eben angeführten Beobachtungen |
auch für die letzteren erwiesen. Aber der scharfe Gegensatz zwischen
Rumpf und Kopf bei den Anneliden wird weniger durch das grosse, beide
trennende Zeitintervall in ihrer Entstehung bezeichnet — denn dies Inter-
vall könnte sich auch verkürzen oder gar verschwinden —, als viel-
mehr dadurch, dass nun die Segmentirung der beiden Abschnitte nicht von
ihrem Berührungspunkte ausgeht, und im Kopftheil von hinten nach
vorn, im Rumpf in umgekehrter Richtung erfolgt; sondern es wird dieser
E ensatz dadurch vor Allem scharf ausgeprägt, dass in beiden ae
die Segmentirung vorn beginnt und nach hinten zu fortschreitet. |
Ganz das Gleiche aber gilt auch für die Wirbelthiere. Es ist eine
bekannte Thatsache, dass der letzte Abschnitt der Gehirnblasen am spä-
1) Götte, Entwicklungsgeschichte der Unke, p. 159 ete.
2) Kölliker, Ueber die erste Entwicklung des Säugethierembryo. Phys. med,
| Verh., 1876, Bd. IX.
Arbeiten aus dem zoolog.-zogtom. Institut in Würzburg. III. 19
276 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
testen auftritt. Nach den Untersuchungen Gegenbaur’s über das Kopf-
skelett der Selachier hat man ein Recht, die Kiemenspalten und -Bögen als
eine Andeutung ursprünglicher Segmentirung des Kopfes anzusehen. Da
| aber die hintersten Kiemenspalten auch immer zuletzt auftreten, so würde
das jüngste diese tragende Kopfsegment auch hier bei den Vertebraten an
das erste Rumpfsegment anstossen. Dieses aber ist ausnahmslos älter, als
das ihm vorangehende jüngste Kopfsegment, in manchen Fällen wohl selbst
älter, als das vorderste Kopfsegment. Bei dem von Balfour !) abgebildeten
Hai-Embryo (spatula-shaped embryo) war die Rückenfurche im Kopftheil
noch richt geschlossen, keine Spur von Augenblasen oder Kiemenspalten
zu entdecken ; im Rumpftheil der Embryos waren aber schon Urwirbel ent- |
wickelt. Ich besitze einen Embryo des gleichen Stadiums, dessen Kopftheil |
noch keine Spur der späteren Gliederung zeigt; in seinem Rumpftheil aber |
sind schon 3—4 Urwirbel deutlich ausgeprägt. Die ebenfalls von Balfour ?) |
gelieferte Ansicht eines etwas älteren Torpedo-Embryos zeigt in der Kopf-
region nur die Augenblase und die erste Kiemenspalte, im Rumpfe dagegen
finden sich schon 17 scharf ausgeprägte Urwirbel. Die noch fehlenden vier
Kiemenspalten folgen nach Balfour in Reihenordnung von vorn nach hinten.
Auch die Angabe Oellacher’s”), dass bei Knochenfischen die Axenplatte am
Kopfende noch mit der Gehirnanlage verwachsen sei, während hinten doch |
schon die Sonderung in Urwirbel begonnen habe, deutet darauf hin, dass
auch bei Knochenfischen die Segmentirung des Kopftheiles des Embryos
später eintrete, als die des Rumpftheiles. Dass aber der Kopf — nicht '
die Schädelhöhle — in seiner ursprünglichen Anlage ein segmentirtes Ge- |
bilde sei, wird jetzt wohl allgemein angenommen; ich weise zum Ueberfluss '
auch noch auf die jüngste Mittheilung Balfour’s hin, welcher angiebt, mit
Wahrscheinlichkeit behaupten zu können, dass in allen Gehirnnerven Theile :
vorkämen, die den hinteren Wurzeln der Spinalnerven ihrer Entstehung
nach zu vergleichen wären.
Es ist dadurch erwiesen, dass das erste Rumpfsegment des Wirbel- |
thierembryos nicht etwa jünger sei, als das anstossende hinterste Kopfseg-
ment, sondern dass es sogar in einzelnen Fällen (Plagiostomen) überhaupt
früher angelegt werde, als selbst das vorderste älteste Kopfsegment.
Hiermit steht eine scheinbar sehr genaue und äusserst bestimmt lau-
tende Angabe *) Götte’s im schärfsten Widerspruch. Er sagt nämlich, dass
) Balfour, Preliminary Account etc., Taf. XIII, Fig. S,
a) yc T XIV, Bir:
8) Oellacher 1. e.
*#) Götte, Unke, p. 202. |
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 977
bei Bombinator die Gliederung der Segmentplatten von einem bestimmten
Punkte aus nach hinten und nach vorn gleichzeitig fortschreite. Ich füge
die einzige hierauf bezügliche Stelle, die ich in seinem Buche habe finden
können, hier wörtlich an „es beginnt ... . die Ausbildung der Segmente
zur Zeit, wenn die Cerebromedullarfurche im Kopftheile entwickelt ist, in
der Gegend des Hinterkopfes, ob aber innerhalb des letzteren oder des an-
srenzenden Rumpftheils vermag ich nicht anzugeben; von dort aus setzt
sich die Theilung nach den beiden Körperenden fort, erreicht aber den
Kopftheil früher, als sie nur in die Nähe des Schwanzendes gerückt ist.“
Hiermit stehen Götte’s eigene Bilder, wie mir scheint, nicht im Einklang.
Aus den Fig. 50—53 (Taf. III) und der dazu gehörigen Tafelerklärung?!)
geht hervor, dass das dritte und vierte, also die hintersten, an das erste
älteste Rumpfsegment anstossenden Kopfsegmente, später entstehen als die
andern zwei davorliegenden; ebenso beweisen seine Abbildungen, dass die
Kiemenbögen später auftreten, als die vor ihnen liegenden Kiefertheile.
Damit stimmt auch die Grösse der Segmente auf dem Durchschnitte (Taf. VI,
Fig. 98, 99), das vorderste, welches nach meiner Anschauung das älteste
ist, ist auch das grösste, das vierte hinterste Kopfsegment das kleinste, wie
nach seinem jüngeren Alter zu erwarten war.
Es zeigen hiernach Kopf und Rumpftheile der Embryonen bei Wirbel-
thieren und Anneliden grosse und allgemein bedeutungsvolle Aehnlichkeiten.
Einer späteren Untersuchung muss es vorbehalten bleiben, zu entscheiden,
ob sich diese Vergleichung auch im Specielleren wird durchführen lassen.
Aber selbst, wenn das nicht möglich sein sollte, bliebe doch immer das
eine Resultat bestehen, dass bei Anneliden, wie bei Wirbelthieren.der Kopf
später auftritt und in seine Segmente zerfällt, als der Rumpf und dass in
beiden Classen das älteste Rumpfsegment hart an das davor eingeschobene
jüngste Kopfsegment anstösst und anstossen muss, weil in beiden Ab-
schnitten die Gliederung am vordersten Ende zuerst beginnt und von da
allmälig nach hinten fortschreitet.
Auch bei der dritten Classe gegliederter Thiere kommen analoge Ver- |
hältnisse vor, aber allerdings scheinen hier die einzelnen Vorgänge in eigen-
thümlicher Weise modifieirt zu sein. Zunächst ist hervorzuheben, dass ein
eigentlicher Schwanz — wie bei Wirbelthieren oder Hirudineen — hier
nirgends existirt; es liegt der After immer im letzten Hinterleibsglied und
mit dem Analganglion hört dem entsprechend auch die Ganglienkette auf.
Dagegen sind Kopf und Rumpf (Thorax und Abdomen) in der weitaus
grössten Zahl der Formen deutlich unterschieden und nur bei den Arachni-
1) Götte l. e. p. 922.
19*
278 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
den und einigen parasitisch lebenden zurückgebildeten Formen mehr oder
minder weit verschmolzen.
Für alle Arthropoden ohne Ausnahme gilt zunächst das Gesetz, dass |
die Vermehrung der Rumpfsegmente nach dem Schema der Anneliden-
segmentirung erfolgt d.h. die letzten Abdominalsegmente werden — in der
Larve oder im Embryo — immer zwischen das Analsegment und das vor-
hergehende jüngste Abdominalsegment eingeschoben. Newport sagt aller-
dings, dass es bei Myriapoden vor dem vorletzten Gliede aufträte; aber |
diese irrthümliche Angabe beruht auf der offenbar falschen Ansicht, dass
' die beiden Analklappen von Julus ein Segment bilden; diese sind sicherlich
nichts anderes, als Anhänge des einfachen Analsegmentes, der Furca der
Cyelopiden entsprechend. In Bezug auf die Vermehrung der Rumpfseg-
mente stimmen also die Gliederfüssler mit den Anneliden und Vertebraten
überein. Ueber die histologischen Vorgänge in dem Keimstreifen, der dabei
nothwendiger Weise auftreten muss und nach Claus auch bei Apus und
Branchipus vorhanden ist, wissen wir leider gar nichts, so dass es völlig
unmöglich ist, aus den vorliegenden Beobachtungen heraus auch die histo-
logische Uebereinstimmung im Aufbau des Keimstreifens und in seiner wei-
teren Gliederung nachzuweisen; wie denn überhaupt Untersuchungen über
die Wachsthumsweise des auswachsenden Hinterendes der Gliederthiere gar |
nicht vorliegen. |
Zahlreicher sind die Angaben über die Entstehung des Kopfes und
seiner Anhänge; aber die histologischen Verhältnisse finden auch hier so
wenig Berücksichtigung, dass es z. B. für den Augenblick völlig unmöglich
ist, in dieser Beziehung ohne erneute Untersuchungen zu einem Verständ-
niss zu gelangen. Selbst die Schilderungen der Segmentfolge im Kopf ge-
statten für den Augenblick keine Verallgemeinerung; es ist daher geboten,
hier die einzelnen Arthropodenclassen gesondert durchzugehen, um zu sehen,
ob nicht doch schon ähnliche Gegensätze der primären Anlage von Kopf
und Rumpf zu erkennen sein würden, wie sie bei Anneliden und Wirbel- |
thieren so auf der Hand liegen.
Bei den Myriapoden scheint nach Newport !) und Fabre ?) das oben von
mir festgestellte Gesetz des Gegensatzes von Kopf und Rumpf nicht eingehal-
ten zu werden. Nach ihnen bilden sich die ersten sieben Körpersegmente
im Embryo gleichzeitig mit dem Kopf; das zweite, dritte und fünfte tragen
die ersten drei Fusspaare und die darauffolgenden, dem sechsten und sieben-
!) Newport, On the Organs of Reproduction and tne Development of Myria-
poda. Philosoph. Trans. 1841.
2) Fabre, Recherches s. ’ Anatomie d Organes Reproducteurs et s. 1. Developpe-
ment d. Myriapodes, Ann. d. Sc. N. 4. Ser., T. III, 1855.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 979
ten Glied angehörigen Füsse entwickeln sich erst später. Zwischen das
siebente und das Analsegment schiebt sich das ungegliederte „germinal
space“ Newport’s ein, aus welchem successive von vorn nach hinten während
des freien Larvenlebens neue Segmente gebildet werden. Hier scheint also
das Kopfglied das erste und älteste Glied in der Reihe zu bilden, und nir-
sends eine derartige Unterbrechung der Reihenfolge vorzukommen, dass ein
jüngstes Kopfglied an das älteste Rumpfglied anstiesse. Das ist aber viel-
leicht doch nur Schein. Ueber die eigentlich embryonalen Vorgänge —
Entstehung des Keimstreifens und seine Gliederung — geben uns Newport
und Fabre keinen Aufschluss; ebensowenig erfahren wir durch sie, wie die
Mundtheile entstehen und ob doch vielleicht der Kopf durch Vereinigung
mehrerer in der Anlage getrennter Segmente gebildet werde. Dagegen folgt
aus den Beobachtungen Metschnikofl’s!) über Geophilus, dass bei diesem |
Chilopoden die Kieferfüsse sich erst ausbilden, wenn der Rumpf bereits |
mehr als 18 fusstragende Segmente besitzt. Allerdings sagt er nichts |
Genaueres über die Reihenfolge: wenn wir aber annehmen — wozu wir
berechtist sind —, dass auch die Kopfglieder von vorn nach hinten auf-
treten, so würde durch die angezogene Beobachtung wenigstens für eine
Myriapodengattung bewiesen sein, dass auch hier das letzte jüngste Kopfglied
an das älteste erste Rumpfglied anstösst. Dann auch wäre die Deutung des
scheinbar abweichenden Verhaltens der übrigen Myriapoden leicht; auch bei
diesen würde vermuthlich das ursprünglich einfache, ungegliederte Kopf-
segment erst dann sich gliedern und seine Extremitäten (Kaufüsse) ent-
wickeln, wenn bereits die ersten Rumpffüsse (die drei Thoracalfüsse) längst
angelest worden sind.
Ein wesentlicher Unterschied aber bliebe auch dann noch zwischen
Myriapoden und den Naiden bestehen: das Zeitintervall, welches die erste
Anlage des Rumpfes von der des Kopfes trennt, würde hier ganz ungemein
klein sein müssen (während es bei den Anneliden sehr gross ist); denn der
Kopf erhält seine Antenne, also das erste Segment, wohl gleichzeitig oder
fast gleichzeitig mit der Ausbildung der drei Thoraxfüsse, Ja, es wäre
selbst nicht unmöglich, dass die primäre ungegliederte Anlage des Kopf-
keimstreifens so früh erfolgte, dass eine Segmentirung des Rumpfkeimstrei-
fens vor der des Kopfes noch nicht begonnen haben könnte; in solchem
Falle wäre dann der Nachweis typischer Uebereinstimmung nur zu liefern,
indem man zeigte, dass der Bauchkeimstreifen zuerst im Rumpftheile, und
etwas später erst im Kopftheile angelegt werde — ähnlich wie Kölliker
bewiesen hat, dass auch beim Hühnchen die erste Anlage des Keimstreifens
‘) Metschnikoff, Embryologisches über Geophilus. Z. f. w. Z., 1875. Bd. 25.
280 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
im hinteren Theile der Embryonalanlage erfolgt. Durch diese Verwischung
des Zeitintervalls im Auftreten von Kopf und Rumpf würden sich dann die
Myriapoden aufs Engste an die Wirbelthiere anschliessen — woraus aber
natürlich keine nähere Verwandtschaft beider Thiergruppen gefolgert werden
dürfte.
| Auch bei den Insecten treten nach den bisher vorliegenden Unter-
suchungen Kopf und Rumpf fast oder ganz gleichzeitig auf, so dass auch
hier das zwischen beiden liegende Zeitintervall sicherlich sehr klein sein
muss, wenn es überhaupt vorhanden ist. Hier ist aber doch schon der Be-
weis zu führen, dass mitunter Kopf und Rumpf (Thorax) zwei zeitlich ge-
trennte Anlagen sind; denn es werden nicht alle Kopfsesmente früher an-
gelest, als die ersten des Rumpfes, sondern die Kaufüsse schieben sich
mitunter zwischen diese und die ältesten vorderen Kopfsesmente gerade so
ein, wie die kiementragenden Kopfelieder einer Terebella zwischen das
Kopfsinnessegment und das älteste vorderste Rumpfsegment. Es ist also
auch bei diesen Thieren das letzte Kopfsegment jünger als die ersten Tiho-
racalsegmente, genau wie bei Anneliden, oder wie bei Geophilus unter den
Myriapoden.
Es würde zu sehr ins Detail führen, wollte ich alle einschlägigen Be-
obachtungen einzeln anführen; einige wenige werden genügen, da sie ganz
naiv gemacht worden sind, und auch nicht einer theoretischen Ansicht zu
Liebe besonders hervorgesucht wurden. Leuckart !) giebt z. B. an, dass
bei den Pupiparen embryonale Theile im Kopf übrig bleiben und dass die
Rumpfsegmente zuerst vollständig ausgebildet werden. Viel bestimmter und
präciser lauten schon die Angaben von Brandt?); er sagt ausdrücklich:
„Es treten am bandförmigen Theile der Embryonalanlage sechs Paar Höcker
auf; und zwar entstehen die drei hinteren Paare früher, als die drei vor-
deren. Die Höcker wachsen ziemlich rasch in die Länge, jedoch durchaus
nicht gleichmässig; vielmehr verlängern sich die drei hinteren Paare be-
deutender, als die drei vorderen. Die hinteren sind die drei Thoraxfüsse,
die vorderen die drei Kaufüsse.*“ Ganin?) sagt in der schon mehrfach eitir-
ten Arbeit über Platygaster: „Die Bildung des Keimstreifens fängt zuerst
in dem Abdominaltheile des Larvenkörpers an und setzt sich dann in den
Kopftheil weiter fort.“ Diese Beobachtung scheint mir desshalb von Be-
deutung, weil der hier erwähnte Keimstreif, durch dessen Umbildung die
*) Leuckart, Die Fortpflanzung und die Entwickelung der Pupiparen. Abhandl,
d. naturf. Ges. in Halle, 1358, p. 71, 80.
?2) A. Brandt, Beiträge zur Entwickelungsgeschichte der Libelluliden und He-
mipteren. Mem. d. l’Acad. d. St. Petersbourg, VII. Ser, T. XIII, 1869, p. 6.
3?) Ganin, Z. f. w. Z., 1869, Bd. 19, p. 401.
€
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 281
Mehrzahl der Organe der zweiten Larvenform von Platygaster neu entstehen,
innerhalb iner echten Larve auftritt und zu dieser in derselben Beziehung
steht, wie der Keimstreif einer Tochternaide zu dem Segment der Mutter-
naide, in welches er von aussen her einwuchert. Leider ist aus Ganin’s
Arbeit nicht ersichtlich, ob überhaupt eine Scheidung zwischen Kopf und
Rumpfeliedern möglich ist und welche derselben die ältesten sind. Aber
aus seiner bestimmt lautenden Angabe, dass der Keimstreif zuerst hinten
auftrete und erst später sich in den Kopf hinein verlängere, können wir,
unter Berücksichtigung der bekannten Verhältnisse bei Anneliden, schliessen,
dass auch die Segmentirung im Rumpftheil der zweiten Platygasterlarve
früher auftrete als im Kopftheil. Doch ist auch hier, wie bei allen Insecten,
das beide trennende Zeitintervall ungemein klein. Nach Zaddach !) könnte
es scheinen, als ob bei den Phryganiden sämmtliche Kopfsegmente früher
entstünden, als die ersten Thoraxsegmente; doch lässt sich auch aus seinen
Angaben folgern, dass der Kopftheil des noch ungegliederten Keimstreifens
später auftritt, als der Rumpftheil und es scheint sogar nach seinen Ab-
bildungen, als ob auch die drei Thoraxglieder früher vollständig ausgebildet
würden, als die drei Kopfglieder. Die Untersuchungen Herold’s?) endlich
zeigen sehr deutlich, dass bei Lygaeus das Hinterende des Keimstreifens
zuerst angelegt wird.
Die hier angeführten Beobachtungen machen es so zum Mindesten
wahrscheinlich, dass auch bei den Insecten dasselbe Gesetz in der zeitlichen
Folge der Rumpf- und Kopfsegmente festgehalten, dabei freilich auch das
Zeitintervall, welches beide von einander trennt, ungemein verkleinert wird.
So wird der Schein erweckt, als entstünden die einzelnen Segmente in ihrer
Reihenfolge auch zeitlich hintereinander.
Unter den Arachniden liefert Chelifer nach Metschnikoff’s?) Angaben
den Beweis, dass hier der Gegensatz im zeitlichen Auftreten der Rumpf-
und Kopfsegmente wenigstens angedeutet ist; denn er erwähnt ausdrücklich
— ohne freilich die allgemeine Bedeutung dieses Verhältnisses hervor-
zuheben —, dass die Mandibel (Kieferfüsse) erst spät auftreten, wenn sich
bereits vier Thoraxfüsse gebildet haben; es schieben sich also hier, wie bei
Anneliden, zwei jüngere Gliedmassen zwischen die ältere Stirn und die
ersten Thoraxfüsse ein. Dies aber lässt voraussetzen, dass auch die Glie-
t) Zaddach, Untersuchungen über die Entwickelung u. d. Bau d. Gliederthiere.
I. Heft: D. Entwickelung d. Phryganiden-Eies. Berlin, Georg Reimer, 1854.
2) Herold, Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der wirbellosen Thiere
im Ei. II. Lief., 1876. I. Die Feuerwanze, Taf. I, Fig, 1--3.
3) Metschnikoff, Entwicklungsgeschichte des Chelifer. Z, £ w. Z., Bd. 21, 1871,
p. 513, T. XXXVDOI, XXxXX.
232 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
derung der örpersegmente in der gleichen Zeitfolge eintrete; wenigstens
haben wir einstweilen das Recht dazu, da gar keine eingehenden Beobach-
tungen über die Entstehung der Ursegmente vorliegen und man sich allge-
mein gewöhnt hat, die Zeitfolge derselben bei den Arthropoden aus der
« Folge der den Segmenten angehörenden Gliedmassenpaare zu erschliessen. ,
Dies Kennzeichen führt wohl auch in den meisten Fällen nicht zu sehr in
die Irre; fast werthlos scheint es dagegen zu sein, wo die erste Larvenform
schon Gliedmassen trägt, wie bei den Crustaceen. |
Bei diesen kennt man einige Fälle (Decapoden ganz besonders), in denen
die letzten Kaufüsse später auftreten, als die ersten Thoraxfüsse,; Fritz
Müller betont in seinem bekannten Schriftchen das Einschieben neuer Seg-
mente des Mittelleibes zwischen Kopf und Hinterleib. In anderen Fällen
aber scheint ein Einschieben neuer Glieder nicht einzutreten, vielmehr wird.
für Copepoden, Squilliden etc. angegeben, dass die Gliedmassen und somit
wohl auch die Körpersegmente der Reihe nach vom ersten anfangend bis
zum letzten entstünden. Dann würde also das erste Rumpfsegment jünger
sein als das letzte Kopfsegment.
Ich kann indessen diesen negativen Beobachtungen in keiner Weise
Beweiskraft zuerkennen. Sie sind einmal nicht in der richtigen Weise ge-
wonnen; in keinem einzigen Falle liegen genaue Angaben über die erste
Entstehung des Keimstreifens und seine Segmentirung vor; man hat aus-
nahmslos auf diese geschlossen nach dem Anblick des unversehrten leben-
den Thieres und der Zeit des Auftretens der Gliedmassen nach. Man hat
sich zweitens nie die Frage vorgelegt, ob denn nicht doch der Kopf später
entstünde, als der Rumpftheil des Keimstreifens und nur die Gliederung
d. h. das Hervortreiben von Gliedmassen an jenem früher begönne;
gerade so, wie auch bei Wirbelthieren die ersten Kopfsegmente gar nicht
später aufzutreten brauchten, als die vorderen Rumpfsegmente, da sich ja
hier die ungegliederte Kopfanlage früher ausbildet, als die Segmentirung
des Rumpfes beginnt. Diese eminent histologische Frage ist von den eigent-
lichen Careinologen, vor Allem von Claus, in der denkbar ungünstigsten
Weise in Angriff genommen worden; und ehe nicht die im Keimstreifen
eintretenden histologischen Vorgänge nach den allein richtigen Methoden
histologischer Forschung untersucht worden sind, kann ich die scheinbar
bei den Crustaceen eintretende Umkehrung in der Wachsthumsfolge der
Körpersegmente weder als bewiesen, noch als etwas beweisend ansehen.
Es wäre endlich drittens mit meiner Anschauung über den Gegensatz des
Kopfes und Rumpfes doch sehr gut vereinbar, anzunehmen, dass das Inter-
vall, welches beide trennen sollte, gänzlich verschwunden sei und in Folge
davon auch scheinbar eine ganz gleichmässig zeitliche Reihenfolge der Seg-
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SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 283
mente von vorn bis hinten eingetreten wäre. Schon bei den Anneliden ist
die Tendenz unverkennbar, den Kopf früher zu vollenden, als eigentlich
sein sollte d. h. während bei einigen Formen (Terebella z. B.) die Ausbil-
dung des eigentlichen Kopfes so viel Zeit in Anspruch nimmt, dass der
Rumpf Zeit findet, mehr als 40 Segmente zu produciren, ist schon bei den
Blutegeln, noch mehr bei den Regenwürmern der Kopf dem Rumpf gegen-
über bevorzugt. Bei den Wirbelthieren ist dies noch viel entschiedener
der Fall; trotzdem ist das älteste Segment bei ihnen das erste Rumpf-
segment. Denkt man sich die so hervortretende Bevorzugung des Kopfes
immer schärfer ausgeprägt, so ist schliesslich sogar die Herstellung einer
sanz gleichmässigen zeitlichen Reihenfolge der Segmente eine Forderung
meiner Anschauung. Wesentlich complieirter wird endlich die Frage da-
durch, dass die wohl ausnahmslos als unsegmentirt angenommene primäre
Crustaceenlarve (Nauplius) gleich von Anfang an Extremitäten trägt, welche
in die des erwachsenen und durch einen gegliederten Keimstreif sich ent-
wickelnden Thieres übergehen sollen. In wie weit die Angabe, dass die
ersten drei Naupliusgliedmassen den Antennen und Mandibeln des erwach-
senen Thieres ausnahmslos entsprechen sollen (Claus!) etc.), richtig sei,
habe ich nicht die Mittel, jetzt schon zu untersuchen. In vielen Fällen ist
an der Richtigkeit dieser Annahme wohl kaum zu zweifeln. Aber ohne die
genaueste Kenntniss von der Entwickelung des Keimstreifens, ganz beson-
ders des Kopfkeimstreifens — über den wir bei Claus auch nicht eine
einzige brauchbare Beobachtung finden — ist diese Thatsache, weil unver-
ständlich, gar nicht zu verwerthen.
Es versteht sich von selbst, dass ohne erneute, auf den hervorgeho-
benen Gegensatz im zeitlichen Auftreten von Rumpf und Kopf besonders
gerichtete Untersuchungen der eben gemachte Versuch zur Begründung einer
allgemeinen Homologie zwischen Kopf und Rumpf bei Wirbelthieren, Ar-
thropoden und Anneliden an bedeutenden Mängeln leiden muss. Auch kann
man früheren Beobachtern — wie das in solchen Fällen von gewisser Seite
her kurzsichtig genug geschieht — keinen Vorwurf daraus machen, dass
sie im Verfolgen ihrer eigenen Ideen, bei der Ausarbeitung ihres besonderen
1) Herr Claus wird mir hier gestatten, seine Angaben gerade so gut mit einem
„sollen“ zu begleiten, wie er sich seit Jahren bemüht, die meinigen durch dies Wort
und selbst durch Fragezeichen oder andere hämische Wendungen dem Publicum
seines Lehrbuches als fraglich zu bezeichnen. Ich möchte ihn zugleich auffordern,
der geschichtlichen Wahrheit ein wenig treuer zu bleiben, als er es mir gegenüber
in Bezug auf die Vergleichung der Anneliden mit den Wirbelthieren und die Ent-
deckung der Segmentalorgane bei den Haien, wohl aus Unkenntniss meiner eins
schlägigen Arbeiten thut (s. Zoologie, dritte Aufl., zweiter Bd., Wirbelthiere).
284 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
Systems der Vergleichung nicht Beobachtungen lieferten, welche zugleich
zur Durchführung einer völlig veränderten Auffassung ausreichten. Immer-
hin aber kann doch soviel aus den angeführten Beobachtungen als ziemlich
sicher und durchgreifend erschlossen werden, dass bei den Arthropoden so
gut, wie bei den Vertebraten der Rumpf der Regel nach früher auftritt,
als der Kopf, dass beide Abschnitte sich von vorn nach hinten segmen-
tiren, und dass dabei auch das jüngste Kopfsegment an ein älteres (erstes)
Rumpfsegment anstossen muss. Am schärfsten ist dieser Typus bei den
Anneliden ausgeprägt; denn sowohl bei den durch Knospung, wie bei den
aus dem Ei entstandenen Zooiden hat die Zahl der Rumpfsegmente eine be-
deutende Höhe erreicht, ehe sich der Kopf in alle seine Ursegmente ge-
gliedert hat. Verwischt wird derselbe aber auch schon bei den Blutegeln
unter den Anneliden — wenigstens nach den vorliegenden Untersuchungen
zu schliessen —, vielleicht auch bei Lumbricus; bei Wirbelthieren und Ar-
thropoden wird das zeitliche Intervall oft so klein, dass es nur noch
schwer zu erkennen ist. Aber es lässt sich dennoch auch hier nachweisen,
und wo dies jetzt noch nicht gelingt, dürfte es wohl nur an dem ungenü-
genden Beobachtungsmaterial liegen.
Das hier formulirte Gesetz der Gliederung von Kopf und Rumpf bei
den gegliederten Thierclassen wird die sicherste Basis abgeben können für
den Versuch, auch speciellere Homologieen beider Abschnitte aufzudecken
und die Wirbeltheorie des Kopfes der Vertebraten durch eine Vergleichung
mit der Segmentation des Kopfes der Anneliden und Arthropoden sicherer
zu begründen, als dies bisher möglich war. Ich werde in dieser Meinung
bestärkt durch die Thatsache, dass die Zahl der Rumpfsegmente bei allen
segliederten Thierclassen ungemein variabel und oft sehr gross, die Menge
der Kopfsegmente aber meistens sehr klein ist, nemlich 4—7. Eine Aus-
nahme hiervon machen vielleicht einige Anneliden, ferner die Cyelostomen
und zwei Thierformen, die ich als Uebergangsglieder zwischen den jetzt
lebenden echten gegliederten Thieren, deren gegliederten ausgestorbenen
Urformen und den von diesen abgezweigten kaum mehr gegliederten Thieren
(Aseidien ete.) ansehen muss: Balanoglossus und Amphioxus. Beide!) be-
folgen das Gesetz der Annelidensegmentirung und des Gegensatzes von Kopf
und Rumpf; bei beiden ist die hinterste Kopfkiemenspalte die jüngste und
es ist ferner die Zahl ihrer Kiemenspalten - also der Kopfsegmente —
eine ungemein grosse. Der schroffe Gegensatz von Kopf und Rumpf ist
1) Agassiz, The History of Balanoglossus and Tornaria, Memoirs Amerie.
Academy of Arts and Sciences, 1573, Vol. IX.
Kowalewsky, Entwickelungsgeschichte von Amphioxus.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 9285
hier gemildert, die beiden Abschnitte sind gleichwerthiger, als bei den
‘echten gegliederten Thieren; darin liegt ein primitiver Character, wie man
ihn gerade bei solchen, den Urformen wahrscheinlich am nächsten stehenden
Thieren zu finden erwarten sollte.
Aus demselben Grunde aber müssen wir umgekehrt die Reduction, wie
sie in der Segmentzahl des Kopfes eintritt, als ein Zeichen höherer Aus- |
bildung!) ansehen, insofern dadurch der früher nur schwach angedeutete |
Gegensatz zwischen Kopf und Rumpf stärker ausgebildet und jeder der
beiden Abschnitte nach dem Prineip der Arbeitstheilung zur Ausübung
seiner besonderen Leistungen besser befähigt wird. Wir können dem ent-
sprechend auch erwarten, dass bei den niedriger stehenden Formen der
Gegensatz weniger scharf ausgeprägt sein werde d. h. wir müssen für diesen |
Fall voraussetzen, dass je tiefer eine Thiergruppe steht, die Zahl ihrer |
Kopfsegmente grösser und variabler sei. Das so formulirte Prineip der
Kopftheorie der gegliederten Thiere erhält durch die Thatsachen seine Be-
stätigung. Unter den Wirbelthieren finden wir nur bei der niedrigsten |
Classe eine grössere Zahl von Kopfsegmenten (sieben bei Plagiostomen, bei |
den Cyclostomen wahrscheinlich noch mehr); für die übrigen Vertebraten
von den Amphibien an scheint der Kopf wohl immer oder doch meistens
vier Segmente zu besitzen (Götte, Dursy). Unter den Gliederfüsslern sind
es wieder die Crustaceen, welche sich durch die überhaupt grössere Zahl
und die bedeutendere Variabilität ihrer Kopfsegmente auszeichnen, während
bei den höchst entwickelten Arthropoden, den Insecten, der Kopf durch-
gängig vier Segmente besitzt. Bei den Anneliden lässt sich allerdings einst- |
weilen nicht viel Sicheres sagen, denn die bisher geübte Unterscheidung von
- Kopf und Körper ruht auf zu unsicherer willkürlich gewählter Basis.
Doch ist es nicht unwahrscheinlich, dass hier neben sehr starken Reduc-
tionen in der Zahl (Blutegel, Regenwurm?) doch auch recht zahlreiche
Kopfsesmente z. B. bei den Serpuliden vorkommen mögen. Schliesst man
den Anneliden, wie ich es thue, die Enteropneusti (Balanoglossus) an, so
wird die Menge der Kopfsegmente hier die überhaupt grösste, da man be-
rechtigt ist, sie nach der Zahl der Kiemenspalten zu bestimmen. Während
ferner die höchsten Wirbelthiere und Arthropoden eine grosse Constanz
ihrer Kopfsegmentzahl aufweisen, zeigen — dem allgemeinen Prineip ent-
sprechend — die Anneliden auch hierin eine grosse Variabilität. Denn bei
den Naiden schwankt die Zahl der Kopfsegmente zwischen drei und sechs
(sieben ?), obgleich sie sicherlich mit zu den höchststehenden Anneliden ge-
!) Dies ist nicht mit dem ganz metaphysischen Begriff der „Cephalization‘“ bei
Dana zu verwechseln,
9286 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
hören; ja es scheint sogar, als ob die Zahl der Kopfsegmente nicht einmal
für die Individuen derselben Art ganz constant sei. Denn Ray Lankester 1)
giebt an, dass die englischen Naiden ausnahmslos fünf Paar Bauchborsten
am Kopfe besässen — abgesehen von den Genitalborsten —, denen keine
Rückenborsten entsprächen; da nun alle Rumpfsegmente Rückenborsten
haben, und Lankester dieselben Arten für England anführt, die hier in
Deutschland ausnahmslos vier Kopfsegmente besitzen; so würde, wenn sich
die Richtigkeit der Lankester’schen Artbestimmung und Beobachtung er-
weisen sollte, hiedurch der Beweis geliefert sein, dass dieselbe Nais hier
in Deutschland vier, in England aber fünf Kopfsegmente besässe. Dies
klingt unglaublich; wenn man indessen bedenkt, dass ich noch viel stärkere
Variationen in der Zahl der Rumpfsegmente bei Chaetogaster diaphanus
nachgewiesen habe — je nachdem die Exemplare in Kissingen oder hier in
Würzburg oder zu verschiedenen Jahreszeiten gefangen worden waren —,
so kann man die Möglichkeit ähnlicher Abweichungen in der Zahl der
Kopfsegmente nicht von der Hand weisen.
Von der so gegebenen Grundlage aus dürfte es, wie mir scheint, ge-
lingen, die Wirbeltheorie des Schädels als Segmenttheorie des Kopfes auf-
zufassen und von den Wirbelthieren auf die drei gegliederten Thierclassen
auszudehnen. Diese Andeutung weiter auszuführen, scheint mir einstweilen
nicht passend zu sein.
$. 14. Strobilation und Segmentation.
}
In dem vorhergehenden Capitel ist festgestellt" worden, dass bei den
“ drei gegliederten Thierclassen eine doppelte Art der Gliederung des Thier-
körpers in einzelne Abschnitte in durchaus identischer Weise erfolst. Die
Ausbildung der Ursegmente (Urwirbel) beginnt am Rumpftheil, wie am
Kopf zuerst vorne; in beiden Abschnitten ist das hinterste Segment das
jüngste. Die beiden aber — Kopf wie Rumpf — entstehen nicht in glei-
cher Wachsthumsfolge; fast immer tritt der Rumpf früher auf als der
Kopf. Auch die scheinbar von den Arthropoden gelieferte Ausnahme liess
sich in einigen Fällen (Neuropteren) als nicht bestehend nachweisen, in
anderen (Insecten, Myriapoden) doch auf das allgemeine Schema zurück-
führen; denn auch bei diesen schieben sich oft einige und zwar die hin-
tersten Kopfsegmente zwischen die vorderen und das erste, älteste Rumpf-
segment ein.
") Ray Lankester, On distinet larval and sexual forms in the gemmiparous oli-
gochaetous Worms. Ann. Mag. N. H., 1869, Val IV, Ser., pag. 102 etc.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 287
Dieser Gegensatz ist schon vor langer Zeit M. Edwards aufgefallen.
In seinen Beiträgen zur Entwickelungsgeschichte der Anneliden berichtet er
über die Knospung von Myrianida, deren Colonien nach seiner Abbildung
(s. Taf. XV, Fig. 20, copirt nach M. Edw.) mitunter aus sechs Zooiden
bestehen, und dann ungemein an eine Proglottidenbildung erinnern. Aber
er vergleicht nichts desto weniger ein ganzes Thier mit einem einzelnen
Segment, wundert sich über die Umkehrung in der Zeitfolge der ersten
Segmente und der Zooide und sucht diesen Gegensatz auf mir ganz unver-
ständliche Weise zu eliminiren. Es ist überflüssig, hier genauer auf diesen
Versuch einzugehen. Genug, dass M. Edwards den Gegensatz bemerkte, |
der darin besteht, dass bei der Bildung der Segmente eines Wurmes das
hinterste Glied immer auch das jüngste, dagegen bei der Entstehung der
Zooide einer durch Knospung entstandenen Kette d. h. also bei Strobilation
das jüngste Zooid immer das vorderste unter den durch Aufammung ent-
standenen ist.
Dass dieser Gegensatz in der That ein typischer und durchgreifender |
ist, wird eben am Besten durch die knospenden Anneliden bewiesen. An-
genommen, es fände eine Segmentation weder am wachsenden freien After-|
ende, noch in den zwei Abschnitten einer Knospungszone statt und es,
blieben sämmtliche aus dem Vorderthier entspringenden Zooide mit diesem
in Verbindung, so würde das vorderste zu der ganzen Kette anhängender
Zooide (bei Myrianida) genau in demselben Verhältnisse stehen, wie der
Scolex eines Bandwurmes zu der Proglottidenkette (s. Taf. XV, Fig. 14,
17, 20). Hier, wie dort, wäre das hinterste Thier das älteste, das jüngste
aber auch das vorderste der durch Knospung am überhaupt ältesten aus
der primären Larve entstandenen Thiere erzeugten Zooide.. Abwesenheit
oder Vorhandensein des Darmcanals und Afters bedingen keinen Unter-
schied. Ganz das gleiche Verhältniss zeigt jede Strobila eines Bandwurmes
oder eines Polypen (Taf. XV, Fig. 17, 19). Man kann daher jeden für
sich entstehenden Abschnitt einer Naidenkette mit einer Proglottis, die |)
ganze Kette der Proglottidenkette einer Taenie oder einer Strobila ver- |!
gleichen, den hierin ausgeprägten Vorgang aber als Strobilation
bezeichnen.
Diesem aber steht die Segmentation!) der gegliederten Thiere
!) Mit dem starken Betonen des allgemeinen Werthes der Segmentation ist aber
natürlich nicht gesagt — wie vielleicht angenommen werden möchte —, dass nach
meiner Auffassung sie allein den Beweis für die typische Zusammengehörigkeit der
gegliederten Thiere liefern könne. Ich gebe unbedingt zu, dass die segmentale
Gliederung eines Thieres nichts beweist, wenn gezeigt werden kann, dass der Typus
eines solchen mit dem eines andern geliederten Thieres nicht übereinstimmt; aus
288 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
schroff gegenüber; denn bei ihr ist es ausnahmslos das hinterste oder Anal-
segment, aus welchem die erst weiter nach vorn zu sich gliedernde Keim-
anlage zu den Ursegmenten gebildet wird und es ist im schroffsten Gegen-
satz zu der Strobilation das vorderste Glied eines Anneliden-Rumpfes immer
und ausnahmslos das älteste. Man hat allerdings häufig beide Vorgänge
miteinander identificirt und als Metamerenbildung bezeichnet. Will man
dies Wort nur ganz allgemein anwenden, auf die Folge einzelner, mehr
oder minder ähnlicher Abschnitte des Körpers, so ist dagegen natürlich
nichts einzuwenden. Dann aber ist dies Wort eben nur ein Wort. Will
man jedoch, wie das mitunter geschieht, damit sagen, dass die Metameren-
bildung bei den Taenien ein mit der Metamerenbildung bei den Anneliden
identischer Bildungsvorgang neuer Zooide sei, dass also im Grunde ein
Ringelwurm einer Bandwurmkette, ein Segment jenes ersten einer Proglottis
der letzteren morphologisch gleich sei: so hat man damit eben nur be-
wiesen, dass man mit jenem Wort durchaus kein Verständniss der beiden
so grundverschiedenen Vorgänge gewonnen habe. Den Taenien kommt eben
keine Segmentation zu, denn diese ist dadurch bezeichnet, dass das jüngste
Glied immer das hinterste ist; eine wirkliche Segmentation kommt nur kei
‚den drei gegliederten Thierclassen, den Anneliden, Arthropoden und Verte-
braten und dann noch einigen andern, von diesen abgeleiteten, oder zu
ihnen hinführenden, aber nicht mehr so streng gegliederten Thiergruppen
vor. Der Beweis aber, dass beide Vorgänge nicht identisch sind, wird
schlagend dadurch geliefert, dass sie in deutlichster Weise erkennbar bei
verschiedenen Anneliden neben und gleichzeitig mit einander auftreten !).
dieser Ueberzeugung entspringt mein Widerspruch gegen die, übrigens ganz alte*),
Hypothese von den Wurmcolonien der Echinodermen. Hielte ich die Segmentation
allein, oder die Segmentalorgane für beweisend, so würde ich mir nicht weiter
Mühe gegeben haben, Homologien zwischen Wirbelthieren und Anneliden aufzu-
suchen. Das Auffinden zahlreicher, bisher gänzlich unbekannter Aehnlichkeiten und
Identitäten zwischen diesen Thiergruppen zeigt, dass ich Recht hatte, die Segmental-
organe als Wegweiser zu benutzen.
*) Blainville, Considerations s. 1. organes de la generation. Bulletin d. Sciences 1818 p. 155:
„Dans les animaux actinomorphes ou ä& forme radiaire, l’appareil de generation en aussi grand nombre,
qu’il y a d’appendices ou de rayons, est evidemment pair, comme dans les Asteries, les Oursins, les
Meduses, les Polypes möme..... animaux, que l’on peut r&eellement regarder commecom-
poses d’un certain nombre d’autres, qui se sont disposds autour d’un centre.
Freund Vogt wird wohl meinen, dass ich meiner Rolle als Anabaptist treu bleibe.
!) Wollte man, um den Vergleich der Anneliden und Taenien zu retten, diese
umkehren und ihr Vorderende zum Hinterende machen, so wäre das nur ein Wort-
spiel; es würde die Taenienstrobilation dann echte Segmentation, aber die Strobilation
der Anneliden d. h. also das Auftreten verschieden alter nach der entgegengesetzten
Richtung hin wachsender Abschnitte, welche abwechselnd zum Kopf- und Rumpftheil
eines neuen Zooids werden, fehlte dann doch wieder. Die Taenien segmentiren oder
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 289
Die Strobilation tritt dagegen bei den Cestoden, und den Coelenteraten ein, |
und zwar ohne alle Verbindung mit echter Segmentation. Und wenn wir ||
uns nun die Thiere jener ersten Gruppe ansehen, bei welchen Strobilation |
und Segmentation miteinander vereinigt sind, so zeigen sie alle eine weitere
Eigenthümlichkeit; es wird ihre Segmentation ausnahmslos durch einen in
einem ursprünglich ungegliederten Thier (oder Keim) auftretenden Keimstreif
eingeleitet, dessen Entstehung in der Knospe oder am freien Afterende
eine bis ins Einzelne genaue Wiederholung des embryonalen Vorganges
zeist. Umgekehrt bildet sich bei der Strobilation jener andern Gruppe nie
ein Keimstreif aus!) und der neu entstandene, ausschliesslich als Knospe
ohne Keimstreif an der Amme gewachsene Abschnitt (die Proglottis) zeigt
nie die Segmentirung.
Es folgt hieraus, dass die verschiedenen Rumpf- und Kopfzonen einer ||
Naidenkette je einer ungegliederten Proglottis anfänglich zu vergleichen |
sind, und dass die durch den Keimstreif begonnene Ursegmentbildung oder |
Segmentirung als ein zweiter, in dem Proglottis-Aequivalent auftretender |
Bildungsvorgang aufzufässen ist. Die einfache ungegliederte Knospungszone
entspricht somit auch der ungegliederten Wurmlarve, in welcher erst durch
den Keimstreif die Segmentirung eingeleitet wird.
Aber bei den Anneliden bleibt die Strobilation ein hervorstechender,
wenngleich auch nicht mehr in solcher Schärfe ganz constanter Charakter;
schon bei vielen Arten scheint sie auf die Erzeugung zweier Proglottiden :
in einem Keim beschränkt zu sein, und selbst die häufige Kettenbildung
ist, wie es scheint, bei keinem Ringelwurm dauernd, da sie bei Eintritt
der Geschlechtsreife aufzuhören pflegt. Was aber bei allen Gliederthieren
ohne Ausnahme doch an die Proglottidenketten der Bandwürmer erinnert,
das ist die Thatsache, dass jedes Zooid eines Wirbelthieres, Anneliden oder
theilen sich eben nur nach einer Richtung hin, die gegliederten Thiere nach zwei
diametral entgegengesetzten; hier sind immer Kopf und Rumpf vorhanden, und jeder
der beiden Abschnitte gliedert sich selbständig, dort bei Taenia fehlt den Proglotti-
den der Kopf, und sie segmentiren sich nie,
2) Der ältere v. Beneden, welcher, wenn ich nicht irre, zuerst für den bei Band-
würmern und Hydroiden beobachteten Vorgang der Proglottidenbildung das Wort
Strobilation gebraucht, weist ausdrücklich darauf hin, dass das hinterste älteste Glied
nicht eine Knospe, sondern ein Theilstück des Thieres ist (Note s. 1. Strobilation d.
Seyphistomes Ann. d. Sc. N. 1859, 4. Ser. Vol. XI, p. 154). Den als Vorläufer der
Segmentbildung auftretenden Keimstreifen der gegliederten Thiere aber muss man als
innere Knospe auffassen, da in zahlreichen Fällen die Blase, in welcher derselbe
auftritt, ein vollständiges Thier ist (Wurmlarve, Nephelis-Embryo, Pilidium,
Nauplius ete.) und alle Uebergänge zu der ruhenden gänzlich undifferenzirten Keim-
blase erkennen lässt,
290 SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere.
Arthropoden aus zwei Abschnitten besteht — Kopf und Rumpf —, welche
in der Art ihrer Entstehung aus dem ungegliederten Embryo oder Larve
durchaus den Proglottiden gleichen. Wir können also alle gegliederten
Thiere auffassen als entstanden durch Verwachsung zweier Proglottiden,
deren Segmentirung durch einen Keimstreifen eingeleitet wird nach dem
Gesetze der Annelidensegmentirung, von denen aber die vordere Proglottis
(Kopfzone) ganz andere Umbildungen erfährt, als die hintere (Rumpfzone).
Es erscheint mir zweckmässig, die hier formulirte Auffassung -— die
man kurz als Proglottidentheorie der gegliederten Thiere bezeichnen
könnte — durch ein Schema zu versinnlichen. In den auf Taf. XV
gegebenen Bildern entspricht die Fig. 17 einer Taenienkette, Fig. 14 einer
Annelidenkeite (Nais, Myrianida, Syllis ete.). Die einzelnen Abschnitte —
Degmente, wie Proglottiden — sind durch Figuren bezeichnet, welche zwei
gleiche lange, zwei ungleiche kurze Seiten haben; die kürzeste der beiden
letzteren ist immer so gerichtet, dass sie gegen die Ursprungsstätte hinsieht.
Zugleich sind die den ältesten Proglottiden oder Segmenten entsprechenden
Figuren auch immer die grössten, die kleinsten auch die jüngsten. Dies
Schema zeigt ohne Weiteres die Uebereinstimmung in Bezug auf Strobilation
und Segmentation und den scharfen Gegensatz beider Vorgänge. Bei der
Naidenkette (Taf. XV, Fig. 16) spielt das älteste, vorderste Zoojd (A)
dieselbe Rolle für B, B,, B, — A,, A, etec., wie in der Bandwurmkette
der Scolex; nur besteht hier insofern ein Unterschied, als jedes Zooid
einer geschlechtslosen Nais, welches eben durch Aufammung entstanden ist,
auch wieder von Neuem an seinem Hinterende Knospen treiben kann.
Worauf dies beruht, ist in den vorhergehenden Capiteln zur Genüge
erörtert worden. Würde aber diese Fähigkeit der Knospentreibung nur
dem vordersten und ältesten, aus dem Ei entstandenen Zooid zukommen,
so wäre die Uebereinstimmung — abgesehen von der Segmentation der
Proglottiden — mit einer Bandwurmkette vollständig. Dies scheint nun im
der That bei einigen knospenden Anneliden einzutreten, bei denen Ge-
schlechtsstoffe nie in dem vordersten, als Amme für die ganze Kette
fungirenden Zooil (Myrianida, Taf. XV, Fig. 14, 20), sondern immer nur
In den aufgeammten Zooiden zur Ausbildung kommen und zweitens auch
bei Nais proboscidea. Bei Nais und Chaetogaster dagegen treten Ge-
schlechtsdrüsen sowohl in den hinteren Kopfsegmenten, wie in den
vorderen Rumpfsegmenten auf, und hier ist es nach meinen gewöhnlichen
Erfahrungen immer das erste, älteste Zooid, welches geschlechtlich wird,
während es gleichzeitig am Hinterende noch Knospen zu treiben vermag.
Ein wesentlicher Unterschied besteht indessen zwischen den nur aus
zwei Proglottiden bestehenden Ketten eines Wirbelthiers, Gliederfüsslers
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 291
oder eines nicht durch Knospung sich vermehrenden Ringelwurms, und
einer Nais oder Taenien-Strobila. Im letzteren Falle sitzt die Kette junger
Zooide äusserlich an dem als Amme fungirenden Kopf oder Thier; dort
entsteht der Keimstreif, dessen zwei Hauptabtheilungen ich als Proglottiden
auffasse, innerhalb einer Larve oder einer Keimblase. Dieser Unterschied
hebt indessen, wie mir scheint, die doch vorhandene Aehnlichkeit nicht auf;
denn er ist nur ein gradueller. Bei Coelenteraten können Knospen an
durchaus verschiedenen Körperstellen auftreten, doch aber sich in ganz
gleich gestaltete Zooide umwandeln, bei den Platyelmia treten bald nur
äussere Knospen (Taenien), bald nur innere (Trematoden) auf; trotzdem
stellt man die einander sonst entsprechenden Zooide gleich, so z. B. ein
Distomum der reifen Proglottis eines Bandwurms, obgleich die eine als
äussere, die andere als innere Knospe gebildet wurde. Es kann also auch
für die gegliederten Thiere keine Schwierigkeit bestehen, die beiden in
einer Keimblase entstehenden Haupt- Abschnitte des Keimstreifens mit den
beiden eines neuen Naiden-Zooids zu identifieiren, d. h. natürlich nur der
Art des Auftretens nach. Diese aber ist durch das Wort Strobilation, hin-
reichend bezeichnet. Bei den Cestoden und Trematoden aber tritt eben
nur die (äussere oder innere) Strobilation, nie aber die eigentliche Seg-
mentation auf; es giebt weder segmentirte Bandwurmglieder, noch seg-
mentirte Trematoden oder Trematodenlarven. Bei keinem Plattwurm
(Cestode, Trematode oder Turbellarie) findet eine echte, von vorn nach
hinten fortschreitende Segmentation !) statt. Diese aber ist — neben der
mehr oder minder deutlich ausgeprägten Strobilation — ungemein charak-
teristisch für alle gegliederten Thierformen, und sie wird dies vor Allem
dadurch, dass sie — abgesehen von einigen abweichenden und wohl rück-
gebildeten Formen — meistens mit dem durch die Strobilation bedingten
Gegensatz von Kopf und Rumpf verbunden ist. Selbst die wohl sicher bei
Inseeten in der Zeitfolge der einzelnen Segmente eintretende Verwischung
dieses Typus kann ihn als solchen doch nicht aufheben; denn es war auch
dann immer möglich, zu zeigen, dass der ungegliederte Keimstreif des
Rumpfes immer früher auftritt, als der des Kopfes, und dass somit die
scheinbar gleichmässige Reihenfolge der Segmente vom ersten Kopfsegment
bis zum hintersten Schwanzglied nur darauf beruht, dass die Segmentirung
des eigentlich jüngeren Kopftheils früher vollendet wird, als die des ursprüng-
2) Manche Rhabdocoelen sollen sich durch Theilung vermehren. Streng genommen
ist das nicht richtig; so finde ich bei Microstomum (zwei Arten) sowohl Andeutungen
eines Keimstreifens, wie von Segmentation. Die Art indessen, wie beide auftreten,
ist so sehr von derjenigen der typisch gegliederten Thiere verschieden, dass ich hier
nicht näher darauf eingehen kann. Weiter unten werde ich dazu Gelegenheit finden.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. IH. 20
292 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
lich älteren Rumpftheils beginnt. Die Strobilation ist also auch in solchen
Fällen noch vorhanden; aber sie tritt nicht mehr so hervor, wie in den
typisch ausgebildeten Fällen, in welchen der schon anfänglich durch die
primäre Anlage und Wachsthumsrichtung des Keimstreifens bedingte Gegen-
satz noch schärfer hervorgehoben wird durch die in jedem Abschnitt (Kopf
und Rumpf) für sich auftretende Segmentation und durch die scharfe Aus-
prägung der Strobilation.
Ich halte es nicht für überflüssig, hier mich gegen eine Unterstellung
zu verwahren, die man mir wahrscheinlich unter Hinweis auf die Be-
nutzung des Wortes „Proglottis“ machen wird: dass ich in ganz unberech-
tigter Weise Thiere mit Leibeshöhle, Nervensystem etc. mit solchen, welche
derselben entbehren, direct verglichen habe. ” Ich könnte einmal darauf
hindeuten, dass man ein Distomum mit einer Taenien-Proglottis morpho-
logisch identificirt, obgleich jenes viele Organe besitzt, welche dieser fehlen,
Ich thue dies indessen nicht, weil es mir, wenigstens in diesem Abschnitt,
gar nicht darauf ankommt, meine früher gegebenen Andeutungen über die
ungegliederte Urform aller Metazoen weiter auszuführen. Durch die Be-
nutzung jenes Wortes, welches in ganz bestimmtem morphologischen Sinne
gebraucht wird, wollte ich eben nur den Gegensatz scharf bezeichnen, wie
er bei allen gegliederten Thieren in gleicher Art zwischen der Entstehungs-
weise der zwei Hauptabschnitte eines geschlechtlichen Zooids und der
Gliederungsweise jedes dieser beiden Abschnitte besteht. Dieser Gegen-
satz aber ist bei Wirbelthieren, Gliederfüsslern und Anneliden gleich scharf
ausgesprochen; ihn nicht sehen wollen, heisst sich absichtlich blenden.
Aus gewissen Gründen halte ich es ferner für nutzlos, jetzt schon auf
die Sipunculiden, Nematoden, Echinodermen und andere Thiere einzugehen;
denn ich habe mir einstweilen nur die Aufgabe gestellt, die drei scharf
Ze
gegliederten Thierclassen auf ihre Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten zu
prüfen. Die dabei gewonnenen Resultate können in keiner Weise modifieirt
werden durch den etwa zu machenden Einwand, dass doch bei anderen
Würmern, als den Anneliden, eben nur ein Gehirn. bekannt sei, welches
man desshalb auch nur dem Gehirn der Wirbelthiere vergleichen könne.
Ich will einmal annehmen, es sei dies richtig; was wird dadurch bewiesen ?
Doch nur, dass bei diesen Würmern ein grosser Theil des sonst bei Wirbel-
thieren und allen Gliederthieren vorkommenden Nervensystems nicht zur |
vollen Ausbildung gekommen sei, aber doch wahrlich nicht, dass nun das
dorsale Schlundganglion der Anneliden auch allein dem Gehirn und Rücken-
mark der Vertebraten zu vergleichen wäre. Es mag also die Antwort auf
die eben als Einwurf gestellte Frage — und andere ähnlich leichten
Schlages — so oder so ausfallen: die einmal zwischen den drei gegliederten
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 293
Thiercelassen aufgefundenen Aehnlichkeiten und die durch sie begründeten
Homologien können in keiner Weise angefochten werden durch den billigen
Einwand, dass damit noch keine Homologien zwischen gegliederten und un-
gegliederten Thieren aufgestellt worden seien. Meine Aufgabe war zunächst,
für jene gegliederten Thiere Homologien zu finden; ich glaube sie gelöst
zu haben. Ist damit aber irgend etwas darüber entschieden, welcher Art
nun die Homologien zwischen ihnen und den ungegliederten Thieren sein
müssten? Ich denke, nein.
Die gleichen Bemerkungen gelten auch in Hinblick auf eine an die
obige Erörterung sich anknüpfende Frage: ob denn die Aehnlichkeit, welche
so klar bei Wirbelthieren, Anneliden und Arthropoden in der Strobilation
und Segmentation ausgesprochen ist, sich auch noch weiter zurück verfolgen
lässt, wenn man die Theile ins Auge fasst, in oder aus denen auf jenem ,
doppelten Wege die aus Kopf und Rumpf bestehenden Zooide entstehen.
Wir hatten gesehen, dass nicht blos die Vorgänge der Gliederfolge, sondern
auch die Keimblätterbildung, Entstehung des Nervensystems, der Muskulatur,
des Kopfdarms ete. typisch gleich sind bei den drei Gliederthierclassen.
Dennoch scheint in den ersten Embryonalstadien bei ihnen ein sehr grosser
Unterschied obzuwalten, der aber doch, wie ich glaube, ziemlich leicht als
nur scheinbar erwiesen werden kann.
Keimblase eines Säugethiers, Nauplius eines Cyclops und eine telotroche
Larve eines Anneliden miteinander morphologisch gleichstellen zu wollen,
möchte Manchen gewagt erscheinen. Wenn man sich indessen ihr Ver-
hältniss zu den in und an ihnen stattfindenden Umbildungen vergegenwärtigt,
so wird man, denke ich, mir Recht geben, wenn ich sage, dass alle diese
genannten Theile, kurz die ungegliederte Keimblase sich in allen drei Thier-
elassen gleichartig zu den Embryonalanlagen des einzelnen Thieres verhält;
auch ist der gleiche Gedanke schon mehrfach, so z. B. von Leuckart
(Parasiten), von M. Edwards u. A. ausgesprochen worden. Es ist nicht
zu läugnen, dass die Keimblase der Wirbelthiere (mit und ohne Dotter)
keine besonderen Organe enthält, wie doch der Nauplius oder die Wurm-
larve. Aber dies hängt offenbar mit der besondern Art der Umbildung
jener Keimblase zusammen; sie ist eben ein Organ für die Bildung des
Embryos geworden, da es weder, wie jene Larven, sich vollständig zu be-
wegen oder zum Ersatz der mangelnden Reservenährstoffe (Dotter etc.)
Nahrung zu suchen hat. Auch findet Niemand eine Schwierigkeit darin,
die wimpernde Larve des Amphioxus der Keimblase der Wirbelthiere zu
vergleichen, obgleich die Verschiedenheit zwischen beiden genau dieselbe
ist, wie sie etwa zwischen Nauplius und Keimblase besteht.
Auch Nauplius und Wurmlarve sind nach ihren Organen recht sehr
20 *
294 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
verschieden, das leidet keinen Zweifel. Es fragt sich indessen, ob diese
Gegensätze nicht doch einmal versöhnt werden mögen. Aber für die hier
allein ventilirte Frage ist es ziemlich gleichgültig, ob der Nachweis gelingen
dürfte, die Krebslarve auf eine Wurmlarve zu reduciren oder ob nicht;
wesentlich ist nur, dass wohl nie die primäre Larve!) (Nauplius oder
Wurmlarve) durch einen sich gliedernden Keimstreif angelegt wird, sondern
direct aus der Keimblase entsteht. In diesem ungegliederten Larvenstadium
erst tritt die Segmentbildung am Keimstreifen auf und zwar genau, wie in
der Keimblase der Wirbelthiere.. Zum Ueberfluss giebt es aber auch bei
den Arthropoden alle Uebergänge zwischen einer frei lebenden Keimblase —
die nun zur Larve wird — und einer echten, welche im Ei als einfache
Keimblase ohne alle Organe dem Keimstreifen Ursprung giebt. Die meisten
. Inseeten haben eine echte Keimblase, wie die Vögel, Säugethiere, Reptilien;
auch manchen Krebsen kommt sie zu (Astacus ete.). Dann haben wir in
den Larvenformen gewisser parasitischer Hymenopteren ruhende Keimblasen,
welche aber doch noch deutliche Spuren echter Larvenorgane aufweisen
(Platygaster etc.); von diesen zu einem frei schwimmenden Nauplius ist
nur ein Schritt. &
Wir können hiernach mit grosser Wahrscheinlichkeit die ruhenden Keim-
blasen als umgebildete, ihrer Larvenorgane mehr oder minder stark beraubte
Larven auffassen; und wenn wir dies thun, und von solchem Gesichtspunkt
aus die Entstehung eines gegliederten Thieres aus seinem Keimstreifen
heraus in allen drei Classen vergleichen, so finden wir absolute Identität
der Vorgänge, d. h. der den allgemeinen Typus bestimmenden. Es versteht
sich von selbst, dass gewisse Differenzen im Aufbau und in der Umbildung
der einzelnen Organe stattfinden müssen; denn sonst würde nicht blos
der Typus z. B. der Anneliden und Wirbelthiere identisch sein, sondern
sie wären auch als solche gleich, es wären Wirbelthiere Anneliden und
umgekehrt. Aber wohl ist der Typus beider identisch; diesen hier noch
einmal zu beschreiben, dürfte wohl überflüssig sein. Nur auf das eine Resultat
dieses Abschnittes muss ich mit Nachdruck abermals hinweisen: Kopf und
Rumpf entstehen bei allen drei typisch gegliederten Thierclassen genau auf
dieselbe Weise innerhalb einer (frei lebenden oder ruhenden) Keimblase
‚aus zwei verschieden angelegten, zeitlich nach der Weise der Strobilation
!) Der Nauplius der Sacculina soll nach E. v. Beneden aus einem Keimstreifen
entstehen. Ich finde indessen weder bei ihm (Developpement des Sacculines, Bull.
Acad. roy. d. Belg. 1870), noch in der Arbeit von Hoek (Embryologie von Balanus
Niederl. Ärch, f. Zool. Bd. III. 1876) Angaben, welche bewiesen, dass die bauch-
ständige Eetodermverdiekung, aus welcher die drei Naupliusbeine hervorgehen, dem
später auftretenden Keimstreifen gleich zu stellen sei,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 295
auftretenden, und nach der Art der Segmentation sich in Ursegmente auf- ||
lösenden Keimstreifen.
Ss. 15. Das Nervensystem der gegliederten Thiere.
Je nach den beiden Abschnitten des Körpers verhält sich das Nerven-
system einer Nais ganz verschieden. Es empfiehlt sich, diesen Gegensatz
der Vergleichung zu Grunde zu legen.
A. Die Ganglienkette der Gliederthiere im Rumpftheil.
Durch die ausführliche Schilderung der Entstehung des Nervensystems
am freien wachsenden Hinterende einer Nais ist der Nachweis geliefert
worden, dass in einem Ganglienknoten des Bauchmarks der Anneliden
zweierlei Abtheilungen ihrem Ursprung nach scharf unterschieden sind: das
centrale und die beiden seitlichen Ganglien, Es wurde ferner nachgewiesen,
dass nur diese beiden ursprünglich segmentirt aus den medialen Parthien
der Ursesmente des Mesoderms hervorgehen, jenes aber als Ectodermver-
diekung gänzlich ungegliedert entsteht, und dass seine mitunter eintretende
Gliederung secundär durch nachweisbar stattfindende Verlängerung der Seg-
mente hervorgerufen wird. Nur bei Chaetogaster treten Ursegmente und
einzelne Ganglien gleichzeitig in den beiden Keimstreifhälften auf.
Genau das gleiche Verhalten aber wie Nais zeigt auch das Rumpf-
nervensystem der Wirbelthiere: das Rückenmark mit den ihm eng ver-
bundenen Spinalganglien und Spinalnerven. Jenes entsteht direct aus dem
Eetoderm, diese aber aus den gleich anfangs segmentirten Ursegmenten (ab-
gesehen einstweilen von den Haien nach Balfour). Es ist also dem Rücken-
mark der Wirbelthiere nur der centrale Ganglienzellenstrang homolog, den
Spinalganglien aber die seitlichen Ganglien der letzteren. Es stimmt mit
dieser Gleichstellung die Thatsache, dass auch die im Rumpftheil der
Ganglienkette abtretenden Nerven den Bau von Spinalnerven besitzen: sie
werden durch Verschmelzung zweier aus den beiden Längssträngen ent-
springenden Wurzeln gebildet.
Allerdings könnten gegen diese Auffassung allerlei Einwände erhoben
werden. Man würde erstlich auf die Rohrnatur des Rückenmarks hinweisen
können, welche bei Anneliden nie vorzukommen scheint. Aber es ist dies
doch wohl ein secundär acquirirter Charakter der Vertebraten ; denn es entsteht,
wie bekannt, das Rückenmarkrohr der Knochenfische auf andere Weise, als
bei den übrigen Wirbelthieren, durch Aushöhlung einer ursprünglich soliden
Eetodermverdiekung, welche sich von der äusseren Lage des Ectoderms (der
späteren Epidermis) einfach durch Spaltung abgehoben hat. Ganz ebenso
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296 SEMPER:; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
aber entsteht die neurale Ectodermknospe der Naiden; auch sie ist ein
ungegliederter, aus zwei deutlich erkennbaren symmetrischen Hälften be-
stehender Zellstrang, dessen äussere Schicht noch von der Epidermiszellen-
lage bedeckt ist. Wie bei den Knochenfischen verstreicht die primäre
Neuralfurche auch bei den Naiden; eine äusserliche Furche, durch deren
Schluss sich das neurale Rohr bildete, d. h. also eine eigentliche Rücken-
furche kommt bei Knochenfischen, wie bei Naiden nicht vor. Während also
bei den höheren Wirbelthieren Zellen der äusseren Eetodermschicht zum
auskleidenden Epithel des Centralcanals werden, bildet sich dieses bei
Knochenfischen aus Zellen, die einer tieferen Lage der neuralen Eeto-
dermverdickung entstammen. Wir dürfen daher bei solchem Gegensatz die
Rohrnatur nicht als den Typus bestimmend ansehen, müssen diesen vielmehr
in der directen und gänzlich ungegliederten Abstammung aus dem Ectoderm
suchen. Darin aber stimmen mit den Wirbelthieren die Anneliden überein,
wie aus meinen, Kowalewsky’s und Metschnikoff’s Beobachtungen hervorgeht.
Dagegen bildet sich — soweit wir wissen! — nie ein Centralcanal bei
Anneliden aus, obgleich das regelmässige Auseinanderweichen der im
Centrum der neuralen Ectodermverdickung bei Nais gelagerten Zellen fast
den Anschein erweckt, als könnte hier leicht ein solcher entstehen (Taf. V,
Fig. 5; Taf. VI, Fig. 9; Taf. VII, Fig. 3 ete.). Wenn wir nun in Be-
tracht ziehen, dass er bei Knochenfischen in der That secundär in einem
soliden Zellstrang entsteht durch Auseinanderweichen der einzelnen Zellen,
so ist erstlich auf sein Fehlen im centralen Nervensystem der Anneliden
kein Gewicht zu legen, andererseits auch nicht einmal die Möglichkeit aus-
geschlossen, dass nicht doch noch irgendwo ein auf dem Bauche liegendes
Nervenrohr bei irgend einem Ringelwurm gefunden werden möge. Natürlich
werden wir dies nur da zu erwarten haben, wo, wie beim Regenwurm, das
centrale Nervensystem beständig ungegliedert bleibt, also als ununter-
brochener mehr oder minder dicker Zellstrang unter den zwei Längsnerven
verläuft.
Es könnte ferner auf die bei sehr vielen Anneliden deutlichst vor-
handene scharfe Gliederung ihres Centralnervensystems hingewiesen und
daraus der morphologische Unterschied von dem der Wirbelthiere abgeleitet
werden. Dieser Gegensatz ist unläugbar. Aber erstlich ist er gar nicht
allgemein; denn die Fälle sind doch recht häufig, in denen diese Glie-
derung!) nie eintritt. Er ist ferner nicht typisch, denn ursprünglich ist
1) Nach Leydig bekanntlich bei Lumbricus, was ich bestätigen kann; unter den
Meeresanneliden haben Ammotrypane und Maldane nach eigenen Beobachtungen,
ferner Tyrrhena u. A. nach Claparede ein nicht in einzelne Knoten zerfälltes cen-
trales Bauchmark.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 297
die neurale Ectodermknospe auch bei den Naiden ganz ungegliedert, und es
ist ohne Weiteres ersichtlich, dass ihre Umbildung in isolirte, durch Längs-
comissuren verbundene Ganglien durch das einseitige Wachsthum der Seg-
mente bedingt wird. So ist z.B. bei N. barbata die Länge eines Segmentes
im hinteren Theil, wo die neurale Ecetodermknospe noch mit der Epidermis
verbunden ist, aber doch schon Nervenfasern entwickelt hat (Taf. VIII,
Fig. 12, 13), etwa 0,03 mm. lang, etwas weiter nach vorn, wo der Zell-
strang bereits von der Epidermis durch die neurale Muskulatur abgetrennt
ist und die Gliederung sich zu zeigen beginnt (Taf. VIII, Fig. 13), ungefähr
0,05 mm.; noch weiter vorn sind bei vollständiger Gliederung der Gang-
lienkette die Segmente 0,07—0,09 mm. lang. Sie sind also um das zwei-
bis dreifache gewachsen. Ganz im Gegensatz dazu ist der Querschnitt der
centralen Ganglienmasse von hinten nach vorn immer kleiner geworden,
offenbar weil die Zahl ihrer Zellen sich nicht hinreichend vermehrt hat,
um die allgemeine Längsstreckung unter gleich bleibendem Querschnitt auf
der ganzen Länge des Nervensystems mitmachen zu können; schliesslich
muss eine Auflösung der ursprünglich continuirlich fortstreichenden Zell-
masse in einzelne Zellgruppen, die Ganglienknoten, erfolgen. Der Typus,
wie er dem Rückenmark der Wirbelthiere eigen ist — die ungegliederte,
mediane Entstehung aus dem Ectoderm — kommt also sicherlich vielen
Anneliden zu und er lässt sich auch noch in der am meisten abweichenden
Form des Nervensystems bei den Anneliden erkennen. Während er aber
bei allen echten Wirbelthieren mit sehr unbedeutenden Modificationen in
reinster Form festgehalten wird, geschieht dies bei den Anneliden nicht;
vielmehr sehen wir bei diesen eine Labilität eintreten, wie sie überall da
beobachtet wird, wo die latente Mannichfaltigkeit der Gestaltung und
Function noch nicht in ihre einzelnen streng gesonderten und scharf aus-
gearbeiteten Richtungen zerlegt worden ist.
Einen andern Einwand gegen die von mir versuchte Homologisirung
möchte man vielleicht den kürzlich im Auszug mitgetheilten Beobachtungen
Balfour’s ') über die Entstehung der Spinalganglien bei Haien entnehmen.
Sie sollen nach diesem eifrigen Forscher nicht, wie man bisher allgemein
angenommen hat, aus dem Mesoderm stammen, sondern in ganz wunderbar
complieirter Weise aus dem Rückenmarksrohr selbst entstehen. Einstweilen
ist über diese Angaben — die ohne alle Abbildungen kaum verständlich
sind — nur zu sagen, dass man sie in keiner Weise mit den von anderen,
doch auch einigermassen erprobten Embryologen gemachten Bemerkungen
!) Balfour, On the Development of the Spinal Nerves in Elasmobranch Fishes.
Proceed. Royal Society 1875, Nr. 165.
298 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
reimen kann; sie schlagen nicht blos diesen letzteren, sondern überhaupt
allem bisher Bekannten so vollständig ins Gesicht, dass einstweilen Zweifel
an ihrer Richtigkeit nicht blos erlaubt, sondern geboten erscheinen. Ein
Urtheil ist in dieser Beziehung ohne genaue Abbildungen gar nicht zu ge-
winnen. Ohne wirklich vollgültigen Beweis kann ich aber Balfour’s Be-
hauptungen auch nicht als Argument gegen meine Parallelisirung der seit-
lichen Ganglien des Bauchmarks der Anneliden mit den Spinalganglien der
Wirbelthiere gelten lassen; denn diese Gleichstellung basirt sich auf zahl-
reiche, von verschiedenen Embryologen älteren und neueren Datums und
sicherer, erprobter Arbeitsleistung gelieferte Beobachtungen und diese be-
gleitende bildliche Beweismittel. Die Zurückweisung meines Versuches da-
gegen würde, wenn allein auf Balfour gestützt, wohl kaum als gut ge-
gründet angesehen werden können, wenn nicht etwa von denen, welche
meinen, dass jede neueste Untersuchung auch immer das Beste geliefert
haben müsse. Damit bestreite ich natürlich nicht die Richtigkeit der Bal-
four’schen Beobachtungen, sondern nur die absolute Gültigkeit der aus
ihnen gezogenen Schlüsse. Sollten sich Balfour’s Angaben in der ange-
kündigten ausführlichen Arbeit als gegen jeden Zweifel und Anfechtung
sicher gestellt erweisen, so wäre allerdings zunächst Mancherlei auf den
Kopf gestellt; und die Errettung aus der so entstandenen Verwirrung wäre
dann für den Augenblick nicht durch kühne Hypothesen und gewaltsame
Deutungen zu geben, sondern könnte einzig und allein aus fortgesetzter,
auf die unklaren Punkte mit Bewusstsein gerichteter Untersuchung erhofft
werden. Einen sehr gewichtigen Bundesgenossen hat nun allerdings Balfour
jüngst in Hensen !) erhalten, dessen peinliche Sorgfalt und Genauigkeit mir
zu wohl bekannt ist, um nicht seinen Angaben das allergrösste Vertrauen
entgegenbringen zu müssen. Er behauptet, wie Balfour, die Entstehung
der Spinalganglien direct aus der Medullaranlage heraus für das Kaninchen.
Sollte sich dies bestätigen — wie ich sicher glaube —, so wäre damit
allerdings meine Deutung der Naidenquerschnitte in Frage gestellt, wenn
man nicht annehmen wollte, dass dieselben Organe sich bei den verschie-
denen Thieren in verschiedener Weise bilden könnten. In dieser Richtung
liefert Hensen selbst mir ein Argument, indem er anführt, dass beim
Hühnchen die Spinalganglien „direct aus der unteren Lage der Epidermis
zu entspringen“ schienen, also nicht, wie beim Kaninchen, aus dem schon
geschlossenen Medullarrohr heraus. Da ich nun mit vollständigster Sicher-
heit behaupten kann, dass das gesammte Mesoderm aus der Epidermis ent-
?) Hensen, Beobachtungen über die Befruchtung und Entwickelung des Kaninchens
und Meerschweinchens. Z. f. Anat. u. Entwicklgsgesch. Bd. I p. 375 sqg.
SEMPER:; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 299
springt, so scheint mir hierdurch die Brücke geschlagen zu sein: Medullar-
rohr der Säuger, die Spinalganglien des Hühnchens und das Mesoderm des
Nais-Keimstreifens entspringen aus dem Ecetoderm; ob nun die Son-
derung der Spinalganglien erfolgt aus dem Medullarrohr, oder dem gemein-
samen Mutterboden, oder aus den medialen Theilen des Mesoderms, ist im
Grunde ziemlich unwesentlich. Von Bedeutung ist eben nur — wie schon
oben bemerkt — , dass die Spinalganglien von vorn herein segmentirt auf-
treten, und dass die mit ihnen in Verbindung stehenden Spinalnerven bei
allen streng gegliederten Nerven zwei Wurzeln haben, während die bei den
Anneliden mitunter eintretende Gliederung des centralen Nervensystems
nur eine secundär und rein mechanisch entstandene Eigenthümlichkeit ist.
Immerhin ist der in Balfour’s, Hensen’s und meinen Beobachtungen liegende
Gegensatz vom rein histologischen Gesichtspunkt aus beachtenswerth; wo-
gegen ich freilich von vorn herein erklären muss, dass der Nachweis, meine
Ableitung der Naisspinalganglien von der Zellschicht, die ich bei diesen
Thieren Mesoderm nennen muss, sei unrichtig, in keiner Weise die von
mir geübte Homologisirung gleichfalls als falsch erweisen kann.
Ein zweites Argument, dessen Gewicht ich anerkennen muss, da ich es‘
einstweilen nicht durch Beobachtungen zu entkräften vermag, ist der Zahl
der bei Anneliden und Arthropoden in je einem Segment vorhandenen seit-
lichen Nerven zu entnehmen. Dass sie nach dem Typus der Spinalnerven
gebaut sind, ist ziemlich sicher. Aber während bei den Wirbelthieren
überall nur ein Spinalnervenpaar in je einem Segment des Rumpfes aus
dem Rückenmark entspringt, treten bei den gegliederten wirbellosen Thieren
in jedem Rumpfgliede oft zwei, selbst drei solche Nerven vom Bauchmark
ab. Dies ist ein Factum, welches einstweilen nicht erklärt werden kann,
da alle Beobachtungen über die embryonale Entstehung der Bauchmarks-
nerven bei Gliederthieren mangeln. Aber ich glaube, es lässt sich durch
Analogie zeigen, dass diese Thatsache doch nicht so unbedingt als Beweis-
mittel gegen die oben ausgesprochene Behauptung von dem Vorhandensein
echter Spinalganglien und Spinalnerven bei Gliederthieren zu benutzen sein
wird; denn es kommen bei andern Organen ähnliche Incongruenzen zwischen
der Segmentzahl des Körpers und der Gliederzahl eines Organes vor, die
aber theilweise schon erklärt worden sind. Es ist bekannt, dass bei den
Myriapoden sehr häufig zwei Extremitätenpaare an einem Leibesringel an-
sitzen: ein Verhältniss, welches bis jetzt noch nicht erklärt ist, aber doch
Niemand ernstlich stört in der Annahme, dass trotzdem die Körperglieder
dieser Myriapoden und ebenso ihre Gliedmassen denen der übrigen Arthro-
300 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
poden morphologisch gleich seien. Durch Spengels Untersuchungen !) ist für
viele Amphibien festgestellt worden, dass in der Niere der erwachsenen,
oder selbst junger Thiere mehr Segmentalorgane vorhanden sind, als der
Zahl der Körpersegmente nach zu erwarten gewesen wäre; es wurde gleich-
falls durch ihn gezeigt, dass gleich beim ersten Beginn der Entwickelung
der noch nicht mit dem primären Urnierengang vereinigten Segmentalorgane
in jedem Segment bis zu vier?) solcher Segmentalschlingen auftreten
können. Aber gleichzeitig hat Spengel den Nachweis geliefert, dass dies
nur als eine Modification der ursprünglichen Uebereinstimmung in der Seg-
mentirung der Niere und des Körpers angesehen werden darf; denn bei
einer jungen Coecilienlarve fand er ganz zweifellos in jedem Körpersegment
nur ein Segmentalorgan, obgleich ältere Exemplare derselben Art deren
mehrere besitzen. Sehr wahrscheinlich beruht in diesem Falle die An-
wesenheit mehrerer Segmentalorgane in je einem Körpersegment nur auf
einer frühzeitig eintretenden Theilung des primitiven.
Hier ist also der Nachweis geliefert, dass ein normal segmentirtes
Organ sich verdoppeln oder überhaupt vermehren kann, ohne dass eine
gleiche Vermehrung der Körpersegmentalzahl einzutreten braucht, und ohne
dass es nöthig würde, darum die typische Homologie aufzugeben. Es er-
scheint die weitergehende Theilung eines segmentirten Organes dann nur
als eine besondere Umbildung nach extremer Richtung hin. Was aber so,
unter Festhalten des allgemeinen Typus, dort bei den Amphibien in der
Niere eintreten kann, ist selbstverständlich auch bei allen andern Organen
möglich; und so erscheint mir die Mehrzahl der Spinalnerven in je einem
Gliede des Rumpfes eines Wurmes oder Gliederfüsslers nur als eine ein-
seitige Weiterbildung des bei anderen Thieren derselben Classe festgehal-
tenen Typus im Bau des Nervensystems. Denn den oben aufgezählten
Fällen von Mehrzahl der Spinalnerven in je einem Segment reihen sich
zahlreiche andere an, bei denen jedes Segment auch nur ein?) solches
Nervenpaar aufweist. Auch die Verdoppelung der Spinalganglien in zwei
Paare — welche man als seitliche Ganglienzellenpackete bereits längst
unterschieden hat — kann hiernach nur als eine secundäre Erscheinung
aufgefasst werden; und hier ist es in der That nicht schwer, durch Beo-
I) Spengel, Das Urogenitalsystem der Amphibien. Arbeiten a. d. zool.-zoot.
Institut zu Würzburg. Bd. III 1876.
2) Spengel, 1. c. pag. 11 Taf. I, Fig. 7.
3) Das ist z. B. der Fall bei Chaetogaster nach Leydig (Bau des thierischen
Körpers p. 172), Polynoe squamata, Nephthys bononensis, Glycera albicans, Mala-
coceros Girardi, Goniada minnacula, Cirrhatulus fuscescens nach Quatrefages (Ann.
d. Sc. Nat. 3. Ser.. 1850; T. 14, pag. 329) etc. etc.
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SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 301
bachtung den Nachweis dafür zu liefern. Es leidet nämlich keinen Zweifel,
dass ursprünglich jedem Ursegment nur ein seitliches Ganglienpaar ent-
spricht; es kann somit das doppelte Ganglienpaar nur durch eine Theilung
des ursprünglich einfachen entstanden sein.
Die typische Uebereinstimmung des Bauchmarks der Arthro-
poden und Anneliden braucht nicht erst weiter erwiesen zu werden;
sie wird allgemein angenommen, obgleich doch wieder ungemein mannich-
faltige Abweichungen im Bau gerade bei den Gliederfüsslern vorkommen.
So weitgehende Vereinfachungen und Reductionen, wie sie z. B. bei den
Arachniden, auch den frei lebenden, eintreten, kommen bei nicht parasi-
tischen Anneliden nie vor; obgleich doch auch schon bei ihnen dieser
Vorgang — so z. B. im Schwanzganglion der Egel — angedeutet erscheint.
Wenn man die verschiedenen Angaben über die Entstehung der Bauch-
sanglienkette bei den Arthropoden vergleicht, so erkennt man hier den-
selben Gegensatz, wie ich ihn oben in Bezug auf die Anneliden hervor-
gehoben habe: die Einen behaupten, es entstehe das Bauchmark ganz und
gar aus dem Ectoderm, die Andern sagen, es werde durch Abgliederung
der medialen Parthien der Ursegmente des Keimstreifens gebildet. Hier
fehlen mir nun momentan leider die Beobachtungen, um in ähnlicher Weise,
wie mir das bei den Naiden glückte, zu zeigen, dass sie alle im Grunde
Recht haben, keiner von ihnen aber ausschliesslich so; es erscheint daher
einstweilen auch nutzlos, die zahlreich vorliegenden, aber, wie gesagt, sich
direet widersprechenden Beobachtungen hier zu durchmustern. Aber es
lässt sich aus den oben angeführten Gründen mit ziemlicher Sicherheit an-
nehmen, dass auch im Nervensystem der Gliederfüssler derselbe typische
Entwickelungsgang nachgewiesen werde, wie er für Vertebraten und Anne-
liden charakteristisch ist.
B. Das Nervensystem im Kopftheil der gegliederten Thiere.
Auf den ersten Blick erscheint der Gegensatz zwischen dem compacten
auf der Rückenseite liegenden Gehirn der Wirbelthiere und einem Schlund-
ring ungemein scharf ausgesprochen; nichts desto weniger hat Leydig, so-
viel ich weiss bis auf den heutigen Tag, den Satz vertheidigt, dass der
Schlundring der gegliederten Wirbellosen nur ein vom Schlunde durch-
bohrtes Gehirn sei.
Leydig stellt also — und er sagt dies auch ausdrücklich — dem
Gehirn der Wirbelthiere nur die dorsalen und ventralen Ganglien des
Schlundringes gleich; während nach meiner Auffassung das gesammte
vordere Ende des Bauchmarks mit dem Schlundring dem Gehirn und ver-
302 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
längerten Mark zu identificiren ist, da es wie dieses im Kopftheil entsteht.
Natürlich kann diese Homologisirung noch nicht weiter geführt werden, da |
der ihr zu Grunde liegende Gesichtspunkt bei keiner der bisher ange- |
stellten Untersuchungen angenommen wurde. Es wird indessen zum Zweck |
der klaren Fragestellung und Fortführung der Argumentation zweckmässig
sein, hier dennoch trotz der schwankenden Basis näher auf den angedeu- '
teten Vergleich einzugehen.
Wenn es wirklich gelingen soll, das Gehirn der Wirbelthiere mit dem
der Anneliden und Arthropoden in Einklang zu setzen, so darf es nicht
blos in Bezug auf die primäre Entstehung in einem Kopftheil damit über- |
einstimmen, sondern es muss auch die weitere Forderung erfüllt werden,
dass es möglich sei, tiefergreifende specielle Homologieen festzustellen und die
höchsten Formen desselben (bei Wirbelthieren und Insecten) als Umwand-
lungen und Ausbildungen des schon im Annelidengehirn angedeuteten Typus
nachzuweisen. Ein in ‘dieser Richtung unternommener Versuch muss zur
Zeit unvollständig bleiben; doch lassen sich jetzt schon trotz der geringen
Zahl verwerthbarer Beobachtungen eine solche Menge von weitgehenden
und speciellen Aehnlichkeiten auffinden, dass man einer hierauf gerichteten
Untersuchung den grössten Erfolg voraussagen kann.
Bei den Naiden wächst das Vorderende eines alten Ganglions (N. pro-
boscidea) oder des neu angelegten Rumpfbauchmarks in die Kopfzone hinein
nach vorn hin vor d. h. das vorderste Ende ist — wie namentlich Chaeto-
gaster klar erweist — der zuerst entstandene Theil und es schiebt sich |
immer neue Nervenmasse zwischen diesen und den Abschnitt, der im ersten
Rumpfsegment als erstes Rumpfganglion liegen bleibt. Gerade so, wie die
ganze Kopfzone sich von vorn nach hinten segmentirt, so bildet sich auch
der hinterste Abschnitt des Kopfmarks am spätesten aus.
Ein ganz ähnliches Verhalten ist aber anıch deutlich in der allmäligen
Ausbildung des Wirbelthiergehirns zu erkennen; auch hier erfolgen Wachs-
thum und Umbildung desselben von vorn nach hinten. Es ist längst be-
kannt, dass die vierte Gehirnblase am spätesten auftritt. Wie sich das
Kopfmark der Arthropoden verhält, ist allerdings unbekannt.
Schon früh tritt bei vielen Wirbelthieren die Kopfbeuge und Knickung |
des Gehirns ein. Stellt man nun den Embryo eines Wirbelthiers (Taf. XIV,
Fig. 25), eines Arthropoden (Taf. XIV, Fig. 27, Oniscus nach Bobretzky) und |
eines Anneliden (Taf. XIV, Fig. 26 von Clepsine [Original]) so, dass seine
Nevralseite dorsal liegt — wie ich das in allen meinen Abbildungen absichtlich
gethan habe —, so ist auch in dieser Beziehung ohne Weiteres die Ueberein-
stimmung zwischen den drei Thiergruppen ersichtlich. Bei allen erstreckt sich
das Rumpfmark in schwacher Krümmung durch den Körper, bei allen zeigt
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 303
ebenso das Kopfmark eine starke Knickung. Was aber vor Allem wichtig er-
scheint, das ist die Thatsache, dass diese Knickung in allen drei Thierclassen
nicht etwa an verschiedenen Stellen oder an der Grenze zwischen Bauchmark
und Kopfmark eintritt, sondern ungefähr in der Mitte dieses letzteren. Man
könnte daraufhin den Versuch wagen !), die vor dieser Knickung liegenden
Theile des Wirbelthiergehirns mit den analog gelagerten des Anneliden-
kopfmarkes und ebenso die hinter der Knickung liegenden Theile miteinander
zu vergleichen; ich begnüge mich indessen hier mit dieser Andeutung, da
ich hoffentlich einmal Gelegenheit finden werde, ausführlicher, als jetzt
schon geschehen könnte, und unter Benutzung besonders darauf gerichteter
Untersuchungen auf diesen Punkt zurückzukommen.
Ein weiterer Punkt der Uebereinstimmung in der Bildung des Kopf-
marks (Gehirns) bei Anneliden und Vertebraten ist in dem Auftreten von
Sinnesplatten zu sehen. Denn wenn sie auch in beiden COlassen wesentlich
von einander abweichen, so ist trotzdem die typische Uebereinstimmung
unverkennbar. Bei den Wirbelthieren erscheint sie allerdings als ein An-
hängsel der Kopfmedullarplatte, während sie bei den knospenden Naiden
oder den Embryonen der Blutegel scheinbar unabhängig vom centralen
Nervensystem entsteht. Wenn man indessen bedenkt, dass bei den Wirbel-
thieren die Abkürzung in der Entwickelung sehr bedeutend geworden ist —
wie aus der Zeitfolge des Auftretens von Kopf und Rumpf oder aus der
Bildungsweise des Keimstreifens ersichtlich —, so ist die Annahme, dass
die gleich von Anfang an vorhandene Vereinigung von Sinnesplatte und
Medullarplatte auch durch eine solche Abkürzung in der Entwickelung ent-
standen sei, nicht so gar ungereimt. Natürlich ist dabei vorausgesetzt, dass
der morphologische Typus derselbe sei. Dass dies aber hier der Fall ist,
scheint mir unverkennbar; denn die Sinnesplatte ist bei den Anneliden
eine Bildung des Ecetoderms, wie bei den Wirbelthieren, und sie verbindet
sich als seitliche, paarige Anlage für die Sinnesorgane (Augen und Ohren)
mit dem Kopfmark.
Es giebt nun einen Punkt in der Entwickelung dieser Sinnesplatte bei
den Naiden, welcher vielleicht als Prüfstein für die Richtigkeit der hier
versuchten Vergleichung dienen kann. Es wuchert, wie ich ausführlich
geschildert habe, die Sinnesplatte bei Nais, wie bei Chaetogaster aus dem
1) Ein soleher Versuch würde sich auch auf die physiologische Parallelisirung
ausdehnen lassen, da nach den jetzt vorliegenden Untersuchungen von Quatrefages
und Faivre, der vordere oder obere Abschnitt (das dorsale Schlundganglion) der
Annulaten dem grossen Gehirn, das erste Bauchganglion oder vielmehr die vor-
deren Bauchganglien dem kleinen Gehirn und der medulla oblongata in vielen
Dingen genau zu entsprechen scheinen.
304 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Seitenfelde ein. Ein Abschnitt dieses letzteren ist die Seitenlinie, welche
bei Chaetogaster allerdings ganz zu Grunde geht, aber bei Nais und anderen
Oligochaeten, wenn auch unter der die Kreismuskelschicht repräsentirenden
Basalmembran, bestehen bleibt; am Kopfe aber steht diese Seitenlinie mit
der Comissur des Schlundringes in Verbindung, indem sie sich über den car-
dialen Seitenmuskel hinweg und dann in die Tiefe zum Schlundring hin-
biegt (Taf. XI, Fig. 3). Wenn es nun richtig ist, wie ich glaube, dass
diese Seitenlinie wegen ihrer Entstehung aus dem Eetoderm und ihrer
Lagerung zwischen den zwei Hauptmuskelgruppen (cardialem und neuralem,
Bauch- und Rücken - Muskel) mit der Seitenlinie der Anamnia unter den
Wirbelthieren zu vergleichen ist, so wirft sich die Frage auf, ob nicht auch
bei den Wirbelthieren die Seitenlinie und die aus ihr hervorgehenden
Organe mit der Sinnesplatte in genetischer Beziehung stünden. Die unge-
mein starke Entwickelung des Seitencanalsystems am Kopf der Plagiostomen,
Amphibien und Fische macht dies recht wahrscheinlich; eine bestimmte
Antwort, die ich auch nicht aus Götte’s Beobachtungen über die Unke
herausfinden kann, lässt sich allerdings nicht ohne speciell auf diesen
Punkt gerichtete Untersuchung geben, zu der ich meinerseits weder Zeit
noch Gelegenheit gefunden habe.
Bütschli ') will nun allerdings die Gleichstellung der Seitenlinie der
Anneliden und der Fische nicht gelten lassen. Die Art seiner Argumen-
tation verblüfft mich ein wenig; denn er schiebt mir bei seinem Wider-
spruch eine Ansicht unter, die ich nie ausgesprochen habe und er ignorirt,
dass die wirklich von mir geäusserte Meinung sich so ziemlich mit der
seinigen deckt. Er meint?), ich wolle „die Seitenlinien nebst Seiten-
sefässen der Nematoden mit den Seitenlinien der Fische vergleichen.“
Nun habe ich aber ausdrücklich gesagt, es seien die Nematoden „auf die
Entwickelung ihres Seitenliniencanalsystems und auf etwa sich er-
gebende Anschlüsse an die ausführenden Abschnitte der Anneliden-
segmentalorgane“ zu untersuchen. Dieser Satz lautet nur ein wenig
vorsichtiger , ist aber sonst dem von Bütschli?) fast gleich „es seien die
Seitengefässe der Nematoden ... . unzweifelhaft die Homologa der
Segmentalorgane der übrigen Würmer.“ Bütschli hält also die Identität
beider für ausgemacht, während ich den Anschluss der Seitencanäle an die
ausführenden Abschnitte der echten Segmentalorgane noch suche. Er weist
1) Bütschli, Untersuchungen über freilebende Nematoden und die Gattung Chaeto-
notus. Z. f. w. Z. Bd. XXVI. 1876.
2) 1. c. p. 398. — Bütschli eitirt „Stammesverwandtschaft ete. p. 48“ ; auf dieser
Seite steht aber kein Wort von Nematoden, wohl aber auf p. 71 u, 72.
3) 1. c. p. 398.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 305
‘ ferner darauf hin!), es stünden „die Seitencanäle der Nematoden nur in
; einem äusserlichen Zusammenhange mit den Seitenlinien, eigentlich lägen
‘ sie in der Leibeshöhle.“ Aus eben diesem Grunde habe ich ?) gesagt „es
sei nicht unwahrscheinlich, dass das Canalsystem, das man bei Fischen
als Seitenlinien bezeichne, den Seitenlinien der Nematoden morpho.-
logisch gleich wäre“. Durch den oben eitirten Satz ist die Vergleichung
der Seitenlinie der Fische mit den Seitencanälen der Nematoden vollständig
ausgeschlossen. Bütschli und ich sind also, abgesehen von unbedeutenden
Dingen, einig in Bezug auf die Parallelisirung der Nematoden-Seitencanäle
ı mit den Segmentalorganen der Anneliden; wir sind auch einig in der
Ansicht, ihre Seitenlinie habe mit den Seitencanälen eigentlich nichts
zu thun.
Aber mit der Seitenlinie der Fische und derjenigen der Anneliden
\ soll sie doch nicht identisch sein; und zugleich wird der Annelidenseiten-
' Iinie von Bütschli?) jede Bedeutung oder die Natur eines besonderen
Organes rundweg abgesprochen. Die Seitenlinie der Nematoden kann ich
hier bei Seite lassen, da ich es zunächst nicht mit ihr zu thun habe;
was ich früher über ihre morphologische Bedeutung sagte, bleibt auch jetzt
noch, trotz Bütschli’s Widerspruch, zu Recht bestehen.. Ganz entschieden
aber muss ich mich gegen seine Meinung erklären, es seien die Seiten-
linien der Anneliden „nichts weiter als Unterbrechungen in der Längs-
muskelschicht ... . sie fänden sich bei den Anneliden in verschiedenster
Zahl, Ausdehnung und örtlicher Lage etc. etc.“ Er vermischt dann die
Mittellinien mit den Seitenlinien und meint, alle diese Unterbrechungen
der Längsmuskelschicht dienten nur zur Einlagerung von einzelnen Organen
(Ligament, Bauchstrang, Borstentaschen ete.). Die vorliegenden Unter-
suchungen über Nais und Chaetogaster haben ganz im Gegensatz dazu be-
wiesen, dass die Seitenlinien der Anneliden höchst bedeutungsvolle Organe
sind. Wahr ist zwar, dass sie bei manchen ausgebildeten 'Thieren als
rudimentäre Zellenstränge innerhalb der Ringmuskulatur liegen, ja selbst
sänzlich verschwinden können; ebenso sicher aber steht fest, dass sie aus
dem Eetoderm entstehen in derselben Weise, wie es die Seitenlinie der
Fische und Amphibien thut. Götte und ich haben, jener für die Amphibien,
ich für die Haie, gezeigt, dass ihre Seitenlinie mit allen ihren Theilen und
selbst der nervus lateralis ganz aus der Epidermis entstehen. Es ist aber
bekannt, dass dieser Seitennerv der Fische in der bindegewebigen Scheide-
1) jbid,
2) Stammverwandtschaft ete. p. 72.
DERFC.DAUT.
306 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
wand liegt, welche die dorsale von der ventralen Muskulatur trennt; genau
das gleiche Verhalten zeigt die Seitenlinie der Anneliden, so lange sie noch
mit der Epidermis in Verbindung steht. Wie ferner der ursprünglich in
der Epidermis selbst liegende Seitennerv eines Haiembryos allmälig durch
das Wachsthum der zwei Muskelplatten zwischen diese hereingezogen wird,
so trennt sich auch bei den Anneliden die Seitenlinie von der Epidermis
durch die erst ganz zuletzt auftretende Ringmuskulatur. Und dass endlich
diese Annelidenseitenlinie nicht bedeutungslos sein kann, sehen wir erstlich
an ihrer Betheiligung beim Aufbau der beiden Keimstreifen in der Kopf-
und Rumpfzone der Naiden; zweitens an der aus ihr hervorgehenden Ein-
senkung der Sinnesplatte von Nais und Chaetogaster und endlich drittens
daran, dass sie manchen Anneliden (Tubifex, Psammoryctes, Nais) auch im
geschlechtsreifen Zustande zukommt, und dann direct mit dem Schlundring
verbunden ist (Taf. XI, Fig. 3). Natürlich kann ihr für das erwachsene
Thier keine solche physiologische Bedeutung zugeschrieben werden, wie sie
der Seitenlinie der Fische mit ihren Sinnesorganen zukommt; ihre morpho-
logische Bedeutung aber ist unverkennbar, und vielleicht grösser, als jetzt
schon hervortritt. Dass sie endlich nur bei oberflächlicher Betrachtung
mit den beiden Mittellinien der Anneliden verglichen werden kann, liegt
auf der Hand; diese sind in der That nur bedeutungslose Unterbrechungen
der Muskulatur, hervorgebracht dadurch, dass die neuralen und cardialen
Muskelplatten sich nicht immer in den Mittellinien vereinigen; jene Seiten-
linien aber stehen zu dem gesammten Entwickelungstypus und einzelnen
wichtigen Organen — Schlundring, Sinnesplatten, Muskelplatten — in so
inniger Beziehung, dass ihre hohe Bedeutung nicht übersehen werden kann.
Eine Andeutung muss ich mir noch zur weiteren Stütze meiner Ansicht
erlauben. Man weiss (s. pag. 136), dass Polyophthalmus an allen Segmenten
des Körpers, viele andere Anneliden am Hinterende, Augen tragen. Nun
ist die Entstehung der Augen bei den Naiden an die Seitenlinie gebunden;
da drängt sich denn die Frage auf, ob nicht auch bei jenen Ringelwürmern,
welche Augen ausser im Kopfe auch noch im Rumpfe tragen, die Ent-
wickelung derselben nicht vielleicht gleichfalls an die Seitenlinie und deren
Umbildung gebunden sei. Leider habe ich mir bis jetzt keinen Borsten-
wurm mit Rumpfaugen verschaffen können; und die spärlichen Notizen
über dieselben geben gar keinen Aufschluss hierüber.
Ueber die erste Entstehung des Schlundringes bei den Arthropoden
liegen im Grunde gar keine brauchbaren Angaben vor; es heisst immer
nur, es entstünde das untere Schlundganglion aus dem Bauchkeimstreifen,
das obere aber aus den Stirn- oder Kopfplatten. Die einzigen mir bekann-
ten Beobachtungen, welche einigermassen genügenden Aufschluss gewähren,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.e 807
sind die von Ganin über die so äusserst interessanten Pteromalinen-Larven,
aus denen mit Sicherheit zu folgern ist, dass das sogenannte Gehirn nicht
aus einer unpaaren dorsalen Medullarplatte, sondern durch Verwachsen
zweier seitlicher Sinnesplatten in der Mittellinie entsteht. Unentscheidbar
ist aber auch nach Ganin die Frage, ob diese Sinnesplatten, wie es nach
seiner Beschreibung scheinen könnte, ganz und gar durch Auseinan-
derweichen der zwei Hälften des Bauchkeimstreifens gebildet werden
oder ob sie entstehen durch die Vereinigung der zwei zu den Comissuren
werdenden Vorderhälften des Bauchstranges mit den zwei seitlichen und
selbständig aus dem Ectoderm sich einsenkenden Sinnesplatten. Dies letz-
tere möchte ich als sehr wahrscheinlich annehmen.
C. Der vagus und sympathicus der gegliederten Thiere.
Es ist Leydig’s Verdienst, zuerst den eigentlichen vagus der gegliederten
Wirbellosen erkannt zu haben. Er spricht sich in dieser Beziehung mit
grösster Entschiedenheit aus!): der von Brandt entdeckte paarige Schlund-
nerv — den Dieser und mit ihm fast alle Zoologen als sympathischen
Nerven bezeichneten — ist nach ihm ein echter Gehirnnerv und dem vagus
der Wirbelthiere gleichzustellen. Früher schon hatte Newport die Meinung,
wenngleich nicht mit solcher Entschiedenheit, wie Leydig, ausgesprochen, es
sei der sogenannte „Mundmagennerv“ der Insecten viel eher dem vagus als
dem sympathicus zu vergleichen. Den echten sympathicus aber findet Ley-
dig bei den Insecten in den von Newport entdeckten nervi respiratorii und
in dem unpaaren, an der Unterseite des Darmes beim Blutegel verlaufenden
Nerven.
Für diese Vergleichung benutzt Leydig einmal die Verbreitungsbezirke
der beiden Nerven, zweitens ihren Ursprung und Lagerung. Er macht ganz
mit Recht und unter ausdrücklichem Hinweis ?) auf die Geoffroy’sche Hypo-
these, darauf aufmerksam, dass der eigentliche sympathicus der Anneliden
und Arthropoden genau so liege, wie bei den Wirbelthieren: zwischen
‚Nervensystem und Darm. Und in Bezug :auf den vagus hebt er hervor,
dass er keine Nervenäste von der Rumpfganglienkette empfange — wie
jener sympathische Nerv —, sondern direct aus dem Gehirn entspringe und
auch seiner Structur nach ganz entschieden einem Gehirnnerven gleiche.
Die Verbreitungsbezirke beider Nerven stimmten endlich bei allen geglie-
derten Thieren fast vollständig überein; der vagus sei vorzugsweise ein
Schlundnerv, der sympathicus ein Nerv des Darmes und der im Rumpfe
liegenden Eingeweide.
!) Vom Pau des thierischen Körpers, p. 147, 160, 202 ete.,
2) ibid. p. 207.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. IIT. 21
308 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Diese Argumentation kann ich durchaus zu der meinigen machen, da
ich ihr — wenigstens einstweilen — nichts hinzuzufügen habe oder für
nöthig erachte. Dagegen muss ich auf einen für die Anneliden charak-
teristischen Punkt eingehen, den Leydig nicht besprochen hat, das schein-
bare Fehlen nämlich des vagus bei einer ziemlich grossen Zahl von Meeres-
anneliden,
Es liesse sich schwer denken, dass ein so wichtiger und, wie wir sehen
werden, bei den Anneliden an die Entstehung des Kopfdarmes gebundener
Nerv, bei vielen und gar nicht rückgebildeten, sondern hoch entwickelten
Anneliden gänzlich fehlen sollte. Nach Quatrefages’!) bestimmt lautenden
Angaben, die ich für einige Arten bestätigen kann, fehlt jegliche Spur eines
eigentlichen Schlundnerven, den er aber noch als sympathicus bezeichnet.
Dies ist der Fall bei den Serpuliden und bei Aonis. Bei den Terebelliden
und Sabelliden ist er sehr reducirt, am stärksten entwickelt bei echten
Nereiden, Glycera und Nephthys. Es hält im Allgemeinen die Entwickelung
dieses Nerven gleichen Schritt mit derjenigen des Rüssels ?); eine Bemer-
kung, welche Leydig bereits früher mit Bezug auf die Oligochaeten und
Hirudineen, sowie die Arthropoden gemacht hat.
Diesen Punkt habe ich nun aus andern Gründen etwas weiter verfolgt,
allerdings noch nicht weit genug, um versichern zu können, dass die im
nächsten Capitel zu erörternde Vermuthung über die Homologieen des An-
nelidenkopfdarms in der That auch für alle Formen Geltung habe. Es ist
mir nämlich sehr wahrscheinlich geworden, dass bei jenen Anneliden, denen
der vagus scheinbar fehlte, dieser doch vorhanden, aber in Folge der mehr
oder minder weit gehenden Reduction oder Dislocation des Schlundes in
eine ihm nicht eigentlich zukommende Stellung gebracht worden sei. Nach
meinen bisherigen Untersuchungen, die freilich noch lange nicht umfassend
genug sind, scheinen nämlich bei den Kopfkiemern die Nerven der Kiemen-
büschel (Sabella, Serpula etc.) dem vagus der mit echtem Rüssel versehenen
Nereiden etc. zu entsprechen. Denkt man sich den Rüssel z. B. einer Po-
Iynoe oder Nephthys — bei welchen beiden der vagus sehr stark entwickelt
ist — ausgestülpt, wie das ja beim Fang der Beute wohl immer geschieht,
so liegen nun die Rüsselnerven d. i. das Vagus-Geflecht am ausgestülpten
Rüssel genau so, wie die Kiemennerven am Kiemenbüschel einer Sabella.
Liesse sich dieser Vergleich auch von andrer Seite her rechtfertigen durch
den Nachweis der morphologischen Identität des Kiemenbüschels der Kopf-
!) Quatrefages, Histoire naturelle des Anneles, 1865, T.I., p. 84-87.
?) Quatrefages 1. c., p. 84: „C’est ce qui m’a fait regarder cet appareil comme
etant essentiellement proboseidien“.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 309
kiemer mit einem gewissen Theil des Kopfdarmes oder Rüssels der Nereiden,
so wäre damit der Beweis für die Richtigkeit des hier geübten Vergleiches
geliefert. Es wäre dadurch ferner die von Quatrefages hervorgehobene
scheinbare Ausnahme beseitist und der echte, allen gegliederten Thieren
gemeinschaftliche vagus, nicht blos bei einigen, sondern bei allen typischen
und nicht rückschreitend metamorphosirten Anneliden nachgewiesen. Die
ganz abweichende Annelidengattung Myzostomum braucht dabei nicht be-
rücksichtigt zu werden; denn ihr einfaches Nervensystem, welches des
Schlundringes ermangelt, ist offenbar durch die in Folge parasitischer
Lebensweise überhaupt eingetretene Vereinfachung zu erklären. Die Be-
ziehungen des Nervensystems der Nemertinen endlich zu dem der typischen
Anneliden können erst später erörtert werden.
8.16. Der Kopfdarm und die Kiemengänge.
Wir hatten im dritten Abschnitt gesehen, dass an der Bildung des
Kopfdarms bei Nais und Chaetogaster dreierlei verschiedene Bildungen theil-
nehmen: der alte primitive Darm, die beiden Kiemengänge (oder Kiemen-
gangwülste) und die unpaare Einsenkung des eigentlichen Mundes. Leider
liessen sich diese bei der Knospenentwickelung eintretenden Vorgänge, nicht
ohne Weiteres in ihrem speciellen Verkalten auch auf die embryonalen Ver-
hältnisse übertragen; denn es liegen, ausser den ganz vagen oben genauer
besprochenen Angaben über die Entwickelung des Schlundes bei Anneliden
gar keine genauen Untersuchungen vor und es schien unmöglich, bei der
Gewissheit mannichfaltigster Umbildung der ursprünglich auftretenden Kie-
mengangwülste jetzt schon die Extreme derselben zu bezeichnen. Ich habe
oben gezeist, dass sich die eigenthümlich eomplieirte Kiemenhöhle der Sa-
belliden auf solche zurückführen lässt; auch im Bau des Schlundkopfes der
Nereiden etc. lassen sich dieselben zwei Abtheilungen erkennen, wie ich sie
als Kiemen- und als Darmtheil des Kopfdarmes bei Nais oben beschrieben
habe. Für diese Vergleichung liess sich dort auch das Vorkommen und
die Ausbreitung des vagus anführen. Aber es musste auch zu gleicher Zeit
anerkannt werden, dass die grosse Verschiedenheit in der Umbildung der
Kiemengangwülste bei Chaetogaster und Nais jede derartige vergleichend
— anatomische Gleichstellung ungemein schwierig, wenn nicht unmöglich
macht; so dass es eingehenden Untersuchungen über die Entwickelung dieser
Theile vorbehalten bleiben muss, hier den Typus festzustellen und die Ex-
treme seiner Varianten zu bestimmen. Es zwingt mich zu dieser Reserve
vor Allem auch die Untersuchung der Hirudineen - Entwickelung. Obgleich
die Structur ihres Kopfdarms eine solche ist, dass ich anfänglich glaubte
annehmen zu dürfen, es müsse sich seine Entwickelung an die des Chaeto-
216
310 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
gaster- Kopfdarms anschliessen, so glaube ich jetzt doch versichern zu
können, dass diese Vermuthung irrig war. Soviel steht fest, dass hier der
alte Larvenschlund (Nephelis) nicht resorbirt wird, wie bei Chaetogaster;
wie er aber selbst entsteht, und in den definitiven Kopfdarm übergeht, habe
ich bis jetzt noch nicht enträthseln können.
Dem mag nun aber sein wie ihm wolle, ein Resultat bleibt unter allen
Umständen bestehen: dass bei Naiden eine Entwickelungsweise des Kopf-
darms eintritt, welche in ganz ähnlicher Art auch bei Wirbelthieren vor-
kommt: zweitens, dass bei den Sabelliden ein complieirt gebauter Kiemen-
höhlenapparat vorhanden ist, welcher sich dem der Wirbelthiere vergleichen
lässt; dass endlich drittens die meisten Anneliden zwei Abtheilungen des
Kopfdarms besitzen, welche als Kiementheil und Darmtheil den entsprechen-
den der Vertebraten, des Amphioxus und des Balanoglossus gleichzu-
stellen sind.
Dass in der That — nicht blos der Lagerung, sondern auch der Ent-
wickelung nach — der Schlundkopf einer Nais diese beiden Abschnitte |
völlig normal entwickelt besitzt, geht aus einer Vergleichung meiner Ab-
bildungen mit den auf der fünfzehnten Tafel (Fig. 25, 29) gelieferten
schematischen, zum Theil copirten Abbildungen!) hervor. Anders ist dies
bei Chaetogaster. Hier liegt der Kiementheil d. h. der aus den beiden
Kiemengängen entstandene Abschnitt über dem Darmtheil; wenn man aber
bedenkt, dass dieser gänzlich zu Grunde geht, und dass beide Typen der
Umbildung derselben Anlage — der Kiemengänge nämlich — in zwei SO
nahe verwandten Gattungen vorkommen können, wie es Chaetogaster und
Nais sind: so folgt daraus, dass man als typisch für den Kiementheil des
Kopfdarmes weder seine neurale, noch seine cardiale Lage — zum Darm-
theil — anzusehen hat. Man wird vielmehr in der symmetrischen Ein-
senkung zweier — oder mehrerer — Kiemengänge und ihrer Theilnahme am
Aufbau des neuen Kopfdarms den Typus zu sehen haben, unbekümmert
darum, welche verschiedenartigen Umwandlungen die primäre, gleichartige
Anlage etwa in dieser oder jener Thiergruppe zu erleiden bestimmt sei.
1) Ich nehme dabei an, dass die ÖOrientirung . des Schemas für die Aseidien
(Taf, XV, Fig. 29) und für Balanoglossus (Fig. 25), beide copirt nach Gegenbaur
(Grundriss etc. p. 168), richtig sei, Dies scheint mir für Balanoglossus durchaus
nicht erwiesen zu sein; dass die Bauchfurche mit dem Endostyl der Tunicaten mit
dem Darmtheil des Schlundes identisch sei, wird ebenso wenig durch die Entwicke-
lungsgeschichte gestützt. Das ist übrigens für meine Ansicht ziemlich gleichgültig,
da ich nachgewiesen habe, dass bei Anneliden der Kiementheil des Kopfdarms sich
bald an der neuralen, bald an der cardialen Seite des alten Darmes (Taf. XV, Fig.
27, 28) anlegen kann.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 311
Derselbe Typus aber kommt auch bei den Wirbelthieren vor; auch bei
diesen vereinigen sich die Kiemenspalten mit dem Abschnitt des Kopfdarms,
der aus dem eigentlichen Entoderm hervorgeht, und mit dem eigentlichen
Mundtheil.
Man könnte hiergegen einwenden, dass die Kiemenspalten der Wirbel-
thiere nicht an der Neuralseite, sondern an der Cardialseite lägen und dass
sie in grösserer Zahl und an anderer Stelle vorkämen, als bei den Naiden.
Der erste Einwand ist leicht zu entkräften. Ich habe gezeigt, dass die
Einsenkung der beiden Kiemengangwülste aus dem Seitenfelde her erfolgt.
Thatsächlich ist nun die Lage des letzteren bei den Anneliden ungemein
schwankend, bald liegt es mehr dem Nervensystem nahe, bald mehr der
Cardialseite (dem Rücken) zugewendet. Je nachdem die cardiale oder die
neurale Muskulatur stärker entwickelt ist, rückt es mehr auf diese oder
jene Seite. Es geht ferner aus den früheren Untersuchungen, namentlich
Claparöde’s und Perrier’s, hervor, dass die verschiedenen dem Seitenfelde
angehörenden Organe — Segmentalorgane, Borstenbüschel, Samentaschen,
ja selbst die Geschlechtsöffnungen — ihren Platz wechseln können, so dass
sich ein bei allen Anneliden festgehaltenes Gesetz in der Lagerung und
damit auch dem primären Entstehungsort derselben noch nicht unbedingt
feststellen lässt; es bilden die Anneliden eben eine Thiergruppe, in welcher
sämmtliche Glieder noch die mannichfaltigsten Umbildungen des gemein-
samen Typus neben einander anfweisen, während sie, in ihre einzelnen
Richtungen zerlegt, erst bei den höher entwickelten differenzirteren Formen
constant geworden sind. Es kann daher die Annahme auch nicht unge-
reimt erscheinen, dass die bei den Naiden vorkommende neurale Lage der
beiden Kiemengänge eben nur für diese charakteristisch, aber nicht typisch
für die Anneliden sei; der Typus ihrer Bildungsweise wird vielmehr durch
ihre Entstehung aus dem Seitenfelde bezeichnet. Es könnten also auch
wohl ebensogut die beiden Kiemengänge mehr auf der Cardialseite des
Seitenfeldes entstehen — und damit wäre in Bezug auf den Ort ihres Auf-
tretens die Uebereinstimmung mit den Kiemenspalten der Wirbelthiere nach-
gewiesen.
Diese Annahme erscheint um so weniger ungereimt, als thatsächlich
der Kiemenkorb der Sabelliden Verhältnisse bietet, welche sich in Bezug
auf die Lage der Kiemenspalten an die der Wirbelthiere aufs engste an-
schliessen. Es würde mich zu weit in Einzelheiten führen, wollte ich hier
den ungemein complicirt gebauten Kiemenkorb der Sabelliden genau be-
schreiben; ich begnüge mich, da es für meine Zwecke vollkommen ausreicht,
mit einem Hinweis auf die früher (pag. 252) gegebene kurze Schilderung.
Ich hatte dort gezeigt, dass vom Schlund aus ein Paar von Canälen ent-
312 SEMPER:; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
springt, welches in ein complicirtes System von Canälen und Hohlräumen
übergeht, die, ganz an der Peripherie des Kopfes liegend, sich in Spalten
an der Cardialseite und den beiden Seitentheilen des Kopfes öffnen. Diesen
Theil (Taf. XV, Fig. 1) des Kopfes, welcher von dem bekannten Knorpelgerüst
getragen wird, habe ich oben als Kiemenkorb der Sabellen bezeichnet. Denkt
man sich nun den Halskragen der Sabelliden weit nach vorn über den Kopf
hin vorgezogen, so würden diese äusseren Oefinungen des Kiemenkorbes
sich genau, wie bei Knochenfischen, in eine von der Hautduplicatur gebil-
dete äussere Kiemenhöhle öffnen. Jetzt freilich kann sie das nicht; nichts
desto weniger sind sie den eigentlichen Kiemenspalten der Wirbelthiere zu
vergleichen, da sie, wie bei diesen, von aussen her in Canäle oder Hohl-
räume führen, welche jederseits symmetrisch vorhanden von der Cardial-
seite und von den Seiten her in den Schlund übergehen, und ihrer Aus-
mündung, ihrem Bau und Einmündung in den Schlund nach als Kiemen-
gänge zu bezeichnen sind. Allerdings kommen verästelte Kiemengänge
meines Wissens sonst nicht vor; aber ihr complicirterer: Bau hier bei den
Sabelliden verwischt den typischen Bau nicht. Wesentlich ist eben für
einen Kiemenkorb die Ausmündung symmetrischer Anhangsorgane des
Schlundes in einer oder mehreren Kiemenspaltenpaaren auf der Cardialseite
oder an den Seiten des Kopfes. Dies ist aber auch der Typus im Bau
des hier nur kurz beschriebenen Kiemenkorbes von Sabella.
Damit ist aber auch der Beweis geliefert, dass die neurale Lage der
Kiemenspalten bei Chaetogaster nicht typisch für die Anneliden ist, da sie
ja bei Sabella weit auf die cardiale Seite hinaufrücken; und damit glaube
ich auch einstweilen endgültig den Nachweis geliefert zu haben, dass im
Grunde auch allen Anneliden echte Kiemengänge zukommen, wenngleich
sie in der manmnichfaltigsten Weise umgewandelt werden können. Bald
bleiben sie als echter Kiemenkorb, wie bei den Sabelliden (Taf. XV, Fig. 1)
bestehen; bald wandeln sie sich zu der cardial gelegenen Hälfte des Schlund-
kopfes um, wie bei den Naiden (Taf. XV, Fig. 27 k), oder sie bilden den
neural unter dem alten Darm gelegenen Schlund (Taf. XV, Fig. 28k), während
der frühere gänzlich zu Grunde geht, sodass dann der Kopfdarm zum gröss-
ten Theile nur aus dem Kiementheil besteht (Chaetogaster). Es ist wahr-
scheinlich, dass hiermit die Varianten nicht erschöpft sind; wenigstens zeigt
der Schlundkopf der Anneliden so ausserordentliche Verschiedenheiten, dass
es mir unmöglich scheint, ohne Untersuchung einer grösseren Reihe von
Entwickelungsweisen den Typus seiner Bildung blos nach den Structurver-
hältnissen des ausgebildeten Organes zu bestimmen.
Eine nicht unwichtige Differenz besteht einstweilen dennoch zwischen
den Kiemengängen der Anneliden und denen der Wirbelthiere. Bei jenen
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 313
kommt, soweit wir bis jetzt wissen, am Kopf nur ein Kiemengangpaar zur
Ausbildung, und dem entsprechend bei Chaetogaster auch nur ein Kiemen-
spaltenpaar; es liegt dasselbe ferner vor dem Vorderende des Bauchmarks,
aber allerdings hinter dem Munde. Bei den Wirbelthieren dagegen ist die
Zahl der Kiemenspalten, selbst bei den Säugethieren, immer grösser, und
sie liegen am Halstheil, also beträchtlich hinter dem Vorderende des Ge-
hirns. Die Verschiedenheit in der Lage kann indessen hier nicht als Ar-
gument gegen die von mir versuchte Identifieirung benutzt werden, da bei
den Anneliden das dorsale Schlundganglion und das Vorderende des Bauch-
markes an kein bestimmtes Kopfsegment gebunden sind, und es z.B. bei
Lumbrieus am ausgebildeten Thier viel weiter zurückliest — etwa im vierten
oder fünften Segment —, als beim Embryo. Aber auch die Einzahl der
Kiemenspalten kann wohl kaum als Gegenargument verwandt werden, da
wir ja auch bei Wirbelthieren sehr bedeutende Schwankungen in der Zahl
der (bleibenden oder embryonalen) Kiemenspalten treffen. Auch brauche
ich nur auf den Balanoglossus hinzuweisen, als auf ein Beispiel eines ent-
schieden nicht zu den Vertebraten gehörenden Thieres, welches trotzdem
eine grosse Zahl von echten Kiemenspaltenpaaren hinter dem Kopfe und
dem centralen Ganglion besitzt. Dies letzte Factum und gewisse Eigen-
thümlichkeiten im Baue des Kiemenbüschels der Kopfkiemer machen es
zum Mindesten nicht unwahrscheinlich, dass noch einmal eine echte Anne-
lide gefunden werden möge, bei welcher die Bildung des Kopfdarms nicht
an die Ausbildung von nur zwei Kiemengängen (wie bei Nais und Chaeto-
gaster) gebunden wäre. Es wäre leicht möglich — aber verfrüht — auf
einige Formen hinzuweisen, deren Bau des Kopfdarms eine solche Ver-
muthung nahe legen muss.
Von den Arthropoden liegen einstweilen gar keine Beobachtungen vor.
Was wir über die Bildung ihres Kopfdarms und ihres definitiven Mundes
wissen, geht nicht über die elementarste Kenntniss hinaus, dass er wahr-
scheinlich ausnahmslos und zu grösstem Theile durch eine Einstülpung vom
Ectoderm her entsteht. Es soll dieselbe immer einfach sein und in der
Mitte liegen; von der Betheiligung zweier seitlicher Einsenkungen — die
wir Kiemengänge zu nennen das Recht hätten — sagt Niemand etwas.
Nichts destoweniger kann ich meinen Glauben nicht unterdrücken, es müsse
auch bei den Gliederfüsslern etwas Aehnliches nachzuweisen sein. Dass
man es bis jetzt nicht gesehen hat, beweist gar Nichts; denn wenn bis in
die neueste Zeit hinein die Segmentaltrichter der erwachsenen Plagiostomen
und Amphibien, die Entstehung der Urniere der Vertebraten aus Segmen-
talorganen, der typische Gegensatz zwischen Strobilation und Segmentation,
und das Vorhandensein eines echten Kiemenkorbes im Kopfe der Anneliden
314 SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
gänzlich übersehen werden konnten, so ist es natürlich erlaubt, anzunehmen,
dass auch die — wahrscheinlich existirenden — embryonalen Kiemengänge
der Arthropoden bisher übersehen sein mögen. Negative Angaben beweisen
um so weniger, als man bei keiner der bisherigen Untersuchungen über
Insecten-Entwickelung sich die Frage nach dem Vorhandensein solcher
Kiemengänge vorgelegt und auch nie die Entwickelung des Kopfes ein-
gehend genug untersucht hat, um behaupten zu können, es sei die Annahme
ihrer Anwesenheit und Theilnahme am Aufbau des Kopfdarmes eine Un-
gereimtheit. Natürlich gelten diese Bemerkungen nur denen, welche geneigt
sein könnten, zu sagen: da solche Kiemengänge bei Gliederfüsslern nicht
nachgewiesen seien, so wäre ihre Bedeutung auch bei den Anneliden eine
ganz andere.
8.17. Die Muskulatur und die Bewegungsorgane.
Durch die Beobachtungen an Nais und Chaetogaster ist der Beweis
geliefert, dass die Muskulatur — einstweilen abgesehen von ihrem histo-
logischen Bau — ganz dieselben Abtheilungen erkennen lässt, wie bei den
Vertebraten: eine neurale Muskelplatte und eine cardiale; und ferner, dass
beide genau in derselben Weise entstehen. Hier wie dort tritt zuerst die
Muskelplatte in zwei getrennten und gegliederten, den Ursegmenten ange-
hörenden seitlichen Strängen auf; von diesen aus krümmt sich das eine
cardiale Muskelrohr um den Darm, das andre neurale um das centrale
Nervensystem herum.
Man könnte, wie immer, hier einwenden, dass dieser Entwickelungs-
typus doch eben nur an Knospen, nicht an Embryonen von Anneliden fest-
gestellt worden sei. Das gebe ich natürlich zu, aber ich bestreite aufs
Entschiedenste, dass daraus ein irgendwie stichhaltiges Argument abgeleitet
werden könnte. Wollte man z. B. annehmen — um die Lehre vom gemi-
nalen Typus der Anneliden zu retten —, es entstünden beim Embryo doch
wohl Bauchmark und Muskulatur zuerst in der Mittellinie, und es krümme
sich diese als einfaches Rohr nur nach einer Seite hin um Nervensystem
und Darmcanal gleichzeitig herum: so wäre damit ein Gegensatz zwischen
der Gliederung einer Knospe und eines Embryos derselben Species ange-
deutet, welcher jede Homologisirung der Organe selbst innerhalb einer und
derselben Art unmöglich machte. Auch hätte man diese Annahme erst
durch Beobachtung als richtig zu erweisen; thatsächlich gründet sich die
Lehre vom geminalen Typus der Anneliden nur auf eine ganz oberflächliche
und ungenügende Kenntniss von den einschlägigen Entwickelungsvorgängen.
Damit wäre eigentlich jener Einwand beseitigt. Da ich es indess nicht
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 315
liebe, eine wenn auch noch so willkürlich hervorgesuchte Einwendung an-
ders, als durch Beobachtungen zu widerlegen, so habe ich mir einige der
abweichendsten Annelidenformen, die Hirudineen, auf die Entwickelung ihrer
Muskulatur genauer angesehen. Da kann ich nun aufs Entschiedenste be-
haupten, dass dieselbe sich genau so, wie bei den Naiden - Knospen bildet;
die erste Anlage derselben tritt seitlich auf und von hier aus wächst sie
sowohl neuralwärts, wie cardialwärts um Nervensystem und Darm herum.
Ausser diesen zwei Hauptmuskelgruppen kommen bei manchen Anne-
liden noch andre vor, so z. B. bei den Oligochaeten die ein oder zwei seit-
lichen Längsmuskelsruppen im Seitenfelde. Jene können sich ferner gänz-
lich zu einem Muskelrohr schliessen, welches dann einen wahren Haut-
muskelschlauch bildet; so an manchen Körperstellen von Arenicola. Die ur-
sprüngliche Trennung in der dorsalen und ventralen Mittellinie wird häufig
gänzlich aufgegeben, so bei den Naiden, wo die beiden Hälften der neuralen
Muskulatur, bei den Serpuliden, wo beide cardiale Muskelplatten in der
Mittellinie verwachsen, bei Arenicola, wo ein einfacher, die Eingeweide
gleichmässig umgebender Körpermuskelschlauch gebildet wird. Am con-
stantesten sind immer die beiden ventralen und dorsalen Muskelplatten,
während die seitlichen schon bei Chaetogaster auf eine reducirt, bei sehr
vielen polychaeten Anneliden gänzlich verschwunden sind.
Dieselben zwei Hauptabtheilungen der Muskulatur lassen sieh auch bei
allen Arthropoden nachweisen; über ihre Entstehungsweise wissen wir frei-
lich nichts; hier bleibt somit eine wichtige Lücke auszufüllen.
Fasst man aber die feineren Verhältnisse der Muskulatur ins Auge,
so ergeben sich allerdings eine Reihe nicht unbedeutender Verschiedenheiten.
Wir müssen dabei von der Muskulatur der Extremitäten absehen. Bei
keinem Wirbelthier giebt es eine um die Längsmuskeln sich herumlegende
äussere Ringmuskelschicht,, wie sie vielen Anneliden zukommt; ebenso fehlt
ihnen das System der sagittalen Muskeln, welches bei diesen oft stark ent-
wickelt ist; ihre Bauch- und Rückenmuskelplatten sind ferner niemals durch
ein so breites Seitenfeld getrennt, wie es z. B. vielen Polychaeten zukommt.
Aber es giebt Anneliden -Gattungen, in denen, wie bei Vertebraten, dies
Seitenfeld ganz verschwinden oder auf eine dünne Seitenlinie redueirt wer-
den kann; die sagittalen Muskel fehlen bald in einzelnen Körper-
regionen mancher Ringelwürmer, bald ganz vollständig, die äusseren
Ringmuskel endlich sind ebenso schwankend, mitunter bilden sie eine
continuirliche Schicht (Lumbricus ete., Arenicola), mitunter sind sie
aufgelöst in einzelne, den Körperumfang nur zu geringem Theile
umspannende Gruppen, mitunter fehlen sie ganz (Nais, Polygor-
316 SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
diust). Den Arthropoden fehlen ausnahmslos die äusseren Ringmuskel, und
die des Seitenfeldes; die sagittalen Muskel dagegen erfahren hier eine Ent-
wickelung, wie sie bei keinem Anneliden mehr vorkommt. Umgekehrt sind
sie bei den Vertebraten gänzlich unterdrückt, statt dessen aber Bauch- und
Rückenmuskel, also das System der neuralen und cardialen Muskelplatten,
vorzugsweise entwickelt und mannichfaltig gegliedert. Bei den Anneliden
allein finden wir somit in ziemlich gleichmässiger Ausbildung neben einander
und in der grössten, aber ganz unbestimmten — ich möchte fast sagen
ziellosen — Variabilität sämmtliche Muskelgruppen mit ihren überhaupt
möglichen Umbildungen, deren eine — die äussere Ringmuskellage — nach
rückwärts zu den Plathelminthen hindeutet, deren zwei andere, aber dabei
in charakteristischer Weise um- und ausgebildet, je für einen Typus —
der Wirbelthiere oder der Gliederfüssler — bestimmend werden. Wie bei
den bisher besprochenen Organen sehen wir also auch hier wieder, dass
den Anneliden im Grossen und Ganzen ein embryonaler Charakter
zukommt, insofern sie in ziemlich gleichartiger Weise ausgebildet sämmt-
liche Abschnitte der Muskulatur gleichzeitig besitzen, welche in mehr oder
minder einseitiger Weise auseinandergelegt bei den höheren Thieren isolirt,
aber dafür in sich um so reicher gegliedert vorkommen.
Es könnte mir hier eingewendet werden, dass nach den Schneider’schen
Ansichten, die er an verschiedenen Orten geäussert hat, die hier aufgestellte
Identificirung unstatthaft sei, da ja nach ihm ?) die Chaetopoden einem ganz
andern Typus — dem der Rundwürmer nämlich — angehören sollten, als
die Arthropoden und die Hirudineen. Dagegen muss ich denn freilich er-
widern, dass ich den Schneider'schen Versuch nicht entfernt als gelungen
betrachten kann. Er basirt seine systematischen (d. h. wohl phylogene-
tischen?) Anschauungen zu gutem Theile oder — wenn anders ich ihn
recht verstehe — ausschliesslich auf den Bau der Muskulatur. Die Chae-
topoden sollen gegliederte Rundwürmer, die Hirudineen segmentirte Plathel-
minthen sein.?) Nun charakterisirt er *) seine Nemathelminthen durch die
aus Längsfasern bestehende Muskelhaut; bei den Plathelminthen 5) kommen
zu derselben Schicht noch Ringmuskel und Sagittalfasern. Aber er bleibt
sich selbst nicht treu dabei; denn an derselben Stelle 6) giebt er ganz
!) Schneider, Untersuchungen über Plathelminthen. 14. Jahresber. d. ober-
schlesischen Gesellschaft für Natur und Heilkunde, 1873, p. 64.
2) Schneider, ]. c., p. 54, sqq.
®) Schneider, l. c. p. 55.
ZRL..c.p, 62.
"):1.rc2 pP. 00:
BE. )C.5BNN62,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thieree 317
richtig den unter den Nemathelminthen stehenden Borstenwürmern äussere
Quermuskeln (= Ringmuskeln) und die denselben Thieren vielfach zukom-
menden Sagittalmuskeln ignorirt er vollständig, wenigstens unter diesem
Namen. Sein in der Diagnose der segmentirten Form der Lobocephala
enthaltener Satz „Innere Quermuskeln von der Bauchlinie zum Seitenfeld*
deutet sicherlich nicht auf eine innere Ringmuskelschicht, wie sie bei ein-
zelnen Nemertinen vorkommt; dagegen ist es mir sehr wahrscheinlich, dass
es nichts weiter als eigenthümliche, aus ihrer normalen Lage gebrachte Sa-
gittalmuskeln sind. Damit glaube ich aber auch gezeigt zu haben, dass
sämmtliche Muskelgruppen, welche nach ihm ausschliesslich für die Plathel-
minthen charakteristisch sein sollen, auch bei den Anneliden vorhanden
sind, vielleicht mit einziger Ausnahme der inneren Ringmuskelschicht, welche
Schneider bei seiner sogenannten Generationsform der Plathelminthen findet.
Da dieselbe aber auch den Hirudineen fehlt, welche ich zu den echten
Anneliden rechne, so brauche ich hier auf diese Muskelschicht nicht genauer
einzugehen; es genüge die Bemerkung, dass es vielleicht doch bei manchen
Anneliden gelingen wird, dieselbe aufzufinden.
Es wäre hier der Ort, nun auch auf die ziemlich häufigen Versuche
einzugehen, die Gliedmassen der Wirbelthiere mit denen der Anneliden und
Arthropoden zu vergleichen. Ich ziehe es indessen vor, einstweilen da-
rüber zu schweigen, da ich mich bei meinen bisherigen Untersuchungen ab-
sichtlich von diesem Thema fernhielt, aber auch gänzlich abgeneigt bin,
dasselbe ausführlicher ohne die Grundlage umfassendster eigener Beobach-
tungen zu besprechen. Einige Worte und Andeutungen können indessen
hier schon ihren Platz finden.
Legt man auf die Anwesenheit eines complicirt gebauten knöchernen
oder knorpeligen Skeletts innerhalb der Extremität besonderes Gewicht, so
ist natürlich von vornherein jede Vergleichung unmöglich. Betrachtet man
aber das knorpelige Extremitätenskelett — ausgehend von dem Gegen-
baur’schen Archipterygium — nicht als etwas plötzlich Entstandenes, son-
dern als Gewordenes, so wird man bei den wirbellosen Thieren nach jenen
Formen suchen müssen, denen ein bei ähnlicher Function doch wesentlich
einfacher gebautes System von Gliedmassen zukommt, und welches in sich
Eigenthümlichkeiten vereint, die den verschiedenen aus den Anneliden ab-
zuleitenden Formen gesondert angehören. Da hätte es denn keine sonder-
lich grosse Schwierigkeit, in den häufig sehr complicirt gebauten Fuss-
stummeln der Ringelwürmer solche Organe zu sehen, aus denen etwa die
primitivsten Gliedmassen der Wirbelthiere, wie der Arthropoden entstanden
sein könnten. Es hätte keine grosse Schwierigkeit, das knorpelige embryo-
nale Skelett aus einer noch einfacheren Knorpelzellenschicht in den Anne-
318 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
lidenfüssen abzuleiten, da in den Körperanhängen der Anneliden bekannt-
lich zahlreiche Knorpelstützen auftreten; fraglich wäre freilich, ob sich hier
ein directer Uebergang auch in der Gestalt und typischen Anordnung der
Knorpeltheile zwischen beiden Gruppen auffinden liesse. Auch die Umbil-
dung des segmentirten, aber nicht eigentlich gegliederten Fussstummels der
Ringelwürmer in das wahre, mit Gelenken versehene Bein eines Insects wäre
nicht undenkbar. Eine viel grössere Schwierigkeit bietet indessen in allen
Fällen die Muskulatur; denn soll der Versuch, die mehr specialisirten Glied-
massen der Arthropoden und Wirbelthiere durch die einfacheren der Anne-
liden zu erklären, nicht scheitern, so muss er auch zeigen, dass in dem
Annelidenfuss eine Anordnung der Muskeln vorhanden sei, durch welche
sowohl die der Wirbelthierglieder, wie der Arthropoden - Extremitäten ver-
ständlich würden. Es müsste endlich auch gezeigt werden, dass die Glied-
massen in allen drei Gruppen homologen Regionen des Körpers an-
gehörten.
In dieser Beziehung ist nun zu beachten, dass in der That die Mus-
kel der Extremitäten in allen drei Thiergruppen gewissermassen zwischen
den beiden Hauptmuskelgruppen des Bauches und Rückens eingeschoben
sind. Bei den Anneliden ist dieses Verhältniss am einfachsten ausgebildet;
in dem breiten Seitenfelde zwischen neuraler und cardialer Muskulatur
stehen die Fussstummel — sowohl die dorsalen, wie die ventralen — und
es scheint, als ob ihre Muskel ausschliesslich dem System der lateralen
Längsmuskel und der sagittalen oder Quermuskel angehörten. Ich sage aus-
drücklich : es scheint; denn in manchen Fällen macht es mir doch wieder
den Eindruck, als sei ein Theil der neuralen oder selbst der cardialen
Muskelplatte mit in die Muskulatur der Gliedmassen aufgenommen worden.
Noch entschiedener ist das wohl bei Arthropoden und Wirbelthieren
der Fall.
Es könnten hiernach sowohl die Rückenstummel, wie die Bauchfüsse
der Anneliden diejenigen Extremitäten sein, durch deren Umbildung einer-
seits die der Gliederfüssler, andrerseits die der Wirbelthiere entstanden
wären. Ebenso gut aber wäre auch denkbar, dass sie beide zusammen-
gehörten, etwa den Spaltfüssen mancher Crustaceen vergleichbar, da sie ja
beide in dem Seitenfelde wurzeln und dass sie somit beide mit ihren ty-
pischen Theilen in den Gliedmassen eines Insects oder Fisches — natür-
lich mit den zugehörigen Umformungen — zu erkennen sein würden. Diese
Frage kann einstweilen nicht gelöst werden. Aber auch dann, wenn die
hier kurz angedeuteten Vermuthungen sich bewahrheiten sollten, so bliebe
doch immer noch eine grosse Schwierigkeit bestehen, die aufzuheben ich
einstweilen kein Mittel sehe. Ich meine die typische Vierzahl der Extre-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 319
mitäten bei den Wirbelthieren. His!) versucht ihre Entstehung mecha-
nisch auf Faltungen und Biegungen bei der Embryonalentwickelung zurück-
zuführen; Dohrn andrerseits sucht sie phylogenetisch durch Umbildung aus
Annelidenextremitäten zu erklären. Beider Versuche aber können mich
nicht befriedigen. Wenn wirklich das von His hervorgehobene mecha-
nische Moment der Knickung die Bildung der Gliedmassen an der ein-
geknickten Stelle hervorgerufen haben soll, so ist nicht einzusehen, warum
denn bei Gliederthieren solche Extremitäten auch an nicht geknickten
Stellen auftreten und warum sie andrerseits constant da fehlen, wo genau
dieselbe Knickung, wie bei den Wirbelthieren auftritt. Ich habe weiter oben
schon darauf hingewiesen, dass bei vielen Annulaten die Kopfbeuge genau
an derselben Stelle und in demselben, mitunter sogar in stärkerem, Masse
auftritt, als bei den Wirbelthieren (s. Taf. XIV, Fig. 25—28); trotzdem
fehlt hier an dieser Stelle (z. B. bei allen Hirudineen) die Extremität und
nie tritt bei den gegliederten Wirbellosen eine solche ausschliesslich an dieser
Knickungsstelle auf. Die sogenannte mechanische Erklärung lässt uns hier
also vollständig im Stich. Auf der andern Seite ist auch Dohrn’s ?) phylo-
genetische Ableitung wohl gründlich verfehlt; er meint, es müsste die
Rückbildung von Gliedmassen an allen Segmenten, ihr Festhalten an zwei
Punkten, die gleich weit von der Mitte, wie von beiden Körperenden eines
langgestreckten Wirbelwurms gelegen wären, zum Vortheil für die Be-
wegung der frei im Meer schwimmenden, zu Wirbelthieren sich umwandeln-
den Anneliden gewesen sein. Ich muss gestehen, dass ich gradezu das
Gegentheil annehmen muss. Mir scheint die Anwesenheit von zwei weit
von einander getrennten Gliedmassenpaaren nur ein Nachtheil für lang-
gestreckte, kriechende oder schwimmende Thiere zu sein, wenigstens wenn
man die Schnelligkeit und Stetigkeit der Fortbewegung vorzugsweise ins
Auge fasst; diese hängt bei den schwimmenden Thieren langgestreckter
Gestalt oder selbst bei den kriechenden viel mehr von der Gewalt der
schlagenden Körperbewegungen ab. Dem entsprechend sind bei den lang-
gestreckten Amphibien, Reptilien und Fischen — also gerade bei den
Formen, welchen nach Dohrn die zwei Gliedmassenpaare von besonderem
Nutzen sein müssten — diese Beine gänzlich unterdrückt oder rudimentär,
völlig nutzlos geworden. Die Dohrn’sche Ansicht ist also als Hypothese
ebenso wenig befriedigend, wie die von His und es bleibt die Frage nach
den Ursachen der ersten Entstehung der vier Wirbelthiergliedmassen,
1) His, Unsere Körperform ete., und in mehreren seiner früheren Arbeiten.
2) Dohrn, Functionswechsel, 1875 p- 14, 15.
320 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
ebenso auch die nach der Bildung der oft sehr zahlreichen Arthropoden-
beine nach meinem Dafürhalten beständig eine offene.
S. 18. Das Gefässsystem und die Athmungsorgane.
Hier bei den Circulations- und Athmungsorganen liest die Ueberein-
stimmung zwischen denen der Wirbelthiere und gegliederten Wirbellosen so
auf der Hand, dass es fast überfüssig erscheinen möchte, noch einmal auf
dieselbe hinzuweisen. Die früher in dieser Richtung gegebenen Andeutungen
können indessen hier ein wenig weiter ausgeführt werden.
| Auf der Cardialseite liegt ausnahmslos bei allen gegliederten Thieren
'das Herz, d. h. derjenige Abschnitt des Gefässsystems, in welchem die
Blutströmung (fast ausnahmslos) von hinten nach vorn erfolgt, welches
immer contractil ist und ausschliesslich die Klappen enthält, wenn solche
überhaupt vorhanden sind. Es ist ferner immer ein venöses Herz (bei den
Wirbelthieren theilweise nur während des Embryonalstadiums) und es treibt
direct das Blut zu jenen Athmungsorganen, welche allein den drei geglie-
derten Thierclassen gleichmässig zukommen, zu den (äusseren oder inneren)
Kiemen des Kopfes.
Von dem ersten Satz sind bis jetzt bei Wirbelthieren und Anneliden
keine Ausnahmen bekannt; in beiden Classen ist regelmässig die Blut-
strömung von hinten nach vorn gerichtet. Nur bei den Gliederthieren
finden sich Ausnahmen von dieser Regel; bei manchen Crustaceen und
einigen Arachniden geht vom Herzen aus sowohl ein Strom nach hinten,
als nach vorn hin. In solchen Fällen ist aber das Herz von den (nicht
contractilen®?) Gefässen immer scharf abgesetzt und es liegt dann allemal
da, wo der ihm entsprechende Abschnitt des Rückengefässes der Anneliden
auch liegt: an der Grenze zwischen Kopf und Rumpf. Wir können daher
bei den Arthropoden die mitunter eintretende Umkehrung des Blutstromes
im Rumpf (Abdomen) als eine für diese eigenthümliche Ausbildung des
Gefässsystems ansehen, da einerseits die Richtung des Blutstromes im Kopf |
die normale bleibt, andrerseits derjenige Abschnitt, den wir dort als Herz
in engeren Sinne bezeichnen, sich auch bei den Anneliden nachweisen lässt.
Es ist ausschliesslich das auf der Cardialseite liegende Gefäss oder
Herz dasjenige, welches — wenn überhaupt vorhanden — nie seine Con-
tractilität einbüsst. Bei Gliederfüsslern ist ausschliesslich das eigentliche
Herz (Crustaceen) oder das sogenannte Rücken - Gefäss contractil. Bei den
Wirbelthieren finden sich mitunter noch contractile Venen und Lymph-
gefässe; aber auch hier ist es wieder nur das Herz, welches die Fähigkeit
rhythmischer Zusammenziehung nie einbüsst, während die andern rhythmisch
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 391
‚sieh eontrahirenden Organe ungemein schwankend sind. Bei den Anneliden
endlich finden wir sehr häufig contractile Bauchgefässe, Seitengefässe oder
selbst besonders eingeschaltete contractile Gefässräume (manche Oligochaeten,
' Piseicola, Clepsine etc... Während aber in Bezug auf diese letzteren eine
‚ ganz ausserordentliche Mannichfaltigkeit herrscht, ist es wiederum nur das
ı Rückengefäss — das eigentliche Herz —, welches nie seine Contractilität
' einbüsst und ausschliesslich Klappen enthält.
Bei allen Wirbelthierembryonen und bei allen echten Fischen ist das
Herz immer ein venöses, welches das Blut den im hinteren Theil des
' Kopfes liegenden Athmungsorganen direct zutreibt. Hiervon machen schein-
bar die Arthropoden eine Ausnahme, bei denen oft das durch die Tracheen
arterisirte Blut in das Herz eintritt und von diesem aus in den Körper
‚ direet übergeführt wird. Aber es lässt sich die Laftathmung der Glieder-
füssler nicht der Kiemenathmung der Wirbelthiere oder Anneliden
‚ morphologisch vergleichen, da sie in morphologisch verschiedenen Gliedern
' des Körpers vor sich geht. Schwieriger könnte es scheinen, den Einwand
zu beseitigen, den man aus der Anwesenheit von Kiemen am Abdomen und
Thorax mancher Crustaceen und Insecten entnehmen könnte, Wenn man
indessen bedenkt, dass auch schon bei Anneliden solche Athmungsorgane
sowohl am Kopf, wie am Körper vorkommen, so wird man jenem Argument
‚ kein grosses Gewicht beilegen können; denn auch bei Crustaceen giebt
es Formen, bei denen die äusseren Kiemen auf einen kleinen, bald
vorderen, bald hinteren Abschnitt reducirt sind, sodass die verschiedenen
hier auftretenden Beziehungen zwischen Gefässsystem und äusseren Athmungs-
organen nur als weiter gehende Umbildungen des in den Anneliden
repräsentirten einfacheren Typus erscheinen. Hier endlich liegen wiederum
die verschiedenartigsten Verhältnisse neben einander. Wir kennen nicht
parasitische Würmer mit gänzlich fehlenden Athmungsorganen und Gefässen
(Capitella, Glycera, Notomastus); bald stehen äussere Kiemen an allen
Rumpfgliedern, bald nur an den Kopfgliedern, bald an beiden zugleich ;
das Gefässsystem ist meistens ein völlig in sich geschlossenes, mitunter
steht es direct mit der Leibeshöhle !) in Verbindung (Clepsine, Branchellion,
2) Es wird mitunter angegeben, das Gefässsystem der Blutegel sei gebildet durch
Verengerung der Leibeshöhle. Dem muss ich entschieden widersprechen. Die Leibes-
höhle entsteht durch Spaltung des mittleren Blattes und Bildung von Ursegment-
höhlen; sie umschliesst das sich bildende Gefässsystem und ist leicht bei jungen
Thieren, noch besser bei Embryonen, als ein vom Gefässsystem verschiedenes Netz
von Hohlräumen zu erkennen. Bei Clepsinen und andern Rüsselegeln ist das von
Leydig beschriebene zweite Gefässsystem, in welches sich das eigentliche Herz hinten
öffnet, eine Umbildung dieser Leibeshöhle; bei den andern Egeln scheint es fast
vollständig zu verschwinden,
322 _SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Pontobdella nach Leydig). Dann, wenn äussere Kiemen des Kopfes vor
handen sind, treibt das Rückengefäss das venöse Blut direet in die
Athmungsorgane hinein (Taf. XIV, Fig. 31; von Hermella nach Quatrefages
copirt). In sehr vielen Fällen lässt es endlich einen an der Grenze
zwischen Kopf und Rumpf gelegenen Abschnitt erkennen, der durch seine
grosse Selbständigkeit, Erweiterung und Verbindung mit den hauptsäch-
lichsten Athmungsorganen vom übrigen Rückengefäss scharf abgesetzt er-
scheint und dann auch längst schon als eigentliches Herz bezeichnet worden
ist (Terebella). Aber es giebt auch Anneliden, bei welchen äussere Kiemen
vollständig fehlen, denen aber nichts destoweniger ein solches Herz zu-
kommt, das nach seinem Bau, seiner Lagerung und nach seiner Verbindung
mit den Gefässen sich fast ebenso entschieden als echtes Herz zu erkennen
siebt, wie das der Wirbelthierembryonen. Perrier!) hat jüngst einige
Oligochaeten beschrieben, bei denen ein solches an der Kopfgrenze liegendes
Herz in einer Ausbildung und Sonderung vorkommt, wie man sie sonst bei
Anneliden nicht zu finden gewohnt ist. Bei der Gattung Urochaeta
kommen sogar Anhangssäcke des Kopfdarmes vor, welche paarweise an |
diesem ansitzen, hart an die Epidermis herantreten und ein ungemein
reiches Gefässnetz enthalten, dessen Aeste sich zwischen Darm und Bauch-
mark zum Bauchgefäss (Aorta) vereinigen. Nimmt man an, diese hohlen
Säcke durchbrächen die Haut, sodass eine Oefinung des Darmes durch
seitliche Kopfspalten nach aussen zu Stande gebracht wäre, so würde man
mit grossem Recht diese Säcke und ihre Spalten als Kiemensäcke und
Kiemenspalten ansprechen können; der ganze Apparat würde im Wesent-
lichen durchaus dem Kiemenkorbe eines Petromyzon, Amphioxus oder
Balanoglossus zu vergleichen sein. Ja, ich kann sogar die Vermuthung
nicht unterdrücken, dass diese seitlichen Anhangsdrüsen des Kopfdarms
von Urochaeta wirklich als Einsenkungen von aussen her, also als echte
Kiemengänge entstanden sein mögen, sodass dann ihre Trennung von der
Epidermis und der Schluss ihrer Kiemenspalten sich einigermassen dem |
weiter oben geschilderten Verhalten der zwei Kiemengänge von Chaetogaster
an die Seite stellen würde. Ich habe endlich zwei Abbildungen von Ehlers,
die ein Schema des Kreislaufes von Nereis geben, copirt, um zu zeigen,
dass auch hier im Kopfe (Taf. XIV, Fig. 21) die Strömungsrichtung in der
Aorta und im Herzen eine solche ist, wie sie meine Vergleichung mit der-
jenigen der Wirbelthiere verlangt; es geht ferner aus dem Schema des
Hautkreislaufs (Taf. XIV, Fig. 20) eines Körpersegments hervor, dass hier
!) Perrier, Etudes sur l’organisation des Lombriciens terrestres (genre Urochaeta).
Archives d. Zool. p. Lacaze. T. III. 1874. Pl. XIII, XIV, XV.
‚ ursprünglich ganz und gar getrennten Anlagen zusammenwächst; diese |
|
SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 323
im Rumpf die athmenden Anhänge der Beine nur Erweiterungen des Hautkreis-
laufs aufsitzen, also abhängig von den intersegmentalen Aortagefässen sind.
Es sind also die scheinbar abweichenden Verhältnisse im Kreislauf der
Rumpfsesmente gleichfalls auf das Schema der Wirbelthiere zu reduciren ;
oder besser gesagt, das letztere erscheint nur als eine nach einseitiger
Richtung hin erfolgte Umbildung des in den Anneliden vorhandenen gleich-
mässigeren Typus.
Diese Hinweise genügen — wenigstens einstweilen — um zu zeigen,
‚ dass das Gefässsystem der Anneliden und seine Beziehungen zu den
Athmungsorganen des Kopfes gleichartiger entwickelt sind, als bei den zwei
‚ andern gegliederten Thierclassen und dass die Ringelwürmer alle oder doch
fast alle Umbildungen, die dasselbe bei jenen erfährt, mehr oder minder
kenntlich angedeutet enthält. Hier, wie in allen andern Organen, ist der |
- Annelidentypus der embryonale, gleichartige, der aber in sich alle Elemente |
‚zu einer nach den verschiedensten Richtungen hin auseinandergehenden |
' Sonderung enthält, ohne dass der gemeinsame Typus dadurch verwischt
würde. Dieser aber ist bezeichnet durch die zwischen Darm und Nerv |
liesende Aorta mit dem Blutstrom von hinten nach vorn, durch das unter
(oder über) dem Darm liegende Herz und die directe Verbindung des
letzteren mit den äusseren (oder inneren ?) Athmungsorganen des hinteren
Kopftheiles.
Ich kann endlich nicht umhin, auf eine merkwürdige, allerdings erst
an wenigen Wirbelthieren festgestellte Thatsache in der Entwickelung des
Wirbelthierherzens hinzuweisen. Es ist durch Hensen !), Kölliker ?) und
Gasser ?) gezeigt worden, dass das Herz der höheren Wirbelthiere aus zwei
Beobachtung beweist, dass das Wirbelthierherz kein eigentlich unpaares
Organ sei, sondern dass es als ein typisch symmetrisches, aus zwei Hälften
|
I}
|
bestehendes aufgefasst werden müsse. Genau das gleiche Verhältniss aber |
giebt auch Claus *) für das Rückengefäss von Apus, Metschnikoff?) für das
1) Hensen, im Archiv f. Ohrenheilkunde Bd. II. Referat über Böttcher und
Beobachtungen über die Befruchtung und Entwickelung des Kaninchens und Meer-
schweinchens. Z. f. Anat. u. Entw. Bd. I. 1876. p. 367.
?) Kölliker, Ueber die erste Entwickelung im Säugethierembryo. Phys. med.
Verhandl. Bd. IX, 1876.
?) Gasser, Ueber die Entstehung des Herzens beim Huhn. Marburger Sitzungsber,
1876. Nr. 2.
*) Claus, Zur Kenntniss des Baues und der Entwickelung von Branchipus und
Apus. Göttinger Abhandlungen 1873. pag. 8.
) Metschnikoff, Embryologisches über Geophilus. Z. f. w. Z. Bd. 25. 1875.
T. XXI, Fig. 14, 16.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 22
324 SEMPER; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
/ von Geophilus an; auch bei den Anneliden dürfte, wie mir nach allerdings
unvollendeten Beobachtungen wahrscheinlich ist, das Rückengefäss entstehen
durch Verwachsung zweier medialer Parthien der Mesodermkeimstreifen,
nachdem diese sich um den Darm herumgekrümmt haben. Dies würde
die Thatsache, dass das Rückengefäss mitunter bei Anneliden ersetzt ist
durch zwei Gefässe, erklären; wie im Nervensystem hätte sich auch ein
embryonaler Zustand in der Ausbildung des Herzens bei den Anneliden
allein unter allen gegliederten Thieren erhalten. Ganz besonders instructiv
ist in dieser Beziehung das Gefässsystem von Hermella nach Quatrefages !);
bei diesem Wurm ist im Rumpftheil das Rückengefäss doppelt, und die
so entstandenen zwei Gefässe liegen recht weit von einander entfernt; im
Kopfe dagegen (Thorax bei Quatrefages) verschmelzen sie zu einem echten
Herzen.
$. 19. Das Urogenitalsystem.
Es ist, glaube ich, durch meine zwei ersten Arbeiten?) zur Genüge
erwiesen worden, dass das Urogenitalsystem der Wirbelthiere nach dem
gleichen Typus gebaut ist, wie das der Anneliden. Segmentweise im Be-
reiche des Rumpfes sich wiederholende Segmentalorgane verwachsen mit
einander und mit dem primären Urnierensang zu dem allen Vertebraten —
mit Ausnahme natürlich des Amphioxus — zukommenden Urnierensystem ;
gewisse Abschnitte desselben treten als Leitungsorgane für die männlichen,
wie weiblichen Keimproducte in Verbindung mit den Keimdrüsen, welche,
identisch ihrer ersten Anlage nach, links und rechts neben der Aorta
zwischen dem Mesenterium und den beiden Urnieren angebracht sind.
Während aber bei den Wirbelthieren dieser Typus ursprünglich sehr
gleichförmig ist, und sich erst später — in der systematischen Reihe oder
ontogenetisch — Umbildungen desselben einstellen, welche für die Verte-
braten vorzugsweise charakteristisch sind: verharrt das Urogenitalsystem
der Anneliden fast durchweg auf dem embryonalen Standpunkt, findet aber
in diesem bereits eine sehr mannichfaltige Durchbildung. Nur bei einer
recht geringen Zahl von Anneliden treten einzelne Segmentalorgane in
‚direete Verbindung mit den Keimdrüsen (Oligochaeten , vielleicht auch
Hirudineen); sie erfahren selbst keine weitere Umbildung und dienen,
einander bei den beiden Geschlechtern morphologisch entsprechend, beiden
Keimstoffen als Ausführungsorgane; sie treten nie (vielleicht nur mit Aus-
nahme der Hirudineen und Oligochaeten) mit einem dem primären Ur-
nierengang der Wirbelthiere zu vergleichenden Canal in Verbindung, sondern
1) Quatrefages, A. d, Se. Nat. 3. Ser. T. X, Pl. 2. Fig. I. IV.
2) Diese „Arbeiten‘“ ete. Bd. II. „Stammverwandtschaft‘“ und „Urogenitalsystem“.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 395
münden meist isolirt von einander in jedem Segmente paarweise aus. Häufig
entstehen keine besonderen Keimdrüsen, sondern Eier, wie Samenkör-
perchen entwickeln sich bald hier, bald da aus dem Leibeshöhlenepithel oder
dem der Gefässe; oft genug werden die Stellen der Leibeshöhle, wo das
Epithel sich in Keimepithel umzuwandeln vermag, auf einzelne Bezirke
beschränkt, dann aber scheint es allemal die auf der Neuralseite links und
rechts neben der Aorta, zwischen ihr und den Segmentalorganen gelegene
Furche zu sein, in welcher Eier und Samenkörperchen gebildet werden. |
Dies ist z. B. bei allen, bisher von mir untersuchten Sabelliden der Fall.
Ein durch die entsprechende Körperstelle geführter Durchschnitt zeigt die
oft in der Mittellinie verschmolzene und die Aorta umfassende Keimdrüse
seitlich begrenzt von den Segmentalorganen — genau wie bei Wirbelthieren.
Fast noch ähnlicher ist ein Durchschnitt durch einen Lumbricus in der
Gegend der weiblichen Geschlechtsdrüse; die beiden Ovarien hängen hier
als getrennte Keimdrüsen neben dem Mesenterium, welches die Aorta trägt;
weit nach aussen trifft man den Durchschnitt eines Segmentalorgans; ja
bei den männlichen Theilen liest der vereinigte Samenleiter genau so, wie
der primäre Urrierengang bei den Wirbelthieren. Auch bei den Hirudineen
entstehen die Geschlechtsdrüsen an der Neuralseite neben der Mittellinie.
In allen diesen Fällen nun gehört das Zellensubstrat, aus welchem
sich bei Anneliden die Keimdrüsen entwickeln, der neuralen Platte an; es
unterlagert direct den neuralen Muskelplatten, und ist durch diese in ihrer
Lage bestimmt. Anders die Segmentalorgane. Sie gehören dem Seitenfelde
an, d. h. der Borstenfurche zwischen Neuralmuskelplatte und dem neu-
ralen Seitenmuskel oder — wo die Seitenmuskel fehlen — dem Seitenfelde.
Entsprechend der verschiedenartigen Ausbildung des letzteren bei den
Anneliden ist denn auch die Ausmündung der zu dem Urogenitalsystem
gehörenden Segmentalorgane !) bald mehr neural- bald mehr cardialwärts.
Ganz abweichend dagegen verhalten sich die Ausführgänge der Geschlechts-
producte bei manchen Meeresanneliden; sie liegen nach Ehlers auf der
Rückenfläche bei Euphrosyne ?), in der dorsalen Medianlinie bei Myxicola ;
bei Capitella capitata liegen sie gleichfalls auf dem Rücken.
Wir sehen also auch hier wieder eine grosse Mannichfaltigkeit in der
Ausbildung sowohl der Keimdrüsen, wie ihrer Ausführgänge. Trotzdem
bewahren sie eine gewisse Gleichförmigkeit, welche durch einen weiteren, die
1) Es öffnen sich z. B. die Segmentalorgane auf dem Rücken bei Dasybranchus
caducus (Claparede, Glanures zootomiques etc, p. 518); bei Notomastus ibid. p. 513,
515; bei Cirratulus und Audouinia (Clap. Golfe de Näples II. p. 6).
>) Ehlers, Borstenwürmer p. 42.
22
326 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Hauptabschnitte des Körpers der Anneliden nicht so scharf von einander
absetzenden Charakter verstärkt wird. Bei allen echten Wirbelthieren gehören
die Keimdrüsen und die Nieren dem Rumpfe zu; Kopf- und Caudalnieren
der Knochenfische sind nur secundär durch ungleiches Wachsthum der
einzelnen Organe in diese Regionen gerathen; höchstens bei den Larven
der Cyclostomen finden sich Theile der Urniere im wirklichen Kopf. Bei
den Anneliden dagegen enthalten echte Kopfglieder sowohl Keimdrüsen oder
deren Anhangsorgane, als auch Segmentalorgane. Dennoch spricht sich auch
schon bei den Ringelwürmern der bei den Wirbelthieren völlig scharf durch-
seführte Gegensatz aus; denn bei der weitaus grössten Mehrzahl der Formen
entwickeln sich die Keimdrüsen nur im Rumpftheil; kommen sie doch —
wie bei Oligochaeten — im Kopftheil vor, so gehören sie fast ausnahmslos
den letzten Kopfsegmenten an. Die Segmentalorgane endlich sind als solche
im Kopftheil fast nie erhalten geblieben, zum Theil vielleicht in andre
Organe (Spinndrüsen der tubicolen Würmer nach Claparede) umgewandelt,
wenn es überhaupt Segmentalorgane sind. Nur bei Amphioxus und bei
Balanoglossus sind die Keimdrüsen auf den Kiementheil, den wir nach dem
früher Bemerkten als zum Kopf gehörig anzusehen haben, beschränkt,
während sie ihrem Rumpftheil völlig mangeln; Segmentalorgane sind bei
beiden bis jetzt nicht aufgefunden.
Mehr als diese Andeutungen zu geben, bin ich einstweilen nicht im
Stande; es würde der Versuch, das Urogenitalsystem der Wirbelthiere als
nach einer einzigen, doch schon bei den Anneliden angedeuteten Richtung
hin erfolgte Umbildung des bei diesen am einfachsten und gleichmässigsten
ausgeprägten Typus auch im Besonderen nachzuweisen, eine Reihe zeit-
raubender Untersuchungen erfordern, die ich zunächst nicht anstellen
wollte. Ich würde froh sein, wenn ein Anderer diese Arbeit auf sich
nehmen möchte. Soviel aber glaube ich gezeigt zu haben, dass sich
zwischen dem Urogenitalsystem der Anneliden und Vertebraten eine Menge
Parallelen deutlich erkennen lassen ; der einzige, noch problematische Punkt
ist die Frage nach der Herkunft des primären Urnierenganges bei den
Wirbelthieren. Sein ungemein frühzeitiges Auftreten lässt annehmen, dass
es ein sehr altes Erbstück der Wirbelthierahnen sei; bis jetzt ist es bei
keinem wirbellosen Thier — geschweige denn bei dem ehrwürdigen
Amphioxus und den wohl noch ehrwürdigeren Ascidien, trotz Haeckel und
Giard —, aufgefunden worden. Richtige Fragestellung bei der Unter-
suchung wird meines Erachtens auch hier die momentan vorhandene Lücke
ausfüllen.
Weit schlimmer sieht es aber mit einem Vergleich des Urogenital-
systems der Arthropoden und Anneliden aus. Die Polzellen bei den
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 327
Insecten, der häufige Mangel aller Segmentirung, die Verbindung der Aus-
führgänge mit den verschiedensten Rumpfsesmenten und endlich die Wahr-
scheinlichkeit, dass das System der Segmentalorgane gänzlich verschwunden
(Crustaceen) oder in das Tracheensystem (Myriapoden, Insecten) um-
gewandelt worden sei, lassen einstweilen keine solche Vergleichung zu. Hier
bleibt eben noch Alles zu thun übrig. Dies negative Ergebniss kann
indessen in keiner Weise benutzt werden als ein Argument gegen die, aus
besser bekannten Verhältnissen hervorgehende Folgerung: dass die Glieder-
füssler eine nach einer andern Richtung, als die der Wirbelthiere, hin er-
folgte Umbildung des gleichmässigeren Annelidentypus erkennen lassen.
Denn sonst könnte man überhaupt immer aus der Thatsache des Nicht-
wissens oder Nichtverstehens ein Argument gegen eine durch positive
Beobachtungen wohl beglaubigte Ansicht schmieden. Wir wissen, dass das
Chlorophyll auch bei gewissen Pflanzen in vollständiger Dunkelheit zu
voller Ausbildung gelangen kann, aber wir kennen die Ursachen davon
nicht, oder nicht genau. Daraus nun, dass wir sie hier nicht kennen,
schliessen wollen, es sei die nachgewiesene Thatsache der directen Ab-
hängiskeit und Entstehung des Chlorophylis bei den übrigen blattgrünen
Pflanzen von der Wirkung des Lichts falsch, würde meines Erachtens eine
ähnliche Dummheit sein, . wie wenn man hier sagen wollte: weil wir das
Urogenitalsystem der Arthropoden — wegen gänzlich mangelnder Beobach-
tungen — noch nicht in seinen Einzelheiten aus dem der Anneliden ab-
leiten können, kann es auch nicht dem Typus des Annelidengenitalsystems
angehören.
V. Abschnitt. Einwände gegen die gewonnenen Ergebnisse.
Sie sind zweierlei Art, directe oder indirecte. Jene betonen die
zwischen den Anneliden einerseits und den Wirbelthieren oder Arthropoden
andrerseits factisch bestehenden Verschiedenheiten, um die im 3. und
4. Abschnitt nachgewiesenen Uebereinstimmungen zu entkräften; diese
suchen zu erweisen, dass es andere Thiere gäbe, welche zu den Verte-
braten in viel näherem Verwandtschaftsverhältniss stünden, als die Ringel-
würmer. Wir wollen jene zuerst untersuchen.
$. 20. Die directen Einwände.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass zwischen Anneliden, Wirbelthieren
und Arthropoden grosse und auffallende Unterschiede bestehen, sie müssen
vorhanden sein, denn sonst würde man keine Berechtigung haben, diese
drei Classen (Kreise) im zoologischen System zu trennen. Aber es fragt
328 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
sich, und scheint einer kurzen Untersuchung werth, ob denn jene Unter-
schiede wirklich, — wie behauptet wird —, den systematischen Gegensatz
vor Allem zwischen Anneliden und Wirbelthieren erweisen oder ob sie
nicht vielmehr leicht als Umbildungen eines und desselben, bei den Anne-
liden am einfachsten ausgeprägten Typus zu erkennen sein werden. Wir
wollen in dieser Richtung das Verhältniss der Anneliden erst zu den Wirbel-
thieren, dann zu den Arthropoden untersuchen.
I. Anneliden und Wirbelthiere. Es muss hier vor Allem
daran erinnert werden, dass ich den Amphioxus nicht als Wirbelthier
gelten lassen und die Besprechung seiner Aehnlichkeiten mit dieser oder
jener Thiergruppe erst in dem Capitel über die indireeten Einwände
geben kann.
Ueber die wichtigste, von meinen Gegnern gemachte Einwendung, die
Verschiedenheit in den allgemeinen Lagerungsbeziehungen der Körperregionen
zum Erdboden habe ich mich weiter oben (pag. 131-—-142) ausführlich
genug ausgesprochen, um hier auf abermalige Discussion verzichten zu
können. Nur das Eine will ich hier nochmals nachdrücklichst hervorheben.
Wir lesen als freilich vergessenes Erbstück der schönsten Zeit der Natur-
philosophie auch jetzt noch fast überall die Redensart, es sei in der
Orientirung im Raume, also in der Lagerung zum Erdboden, ein die
morphologische Anordnung der Glieder des Thierkörpers bestimmendes
ursächliches Moment zu erblicken. Ob nun der Morphologe jetzt sagt, die
Beziehung zum Erdboden bestimme eine Verschiedenheit zwischen Bauch
und Rückenseite, oder ob die Naturphilosophen von einem der Erde zu-
gewandten Attractions- und einem abgekehrten Repulsions- oder Exeretions-
pol sprechen, bleibt im Grunde nur verschiedenartiges Gewand für den-
selben falschen, unbeweisbaren Gedanken. Dergleichen sogenannte causale
Momente für die Entstehung der Körperform aufsuchen, mas ganz dankens-
werthe und angenehme, weil leichte Arbeit sein; aber nie ist durch die
blos denkbare Möglichkeit ihrer wirklichen Wirksamkeit der Nachweis
dieser letzteren zu liefern. Wenn wirklich — wie das ganz dogmatisch
und philosophisch unklar gesagt wird — die Lagerung gegen die Erde, die
Richtung auf die zu suchende Beute den Bauch vom Rücken unterschied
und den Mund an die Kopfseite voran leste, so könnte jetzt dieser phy-
siologische Einfluss (der Schwerkraft ?) nicht aufgehoben sein. Thatsächlich
ist das aber der Fall. Bei den meisten lebendig gebärenden, allen ovovivi-
paren Thieren ändern die Eier oder Keimscheiben fortwährend ihre Lage
zum Erdboden; bei sehr vielen abgelegten Eiern ist gleichfalls diese Rich-
tung gänzlich unbestimmt. Die Keimwülste eines Egelembryos, welche
seine Bauchseite vollständig scharf bestimmen, ehe noch eine Spur von
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 329
Mund vorhanden ist, sind ihrer Lage nach völlig wechselnd; hat der
Embryo z. B. einer Nephelis angefangen, sich abzuplatten, so lest er sich
nun allerdings mit dieser platten Fläche gegen die flache Seite der Ei-
schale — wie schon Rathke richtig angiebt —; aber lange vorher schon
hat der Mund des kugelförmigen Embryos, dessen Keimscheibe ganz ver-
schieden liest, das umgebende Eiweiss aufzusaugen begonnen. Man wird
vielleicht sagen, in allen solchen Fällen sei die Kraft der Vererbung so
gross geworden, dass nun die directe Einmischung des Erdbodens oder der
Nahrung auf die Gestaltung des Thieres und auf die Veränderung ihrer
Axen überflüssig erscheine.e Darin könnte ich freilich nur eine der
thierischen Morphologie übel anstehende Liebäugelei sehen mit der so-
genannten exacten Methode, die Alles, selbst das Unverständlichste, gleich
auf Causalmomente zurückführen will, zurückführen zu können glaubt; ich
könnte ihr ferner die entgegengesetzte Annahme gegenüberstellen, dass die
Richtung des Thieres auf die Beute, also das Kopfende, bestimmt werde
durch das schon vor der Ausübung seiner Function vorhandene Organ zum
Fang; oder dass das Thier sich mit seinem bereits lange vor dem Kriechen
ausgebildeten und in allen seinen typischen Theilen angelegten Bauch dess-
halb gegen den Erdboden wende, weil eben der Bauch dazu am Geschick-
testen ist. Wo der Rücken passender dazu erscheint, dreht sich bekannt-
lich manches Thier vollständig um; und es ist ganz falsch, zu sagen, dass
ausnahmslos der Mund grade an der passendsten Stelle zum Fangen der
Beute angebracht sei. Man mache Experimente, man zeige, dass in der
That die Schwerkraft!) — wie bei den Blättern der Pflanzen — die be-
hauptete Einwirkung habe; aber man rede sich doch nicht ein, dass Jeder-
mann gleich eine Hypothese als eine Thatsache, eine nachweisbar wenig
durchdachte Idee als fruchtbaren Gedanken ansehen solle, blos weil ihr
Autor sie äussert und aufstellt und in autokratischem Machtgefühle von
ihrem längst gegebenen Nachweise spricht.
Eine zweite Verschiedenheit wird zwischen den gegliederten Wirbellosen
und Wirbelthieren durch den Mangel eines gegliederten Skelettes bei jenen
bezeichnet. Aber dieser Unterschied ist nicht massgebend; denn man stellt
t) Dies Wort kommt allerdings bei den Gegnern nicht vor. Aber eine andere
Einwirkung des Erdbodens auf den Embryo eines Säugethiers etc., wie sie durch
die Richtung der Schwerkraft zum Erdboden hin gegeben ist, kann gar nicht vor-
handen sein. Ich glaube sogar durch die Anwendung dieses Wortes den zu Grunde
liegenden Gedanken richtiger auszudrücken, als dies von den modernen Morphologen
geschieht; würden sie gegen die Anwendung desselben protestiren, so läge aller-
dings in ihren Redensarten nur noch die unklarste Symbolik, deren sich ein Natur-
forscher schuldig machen könnte.
330 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere.
auch die Oyclostomen mit gänzlich ungegliedertem Knorpelrohr und per-
sistirender chorda dorsalis zu den Wirbelthieren, ja selbst den Amphioxus,
obgleich er nur eine chorda besitzt, welche ihrer Structur nach sich ganz
wesentlich von derjenigen aller echten Wirbelthiere unterscheidet. Und
wenn man nun gar den Zellstrang der Ascidienlarven, der hauptsächlich
dem Schwanz angehört, ja selbst den inneren zelligen Axenstrang des
Schwanzes einer Cercarie mit der Wirbelthierchorda vergleicht, so hat man
natürlich das Recht, jeden Zellstrang diesem Organ gleichzustellen, wenn er
mit ihm nur in der Lagerung einigermassen übereinstimmt. Dies ist aber
entschieden mit dem Zellstrang der Fall, den ich bei Nais und Chaeto-
saster aufgefunden habe, und der auch nach Kowalewsky bei Embryonen
anderer Oligochaeten vorzukommen scheint; er bildet eine Zeitlang eine
continuirliche Axe, welche zwischen Nervensystem und Darm liest, neben
sich die einfache oder doppelte Aorta liegen hat; er entspricht einer
Horizontalebene, von welcher aus das Muskelrohr sich neuralwärts um das
Nervensystem, cardialwärts um den Darm herumkrümmt. Wir. dürfen
ferner nicht vergessen, dass wir bis jetzt auf diese Theile bei Anneliden
gar nicht oder kaum geachtet haben (auf die schon oben kurz besprochene,
sehr problematische chorda der Schmetterlinge glaube ich keine Rücksicht
nehmen zu dürfen); es wäre also, immerhin möglich, dass auch einmal bei
Anneliden solche Axenstränge von complicirterem, dem der Wirbelthier-
chorda mehr ähnlichen Bau gefunden würden. Ich darf und kann dabei
nicht verschweigen, dass es in der That an der betreffenden Stelle häufig
sehr eigenthümliche Gewebsstränge bei Anneliden giebt, welche kaum etwas
andres sein können, als eine chorda; Ray Lankester spricht mit Entschie-
denheit von Rudimenten einer solchen bei Glycera; ich selbst finde im
Halstheil von Balanoglossus mitunter einen eigenthümlichen Strang, den ich
fast als chorda ansprechen möchte. Es sind indessen die Verhältnisse bei
diesem wunderbaren Thier so ausserordentlich complieirt und abweichend
vom Gewöhnlichen, dass hier die blos vergleichend -anatomische Unter-
suchung ohne die Embryologie noch viel weniger, als anderswo, zum Ziele
führt. Die bisher über dies Thier vorliegenden embryologischen Arbeiten
aber berücksichtigen die Entstehung der Organe aus den Keimblättern
gar nicht.
Es kann hiernach, da überhaupt den Wirbellosen eine Chorda (As-
cidien) zugeschrieben wird, die Verschiedenheit in der Umbildung und
Differenzirung dieser selbst und der sich um sie herumlegenden Schichten
nicht als Beweis typischer Verschiedenheit zwischen Vertebraten und ge-
gliederten Wirbellosen angesehen werden. Man muss dagegen in der That-
sache, dass die sich bei den Wirbelthieren ganz allmälig entwickelnde
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 551
Wirbelsäule in ihrer Segmentirung nicht mit der durch die Ursegmente
angedeuteten Gliederung übereinstimmt (Remak), eine für die Vertebraten
charakteristische Umbildung des am einfachsten bei den Anneliden aus-
geprägten Typus sehen: ein ganz einfacher, bei den Oligochaeten bald zu
Grunde gehender Zellstrang scheidet den Körper als Hauptaxe in die
neurale und cardiale Hälfte, der dann bei den Wirbelthieren sich stärker
ausbildet, länger persistirt und nun den Kern abgiebt, um welchen herum
sich das selbständige und in seiner eigenthümlichen Gestalt und in seiner
von der Ursegmentirung abweichenden Gliederung so bezeichnende knorpelige
oder knöcherne Skelett derselben ausbildet.
Es wird ferner nicht selten als Unterschied zwischen Wirbelthieren
und Arthropoden die verschiedene Lage des Embryos zum Dotter angesehen ;
jene sollen einen bauchständigen, diese einen rückenständigen Dotter haben
und bei jenen soll auch die Axenkrümmung des Embryos eine andere sein,
als bei diesen. Das letztere!) ist aber gar nicht durchweg richtig
(s. Taf. XIV, Fig. 26, 27, 29, 19, 13). Es giebt zahlreiche Arthropoden,
bei welchen die convexe Seite des Embryos auch die Neuralseite ist, wie
bei Wirbelthieren; bei Anneliden ist diese Wirbelthierkrümmung des
Embryos sogar die Regel. Bei allen Hirudineen ohne Ausnahme ist die
Neuralseite die convexe, wie bei Wirbelthieren, wenn sich später dies
Verhältniss umkehrt und die Neuralseite die flache oder gar concave wird,
so beruht dies doch wohl auf einer Verschiedenheit in der Entwickelung
der Körpermuskulatur. Dass diese aber ihrem typischen Bau, wie ihrer |
ersten Entstehung nach mit derjenigen der Wirbelthiere übereinstimmt,
habe ich oben gezeigt. Ich habe auf Taf. XIV einige Abbildungen solcher
Embryonen copirt oder neu gegeben, um das hier Gesagte zu illustriren.
Dass endlich der Ausdruck „bauchständiger und rückenständiger Dotter“
nur basirt auf der schon mehrfach zurückgewiesenen, alten Anschauung
vom Gegensatz des Bauches oder Rückens der Gliederthiere und Wirbel-
thiere, braucht wohl nicht erst besonders gezeigt zu werden. Es ist viel-
mehr nach der von mir angewandten Terminologie bei allen Arthropoden
und Anneliden der Dotter cardialständig, wie bei Wirbelthieren, und
zwischen ihm und dem Nervensystem liegt überall die Axe, welche die
Neuralseite von der Cardialseite scheidet. ;
Das für die Wirbelthiere so charakteristische Nervenrohr fehlt wohl
zweifellos bei den Anneliden und Arthropoden. Nun will ich hier kein Gewicht
1) Diese Thatsachen sind allbekannt, zuerst aber von Dohrn (Functionswechsel)
in der hier versuchten Weise benutzt worden.
332 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
darauf legen, dass Metschnikoff !) angiebt, bei Chelifer, Teleas und einigen
Chaetopoden Höhlungen im dorsalen Schlundganglion gesehen zu haben;
ich kann ebenso auf die kurze Notiz Giard’s?) über die Entstehung des
Nervensystems von Salmacina (Protula) Dysteri nur hinweisen, obgleich sie
sich fast so liest, als habe derselbe hier ein wirkliches Neuralrohr be-
obachtet; auch die nach Nitsche?) bei Bryozoen auftretende primitive
Höhlung des Gehirns kann hier nicht benutzt werden, da ich die Ver-
wandtschaftsbeziehungen der Moosthierchen noch nicht als verstanden an-
sehen kann. Aber selbst zugegeben, dass alle diese -— und noch einige
andere — Fälle von Andeutungen eines Nervenrohrs bei gegliederten
Wirbellosen sich als unbrauchbar, weil nicht existirend, erweisen sollten,
so könnte nach meiner Ueberzeugung das Nervenrohr als solches doch
nicht als ein Beweis der typischen Gegensätze zwischen Wirbelthieren und
Anneliden angesehen werden. Denn wir wissen, dass es bei den Knochen-
fischen nicht so entsteht, wie bei den übrigen Wirbelthieren, nicht durch
Schluss einer Rückenfurche (secundären Neuralfurche), sondern durch Aus-
höhlung des verdickten Ectodermstranges, welcher das centrale Nervensystem
hervorbringt. Genau die gleiche Entstehungsweise des centralen Ganglien-
stranges habe ich bei Nais nachgewiesen; auch hier bildet sich ein mittlerer
Zellwulst — die Ectodermknospe — und die primitive Neuralfurche ver-
streicht, wie bei den Knochenfischen; beiden Thiergruppen fehlt ferner die
secundäre Neuralfurche; die beiden Hälften aber, aus denen die Ectoderm-
knospe besteht, werden deutlich bezeichnet durch eine Art Spalt in der
letzteren, welche man sich nur vergrössert und persistirend zu denken
braucht, um sofort eine Markhöhle entstehen zu sehen in völlig gleicher
Weise, wie bei den Knochenfischen. Die Rohrnatur des Nervensystems
verliert natürlich dadurch nicht ihre hohe Bedeutung für die Wirbelthiere,
da sie diesen ausnahmslos zukommt; aber sie muss aufgefasst werden als
weitere Umbildung des in den Anneliden am einfachsten entwickelten Typus.
Alle hier hervorgehobenen Einwände kann ich somit in keiner Weise
gelten lassen; denn sie sind Verschiedenheiten in Bau und Entwickelung
entnommen, die trotzdem den allen typisch gegliederten Thieren zukommen-
!) Metschnikoff, Entwickelungsgesch. d. Chelifer. Z. f. w. Z. 1871 Bd. 21.
p- 513 sqq. Fig. 15.
2) Giard, Embryologie de Salmacina, Comptes-rendus i875: „il existe. . une
echancrure qui se continue par un sillon de lI’exoderme. Ce sillon s’etend A peu
pres sur le tiers de la surface de l'oeuf; il se ferme rapidement, englobant ainsi des
elements exodermiques dans la partie centrale de l’embryon.“
®) Nitsche, Beitr. z. Kenntn. d. Bryozoen V. Z. f. w. Z. Bd. 25. Supplementbd.
1875 p. 359 T. XXIV, Fig. 1—3.
SEMPER:; Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 335
den Typus deutlich erkennen lassen. Anders liegt dagegen die Sache mit
den jetzt noch zu besprechenden Verschiedenheiten.
Es leidet keinen Zweifel, dass der Mund der Wirbelthiere dem der
Anneliden nicht gleichgestellt werden kann; dort liegt er auf der Cardial-
seite, hier auf der Neuralseite; dort geht der Schlund unter dem Gehirn
weg, hier durchbohrt er das Kopfmark, sodass ein Schlundring entsteht;
bei den Anneliden tritt er sehr früh auf, bei den Wirbelthieren sehr spät.
In diesem Gegensatz liegt allerdings eine bedeutende Schwierigkeit; denn
es ist unmöglich, oder es scheint wenigstens jetzt so, den Wirbelthiermund
als eine directe' Umbildung desjenigen der Würmer aufzufassen. Diesen
Punkt hat Dohrn” in seinem bekannten phantasiereichen Buche in ein-
gehender Weise besprochen, und er kommt dabei — allerdings nicht auf
Grund von Beobachtungen, sondern nur in Folge theilweise sehr gewaster
Hypothesen — zu dem Resultat, es sei der Wirbelthiermund entstanden
zu denken durch Verschmelzung des ersten auf der Cardialseite liegenden
Kiemenspaltenpaares, welches nach seinen Ansichten dem hypothetisch an-
zunehmenden Urwirbelwurm zugekommen sei.
Auf den ersten Blick könnten nun die Verhältnisse, wie ich sie oben
ausführlich von Chaetogaster geschildert habe, als eine Bestätigung der
Dohrn’schen Hypothese angesehen werden; ob er sie aufgestellt hat auf
Grund ähnlicher Beobachtungen, lässt sich aus seinem Buche nicht ersehen.
Ich habe zwei in seitlichen Oeffnungen mündende Kiemengänge beschrieben,
welche zum Vordertheil des Kopfdarms verschmelzen; und man könnte
geneigt sein, hier wirklich die Entstehung des Mundes durch die Ver-
einigung der beiden Kiemenspalten als erwiesen anzunehmen. Man vergässe
indessen dann erstlich, dass schon vor dieser Vereinigung die Mundhöhle
sich als selbständige mittlere Einsenkung bildet (s. p. 237 ete.), mit welcher
erst die beiden Kiemengänge spät verschmelzen; man ignorirte ferner
dabei, dass bei Nais die Kiemengangwülste nie zu echten, nach aussen
mündenden Kiemengängen werden, dass sie sich gar nicht an der Bildung
des vorderen Abschnittes des Schlundes betheiligen, sondern in den
Schlundkopf übergehen, und dass endlich hier die selbständige Einsenkung
des Mundes in der Mittellinie ungemein deutlich ist. Auch bei vielen
anderen Anneliden ist dies entschieden der Fall; bei allen Hirudineen
z. B. tritt der Mund sehr früh auf, lange vor der Einsenkung des sym-
metrischen Kopfkeimstreifens, dessen Betheiligung am Aufbau des Schlundes
oder Kopfdarms dieser Thiere sehr wahrscheinlich ist (s. p. 247). Hier
waltet also nur ein Unterschied in der Zeitfolge des Auftretens der
einzelnen Theile des Kopfdarmes ab; die Kiemengangwülste — oder ihnen
entsprechende Abschnitte des Kopfkeimstreifens — treten bald vor Bildung
334 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
des Mundes (Naiden etc.), bald nach derselben (Lumbricus?, Hirudineen)
auf; immer aber bildet sich der Mund und die Mundhöhle durch eine, in
der Mittellinie liegende unpaare Einsenkung des Ectoderms, während der
Kiementheil ‘des Kopfdarms trotz seiner mannichfachen Varianten immer
aus den beiden Kopfkeimstreifhälften hervorgebildet wird. Ich kann also
auch meine Beobachtungen, so leid es mir thut, nicht als eine Bestätigung
der Dohrn’schen Hypothese gelten lassen, sondern ich muss sie als Wider-
spruch derselben und zwar als endgültige auffassen. Ich sage, leider!
denn die alte Idee, so die complicirtesten Organe allmälig auf immer ein-
fachere und einer anderen Function dienende Theile zurückzuführen, schien
mir grade in Bezug auf diesen Punkt durch Dohrn noch am Besten durch-
geführt zu sein; schade ist nur, dass sich die Thatsachen der Entwickelung
nicht mit ihr vertragen. Es ist dies doppelt zu beklagen, weil nun die
alte Schwierigkeit wieder in ihr Recht eintritt; wäre es möglich, auch nur
in einem einzigen Falle bei Anneliden die Entstehung des Mundes durch
Verschmelzung zweier Kiemenspalten und ohne Betheiligung einer besonderen
unpaaren Mundeinsenkung nachzuweisen, so würde damit die Möglichkeit
jener Dohrn’schen Annahme erwiesen sein. Das ist aber nach den einzigen
vorliegenden Beobachtungen nicht möglich.
Es fragt sich also abermals, ob der Mund der Wirbelthiere eine Neu-
bildung oder eine Umbildung irgend eines anderen Annelidenorganes sei;
denn dass er nicht gut aus den Kiemenspalten entstanden sein kann, glaube
ich mindestens wahrscheinlich, gemacht zu haben. Für eine Neubildung
hätten wir gar keine weitere Erklärung, als die Annahme ihrer physio-
logischen Nothwendigkeit. In dieser Richtung liesse sich vielleicht mit
Erfolg an die schon von Dohrn genügend hervorgehobene Thatsache an-
knüpfen, dass bei den Wirbelthieren der Mund und Schlund sehr spät, bei
den Anneliden dagegen meist ausserordentlich früh auftreten. Ganz im
Gegensatz dazu entwickelt sich bei den Anneliden der Kopfkeimstreif, aus
welchem der Schlundring hervorgeht und der Rumpfkeimstreifen sehr spät,
während bei allen Wirbelthieren — abgesehen immer von dem ehrwürdigen
Amphioxus — das centrale Nervensystem in seinen beiden Haupttheilen viel
früher angelegt wird, als der Kopfdarm. Nun ist durch alle bisher vor-
liegenden Beobachtungen nachgewiesen, dass im Allgemeinen der vordere
Rumpftheil des Embryos früher auftritt, als der Kopftheil, und dass ein
Fortwachsen der embryonalen ungegliederten Anlagen von hinten nach vorn
stattfindet. Angenommen also, es sei durch irgend einen Umstand — viel-
leicht der Ernährung — eine ähnliche Verschiebung in der Zeitfolge dieser
Embryonalglieder bei den hypothetisch anzunehmenden Urwirbelwürmern
erfolgt oder es sei die Bildung des ursprünglichen Annelidenmundes ganz
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 335
unterblieben, so wäre in beiden Fällen die Erklärung für das Zustande-
kommen eines compacten und stark ausgebildeten Gehirns und der Mangel
eines Schlundringes bei den Wirbelthieren leicht. Da der Kopfdarm noch
nicht vorhanden war, konnte der Kopfkeimstreifen sich seiner ganzen Länge
nach aus den zwei Hälften der symmetrischen Anlage in der Mittellinie
vereinigen; die Kopfbeuge des Kopfmarks brauchte nicht erst zu entstehen,
denn sie ist, wie ein Blick auf die gegebenen Abbildungen (Taf. XIV,
Fig. 25—30) lehrt, bei den typischen Anneliden ebenso gut, wie bei den
Wirbelthieren vorhanden; es fand endlich das Kopfmark ungehinderte Ge-
legenheit, die auch bei den Anneliden vorhandene Gliederung desselben
weiter auszubilden und zugleich bedeutend an Masse zu gewinnen, ehe der
eigentliche Kopfdarm auftrat. Dieser aber fand nun an dem entwickelten
Gehirn, den mächtigen Sinnesplatten und zum Theil wohl auch an der
Chorda und Chordascheide genug Widerstand, um nach der Cardialseite
hin abgelenkt zu werden; ebenso mussten die Kiemenspalten, statt wie bei
den Würmern an der Neuralseite im Seitenfelde zu liegen, nun durch die
bedeutende Ausbildung der Sinnesplatten (und der Seitenlinie?) nach unten
gegen die Cardialseite gedrängt werden. Wie aber entstand nun auf dieser
Seite in der Mittellinie der Mund? Dohrn meint, durch Verschmelzen
zweier Kiemenspalten ; ich meinerseits glaube durch den Nachweis, dass bei
Anneliden echte Kiemenspalten existiren, diese aber erst mit dem später
auftretenden eigentlichen Munde verschmelzen und durch den Hinweis auf
die Thatsache, dass auch bei Wirbelthieren der Mund eine mittlere Ein-
senkung des Ectoderms ist, gezeigt zu haben, dass er nicht wohl aus
Kiemenspalten typischer Anneliden entstanden sein kann; denn dieselbe
Frage würfe sich bei diesen grade so, wie bei den Wirbelthieren auf. Es
muss sich also der Mund an dieser Stelle neugebildet, — was trotz
der Dohrn’schen Bemerkungen hierüber nicht unmöglich sein dürfte —,
oder er muss sich aus einem andern Organ entwickelt haben.
Für die letztere Möglichkeit liegen nun allerdings bis jetzt gar keine
Beobachtungen vor; wir kennen kein Organ auf dem Rücken der Anneliden,
welches in dieser Beziehung mit Sicherheit verwerthet werden könnte.
Doch dürfen wir nicht vergessen, dass es bisher kaum gesucht worden ist,
und dass es bei den bislang doch eigentlich nur sehr flüchtig untersuchten
Annelidenembryonen ein vorübergehendes, embryonales Organ sein könnte,
welches nicht persistirt. Diese Frage thue ich nicht ohne Grund. Es
giebt nämlich in der That bei einer Egelart — bei Clepsine bi-oculata —
eine kleine, gänzlich bedeutungslose Grube (Taf. XV, Fig. 13 h) auf dem
Rücken dicht hinter der Stelle, wo das obere Schlundganglion liegt; in ihr
bildet sich eine eigenthümliche, als Hornplatte in der Diagnose dieser Art |
336 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere.
#
bezeichnete ziemlich feste Platte aus, auf welcher sich — wenigstens hier
im Main — fast ausnahmslos Vorticellen ansiedeln. Denkt man sich diese
ziemlich tief greifende Grube nur ein wenig weiter verlängert und mit dem
Kopfdarm in Verbindung gesetzt, so würde sie zu den übrigen Kopftheilen
genau in derselben Lagerungsbeziehung stehen, wie Mund und Mundhöhle
bei den Wirbelthieren. Es stimmte dann auch die Zeit des Auftretens;
denn diese dorsale Grube tritt nach eigenen Untersuchungen sehr spät auf,
nachdem längst Kopfmark und Kopfdarm angelest sind; ja, es scheint mir
sogar, als ob sie sich mit einem Theil ihrer, der Epidermis entstammenden,
Elemente tief zwischen die Muskel an den Schlund heranschöbe. Leider
habe ich bis jetzt diesen Punkt, so wichtig seine Erforschung auch gewesen
sein würde, nicht zum Abschluss bringen können. Liesse sich nun zeigen,
dass bei Clepsine bi-oculata — und vielleicht auch bei anderen Arten —
diese dorsale Grube eine Rolle spielte bei der Hervorbringung des cardialen
Theiles des Kopfdarms, um nachher bei den meisten Arten zu verschwinden,
nur bei Clepsine bi-oculata sich zu der besonderen Hornplattentasche um-
zubilden, so wäre damit ein embryonales Annelidenorgan aufgefunden
worden, welches sehr wohl bei den Urwirbelwürmern an die Stelle des hier
unterdrückten primitiven Annelidenmundes hätte treten können. Für diese
hypothetische Annahme besässen wir einige Beobachtungsthatsachen —
während die Dohrn’sche Hypothese ganz und gar in der Atmosphäre der
Annahmen zu schweben scheint —; als indirectes Argument für ihre
Richtigkeit käme hinzu, dass gleichzeitig auch die starke und einheitliche
Entwickelung des Gehirns bei den Wirbelwürmern in plausibler Weise
mechanisch verständlich würde, was übrigens auch bei der Dohrn’schen
Hypothese der Fall: wäre. Ich hätte meinerseits nichts dagegen, diese
letztere anzunehmen, wenn ich nur eine einzige Thatsache in der Ent-
wiekelung des Annelidenkopfes kennte, welche sie wahrscheinlich machen
könnte; ja, ich suchte sie sogar eine Zeitlang durch die Chaetogaster-
entwickelung als richtig zu erweisen. Die vorgeführten, allerdings gänzlich
neuen Beobachtungen, scheinen mir indessen die von mir aufgestellte
Hypothese wahrscheinlicher zu machen: dass der Wirbelthiermund durch
die Umbildung einer auch schon bei den Anneliden vorhandenen mittleren
Einsenkung der cardialen Fläche dicht hinter dem oberen Schlund-
ganglion entstanden sei.
Es versteht sich von selbst, dass diese Annahme nicht durch ihre
mehr oder minder grosse Wahrscheinlichkeit erwiesen werden kann; ihre
berechtigte Zurückweisung aber würde das allgemeine Resultat nicht im
Mindesten verändern. Ich nehme unbedingt an, dass der Mund der Anne-
liden und der Wirbelthiermund keine homologen Bildungen sind, dass also
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 337
in dieser Beziehung ein scharfer Gegensatz zwischen beiden herrscht. Aber
wie überhaupt der primitive Mund des gegliederten Thieres in seiner Ent-
stehung der Zeit nach ungemein verschoben werden kann — sodass es
z. B. bei den Insecten wirklich Keimblasen mit einem solchen (Platygaster,
Nauplius) und ganz geschlossene Keimblasen giebt ohne ihn —, und wie
die höher ausgebildeten Thiere sich im Grossen und Ganzen durch eine bei
den ersten Entwickelungsvorgängen am stärksten ausgeprägte Verkürzung
des Entwickelungsganges auszeichnen; so kann ich im speciellen Falle
ebensogut verstehen, dass bei den Keimblasen der Wirbelthiere die Ent-
stehung des verspäteten Annelidenmundes unmöglich gemacht wurde durch die
frühe und ungemein starke Ausbildung des Kopfmarks und gleichzeitig
unnöthig wurde, da in der — allerdings bis jetzt nur bei Clepsine nach-
gewiesenen — cardialen Einsenkung ein Ersatzorgan gegeben war, das sich
seiner Lage nach durchaus dem Mund und Anfangstheil der Mundhöhle
der Wirbelthiere vergleichen lässt. :
Es ist endlich noch ein Einwand zu besprechen, den mir Götte fast
direct gemacht hat, der auch in der famosen Gastraeatheorie liegt und den
ich als schlagend anerkennen müsste — wenn er eben richtig wäre.
Götte’s allgemeine Axenhypothese der Thiere, Gegenbaur’s Axen und die
Gastraea Haeckel’s sind im Grunde genommen einem und demselben Ge-
danken entsprungen; und dieser ist seinem philosophischen Inhalt nach
nicht einmal neu. Alle modernen Anschauungen in Bezug auf die Identität
der Axen und Pole bei den Thieren lassen sich auf den Attractions- und
Repulsions-Pol der Naturphilosophen und auf Oken’s phantasiereiches Gemälde
zurückführen ; bei Heusinger !) sehen wir sogar eine typische Gastraea ab-
1) s. Heusinger, Bericht von der kgl. zootomischen Anstalt zu Würzburg 1526.
Einige Bemerkungen über die Entwickelung der Extremitäten in den Wirbel-
thieren:
p. 10 8. 3: „Höhere Ausbildung der thierischen Materie wird nur möglich durch
fortwährende Differenzirungen derselben. Die erste Differenz, welche in der homo-
genen Infusoriumskugel entsteht, ist die Bildung einer Assimilationshöhle, eines
Magens, am positiven, centralen Pole und die bestimmtere Scheidung einer excer-
nirenden Körperfläche, einer Haut, am negativen, peripherischen Pole (s. Taf. XIV,
Fig. 22, copirt nach Heusinger). Dieser Urgegensatz, durch den allein das Tbier
entsteht und besteht, bleibt durch das ganze Thierreich derselbe... ...
ibid. $. 4. Das Thier wendet die eine Seite seines Körpers der Erde zu....
die andere dem Lichte ..... An der Erdseite (Taf. XIV, Fig. 22 xa), dem
Bauche, ist die Attraction, die Assimilation am stärksten, an der Lichtseite, dem
Rücken, die Repulsion, die Exeretion. Daher wird die Körperwand an der Erd- oder
Bauchseite eingezogen, und es entsteht hier eine Oeffnung (Mund), die in den Magen
kührtaez Ks & etc.
und ferner Oken, Naturphilosophie: Nr. 272. Die Urform ist das Urbläschen.
338 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
gebildet. Damals, wie jetzt, war die — nicht deutlich eingestandene, aber
doch erkennbare — Ansicht die, dass die physiologischen Beziehungen zu
den umgebenden Medien in allen Fällen dieselben Regionen der Thiere
bestimmen müssten; dazu kommt bei den Neueren der zweite — aber
meines Wissens auch nie ausgesprochene — Gedanke, dass die Zeitfolge in
der Entstehung dieser nach physiologischen Gründen als homolog bestimmten
Pole und Axen bei «den verschiedenen Thieren immer dieselbe sein müsse.
Nun sollen nach Götte eben diese Axen und ihre Pole bei den
Wirbelthieren andere sein, als bei den Anneliden; und der sogenannte
Gastrulamund der ersteren solle nicht dem Afterende der letzteren, sondern
ihrem Mundende entsprechen; oder es sollten, um dies auf bestimmte
Organe anzuwenden, der Kopfdarm und das Gehirn der Anneliden da
liegen, wo bei dem Wirbelthier der Anus liest, da ja hier der Ruscani’sche
After dem Urmund jener und zwar dem Gastrulamund gleichgestellt wird.
Nun wäre es aber doch eine wunderbare Erscheinung, wenn trotz des
so behaupteten absoluten primitiven Gegensatzes zwischen Vertebraten und
Anneliden die Bildungsweise aller Organsysteme in beiden so vollständig
gleich sein sollte. Hier entsteht am Afterende ein Kopf, dort aber am
Kopfende; hier erfolgt die Gliederung beider Abtheilungen vom Afterende
an nach vorn, dort umgekehrt; der Afterkopf der Anneliden erhält ein
Kopfmark mit Kopfbeuge — wie bei den Wirbelthieren —; eine Sinnes-
platte und vagus, — wie bei diesen —; einen Kiementheil und Darmtheil
des Kopfdarms, Kiemengänge und Kiemenspalten — alles wie bei Wirbel-
thieren. Im Rumpftheil bildet sich das centrale Bauchmark mitunter genau
so, wie bei Knochenfischen, dieser Region allein oder doch vorzugsweise
gehört ein sympathicus an; die Muskulatur lässt die neurale und cardiale
Hälfte als typisch und immer vorhanden erkennen; Herz, Aorta und ihre
Beziehungen zu den äusseren Kiemen des Kopfes, Segmental-, Genital-
Nr. 280. Die anatomischen Systeme theilen sich in zwei grosse Parthien, in
die irdische und cosmische, oder vegatative und animale.
Nr. 281. Die thierische Zellmasse ist aber gemäss ihrem Ursprung eine durch
Licht und Luft geöffnete Blase. Die Haut ist nicht eine ringsum geschlossene,
sondern an einem End offene grosse Blase. Sie ist die offene Blüthenblase, welche
so eben Thier geworden ist.
Nr. 283. Beim letzten erreichbaren Gegensatz trennen sich endlich die Lagen;
es entstehen zwo von einander abgesonderte Blasen; die innere Blase ist nun allein
der Darm, die äussere das Fell.
Nr. 302. Rücken und Bauch sind polar zu einander. Der Rücken verhält sich
zur Bauchseite, wie Licht zur Finsterniss, wie Sonne zur Erde; daher die Rücken-
seite dunkel, die Bauchseite blass.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 339
lamellen, ja selbst die Annelidenchorda weisen dieselben allgemeinen gegen-
seitigen Lagerungsbeziehungen auf, wie bei den Wirbelthieren. Alles dies
soll aber keine Verwandtschaft, soll „Convergenz der Charaktere“ bezeich-
nen! Eine wunderbare Convergenz der Charaktere, die darin besteht, dass
bei immer tiefergreifender Scheidung der einzelnen Organe, kurz beständig
fortgesetzter „Differentiation“ — um mich eines geschmacklosen, aber be-
kanntlich vielgebrauchten Wortes zu bedienen —, und dadurch bedingten
höheren Ausbildung genau dasselbe Resultat erreicht würde, wie bei der
Vereinfachung in den späteren Entwickelungsstadien, welche in der That
in gewissem Grade zu einer „Convergenz der Charaktere“ führt. Man kann
wohl bei den vereinfachten Formen, z. B. den durch parasitische Lebens-
weise veränderten, von einer solchen sprechen; die oberflächlichen Aehnlich-
keiten zwischen Nematoden, Crustaceen und Schnecken beruhen bekanntlich
auf solchen „Convergenzerscheinungen“, die natürlich jetzt nie mehr als
Gründe für eine nähere Verwandtschaft benutzt werden dürfen. Wie da-
gegen die Aehnlichkeiten im Typus, in Entwickelung und in der Lagerung
der Körperabschnitte (Kopf und Rumpf) und ihrer einzelnen Organe, die
ich in umfassendster Weise bei Wirbelthieren und Anneliden aufgefunden
habe, als solche keine Verwandtschaft beweisenden „Oonvergenzerscheinun-
gen“ angesehen werden können, ist mir in der That vollkommen unbe-
greiflich. Noch mehr habe ich das Recht, mich darüber zu wundern, dass
Götte!) auch in seiner neuesten Arbeit über Comatula seine Gastraea-Axen-
hypothese ohne Weiteres als feststehende Grundlage benutzt und durch
meinen Widerspruch gegen dieselbe nicht einmal zu einer erneuten Dis-
cussion der nach seiner Meinung für dieselbe sprechenden Gründe ver-
anlasst wird.
Es ist indessen überflüssig, zu warten, bis sich Götte etwa zu einer
Aeusserung veranlasst sieht; auch so liegen genug Angaben vor, um auf
dem von ihm selbst gewählten Boden die vollständige Grundlosigkeit seiner
Axenlehre erweisen und zeigen zu können, dass er weder die entgegen-
stehenden Thatsachen beachtet, noch auch selbst den einzigen Gewährs-
mann, den er in Bezug auf die den Anneliden entnommenen Thatsachen
eitirt, recht verstanden zu haben scheint. Er behauptet!), es habe Kowa-
lewsky nachgewiesen, dass grade so wie bei Phascolosoma, den Nematoden
und Actinotrocha, auch bei den Oligochaeten die Gastrulaöffnung in den
bleibenden Mund der Anneliden übergehe; und er behauptet ferner mit
grosser Sicherheit, dass dies alle Würmer seien, welche in dieser Be-
1) Götte, Vergleichende Entwickelungsgeschichte der Comatula mediterranea.
Arch. t. mikr. Anat. Bd. XII. 1876 p. 642 (datirt vom October 1875).
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 23
340 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.,
ziehung bisher untersucht worden wären. Ich bedaure, ihm hierin ent-
schieden widersprechen zu müssen; es liegen Angaben vor, die beweisen,
dass bei Anneliden der Gastrulamund d. h. die erste Einstülpungsöffnung
nicht in den Mund, sondern in den After übergeht, oder wenigstens die
Stelle bezeichnet, wo der After später entsteht. Giard !) spricht in seinen
Mittheilungen über Entwickelung von Salmacina (Protula) Dysteri ausdrück-
lich und mit grösster Entschiedenheit von einem „prostoma“, welches dem
Mund gegenüberstehe dort, wo sich der After bilde und welches direet aus
dem Gastrulamund hervorgehe. Willemoes-Suhm?) giebt auf das Bestimmteste
an, dass sich bei einzelnen Anneliden der After der Larve früher, als der
Mund bilde; und da nach Götte überhaupt die erste Einstülpungsöffnung
auch als Gastrulamund anzusehen ist?), so hätten wir bei den Anneliden
das merkwürdige Factum, dass mitunter der Gastrulamund in den After,
mitunter in ihren Mund übergehe. Nach einer mir von Freund Selenka
gütigst zugesandten Notiz und Abbildungen einer Nereis geht auch hier,
wie bei Salmacina, die hinter dem Wimpersürtel gelegene primäre Ein-
stülpungsöffnung nicht in den Mund über, sondern sie bezeichnet das After-
ende. Ob sie in den definitiven After übergeht, lässt sich nicht mehr unter-
scheiden. Derselbe typisch-axiale Gegensatz also, welchen Götte allen
andern Argumenten gegenüber in den Vordergrund stellt, und den er
benutzt, um die uranfängliche typische Divergenz zwischen Würmern und
Echinodermen oder Anneliden und Wirbelthieren zu beweisen, würde hier
bei den Anneliden zu einer Trennung von Thieren führen (Salmacina,
Terebellides, Eteone und die Oligochaeten), deren sonstige Uebereinstimmung
!) Giard, Note sur l’embryogenie de la Salmacina Dysteri. Comptes rendus
17. Janvier 1875:
p. 2: „Bientöt une invagination se produit du cöte nutritif, en m&me temps
que l’epibolie des &l&ments exodermiques acheve de constituer la gastrula; le
prostoma est d’abord largement ouvert; mais il ne tarde pas a se retreeir. Son
contour n’est pas parfaitement eirculaire; il existe, en un point, une €chanerure qui
se continue par un sillon de l’exoderme...... Le prostoma se voit encore,
apres la disposition du sillon, a l’extremite inferieure de l’embryon, dans le voisinage
du point oü se formera plus tard Tanus definitif.
?) Willemoes-Suhm, Z. f. w. Z. 1871 Bd. 21 nennt ganz ausdrücklich Terebellides
Stroemii, Eteone pusilla und eine Larve unbekannter Herkunft, bei denen der Mund
später auftrete, als der After,
®) Götte sagt dies allerdings, soviel ich weiss, nirgends ausdrücklich, dass er
aber diese Ansicht hat, geht, wie ich glaube, aus seiner ganzen Argumentation
hervor. Er legt sich nirgends die Frage vor, ob denn wirklich die zuerst auftretende
Einsenkung auch bei allen echten Gastrulalarven dasselbe morphologische Glied sei;
und aus dem Mangel solchen Zweifels folgt, wie mir scheint, klar, dass er annimmt,
jede primitive Einsenkung sei auch überall gleich d. h, homolog,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 341
so auf der Hand liegt, dass meines Erachtens auch Götte wohl der Muth
mangeln dürfte, in consequenter Verfolgung seines Gedankens die erwähnten
polychaeten Anneliden von den Oligochaeten zu trennen und vielleicht in
die Nähe der Echinodermen zu stellen.
Ueberhaupt finde ich nirgends bei Götte eine naturwissenschaftliche
Erörterung der Gründe, welche, auf dem Wege der Induction aus Beobach-
tungen heraus gewonnen, ihn zur Annahme der morphologischen Identität
der überhaupt an einer Keimblase zuerst auftretenden Einsenkung zwangen ;
ich sehe in seinen mehrfachen Auseinandersetzungen über seine Axenlehre
nur Aeusserungen eines naturphilosophischen Bedürfnisses.. Ihm müssen
die primären Axen gleich, ihm muss der Gastrulamund überall identisch sein:
nicht, weil durch die Beobachtung ihrer weiteren Entwickelung oder ersten
Entstehung ihre Identität erwiesen, sondern weil sich diese aus dem Axiom
der schon zu Oken’s Zeiten aufgestellten Axenhypothese als nothwendige
Folge ergiebtt. Wenn ich nun aber finde, wie dies nach den nicht so
schlankweg als falsch zu bezeichnenden Angaben von Giard, Willemoes-
Suhm und Selenka der Fall ist, dass bald der After, bald der Mund sich
früher bildet; wenn ich überhaupt sehe, dass dasselbe morphologische Glied
bald früher, bald später, als ein andres auftreten kann, — sodass unter
Umständen die Zeitfolge der verschiedenen zusammengehörigen Organe sich
vollständig umkehrt !) — : so folgere ich aus diesen Thatsachen, dass die
Zeit des Auftretens eines Gliedes nicht von vorn herein beweisend ist, und
dass der Gastrulamund d. h. die zuerst auftretende Einsenkungsstelle des
Eetoderms durchaus nicht immer dasselbe morphologische Gebilde zu sein
braucht.
Ich muss also auf das Entschiedenste bestreiten, dass Götte Recht hat,
wenn er sagt, es gehe der Gastrulamund bei allen Anneliden in die blei-
bende Mundöffnung über; ganz im Gegensatz dazu glaube ich vielmehr,
auch ohne neuere eigene Untersuchungen zu benutzen, ausschliesslich auf
Grund vorliegender, aber von Götte nicht gewürdigter Beobachtungen zeigen
zu können, dass die primären Axen bei Wirbelthieren und Anneliden voll-
kommen übereinstimmen, aber in einem der Götte’schen Ansicht entgegen-
1) Fol hat jüngst eine in dieser Beziehung sehr lehrreiche Zusammenstellung
über die Zeitfolge im Auftreten der einzelnen Glieder bei den Mollusken gegeben.
Es geht daraus hervor, dass die zuerst auftretende Einsenkung — also der Götte’sche
Gastrulamund — bald in den eigentlichen Mund (Scymbulia), bald in die Schalen-
drüse (invagination preconchylienne) übergeht. Etudes sur le developpement des
Mollusques Paris 1875 (Reinwald).
Das Haeckel’sche Wort ‚„Heterochronie“ für diese längst bekannte Erscheinung
ist als sehr passend zu adoptiren.
2
342 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
gesetzten Sinne. Wer freilich, wie Götte, weniger Gewicht auf die ge-
sammte Organgliederung aus den Keimblättern heraus, oder selbst auf die
Entstehung dieser letzteren legt, als auf die zeitliche Differenz in der An-
lage dieser oder jener Einstülpungsöffnung, der wird natürlich den jetzt
folgenden Versuch als nichts beweisend bei Seite schieben.
Wenn wir absehen vom Amphioxus, so ist für alle Wirbelthiere das
Auftreten eines symmetrischen Keimstreifens in einer überall geschlossenen
Blase charakteristisch, deren Rusconi’scher After neuerdings häufig als so-
genannter Gastrulamund aufgefasst wird. Ich will hier nicht die Frage
discutiren, ob er dies sei, da es momentan nur darauf ankommt, hervor-
zuheben, dass er die Gegend bezeichnet, wo sich die beiden Keimstreif-
hälften am spätesten schliessen, und in dessen Nähe schliesslich der defini-
tive After entsteht; ein directer Uebergang des Rusconi’schen Afters in den
bleibenden findet indessen, wie man weiss, nicht statt. Die Keimstreif-
hälften treten bei den höheren Wirbelthieren gleich von vornherein als ein
Ganzes auf, bei den niederen sind sie als Keimwülste mitunter recht weit
getrennt und sie vereinigen sich dann in der Mittellinie allmälig so, dass
der Rusconi’sche After erst später, als die davorliegenden Abschnitte, ge-
schlossen wird. Am klarsten tritt die Entstehung des einfachen Keim-
streifens durch Verwachsung zweier seitlicher Hälften bei den Knochen-
fischen (Taf. XIV, Fig. 1—4, copirt nach His) auf, bei welchen er nach
His dadurch entsteht, dass die beiden in Form eines kleinsten Kreises auf
der Keimblase liegenden Keimwülste zuerst vorn, dann in der Mitte,
dann hinten verschmelzen, indem sie sich gleichzeitig mehr und mehr um
die ganze Keimblase herumziehen. Ich habe die von His gegebenen vier
schematischen Bilder copirt und daneben die von Robin copirten (Taf. XIV,
Fig. 5—13) entsprechenden Entwickelungsstadien eines Clepsine-Embryos
gestellt; man sieht ohne Weiteres, dass hier genau der gleiche Vorgang
stattfindet, wie bei der Entwickelung der Knochenfische !); auch hier bleibt
!) His hat in einer mir nach Beendigung dieser Arbeit zugekommenen Notiz
„Ueber die Bildung der Haifischembryonen“ (Zeitschr. f. Anat. u. Entwickelungsgesch.
Bd. II 1876) auch auf die Vereinigung des Keimstreifens aus zwei seitlichen Hälften
hingewiesen. In dieser Beziehung stimme ich völlig mit ihm überein. Wenn er aber
ebenda (pag. 115 etc.) gegen den von den Zoologen nachgewiesenen Vorgang der
Annelidensegmentation — den er Wachsthum durch Intussusception nennt — Front
macht, so muss ich ihm aufs Schärfste opponiren; es gehört nur das Durchsehen
von drei oder vier selbst der älteren Arbeiten dazu, um einzusehen, dass die Bal-
four’sche Auffassung der Wachsthumsweise vom Schwanzende des Plagiostomen-
Embryos durchaus nicht zoologisch unberechtigt ist. Bei den Anneliden findet
— das leidet gar keinen Zweifel! — eine Vermehrung der Segmentzahl durch Ein-
schieben neuer Segmente zwischen dem letzten des Rumpfes und dem primitiven
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 343
am Hinterende eine kleine rautenförmige Grube übrig (Taf. XIV, Fig. 9,
Fig. 12 a. R.), die sich schliesst, wenn der Keimstreif fertig geworden ist
und welche die Stelle des Embryos bezeichnet, wo nachher der bleibende
After durch Einstülpung vom Eetoderm her entsteht. Am entgegengesetzten
Ende aber tritt durch eine andere Einstülpung der Mund auf, welcher bei
den Rüsselegeln (Clepsine) bekanntlich ziemlich spät gebildet wird. Dabei
aber ist vor Allem bezeichnend, dass auch bei diesen Egeln die Segmen-
tirung des Rumpftheiles längst vollendet ist, ehe die des Kopfendes beginnt,
sodass also dieser letztere, für alle gegliederten Thiere so charakteristische
Gegensatz zwischen Kopf und Rumpf durch die Identität in der ersten
Anlage des Keimstreifens bei Knochenfischen und Egeln eine erhöhte
Wichtigkeit erhält.
Auf diese Entwickelungsweise der Egel, welche längst schon durch
Rathke bekannt gemacht wurde — ich hätte ebensogut, wie die Robin’schen,
die Zeichnungen dieses Forschers copiren können — legt Götte gar kein
Gewicht; er erwähnt sie, soviel ich weiss, nirgends, wohl aber behauptet
er, dass die Untersuchungen von Kowalewsky über Oligochaeten die einzigen
über Anneliden in dieser Beziehung vorliegenden seien und dass aus ihnen
die Identität ihres bleibenden Mundes mit dem Gastrulamund hervorgehe.
Man könnte nun leicht, wenn nur die Arbeit von Kowalewsky über
Lumbricus vorläge, zu der Annahme verleitet werden, dem sei in der That so.
Wirklich bleibt hier — die Richtigkeit der Angaben des russischen Zoologen
vorausgesetzt — der ursprüngliche Gastrulamund !) bestehen, und er geht
Analsegment statt. Diesen Vorgang der Annelidensegmentirung mit dem Worte des
Wachsthums durch ‚Intussusception‘‘ zu bezeichnen, scheint mir ferner recht un-
zweckmässig, denn die Botaniker haben mit Nägeli durch dies Wort einen molecularen
Vorgang in der Bildung der Zellmembranen bezeichnet, der in ganz identischer
Weise auch bei Thieren — wie den Zoologen bekannt ist — vorkommt, der aber
toto coelo von dem hier durch His mit demselben Namen belegten Vorgang des
embryonalen Wachsthums verschieden ist. Ich würde es für zweckmässig halten,
wenn an sich klare Begriffe einer anderen Wissenschaft, die in gleicher Fassung
auch auf die unsere übertragen werden können, vor der durch verkehrte Benutzung
der sie bezeichnenden Worte eintretenden Trübung geschützt würden.
1) Streng genommen wird dies nicht einmal ganz richtig sein; denn erst später
verbinden sich mit dem primären Schlunde — welcher den Darmtheil des Kopf-
darms repräsentirt — Neubildungen des Kopfkeimstreifens, welcher, wie ich bei Blut-
egeln sicher erkannt habe, aus zwei symmetrischen Hälften später als der Rumpf-
keimstreif angelegt wird. Liesse sich nun zeigen, dass aus diesem zwei Kiemengang-
wülste — wie bei Nais und Chaetogaster — an den primären Kopfdarm heranträten,
um mit dem letzteren zu verschmelzen, zugleich aber auch sich umzubilden, so wäre
streng genommen der oben gebrauchte Ausdruck nicht ganz richtig; denn der so-
genannte Urmund führte in einen ganz einfachen Kopfdarm, der bleibende in einen
solchen mit Darmtheil und Kiementheil,
344 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
wohl auch in den bleibenden Mund !) über. Aber es fragt sich sehr, ob
dies derselbe Gastrulamund sei, wie der bei den Wirbelthieren als solcher
angesprochene. Dass die von Götte vorgenommene Identification derselben
falsch sei, lässt sich allerdings an diesem einen Beispiele nicht erweisen;
denn leider fehlen in Kowalewsky’s Untersuchung alle genaueren Angaben
über die allmälige Entstehung des Keimstreifens bei Lumbrieus. Aber die
Untersuchungen von Rathke und Robin über Nephelis zeigen, dass bei einem
Thier, dessen erste Embryonalform eine ringsum geschlossene zweischichtige
Keimblase mit einem offenen Munde und Schlunde — also eine echte
Gastrula — ist, der Keimstreif genau in der gleichen Weise auftritt, wie
bei den Rüsselegeln und Knochenfischen, bei denen der definitive Mund
erst spät auftritt. Ich kann die Angaben der beiden genannten Forscher
vollständig bestätigen und hinzufügen, dass auch hier der Rumpfkeimstreifen
früher ausgebildet und segmentirt wird, als der Kopfkejmstreifen, welcher in
seinen beiden Sinnesplattenhälften unabhängig von ihm entsteht. Ja, selbst bei
den Oligochaeten giebt es eine von Kowalewsky genauer, als Lumbricus, unter-
suchte Form, nämlich Euaxes, “deren Keimstreifbildung sich ganz an das
von den Knochenfischen gelieferte Schema anschliesst (s. Taf. XIV, Fig.
14—19) und bei welchem der Keimstreif vollendet ist, ehe der Mund sich
bildete — genau wie bei Clepsine. Hier bei Euaxes ferner, wie bei
Clepsine und Nephelis krümmen sich Kopfende und Afterende stark auf die
Cardialseite — genau wie bei Wirbelthieren — über, sodass sich ihre
beiden Enden, also Kopf- und Schwanzspitze entgegensehen, wie das auch
bei Knochenfischen der Fall ist. Endlich giebt, wie schon oben hervor-
gehoben, Giard ausdrücklich an, dass das „prostoma“ des Embryos von Sal-
macina, welches seiner Schilderung nach zu schliessen, durchaus mit dem
Rusconi’schen After der Amphibien übereinstimmt, verschwindet und dass
hier genau wie bei Wirbelthieren, Euaxes und Clepsine der bleibende Mund
und After spätere Bildungen sind.
Will man nun den Rusconi’schen After der Wirbelthiere als Gastrula-
mund ansehen und ihn deswegen der primären Einsenkung der Trochosphaera
von Lumbricus und Nephelis gleichstellen, so sieht man sich genöthigt,
andrerseits anzunehmen, dass bei Clepsine und Euaxes der echte Gastrula-
mund sehr spät auftritt, trotzdem ein echter Rusconi’scher After bei beiden
vorkommt, widrigenfalls man gezwungen wäre, zu erklären, diese beiden
Annelidengattungen seien nach einem ganz anderen Typus gebaut, als die
nächstverwandten Formen Nephelis und Lumbrieus. Man sähe sich endlich
veranlasst, die ganz positiven Angaben Giard’s rundweg ohne Widerlegung
!) Kowalewsky, Würmer und Arthropoden, Taf. VI u. VII.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere., 345
als falsch zu bezeichnen. Schlägt man indessen den Weg ein, den ich hier
betreten habe, so ist das Verständniss sehr leicht und jeder Conflict
zwischen den vorliegenden Beobachtungen vermieden, allerdings aber auch
Götte’s willkürlich angenommene Hypothese vom Gegensatz der Axen
zwischen Wirbelthieren und Anneliden gründlich widerlest. Es ist dann in
allen Fällen die gleiche Orientirung des Embryos möglich ; Kopf und Rumpf
entstehen aus übereinstimmend angelesten Theilen des Keimstreifens und
sie gliedern sich bei Anneliden und Wirbelthieren in gleicher Weise weiter;
Afterende und Kopfende gehen aus den gleichen Regionen des Embryos
hervor und der einzige Unterschied, der wirklich besteht, ist das bei einigen
Anneliden (Lumbricus, Nephelis, Hirudo) constatirte sehr frühzeitige Auf-
treten einer Mundöffnung, welche in die bleibende des Thieres selbst über-
geht. Aber diese Thatsache verliert ihre Bedeutung, wenn wir erfahren,
dass bei ganz nahe verwandten Arten (Clepsine, Euaxes, Salmacina) der
bleibende Mund spät auftritt und sich die Gliederung des Keimstreifens
und die Anlage von Kopf und Rumpf vor seiner Entstehung vollzieht.
Wir hätten dann bei den Anneliden sowohl mundlose (Clepsine etc.), wie
fressende Keimblasen (Nephelis, Lumbricus), genau wie bei den Arthropoden,
bei denen mitunter die Keimblase (Platygaster, Nauplius etc.) eine fressende
und selbst mit besonderen Bewegungsorganen ausgerüstete, bei anderen
(Lepidoptera, Coleoptera, Neuroptera ete.) dagegen eine ruhende ist; nur
bei den Wirbelthieren käme das Stadium der fressenden und sich frei be-
wegenden Keimblase nicht vor, sondern nur das einer ruhenden. Es folgt!)
daraus natürlich, dass der Rusconi’sche After oder sogenannte Gastrulamund
der Wirbelthiere nicht der bei einzelnen Anneliden auftretenden primitiven
Einsenkung zu vergleichen ist und vor Allem, dass der von Götte auf-
gestellte gastro-axiale Wurmtypus mit dem der Wirbelthiere übereinstimmt.
Allerdings giebt es aber ein Thier, welches dieser Auffassung un-
bequem kommt: ich meine den Amphioxus. Hier scheint in der That nach
Kowalewsky die primäre Einsenkung nicht in den Schlund überzugehen,
wie nach dem Verhalten von Nephelis und Lumbricus zu erwarten gewesen
wäre, da jede andere Spur eines Rusconi’schen Afters fehlt; sie liegt vielmehr
an dem Afterende und sie würde, da sie verschwindet, gradezu dem Rus-
coni’schen After gleichzustellen sein. Hier besteht unbestreitbar eine einst-
weilen nicht zu lösende Schwierigkeit. Aber diese kann meiner Meinung
nach das oben gewonnene Resultat nicht umstossen; denn dann würde man
1) Natürlich ist durch die hier angeführten Thatsachen der Entwickelung der
Anneliden auch die Gastracahypothese gründlich widerlegt; ich halte es für über-
flüssig, dies hier ausführlich auseinander zu setzen.
346 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
die gegen die Götte’sche Ansicht hervorgehobenen mehrfachen Schwierigkeiten
wieder aufstellen und man würde dies einer naturphilosophisch gewonnenen
Ansicht zu Liebe thun, trotz der damit unzertrennbar verknüpften Wider-
sprüche, während die einzige vom Amphioxus meiner entgegengesetzten An-
schauung bereitete Schwierigkeit gewiss nur dadurch entsteht, dass wir
weder über seine nächsten verwandtschaftlichen Beziehungen, noch auch
selbst über seine Ontogenie irgendwie genügend orientirt sind. Denn das
leidet keinen Zweifel, dass die einzige von Kowalewsky vorliegende Ent-
wickelungsgeschichte des Amphioxus jetzt in keiner Weise mehr genügt, —
obgleich sie vor sieben Jahren sehr zur rechten Zeit kam —, und dass
zweitens selbst manche Angaben Kowalewsky’s thatsächlich falsch sein
müssen. Dahin rechne ich vor Allem seine wunderbare Schilderung von
der Entstehung des Kiemenkorbs, von welchem, — wenn anders ich sie
recht verstehe —, er angiebt, es entstünde zuerst die eine, nachher die andre
seitliche Hälfte. Von einer solchen asymmetrischen Bildungsweise symme-
trischer Theile in bilateralen Thieren wissen wir nichts; sie ist auch bei
Thieren, die sich durch einen symmetrischen Keimstreifen entwickeln, wie
er doch beim Lanzetfischehen vorzukommen scheint, ganz unmöglich. Auch
giebt Rolph !) eine ganz abweichende, allerdings, wie es scheint, nicht auf
eigenen Beobachtungen beruhende Schilderung dieses Vorganges.
Aber selbst, wenn es sich herausstellen sollte, wie es wahrscheinlich
ist, dass Kowalewsky in Bezug auf Entstehung, Lage und Schluss des
Gastrulamundes bei Amphioxus Recht hat, so geben uns doch auch die von
Willemoes-Suhm schon früher eitirten Beobachtungen über die Entstehung
des Afters Mittel zu einer plausiblen Hypothese an die Hand. Er hat an
drei polychaeten Anneliden gezeigt, dass der After früher auftritt, als der
Mund, bei einer unbestimmten Larve sogar ebenso früh, wie der Darm,
also wie das Entoderm; es ist daher anzunehmen, dass bei ihnen der After
in der That aus der ursprünglichen Einstülpungsöffnung entsteht. Nimmt
man nun an, dass derselbe bei diesen Formen persistire, beim Amphioxus
sich schliesse und bei anderen Anneliden und den Vertebraten nur noch
als Rusconi’scher After kenntlich bleibe, so hätten wir in dieser Reihe eine
Parallele zu so zahlreichen Beispielen sogenannter embryonaler Organe, die
bekanntlich in den mannichfaltigsten Varianten aufzutreten lieben. Bei
jenen von Willemoes untersuchten Anneliden bliebe er zeitlebens bestehen
als definitiver After; bei dem Amphioxus, Salmacina und Nereis wäre er
eine Zeitlang kenntlich als primäre Einstülpungsöffnung; endlich bei den
!) Rolph, Untersuchungen über den Bau des Amphioxus lanceolatus. Jahrb. f.
Morph. II. 1876, p. 152—154.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 347
Vertebraten und vielen Anneliden wäre er auch im Embryo nicht mehr als
deutliche Einstülpung, sondern nur noch als Rusconi’scher After erkennbar ;
dagegen träte in solchen Fällen mitunter eine zweite Einstülpung, der blei-
bende Mund, der Zeit nach an seine Stelle.
In dieser Weise scheinen mir die im Augenblick allerdings noch vor-
handenen Schwierigkeiten unschwer lösbar zu sein. Natürlich muss es
Untersuchungen vorbehalten bleiben, hierin die Entscheidung zu geben, da
die Möglichkeit der Erklärung für den Naturforscher nie als Beweis ihrer
Richtigkeit zu gelten hat. Unter allen Umständen aber muss ich das in
Bezug auf die Verwandtschaftsverhältnisse der Anneliden und Vertebraten
gewonnene Resultat aufrecht halten: dass bei beiden Classen die primären Axen
gleich sind und bei beiden in durchaus gleicher Weise ein Rusconi’scher
After vorkommt und die Anlage und Ausbildung des Keimstreifens erfolgt
und dass endlich in allen wesentlichen Organen des Rumpfes und Kopfes und
in dem Typusihrer Entstehung eine so grosse Uebereinstimmung zwischen ihnen
erkennbar ist, dass sie sicherlich nicht als sogenannte Convergenzerscheinung,
sondern als Ausdruck wirklicher Verwandtschaft aufzufassen ist. Denn
wenn auch bewiesen werden sollte, — was ich indessen für unmöglich halte —,
dass der Gastrulamund des Amphioxus nicht dem Rusconi’schen After der
Anneliden entspräche, so könnte er auch nicht dem der Vertebraten gleich-
gestellt werden; es gehörte dann dieses Thier in einen ganz anderen Typus
hinein. Da dies indessen aus verschiedenen Gründen nicht wohl anzunehmen
ist, so bleibt nur die eine Möglichkeit übrig, die ich schon andeutete: dass
der scheinbare Gegensatz zwischen dem Amphioxus und den Anneliden im
Wesentlichen nur dem noch mangelnden Verständniss des ersteren zuzu-
schreiben sei. ’
Werfen wir nun noch einen kurzen Rückblick auf die in diesem Ab-
schnitt erhaltenen Resultate. Während in dem vierten Abschnitt der
Nachweis geliefert war, dass zwischen Anneliden und Wirbelthieren in der
weitaus grössten Mehrzahl der Organe und ihrer Entstehung typische —
natürlich aber nicht specielle — Identität zu erkennen ist, wenn man nur
bei beiden die Neuralseiten, sowie die Mund- oder After-Pole gleichstellt:
ist es uns hier gelungen, zu zeigen, dass die thatsächlich bestehenden Ver-
schiedenheiten nur bedingt sind durch eine verschiedenartige specielle
Durchführung des gleichen, bei den Anneliden am einfachsten ausgeprägten
Typus. Die allgemeine Orientirung im Raume konnte als gänzlich werthlos
für die morphologische Vergleichung dargelegt werden. Das gegliederte
Skelett und die eomplieirte Wirbelthierchorda, die Krümmung des Embryos
und seine Lage zum Dotter, das Nervenrohr erschienen wohl als charak-
teristisch für die eine oder andere Gruppe, konnten aber in ihrem für die
348 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
Wirbelthiere bezeichnenden Bau doch entweder direct als Umbildungen eines
einfacheren Gliedes der Anneliden (Nervenrohr, chorda), oder als auch bei
diesen in manchen Fällen genau wie bei Wirbelthieren existirend (Lage des
Embryos zum Dotter und Axenkrümmung), oder endlich als den allgemeinen
Typus nicht beeinflussend (secundär gegliedertes Skelett), nachgewiesen wer-
den. Der weitere Einwand, alle die so aufgedeckten Aehnlichkeiten seien
blos sogenannte Convergenzerscheinungen, weil die Gastralpole oder Pole
der Hauptaxe bei Anneliden und Wirbelthieren diametral entgegengesetzt
seien (Götte), konnte ebenfalls leicht als auf ungenügender Benutzung und
willkürlicher Auswahl des bereits vorhandenen Argumentenmaterials beruhend
nachgewiesen werden; zugleich war es möglich, zu zeigen, dass entgegen
der Götte’schen Axenhypothese der Mund- und Analpol bei Anneliden und
Wirbelthieren genau übereinstimmen, da sowohl die erste Anlage des Keim-
streifens mit dem Rusconi’schen After, wie die spätere Umbildung desselben
in Ursegmente des Rumpfes und Kopfes bei beiden Thiergruppen in durch-
aus identischer Weise vorkommt. Es stellte sich dabei nur der eine Unter-
schied heraus, dass mitunter — aber durchaus nicht immer — bei Anne-
liden der Mund am vorderen Pol so früh auftritt (vielleicht selbst vor dem
Rusconi’schen After?), dass er bei oberflächlicher Beurtheilung der Bilder
und Darstellung leicht mit diesem, d. h. mit dem sogenannten Gastrula-
mund der Wirbelthiere, zu verwechseln war.
Der einzige, wirklich bestehende typische Unterschied zwischen Wirbel-
thieren und Gliederwürmern bleibt sonach die dort cardiale, hier neurale
Lage des Mundes und die dadurch bedingte Ausbildung eines Schlundringes
bei den Anneliden. Dieser Unterschied würde meines Erachtens nicht zur
Aufstellung eines grundsätzlich verschiedenen und durch keine Uebergänge
vermittelten Typus der zwei Classen berechtigen, da in allen übrigen, all-
gemeinsten wie speciellsten, Verhältnissen eine sehr weitgehende Ueberein-
stimmung zwischen beiden dargelegt werden konnte. Aber es war ausser-
dem sogar möglich, zu zeigen, dass nicht auf Grund von reinen Spekulationen,
— wie Dohrn sie gab —, sondern auf Grund einzelner, allerdings nicht
zahlreicher und bis jetzt auch noch nicht hinreichend ausgeführter Beob-
achtungen die Möglichkeit der Rückführung des Wirbelthiermundes auf ein
bei Anneliden (Clepsine) vorkommendes Organ doch einigermassen wahr-
scheinlich zu machen sei.
Gelänge es nun in Verfolgung des zuletzt erwähnten Punktes zu zeigen,
dass in der That bei den Anneliden öfter, als bisher anzunehmen ist, ein
dem Hornplattensack von Clepsine bioculata gleichzustellendes Organ —
embryonales oder bleibendes — zukomme, so wäre damit auch der letzte,
wirklich scharfe Gegensatz zwischen ihnen und den Wirbelthieren hinweg-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 349
geräumt; denn dann wäre in Bezug auf fast alle einzelnen Glieder des
Wirbelthierkörpers, wie deren erste Entstehung in der ruhenden Keimblase
gezeigt, dass die Anneliden in gewissem Sinne als Embryonen der Wirbel-
thiere zu betrachten seien, da bei ihnen alle, den letzteren zukommenden
specialisirten Theile in weniger scharf ausgeprägter, embryonaler Form und
in gleichartigerer Anordnung bei vollständigster Uebereinstimmung des pri-
mären Entwickelungstypus vorkämen.
II. Anneliden und Arthropoden. Es könnte fast überflüssig
erscheinen, hier auf eine Vergleichung dieser beiden Classen einzugehen, da
einmal die grosse Mehrzahl der jetzt lebenden Zoologen die typische Ueber-
einstimmung zwischen beiden unbedingt anerkennt, und andrerseits eine so
vollständige Homologisirung einzelner Glieder des Arthropodenkörpers und
des der Anneliden, wie dies bei den Wirbelthieren möglich war, jetzt noch
nicht durchzuführen ist. Es mangelt dazu vor Allem noch viel zu sehr an
einer gleichmässigen Durcharbeitung der Organanlagen bei den so ausser-
ordentlich variirten Gliederfüsslern. Beispielsweise wissen wir noch gar
nichts von der Muskulatur, deren erste Entstehung, — ob in der ventralen
Mittellinie (geminale Entwickelung) oder im Seitenfelde und dadurch be-
dingtes Herumwachsen derselben zur Neural- und zur Cardialseite hin (bi-
geminale Entwickelung) —, doch vor Allem den allgemeinsten Typus be-
stimmen hilft. So lange aber keine Homologieen aufzustellen sind in er-
heblichem Masse, wird es auch überflüssig erscheinen, die zum grössten
Theile durch mangelnde Kenntniss erzeugten oder verschärften Gegensätze
zwischen beiden Thiergruppen zu discutiren und als nicht bestehend nach-
zuweisen. Was ich in dieser Beziehung ohne erneute Untersuchungen etwa
zu sagen hätte, findet sich bereits im 4. Abschnitt und in der „Stamm-
verwandtschaft‘‘ ausgedrückt.
Es ist indessen neuerdings von Bütschlit) der Versuch gemacht worden,
der herrschenden Annahme gegenüber einen typischen Gegensatz zwischen
Anneliden und Arthropoden aufzudecken. Dieser zum Theil wohl gegen
mich direct gerichteten Darlegung Bütschli’s muss ich einige Zeilen widmen.
Ich stimme ihm zunächst vollständig bei, wenn er sagt, dass die seg-
mentirten Anneliden ihren Ausgangspunkt von unsegmentirten Stammformen
nahmen; und ebenso auch darin, dass, wenn in dem einen Fall die Be-
dingungen zur Segmentbildung gegeben waren, sie eben so gut auch in einem
anderen auftreten konnten. Die theoretische Möglichkeit ist unbedingt zu-
zugeben. Aber darin kann ich ihm nicht ganz beistimmen, wenn er nun
1) Bütschli, Untersuchungen über freilebende Nematoden und die Gattung Chae-
tonotus. Z. f. w. Z, Bd. XXV], 1876, p. 393 sqg.
350 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
sagt, es seien die Verschiedenheiten zwischen den Anneliden und Arthro-
poden grösser, als die zwischen diesen und den von Bütschli als ihre be-
sonderen nächsten Verwandten angesehenen ungesliederten Formen. So
sollen die ungegliederten Nematoden durch die Nematorhynchen mit den
Arthropoden, andrerseits die Anneliden mit den ungesliederten Plathel-
minthen inniger, als diese mit jenen zusammenhängen; beide Gruppen aber
entfernt er im System vollständig von einander, da sie ihm als Endpunkte
zweier divergenter Enntwickelungsreihen erscheinen.
Ich will nun zwar nicht behaupten, dass Bütschli’s Ansicht unmöglich
sei; aber ich muss bekennen, dass mich seine Argumentation nicht befrie-
dist. Er legt Gewicht auf Dinge, welche — wie Wimperuns, Häutung —
von gar keiner morphologischen Bedeutung sind; andere Sätze — wie die
über das Gefässsystem der Arthropoden, den Mangel der Gliederung in ihren
Geschlechtsorganen, den Muskelschlauch ete. — sind theils unrichtig, theils
nicht erschöpfend.. Wenn er z. B. sagt, es verhielten sich die Tracheen
entwickelungsgeschichtlich ganz anders, wie die Segmentalorgane der Anne-
liden, so ist dies noch durchaus nicht erwiesen ; jene entstehen als Einsen-
kungen der Epidermis, und die contractilen Endblasen der Segmentalorgane
von Hirudo entstehen nach Leuckart gleichfalls durch Einsenkungen aus
dem Eetoderm; dass nun hier bei den Anneliden eine Verbindung der letz-
teren mit den Segmentaltrichtern erfolgt, beweist noch nicht den Gegensatz
zu den Tracheen, denn auch mit diesen treten Theile des Fettkörpers, also
des Mesoderms, in so innige Beziehung, dass hier geradezu von einer Ver-
wachsung gesprochen werden kann. Warum sollen nun nicht die Fettkörper-
lappen — vor Allem etwa die harnsaure Salze enthaltenden, neben dem
Herzen gelegenen Theile — den eigentlichen, aus dem Mesoderm entstehen-
den Segmentalorganen, die Tracheen aber den bei den Anneliden sehr
kurzen, aus dem Ectoderm durch Einsenkung entstehenden Endblasen oder
Ausführgängen gleich sein können? Ich halte den Beweis ihrer Identität
allerdings noch nicht für erbracht; aber ihre Verschiedenheit ist ebenso-
wenig erwiesen. Was Bütschli über die Structur der Arthropodenfüsse und
ihre Aehnlichkeit mit denen der Nematorhynchen sagt, lässt sich ebenso
auf die Fussstummel der Anneliden anwenden; auch bei diesen kommen
echte Furcalanhänge vor; auch bei den Anneliden finden sich einfache und
paarige Genitalöffnungen. Ein Muskelschlauch soll bei den Arthropoden
fehlen, natürlich wohl auch ihren ungegliederten Stammformen — obgleich
die Echinorhynchen ihn besitzen !) —; dagegen für die Anneliden typisch
sein — obgleich er bei Nais redueirt ist oder gänzlich fehlt — ; übersehen
") Schneider, Nematoden, T. XXVII, Fig. 9 mt.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 351
wird die weitgehende Uebereinstimmung in dem Gesammtbau der Muskulatur
bei Arthropoden und Annulaten; in den Geschlechtsorganen soll bei den
Arthropoden — trotz der Skorpione und Myriapoden — keine Gliederung
erkennbar sein, während ignorirt wird, dass bei allen Oligochaeten und
Hirudineen der Eierstock gänzlich ungegliedert ist und der Hode bei jenen
höchstens aus 2 Segmenten besteht. Es würde zu weit führen, wollte ich
auf alle Einzelheiten des Bütschli’schen Versuches eingehen; es genügt hier
endlich noch darauf hinzuweisen, dass er den eigentlichen Typus, wie er
sich in der Entwickelungsweise der einzelnen Glieder der Keimblätter aus-
spricht, gänzlich unbeachtet lässt und dass er gar keine Rücksicht nimmt
auf den bei Anneliden wie bei Arthropoden bald mehr, bald minder scharf
ausgesprochenen Gegensatz zwischen Kopf und Rumpf und der Zeitfolge
ihrer Segmentation. Nun wäre es meines Erachtens dennoch wohl möglich,
oder wird es einmal sein, beide Gruppen auf zwei verschiedene, ungegliederte
Urformen !) zurückzuführen ; aber fraglich bleibt es, ob diese dann auch so
sehr von einander verschieden sein können, wie es die Nematorhynechen und
die Plattwürmer — etwa eine Planarie — sind, und zweifellos scheint mir
zu sein, dass einstweilen ein Urtheil gar nicht zu fällen ist. Ich halte
eine Versöhnung meiner eigenen Ansichten über die Verwandtschaftsbeziehun-
gen der gegliederten Thiere mit denen Bütschli’s gar nicht für unmöglich ;
und es würde mich freuen, wenn wir uns einmal irgendwo zusammenfinden
') Wenn ich in der „Stammverwandtschaft‘‘ einen monophyletischen Stammbaum
aufstellte, so hatte dies seine praktischen Gründe; ich habe damit aber nicht im
Mindesten gesagt, dass nun sämmtliche gegliederten Thiere von einer einzigen un-
gegliederten Urform abstammen sollten, sondern nur, dass die I, 2 oder x unge-
gliederten Stammeltern der segmentirten Thiere untereinander näher verwandt wären,
als mit diesen. Wollte man wegen der Andeutungen, die sich in einer embryonalen
Thierordnung, nach verschiedenen Richtungen hindeutend immer auffinden lassen,
diese auflösen und ihre einzelnen Glieder unter die andern Ordnungen vertheilen,
so würde man genöthigt sein, sehr bald alle von sogenannten Larvenformen gebildeten
Ordnungen oder Familien aufzulösen. Nähme man z. B. an, es könnten die Cer-
earien, ohne ihre Metamorphose zu vollenden , geschlechtsreif werden, so würden sie
eine ganz natürliche Familie bilden, deren einzelne Mitglieder sich aber doch durch
ihre Organisation an die verschiedensten 'Trematoden anlehnen könnten. Keinem
Zoologen würde es aber einfallen, eine solche Cercarienfamilie aufzulösen, und unter
die verschiedenen Trematoden zu vertheilen, je nachdem Saugnäpfe, Hautbewaffnung,
Darmkanal und Geschlechtstheile eine Annäherung gestatteten. In genau demselben
Verhältniss stehen nach meiner Ueberzeugung die ungegliederten, nur aus Kopf und
Rumpf bestehenden Formen zu den streng segmentirten; jene bilden diesen gegenüber
eine embryonale Gruppe, die in sich alle Charaktere in grösserer typischer Einfachheit
vereinigt, welche bei den segmentirten Thieren in besondere Richtungen getrennt
werden.
352 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
sollten, obgleich die Wege, die jeder von uns einschlug, recht sehr ver-
schieden sind. Es giebt bekanntlich mehr als einen Weg nach Rom; von
Bedeutung ist nur, dass man überhaupt dahin kommt.
Ss. 21. Dieindirecten Einwände.
Die directen Einwände gegen meine Ansichten scheinen mir durch
Obiges hinreichend widerlegt zu sein. Aber es könnten gegen sie noch
stärkere, indirecte erhoben werden. Gelänge es nachzuweisen, dass trotz aller
von mir hervorgehobenen Aehnlichkeiten im: Typus der Vertebraten und
Anneliden und der embryonalen Gliederung in einzelne Organe es Thiere
gäbe, welche den Wirbelthieren doch noch ähnlicher wären, als die Ringel-
würmer, so würden die letzteren natürlich wieder in ihre ganz abseits lie-
gende Ecke der allgemeinen Rumpelkammer der „Würmer‘‘ geworfen werden.
Wirklich bedeutungsvolle Einwände dieser Art giebt es nur drei: das
Verhältniss des Amphioxus zu den Wirbelthieren und den Ascidien, die
Aehnlichkeit der Ascidienentwickelung zu derjenigen der Wirbelthiere und
endlich die Beziehungen der Cyclostomen und Amphibien zu den Ascidien
und den Enteropneusten (Balanoglossus). Ich glaube zeigen zu können, dass
die Behauptung, die hier genannten Thierformen seien näher untereinander,
daher auch die Ascidien näher mit den Wirbelthieren verwandt, als die
Anneliden mit diesen letzteren, nur auf ganz einseitiger Argumentation und
Uebertreibung des morphologischen Werthes einzelner Charaktere beruht.
I. Die Ascidien und Wirbelthiere. Die unbestreitbar vor-
handene Aehnlichkeit zwischen Amphioxus und den Ascidien war es wohl,
welche diese letzteren als nächste Verwandte der Wirbelthiere erscheinen
liess, sowie nur einige Spuren wirklicher Verwandtschaft zwischen ihnen
aufgefunden wurden. Im Grunde genommen sind es nur drei Punkte, welche
in dieser Richtung verwerthet worden sind: die Entstehung des Nervenrohrs,
die sogenannte Chorda und der Kiemenkorb. Ich will kein weiteres Ge-
wicht darauf legen, dass das Nervenrohr der Tunicaten nur in der
Minderzahl der Fälle durch Schluss einer Neuralfurche entsteht; bei den
meisten entsteht es bekanntlich durch Aushöhlung eines soliden Zellenknotens,
wie neuerdings auch noch für die Salpen von Salensky !) nachgewiesen wor-
den ist. Die beiden Weisen der Entstehung eines Nervenrohres kommen
auch bei Wirbelthieren vor. Es wäre hierdurch allerdings ein gewisses
verwandtschaftliches Moment angedeutet, welches aber an Bedeutung für
den darauf gegründeten Schluss verliert, wenn man erfährt, dass z. B. auch
!) Salensky, Ueber die embryonale Entwickelung der Salpen. Z. f, w. Z, Bd.
27, 1876, p. 196.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 353
bei den Bryozoen durch Nitsche!) eine Höhle im Ganglion nachgewiesen
wurde, welche sich nicht durch Aushöhlung in einem soliden Zellzapfen,
sondern durch Schluss einer ursprünglich offenen Grube bildet. Die Theilung
des Nervenrohrs in drei Blasen wird — wohl etwas voreilig — mit der
Entstehung der Gehirnblasen der Wirbelthiere identifieirt; aber die vordere
derselben bei den Salpen kann nie, wie Salensky dies thut, mit dem ersten
Ventrikel verglichen werden, da aus jener ein wimpernder unpaarer Canal
wird, der sich in die Kiemenhöhle öffnet, während die mit dieser Wimper-
grube verglichenen Sinnesorgane der Wirbelthiere — die Riechgruben —
sich von aussen einsenken und erst secundär mit den Riechkolben verbinden.
Endlich wird mitunter angegeben, dass Höhlen in den Nervencentren auch
bei gegliederten Thieren vorkämen, so z. B. bei Chelifer, Teleas und einigen
Anneliden nach Metschnikoff ?).
Es ist also erstlich nicht einmal ausgemacht, dass die Rohrnatur des
Nervensystems ausschliesslich den Wirbelthieren und Tunicaten zukomme;
es ist zweitens die vordere Gehirnblase der Salpen (Salensky) nicht den
Hemisphären des Wirbelthiergehirns zu vergleichen, da es sich zu einem
ganz anderen Organe umbildet, wie diese sind. Es fehlt aber auch allen
Tunicaten ein Abschnitt, welchen man mit Recht dem verlängerten Mark
und Rückenmark der Vertebraten vergleichen könnte; es entstehen die
Augen der frei schwimmenden Larven der Ascidien nach Kupfer ?) in durch-
aus abweichender Weise, wie bei den Wirbelthieren, nicht aus besonderen
Sinnesplatten heraus, und das Ectoderm betheilist sich an ihrer Ausbildung
gar nicht. Von irgend welcher genaueren Uebereinstimmung selbst zwischen »
den primitivsten Embryonalstadien des centralen Nervensystems der Wirbel-
thiere mit den bleibenden oder embryonalen Verhältnissen desselben bei
Tunicaten ist nicht die Rede. Es fehlt endlich den letzteren das System
der Spinalganglien, ja selbst des vagus und sympathicus vollständig; we-
nigstens ist nichts über ihr Vorhandensein bekannt ?).
1) Nitsche, Beiträge zur Kenntniss der Bryozoen V. Z. f. w. Z., 25. Bd.
Supplementheft 1875, p. 343.
2) Metschnikoff, Z. f. w. Z,, Bd. 21, 1871 p. 513 sqq., Fig. 15.
3) Kupfer, Die Stammverwandtschaft zwischen Ascidien und Wirbelthieren.
Schultze’s Archiv Bd. VI, 1870 u. Zur Entwickelung der einfachen Ascidien ibid.
Bd. VII, 1872.
*) Die Arbeit von Todaro habe ich mir leider bis jetzt noch nicht verschaffen
können; ihre Resultate nach dem Virchow-His’schen Jahresbericht zu kritisiren ohne
Kenntniss des Originals halte ich um so weniger für angezeigt, als Brooks in wesent-
lichen Dingen Todaro widerspricht. Todaro, Sopra lo Sviluppo, e l’Anatomia delle
Salpe. Roma 1875, und Brooks, The Development of Salpa. Bulletin Museum
Comparät. Zoology Cambridge 1876. Vol. III, p. 291 sqg.
354 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
Bei den gegliederten Wirbellosen aber findet sich eine embryonale Ent-
stehung des Nervensystems, welche mit der bei Knochenfischen vollständig
übereinstimmt; es gliedert sich dasselbe deutlich in Kopfmark und in
Rumpfmark; die Spinalganglienreihe der Wirbelthiere ist gleichfalls ver-
treten; vagus und sympathicus sind denen der Vertebraten durchaus gleich ;
die aus dem Bauchmark segmentweise entspringenden Spinalnerven haben
immer zwei Wurzeln; im Kopfe finden sich zwei Sinnesplatten; die Kopf-
beuge des Gehirns ist auch hier, wie bei Wirbelthieren, vorhanden. Die
bestehenden Unterschiede — Ganglienkette, Bauchlage des Marks, Schlund-
ring — sind nicht hypothetisch, sondern auf Grund von Beobachtungen zu
erklären; während die Verschiedenheiten zwischen dem embryonalen Nerven-
system der Tunicaten und Wirbelthiere in keiner Weise durch Thatsachen
wegzubringen sind.
Die chorda dorsalis der Tunicaten ist das zweite Argument. Ist
sie aber wirklich eine solche? Im Grunde hält man den bekannten Zell-
strang der Ascidienlarven — der indess auch öfters ganz fehlen kann,
z. B. bei Molgula — nur desshalb für eine Rückensaite, weil man sonst
nicht viel mit ihm anfangen kann. Geht man aber weiter und nimmt man
mit Giard auch an, dass der Zellstrang im Schwanz der Trematodenlarven
eine chorda sei, so hat man sicherlich noch weit mehr das Recht, auch
den bei Anneliden nachgewiesenen Zellstrang als solche anzusprechen, da
er genau, wie bei Wirbelthieren, zwischen centralem Nervensystem, Darm
und Aorta liest und da er, wie bei diesen, die Axe einer Ebene bezeichnet,
von der aus sich das animale Muskelrohr nach der neuralen Seite hin um
das Nervensystem, nach der cardialen um Darm und Herz herum krümmt.
Kommt etwas Aehnliches überhaupt bei Tunicaten vor? soviel ich weiss,
nie; die Muskulatur geht nie über das Nervenrohr herum, sondern unter
diesem weg. Es tritt also hier der durch den Axenzellstrang bezeichnete
bigeminale Typus der gegliederten Thiere nicht auf.
Drittens der Kiemenkorb. Die Aehnlichkeit mit dem der Wirbel-
thiere scheint doch nur eine recht oberflächliche zu sein; auch seine Ent-
stehungsweise stimmt durchaus nicht sonderlich mit derjenigen der Wirbel-
thier-Kiemenhöhle. Ich will indess hierauf gar kein Gewicht legen — ob-
gleich ich das Recht dazu hätte — und annehmen, dass er wirklich typisch
mit dem der Wirbelthiere übereinstimme; was bewiese selbst diese unbe-
weisbare Thatsache gegenüber dem Factum, dass der Kiemenkorb der Ba-
lanoglossen viel mehr, ja vollständig mit dem der Cyelostomen übereinstimmt ?
Doch eben nur, dass die Ausbildung eines Kiemensackes nicht ausschliess-
lich den Wirbelthieren und den Tunicaten, sondern auch noch den Entero-
pneusten zukommt. Bedenkt man dann ferner, dass ich bei Nais und Chaeto-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 355
gaster Kiemenspalten und Kiemengänge aufgefunden habe, welche sich gerade
so am Aufbau des Kopfdarms (-Kiemensack der Ascidien?) betheiligen, wie
sie das auch bei Wirbelthieren thun und dass ich ebenso bei Sabella einen
Kiemenkorb entdeckt habe, so wird die Bedeutung der behaupteten — aber -
nicht vorhandenen — Identität zwischen Kiemenkorb der Aseidien und
Wirbelthiere vollständig illusorisch.
Wir sehen also, dass die drei positiven Charaktere, welche die nahe
Verwandtschaft der Tunicaten und Wirbelthiere beweisen sollten, weder
vollständig sichergestellt, noch beweiskräftig sind, und dass sie ebenfalls andern
Wirbellosen zukommen, welche man immer als Würmer und Arthropoden,
aber nie als Tunicaten angesprochen hat. Ihnen gegenüber stehen die Un-
masse negativer Charaktere, welche den schärfsten Gegensatz zu den Wirbel-
thieren bekunden, Mangel des bigeminalen Entwicklungstypus, einer wirk-
lichen Niere!), des Gegensatzes von Kopf und Rumpf, Fehlen jeglicher Spur
von Segmentirung, der Spinalnerven, des Rückenmarks; ferner der ganz
abweichende Bau des Gefässsystems, der Geschlechtsorgane, der geschich-
teten Epidermis etc. Wenn wir dann ganz im Gegensatz dazu sehen, dass
die Anneliden in den meisten der hier hervorgehobenen Punkte völlig oder
mindestens ebenso sehr mit den Wirbelthieren übereinstimmen, so wird man
wohl auch zugeben müssen, dass die Ascidien unmöglich die nächsten Stamm-
väter der Wirbelthiere sein können, da sie zur Umbildung in diese erst
dasjenige Stadium hätten durchlaufen müssen, weiches in den Anneliden
und Nemertinen thatsächlich gegeben ist. Es bleiben nach wie vor die
Tunicaten eben ungegliederte Thiere ohne den typischen Gegensatz des
segmentirten Kopfes und Rumpfes bei den wirklich gegliederten Thierformen.
Der aus der Ascidienchorda, ihrem Kiemenkorb und Nervenrohr herzu-
nehmende indireete Einwand gesen die viel nähere Verwandtschaft der
Anneliden und Wirbelthiere kann hiernach als definitiv beseitigt angesehen
werden.
I. Das Lanzettfischehen und die Wirbelthiere. Auch
den „ehrwürdigen Amphioxus‘‘ kann ich nicht als Wirbelthier gelten lassen,
obgleich seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu diesen als unumstösslich
erwiesen angesehen werden. Gelänge es nun in der That meinen Gegnern,
zu zeigen, dass die unläugbar vorhandene Uebereinstimmung in einzelnen
!) Von einer Rückführung des Typus der Ascidienniere auf den der Wirbelthiere
oder umgekehrt zu sprechen ist nach dem, was ich über die Entstehung der Niere
der Vertebraten festgestellt habe, nicht mehr möglich. Viel eher dürfte es ge-
lingen, sie aus der Niere oder dem Exeretionsorgan der ungegliederten Thiere (z. B.
der Rotatorien, Blutegelembryonen und Molluskenembryonen des ersten Stadiums) zu
erklären. Das ist indessen bis jetzt auch noch nicht möglich.
Arbeiten aus dem z00log.-zootom. Institut in Würzburg. II. 24
356 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
Organen den Amphioxus mitten zwischen die Ascidien und die Wirbelthiere
stellte, — so dass er als das von mir als fehlend bezeichnete Uebergangs-
elied zwischen den beiden Extremen anzusehen wäre —; so könnte er
höchstens als Durchgangspunkt in auf- oder absteigender Linie gedeutet
werden. Dohrn’s Versuch in letzterer Richtung kann mich nicht aufmuntern,
ihm zu folgen; sind jene behaupteten Verwandtschaftsbeziehungen wirklich
entscheidend, so steht es auch für mich fest, dass der Amphioxus nicht als
Durchgangspunkt zu einer degradirten Reihe verkommener Wirbelthiere,
sondern nur als Ausgangspunkt einer sich immer weiter ausbildenden Gruppe
angesehen werden kann.
Es sind im Grunde nur zwei Charaktere, auf welche die Ansicht ge-
gründet werden könnte, Amphioxus stände mitten zwischen den Aseidien
und den Wirbelthieren : die Entstehung des Nervensystems und die chorda
dorsalis. Bei den Ascidien legt jenes sich — doch nur mitunter — als Rohr
an, fällt aber immer wieder in einen niederen Zustand zurück; beim Am-
phioxus bleibt es in Röhrenform bestehen, ohne den schroffen Gegensatz
zwischen Gehirn und Rückenmark, ja selbst nur die leiseste Spur einer
Gehirnkrümmung erkennen zu lassen, wie sie bei den Wirbelthieren vor-
kommt. Das ist aber auch Alles. Bei allen Wirbelthieren ohne Ausnahme
gesellt sich zum centralen Nervensystem auch das der Spinalnerven und
Spinalganglien, welche dem Amphioxus und den Ascidien völlig fehlen ;
bei allen Fischen ohne Ausnahme, (selbst bei den Cyclostomen, die dem
Amphioxus so nahe stehen sollen), findet sich die Seitenlinie als ein dem
Seitennerv zugehöriges Sinnesorgan, bei Amphioxus und den Aseidien findet
sich keine Spur davon. Und die bezeichneten typischen Glieder des Nerven-
systems der Wirbelthiere gewinnen ihre Bedeutung nicht etwa dadurch, dass
sie allmälig sich ausbildende, erst in den höchsten Wirbelthieren ganz voll-
kommen entwickelte Glieder sind; nein, sie finden sich gerade im Gegen-
theil bei den niedersten Wirbelthieren am stärksten entwickelt, so dass es
schwer hält, anzunehmen, sie seien Organe, plötzlich in ihnen entstanden,
ohne dass der nächste Verwandte, der zu den Wirbelthieren gerechnete
Amphioxus, auch nur die mindeste Spur davon besessen haben sollte. Also
selbst in dem einen wichtigen Organe, welches die Wirbelthiernatur dieses
Thieres beweisen soll, fehlen Theile oder Anlagen dazu, welche für alle
übrigen Wirbelthiere im höchsten Grade charakteristisch sind — während
sie sich umgekehrt in nicht sehr abweichender Form bei den Anneliden
wiederfinden !
Auch die chorda dorsalis liefert nur schlechtes Beweismaterial. Hier
ist der Zusammenhang derselben weder mit derjenigen der Ascidien, noch
der Wirbelthiere wirklich erwiesen. Bei jenen bezeichnet die sogenannte
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 357
chorda keine Axe, von welcher aus sich die Muskelplatte einerseits um das
Nervenrohr, andrerseits um das Darmrohr herumkrümmte; es fehlt ihnen
der bigeminale Typus. Dieser ist auch beim Lanzettfischehen noch nicht
nachgewiesen, doch aber anzunehmen, obgleich es dann schwer begreiflich
bleibt, dass ihm die Seitenlinie und der Seitennerv gänzlich fehlen solle,
da diese gerade jene Stelle bezeichnen, von welcher aus sich die Rücken-
platten um das Nervensystem und die Bauchplatten in entgegengesetzter
Richtung herumkrümmen. Aber selbst, wenn wir annehmen, es sei für das-
selbe der bigeminale Entwicklungstypus thatsächlich nachgewiesen, so be-
stünden doch noch grosse Gegensätze im Bau, welche bis jetzt trotz der
massenhaften Hinschlachtung des Amphioxus in neuerer Zeit nicht genügend
aufgeklärt sind. Gerade so leicht aber, wie die chorda der Wirbelthiere
aus der des Amphioxus und der Aseidien abzuleiten wäre, könnte man die-
selbe auf die Chordazellen der Anneliden zurückführen. Viel ähnlicher den
Wirbelthieren, als durch die chorda selbst, wird ihnen der Amphioxus durch
die mit der Chordascheide verbundenen, das Nervensystem fast m Form
von Wirbelbögen umspannenden Bindegewebsmassen. Aber auch bei den
Anneliden findet sich eine bindegewebige Umhüllung, — welche dann aller-
dings auch noch die Spinalganglien und die Ursprünge der Spinalnerven
mit umspannt —, die sogar in einzelnen Fällen (z. B. Ammotrypane), recht
sehr an die Scheiden des Nervensystems von Amphioxus erinnert; ich finde
überhaupt nicht selten so eigenthümliche Gewebe am oder unter dem Nerven-
system der Meeresanneliden, dass sich mir die Vermuthung aufgedrängt hat,
es möchte bei einigem Nachsuchen, — welches bisher nie geübt wurde —,
doch noch einmal bei echten Anneliden eine gut entwickelte Larvenchorda
mit Scheide und selbst eine Anlage der skeletogenen Schicht gefunden werden.
Eine Vermuthung ist natürlich kein stichhaltiges Argument. Dagegen jedoch
muss ich auf’s Entschiedenste protestiren, dass man die unläugbar vorhan-
denen Gegensätze zwischen chorda des Amphioxus und der Wirbelthiere
und ihrer skeletogeneif Schichten ignorirt oder läugnet, blos weil man glaubt,
diese Gegensätze müssten erklärbar sein. Das Eine ist so gut eine Annahme,
wie das Andere. Glaubt man erklären zu können, so versuche man dies
durch Beobachtungen; aber man lade doch nicht das Publikum ein, den
logischen Sprung mitzumachen, der z. B. in einer jüngst gefallenen Aeusserung
liest: es sei zwar das Auge des Amphioxus kein Wirbelthierauge, gerade
desshalb aber bemerkenswerth, weil es dadurch den Uebergang zu den
Augen der Wirbellosen bilde — mit welchen Wirbellosen wird dabei wohl-
weislich nicht erörtert.
Diese zwei, scheinbar völlig unantastbaren Gründe für die Wirbelthier-
natur des Amphioxus und seine vermittelnde Stellung zwischen den Ascidien
24*
358 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
und Wirbelthieren sind also gar nicht einmal so sicher gegründet, wie man
uns das glauben machen will. Noch weit schlimmer steht es mit den übrigen
Argumenten. Da ist zunächst der Kiemenkorb - in völliger Ueberein-
stimmung besteht derselbe auch bei dem Balanoglossus , welchen man doch
desswegen wohl kaum wird zu den Wirbelthieren stellen wollen; in etwas
abweichender Gestalt besteht er, wie ich gezeigt habe (Taf. XV. Fig. 1,
pag. 311) auch bei den Anneliden, und es geht aus einer den Kiemenspalten
und -gängen der Wirbelthiere vergleichbaren Anlage der Schlundkopf der
Anneliden d. h. der Kiementheil des Kopfdarms hervor (s. pag. 309). Viel
abweichender dagegen ist der Kiemensack der Ascidien gebaut, und wenn
es auch gelingt, in ihm den gleichen Typus in Bau und Entstehung, wie
bei den Wirbelthieren zu erkennen, so ist dies, wie wir gesehen haben,
bei den Anneliden und Enteropneusten noch viel leichter möglich. Die
Gliederung des Amphioxus ist nicht zu läugnen, ebensowenig der Gegen-
satz zwischen Kopf und Rumpf. Beides aber fehlt den Aseidien vollständig ;
der Kiemensack legt sich bei ihnen auf einmal vollständig an und der Ein-
seweidesack , den man etwa dem Rumpfe der Wirbelthiere gleichstellen
könnte, zeigt nicht die leiseste Spur einer Segmentirung. Diese aber spricht
sich beim Amphioxus sehr scharf in den Muskeln, Gefässen und Nerven
aus. Wie den echten Wirbelthieren, so kommt indessen allen Anneliden
derselbe Charakter scharfer Segmentirung zu; auch bei diesen sind Nerven,
Gefässe und Muskel vollständig scharf gegliedert. Das einzige Organ,
welches Ascidien, Amphioxus und niederen Fischen (Cycelostomen) gleich-
mässig zukommt, ist das auf der Cardialseite des Kopfdarmkiementheils !)
(s. Taf. XV., Fig. 26, 29) liegende Endostyl der Tunicaten; auch scheint
es den Anneliden zu fehlen. Wenn wir indessen bedenken, dass erst durch
die vorliegende Untersuchung auf das Vorhandensein eines Kiementheils im
Schlundkopf der Anneliden hingewiesen wird, so kann es auch nicht be-
fremden, dass wir bis jetzt noch nichts von einem Endostyl der Anneliden
wissen. In allen Fällen aber kann dies einzige Organ nicht die grossen
und bisher unversöhnten Gegensätze im Bau des Amphioxus und der Wirbel-
thiere aus dem Wege räumen, um so weniger, als die jetzt noch kurz her-
vorzuhebenden typischen und faktischen Unterschiede zwischen ihnen in
keiner Weise aufgeklärt worden, noch überhaupt aufklärbar sind.
!) In der Colorirung der Fig. 2 habe ich die von Gegenbaur herrührende Be-
zeichnung der Bauchrinne im Kiemensack der Ascidien als Darmtheil des Kopf-
darms angenommen, um das von ihm gegebene Schema nicht willkürlich zu ver-
ändern. Ich will damit aber durchaus nicht sagen, dass ich mich dieser Deutung
anschliessen kann; ich sehe vielmehr im Endostyl nur eine Anhangsdrüse des Kie-
mentheils des Kopldarms.
SEMPER: Die Verwandtschattsbeziehungen der gegliederten Thiere. 359
Ich will nur die wichtigsten hervorheben. Auf den Mangel aller
Spinalganglien habe ich oben schon hingewiesen; auch die Rückenmarks-
nerven entspringen dem entsprechend nicht mit zwei Wurzeln. Die Extre-
mitäten fehlen vollständig; die der Wirbelthiere müssten also auch selb-
ständig entstanden sein. Ein eigentliches Skelett, — dessen Hauptcharakter
mit darin liegt, dass es in seiner Gliederung sich nicht an die der Urseg-
mente anschliesst —, fehlt gänzlich; das Gefässsystem ist durchweg nach
dem Typus desjenigen der Anneliden gebaut und durch die allen Gefässen
zukommende Contractilität selbst vom einfachsten, embryonalen Gefässsystem
eines echten Wirbelthieres unterschieden. Nieren sind gar nicht da; es
gehört in der That eine wunderbare Kurzsichtigkeit dazu, um in den ven-
tralen Epithelfalten der Kiemenhöhle eine echte Niere zu erblicken; die
Geschlechtsorgane endlich sind durchweg nach dem Typus der Anneliden,
oder besser nach dem der Nemertinen gebaut, haben aber in ihrer Lage, Bau
und wahrscheinlichen Entstehung auch nicht einen Punkt der Aehnlichkeit
mit den Keimdrüsen der Wirbelthiere aufzuweisen.
Ganz im Gegensatz dazu zeigen die Anneliden in fast allen diesen
Punkten die nächste Beziehung zu den Wirbelthieren, ihr Urogenitalsystem,
ihr Gefässsystem, ihre Spinalganglien und -nerven sind theils mit denen
der Wirbelthiere identisch, theils lassen sie sich auf denselben Typus zu-
rückführen. Ich kann daher den Amphioxus auch nicht mehr als echtes
Wirbelthier gelten lassen; denn das, was ihn diesen scheinbar nähert, ist
im Grunde gar nicht so sehr wirbelthierähnlich !), und kommt ausserdem mehr
oder minder entschieden auch den Anneliden zu; und während die Mehr-
zahl der Organe ihn stark von den Wirbelthieren entfernen, treten diesen
die Anneliden durch eben dieselben Organe viel näher, als der Amphioxus
dies thut und als man bisher gewusst oder angenommen hat. Die allge-
meinsten Eigenschaften endlich: Segmentirung, Gegensatz von Kopf und
Rumpf und der bigeminale Entwicklungstypus kommen den Anneliden in
ebenso ausgesprochener Form, wie den Wirbelthieren und dem Amphioxus zu.
Sollte ich nun gezwungen sein, meine Ansicht darüber zu äussern, wo-
1) Der bekannte Versuch Stieda’s, in den Körpernerven des Amphioxus doch die
zwei Wurzeln der Spinalnerven wiederzufinden, muss als gründlich misslungen be-
zeichnet werden. Ueberhaupt will mir scheinen, als ob man von vornherein die
Wirbelthiernatur des .\mphioxus immer nur als Axiom behandelte; denn sonst ist es
mir unverständlich, wie fast jeder Beobachter bei der Untersuchung bald dieses, bald
jenes Organes sagen kann, es sei dasselbe zwar ganz verschieden von dem der Wir.
belthiere, aber grade desshalb interessant, weil es nun den Uebergang zu den Wir-
belthieren bezeichne. Ich finde das wenig logisch, Noch erstaunlicher erscheint mir
die Aeusserung, es hätte derselbe die Anlage sämmtlicher Primitivorgane mit den
Wirbelthieren gemein.
360 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere.
+
hin denn nun eigentlich der Amphioxus gehört, so muss ich wie früher
schon und wie ich glaube als der Erste, ihn als eine wahrscheinlich zwischen
den gegliederten Würmern, den Enteropneusten und den Ascidien stehende
Zwischenform ansprechen. Ich halte es indessen nicht für meine Aufgabe,
seine positiven Verwandtschaftsverhältnisse zu besprechen, da dazu eine
bessere Untersuchung des Balanoglossus, als die oberflächliche von Kowa-
lewsky ist, gehört, und da es für meinen Zweck genüst, gezeigt zu haben,
dass das Lanzettfischehen fast weniger das Recht hat, ein Wirbelthier ge-
nannt zu werden, als etwa ein Regenwurm oder eine Nereis.
Durch das Voranstehende sind auch schon die aus den unläugbar vor-
handenen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Cyelostomen und Amphioxus
(und den Ascidien) herzunehmenden indirecten Gründe gegen die Wirbel-
würmertheorie im Grunde widerlest. Doch kann ich nicht umhin, hier
noch kurz einzugehen auf den Huxley’schen !) Versuch, durch einen Vergleich
des Kopfendes der Cycelostomen auch die Schädelwirbeltheorie (in der mo-
dernen Form) auf das Lanzettfischehen zu übertragen.
Wenn ich Huxley recht verstehe, so ist es für ihn eine ausgemachte
Sache, dass der Amphioxus ein Fisch sei; denn ich finde bei ihm nirgends
eine Discussion der Gründe, welche mich in dem ihm bekannten Aufsatz
„Stammverwandtschaft‘‘ bestimmt hatten, zu erklären, er sei kein Wirbel-
thier, also auch kein Fisch. Von dieser Ansicht als einem Grundsatz aus-
sehend und unter der stillschweigenden, doch aus seinen Bemerkungen her-
auszulesenden Voraussetzung, dass bei allen Wirbelthieren die Zahl der
Schädelurwirbel übereinstimmen müsse, vergleicht er nun die Kopfregion
des Amphioxus mit der der Ammacoetes. Die Region, welche bei dem
letzteren zwischen Auge und Ohr liegt, identificirt er mit dem Kopftheil,
welcher bei dem Amphioxus zwischen dem Auge und dem siebenten Myo-
tom liest, und zwar ganz allein desshalb, weil hier ein „velum‘“ die Mund-
höhle von der Kiemenhöhle in beiden Gattungen trennen solle. Er kommt
dadurch zu der Ansicht, es entspreche die Region zwischen Auge und Ohr
bei den Wirbelthieren nicht weniger als sieben Urwirbeln, — die freilich
auch schon bei den Cyclostomen nicht mehr vorhanden seien —, und die
innerhalb dieses Bereiches beim Amphioxus vom Nervensystem entsprin-
genden Nerven identifieirt er den dritten bis sechsten Gehirnnerven der
höheren Wirbelthiere. Wollte man nun, — was ich indessen auch nicht
einmal kann —, die von Huxley gewählte Basis, die Homologie des Velums
bei Ammacoetes und Amphioxus, annehmen, so geriethe man doch, wie
!) Huxley, Preliminary Note upon the Brain and Skull of Amphioxus lanceo-
latus. Royal Society Dec, 1874. Ann. N. H. 4. Ser. Vol. 15. 1875, pag. 225—229.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 361
Huxley, durch die darauf basirten Folgerungen in Conflict mit den That-
sachen. Er spricht nemlich immer von den sieben ersten Nervenpaaren
des Amphioxus, während man doch durch die Untersuchungen von Stieda
und Langerhans weiss, dass nur die ersten Nerven wirkliche Paare bilden,
alle übrigen aber alternirend stehen, dass ferner alle Nerven ausnahmslos
einwurzelig sind (Langerhans) und dass nur die beiden ersten Hirnnerven
an ihrem Ursprunge Ganglien tragen. Bei so fundamentaler Abweichung
in der Structur dürfte von einer wirklichen Homologie der Nerven sechs
bis sieben des Amphioxus mit denen des dritten bis sechsten Paares der
Hirnnerven der Wirbelthiere erst dann zu sprechen sein, wenn Zwischen-
stufen zwischen dem Kopf des Amphioxus und dem der Cyclostomen ge-
funden wären, was bis jetzt nicht der Fall ist. Es ist aber ferner auch
eines der Axiome, von denen Huxley ausgeht, sicherlich falsch: die Noth-
wendigkeit der typischen Identität in der Kopfsegmentzahl der Wirbelthiere.
Ich habe gezeigt, dass bei Naiden die Zahl der Kopfsegmente verschieden
gross sein kann, man wird also auch bei diesen nicht nach einer absoluten
Uebereinstimmung in der Zahl ihrer Kopfnerven zu suchen haben, ohne
dass man genöthigt würde, die allgemeine Homologie ihres Kopfes aufzu-
geben. Warum soll das nicht auch bei Wirbelthieren vorkommen können ?
Ich möchte fast glauben, dass es leichter sein möchte, die Gehirnnerven
der Wirbelthiere ihrer Zahl, Ursprung und Verbreitungsbezirken nach mit
den Kopfmarknerven eines Chaetogaster zu vergleichen, als mit denen des
Amphioxus; wie ich denn auch überzeugt bin, dass eine genaue Unter-
suchung des Kopfmarkes der Anneliden eine so weitgehende Uebereinstim-
mung zwischen ihm und dem Kopfmark der Wirbelthiere aufdecken muss,
dass man sich wundern wird, die offenbar sehr richtig gefühlten Andeu-
tungen Leydig’s bis jetzt nicht besser benutzt zu haben.
VI. Absehnitt. Schlusserörterungen und Folgerungen.
8922. Rückblick auf die gesliederten Thiere.
Die indireeten Einwände, welche gegen die Stammverwandtschaft der
drei gegliederten Thierklassen angeführt werden, sind, wie wir gesehen haben,
zum Theil falsch, zum Theil in ihrer Bedeutung übertrieben; und sie konnten
um so entschiedener zurückgewiesen werden, als es gelang, vollständige
Identität im Bildungstypus der drei Gliederthierklassen nachzuweisen. Er
wird in gleichmässigster Weise bei allen durch folgende Hauptpunkte be-
zeichnet: 1) die evolutio bigemina; 2) Gegensatz von Kopf zu
Rumpf, welche bei den knospenden Anneliden, wie bei den Embryonen
362 SEMPER: Die Verwandts chaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
aller gegliederten Thiere einen Wachsthumsvorgang erkennen lassen, den
ich als Strobilation bezeichnete; 3) Segmentirung jedes Abschnittes
— der Rumpf- wie der Kopf-Proglottis — von vorn nach hinten, in umge-
kehrter Folge, wie bei der Strobilation; 4) Entstehung des Kopf- und
Rumpfkeimstreifens aus symmetrischen Hälften; 5) die Entstehung
dieses Keimstreifens in einer beweglichen oder ruhenden Keimblase.
Es ist überflüssig, hier noch einmal auf die kurz zusammengefassten
Sätze einzugehen; der Nachweis ihrer Richtigkeit ergiebt sich aus den
früheren Abschnitten von selbst. Nur einem Punkt muss ich noch eine
kurze Erörterung schenken, da es mir von diesem aus möglich erscheint, nun
auch die Brücke von den gegliederten zu den ungegliederten Thieren hin-
überzuschlagen. Dieser Punkt ist die Entstehung des Keimstreifens in der
Keimblase.
Man weiss, dass bei keinem Wirbelthier eine freilebende Keimblase
vorkommt; es entsteht ihr Keimstreif immer in einer ruhenden. Die letztere
besteht aus einer einfachen Zellenschicht, die am Keimpol verdickt ist; die
einzige Spur eines früheren Zustandes, in welchem die Keimblase der Wirbel-
thierahnen hätte frei herumschwimmen und sich selbständig ernähren können,
will man im Blastoporus sehen. Ich habe diese Frage hier nicht zu unter-
suchen; genug, dass, wenn er wirklich einmal als Mund oder After fungirte,
er diese Bedeutung wohl sicherlich für alle jetzt lebenden Wirbelthiere ver-
loren hat. In dieser ruhenden Keimblase entsteht nun durch einen Keim-
streifen das eigentliche Wirbelthier. Der Typus in der Entstehung der-
selben ist, wie ganz kürzlich schon His!) hervorgehoben hat, in der an der
Neuralseite stattfindenden Verwachsung zweier Hälften zu sehen, wie er sich
am Klarsten bei den Plagiostomen und Knochenfischen, etwas weniger deut-
lich bei den Amphibien ausspricht; bei den Amnioten scheint er ziemlich
verwischt zu sein, obgleich auch His darauf hinweist, dass Spuren dieser
Entstehungsweise doch auch wohl noch einmal bei solchen gefunden werden
mögen?). Wir dürfen nemlich nicht vergessen, dass wir im Grunde doch
noch gar keine Uebersicht über die Entwicklungsweisen der jetzt lebenden
Thiere haben, und dass, wo wir einmal ein einzelnes Gebiet wirklich gründ-
lich durcharbeiten, - wie das z. B. jetzt mit dem Urogenitalsystem der
1) His, Ueber die Bildung der Haifischembryonen. Z. f. An. u. Entw. Bd. II,
1876, pag. 115 etc.
?) Götte behauptet allerdings in der ,‚Unke“, dass eine Verwachsung zweier seit-
licher Keimstreifanlagen in der Mittellinie nicht vorkomme, dass vielmehr im Gegen-
theil die Anlage des Nervensystems eine ganz einheitliche sei. Ich finde, dass auch
hier wieder seine Argumentation völlig naturphilosophischer Art ist; und ich muss
His in seiner Auffassung durchaus beistimmen.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere. 363
Wirbelthiere bald geschehen sein wird —, sich immer ein ganz anderes
Resultat herausstellt, wie das ist, welches man nach der modernen Methode
durch vorschnelle Verallgemeinerung eines vereinzelten Resultates gewinnt.
Es ist hohe Zeit, dass man sich von Seiten der medicinischen Zoologen an
den Gedanken gewöhnt, dass Huhn, Frosch, Kaninchen und Meerschweinchen
nicht die einzigen Thiere sind, von denen wir etwas lernen können; eine
Wendung zum Besseren ist in den neueren Arbeiten zum Theil schon zu
bemerken.
Aber es kommt zu diesem Charakter des Keimstreifens durch Ver-
wachsung zweier gesondert auftretender Hälften noch ein zweiter hinzu:
der des Gegensatzes von Rumpf- und Kopf-Keimstreif. Wie nun jener
erste bei den höchsten Wirbelthieren so verwischt auftritt, dass His den
Nachweis seines Vorhandenseins einstweilen nur für möglich hält: so ist in
der Anlage des Keimstreifens aller Wirbelthiere der zweite Gegensatz ebenso
wenig scharf ausgesprochen. Es beruht dies offenbar auf der hier immer
sehr früh eintretenden Bildung des Kopftheils des Embryos; und es würde
jener Unterschied zwischen Kopf und Rumpf, — wie er sich z.B. durch die
einzelnen Organe beider ausspricht —, doch kaum als ein typischer er-
kennbar sein, wenn nicht die Segmentirung jedes der beiden Abschnitte
genau das Gesetz der Annelidensegmentirung befolgte und wenn nicht längst
schon (s. pag. 274 etc.) durch andere Beobachter festgestellt worden wäre,
dass der Rumpftheil in seiner Anlage und weiteren Umbildung immer um
ein Kleines dem Kopfe voraus wäre.
Beides nun, die Verwachsung des Keimstreifens aus zwei Hälften und
der Gegensatz der Rumpf- und Kopfkeimstreifen ist bei den Anneliden, welche
einen in allen Einzelheiten erkennbaren embryonalen Charakter tragen, viel
schärfer nachweisbar ‘ausgeprägt. Die drei auf Taf. XV, Fig. 5—7 ge-
gebenen Schemata repräsentiren drei Bildungsstadien in der Entstehung des
Keimstreifens bei Euaxes (nach Kowalewsky). In Fig. 5 liegen die beiden
getrennten Keimstreifhälften an der Cardialseite des Keimblasendurch-
schnitts; in Fig. 6 haben sie den grössten Umfang derselben überschritten
und in Fig. 7 findet sich über dem nun ganz auf der Neuralseite liegenden
Mesoderm des Keimstreifens die neurale Eectodermverdickung. Von diesen
Figuren entspräche das zweite etwa dem Anfangsstadium der Entwicklung
eines Keimstreifens vom Knochenfisch oder Frosch, das dritte dem der
Amniaten und des medicinischen Blutegels, bei welchen scheinbar keine
Verwachsung aus zwei ursprünglich getrennten Hälften mehr stattfindet.
Noch klarer tritt die Uebereinstimmung zu Tage, wenn man die möglichst
getreu nach verschiedenen Autoren (His, Robin, Kowalewsky) copirten
Bilder (Taf. XIV, Fig. 1—19, Fig. 23) vergleicht; um diese Vergleichung
364 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere.
zu erleichtern, habe ich dem Felde des Blastoporus, sowie das vom Keim-
streifen allmälig umwachsene Feld durch verschiedene Farben von einander
und von dem eigentlichen Keimstreifen abgesetzt. Aber auch der Gegensatz
zwischen Rumpf- und Kopfkeimstreifen ist hier ungemein deutlich ; es giebt
in der That, — wie eigentlich schon aus Leuchart’s und zum Theil auch
aus Rathke’s Beobachtungen an Hirudineen hervorgeht —, bei den Blut-
egeln ein Entwicklungsstadium, in welchem an den Seiten des Kopfes, wie
des Rumpfes der fressenden Larve je eine Hälfte des Keimstreifens von
Kopf und Rumpf gänzlich gesondert von einander zu beobachten sind
(Taf. XV, Fig. 21, 22, Schema!). Es lässt sich hier also der Typus des
Keimstreifens im Grunde auf die Einsenkung von vier symmetrischen Zell-
platten zurückführen, die paarweise an den Seiten des Kopfes und Rumpfes
auftreten. Wie bei den Wirbelthieren haben sie die Tendenz, in der Mittel-
linie mit einander zu verwachsen; aber nur dem Rumpfkeimstreifen gelinst
dies vollständig, die beiden Hälften des Kopfkeimstreifens können wegen
ihrer Biegung (s. Taf. XV, Fig. 22) sich nur in der neuralen Mittellinie mit
dem Rumpfkeimstreifen, in der cardialen Mittellinie untereinander verbinden,
da eine ihrer ganzen Länge nach stattfindende Vereinigung einfach durch
den längst vor Auftreten der Keimstreifanlagen schon vorhandenen em-
bryonalen Schlund verhindert wird.
Giebt man endlich zu, dass die Bildungsweise des Kopfes und Rumpfes
in den knospenden Anneliden dem Wesen nach mit derjenigen im Embryo
übereinstimmt, so ist hier der Typus im Gegensatz zwischen- Kopf und
Rumpf, wie er durch die Strobilation ausgedrückt wird, am Schärfsten unter
allen gegliederten Thieren ausgeprägt; hier vollendet sich die Segmentirung
des Rumpfes zu gutem Theile, ehe nur die mindeste Spur der Kopfkeim-
streifhälften zu erkennen ist; ja diese sind sogar der Zeit ihres Auftretens
nach viel inniger mit der davorliegenden Rumpfzone des nächstvorderen
Zooids verbunden, als mit der ihnen zugehörigen älteren Rumpfzone.
So verwischt sich also, wenn wir nur den allgemeinen Typus in der ersten
!) Dieses Schema ist, wie ich ausdrücklich bemerke, nicht etwa als
sein müssend construirt, sondern durch Beobachtung an Nephelis festgestellt; ich
habe nur für überflüssig gehalten, die Zeichnungen hierüber in extenso jetzt schon
zu publieiren. Die dorsale Unterbrechung des Bogens, von welchem Rathke angiebt,
dass er als Schlundring den Schlund umspanne und an seinen beiden Enden mit den
Bauchkeimstreifhälften verwachse, ist bei Nephelis ziemlich leicht zu erkennen;
ebenso sicher ist es, dass aus ihm nicht allein der nervöse Schlundring, sondern 'auch
noch andre Theile des Kopfes hervorgehen, dass er also als Kopfkeimstreif, nicht
aber, — wie das bisher geschah —, ausschliesslich als Schlundringsanlage aufgefasst
werden darf.
SEMPER: Die Verwandtschattsbeziehungen der gegliederten Thiere, 365
Embryonalanlage der Keimstreifen bei gegliederten Thieren ins Auge fassen,
die eigentlich typische Bildungsweise mehr und mehr, je höher wir von den
Anneliden anfangend bis zu den höchsten Wirbelthieren aufsteigen ; und diese
Verwischung ist vor Allem bedingt durch eine immer mehr zunehmende
Verkürzung der ersten Entwicklungsvorgänge. Eine sehr weitgehende Ver-
kürzung der Entwicklung spricht sich endlich auch aus in der Keimblase
selbst, in welcher die Ausbildung des Keimstreifens vor sich geht. Dort
bei Anneliden, wo die vordere Hälfte desselben von der hinteren Rumpf-
hälfte der Zeit ihres Auftretens nach gänzlich gesondert ist, und jede aus
zwei seitlichen Einsenkungen hervorgeht, — von denen also die zwei hin-
teren des Rumpfes früher auftreten, als die zwei vorderen des Kopfes —,
tritt diese Neubildung auf in einem Thiere, welches sich selbständig er-
nährt, durch Fressen des Eiweisses oder gar Fang der Beute, welches eine
Leibeshöhle, äussere Bewegungsorgane in Form von Wimperbüscheln, Wim-
perreifen und Borstenbüscheln, selbständige Muskulatur der Haut des
Rumpfes und Kopfes, einen gut entwickelten excretorischen Apparat (Ur-
nieren der Hirudineen), ja selbst Sinnesorgane und Ganglien besitzt (Meeres-
anneliden), und das durch die Vertheilung der angeführten Organe und Neu-
bildungen schon von Anfang an den Gegensatz von Kopf und Rumpf er-
kennen lässt, aber nicht segmentirt ist. Hier bei Wirbelthieren dagegen,
wo Kopf und Rumpf zwar den Organanlagen nach sehr verschieden sind,
doch aber den eigentlich typischen, primären Gegensatz nur undeutlich zu
erkennen geben, eine einfache Keimblase ohne alle Organe, ohne Gegensatz
von Kopf und Rumpf, welcher erst später durch die Anlage und Umbildung
des Keimstreifens bezeichnet wird. Beide Extreme aber sind doch durch
Uebergänge mit einander verbunden; schon bei Clepsine findet sich eine
ruhende Keimblase, bei den Arthropoden überwiegt die Zahl der ruhenden
gegen die der sich bewegenden; man ist daher berechtigt, auch die ruhende
Keimblase der Wirbelthiere nur als eine noch weiter gehende Vereinfachung
derjenigen der Anneliden aufzufassen.
Es stellt sich also, wenn wir die streng gegliederten Thiere auf ihren
einfachsten, ihnen allen gemeinsamen Typus untersuchen, als Resultat heraus,
dass sie durch abweichende Umbildung eines identisch angelegten Keim-
streifens in einer ungegliederten Keimblase entstehen, welche. letztere in der
Gruppe der Anneliden mit stark embryonalem Charakter in Form eines
selbständig lebenden Thieres auftritt, dessen zwei Hälften, Kopf und Rumpf,
durch die in ihnen auftretenden besonderen und ursprünglich gesonderten
Anlagen in den definitiven Kopf und Rumpf des gegliederten Zooids
übergeführt werden. Diese bewegliche Embryonalform kaun man im Gegen-
366 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
satz zur ruhenden Keimblase, der Atremasphära, die Trochosphaera!)
nennen.
$. 23. Das Verhältniss der gegliederten zu den ungesglie-
derten Ihieren.
Die Thatsache, dass der Keimstreif mit seinen zwei paarigen Anlagen
in einer ungegliederten Embryonalform entsteht, welche als Trochosphaera?)
zu einer frei lebenden und dem entsprechend hoch organisirten Larven-
form wird, die trotz des Mangels des Keimstreifens doch schon den Gegen-
satz von Kopf und Rumpf erkennen lässt, wirft die Frage auf, ob es nun
nicht möglich sein dürfte, durch sie die Anneliden auch mit den Scole-
eiden zu verbinden. Weiter oben lehnte ich es ab, hierauf einzugehen,
2) Man könnte vielleicht versucht sein, zu sagen, der Begriff „Trochosphaera“
decke sich mit dem der berüchtigten „Gastraea.‘‘ Dagegen müsste ich aufs Ent-
schiedenste protestiren. Die 'Trochosphaera hat den Gastraeamund gar nicht nöthig;
es ist für sie gleichgültig, ob ihr Mund früher (Nephelis) oder später, als der After
(Selenka’s Nereislarve) auftritt; ihr Hauptcharakter liegt in dem Gegensatz von Kopf-
und Rumpfhälfte, Neural- und Cardialseite. Die Gastraea dagegen kennt diesen
letzteren Unterschied gar nicht; sie ist nichts weiter, als eine an einem Ende ein-
gestülpte Keimblase; ihr Mund, d. h. die zuerst auftretende Einstülpungsöffnung, soll
namentlich bei den Formen eines Typus immer identisch sein. Wie sich diese
Gastraea als Grundform aller Thiere der verschiedensten Typen mit der T’hatsache
abfinden will, dass beim Blutegel der Gastraeamund wirklich in den definitiven
Mund, bei Nereis in den definitiven After und bei Salmacina (nach Giard) in einen
Rusconi’schen After übergeht, ist mir unverständlich; ebenso, wie es sich damit reimt,
dass bei Clepsine ein eigentlicher Gastraeamund vollständig mangelt, Alle Formen
aber lassen sich ganz ungezwungen auf die Trochosphaera zurückführen, da es für den
Gegensatz von Kopf und Rumpf gleichgültig ist, ob der Mund oder der After früher
auftritt.
2) Die hohe Bedeutung der trochosphaeren Wurmlarve, d. h. der ungegliederten,
aber aus Kopf und Rumpf — oder wie man sich meist ausdrückt, aus Kopf- und
Anal-Segment — bestehenden und zu selbständigem Leben befähigten Larve ist schon
vielfach erkannt worden; man hat bei Gliederfüsslern, den Mollusken, Brachiopoden,
den Nemertinen, Anneliden und Planarien auf dieselbe hingewiesen. Soviel ich
weiss, ist indessen nie der Versuch gemacht worden, sie als Ausgangspunkt für die
Deutung aller symmetrischen Thiere, der wirbellosen wie der Wirbelthiere, zu be-
nutzen; auch war das kaum möglich, so lange man nicht die Identität des primi-
tivsten Entwickelungstypus aller dieser Thiere kannte. Es versteht sich von selbst,
dass die zahlreichen Andeutungen über die Grundformen der verschiedenen wirbel-
losen Thiere, wie wir sie bei Gegenbaur, Leuckart, Lubbock, Claus, Bütschli, Ray,
Lankester, Fol, Giard etc. finden, ebenso grossen Einfluss auf die Entwickelung
meiner Ansichten üben mussten, wie die Entdeckung, dass der bigeminale Entwicke-
lungstypus allen gegliederten symmetrischen Thieren zukomme.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 367
weil ich mir durch die nachfolgenden Capitel nur den Boden zn bereiten
wünschte, auf dem stehend ich glaubte mit Erfolg auch diese Frage in An-
griff nehmen zu können.
Hier treten nun die Nemertinen und die Turbellarien als diejenigen ı'
Thiergruppen auf, welche in der That die Brücke von den segmentirten
Anneliden zu den unsegmentirten Plattwürmern schlagen. Die ersteren sind
zwar nicht streng, aber doch immerhin gegliederte Würmer; ihr Körper-
theil ist durch die regelmässigen Blindsäcke des Darms, ihre Abwechselung
mit den Geschlechtsorganen und durch die von Hubrecht !) entdeckten Disse-
pimente mitunter in sehr regelmässige Abschnitte getheilt, ich kann diese
Beobachtung Hubrecht’s an einer grossen, platten und sehr durchsichtigen
Nemertine bestätigen. Auch die Gefässbögen scheinen sich immer sehr
regelmässig segmentweise zu wiederholen. Allerdings ist ihr Nervensystem
durchaus abweichend gebaut; es besteht aus zwei seitlichen Strängen und
der vorn mit den beiden grossen Gehirnganglien in Verbindung stehende
sogenannte Schlundring umgiebt nicht den Darm, sondern den Rüssel.
Dazu kommt der vollständige Mangel aller Segmentalorgane; statt ihrer
findet sich ein exeretorischer Apparat, dessen von den Blutgefässen gänzlich
gesonderte Canäle sich bei Malacobdella (nach eigener Untersuchung) in
zwei Längsstämmen sammeln, welche links und rechts etwa im vorderen
Drittheil des Thieres an der seitlichen Kante in einer deutlich bemerk-
baren Oeffnung ausmünden. Gehen wir aber auf die Larven der Nemer-
tinen zurück, so ist die typische Uebereinstimmung derselben mit der
Trochosphaera eines Anneliden ohne Weiteres ersichtlich. Beim Pilidium
ist der Rumpftheil durch die beiden zuerst auftretenden Saugnäpfe (Taf. XV,
Fig. 24 ks) scharf vom Kopftheil unterschieden, da die zwei vorderen erst
später auftreten; jene bilden, wie zuerst Metschnikoff ?) und Bütschli 3) gezeigt
1) Hubreeht, Untersuchungen über Nemertinen aus dem Golf von Neapel. Nieder-
länd. Arch, f. Zool. Bd. II, Heft 3, pag. 30.
2) Metschnikoff, Entwickelungsgeschichtliche Beiträge. Melanges biologiques
T. VI. 1868, p. 715, 716 und Studien über die Entwickelung der Echinodermen und
Nemertinen. Mem. Acad. St. Petersb. T. XIV, 1869, p. 49.
3) Bütschli, Einige Bemerkungen zur Metamorphose des Pilidium. Archiv für
Naturg. 1873.
Barrois gebührt das Verdienst, gezeigt zu haben, dass die Keimstreifentwicke-
lung des Pilidium mit der directen Entwickelung der Desor’schen Nemertinenlarve
durch Uebergänge verbunden ist (Comptes rendus 25. Janv. 1875), und dass die
Saugnapfgestalt der vier primären Einsenkungen in Beziehung steht zu der Aus-
bildung von Embryonalmembranen, die der von ihm beschriebenen Nemerteslarve fehlen;
dem entsprechend finden sich bei dieser auch statt der Saugnäpfe nur solide Blätter
(l. e. p. 3 de lames pleines).
368 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
haben, den Hintertheil des Körpers — den Rumpf —, diese dagegen den
Kopf und vor Allem den in ihm liegenden Rüssel; der alte Pilidiummund
geht in den definitiven Mund über, dagegen wird der alte Schlund wohl
zum Theil durch Partien aus den zwei Kopfsaugenäpfen verstärkt und ver-
ändert. Schon Leuckart !) hat darauf hingewiesen, dass die Vereinigung der
zwei hinteren und der zwei vorderen Saugnäpfe zur Ausbildung eines echten
Keimstreifens führe; derselbe liegt so, dass er den alten Darm und Mund
der primären Larve — der Trochosphaera — von den zwei Seiten her
umfasst und es muss ihre Verwachsung, abgesehen von der in der Richtung
von hinten nach vorn erfolgenden, in zwei Linien vor sich gehen, deren
eine der Bauch-, deren andere der Rückenseite entspricht.
Fast in allen Stücken identisch hiermit ist nun auch der Entwicklungs-
vorgang von Nephelis. Auch hier entsteht eine bewegliche Keimblase in Form
einer Trochosphaera; sie hat (nach eigener Untersuchung) unter der Epi-
dermis eine Muskelschicht, deren Muskelzellen der Länge und der Quere
nach verlaufen, und deren Contractionen ziemlich ausgiebig sind; am Kopfe
'umgiebt ein breiter Wimperring den Mund; der kugelige und blindge-
schlossene Magensack hängt, durch einzelne Muskelzellen gehalten, in der
ziemlich geräumigen primitiven Leibeshöhle; in dieser endlich verlaufen
zwei seitlich-symmetrische Systeme von geschlängelten Canälen, deren An-
ordnung und Bau viel complicirter ist, als dies nach den Untersuchungen
von Rathke, Leuckart und Robin zu sein scheint. Zu dieser Larve, welche,
wie man sieht, fast in allen wesentlichen Dingen mit der Trochosphaera
(s. Taf. XV, Fig. 21 und 22) der Nemertinen übereinstimmt, geht die
Anlage des Keimstreifens genau in der gleichen Weise vor sich, wie bei
dieser; auch bei ihr tritt zuerst im Rumpftheil links und rechts eine Ecto-
dermverdickung ein in Form eines rasch in die Länge wachsenden Strei-
fens; fast gleichzeitig tritt der Kopfkeimstreifen gleichfalls in Form zweier
Streifen auf; alle vier vereinigen sich untereinander und der so gebildete,
aus zwei symmetrischen Hälften bestehende Keimstreif verwächst nun in
der neuralen Mittellinie und über dem Schlunde zum sich segmentirenden
eigentlichen Keimstreifen. Ein grosser Unterschied scheint allerdings zu
bestehen: bei Nephelis geht aus dem verwachsenen Keimstreif die in der
Mitte zusammenhängende Ganglienkette hervor und ihr Nervenring umgiebt
den Kopfdarm, bei Nemertes dagegen bleiben die beiden Seitennerven be-
ständig von einander getrennt und ihr Nervenring umgiebt den Rüssel,
welcher ein gänzlich vom Darm unabhängiges Glied ihres Körpers zu sein
scheint.
1) Leuckart, Parasiten. Bd. I, 1863, pag. 700.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 369
Ich glaube indessen jetzt zeigen zu können, dass dieser Gegensatz nur
ein scheinbarer ist. Um dies zu thun, müssen wir noch kurz die wesent-
lichsten Phasen im Knospungsvorgang der Turbellarien in’s Auge fassen.
Bei dem Knospungsvorgang von Microstomum lineare, dessen genaueste
durch Graff ) gelieferte Beschreibung ich für die gleiche Species, eine neue
Art derselben Gattung und für Stenostomum leucops bestätigen kann, hat
jedes Zooid ohne Ausnahme die Fähigkeit, in gleichartiger Weise in in-
finitum fortzuwachsen; sowie aber ein jedes ein bestimmtes Längenmass
überschritten hat, schiebt sich ein neuer Kopf etwas hinter der Mitte ein,
um mit dem Hintertheil zu einem neuen Zooid zu verwachsen. Da nun
sowohl das alte Zooid, welches das erste Kopfende trägt, wie das zweite,
welches hinten das alte Schwanzende aufzuweisen hat (Taf. XV, Fig. 23,
copirt nach Grafi) und alle dazwischen eingeschobenen mit ihren einge-
keilten Hinterenden nach hinten fortwachsen und sich theilen; so bildet
sich eine höchst complicirte Knospungsfolge, welche in ihrer einfachsten
Phase durch das Schema Taf. XV, Fig. 15 verständlich ausgedrückt ist.
Die fast gleichaltrigen Zooide sind durch gleiche Grösse der Abschnitte und
der in ihnen angebrachten Theile bezeichnet, Kopf- und Rumpftheil eines
jeden durch die verticale Schraffirung des ersteren von einander abgesetzt.
Durch die Buchstabenbezeichnung ist diese Generationsfolge noch schärfer
hervorgehoben.
Der hier und in der Figur ganz kurz und schematisch beschriebene |
Knospungs- oder Theilungsvorgang von Microstomum steht, wie ein Blick
auf das für Myrianida oder Nais proboscidea (Taf. XV, Fig. 14) geltende
Schema lehrt, ziemlich stark im Gegensatz zu diesem. Bei beiden Arten
wächst das hinterste Zooid A’ weiter, ohne sich zu theilen; dagegen schiebt
sich vorne zwischen dem als Amme fungirenden Zooid A und A‘ ein neues
A?, dann A®, dann A% A° u.s. w. nach der Weise der Strobilation ein,
und zwar entsteht dabei allemal die hintere Rumpfzone eines Zooids früher,
als seine Kopfzone, dem Wesen der Strobilation entsprechend. Hier ist
also — wenigstens für eine Zeit lang — die Fähigkeit des Wachsthumes
am hinteren Körperende über das normale Mass hinaus auf das Zooid A
beschränkt. Denkt man sich nun aber, dass die gleiche Fähigkeit auch
A‘ zukomme, so wird sich eine Kette bilden, wie sie in dem Schema
Taf. XV, Fig. 16 dargestellt ist; es wird, während sich A?, A®, A? etc.
nach der Weise der Strobilation zwischen A und A‘ einschieben, hinten
aus dem Afterende von A‘ die neue Zooidreihe B!, B?, B°?,.... gleichfalls
!) Graff, Neue Mittheilungen über Turbellarien. Z. f. w. Z. Bd. XXV, 1875,
p- 408 sqq. Taf. XXVII, Fig, 1.
370 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
nach dem Gesetz der Strobilation entwickeln müssen. Thatsächlich kommt
ein ähnliches Stadium bei den grossen Ketten von Nais barbata vor. Diese
Form stellt sich als Bindeglied zwischen die andern beiden, scheinbar un-
vermittelten Extreme; man braucht nur anzunehmen, dass immer mehr
Afterenden der durch den Kopf vervollständigten und ebenso die der alten
Zooide fortwachsen, so kann man leicht das für Nais barbata gültige Schema
auf das von Microstomum reduciren. Dies letztere aber entspricht ganz
genau dem Wachsthumsschema von ÜChaetogaster diaphanus unter den
Anneliden. |
In Bezug auf die allgemeine Wachsthumsfolge stimmen also die knos-
penden Anneliden mit den knospenden Turbellarien überein. Sie thun dies
ferner auch mit der Strobila einer Taenia oder einer Qualle (s. Taf. XV,
Fig. 17, 19); bei beiden ist, wenn man sie in der hier gegebenen Weise
orientirt, das hinterste Zooid das älteste, das dem ungetheilten Scolex zu-
nächst stehende das jüngste. Aber ein wesentlicher Unterschied besteht
dennoch. Bei der Quallen-strobila oder einer Taenienkette kann das hin-
terste Zooid nicht mehr fortwachsen; umgekehrt hat das hinterste Zooid
jeder Turbellarienstrobila (s. Taf. XV, Fig. 15) die Tendenz immer weiter
zu wachsen und so auch am hintern Ende, da wo die reife Proglottis einer
; echten Strobila sich ablöst, neue Zooide zu erzeugen. Die gleiche Eigen-
schaft kommt endlich auch den Hinterenden aller knospenden Chaetopoden
zu; auch diese wachsen immer weiter und bringen es so gut, wie das
älteste vorderste Zooid zur Ausbildung neuer Thiere. Aber hier stellt
sich dann abermals ein neuer Unterschied, die Segmentation ein. Jedes
einzelne Zooid wird nun, — mag es vorn oder hinten oder in der Mitte
entstehen —, in umgekehrter Richtung, als die Strobilation fortschreitet, in
Segmente getheilt. Während für die Strobilation das (embryonale) Zu-
wachsende immer vorne lag, bildet nun für die Entstehung der Körper-
segmente das Hinterende das embryonale Zuwachsorgan. Es ist also in
allen Zooiden das hinterste Segment immer das jüngste, das dem After
zunächst stehende. Zugleich offenbart sich auch durch die in den Zooiden
der Anneliden eintretende Segmentirung ein scharfer Gegensatz zwischen
Kopf und Rumpf. Die Segmentirung beginnt zuerst ausnahmslos am vor-
deren Rumpfende, und fängt erst am vordern Kopfende an, wenn sich der
Rumpf bereits in mehr oder minder zahlreiche Segmente getheilt hat; es
tritt also das jüngste Kopfsesment an das dahinter liegende, älteste Rumpf-
segment heran und verwächst mit ihm (Taf. XV, Fig. 18).
Bei den Taenien und Quallenpolypen fehlt dieser Gegensatz gänzlich,
es tritt bei ihnen nur die einfache Strobilation ein. Die Microstomen und
Stenostomen dagegen zeigen eine Generationsfolge ihrer Zooide, welche nur
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 371
einer ganz geringfügigen Aenderung bedarf, um ohne Weiteres in die
segmentirte Form einer Chaetogaster-strobila überzugehen. Nimmt man nem-
lich an, es verlängere sich das Afterende von A und B (Taf. XV, Fig. 15)
über die zweifache Grösse des normalen Masses hinaus, ohne dass sich eine
neue Kopfzone einschiebe, und diese trete erst auf, wenn es die acht- oder
zehnfache Länge des normalen Masses erreicht habe; so braucht man nur
noch, entsprechend dem Wachsthum nach hinten, eine an bestimmten Stel-
len auftretende Abgrenzung der inneren Theile anzunehmen, eine Dissepi-
mentbildung, um ohne Weiteres das Schema für Microstomum in das für
Chaetogaster umzuwandeln. Es unterscheidet sich also im Grunde genom-
men die Kette von Microstomum von der des Chaetogaster nur dadurch,
dass bei diesem der kumpf aus 3—5 Segmenten, dort bei Microstomum
aber nur aus einem besteht. Denkt man sich die vom Frühjahr bis zum
Herbst thatsächlich eintretende Verminderung der normalen Rumpfsegment-
zahl eines ungeschlechtlichen Chaetogaster (von fünf im April und Mai bis
zu drei im November) noch weiter fortgesetzt, so würde dann schliesslich
die Chaetogasterkette die in Taf. XV, Fig. 15 gegebene Form angenommen
haben. Ich halte es nicht für unmöglich, grade bei dieser Art durch
geschickte Experimentation ein solches Resultat zu erzielen; grade so, wie
es Schneider bei einer Quallen-hydra gelungen ist, ihr Wachsthum so zu
beschränken, dass sie es nur zur Ausbildung einer einzigen Qualle, also
gar nicht zur Bildung einer echten Strobila brachte.
Diese Vergleichung aber setzte voraus, dass die Einschiebung einer
Knospungszone bei Chaetogaster und die eines Kopfendes bei Microstomum
sich wirklich miteinander vergleichen liessen, wirklich identisch seien. In
Bezug auf die allgemeinsten Verhältnisse herrscht hier nun in der That
Uebereinstimmung, wenngleich im Aufbau der einzelnen Glieder nicht uner-
hebliche Verschiedenheiten obwalten.
Die Knospungszone einer Nais oder von Chaetogaster setzt sich, wie
ich gezeigt habe, aus zwei ganz verschiedenen Theilen, der hinteren Kopf-
und vorderen Rumpfzone zusammen. Beide entstehen gleichzeitig; aber die
hintere Kopfzone braucht zu ihrer vollen Ausbildung wenigstens bei Nais
viel weniger Zeit, als die Rumpfzone. Diese ist dadurch in gewissem Sinne
als jünger bezeichnet; und ich halte es gar nicht für unmöglich, dass noch
einmal knospende Anneliden gefunden werden mögen, bei welchen diese
typische Verschiedenheit der beiden Zonen auch ihren entschiedenen Aus-
druck in der zeitlichen Differenz ihres Entstehens fänden. Bei Microstomum
und Stenostomum nun ist eine solche vorhanden ; die Kopfzone von A, oder
B, schiebt sich ein, ohne dass sich am davorliegenden Hinterende von A
oder B (A? oder B°) eine scharfe Abgrenzung einer Rumpfzone zeigte.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 25
372 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
Virtuell ist sie doch vorhanden, wie die noch später eintretende Einschie-
bung einer neuen Kopfzone für A® oder B? beweist; denn ohne dass vor-
her der hinterste Theil von A oder B sich zum Rumpftheil d. h. zur
kumpfzone von A® oder B°? umgewandelt hätte, könnte die neue
Kopfzone jene Rumpfzonen nicht zu einem neuen Zooid vervollstän-
digen. Unwesentlich ist eben für die allgemeine Auffassung, ob sich der
Rumpftheil eines neuen Zooides früher oder später von seinem davor-
liegenden Mutterboden absondert, da er erst durch die Verwachsung mit
dem noch später sich davor einschiebenden Kopftheil zum integrirenden
Bestandtheil eines neuen Zooids wird. Von grösster Bedeutung aber wäre
es, zu zeigen, dass in der That die Kopfzone eines Microstomum nach
ihrer Entstehung und Umbildung in einzelne Organe mit derjenigen eines
Anneliden übereinstimmte.
Wenn es mir nun auch bis jetzt noch nicht gelungen ist, eine ganz
vollständige Uebereinstimmung in dieser Beziehung nachzuweisen, so glaube
ich doch auch jetzt schon die Identität im Typus der Organanlagen wenig-
stens sehr wahrscheinlich machen zu können,
Wenn bei den ungeschlechtlichen Ketten von Microstomum das hintere
Ende eines Zooids durch Einschieben einer neuen Kopfzone selbständig ge-
macht wird, so beruht dies vor Allem auf der Neubildung eines Kopfdarms,
des dorsalen Schlundganglions und der bekannten wimpernden Sinnesgruben,
welche dieser Gattung {und Stenostomum) ebensogut zukommen, wie vielen
Nemertinen. Vor der Neubildung durchzogen die beiden seitlich liegenden
Nervenstränge ohne alle Anschweliungen den ganzen Körper bis an das
nächste schon ausgebildete Zooid, wo sie mit den Ganglienhälften des
sogenannten Gehirns ebenso zusammenhängen, wie dies die Nerven des
Bauchmarks in einer Naidenkette thun (s. pag. 195 ete.). Wie nun hier die
Neubildung der Ganglien und der Sinnesgruben im Speciellen vor sich geht,
kann ich einstweilen nicht angeben; das ungemein ungünstige Material ver-
langt zu eingehenden histologischen Untersuchungen mehr Zeit, als ich in
diesem Sommer zur Verfügung hatte; aber das kann ich mit allergrösster
Bestimmtheit versichern, dass das dorsale Schlundganglion nicht etwa durch
Einwucherung von dorsalen Medullarplatten her entsteht, sondern genau, wie
bei Naiden, durch Verschmelzung zweier seitlich auftretender Zellgruppen,
die sich in der Mittellinie vereinigen. Und diese Verwachsungsstelle liegt
nicht dorsal über dem alten, die ganze Kette durchziehenden Darm, sondern
unter diesem, dagegen über der Einsenkung, durch welche der neue Kopf-
darm (Taf. XV, Fig. 10 k, m‘) gebildet wird. Dieser letztere lässt in
seiner definitiven Structur deutlich eine symmetrische Anlage erkennen;
auch glaube ich gesehen zu haben, dass anfänglich der junge, mit dem
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 373
Rumpfdarm noch nicht in Verbindung getretene Kopfdarm aus zwei deut-
lich geschiedenen Hälften besteht. Während nun vor und über dem neuen
Kopfdarm das Gehirn entsteht durch Verwachsung der zwei seitlichen Ein-
senkungen (Kopfkeimstreifen) in der Mittellinie, aber unter dem alten Darm:
bildet sich aus derselben Anlage, welche den neuen Kopfdarm erzeugt, ein
Nervenring aus, welcher diesen letzteren umgreift und sich vorn an den
hinteren Abschnitt der beiden Gehirnganglien ansetzt (Taf. XV, Fig. 10 v).
Schneider!) hat diesen Schlundring der Turbellarien schon gekannt; er be-
schreibt ihn von Mesostomum Ehrenbergii, wo er in weitem Bogen den
Schlund umgiebt. Aber dieser Schlundring wird nicht dadurch gebildet,
dass die zwei Hauptnervenstämme sich auf der dem sogenannten Gehirn
gegenüberliegenden Seite vereinigen, sondern er besteht — bei allen Tur-
tellarien — neben diesen; die beiden Hauptnerven, die Seitennerven, ver-
einigen sich bei Turbellarien und Nemertinen fast nie. Eine Ausnahme
hiervon macht der merkwürdige Pelagonemertes nach Moseley ?), nicht aber
Malacobdella, wie ich gegenüber Blanchard, von dem Gegenbaur einfach
copirt zu haben scheint, auf’s Entschiedenste behaupten muss.
Die nun vollständig mitgetheilten Thatsachen genügen, um auf ver-
gleichend-anatomischem Wege den Nachweis zu liefern, dass der Mund der
Turbellarien nicht dem Mund der Nemertinen und Anneliden entspricht,
sondern auf ihrer Rückseite d. h. also, wie bei den Wirbelthieren, auf der
Cardialseite liegt.
Nimmt man nemlich an, die Nemertinen seien keine Gliederwürmer,
sondern ungegliederte Plattwürmer, so wäre der Mund der beiden Thier-
gruppen identisch und bei beiden auf derselben Seite, der Bauchseite, gelegen.
Weiter ginge indessen die Vergleichbarkeit nicht. Bei den Nemertinen
umgäbe der Schlundring statt des Schlundes den Rüssel (Taf. XV, Fig. 8), |
bei den Turbellarien den Kopfdarm, bei jenen stände dieser Schlundring
immer nach oben, hier bei den Strudelwürmern immer nach unten gerichtet.
Dreht man dagegen das Microstomum (Taf. XV, Fig. 8*+10) oder die
Nemertinen um, so ist die Uebereinstimmung zwischen jener Turbellarie
und der abweichendsten Nemertine, der schmarotzenden Malacobdella, voll-
ständig. Die horizontale Comissur, welche die beiden seitlichen Ganglien
verbindet, und die aus den Sinnesplatten (bei Microstomum) entsteht, läge
immer dorsal über dem (Taf. XV, Fig. 8—10 gelben) Kopfdarm oder
Rüssel, und unter dem alten Darm der Larve oder der Zooidkette; der
2) Schneider, Plathelminthen, p. 32, T. III, Fig. 1n.
2) Moseley, On a Young Specimen of Pelagonemertes Rollestoni. A. M. N. H,
4. Ser. 1875, Nr. 96 (December).
25”
374 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
(schwarz gezeichnete) Schlundring träte immer nach unten, bald rückwärts,
bald vorwärts gerichtet, und er umgäbe in allen Fällen den Theil, welcher
im Embryo, der Knospe oder der frei lebenden Trochosphaera (Pilidium)
neu entsteht. Wir wissen, dass bei dem Pilidium der Larvenmund über-
seht in den bleibenden Mund der Nemertine (Metschnikoff, Bütschli), dass
dagegen der Rüssel und seine vordere Mündung gebildet werden durch die
Verschmelzung eines Theils der beiden vorderen Saugnäpfe; wir wissen
ferner, dass bei den aus einem Pilidium sich entwickelnden Nemertinen
die Ganglien und der Nervenrins gleichzeitig aus derselben symmetrischen
Anlage hervorgehen, grade so, wie auch bei Microstomum die in der Kopf-
zone neu auftretenden Theile durch Verschmelzung zweier seitlicher Neu-
anlagen entstehen. Ein Unterschied bleibt allerdings bestehen: die Ver-
bindung des neuen Kopfdarms mit dem alten Rumpfdarm bei Mierostomum ?)
und die Trennung des Rüssels vom Darm bei Nemertes.
Dieser Gegensatz aber giebt uns grade die gewünschte Aufklärung an
die Hand; denn er zeigt uns, dass innerhalb zweier Gruppen, welche von
den meisten Zoologen als ganz nahe verwandt angesehen werden, — ob-
gleich ich selbst sie von einander trennen möchte —, die gleiche Anlage
zur Ausbildung sehr verschiedener Theile führen kann. Bei der normalen
Nemertine sind (Taf. XV, Fig. 8) der alte Larvendarm und -Mund nicht
mit der aus den zwei Kopfsaugnäpfen hervorgehenden Neuanlage verbunden ;
diese wird zum selbständigen Rüssel und bildet sieh ihre eigene Mündung
aus, die meistens an der Vorderspitze des Thieres liest. Bei Malacobdella
(Taf. XV, Fig. 9) hat sich die letztere mit der alten Mundöffnung vereinigt,
der Rüssel erscheint nun (auch bei den Polien) als Anhängsel des Schlundes;
die Lage des Gehirnganglions und des Nervenringes zeigt, dass diese Ver-
einigung zu Stande gekommen ist, indem das Gehirn sich weit nach hinten
zurücklegte und die Hautbrücke, welche in den echten Nemertinen beide
Oefinungen von einander trennt, gänzlich verschwand oder zurückzog.
Zwischen diesen beiden, wie gesagt, beobachteten — und nicht etwa hypo-
!) Von grösster Wichtigkeit würde sicherlich die Kenntniss der Entwickelung
der Prostomeen sein. Bei diesen Rhabdocoelen findet sich, wie bei Nemertinen, ein
selbständiger Rüssel, von dem wir indessen weder die Entstehung kennen, noch die
Verbindungsweise mit dem Nervensystem. Entspricht derselbe wirklich dem Nemer-
tinenrüssel oder dem Schlundkopf von Microstomum, so muss er auch vom Nerven-
ring umgeben sein; dann aber würde der wirkliche Mund von Prostomum nicht dem
Mund der Microstomeen (und der übrigen Turbellarien), sondern dem Nemertinen-
mund homolog sein. Nach Graff (Zur Anatomie der Rhabdocoelen. Dissertation 1873)
soll allerdings bei den Prostomeen kein Nervenring vorhanden sein; auch bei
Schulze und Schmidt sehe ich mich vergeblich nach der Besehreibung eines
solchen um,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 375
thetisch als nothwendig construirten — Fällen finden sich thatsächlich alle
Uebergänge.
Denkt man sich nun aber die Oeffnung des Rüssels, statt auf die Seite
des alten Mundes, auf die entgegengesetzte gerückt, so würde sie genau so
zu liegen kommen, wie die Mundöffnung bei Mierostomum und Stenostomum
(Taf. XV, Fig. 10) liest; wie der Rüssel der Nemertine aus dem durch
die zwei Saugnäpfe gebildeten Kopfkeimstreifen durch Verschmelzung in
der Mittellinie entsteht, so bildet sich der Schlundkopf von Microstomum
aus einer symmetrischen Neuanlage; und wie sich bei Nemertes aus dem ı
Kopfkeimstreifen ein Nervenring um den Rüssel bildet, so entsteht ein
soleher auch bei Microstomum aus der homologen Neuanlage und um den
entsprechenden Kopfdarm herum. Der einzige Unterschied ist, dass bei !
den Turbellarien sich der aus dem Kopfkeimstreifen hervorgehende neue
Kopfdarm wirklich zu einem solchen ausbildet, indem er mit dem schon
früher vorhandenen eigentlichen Darm verschmilzt, während er bei den
Nemertinen als Rüssel von dem alten Darm gesondert bleibt. Dies hängt
nun offenbar damit zusammen, dass bei der Nemertine der alte Pilidium-
mund bestehen bleibt und in den der Nemertine übergeht, während die
Stelle des Kopfdarmblindsacks, wo unter Umständen bei Microstomum eine
dem Pilidiummund vergleichbare Oeffnung (Taf. XV, Fig. 10m) bestehen
bleiben Könnte, sich schliesst. Dem Munde der Turbellarien entspräche
hiernach also nicht der aus dem Larvenmund hervorgegangene eigentliche
Mund der Nemertinen, sondern die Oeffnung ihres Rüsselschlauches; als
wesentlichste Argumente für diese Identificirung betrachte ich einmal die
gleichartige Entstehungsweise des Rüssels und des Schlundkopfes aus den
symmetrischen Hälften des im Embryo oder in der Larve gebildeten Kopf-
keimstreifens und zweitens die dann mögliche Identificirung des Schlund-
ganglions und des Nervenringes in beiden Thiergruppen.
Der Argumentation in etwas vorgreifend, werde ich von nun an die
Rüsselöffnung der Nemertinen und die Mundöffnung der Turbellarien, welche
einander homolog sind, als Vertebratenmund, die eigentliche Mund-
öffnung der Nemertinen dagegen und das vordere Ende des Kopfblindsackes
bei Microstomum, — welcher nichts anderes ist, als ein Rest . des alten
Rumpfdarms, also eigentliches Entoderm —, als Annelidenmund be-
zeichnen. Bei den Nemertinen allein bestehen beide Oeffnungen neben ein-
ander — soweit wir wissen! —; mitunter (Polia, Malacobdella) verschmelzen
sie und es geräth dann der Vertebratenmund (Taf. XV, Fig. 9) auf die
Neuralseite.e Bei Microstomum dagegen und vielleicht allen Turbellarien
verbindet sich der Vertebratenmund durch den aus den zwei Kopfkeimstreif-
hälften entstandenen Schlund mit dem Rumpfdarm, und der am Vorderende
376 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
des Kopfdarmblindsackes (Taf. XV, Fig 10 m) liegende Annelidenmund
schliesst sich.
Die Richtigkeit der hier gewählten Bezeichnung und der von der bis-
herigen Anschauung sehr abweichenden Ansicht über die Homologieen des
Kopfdarms bei Nemertinen und Turbellarien ist nun endlich noch durch eine
scharfe Vergleichung mit den Verhältnissen bei Anneliden und Wirbelthieren
zu prüfen.
Orientirt man den Längsdurchschnitt durch eine Clepsine bi-oculata
(Taf. XV, Fig. 11) und eine Nais (Taf. XV, Fig. 12) so, dass ihre Neural-
seite, wie bei den Wirbelthieren, nach oben zu liegen kommt, so ist ohne
Weiteres die Uebereinstimmung mit den vorhin besprochenen Abbildungen
ersichtlich. Die aus den zwei Hälften des Kopfkeimstreifens hervorgehende
Anlage des Schlundkopfes — der Kiementheil des Kopfdarms — von Nais
(gelb in Fig. 12) liegt unter dem eigentlichen Darm, welcher vorn sich
nur im Annelidenmund öffnet; es wird der Schlundkopf umfasst von dem
Nervenring des vagus, welcher gerade so liegt, wie der sogenannte Schlund-
ring von Nemertes oder von Microstomum (Taf. XV, Fig. 8, 10); jener
entsteht, wie dieser, aus dem Kopikeimstreifen. Der einzige Unterschied
besteht in dem Ausfall des eigentlichen Vertebratenmundes und in der Ver-
einigung der beiden Seitennerven in der neuralen Mittellinie Durch diese
letztere aber wird, wie das thatsächlich bei den Embryonen z. B. der Blut-
egel der Fall ist, ein zweiter echter Schlundring gebildet, welcher den
eigentlichen Darm umspannt. Denkt man sich die Entwickelung des Nerven-
systems eines Blutegels beendet im Stadium der ursprünglichen Trennung
der beiden Keimstreifenhälften (Taf. XV, Schema Fig. 21, Fig. 6), so
würden zwei seitliche Nerven am Körper entlang laufen, die sich genau,
wie bei Nemertinen, auf der Cardialseite zu dem sogenannten dorsalen
Schlundganglion vereinigten. Ausgefallen ist also bei Nais, — und wohl
überhaupt bei allen Oligochaeten —, der Vertebratenmund, während sich
der Kiementheil des Kopfdarms mit dem Darmtheil zum eigentlichen Schlund-
kopf vereinigt hat. Auch der Längsdurchschnitt einer Clepsine bi-oculata
(Taf. XV, Fig. 11) zeigt die gleiche Lagerung der Theile, — wenn man
annimmt, dass im Rüsseltheil nicht blos der alte Schlund der Trachosphaeren-
larve, sondern auch die Kiemenneubildung vorhanden sei — ; aber ausserdem
an der cardialen Seite eine unpaare Finsenkung, welche spät entsteht, in
sich die bekannte Hornplatte dieser Art erzeugt und so tief greift, dass sie
vom Schlund selbst nur durch die hier stark verdünnte Muskelhaut (Taf. XV,
Fig. 15 h) getrennt ist. Nimmt man an, diese letztere würde durchbrechen
und es träte nun die Höhlung des Kopfdarms mit der des Hornplattensackes
in Verbindung, so würde ein Verhältniss hergestellt worden sein, welches
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 377
sich von dem bei Microstomum (Taf. XV, Fig. 10) thatsächlich vorhan-
denen nur dadurch unterschiede, dass Vertebratenmund (m!) und Anneliden-
mund (m) neben einander existirten und die beiden Seitennerven sich zur
Ganglienkette auf der Neuralseite vereinigt hätten.
Durch diese Homologisirung aber werden eine ganze Reihe von Schwierig-
keiten hinweggeräumt, die bestehen blieben, wenn man in allen Fällen die
Mundseite als identisch annehmen wollte. Es kommen so die einzelnen
Theile des Nervensystems, — Hauptnervenstämme, Gehirnganglien, Darm-
schlundring und Kiemenschlundring (vagus) —, in die gleichen Lagerungs-
beziehungen zum Koptdarm, bei den gegliederten, wie bei den ungegliederten
Würmern; es zeigt der Kiementheil des Kopfdarms allemal die gleiche Ent-
stehung aus den zwei Hälften des Kopfkeimstreifens, mag er nun als solcher,
wie bei den Oligochaeten und Turbellarien, den drüsigen Schlundkopf bil-
den, oder wie wahrscheinlich bei den Blutegeln nur den Drüsenbelag des
Sehlundes, oder endlich sich, wie bei den Nemertinen, in den selbständigen
Rüssel umwandeln; es umgiebt endlich das Geflecht!) des Kiemenschlund-
nerven in Form eines zweiten Schlundringes (schwarz in den Figuren) die
morphologisch einander entsprechenden Kiementheile des Kopfdarms. Durch
diese, wie man sieht, sehr weitgehende Uebereinstimmung zwischen den ge-
sliederten und ungegliederten Würmern liessen sich aber auch die einfachsten
Planarien mit den Wirbelthieren in Verbindung setzen; denn wir haben
gesehen, dass die Entwickelung des Kopfdarms der letzteren, ihres vagus
und ihres centralen Nervensystems dem Typus nach vollständig überein-
stimmt mit dem der Anneliden, wenn man sich nur zu der Anstrengung
aufraffen will, anzunehmen, dass physiologischer Bauch und Rücken einander
bei den verschiedenen Classen oder Kreisen so wenig morphologisch zu ent-
sprechen brauchen, als sie dies selbst in einzelnen Ordnungen oder Familien
thun.
Es ist aber auch durch die nun festgestellte Homologie zwischen Wirbel-
thieren, Anneliden, Nemertinen und Turbellarien der Nachweis geliefert,
dass die Dohrn’sche Hypothese von der Entstehung des Vertebratenmundes
durch die Verschmelzung zweier Kiemenspalten der Anneliden - ähnlichen
Stammväter der Wirbelthiere vollständig überflüssig war, wie sie auch nicht
aus Beobachtungen heraus gefolgert, sondern nur erdacht zu sein scheint.
Sie ist überflüssig, weil bei Nemertinen und den Planarien zweierlei mor-
!) Der bei den Nemertinen — wie es scheint! — einfache Kiemenschlundring
(vagus) ist bei den echten Anneliden oft ein wirkliches Geflecht, in welchem aber
doch immer die beiden seitlichen Hauptstämme leicht zu erkennen sind (s. Ehlers,
Borstenwürmer, T. XX, Fig. 9 von Nereis und Perrier in Lacazes’ Archives; Taf. 3,
1874; Taf. XVII, Fig. 44 u. 47 von Urochaeta.
373 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
phologisch verschiedene Oeffnungen gleichzeitig vorkommen, von denen die
eine dem Annelidenmund, die andere dem Vertebratenmund morphologisch
entspricht; sie ist falsch und schlägt allen Thatsachen ins Gesicht, weil
ausnahmslos die Mundöffnung, — mag sie nun ein Anneliden- oder ein
Wirbelthiermund sein —, in Form einer unpaaren Einsenkung auftritt, die
sich bei allen hier besprochenen bilateralen Thieren mit dem aus zwei
Hälften des Kopfkeimstreifens gebildeten Kiementheil des Kopfdarms ver-
bindet. Sie ist überflüssig; denn wir können uns nun aus den Beobachtungs-
thatsachen heraus einen (hypothetischen) Entwickelungsgang der gegliederten
Thiere construiren, welcher nicht, — wie der Dohrn’sche Versuch —, die
jetzt lebenden Anneliden zum Ausgangspunkt der Wirbelthiere zu machen
braucht, sondern diese und die Anneliden zugleich an Formen anknüpft,
welche, wie die Microstomumketten, gewissermassen die Fähigkeit zur Hervor-
bringung beider Gruppen in sich vereinigten.
Nimmt man nämlich an, — und dies ist eigentlich die allein noth-
wendige und durchaus wahrscheinliche Hypothese —, dass die unsegmentirten
Vorfahren der Anneliden und Wirbelthiere die Fähigkeit der Knospung, wie
Microstomum ete., besessen hätten, so ist die Erklärung der Entstehung der
typischen Anneliden und der Vertebraten leicht. Eine jede Planarien-trocho-
sphaera hat schon die beiden Abtheilungen Kopf und Rumpf; jede durch Knos-
pung in einer Kette entstehende erhält gleichfalls beide Abschnitte. Da ihr
Mund dem Vertebratenmund entspricht, so braucht nur im Embryo der Schluss
der beiden Nervenhälften in der neuralen Mittellinie frühzeitig genug zu
erfolgen, um ein Wirbelthiernervensystem hervorzubringen ; alles Uebrige ist
von geringerer Wichtigkeit. Bei den Wirbelthieren braucht man also auch
gar nicht nach einem Rudiment eines Annelidenmundes zu suchen; denn ihr
Mund existirte schon früher bei den Turbellarien; es lässt sich im Gegen-
theil annehmen, dass der Annelidenmund eine spätere Acquisition der Anne-
liden und Arthropoden sei und dass man daher umgekehrt bei diesen nach
Rudimenten des Vertebratenmundes zu suchen haben wird.
Ich habe nämlich gezeigt, dass der alte Darm bei Nais sich mit
einer Neueinsenkung zum Annelidenmund verbindet. Nimmt man nun an,
dass bei den knospenden Turbellarien, welche hypothetischer Weise als
Stammväter der Anneliden zu betrachten wären, der Wirbelthiermund in
seiner Ausbildung zu spät gekommen wäre, um die Herstellung eines Anne-
lidenmundes, — durch Abreissen der Zooide von ihren Vorderthieren —,
unmöglich zu machen, so wäre auch der letztere und gleichzeitig das Weg-
fallen des Vertebratenmundes bei den Anneliden erklärt. Die physiologisch,
d. h. mechanisch wirkenden Ursachen könnten natürlich sehr mannichfaltiger
Art sein. Die hierdurch bedingte Unterdrückung des schon bei den Tur-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 379
bellarien vorhandenen Wirbelthiermundes könnte aber nicht urplötzlich vor
sich gegangen sein; der letztere würde Spuren seines früheren Vorhanden-
seins haben hinterlassen müssen. j
Nun ist es allerdings Thatsache, dass man bisher von Spuren desselben
bei gegliederten Wirbellosen nichts weiss; bei den Anneliden ist es eigent-
lich nur der Hornplattensack von Clepsine, welcher sich in dieser Richtung
einstweilen verwerthen lässt (s. pag. 335 und Taf. XV, Fig. 13 h). Wenn
man indessen bedenkt, dass von den zahllosen Anneliden eigentlich kaum
drei gut auf ihre Entwickelungsgeschichte untersucht sind, und wenn man
erwägt, dass in allen Untersuchungen über die Ontogenie der Clepsine
bi-oculata (Grube, Rathke, Robin), kein Wort von diesem Hornplattensäckchen
steht, ja nicht einmal die Entstehungsweise des Mundsaugnapfes genau
beschrieben ist: so wird man natürlich sich vorsichtig jedes entschiedenen
Ausspruches in dieser Richtung enthalten müssen. Man wird um so ge-
neigter sein zur Suspension seines Urtheils in dieser Beziehung, wenn man
findet, dass es bei Arthropoden eine Reihe von Embryonalorganen giebt
(kugelförmiges Organ der Amphipoden und verwandte Gebilde, der ‚„cumulus
primitif des araignees“ von Claparede ete.), welche vielleicht sich mit dem
Hornplattensack von Clepsine bi-oculata vergleichen liessen — denn die
Lagerung im Thier stimmt bei ihnen vollständig. Liesse sich nun durch
speciell auf diesen Punkt gerichtete Untersuchungen zeigen, dass in der
That die hier kurz bezeichneten Organe als Ueberbleibsel des schon bei
den Turbellarien vorhandenen Vertebratenmundes und -kopfdarms mit Recht
anzusehen seien, so würde damit die einzig logische Forderung der hier
aufgestellten Hypothese erfüllt sein: dass der Vertebratenmund früher ge-
bildet sei, als der Annelidenmund. Damit wäre natürlich die Anneliden-
theorie der Wirbelthiere nicht im mindesten aufgegeben; nur hätte man sie
nicht so grob äusserlich aufzufassen, wie das durch Dohrn geschieht. Man
würde als gemeinsame Stammväter aller drei Gliederthierelassen nicht die
eine jetzt existirende derselben, sondern gegliederte Wurmformen anzusehen
haben, welche sich durch den Mangel eines eigentlichen Darmschlundringes
und die fehlende Vereinigung der zwei Nervensystemhälften auf der Neural-
seite an die Turbellarien, durch die entschiedene Segmentirung an die ge-
sliederten Thiere (Nemertinen, Anneliden ete.) anschliessen und durch die
thatsächlich vorhandene Möglichkeit der Ausbildung eines Wirbelthiermundes
(und Gehirns) oder eines Annelidenmundes (und Darmschlundringes) zwischen
Wirbelthiere einerseits und Anneliden und Arthropoden andrerseits stellten.
Als die gemeinsame Grundform aller dieser Thierclassen, — der segmen-
tirten, wie der unsegmentirten bilateralen —, wäre die hoch organisirte '
Trochosphaera aufzufassen, welche ‘erst in den höher entwickelten Thier-
380 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
classen, namentlich der gegliederten Reihe, mehr und mehr ihre Selbständig-
keit und ihre einzelnen Organe eingebüsst hätte und so allmälig in das
Stadium einer einfachen embryonalen Keimblase oder der Atremasphaera
herabgesunken wäre, wie solche allen Wirbelthieren ohne Ausnahme zu-
kommt.
8. 25. Schlusswort.
Der Gang der nun beendeten Untersuchung war folgender. Von dem
Geoftroy-Ampere’schen Gedanken ausgehend, dass die Wirbelthiere im Grunde
nur auf dem Rücken laufende Gliederthiere seien, und dem neuen, von mir
zuerst geäusserten, dass die höher stehenden Arthropoden und Vertebraten
gleichmässig würden auf Anneliden-ähnliche Thiere zurückgeführt werden
können, trat zunächst als wichtigste Aufgabe die entgegen, durch die Unter-
suchung der Entstehung des Nervensystems der Anneliden und vor Allem
ihres sogenannten Gehirns den Nachweis zu liefern, dass der bisher von
den Autoritäten geübte Vergleich zwischen dem Nervensystem der Wirbel-
thiere und Ringelwürmer falsch sein müsse.
Es gelang aufs Vollständigste, diesen Nachweis zu führen und zu zeigen,
dass im Allgemeinen das Bauchmark und obere Schlundganglion in der That,
wie von Geoffroy angenommen und von Leydig sehr wahrscheinlich gemacht,
dem Gehirn und Rückenmark entspreche. Aber es war zugleich möglich,
zu zeigen, dass mit dem eigentlichen centralen Nervensystem auch noch
Spinalganglien verbunden seien, dass die seitlich vom Bauchmark abtreten-
den Nerven in der That echte Spinalnerven wären und dass endlich das
Kopfmark sich einmal durch die allen Anneliden zukommende Kopfbeuge
und zweitens durch das Hinzutreten der zwei dem Kopfkeimstreifen an-
gehörenden Sinnesplatten auszeichneten. Der vollständige Mangel einer un-
paaren dorsalen Medullarplatte und das Vorhandensein einer Seitenlinie und
eines echten Kiemenschlundnerven verstärkten das so gewonnene Resultat:
dass in allen wesentlichen Theilen das Nervensystem der Anneliden mit
dem der Wirbelthiere identisch sei.
Auch alle anderen gleichzeitig gewonnenen Ergebnisse konnten nur
dazu dienen, das durch das Nervensystem gelieferte Ergebniss zu stützen.
Das Vorhandensein eines Axenzellstranges (der Wurmchorda), die Entstehung
des Herzens, Lage der Hauptgefässe, Blutstromrichtung in ihnen und ihre
Verbindung mit den am Kopfe angebrachten äusseren Kiemen, Enstehungsort
der Segmentalorgane (und oft auch der Keimdrüsen) an der Neuralseite
neben dem Bauchmark, Seitenlinie und ihre Beziehung zum Seitennerven
der Wirbelthiere stimmten vollständig mit den von Wirbelthieren bekannten
Verhältnissen. Weit wichtiger aber, als alles dies war der Nachweis, dass
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. 3s1
auch bei Anneliden der bigeminale Entwicklungstypus obwalte; dass der
bei Wirbelthieren und Arthropoden in der Entstehungsweise verwischte, in
seiner an den einzelnen Organen durchgeführten Ausbildungsweise scharf
erkennbare Gegensatz zwischen Kopf und Rumpf bei Anneliden in grösster
Einfachheit und Klarheit zu finden sei; dass ferner bei allen streng ge-
gliederten Thieren die doppelte Form der Gliederung vorkomme, die ich
als Segmentation und Strobilation einander gegenübergestellt habe; und dass
endlich die Ausbildung des Keimstreifens, welche dem Gesetz der Strobi-
lation (von hinten nach vorn) gleichmässig unterliegt, in einer ruhenden
(Atremasphaera) oder in einer beweglichen und sich selbst ernährenden Keim-
blase (der Trochosphaera) erfolge. Betont wurde endlich als wichtig für
die durch die vorliegende Untersuchung gewonnene Auffassung die That-
sache, dass’nur bei den Anneliden die grösste Gleichartigkeit der primären
Anlage und die gleichmässigste Umbildung des Typus zu finden sei, wäh-
rend umgekehrt die Ausbildung der Arthropoden und Vertebraten an die
Bevorzugung einzelner Glieder oder Entwicklungsrichtungen geknüpft zu
sein scheine; dass, mit einem Worte, die Anneliden die embryonale Gruppe
unter den gegliederten Thieren repräsentirten, in welcher alle die Eigen-
thümlichkeiten gleichmässig neben einander und höchst variabel vorkämen,
welche bei den zwei höher stehenden Gruppen mehr und mehr specialisirt
würden.
Dabei war es ferner leicht, zu zeigen, dass die Ascidien und selbst
nicht einmal der Amphioxus den Wirbelthieren so nahe stünden, wie die
Anneliden; denn es gelang der Nachweis, dass diejenigen Theile, (Chorda,
Nervensystem und Kiemenkorb), auf deren behauptete Uebereinstimmung
die Verwandtschaft zwischen dem Amphioxus und dem Wirbelthier ge-
gründet wird, entweder in beiden Thiergruppen gar nicht so übereinstim-
mend seien, wie man angiebt, oder dass sie in einer der Anlage nach iden-
tischen Weise auch bei den gegliederten Würmern vorkämen; während an-
drerseits die bestehenden Divergenzen zwischen ihnen überwiegend zahl-
reich und gross, und in keiner Weise zu erklären oder überhaupt von den,
vor dem ehrwürdigen Amphioxus in den Staub fallenden Verfechtern der
Ascidiennatur der Wirbelthiere zu erklären versucht worden sind.
Die hauptsächlich und zunächst an den Knospen der Oligochaeten
untersuchten Vorgänge konnten endlich in ihren wesentlichsten Eigenthüm-
lichkeiten theils durch schon vorliegende Beobachtungen, theils durch eigene
Untersuchungen der Entwicklung von Hirudineen auch für die Ontogenie
bestätigt werden, obgleich meiner Ueberzeugung nach jene ersten einer sol-
chen Bestätigung nicht bedürfen, um erst wissenschaftliche Bedeutung zu
erlangen. Immerhin war es erwünscht, einzelne Punkte, so namentlich die
382 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere,
Entstehung des Kopf- und Rumpf-Keimstreifens aus zwei getrennten Hälften,
die Strobilation und Segmentation und den bigeminalen Typus, wie er durch
die Entstehung der beiden animalen Muskelrohre bezeichnet wird, auch in
der embryonalen Entwicklung nachweisen zu können und damit die durch
die Knospenentwicklung festgestellten Homologien zwischen Wirbelthieren
und Anneliden auch denen gegenüber sicher zu stellen, welche meinen, em-
bryonale und Knospenentwicklung der Zooide könnten desswegen bei den
Anneliden nicht typisch übereinstimmen, weil sie dies nach ihrer Meinung
in andern Thiergruppen, z. B. den Ascidien, nicht thäten.
Es führte nun aber auch der gelungene Versuch zur Aufstellung spe-
cieller Homologien zwischen Wirbelthieren und Anneliden zu dem Nachweis,
dass die trochosphaere Larve eines Anneliden nach der Art ihrer Theilung
in zwei Abschnitte — Kopf und Rumpf — und die hieran sich anschlies-
sende Entstehungsweise des Keimstreifens als der Ausgangspunkt der durch
die gegliederten Thiere bezeichneten mehrfach divergirenden Entwicklungs-
reihe anzusehen sei; und zweitens, dass durch diese auch die Verbindung
mit den ungegliederten, aber symmetrischen Plattwürmern, d. h. zunächst
nur den Turbellarien hergestellt werde. Allerdings war in dieser letzteren
Beziehung die Beweisführung noch eine etwas unsichere; insofern nemlich
bisher der strenge Nachweis, dass, (in der Knospe oder im Embryo), der
ungegliedert bleibende Keimstreif eines Microstomum auch denselben Typus
der Organentwicklung zeige, wie er den gegliederten Thieren zukommt,
nicht vollständig zu liefern war. Durch einzelne Angaben über die im
Kopfe neugebildeten Theile und vor Allem durch eine vergleichend ana-
tomische Untersuchung der Kopftheile ausgebildeter Anneliden, Nemertinen
und Turbellarien gelang es jedoch, zum Mindesten sehr wahrscheinlich zu
machen, dass auch die ungegliederten Platyelmia dem Typus ihrer Organ-
bildung nach nicht wesentlich verschieden sein könnten von den Anneliden
und den Vertebraten. Ja, es war dabei, — indem man die Entstehungs-
weise des Schlundkopfes oder Rüssels aus den zwei Keimstreifhälften des
Kopfes und das damit verbundene Auftreten eines Vagus-Nervenrings be-
nutzte —, möglich, zu zeigen, dass der Mund der Turbellarien (abgesehen von
Prostomum) nicht eigentlich dem Mund der Anneliden und Nemertinen,
sondern nur der Rüsselöffnung der letzteren entspreche. Und da bei der-
jenigen Lagerung des Kopfes, welche allein ‘s. Taf. XV, Fig. 8—13) eine
Vergleichbarkeit des vom Kiemenschlundnerv gebildeten Ringes, des Kiemen-
theils des Kopfdarms und der Darmtheile, sowie des Nervensystems zwischen
den gegliederten und ungegliederten Würmern ermöglicht, der Mund der
Turbellarien und die Rüsselöffnung der Nemertinen so liegen, wie der Mund
der Wirbelthiere, so konnte diese streng und ausschliesslich auf der Car-
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere, 383
dialseite liegende Oeffnung der Strudelwürmer und Nemertinen überhaupt
als Wirbelthiermund, dagegen die auf der Neuralseite angebrachte
eigentliche Mundöfinung der Nemertinen als Annelidenmund bezeichnet
werden.
Die Trochosphaera mit ihrem Gegensatz von Kopf und Rumpf,
von Neural- und Cardialseite kann somit auch mit grosser Wahrscheinlichkeit
als Ausgangspunkt der seitlich symmetrischen ungegliederten Plattwürmer
angesehen werden, wie sie wohl sicherlich auch diejenige der gegliederten
Thiere gewesen sein wird. Während aber bei den Platyelmia die Trocho-
sphaera sich niemals segmentirt, sondern immer nur bei ungeschlechtlicher
Vermehrung dem Gesetze der Strobilation folgt, tritt schon bei den Nemer-
tinen eine Segmentirung des Rumpfes (und des Kopfes?) auf; die Segmen-
tirung wird in Verbindung mit dem, in den einzelnen Organen immer schärfer
hervortretenden Gegensatz von Kopf und Rumpf typisch bestimmend bei
den Anneliden zunächst und dann auch bei den Arthropoden und Ver-
tebraten.
Mit diesem so gewonnenen -- allerdings für die Turbellarien noch
etwas hypothetischen Resultate, da wir über die Entwicklungsweise ihrer
Muskulatur gar nichts, über die ihres Kopfes nur wenig wissen —, ist denn
aber endlich auch der. Nachweis geliefert, — und, wie ich hoffe, endgültig —,
dass der von Cuvier so sehr verlachte Glaubenssatz Geoffroy St. Hilaire’s
von der „unit de composition organique‘“ in der That vollständig richtig
war, und dass, wie wir uns heute auszudrücken lieben, ein Gegensatz im
Typus weder zwischen Wirbelthieren, Arthropoden und Anneliden, noch
zwischen diesen und den Platyelmia nachzuweisen sei. Allen ohne Aus-
nahme kommt der Gegensatz von Kopf und Rumpf zu; beiden Abschnitten
gehören identisch entstehende Organe an; der bigeminale Entwicklungstypus
endlich wird, wie er zweifellos bei den Anneliden (Arthropoden) und Ver-
tebraten vorkommt, auch gewiss noch bei den Platyelmia nachgewiesen werden
können. Man möchte sich nun vielleicht versucht fühlen, wegen dieser
Identität des Typus alle Thiergruppen zusammen zu werfen, — wie ich denn
in der That die in den Handbüchern isolirt aufgeführten Kreise nur als
Classen zu bezeichnen pflege —; die innerhalb der so gebildeten grossen
Gruppe der seitlich symmetrischen Thiere auftretenden Verschiedenheiten
wären doch immer wieder im System !) auszudrücken, und man müsste den
1) Die durch die vorliegende Arbeit nothwendig gewordene Umänderung des
früher gegebenen Stammbaums (Stammverwandtschaft ete.) kann Jeder, der sich für
solche graphische Darstellungen interessirt, vornehmen; die Gründe, die mich früher
zur Au'stellung eines solchen nöthigten, sind jetzt hinfällig geworden. Meine damals
angedeuteten allgemeinen Ansichten über das Verhältniss der gegliederten zu den
384 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere.
verschiedenen, durch die einfache und die mit einem sich segmentirenden
Keimstreifen versehene Trochosphaera bezeichneten Thiergruppen besondere
Plätze anweisen. Mit dem Nachweis der Identität im Typus aller sym-
metrischen Thiere hörten die Unterschiede, wie sie durch die verschiedene
Art und Möglichkeit in Durchführung desselben gegeben sind, nicht auf,
und der Versuch, die gegliederten Anneliden mit den Cestoden ete., kurz,
mit dem Haufen der sogenannten Würmer zusammenzuwerfen, müsste nach
wie vor, nein schärfer noch als früher, zurückgewiesen und als ein ganz
unlogischer bezeichnet werden. Der intuitiv gewonnene Satz von der „unite
de composition organique‘ hat nun für eine grosse Reihe von Thieren seine
aus den Beobachtungen heraus inducirte Bestätigung gewonnen. In wie weit
aber die Thiere, welche ich nicht mit in den Kreis der jetzt beendigsten
Untersuchung gezogen habe, also die Radiaten, die Rotatoria, Mollusca, Ne-
matoda etc. sich hier an die einfache Trochosphaera 1) (Rotatoria), dort an
die ungegliederte, aber mit Keimstreif versehene (Mollusca?) oder vielleicht
gar an die typisch gegliederten Thiere sich anschliessen (Sipunculidea?):
das zu untersuchen muss der kommenden Zeit überlassen bleiben. Ich
meinerseits habe hier zum Schluss nur noch die Ueberzeugung auszusprechen,
dass alle bilateral gebauten Thiere sich als mehr oder minder weitgehende
Modificationen der durch die Trochosphaera, ohne und mit gegliedertem
Keimstreif bezeichneten Entwicklungsphasen erweisen werden und die, wie
ich längst angedeutet habe, wohl kaum aussichtslose Hoffnung, auch die
radial gebauten Thiere auf den symmetrischen Typus der Trochosphaera
zurückgeführt zu sehen.
ungegliederten (Urnieren) Thieren sind in keiner Weise durch die vorliegende Unter-
suchung verändert worden; nur die Stellung der einzelnen Classen wird jetzt klarer.
So müssen z. B. nun zweifellos die Rotatorien zu den ungegliederten Würmern gestellt
werden, vielleicht auch die Nematoden; das Verhältniss der Enterocoelen endlich zu
den Schistocoelen scheint mir einstweilen noch zu unklar, um hier eine bestimmte
Ansicht gestalten zu können.
!) Ich brauche wohl kaum noch besonders darauf hinzuweisen, dass die Trocho-
sphaera mit der früher von mir (Stammverwandtschaft) als „ungegliedertes Urnieren-
thier‘“ bezeichneten Urform der bilateralen Schistocoelen identisch ist.
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. Anhang. 385
Anhang.
Ich habe absichtlich eine ganz beträchtliche Reihe von Consequenzen
und Fragen, die sich aus den Resultaten meiner Arbeit von selbst ergeben,
übergangen oder nur leise angedeutet. Hier im Anhang will ich auf einige
dieser Punkte etwas ausführlicher eingehen.
1) Durch die Vergleichung zwischen gegliederten und ungegliederten
Thieren habe ich festgestellt, dass der Mund der Turbellarien dem Verte-
bratenmund, derjenige der Nemertinen dem Annelidenmund entspricht.
Eine Consequenz dieser Anschauung ist zunächst die Annahme, dass
die eigentliche Strobilation, d. h. also die bei den Anneliden, Cestoden,
Turbellarien und Coelenteraten eintretende fortwährende Einschiebung neuer
und verschiedener Proglottiden nur eine übertriebene Ausbildung des durch
den Gegensatz zwischen Rumpf und Kopf bezeichneten Entwicklungstypus
der Trochosphaera ist. In einer einfachen Trochosphaera braucht nur durch
die Keimstreifen eine Segmentation eingeleitet zu werden, um sofort den
Typus eines Gliederthiers oder Wirbelthiers zu erzeugen. Eine weitere
Consequenz ist die Nothwendigkeit des Vorhandenseins eines rudimentären
Vertebratenmundes bei denjenigen Wirbellosen, bei welchen er durch den
Annelidenmund ersetzt wurde. Ueberflüssig ist dagegen hiernach die An-
nahme, dass bei Wirbelthieren ein Annelidenmund existirt haben müsse;
denn da dieser der secundäre, der Vertebratenmund aber der primäre ist,
so wird man natürlich auch bei Wirbelthieren vergeblich nach Resten eines
Annelidenmundes suchen. Damit stehen die Thatsachen in Einklang. Durch
das bei den Ringelwürmern sehr frühe Auftreten des Annelidenmundes wurde
die vollständige Ausbildung des vorher angelegten Vertebratenmundes über-
flüssig gemacht; Rudimente desselben sind bei Anneliden in der Hornplatten-
tasche von Clepsine bi-oculata, und in den dorsalen Kopfdrüsen mancher
Ringelwürmer zu sehen; bei den Arthropoden betrachte ich als Rudimente
des Vertebratenmundes das kugelförmige Organ der Amphipoden, den „eu-
mulus primitif‘‘ der Arachniden, das bisher so gänzlich unerklärliche Rücken-
rohr des Dytiscus (Kowalewsky, Würmer und Arthropoden, Taf. X, Fig.
37, 38, Taf. VIII, Fig. 15, 16), vielleicht selbst die flügelförmigen An-
386 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. Anhang,
hänge des Rückens von Asellus, den sogenannten Micropylapparat der Krebse,
kurz alle die zahlreichen Bildungen, die meist in Form einer medianen
Einsenkung auf dem Rücken des Embryos, und zwar am Ende des Kopfes
auftreten, um bald wieder spurlos zu verschwinden. Es steht endlich mit
meiner Hypothese die Thatsache in Einklang, dass man bei Wirbelthieren
vergeblich nach Spuren eines Annelidenmundes sucht; die von Dohrn auf-
gestellte Meinung, die Rautengrube sei die letzte Spur eines solchen, wird
gründlich durch die von Hensen —-, und, wenn ich nicht irre, irgendwo auch
schon von Leydig —, hervorgehobene Thatsache, dass die Rautengrube von
Anfang an im Embryo geschlossen ist, widerlegt. Nimmt man an, es
schlössen sich bei einer rhabdocoelen Planarie die beiden Seitennerven zum
centralen Nervensystem in der Weise, wie dies bei manchen Anneliden und
den Fischen die Keimstreifhälften wirklich thun, so würde ein überall in
der Mittellinie vereinistes Nervensystem mit deutlich ausgesprochener Kopf-
beuge zu Stande kommen, da ja die Vereinigung der zwei Kopfkeimstreifen
nicht durch einen schon vorhandenen Annelidenmund verhindert wird. Bei
den Anneliden und Arthropoden dagegen muss durch denselben Process des
Verschmelzens der zwei Keimstreifhälften in der neuralen Mittellinie ein
Schlundring entstehen, da vor ihm und vor definitiver Ausbildung des an-
gelegten Wirbelthiermundes der neue Annelidenmund schon angelegt war,
und so im Kopfe die vollständige Vereinigung der zwei Kopfkeimstreifen
verhinderte.
2) Da die Trochosphaera schon den Gegensatz zwischen Kopf und
Rumpf besitzt, so braucht in einer trochosphaeren Larve eines gegliederten
Thieres eben nur die Segmentation jedes Abschnittes mit entsprechender
Um- und Ausbildung der Keimblätter und ihrer Glieder einzutreten, um
einen Anneliden, ein Wirbelthier oder einen Arthropoden zu bilden. Unter
diesen dreien liefern uns die Anneliden diejenigen Charaktere und Entste-
hungsweisen der Organe, durch deren noch weiter gehende Umbildung die
Wirbelthiere (und Arthropoden) erst verständlich werden. Das Verhältniss
dieser drei Classen zu einander ist jetzt ziemlich klar. Anders aber steht
es mit den übrigen Thieren, welche wie die Mollusken, Brachiopoden, Tuni-
caten, Räderthiere, Nematoden etc. etc. bald ganz entschieden ungegliedert
sind im allen ihren Lebensstadien, bald Andeutungen einer ursprünglich
vorhandenen Segmentation erkennen lassen. Da scheinen mir nun die Räder-
thiere sich aufs Engste an die Trochosphaera anzulehnen; man braucht der
Trochosphaera aequatorialis nur die Geschlechtsorgane zu nehmen, um sofort
ein Thier zu erhalten, welches in fast allen einzelnen Punkten mit den
höchst entwickelten Trochosphaeren, — dem Pilidium und der Mitraria —,
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. Anhang. 387
übereinstimmte; dass bei diesen das Exeretionsorgan fehlt, thut nichts zur
Sache, da der Blutegelembryo dasselbe besitzt. Die Rotatorien scheinen
mir hiernach blos geschlechtlich gewordene Trochosphaerenformen, d. h.
ungegliederte Larvenformen der Gliederthiere zu sein. Die durch Kowalewsky \
so sorgfältig abgebildeten Brachiopodenlarven lassen scheinbar eine Segmen-
tation erkennen; leider bin ich der russischen Sprache nicht mächtig, sodass
ich nicht wissen kann, in wieweit sich Kowalewsky über diesen Punkt im
Text äussert, und ob er sie wirklich für echt gegliederte Thiere ansieht
oder nicht. Von Ausbildung eines gegliederten Keimstreifens finde ich in
seinen Abbildungen nicht die geringste Spur. Ob die Mollusken direct auf
die Trochosphaera zu beziehen, oder durch Vereinfachung der Entwicklung
aus streng gegliederten Thieren herzuleiten sind, ist, wie man weiss, durch
v. Ihering ein Gegenstand der Controverse geworden, seitdem er behauptet
hat, nachweisen zu können, dass die Gruppe der zwittrigen Schnecken, —
wie ich und andere längst schon gesagt haben —, von den unsegmentirten
Planarien, die getrenntgeschlechtlichen aber von segmentirten Würmern her-
zuleiten seien. Ich muss bekennen, dass ich gespannt auf seine Beweis-
führung bm. Die Nematoden wiederum scheinen ziemlich sicher nur unge-
gliederte Formen zu enthalten, während mir die Ableitung der Ascidien
von den gegliederten Enteropneusten oder Amphioxus wahrscheinlich dünkt.
Nach diesen Andeutungen den früher gegebenen Stammbaum zu verändern,
habe ich gar keine Lust, da ich weiss, dass einstweilen der veränderte
ebenso hypothetisch sein würde, als der zuerst gegebene. Nur die Rota-
torien möchte ich jetzt ganz entschieden in die Classe der ungegliederten
Urnierenthiere stellen, d. h. also mit den Scolecida vereinigen. Die An-
deutungen von Gliederung bei ihnen oder von borstenartigen Anhängen sind
in der That keine solchen, da sie nicht durch einen Keimstreifen zu ent-
stehen, sondern nur einfach geringelte Auswüchse der Haut zu sein schei-
nen, wie solche auch bei den trochosphaeren Larven der echten Anneliden
auftreten.
3) In der trochosphaeren Blutegeliarve kommen Canäle vor, welche
zu drei oder zwei Paaren unter der feinen Muskelhaut angebracht sind,
und frei in der primitiven Leibeshöhle flottiren. Bei Nephelis scheinen sie
mir am Hinterende mit den grossen Zellen in Zusammenhang zu stehen;
diese findet man regelmässig erfüllt von Concretionen, welche später ver-
schwinden. Dadurch erhält die Leuckart’sche Ansicht, es seien die grossen
Zellen am Hinterende der Clepsineembryonen als solche Urnieren anzusehen,
eine nicht unbedeutende Stütze. Nun stehen diese der Zeit ihres Auftretens
nach zu den eigentlichen Segmentalorganen der Blutegel, — welche genau
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 26
388 SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten 'Thiere, Anhang.
so entstehen, wie bei den Lambrieinen —, in demselben Verhältniss, wie
das Urnierengangpaar der Anamnia unter den Wirbelthieren zu der Urniere
der letzteren. Der primäre Urnierengang ist bei diesen eines der frühesten
Organe; er tritt schon vor der Ausbildung der Ursegmente auf und liegt
ursprünglich dicht unter dem Ectoderm. Die späteren Segmentalorgane
der Urnieren entstehen aus den Ursegmenten. Genau dasselbe Verhält-
niss findet sich beim Nephelisembryo; die eigentlichen Segmentalorgane
bilden sich aus den Segmenten des Keimstreifens, das System der paarigen
Urnierengänge gehört dem primitiven Trochosphaerenembryo an. Gewisse
Unterschiede sind natürlich doch vorhanden. Bei Wirbelthieren vereinigen
sich ausnahmslos die Segmentalorgane mit diesem, dem Atremasphaerasta-
dium angehörenden Urnierengang; bei den Hirudineen thun sie dies nicht
(soweit wir wissen!). Bei den Wirbelthieren verbinden sich die beiden
Urnierengänge mit der Cloake, bei den Hirudineen wahrscheinlich nie, wohl
aber bei den Rotatorien. Immerhin ist die Uebereinstimmung so gross,
dass man wohl berechtigt ist, den Urnierengang der Wirbelthiere geradezu
den Urnieren der trochosphaeren Larven der Anneliden gleichzustellen ;
die bleibenden, aus den Ursegmenten sich entwickelnden Segmentalorgane
bleiben, wie immer, den Segmentalorganen der Wirbelthierurniere gleich.
In dieser Beziehung wäre also die Müller’sche Bezeichnung des primären
Urnierenganges als einer „‚Vorniere‘' berechtigt. Zugleich wäre sie auf die
einfachsten Excretionsorgane der ungegliederten Würmer (Turbellarien, Ro-
tatorien etc.) zurückgeführt; damit stände in Einklang, dass sie überhaupt
eines der frühesten Glieder der primitiven Keimblätter ist. Auch die Ex-
cretionsorgane der Nemertinen scheinen mir ganz und gar diesen primären
Urnierengängen der Vertebraten zu entsprechen. Eigentliche Segmental-
organe aber treten erst mit den echten Anneliden auf.
4) Wenn die Homologie zwischen Wirbelthieren und Anneliden richtig
sein soll, so muss man auch erwarten, die einzelnen Glieder der Ursegmente
der Wirbelthiere auf die der Anneliden zurückführen zu können. Eine
grosse Schwierigkeit boten bisher die Urwirbelhöhlen. Aehnliche abgeson-
derte Höhlen in den Ursegmenten kommen auch bei Gliederfüsslern vor.
Wo sie aber bei Anneliden auftreten (Lumbricus, Clepsine und Nephelis
nach eigenen Beobachtungen), stehen sie immer mit der primären Leibes-
höhle in Verbindung; im Kopfe namentlich ist diese Vereinigung auch an
dem im Profil liegenden unverletzten Embryo ohne Weiteres ersichtlich,
denn man sieht bei den Contractionen desselben zellige Elemente aus den
Höhlungen der Segmente in die Kopfleibeshöhle übertreten. Es liest der
auch oben ausgesprochene Gedanke nahe, bei den Wirbelthieren nach der
SEMPER: Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Thiere. Anhang. 389
homologen Verbindung zwischen den Urwirbelhöhlen und der primitiven
Leibeshöhle zu suchen. Durch Roman Kowalewsky, über dessen Arbeit
Hoyer in dem soeben erschienenen dritten Jahresbericht von Schwalbe be-
richtet, ist eine solche Verbindung zwischen den Urwirbelhöhlen und der
Pleuroperitonealspalte beim Hühnchen wirklich nachgewiesen !.. Es konnte
kaum ein für meine theoretische Auffassung erwünschteres Factum rascher
durch Beobachtung festgestellt werden, als es hier geschah.
1) Bericht v. Hoyer in Hoffmann - Schwalbe’s Jahresbericht f. Anat. u. Physiol.
4. Bd., 1875, p. 449. „Die die Seitenplatten trennende seröse oder Pleuroperitoneal-
spalte reicht ursprünglich bis in die Urwirbelanlagen selbst hinein.
Würzburg Ende Juli 1876.
26 *
Inhalts-Uebersicht.
I. Absehnitt. Gesechichtlieh-Kritisches .
Sk
u)
8.3
Die Geoffroy’sche Theorie der Vorwandtschen der
Wirbelthiere und Gliederthiere.
Insectenwirbel. Einheit des Baues. Bauch der -Gliederthiere —
Rücken der Wirbelthiere. Ampere. .„ . Se
Die Leydig’sche Vergleichung des N en tlns ala
Gliederthiere und Wirbelthiere.
Schlundring der Annulaten = Gehirn der Vertebraten; Bauchmark
—zruckenmark ER ö
Die Beziehungen der ah ei Sesihedke erten Thierelasnp
zu einander.
Durchgreifender Gegensatz‘? Bauchmark und Rückenmark, Identität
vom Bauch der Wirbelthiere und Annulaten. Kritik dieser An-
sicht; Zurückweisung von Baer’s Argumentation. Oberes Schlund-
sanslion der Gliederthiere, seine Verbindung mit den Sinnes-
organen, die Medullarplatten. Einziger Gegensatz: die neurale
Lage des Mundes bei Annulaten. Möglichkeiten der Erklärung
dieseri"Phatsache: nn ae re N Re
II. Abschnitt. Die morphologische Bedeutung des Nervensystems
8.4.
der Anneliden . . 5 5 N EEE,
Einleitende een bes a Ne en der
Anneliden und seine Structurim Allgemeinen.
Verschmelzungen und Trennung der Ganglienknoten; Strickleiter-
nervensystem. Malacobdella eine Nemertine. Symmetrischer Bau
der Ganglienknoten (Leydig); unpaare Ganglienzellenschicht von
Lumbriceus. Faivre’s intermediärer Nerv der Blutegel .
Vergleichend-morphologische Bemerkungen über das
Nervensystem der Anneliden.
Einfaches Bauchmark. Verbindung desselben mit der Epidermis an
sehr verschiedenen Stellen (Terebella, Hyalinoecia, Maldane, Ca-
pitella). Strickleiterbauchmark, Typus desselben. Vagus und
sympathicus. Beziehung des vagus zu dem Kiementheil des
Koptdarına Na u en UN
Seite
115—140
115—126
126—123
1285 — 140
141—161
141 —143
143—151
Inhalts-Uebersicht.
Die Entstehung des Nervensystems bei Anneliden.
Geschichtliches (Grube, Rathke, Leuckart, Kowalewsky). Gegensatz
invderBAuKassunogmlue Mayen a um Ben ©
Die Stellung der Frage.
Herkunft des Nervensystems. Betheiligung des Eetoderms und
Mesoderms. Knospungsvorgänge der Naiden als Untersuchungs-
objeet Nothwendigkeit der Uebereinstimmung in der Organ-
bildung in Knospen und Embryonen
III. Abschnitt. Die Knospung der Naiden
8.
Die Knospungserscheinungen von Nais proboscidea
umtdapjamblaitase zen sr re
A. Historisches . OS SE br a a aan EBENE
B. Eigene Bebbachtufigen) Methoden der Zubereitung der Objecte.
Orientirung. Knospungszone. Rumpf- und Kopfzone .
BI. Das Wachsthum am freien Afterende.
Verbindung der Ganglienkette mit der Epidermis.
Verdickung der Epidermis zum Ectoderm. Axenplatte; Mesoderm
und Chorda; Neuralfurche und Entstehung der centralen Gang-
lien; Keimstreif der Anneliden; Verbindung der medialen Par-
thien des Mesoderms als Spinalganglien mit dem centralen; neu-
rale und cardiale Muskelplatten der Ursegmente; Entstehung der
Ganglienknoten durch Dehnung . RES
Zusammenfassung der Resultate. Kritik der Beobachtungen über
die Embryologie der Anneliden
B U. Die Entstehung der ersten Endspanaizdns oder die ee
der Naiden.
Theilung bedingt durch die übermässige Zunahme der Rumpfseg-
mente am Afterende; dabei eintretende Neubildung: die Knos-
pungszone und ihre zwei Abtheilungen, hintere Kopf- und vor-
dere Rumpfzone. Cardiale und neurale Muskelplatte, Seitenfeld
und Seitenlinie. Erste Anlage des Keimstreifens in einer jungen
Knospungszone .
B III. Die weitere Entwickelung der Rumpfzone.
Die Ectodermknospe als Anlage des centralen Nervensystems. Ent-
stehung der neuen neuralen Muskelplatte, Verschiebung der alten
Muskel- und der Nervenstämme. Identität mit dem Wachsthum
am freien Afterende. Vorgänge bei der Trennung der beiden
Zooide; Dehnung der alten Nerven und Muskel; Umwandlung
eines Theils der Seitenmuskel in die neurale Muskelplatte; ihr
Schluss in der neuralen Mittellinie. Reste der alten Neural-
muskel in ausgebildeten Segmenten; die Leydig’schen Fasern
der Oligochaeten. Recapitulation
B IV. Die weitere Entwickelung der Kopfzone.
Mangel der medianen Ectodermverdickung; Auswachsen der Eeto-
dermknospe des Rumpfes in den Kopf hinein. Einwucherung des
Kopfkeimstreifens im Seitenfelde
Seite
152 —156
157 — 161
161—260
161—221
161—162
162—165
165—176
176— 180
180— 188
188—204
205—221
392
Inhalts-Uebersicht.
. Die Bildung des Kopfmarks. Umgreifen des Darms durch zwei
Schenkel des Kopfkeimstreifens, ihre Gliederung in die Comis-
suren und die Verbindung mit den zwei Sinnesplatten. Recht-
fertigung der Bezeichnung „Sinnesplatte“. Vergleich mit den
Leuckart’schen Angaben über Entstehung des Schlundringes bei
Blutegeln. Seitenlinie ls RA a ter
Die Bildung des Kopfdarms. Bau des ausgebildeten Kopfdarms
(Schlundkopf). Die Kiemengangwülste, ihre Entstehung aus dem
Seitenfelde und Umbildung in den auf der Cardialseite liegenden
Kiementheil des Schlundkopfs. Die Einsenkung des Mundes
+
$. 9. Die Vorgänge bei der Knospung von Chaetogaster
A.
B.
=
diaphanus. .. EIERN To ne 20
Örientirende en Bau der Chaetogasterkette; die
Knospungszone. Bau des ausgebildeten Segments . ....
Das Wachsthum am freien Afterende. Bildung eines Keimstreifens
durch Einwucherung von Ectodermzellen. Mangel einer neuralen
Ecetodermverdickung . . . er: air Vo oe
Die Bildung der one Re er seine erste Ent-
stehung; Unterschiede von dem der Naiden. Wahrscheinlicher
Mangel einer neuralen Ectodermknospe
. Weiteres Wachsthum der Kopfzone. Bau des ie von rn:
gaster. 1) Bildung des Kopfnervensystems durch Verwachsen der
vom Bauch herkommenden Comissur und der beiden seitlichen
Sinnesplatten zum dorsal liegenden Ganglion. Mangel einer
dorsalen Medullarplatte. Verschwinden der Seitenlinie. 2) Die
Entstehung des Kopfdarms. Ausbildung eines mittleren Zell-
wulstes unter dem Darm durch Zellen des letzteren; Verbindung
desselben mit den beiden Kiemengangwülsten, Ausbildung der
letzteren zu Kiemengängen und Auftreten zweier neben dem
Munde ausmündender Kiemenspalten. Verschmelzung der ınitt-
leren Mundhöhleneinsenkung mit den Kiemengängen zum ein-
fachen neuen Kopfdarm, Resorption des alten Darms nach der
Trennung beider Ketten.
$. 10. Die Bedeutung der Beobachimeen für die Version
A.
chende Morphologie der Anneliden
Nais und Chaetogaster. Specielle Versbiedihhetten‘ Identität
des Typus. Entstehung des Keimstreifens aus dem Eetoderm;
die beiden Hälften des Bauchmarks und die Ectodermknospe.
Bedeutung für die Keimblättertheorie. Die Kiemengangwülste und
ihre Bedeutung für die Entstehung des Kopfdarms .
. Nais, Chaetogaster und die übrigen Anneliden. Die Spinatbanee
lien und -nerven der Anneliden. Die Sinnesplatte der Hirudi-
neen. Strickleiternervensystem und bleibende Verbindung des
Nervensystems mit der Epidermis. Malacobdella. Entstehung
der Muskulatur bei den Hirudineen. Kopfdarm der Anneliden,
Schwierigkeiten seiner Deutung. Der vagus der Anneliden und
seine Beziehungen zum Schlundkopf der Nereiden und Kiemen-
büschel der Sabelliden; Bau der letzteren. Gegensatz von Kopf
Seite
205—215
215—221
221— 240
222—224
224—226
226—228
228— 240
240—260
240—245
Inhalts-Uebersicht. 393
Seite
und Rumpf ausgesprochen bei manchen Polychaeten; Zahl der
Kopfsegmente. Leibeshöhle, Genitalien, Segmentalorgane. Der
embryonale Charakter der Anneliden . . . . . 2.2.2... 7.245— 260
IV. Abschnitt. Die allgemeine Bedeutung der Beobachtungen . 260-327
$. 11. Die evolutio bigemina der Wirbelthiere.
Gegensatz der evolutio bigemina zur evolutio gemina (Baer). Nach-
weis, dass die erstere auch bei Anneliden (Knospen, wie Em-
bryonen) vorkommt. Entstehung des Nervensystems; die Neural-
und Cardialplatten. Axenplatte, Arthropoden . 2. .2.....260—264
$., 12. Der Keimstreif bei den drei gegliederten Thierclas-
sen und seine Gliederung.
Bedeutung des Wortes Keimstreif. Die primäre und die secundäre
Neuralfurche (Rückenfurche der Wirbelthiere). Fehlen der letz-
teren bei Anneliden, Arthropoden und Knochenfischen. Die
Axenplatte und ihre Gliederung; die Ursegmente und ihre Wachs-
thumsrichtung von vorn nach hinten. Entstehung des Meso-
derms aus dem Ectoderm oder Entoderm. Der Typus in der
ersten Entstehung des Keimstreifens bezeichnet durch die Ver-
wachsung zweier Keimstreifhälften auf der Neuralseite . . . . 264
8. 13. Die Segmentirung " und) ders'iGegensatz von Kopf,
Rumpf und Schwanz.
Das Gesetz der Annelidensegmentirung. Unabhängigkeit dieser
Segmentirung im Kopftheil und Rumpftheil der gegliederten
Thiere.
Lage des Afters bei den Anneliden. Erstes Auftreten der Theilung
des Keimes in Keimblätter am Hinterende des Embryos. Wachs-
thumsrichtung nach vorn; Kopf der Wirbelthiere entsteht und
gliedert sich später, als der Rumpf. Segmentirung am Rumpf
und Kopf: bei den Wirbelthieren (Göttes falsche Angaben), bei
den Gliederfüsslern. Verwischung der Strobilation bei den Ar-
thropoden, namentlich den Crustaceen und manchen Insecten.
Das Gesetz der Gliederung von Kopf und Rumpf; dies auch bei
Balanoglossus und Amphioxus nachgewiesen. Zahl der Kopt-
segmente, ihre Variabilität selbst innerhalb kleiner Gruppen.
Andeutungen mangelnder Constanz der Kopfsegmentzahl selbst
innerhalb der einzelnen Thierspecies (Ray Lankester). Andeu-
tung über die Wirbeltheorie des Schädels und ihre Auflösung in
eine allgemeine für alle Gliederthiere geltende Segmenttheorie
des Kopfes: mens tuts HDATIEe. ale Ar RER al np ua 2712 — 286
8.14. Strobilation und Segmentation.
M. Edwards’ Versuch, die Strobilation und Segmentation zu ver-
einigen. Nachweis ihres Gegensatzes. Kopf- und Rumpfpro-
glottis der gegliederten Thiere.. Beschreibung der hierauf be-
züglichen Schemata in Taf. XV. Entstehung der Rumpf- und
Kopfproglottis in einer unsegmentirten Keimblase. Vergleich
mit der Taenienstrobila; Mangel der Segmentation bei dieser.
Ruhende und bewegliche Keimblase . . . 2..2.2.2..2.2...286—295
394
8. 15.
S$. 16.
$. 17.
©. Der vagus und sympathicus der gegliederten Tiere.
Leydig’s Versuch ; Bestätigung desselben. Der Kopfdarm der Anne-
Inhalts-Uebersicht,
Das Nervensystem der gegliederten Thiere
A, Die Ganglienkette der Gliederthiere im Rumpftheil.
Rückenmark oder centrales Nervensystem, Spinalganglien und Spinal-
nerven, Die Rohrnatur des Wirbelthierrückenmarkes nicht typisch.
Gliederung des Bauchmarkes (sogenannte Ganglienkette) ein secun-
där erworbener und mechanisch hervorgebrachter Zustand. Balfour
über die Entstehung der Spinalganglien; Hensen’s Bemerkungen
dazu. Versuch einer Erklärung dieser Bemerkungen. Incon-
sruenz in der Zahl der Spinalneryen und der Segmentzahl.
Vergleich des Bauchmarkes der Anneliden und Arthropoden
B. Das Nervensystem im Kopftheil der gegliederten Thiere.
Gliederung des Kopfmarkes von vorn nach hinten. Knickung des
Gehirns. Verbindung des Kopfmarkes mit den Sinnesplatten ;
die morphologische Bedeutung dieser letzteren und ihre Ver-
bindung mit der Seitenlinie. Seitenlinie und Seitengefässe bei
Nematoden; Rückweisung der Bütschli’schen Bemerkungen
hierüber, Entstehung der Seitenlinie. Entstehung des Schlund-
ringes bei Arthropoden: die Sinnesplatten, Ganin’s Arbeit über
Hymenopteren . . ..
. .
liden in seinen Beziehungen zum Kiemenschlundnerv .
Der Kopfdarm und die Kiemengänge,
Kiementheil und Darmtheil des Kopfdarms. Vergleich desselben bei
Nais mit dem anderer 'Thiere (Anneliden, Amphioxus, Ascidien,
Balanoglossus). Schwierigkeiten der anatomischen Deutung.
Die beiden Kiemengangwülste der Anneliden. Einwendungen
aus der Lage und Umwandlung der letzteren hergenommen. Der
Kiemenkorb der Sabelliden. Mannichfaltigkeit in der Structur
des Kopfdarms bei den Anneliden. Völliger Mangel aller brauch-
baren Beobachtungen über den Kopfdarm der Arthropoden .
Die Muskulatur und die Bewegungsorgane.
Neurale und cardiale Muskelplatte; Entstehung derselben. Die
Seitenmuskel im Seitenfelde.e Vergleich mit der Muskulatur
der Wirbelthiere; specielle Differenzen bei typischer Ueberein-
stimmung. Kritik der Schneider’schen Ansichten über die
Muskulatur der Wirbellosen. Die Gliedmassen der Anneliden
und Vertebraten; die Beziehungen ihrer besonderen Muskel zu
der Stammmuskulatur. His’ und Dohrn’s Versuch einer Er-
klärung der Entstehung der Wirbelthiergliedmassen .
$. 18. Das Gefässsystem und die Athmungsorgane.
Identität der Lagerung des Herzens bei den gegliederten Thieren,
Klappen und Richtung der Blutströmung in ihm; das venöse
Herz. Verbindung desselben mit den Kopfkiemen; problema-
tische Kiemensäcke von Heterochaeta. Entstehung des einfachen
Herzens aus zwei Hälften .
$. 19. Das Urogenitalsystem.
Embryonaler Typus desselben bei den Anneliden; Beispiele neuraler
Seite |
295—309 |
|
295— 301
301—307
307—309
309—314
314—320
320—324
Inhalts-Uebersicht.
Lage der Geschlechtsdrüsen; Veränderlichkeit in der Lage der
Sesmentalorgane,. Identität mit dem der Wirbelthiere. Der
primäre Urnierengang der Vertebraten nicht durch die Anneliden
erklärbar. Unmöglichkeit der Ableitung der Geschlechtsorgane
der Arthropoden
V. Abschnitt. Einwände gegen die gewonnenen Ergebnisse
>
8. 20. Die direeten Einwände
1. Anneliden und Wirbelthiere. Rückblick auf die Erörterung über
den physiologischen Bauch und Rücken. Mangel eines geglie-
derten Skelettes bei den Anneliden; die Annelidenchorda, und
die Differenz in der Segmentirung der Ursegmente und der
Wirbel bei den Wirbelthieren. Axenkrümmung und Dotter-
stellung des Embryos. Das Nervenrohr der Wirbelthiere; Ent-
stehung desselben bei den Knochenfischen. Neurale Lage des
Wirbelthiermundes; die Dohrn’sche Hypothese von der Ent-
stehung desselben; Wiederholung der Frage nach seiner Her-
kunft; der Hornplattensack von Clepsine bi-oculata. Gegensatz
des Anneliden- und Wirbelthiermundes. Götte’s Axenspecula-
tionen, und die Oken-Heusinger’sche Gastraea; Gastrulamund,
After- und Mundpol und die Zeit ihres Auftretens. Nachweis
der Identität in der primären Embryonalanlage bei Wirbel-
thieren und Anneliden; der Rasconi’sche After, die Keimblase
und ihre Umwachsung durch die Keimstreifhälften. Der blei-
bende Mund von Lumbricus und den Egeln. Kopf und Rumpf
und ihre Entstehung in der Keimblase. Einzige Schwierigkeit,
der Gastrulamund des Amphioxus; Versuch zu ihrer hypotheti-
schen Beseitigung. Rückblick. Auffassung der Anneliden als
einer überhaupt embryonalen Thiergruppe
2. Anneliden und Arthropoden. Bütschli’s Versuch, sie zu trennen;
Ss 21. Diieninidiizeeiten Bimwander nee 6
Widerlegung desselben
1. Die Ascidien und die Wirbelthiere. Die Entstehung akteh Nerven‘
systems; Höhlungen in demselben auch bei gegliederten Thieren;
irrthümliche Deutungen der Gehirnblasen der Ascidienlarven;
Mangel der Spinalganglien und des vagus bei den Ascidien.
Die chorda dorsalis der Tunicaten; bezeichnet keine Axe, von
der aus sich ein doppeltes Muskelrohr um Nerv und Darm lest.
Kiemenkorb der Ascidien. Aufzählung der zahlreichen gegen
die nahe Verwandtschaft beider Thiergruppen sprechenden
Charaktere o Mr ee an)
Das randetuichehen unit die wirbeihieren Entstehung des
Nervensystems und die chorda als Stütze für die Wirbelthier-
natur des Amphioxus. Die dagegen sprechenden Thatsachen;
Mangel der Spinalganglien und -nerven, der Seitennerven und
Seitenlinie; schlechte Uebereinstimmung ihrer chorda mit der
der Wirbelthiere.. Kiemenkorb auch bei Balanoglossus und den
Anneliden. Gliederung des Körpers; das Endostyl. Beweis-
395
Seite
324—327
327— 361
327—352
327—349
349—352
352 — 361
352—355
396 Inhalts-Uebersicht.
mittel gegen die Wirbelthiernatur des Amphioxus. Stellung
desselben zwischen den Enteropneusten und Aseidien. Der
Huxley’sche Versuch, den Kopf des Amphioxus dem der Wirbel-
thiezeszugidentibeireng er a ea ae
VI. Abschnitt. Schlusserörterung und Folgerungen . . .
$. 22. Rückblick auf die gegliederten Thiere.
Kurze Recapitulation. Die Entstehung des Keimstreifens bei den
gegliederten Thieren ; Verwachsung aus zwei gesonderten Hälften ;
Gegensatz von Kopf- und Rumpfkeimstreif; einfachster Typus
des Keimstreifens bei den Anneliden, Verwischung desselben bei
den höheren Thieren. Die ruhende (Atremasphaera) und die
bewegliche Keimblase (Trochosphaera\ er a
8.23. Das Verhältniss der gegliederten zu den ungeglie-
derten Thieren.
Die Nemertinen; Pilidium, die Desor’sche Larve und die Trocho-
sphaera; die Kopf- und die Rumpfsaugnäpfe des Pilidium, der alte
Pilidiummund und der Rüssel. Vergleich mit der Trochosphaera
einer Nephelis; Verschiedenheit der Umbildung des Keimstreifens
in beiden. Die Knospungsvorgänge bei Microstomum; Vergleich
derselben mit denen der Anneliden, der Strobila einer Qualle
oder Taenia; die Strobilation bei Microstomum und Chaetogaster.
Identität in den Organanlagen der Kopfzone bei den Turbel-
larien, Nemertinen und Anneliden; Entstehung des Gehirns von
Microstomum durch Einsenkung von zwei Kopfkeimstreifen; die
verbindende Gehirncomissur unter dem alten Darm, oben über
dem späteren Kopfdarm; Entstehung desselben, Bildung eines
Vagusschlundringes um ihn. Vergleich des Kopftheils von
Microstomum, Nemertes, Malacobdella, Clepsine und Nais;
Gegensatz von Wirbelthier- und Annelidenmund ; Existenz
beider bei den Nemertinen (und den Prostomeen?). Rudiment
des Vertebratenmundes bei Clepsine bi-oculata. Hypothetischer
Versuch, Spuren desselben auch bei Arthropoden nachzuweisen
8, 24. Schlusswort.
Gang der Untersuchung; Recapitulation der wesentlichsten Resultate.
Die Geoffroy'sche „unit€e de composition organique* dadurch
bewiesen. Die Trochosphaera als einfachster Typus der
symmetrischen yhierer ge ne
Anhang.
Bemerkungen über Vertebratenmund bei Gliederthieren. Entstehung
des Schlundringes bei diesen. Verhältniss der Anneliden zu den
anderen symmetrischen Thieren; Räderthiere, Brachiopoden,
Mollusken etc. Die Excretionsorgane der Blutegel-trochosphaera;;
Rückführung des primären Urnierenganges der Wirbelthiere auf
dieselben. Die Urwirbelhöhlen der Wirbelthiere.
Seite
355— 861
361—389
361 —366
366— 380
380—385
385 —389
Buchstabenerklärung.
a. After.
ao. Aorta (Bauchgefäss).
b. Borstenbüschel des Kopfes.
c. Herz (Rückengefäss) und Cardialseite.
cb. cardiale Borstenbüschel (Rücken-
borsten).
cg. centrales Ganglion des Bauchmarks.
ch. Chordazellenstrang.
cm. cardiale Muskelplatte.,
com. Comissur des Schlundringes.
d. Darmtheil des Kopfdarnıs.
dg. dorsales Schlundganglion.
ect. Ectoderm.
ekn. Ectodermknospe bei Nais.
ent. Entoderm.
ep. Epidermis.
gl. Schlundkopfsdrüsenbelag.
h. Hormplattensack von Clepsine bi-ocu-
lata.
k. Kiementheil des Kopfdarms.
kg. Kiemengangwülste des Kopfdarms.
kgh. Kiemengänge, Kiemenganghöhlen.
ks. Keimstreif.
ksp. Kiemenspalten.
1. Seitenfeld.
Im. Seitenmuskel.
m. Mund und Mundhöhle der Anneliden
und Arthropoden.
m‘. Vertebratenmund.
mes. Mesoderm.
n. Nervensystem, Neuralseite.
nb. neurale Borstenbüschel (Bauchborsten).
nm. Neuralmuskelplatte.
ns. Nervenfaserstrang.
o. Auge und opticus.
rm. Ringmuskel der Haut.
sgm. Sagittalmuskel.
sl. Seitenlinie.
so. Segmentalorgane.
sp. Sinnesplatte.
spg. Spinalganglien.
sph. Sphincter des Schlundes.
t. Scheidewand zwischen Mundhöhle, Kie-
mengängen und Kopfdarmhöhle (Chae-
togaster).
us. Ursegmente.
v. vagus.
w. neuraler Darmwulst (Nais).
k. die Leydig’schen Fasern des Bauch-
marks.
z. Knospungs- oder Theilungszone bei
Nais und Chaetogaster.
Alle Figuren sind mit der Camera ge-
zeichnet.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Figurenerklärung.
Tafel V.
—5. Querschnitte durch das Hinterende v. N. barbata. Vergr. ®°°/,. Cam.
Beginn der Axenplattenbildung.
1
il,
. 2. Anlage der Axenplatte (mes.).
3
Auftreten der primären Neuralfurche (n.) und Theilung der Axenplatte in
Wurmchorda (ch.) und die zwei Mesodermplatten des Keimstreifens.
. 4. Auftreten der Nervenstränge (ns.) innerhalb der neuralen Eetodermverdickung.
Beginnende .Absonderung des centralen Nervensystems vom Eetoderm und
. der medialen Parthien der Mesodermplatten; Auftreten der ersten Spur der
seitlichen Muskelplatte (m.).
.6—12. Zu Fig. 7 gehörige Querschnitte von Nais proboseidea-Hinterende.
Vergröss. 279]..
. 6 und 8 schliessen sich genau an Fig. 5 an.
. 7. Profilzeiehnung des geschnittenen Exemplars. Vergröss. ?/,. Cam.
. 9, 10. Neue Muskelplatten legen sich auf der Neural- und Cardialseite an; jene
drängen sich zwischen centrales Nervensystem und Epidermis; die Spinal-
ganglien (spg.) sind schon fast mit dem centralen Nervensystem verbunden;
das übrig gebliebene Mesoderm beginnt in einzelne Zellgruppen zu zer-
fallen (n. b. und c. b.).
11 und 12. Die Sonderung des Keimstreifens ist vollständig geworden; in den
Bildungszellgruppen der Borstenbüschel (n. b. und ce. b.) sind schon Borsten
sichtbar; die cardiale und neurale Muskelplatte, in Fig, 11 noch unge-
schlossen, ist in Fig. 12 schon gänzlich in den beiden Mittellinien ge-
schlossen.
13. Hinterende einer N. barbata. Sagittalschnitt, den Zusammenhang des
Bauchmarks (n. und .n. s.) mit dem Ectoderm (ect.) illustrirend. Vergr. 2%%,.
14. Schnitt durch das Seitenfeld einer erwachsenen Nais, um die Unter-
brechung der beiden Seitenmuskel (n. l. m. und c. 1. m.) durch die Seiten-
linienzellgruppe (sl.) zu zeigen. Vergr. 3°°],.
15. Schnitt durch das Bauchfeld einer erwachsenen Nais, um die drei Abthei-
lungen der Ganglien des Bauchmarks, die zwei Leydig’schen Fasern (x.),
die Chordazellen (ch.) und die alten Muskel (nm,a — nm. €) zu zeigen,
= ——
Figurenerklärung. 399
welche durch die Entstehung des Nervensystems nach innen und oben
geschoben werden. Vergr. 3%%ı.
Tafel VI,
Fig. 1—4. Junge Knospungszone von N. proboscidea zu dem Profilbilde Fig. 7
gehörig. Vergr. ?2%),. Eine neurale Eetodermverdickung hat sich noch
nicht gebildet, der Keimstreif liegt noch fast ganz auf der neuralen Hälfte,
Buchstabenbezeichnung wie immer,
Fig. 5, 6,9 u. 10. Eine etwas ältere Knospungszone, von deren Rumpftheil (Fig. 82.)
Fig. 7.
Fig. S.
allein Schnitte abgebildet wurden. In den drei ersten Schnitten (von hinten
nach vorn zu) sieht man die ‚Ectodermverdickung auf der Neuralseite, ihre
Theilung. in zwei symmetrische Hälften, die beiden noch im Ectoderm
liegenden Nervenstränge (ns.‘) und die alte, durch die Ectodermknospe
emporgehobene neurale Muskulatur (n. m.). Vergr. 133/,.
Profilzeichnung des nachher geschnittenen Individuums, von dem Fig. 1—4
entnommen sind. Vergröss. etwa 50-fach. Camera.
Profilzeichnung des Mitteltheils derselben Colonie, von welcher Fig. 7
stammt; hierzu die Durchschnittsbilder Fig. 5, 6, 9 und 10. Vergr. etwa
A5-fach. Camera.
Tafel VI,
Fig. 1—6. Querschnitte einer alten Rumpfzone von N. proboscidea, zu Fig. 8
ei
gg
—I
gehörig. Vergr. "°?/),. Buchstabenbezeichnung wie immer; genaue Be-
schreibung im Text.
Durchschnitt durch eine ganz junge Knospungszone. Vergr, 133/,. Hier ist
die Verbindung des Keimstreifens mit dem Ectoderm äusserst deutlich.
N. probosceidea, Colonie, die nahe vor der Ablösung begriffen war, zu
Fig. 1—6 gehörig. Vergr. 50-fach. Vor der Rumpfzone A, liegt ein altes
Glied A x, welches durch die neue Knospungszone z, vom Gliede A x—,
des ältesten Zooids A getrennt ist, Dadurch wird das Segment Ax zum
ersten und ältesten Segment des Zooids A,.
Schematische Profilzeichnung der Muskelbänder einer Nais barbata in der
Rumpfzone. Vergr. 1%®/,. Man sieht hier, dass sich ein Theil des Lateral-
muskels von A zum neuen Neuralmuskel von A’ (nm.‘) umbildet und dass
der alte Neuralmuskel durch die Ectodermknospe ek. emporgehoben wird.
Tafel VIH,
Entwickelung der Kopfzone.
Fig. 1—4. Querschnitte durch eine junge Kopfzone von N. barbata, zu Fig. 15
gehörig. Vergr. ?%),. Die beiden Kiemengangwülste (kg.) sind in den
ersten drei Schnitten vom Mesoderm scharf gesondert, im Schnitt Fig. 4
auf der Neuralseite in Continuität mit dem Keimstreif. Die Verbindung
des letzteren mit dem Ectoderm ist gleichfalls deutlich. Die Sinnes-
platten (sp.) sind noch ganz kurz.
400 Figurenerklärung.
Fig. 5—7. Eine etwas ältere Kopfzone von N. barbata, zu Fig. 8 gehörig.
220)
18
Vergr.
Die Sinnesplatten (sp.) sind länger, als in Fig. 3 und 4, die Ab-
lenkung der cardialen Lateralmuskel (lm.) durch die von der Seitenlinie
aus beginnenden Sinnesplatten ist sehr deutlich,
Fig. 8. Nais barbata, Knospungszone zu Fig. 5—7 gehörig. Vergr. >°],.
Fig. 9. N. barbata, Chordazellen (ch.) unter dem Nervenstrang in erwachsenen
Segmenten (cg. die centralen Ganglien). Längsschnitt, Vergr. 2°0),.
Fig. 10. N. barbata. Querschnitt durch eine ältere Kopfzone, in welcher der neu-
gebildete Kiementheil (k.) des Kopfdarms sich noch nicht mit dem Darm-
theil (d.) in Verbindung gesetzt hat. Vergr. ?2°),.
Fig. 11—14. N. barbata. Verschiedene Ausbildungsstadien der Knospungszone;
Fig. 11 giebt das jüngere, Fig. 14 das älteste Stadium an.
wie immer; Erklärung s. im Text pag. 188—194. Vergr, 66).
g. 15. N. barbata. Zwei verschiedene alte Knospungszonen hart aneinander, zu
Fig. 1—4 gehörig. Vergr. °°],.
Tafel IX.
Sämmtliche Figuren zu Nais proboscidea gehörig. Bildungsweise des Kopfdarms.
Fig. 1—6. Querschnitte durch den Kopf einer erwachsenen N. proboscides, von
hinten nach vorn. k. Kiementheil, d. Darmtheil des Kopfdarms. Vergr. 19%,.
Fig. 7—9. Querschnitte durch einen Kopf einer älteren Zone, in welcher die beiden
Kiemenganghöhlen (kgh.) im Begriff stehen, sich auf der Cardialseite des
alten Darms (d.) mit einander zu verbinden. Vergr. 10)..
Bezeichnung
Fi
wi
je)
Fig. 10. Profilzeichnung der Zone einer N. proboscidea, zu Fig. 15—19 gehörig.
Vergr. "],.
Fig. 11—14. Vier aufeinander folgende Querschnitte durch eine Kopfzone, in welcher
die Kiemenganghöhlen (kgh.) noch nirgends miteinander in Verbindung ge-
treten sind. Vergr. 19]ı.
Fig
ge. 15, 16. Zu Fig. 10 gehörig; die Kiemengangwülste (kg.) sind vollständig solid,
aber schon auf der
Vergr: UN
Fig. 17—19. Zu Fig. 10 z, gehörig; die Kiemengangwülste (kg.) liegen noch ganz
auf der Neuralseite des Darms und stehen noch in Fig. 18 mit dem Keim-
streifen (ks.) in Verbindung. Vergr. !9%]..
Stück eines Querschnittes durch eine Rumpfzone von N. proboscidea, um
die Lage der durch das neue Nervensystem (n‘) emporgehobenen alten
Muskel (nm.) und Nerven (n.), sowie die erste Anlage der neuen neuralen
Muskelplatte (nm.‘) und Seitenmuskel (Im.') zu zeigen. Vergr. °°9),.
Tafel X,
Cardialseite miteinander in Verbindung getreten.
Fig. 20.
Chaetogaster diaphanus.
Fig. 1. Schnittstück durch einen ausgebildeten Kopf, um die Schichtenfolge und die
letzten Reste (sl.) der Seitenlinie zu zeigen. Vergr. ?00),.
Fig. 2. Schnittstück durch eine halberwachsene Kopfzone mit mangelndem Ring-
muskel, deutlicher Seitenlinie und getrennten Muskelplatten (nm.,
Im,, cm.)
Veren ZUR: :
Fig. 57.
Fig. 8.
Figurenerklärung. 401
Profilansicht zweier Knospungszonen, von denen die eine (z,) noch ganz
jung ist, die andre (z) bereits die beiden Abtheilungen deutlich erkennen
lässt. In der Rumpfzone von z liegen schon zwei Borstenbüschel, die
Kopfborsten der Kopfzone von z. (zu B gehörig) fehlen noch, diese letztere
umspannt den Darm noch nicht. Vergr. ?2]..
Optischer Längsschnitt durch Fig. 3. Man sieht auf der Cardialseite den
durchgehenden Cardialmuskel, keine Spur einer Medullarverdiekung auf der
Cardialseite und ebensowenig eine Spur eines unter dem Darm liegenden
dorsalen Schlundganglions, d. h. die beiden seitlich den Darm umspannen-
den Kopfkeimstreifen haben sich noch nicht in der Mittellinie vereinigt.
Vergr. 2].
Zu Fig. 8 (zzz. + x) gehörig. Querschnitte durch eine junge Knos-
pungszone; die Sinnesplatten sind schon vorhanden, die Theilung in Kopf-
und Rumpfzone schon angedeutet. Vergr. ?%ı.
Profilzeichnung einer Chaetogasterkette. Vergr. 3%,.
Fig. 9—12. Zu Fig. 8 (z,) gehörig. Querschnitte durch eine ältere Kopfzone, in
welcher die beiden Sinnesplatten (sp.) und die (nicht sehr deutlichen) Co-
missuren sich schon auf die Cardialseite begeben, aber noch nicht in der
Mittellinie unter dem Herzen (c.) miteinander vereinigt haben. Vergr. 2%ı.
Tafel X,
Chaetogaster diaphanus.
Fig. 1.
es, 2,
Fig, 3.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 6.
Fig. 7.
Horizontalschnitt durch eine ältere Knospungszone, deren hintere zu B
gehörige Kopfzone schon von der vorderen an A anhängenden Rumpizone
von A, scharf geschieden ist durch eine Furche und den mittleren, die
Bildung der Mundhöhle einleitenden Spaltungsraum (m.) und die noch
soliden Kiemengangwülste kg. des Kopftheils von B. Vergr. 2%.
Senkrechter Schnitt durch eine gleich alte Kopfzone wie Fig. ], senkrecht
und so geführt, dass der noch solide Kiemengangwulst (kg) und Kiemen-
theil (k.) des Darms, aber nicht der alte Darm getroffen sind. Vergr. ®#°ı.
Kopf von Psammoryctes umbellifer Kessler. Die zellige Seitenlinie des er-
wachsenen Thieres steht mit dem oberen Theil der Schlundeomissur in
Verbindung. Vergr. ],.
Sagittalschnitt durch zwei Ganglien und Nervenstrang von einem er-
wachsenen Chaetogasterzooid, um die unter dem letzteren liegenden Reste
der Chordazellen (ch.) zu zeigen. Vergr. 2%].
Kette von Chaetogaster von der Bauchseite. In Ze und Z p, hat der Kopf-
keimstreifen den Darm noch nicht umspannt, in Zp beginnt die Um-
wachsung. In den verschieden alten Zooiden sieht man deutlich die all-
mälig eintretende Verlängerung der Comissuren zwischen den Ganglien-
knoten. Im Kopf von B hat sich die Mundeinsenkung (m.) bereits ge-
bildet. Vergr. 2].
Ein eben vor der Ablösung stehendes Zooid von Nais barbata, m. die Mund-
einsenkung. Vergr. ?2”/,.
Kopftheil von B zu Fig. 7 gehörig. m. Mund und Mundhöhle, ksp. die
402 Figurenerklärung.
seitlichen Kiemenspalten, k. Kiementheil des neuen Darms, com. Schlund-
ring, n, Bauchmark, sph. vorderer noch sehr schmaler Sphincter, Vergr. 20°]..
Tafel XI,
Chaetogaster diaphanus.
Fig. 1, 2. Zwei benachbarte senkrechte Schnitte durch eine ältere Kopfzone; d. alter
Darm, k. Kiementheil des neuen Darms, m. Mund. Vergr. 1/ı.
Fig. 3—5. Drei aufeinanderfolgende Horizontalschnitte durch eine ebenso alte Kopf-
zone, die etwa der in Taf. XI, Fig. 7 gezeichneten gleich war; in Fig. 3
ist eben der neue Kopfdarm (k.) getroffen, in Fig. 4 theilt sich nach vorn
(oben) zu die Kopfdarmhöhle in die beiden Kiemengänge, in Fig, 5 münden
diese aus und unter dem neuen Mund hängt ein Zipfel des alten Darms
(d.) hervor; t. die Scheidewand (doppelt) zwischen neuem Mund und
Kiemengängen. Vergr. 109],.
Fig. 6--10. Querschnitte einer etwas jüngeren Kopfzone (von zwei verschiedenen
Zooiden), in welcher grade eben die Aushöhlung des mittleren Kopfdarm-
wulstes (Fig. 7, 8, 9 k.) und der beiden Kiemengangwülste (Fig. 10 kg.)
beginnt. In Fig. 9 ist die Verbindung der Seitenlinie durch die Sinnes-
platte mit dem oberen Schlundganglion und der Comissur (com.), sehr
deutlich. Fig. 10 wurde nicht ganz ausgezeichnet, weil die Elemente zu
undeutlich waren. Vergr. 29),.
Fig. 11, 12. Fig. 11 Profilansicht einer Kette, durch deren junge Kopfzone der
Schnitt Fig. 12 gelegt wurde, in welchem die soliden Kiemengangwülste
-mit dem Kopfkeimstreifen und durch diesen mit dem Ectoderm in Ver-
bindung stehen. Vergr. ?%,. :
Fig. 13—16. Vier aufeinanderfolgende senkrechte Längsschnitte durch eine Kopfzone,
in welcher die Kiemenganghöhlen (kgh.) eben aufzutreten beginnen, die
innere an dem Vorderende der Kopfzone liegende Mundhöhlenspalte (m.)
noch nicht mit der neuralen Mundeinsenkung in- Verbindung getreten ist.
Der Schlundring ist bereits völlig ausgebildet. Vergr. 19]ı.
Tafel XIIL
Chaetogaster diaphanus.
Fig. 1—7. Querschnitt von hinten nach vorn durch eine Kopfzone eines schon ab-
gelösten Thieres, dessen neuer Kopfdarm (k.) nahezu ausgebildet ist; nur
in Fig. 6 und einem zweiten nicht abgebildeten, zwischen Fig. 6 und
Fig. 7 liegenden Schnitt war noch die Scheidewand t. zwischen den zwei
Kiemengängen vorhanden; in den vordersten Schnitten hatte sich der alte
Darm (Fig. 6, 7 d) bereits vom neuen getrennt. Vergr. 10],.
Fig. S—10. Drei von hinten nach vorn aufeinanderfolgende Schnitte eines gleichen
Stadiums, zur Vervollständigung der in Fig. 1 —T7 gelieferten Reihe.
Vergr. 100/..
Fig. 11—14. Vier Querschnitte durch den Kopftheil eines ganz erwachsenen Zooids,
in welchem der alte Darm bereits völlig resorbirt ist und alle Muskel-
schichten gut ausgebildet sind. Vergr, 19%,.
Figurenerklärung. 403
Fig. 15. Profilansicht einer Kette, um die Umwachsung des alten Darms durch den
Koptfkeimstreifen (resp. Schlundring) zu illustriren. In der Zone von Aa
beginnt die Comissur (com. A,) eben sich nach der Cardialseite hin zu
biegen; in der Kopfzone von A, umspannt sie (com. A,) den Darm
schon mehr als zur Hälfte; im Kopf von B hat sie sich schon auf der
Cardialseite geschlossen und hier das dorsale Schlundganglion gebildet.
Vergr. 19]..
Fig. 16—19. Sagittalschnitte durch verschieden alte Kopfzonen, um die allmälige
Fig.
Resorption des alten Darms (d.) und die Vereinigung des neuen Koptdarms
(k.) mit dem alten Körperdarm zu illustriren. In Fig. 17 ist die Richtung
angegeben, in welcher die auf Taf. XII, Fig. 3—5 abgebildeten Horizontal-
schnitte geführt worden sind. Vergr. 109)..
Tafel XIV.
1—19 und 23. Schemata der Keimstreifenbildung. Fig. 1—4 Knochenfisch,
copirt von His; Fig. 5—13 Clepsine, copirt von Robin; Fig. 14— 19
Euaxes, copirt von Kowalewsky; Fig. 23 Unke, copirt von Götte. In allen
Figuren sind die homologen Regionen durch die gleiche Färbung bezeichnet.
‚aR anus Rusconi‘.
. 20, 2!. Schemata des Blutkreislaufs im Rumpf (Fig. 20) und Kopf (Fig. 21)
einer Nereis, copirt von Ehlers.
. 22. Abbildung der Gastrula, wie sie Hensinger geliefert hat. 1. Bericht v. d.
zootomischen Anstalt in Würzburg.
. 23 — s. oben.
sg. 24. Querschnitt durch das Bauchmark von Terebella, copirt nach Claparede.
x. die Leydig’schen Fasern.
. 25. Längsschnitt eines Unkenembryos, copirt nach Götte.
ig. 26. Embryo einer Clepsine bioculata (Original); a. definitiver Anus; m’ Stelle
wo der Wirbelthiermund (Hornplattensack) sich später einsenkt; m. Anne-
lidenmund.
Fig. 27. Oniscus-Embryo, Längsschnitt, copirt von Bobretzky.
. 28. Petromyzon-Embryo, nach Schultze copirt von His (Körperform\., In Fig.
25—28 sind die homologen Regionen durch die gleiche Färbung. bezeichnet.
. 29, 30. Embryo eines Anneliden, copirt von Kölliker (Koch, Entwickelungs-
geschichte der Eunice sanguinea).
. 81. Durchschnitt durch ein Kopfsegment von Hermella, copirt von Quatrefages.
Tafel XV.
. 1. Querschnitt durch den Kiemenkorb einer Sabellide. Original. Bezeichnung
wie gewöhnlich.
. 2. Querschnitt durch den Kopftheil von Eunice Harrassii, copirt nach Ehlers.
k. Kiementheil, d. Darmtheil des Schlundkopfs.
3, 4. Zwei Entwickelungstadien des Kopfes von Terebella, copirt nach M. Edwards.
. 5—7. Schemata der Anlage und Weachsthumsrichtung des Keimstreifens von
Clepsine, Fig. 5 jüngeres, Fig. 7 ältestes Stadium.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 27
404 Figurenerklärung.
Fig. 8—12. Schemata zur Vergleichung des Kopfdarms des vagus und des Anne-
liden- und Wirbelthiermundes bei verschiedenen Thieren; Fig. 8 von einer
Nemertine, Fig. 9 von Malacobdella (nach eigener Untersuchung), Fig. 10
von Microstomum (nach eigener Untersuchung), Fig. 11 von Clepsine bi-
oculata (nach eigener Untersuchung), Fig. 12 von Nais. Die homologen
Theile sind in gleicher Weise bezeichnet; m. Annelidenmund, m’ Wirbel-
thiermund, v. Kiemenschlundnerv (vagus), n. Neuralseite, c. Cardialseite,
k. Kiementheil des Schlundes.
Fig. 13. Abbildung eines Schnittes durch den Kopf von Clepsine bioculata, mit der
camera gezeichnet; h. der Hornplattensack (Wirbelthiermund), em. cardiale,
nm. neurale Muskulatur, m. Mund, n. Nervenstrang, n‘ oberes Schlund-
ganglion.
Fig. 14—20. Schemata der Strobilation und Segmentation. Fig. 14 für Nais probos-
cidea und Myrianida, Fig. 15 für Microstomum (und Chaetogaster), Fig. 16
für N. barbata, Fig. 17 für eine Taenia, Fig. 18 für einen knospenden
Anneliden mit zwei fertigen Zooiden (A und A‘), Fig. 19 für einen Po-
lypen In den Figuren 14, 15, 16 und 18 sind die Rumpfzonen gar nicht,
die Kopfzonen senkrecht und die Afterzone, welche beständig fortwächst,
horizontal schraffirt. In Fig. 18 allein, welches als ideales Schema für die
Entstehungsweise eines typisch gegliederten Thieres anzusehen ist, ist die
in der Kopf- wie in der Rumpfzone auftretende und vorn zuerst be_
ginnende Segmentation angedeutet.
Fig. 20. Kette von Myrianida, copirt nach M. Edwards.
Fig. 21, 22. Schema eines Nephelis-Embryos (nach eigener Untersuchung); ks.
- Rumpfkeimstreif, ks‘ Kopfkeimstreif, beide noch nicht in der Mittellinie
vereinigt, Dies Schema beruht auf wirklicher Beobachtung.
23. Kette von Microstomum lineare, copirt von Graf.
Fig. 24. Pilidium, Trochosphaera einer Nemertine; ks. Rumpfkeimstreif (in Saug-
napfform), ks‘ Kopfkeimstreif (in Saugnapfform).
Fig. 25. Balanoglossus, Schema des Kopfdarms, copirt von Gegenbaur.
Fig. 26. Amphioxus, Kopfdurchschnitt, nach Rolph.
Fig. 27. Nais, Kopfdurchschnitt, hinter dem oberen Schlundganglion.
Fig. 28. Chaetogaster, Kopfdurchschnitt einer alten Kopfzone hinter dem oberen
Schlundganglion.
Fig. 29. Ascidie, Schema des Kiemensacks (Kopfdarms), copirt von Gegenbaur.
Fig. 30. Stylarioides monilifer, Sagittalschnitt des Kopfendes, copirt von Olaparede,
Fig. 31. Lumbriconereis, Sagittalschnitt des Kopfendes, copirt von Ehlers.
Pierer’sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
Studien an Turbellarıen.
Beiträge zur Kenntniss der Plathelminthen.
Von Charles Sedgwick MINOT aus Boston.
Die Turbellarien sind bisher hauptsächlich durch die Quetschmethode
untersucht worden. In neuerer Zeit hat man begonnen, Schnitte zu machen.
Unter anderen verdient besonders Moseley in dieser Hinsicht unsere An-
erkennung, da er der erste war, die Anfertigung von Schnitten in grösserem
Massstabe auszuführen. — In der That gewinnen wir durch das Mikroskop
nur eine höchst unvollkommene Einsicht in der Tiefe, da wir die Entfer-
nung im Sinne der Sehachse des Instrumentes nur sehr ungenau schätzen
können. In der zur Sehachse senkrechten Ebene dagegen können wir die
Entfernungen mit grosser Genauigkeit abmessen. Sehen wir ein Thier von
oben an, so erkennen wir im Allgemeinen die Anordnung der Theile, aber
erst durch senkrechte Schnitte können wir die Art erkennen, wie die
Organe über einander gelagert sind.
Macht man eine vollkommene Schnittreihe, so kann man die Anatomie
und Histologie des ganzen Thieres studiren und durch Combinirung der so
erhaltenen Bilder das Thier in seiner Gesammtheit construiren. Solche
Schnittreihen, zum Theil fast lückenlos, habe ich von mehreren Dendro-
ceoelen mit Hülfe des vortrefflichen Leyser’schen Mikrotomes angefertigt.
Nach meinen Erfahrungen ist das Instrument sehr zu empfehlen. Die
Thiere wurden in Alcohol gehärtet und der Bequemlichkeit halber vorher
gefärbt, und zwar gewöhnlich mit Haematoxylin oder Picrocarmin, — dann
in Paraffin eingebettet und so geschnitten. Eine solche Durchfärbung ge-
lingt nicht sicher, indem das Innere des Thieres nicht selten ungefärbt
bleibt. Die Methode ist daher nur mit Rückhalt zu empfehlen.
Die Anfertigung und noch mehr die Untersuchung von Schnittreihen
von mehr als 200 Schnitten ist sehr mühevoll, aber es stehen uns keine
anderen Mittel zu Gebote, kleinere undurchsichtige Thiere mit sicherer Ge-
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 28
406 MINOT: Studien an Turbellarien.
nauigkeit zu untersuchen. Ich schicke diese Bemerkungen voraus, weil es
mir scheint, dass Schnittreihen in manchen Fällen Quetschpräparate ergänzen
oder gar ersetzen können.
Nachfolgende Untersuchung wurde bei Herrn Prof. Semper in Würz-
burg angefangen und bei Herrn Prof. Leuckart in Leipzig zu Ende geführt.
Ich erfülle eine angenehme Pflicht, indem ich meinen freundlichen Lehrern
für ihre bereitwillige Unterstützung meinen warmen Dank ausspreche Ihr
oft ertheilter Rath war eine wesentliche Bedingung der Ausführung dieser
Arbeit.
Der Darlegung der von mir gewonnenen Ergebnisse habe ich folgende
Form gegeben: zuerst eine Zusammenstellung des Bekannten über die Ana-
tomie der Dendrocoelen mit Beifüsung ergänzender Bemerkungen,
welche auf meinen eigenen Beobachtungen beruhen; — in einem zweiten
Abschnitte habe ich die Arten, die ich besonders studirt habe, beschrieben
und in einem dritten Theile habe ich einige Betrachtungen über die syste-
matischen Verhältnisse unserer Thiere angestellt. Selbstverständlich haben
die Rhabdocoelen sehr häufig Berücksichtigung finden müssen.
I. Anatomie der Dendrocoelen.
Die Dendrocoelen, oder, wie sie schlechtweg genannt werden,
Planarien, sind mit sehr wenigen Ausnahmen glatte Thiere, welche
eine Länge von 5—100 mm. erreichen. Auf der Rückenseite sind sie
mehr oder minder pigmentirt, und tragen am vorderen Ende zwei, vier,
oder zahlreiche Augen (Taf. XX, Fig. 58, oc). Hinter oder unter
den Augen liegt das Gehirn. Auf der unteren Seite liegen drei Oeff-
nungen, die vordere ist der Mund, die hinteren sind die Geschlechts-
öffnungen. Diese drei Löcher sind von systematischer Bedeutung, weil ihre
Lagen für die Gattungen bequeme Kennzeichen liefern. Ihr Verhalten wird
in den zoologischen Handbüchern eingehender erörtert, und es ist deswegen
unnöthig, diesen Gegenstand an dieser Stelle weiter zu besprechen. Die
ganze Oberfläche des Körpers wimpert und darauf bezieht sich der Name
Turbellaria.
‚Epidermis. Fast alle früheren Beobachter haben die Zellen der Epidermis
nicht unterscheiden können. Max Schultze, als er seine Naturgeschichte
der Turbellarien (p. 10) schrieb, glaubte, die Epidermis bestehe aus
verschmolzenen Zellen, obwohl er durch die Einwirkung von Aetzammoniak
einzelne Zellen isolirte. Die von Leuckart bei Mesostomum!') als
!) Archiv für Naturgeschichte, 1852, p. 236.
MINOT: Studien an Turbellarien. 407
Pflasterzellen beschriebenen sechseckigen Felder entsprechen den auf-
gequollenen hellen Körpern (Stäbchen). Of. Schneider (Plathelminthen
p. ). Moseley (Landplanarians p. 117)') hat die Epidermis aus Zellen
bestehend gefunden und obwohl schon Mecznikoff (Geodesmus p. 437)
und Keferstein von Epidermiszellen sprechen, so ist jener doch der
erste, der Genaueres darüber zu, ermitteln vermochte — Graaf (Z. 2.
XXIV. p. 127 und XXV. Suppl. p. 336) hat die Zellen der Epidermis bei
mehreren Rhabdocoelen unterschieden. Bei Stenostomum leucops
hat er die Zellengrenzen durch Versilberung dargestellt, und die einzelnen
Zellen durch verdünnte Salz- oder Chromsäure isolirt (ef. Z. Z. XXV.
p. 413, Pl. XXVII, Fig, 7 und 8). Schon früher hatte Schneider die
grossen polyedrischen Zellen von Mesostomum Ehrenbergi abgebildet
(Plathelmimthen Taf. V, Fig. 1a). Aus diesen und meinen eigenen Beob-
achtungen ist zu schliessen, dass alle Turbellarien einen Ueberzug haben,
welcher aus einzelnen Zellen besteht, welche meist cylindrisch sind und
Wimperhaare tragen. Max Schultze (Landplanarien p. 16, Separat-
abdruck) erwähnt keilförmige Zellen bei Geoplana Burmeisteri.
Ausserdem kommen in der Epidermis runde oder birnförmige Zellen vor,
deren körniger Inhalt durch Carmin nicht gefärbt wird. Diese Elemente
sind wahrscheinlich allgemein verbreitet. Keferstein (Seeplanarien p. 14)
fand sie mit einer oberflächlichen Oeffnung versehen, und meint, dass sie
den Schleim secerniren, welcher den Körper des Thieres im Leben über-
zieht. Sie sehen in der That wie Drüsenzellen aus, wofür Graaf und
Moseley sie auch halten. Letzterer gibt an, dass sie besonders deutlich
nach Behandlung eines Schnittes mit Kalilauge hervortreten.
Die Cylinderzellen tragen eine äussere, sehr dünne Cuticula, die nach
Graaf eine Verdickung der Zellmembran ist. Dieselbe zeigt eine feine
Punktirung, welche wahrscheinlich durch die Anwesenheit von Porencanälchen
bedingt wird, durch welche die Wimperhaare, die ebenfalls von dem freien
Ende der Zellen entspringen, durchgehen. Einzelne Fetzen der Cuticula
können durch einen auf ein lebendes Thier ausgeübten Druck abgesprengt
werden.
Die Länge der Wimpern ist nicht gross, varirt aber bei den einzelnen
Arten. Ich habe sie bei Süsswasserplanarien am Kopfende nach verschie-
denen Richtungen schlagen sehen, — an anderen Körperstellen aber nur
!) Am Ende der Abhandlung ist ein Verzeichniss der von mir ceitirten Arbeiten
mit voller Angabe des Titels. Um Raum zu ersparen, citire ich im Texte nur das
Hauptwort jedes Titels, und hoffe, dass der Leser sich in dieser Weise leichter wird
orientiren können, als wenn ich nur Nummern citirte, welche sich auf das Verzeich-
niss bezögen.
28*
408 MINOT: Studien an Turbellarien.
nach hinten. Schneider gibt für Mesostomum Ehrenbergi an,
dass die Wimpern längs der mittleren Bauchlinie am zahlreichsten sind,
eine Eigenthümlichkeit, welche an die früher mit den Turbellarien zu-
sammengestellten Gastrotricha erinnert.
Es folst unter den Zellen eine Basilarmembran, die aus Ringfasern
besteht, welche sich sehr stark imbibiren, wenn die Schnitte mit Carmin
oder Blutholz gefärbt werden. Bei Eurylepta cornuta erreicht die
Membran eine Dicke von 0.01.mm. und Keferstein sah in ihr eine schein-
bare Schichtung. Bei Dendrocoelum lacteum soll sie fehlen (Moseley),
sonst aber zeigt sie sich mächtig entwickelt. Da diese Membran an den
Muskeln so fest haftet, dass sie zurückbleibt, wenn die Zellen der Epider-
mis zerfallen (Taf. XVII, Fig. 16 B.M.), so sucht Schneider sie in nähere
Beziehung zur Muskulatur zu bringen. Moseley geht noch weiter, und
betrachtet diese Schicht als eine Umformung. der äusseren Ringmuskulatur,
und beschreibt eine andere Membran, welche er für die wahre Basilarmem-
bran hält. Er sagt (Landplanarians p. 119): „This basement membrane
is not to be confounded with the thick membrane often described. as
such in Nemertines and Planarians, and which as will be seem further
on is the homologue of the external muscular coat.“ Exr meint, dass es
sich hier um eine Schicht handelt, welche in einigen Fällen sich zu Mus-
keln .entwickele, in anderen aber die primitive Form beibehalte.. Da sonst
eine äussere Ringmuskulatur, wie solche bei den höheren Würmern vor-
kommt, den meisten Plathelminthen fehlen würde, so ist diese Ansicht sehr
ansprechend, weil das Verständniss der Morphologie der Würmer dadurch
scheinbar erleichtert würde. Aus der Untersuchung von vielen Hunderten
von Schnitten ist mir hervorgegangen, dass die fragliche Membran ein
ganz anderes Aussehen hat, als die eigentlichen Muskeln; da sie aber auch
aus Fasern besteht, so musste man annehmen, falls man der Moseley’schen
Hypothese folgen wollte, dass aus denselben Anlagen Fasern entstehen,
welche einmal einen muskulösen, das andere mal einen anderen Charakter
annehmen. Eine solche Vermuthung kann sich auf keinen analogen Fall
beziehen. Eine weitere Membran habe ich in keinem einzigen Falle ge-
sehen, und da ich Süsswasserplanarien und Nemertinen sehr sorg-
fältig darauf untersucht habe, so muss ich annehmen, dass Moseley sich
wenigstens betreffs dieser Formen geirrt hat. Nach Alledem ist unsere
Basilarmembran ein besonderes Gebilde, das schwerlich den Basilarmembra-
nen der höheren Thiere ganz gleichzustellen ist, noch viel weniger aber eine
Muskelschicht darstellt.
Stäbchen. Es kommen in den Epidermiszellen eigenthümliche, stark
lichtbrechende Körper vor, welche eine längliche, abgerundete Gestalt haben
MINOT: Studien an Turbellarien. 409
und um die Kerne gelagert sind, und zwar mit ihren Längsachsen an-
nähernd senkrecht zur Oberfläche der Epidermis resp.. parallel mit den
Längsachsen der Cylinderzellen gerichtet. Dies sind die oft besprochenen
Stäbchen. Bei den einzelnen Arten zeigen sie grosse Verschiedenheiten in
der Form, Zahl und Verbreitung. Sie sind in den Drüsenzellen nicht ent-
halten. Bei den von mir untersuchten Formen sind sie zahlreicher auf dem
Rücken, als auf der Bauchseite. Von den zahlreichen Eigenthümlichkeiten
erwähne ich nur die Anordnung bei Mesostomum Ehrenbergi, weil
diese Art am häufigsten von allen Turbellarien untersucht worden ist.
Bei ihr sind die Stäbchen hauptsächlich in zwei strassenartigen Zügen an-
gehäuft, welche, an den äusseren Seiten der Augen vorbeilaufend, am vor-
deren Kopfende in einander übergehen, und, nach hinten sich ausbreitend,
in einzelne Streifen zerfallen, die in grossen Zellen im Parenchym endigen.
Es ist möglich, dass Stäbchen bei allen Arten vorkommen, jedoch sind sie
bei einigen nicht gefunden worden (Geoplana Burmeisteri, Opisto-
mum pallidum, und Prostomum lineare nach Max Schultze).
Schneider (Plathelminthen, p. 19) hat eine grössere und eine kleinere Form
der Stäbchen bei Mesostomum Ehrenbergi beschrieben, und Aehnliches
habe ich bei Planaria und Dendrocoelum, wo die grösseren ge-
krümmten Stäbchen am vorderen Theile der Rückenfläche des Thieres
liegen, gefunden. Andere Forscher haben meines Wissens bei jeder Art
nur eine Form gefunden, obwohl es ziemlich allgemein angegeben wird,
dass die Länge der einzelnen Stäbchen variirt.
Die Stäbchen entstehen in besonderen: flaschenförmigen Zellen, welche
unterhalb der Haut im Körperparenchym liegen und einen feinkörnigen In-
halt neben Stäbchen in verschiedenen Entwickelungsstufen enthalten. Sie
schicken Verästelungen aus, durch welche die einzelnen Zellen mit einander
verbunden werden. Schneider (Plathelminthen p. 18) behauptet, dass
einige der feinsten Verzweigungen sich an die Haut ansetzen und dass jedes
Stäbchen der Epidermis in einem Ausläufer einer Zelle liege. Hieran er-
innert auch die Angabe von Moseley, dass die Stäbchen eine „finely in-
vesting membrane“ haben, welche in einen bis zur Basilarmembran zu ver-
folgenden Ausläufer sich fortsetzt. Aehnliches habe ich nie bemerkt. Die
Stäbchen sollen sich aus Kugeln entwickeln, die in den Bildungszellen und
deren Ausläufern auftreten und sich allmälig verlängern, bis sie die defini-
tive Stäbchengestalt angenommen haben. Es ist zu vermuthen, dass die
Stäbchen allmälig nach der Haut rücken. Der sichere Nachweis hierfür ist
noch nicht geliefert.
Die morphologische und physiologische Bedeutung der Stäbchen ist
völlig unbekannt. Max Schultze hielt sie für Endorgane der Nerven;
410 MINOT: Studien an Turbellarien.
Leuckart und viele Andere dagegen für Nesselkapseln; Schneider ver-
muthet in ihnen Reizapparate, welche bei der Begattung wie Liebespfeile
wirken; Keferstein betrachtet sie als eigenthümliche Schleimkörper;
Graaf glaubt bei Prostomum mamertinum am Rüssel Uebergänge der
Stäbchen zu rundlichen oder ovalen Bläschen gefunden zu haben, und meint,
dass es sich um Gebilde handelt, welche Nesselorgane von bald höherer,
bald unvollkommenerer Entwickelung darstellen. Die Frage muss noch un-
entschieden bleiben, obwohl die Ansicht von Graaf vielleicht später wird
angenommen werden können. Er gibt übrigens (Z. Z. XXV. p. 421, An-
merk.) eine ausgezeichnete Zusammenstellung der vielfachen Auffassungen
früherer Forscher.
Pigment. Das Pigment gehört der eigentlichen Epidermis nicht an,
sondern befindet sich hauptsächlich in verzweisten Kolben unterhalb der
Basilarmembran angehäuft (Taf. XVII, Fig. 14 Pg), zwischen oder gar grössten-
theils unter den Hautmuskelschichten liegend. Es ist gewöhnlich auf die
Rückenseite beschränkt oder daselbst am stärksten entwickelt. Das Pigment
besteht aus feinen, stark lichtbrechenden Körnern von sehr constanter Grösse.
Aehnliche Körner kommen an den Augen vor (Taf. XVII, Fig. 22) und sind
von Hallez (Prostomum Pl. XXII, Fig. 21) und Graaf abgebildet worden.
Bei Opisthoporus sieht man Pigmenthaufen von kolbiger und mehr
oder minder langgezogener Gestalt unterhalb der Muskulatur der dorsalen
Seite liegen und ausserdem einzelne Körner und Körnersruppen theils in
dem umgebenden Körperparenchym, theils in den Muskelschichten eingelagert.
Da die einzeln liegenden Körner grösstentheils in Strahlen angeordnet sind,
welche senkrecht zur Körperoberfläche stehen, so halte ich dieselben für
Reste angeschnittener Kolben oder deren Verästelungen.
Bei einer Art aus Triest, die wahrscheinlich der Gattung Stylochus
angehört, ist die Pigmentirung ungemein viel stärker, besonders in der
Mittellinie des Rückens, wo die Pigmentkörner die ganze Muskulatur durch-
ziehen und dicht an einander liegende Kolben bilden.
Bei Mesodiscus (n. gen) sieht man zahlreiche einzeln zerstreute
Körner zwischen und unter den Hautmuskeln. Besondere Anhäufungen habe
ich nicht finden können.
Mecznikoff (Geodesmus p. 437, Fig. 15 der Taf.) hat verästelte
Pigmentzellen beschrieben, in denen er ein helles Bläschen fand; Max
Schultze (Landplanarien p. 17) erwähnt sechseckige Pigmentzellen unter
der Haut von Geoplana Burmeisteri und Graaf (Z. Z. XXV.p. 146—
147) bildet die Pigmentzellen von Mesostomum ab, und fügt hinzu, dass
das Pigment auch in verzweigten Haufen vorkommt. Es ist noch zu unter-
suchen, ob man es in allen Fällen mit Pigmentzellen zu thun habe. Die oben
MINOT: Studien an Turbellarien. 411
beschriebenen Kolben bei Opisthoporus und Stylochus lassen sich als
Zellen auffassen, obwohl ich an ihnen weder eine Membran, noch einen
Kern habe finden können.
Die Farbe des Pigmentes ist sehr verschieden: roth, braun, gelb und
srün. Blau und die verwandten Farben sind unbekannt. Nach Max
Schultze ist die grüne Färbung von Vortex viridis durch Chlorophyll
bedingt.
Bei Rhabdocoelen ist auch eine diffuse Pigmentirung bekannt, die ent-
weder von dem Leib des Thieres angenommen wird, oder auf helle Bläs-
chen unter der Haut beschränkt ist (cf. Max Schultze, Turbellarien,
PLA).
Hautgebild. Max Schultze!) fand drehrunde Kalkkörper von
0.025 mm. Länge und 0.005 mm. Dicke bei Sidonia elegans. Graaf
fand grosse Einlagerungen in der Haut von Turbella Klostermanni
(V. Z. Z. XXIV. p. 130) und einen bauchständigen Hakenkranz bei der-
selben Art. Zwei grosse hörnige Haken hat er bei Convoluta cinerea
entdeckt. Derselbe Forscher fand bei Convoluta armata zwei im Vor-
dertheile des Körpers angebrachte, unmittelbar unter der Haut liegende
Blasen, welche mit hornigen Spitzen über die Körperoberfläche vorragen.
Papillen erwähnt Schmidt bei Vortex pictus; Max Schultze bei
Monocelis agilis und Graaf und Ulianin bei anderen Rhabdo-
coelen. Bei Turbella Klostermanni und einigen anderen Arten
wirken sie als Saugnäpfe. Wirkliche Saugnäpfe existiren bei Mesodiscus
und Eurylepta cornuta (Keferstein. Bei Thysanozoon sind zahl-
reiche Papillen auf dem Rücken.?) Diese Angaben machen es erwünscht,
diese mannichfaltigen Verhältnisse einer genaueren Forschung zu unterwerfen.
Muskulatur. Die Muskeln treffen wir erstens in mehreren Schichten
unterhalb der Epidermis, mit der sie sich vereinigen zur Bildung des Haut-
muskelschlauches; zweitens als Sagittalfasern, welche, senkrecht oder schräg
zur Epidermis, den Körper durchziehen; drittens als Bestandtheile einzelner
Organe, bei deren Betrachtung sie erst Berücksichtigung finden sollen.
Die Hautmuskeln bilden drei Schichten: eine äussere Längsfaser-,
eine mittlere Ringfaser- und eine innere Längsfaserschicht. Dass diese
drei Schichten von allgemeiner Verbreitung sind, glaube ich annehmen zu
dürfen, trotzdem dass die Angaben hierüber vielfach von einander abweichen,
vielleicht hauptsächlich darum, weil man früher keine Querschnitte machte.
In der That hat Keferstein (Seeplanarien p. 16 —17), der zuerst
2) Verh. Würzb. Ges. 1853, p. 223.
?) Cf. Ulianin, Cercyra papillosa, Pl. IV, Fig. 16 und 17.
412 MINOT: Studien an Turbellarien.
Schnitte machte, die drei Züge von einander unterschieden, obwohl er die
innere Längsschicht in geringer Ausbildung vorfand. Die drei Schichten
sind gewöhnlich an der Bauchseite viel leichter zu unterscheiden, als auf
dem Rücken, wo besonders die Anwesenheit des Pigments die Erkenntniss
der Verhältnisse erschwert. Die Dicke der einzelnen Schichten ist be-
trächtlich, nimmt aber nach dem Rande des Körpers zu allmälig ab.
Bei Opisthoporus liegen die Verhältnisse ausserordentlich klar
(Taf. XVII, Fig. 18). Auf der ventralen Seite (Taf. XVII, Fig. 16) unter-
scheidet man sofort zwei Längsschichten und eine zwischen denselben lie-
gende Querschicht, deren Dicke nur etwa zwei Fünftel der Dicke jeder
der Längsschichten beträgt. Die Ringfaserschicht R ist in zwei Lagen ge-
theilt, welche auf dem Querschnitte des Thieres deutlich hervortreten, mit
einander parallel laufen und von gleichem Durchmesser sind. Hin und
wieder greifen einzelne Fasern der einen oder der anderen Längsschicht auf
die nächst liegende Lage der Querschicht über, die in Folge dessen an
solchen Stellen dreitheilig erscheint. Die beiden Längsschichten sind von
gleichem Durchmesser. Die äussere ist zweilagig; die Fasern der äusseren
Lage nach der Mittellinie, der inneren Lage nach den Rändern des Kör-
pers geneigt. Selbstverständlich würde bei Betrachtung eines Querschnittes
von der umliegenden Seite die Neigung der Fasern umgekehrt erscheinen.
Ich weiss nicht, ob die eben gegebene Schilderung bei der Betrachtung der
vorderen ‘oder hinteren Seite der Schnitte zutrifft. Die innere Längsschicht
(L. In, Fig. 16) wird von zahlreichen Sagittalmuskelbündeln durchsetzt,
wodurch ihre Fasern in kleinen Feldern zertheilt werden. Die Querschicht
gibt an ihrer inneren Grenze häufig schräge Fasern ab. Man kann sich
aber durch schräge Schnitte leicht täuschen lassen, weil dann die meisten
Fasern schräg getroffen werden.
Auf der dorsalen Seite liegen nur zwei Schichten, eine dickere äussere
Längsschicht, deren Fasern schräg verlaufen, und eine dünnere Ringfaser-
schicht. Die Längsschicht besteht aus zwei Lagen, deren Fasern in der-
selben Weise geneigt sind, wie diejenigen der äusseren Längsschicht der
Bauchseite.
Gegen die seitlichen Ränder des Körpers zu nehmen sämmtliche Schich-
ten ab. Die ventrale Muskulatur erreicht in der Mittellinie eine grössere
Dicke als die dorsale an irgend welcher Stelle. Letztere (cf. Taf. XVII,
Fig. 18) zeigt in der Mitte und nach beiden Seiten hin eine fast gleiche
Entwickelung, nimmt aber nah’ an den Rändern des Körpers ziemlich
schnell ab. Die ventrale Muskulatur dagegen nimmt gleich von der Mittel-
linie aus allmälig ab. An dem äussersten Rand des Körpers scheinen nur
Sagittalmuskeln und keine oder höchst wenige Fasern der Hautschichten
MINOT: Studien an Turbellarien. 413
vorzukommen. Die heranziehenden Schichten. werden sehr dünn, und ehe
sie zur Spitze (cf. Fig. 18) gelangen, werden sie untrennlich. Das Bild
wird durch die in den seitlichen Körpertheilen zahlreich vorhandenen Kerne
und Sagittalfasern undeutlich gemacht. Von den drei ventralen Schichten
verschwindet die innere Längsschicht zuerst, indem die Fasern ihre Rich-
tung allmälig verändernd, erst schräg, dann quer zu liegen kommen, um
dann mit der mittleren Querschicht zu verschmelzen. Die zwei äusseren
Schichten des Bauches reichen gleich weit. Die Zweitheilung der mittleren
Querschicht wird unweit des Körperrandes verwischt und ihre Fasern
werden zu einem einzigen Zuge vereinigt. Die Anordnung der Fasern auf
der dorsalen Seite ist weniger klar. Der randständige Theil enthält viele
Querfasern (ef. Fig. 18), wovon ein bald endigender Zug sich in die Mitte
der anderen Fasern hinein begibt. Ein zweiter Zug geht unter die anderen
Fasern und in die Querschicht über. Ein dritter tritt in die Mitte der
äusseren Längsschicht ein. Wie oben bemerkt, besteht die letzterwähnte
Schicht aus zwei Lagen, deren Fasern an der gemeinschaftlichen Grenze
schräg gestellt und so durch einander gewebt sind, dass man auf den ersten
Blick eine Querfaserschicht zu sehen glaubt. Der dritte Zug, der oben er-
wähnt war, geht scheinbar in diesen Theil über. Die äusseren dorsalen
" Längsfasern reichen eben so weit nach dem Rande wie die inneren Quer-
fasern hin.
Bei der von mir untersuchten Stylochus-Art fand ich wesentlich
dieselbe Anordnung der Muskulatur; das heisst, drei ventrale Schichten
und zwei dorsale; die äusserste Schicht aus zwei Lagen von schrägen
Längsfasern bestehend. Vielleicht kehrt dieselbe Anordnung bei allen mit
Leptoplana verwandten Seeplanarien wieder.
Bei Mesodiscus weicht die Muskulatur etwas hiervon ab. Auf der
ventralen Seite findet man nur zwei Schichten; 1) eine dünne äussere Quer-
schicht, welche dicht auf die Basilarmembran folgt, die sie an Dicke zwei-
mal übertrifft; 2) eine innere Längsschicht, deren Durchmesser, !dem der
Querschieht sammt der Basilarmembran, viermal gleich kommt. Die Fasern
liegen dieht an einander gedrängt. Man kann viele Sagittalfasern einzeln
verlaufend oder zu Bündeln vereinigt durch beide Schichten hindurch ver-
folgen. Hin und wieder greifen einzelne Faserzüge der einen oder anderen
Schicht auf das Gebiet der Nachbarlage über, so dass z. B. Querfasern
zwischen den äusseren Fasern der Längsschicht zu liegen kommen. Aut
dem Längsschnitt des Thieres ersieht man, dass die innere Schicht nach
vorn und hinten an Dicke schneller verliert, als die äussere Querschicht
und dass sie zu gleicher Zeit eine weitere Schichtung annimmt, indem die
äussere Hälfte der Fasern schräg gelegt wird, die innere Hälfte dagegen
414 MINOT: Studien an Turbellarien.
longitudinal bleibt. Ich hebe hervor, dass ich nicht dafür bürgen kann,
dass genau die wahre Richtung meiner Schnitte mir bekannt war, daher
kann es sein, dass die innere Hälfte auch schräge Fasern hat. Auf der
dorsalen Seite sind drei Schichten, zwei Längs- und eine mittlere Quer-
schicht. Aus meinen Schnitten ist zu ersehen, dass die einzelnen Fasern
etwas unregelmässig verlaufen, indem einige in einem, andere in anderem
Sinne geneigt sind. Einzelne Fasern scheinen aus der einen in die andere
nächstliegende Schicht überzugehen.
Am Munde unterliegt die Muskulatur bei Mesodiscus besonderen
Veränderungen der Anordnung. Der Mund erscheint in der Querschnitts-
reihe zuerst als eine seichte Bucht (Taf. XVIIL Fig. 26 M.), welche bald hinter
dem Gehirne anfängt, und schon die ganze Breite der Einsenkung hat. Auf
den nächstfolgenden Schnitten vertieft sich die Oeffnung (Fig. 27) und wird
dann rund (Fig. 28) und schliesst sich zum Schlundrohr ab. Fig. 27 soll
die Verhältnisse der beiden ventralen Muskelschichten erläutern. Die
äussere Ringschicht (E R) wird dünner und setzt sich über den ganzen
Grund der Mundvertiefung M fort. Von den beiden Lagen der Längs-
schicht LM geht nur die innere auf die Wand des Mundes über, indem
die Fasern allmälig schräg werden, und bevor sie den Mund erreichen, sich
nach oben biegen (bei Tr.), um direkt zum inneren Mundwinkel k zu
ziehen. In dieser Weise wird ein Dreieck (Tr.) gebildet, das zwischen der
inneren Lage der Längsschicht und der äusseren Querschicht liest, und von
Fasern der äusseren Lage der Längsschicht ausgefüllt ist. Diese Fasern
dehnen sich nicht weiter über die Mundöffnung aus. Auf der inneren
Wand iw der Mundbucht habe ich nur eine Schicht von Querfasern be-
merkt, welche aus der Verschmelzung der Fasern der äusseren Querschicht
und der inneren Hälfte der Längsschicht entstanden zu sein scheint. Diese
Schicht erhält sich wenigstens eine kurze Strecke auf dem Oesophagus und
setzt sich vielleicht noch weiter auf den Darm fort.
Man erkennt ferner an dem Penisvorraum bei Mesodiscus eine be-
sondere Anordnung. Dieser Vorraum, Taf. XIX, Fig. 39, V, ist eine Ein-
stülpung der Körperwand, und ist von einem Epithel mit Basilarmembran
ausgekleidet. Gleich unterhalb dieser Membran liegt eine Muskelschicht,
deren Fasern spiralig nach oben fast bis zum Penis steigen. Sie scheinen
von der äusseren Querschicht zu entspringen. Eine zweite weiter nach
innen liegende Schicht, ist aus Fasern zusammengesetzt, die als die Längs-
fasern der Tasche zu bezeichnen sind, da sie von der Mündung des Vor-
raumes gerade emporsteigen. Diese Fasern breiten sich Fig. 40 auf der
Scheide, in welcher der Penis liegt, aus. Ich halte sie für die Fortsetzung
der inneren Längsschicht.
MINOT: Studien an Turbellarien. 415
Saugnäpfe. Die als solche fungirenden Papillen einiger Rhabdo-
ceoelen haben nichts mit den hier zu erwähnenden Gebilden gemein, welche
gross und nur in der Einzahl vorhanden sind. Frühere Autoren, mit Aus-
nahme von Keferstein, kannten keine Turbellarien mit Saugnäpfen.
Der ebengenannie Forscher erwähnt, dass das von Quatrefages als
weibliche Geschlechtsöffnung aufgefasste Gebilde bei Eurylepta cornuta
ein Saugnapf sei, dessen Structur er wegen Mangels an Material nicht habe
untersuchen können, und welcher hinter den Geschlechtsöffnungen in der
Mitte des Körpers liegt.
Bei Mesodiscus habe ich einen Saugnapf gefunden, der auf der
Bauchfläche kurz vor der ? Geschlechtsöffnung gelegen ist. Ich will ihn an
dieser Steile berücksichtigen, weil er in directer Beziehung zur ventralen
Muskulatur steht. Er ist eine hervorragende runde Scheibe (Taf. XIX,
Fig. 39 und Taf. XVII, Fig. 36), die aus mächtig entwickelten senk-
rechten Muskelfasern (Fig. 36, SM) besteht und von der Fortsetzung
des Epithels des Körpers überzogen ist. Auf meinen Schnitten fehlt der
grösste Theil des Epithels. Die Muskelfasern färben sich stark mit Carmin
und scheinen sich an der, dem Körper anliegenden Grenze der Scheibe
umzubiesen. Wenigstens sieht man eine grosse Anzahl von kleinen ge-
bogenen Streifen, welche die Fortsetzungen der einzelnen Fasern sein mögen.
Nach den Rändern der Scheibe zu nimmt die Dicke der Muskelfaserschicht
ab. Die äussere Querschicht der ventralen Muskulatur hört am Rande des
Saugnapfes auf, und nimmt keinen Antheil an der Bildung desselben. Die
Längsschicht vom Körper dagegen breitet sich fächerförmig aus und ihre
Fasern setzen sich an dem Saugnapfe an (Fig. 36, Re) und müssen ihrer
Anordnung gemäss als Retractoren wirken. In der Abbildung Fig. 36 ist
auch ein Theil der über dem Saugnapf liegenden Gallertdrüse Gdr. hinein
gezeichnet worden.
Die Verhältnisse bei Mesodiscus genügen zu beweisen, dass die
Muskelschichten an verschiedenen Stellen bedeutende Umformungen erleiden
können. Dieser Satz dürfte wohl für sämmtliche Dendrocoelen Geltung
haben. Moseley, wie ich hier erwähnen will, beschreibt die eigenthüm-
liche Vertheilung der Fasern in der Ambulakralzone von Bipalium und
Rhynchodemus (Landplanarians, p. 127).
Die Angaben der früheren Forscher über die Muskulatur fallen sehr
verschieden aus. Mecznikoff fand eine äussere Längsschicht und eine
innere weniger entwickelte Querschicht bei Geodesmus und Hallez be-
schreibt wesentlich dasselbe bei Prostomum lineare. Graaf dagegen
(Z. Z. XXIV, p. 130—131) sagt, dass die Rhabdocoelen eine äussere
Ring- und eine innere Längsmuskulatur haben. Die verwickelte Dar-
416 MINOT: Studien an Turbellarien.
stellung von Schneider (Plathelminthen, p. 8 ff.) ist sehr eigenthümlich
und da ich dieselbe nicht habe verstehen können, so kann ich nur hervor-
heben, dass die thatsächlichen Angaben, auf welche er sich stützt, dem von
Anderen und mir Gefundenen nicht selten widersprechen. Moseley
nimmt vier Schichten an, indem er die Basilarmembran auch als Muskel-
schicht ansieht, und sie den drei von mir beschriebenen Schichten noch zu-
rechnet. Er sagt, dass bei Dendrocoelum die äusserste Schicht eine
Ringfaserschicht ist, und dass die Basilarmembran fehlt, und daran an-
schliessend bemerkt er: „It is evident the external coat of Dendrocoelum
lacteum answers to that of Bipalium, and that of Leptoplana tremellaris to
that of Dendrocoelum lacteum. The body investments are essentially homo-
logous and muscular elements are developed in them more perfectly in some
forms than in others“. Gegen diese Auffassung habe ich oben Einspruch‘
gethan. Ich füge hier nur noch hinzu, dass ich nicht einsehe, wie das Ver-
ständniss der Morphologie der Muskulatur der Würmer erleichtert wird,
wenn man vier Schichten annimmt, da man dann die Rückbildung von
zweien bei den Anneliden folgern müsste, während man sonst nur eine
Schicht bei den Gliederwürmern vermissen würde. Ferner zeigen uns
Opisthoporus und. Mesodiscus, dass die Verhältnisse bei den Plana-
rien sehr schwankend sind. Dasselbe bezeugt die Anordnung bei Bipa-
lium, wo nach Moseley und Schneider die zwei inneren Schichten
nicht gleich auf die äussere Längsschicht folgen, sondern von dieser durch
eine eingeschobene Lage Parenchymgewebe getrennt sind. Moseley fand
keine deutliche Ringfaserschicht bei Bipalium, fügt aber hinzu, dass
„fibres more or less eircular in their direction are found .dispersed all
over the body-mass““. }
Sagittalmuskel. Die Sagittalfasern verlaufen von dem Rücken
nach dem Bauche, oder von der Peripherie nach den verschiedenen Or-
ganen oder bis zum Darmcanal. Sie sind so angeordnet, dass sie Disse-
pimente bilden (Taf. XX, Fig. 50 und 51), welche entweder in der
Längsrichtung (Fig. 51, Querschnitt von Opisthoporus) oder quer (Fig. 50,
Längsschnitt von Mesodiscus) oder schräg verlaufen, so dass die ganze
Leibeshöhle zwischen Haut und Darm, wie ein Fächerwerk vertheilt ist,
dessen Scheidewände von verschiedenen Muskelzügen und dem damit ver-
bundenen Parenchymgewebe gebildet werden. Die Dissepimente, wie man
auf einer Quer- oder Längsschicht sofort erkennt, sind häufig schräg ge-
stellt, und einzelne sind keil- oder pyramidenförmig. Die einzelnen Fächer
sind abgerundet und von verschiedener Grösse. Sie stellen die Leibeshöhle
dar und sind bestimmt, die verschiedenen inneren Organe in sich aufzu-
nehmen. Da sie von denselben fast oder ganz ausgefüllt werden, so fallen
MINOT: Studien an Turbellarien. 417
die Lücken auf Schnitten nicht gleich ins Auge (ef. Taf. XVII, Fig. 14).
Man findet einzelne Fasern oder Faserbündel, welche unabhängig von den
Dissepimenten den ganzen Körper durchziehen. Die transversalen Disse-
pimente (cf. Fig. 50) scheinen das Uebergewicht zu haben und wiederholen
sich in regelmässigeren Abständen, als diejenigen Dissepimente, welche mehr
oder weniger parallel der Längsachse des Thieres liegen (ef. Fig. 51. Quer-
schnitt von Opisthoporus). Dieser wird deutlich durch die Vergleichung
der beiden Abbildungen (Fig. 50 und 51), die, obwohl sie nicht von der-
selben Art sind, doch die wirklichen Verschiedenheiten bei einem Indivi-
duum darstellen. Man hat die Anordnung der Sagittalmuskeln häufig mit
einem Fasernetz verglichen, weil sie so verwickelt ist. Die einzelnen Fasern
kann man durch die Hautmuskeln bis an die Basilarmembran auf Quer-
schnitten leicht verfolgen. Bei den Landplanarien scheinen die Fasern mehr
schräg oder radiär zu verlaufen, als dies bei den Wasserformen der Fall
ist (ef. Moseley). |
Histologie der Muskeln. Die Fasern sind glatte. Graaf!) hat
dennoch quergestreifte Muskeln am Rüssel der Prostomeen gefunden,
sonst sind diese bei Turbellarien bisher unbekannt. Die gewöhnlichen
Fasern sind langgezogen mit verästelten Enden, und häufig verzweigt, in
diesem Falle werden die einzelnen Fasern verbunden, indem die Zweige sich
vereinigen (Graaf, Schneider, Max Schultze). Mecznikoff?) ist
meines Wissens der einzige, der Kerne in den Muskelfasern gesehen haben
will. Die Fasern erscheinen auf dem Querschnitt entweder rundlich oder.
vierseitig mit abgerundeten Ecken, und nehmen von der Mitte aus nach
beiden Enden zu an Durchmesser ab. Nach Leydig°’) kann man bei
einigen Muskelfasern deutlich eine Rindenschicht und Achsensubstanz unter-
scheiden und bisweilen undeutlich quergestreifte oder ganz feinkörnig aus-
sehende Fasern finden. Man kann also nach den vorliegenden Beobachtungen
nicht entscheiden, ob wir mit Muskelzellen. oder Fibrillen zu thun haben.
Schneider (Plathelminthen, p. 11 fl.) gibt eine Darstellung, der kaum
Gültigkeit zugesprochen werden darf, weil er die Egel mit den Plathel-
minthen vereinigt, und dann erst sein Schema aufstellt.
Graaf (Z. Z. XXTV, p. 131) beschreibt ausserdem noch eigenthüm-
liche contractile Gebilde, die er Schlauchmuskeln nennt und die aus einem
contractilen Schlauch und einem feinkörnigen Inhalte bestehen, und haupt-
sächlich am Schlunde einiger Rhabdocoelen gefunden wurden. Weitere
Untersuchungen hierüber sind nöthig. |
1) Z. Z. XXIV, p. 141, Taf. XIX, Fig. 1 und 3.
552
l
?) Geodesmus, p. 552.
%) Müllers Archiv 1854, p. 289, Taf. XI, Fig. 6.
418 MINOT: Studien an Turbellarien.
Körperparenchym. Der Raum zwischen der Haut und dem Darm-
canal ist zum Theil durch Muskel und Parenchymgewebe ausgefüllt, wie
oben erwähnt. In Folge dessen wird die Leibeshöhle verenst und in Fächer,
in welchen einzelne Organe liegen, getheilt. Das Parenchymgewebe füllt
den Raum zwischen allen Muskeln und Organen vollkommen aus. Es ent-
hält aber selbst zahllose kleine Lücken, die mit einander communieiren und
ist diesem entsprechend (wahrscheinlich bei allen Pharyngocoelen) aus
einem Balkennetz und ovalen Zellen zusammengesetzt.
Die Zellen sind sehr blass und haben deutliche eccentrische Kerne, die
je ein Kernkörperchen enthalten, sich mit Carmin stark färben und das
Licht stark brechen. Der Zellkörper erscheint ganz homogen und durch-
sichtig. Seine Contour ist schwach ausgepräst, jedoch deutlich zu erkennen.
Ob die Contour doppelt ist, resp. ob die Zellen eine Membran haben, weiss
ich nicht. Die Zellen sind sehr zahlreich und liegen zwischen den Sagittal-
muskeln, so dass, wo diese mächtig oder zahlreich sind, nur die Kerne der
Zellen auf Schnitten noch zu unterscheiden sind. Gegen die seitlichen
Ränder zu kann man auf Querschnitten die Zellen am besten studiren, da
sie dort am freiesten liegen. Solche Zellen kommen bei allen Plathel-
minthen vor. Schneider nimmt in Folge ungenügender Beobachtung ein
protoplasmatisches Parenchym ohne differenzirte Zellen bei den Gestoden
an (cf. Salensky, Amphilina). Moseley (Landplanarians, p. 122)
schreibt: ,‚In the lower planarians there is a large amount of slimy proto-
plasmatie undifferentiated or sparingly undifferentiated tissue“. Diese An-
gabe kann ich nicht bestätigen, da die von mir hier gegebene Schilderung
auch auf die Süsswasserplanarien sich bezieht. Keferstein (Seeplanarien,
p. 18) beschreibt Parenchymzellen: 1) rundlicher Gestalt; 2) geschwänzte
und 3) mit sternförmigen Ausläufern. Mecznikoff in seiner Arbeit über
Geodesmus hat, wie Graaf vermuthet, die Zellen der Darmwand als
eine dritte Art von Parenchymzellen beschrieben. Dieser grobe Irrthum
ist eine Folge seiner unbegründeten Ansicht, dass die Turbellarien
keinen Darmcanal haben. Die erste und zweite Art von Parenchymzellen,
die er beschreibt, sind wahrscheinlich Stäbchenbildungszellen in verschie-
denen Entwickelungsstadien. Die eigentlichen Parenchymzellen hat er dem-
nach gar nicht gesehen.
Das Balkennetz ist zunächst von Graaf erwähnt worden, der ein
solches mit eingelagerten Kernen bei Convoluta armata (Z. Z. XXIV,
p. 133, Taf. XVII, Fig. 5) und ohne erkennliche Kerne bei anderen
Rhabdocoelen fand (l. c. Taf. XVII, Fig. 1 hE). Moseley spricht von
einem „irregular network of slimy connective tissue“ bei den Landplana-
rien. Diese Angabe ist für uns kaum zu verwerthen, da sie Genaueres
MINOT: Studien an Turbellarien. 419
nicht enthält. Graaf gibt noch eine Abbildung des Gewebes vom Rüssel
von Vortex lemani (Z. Z. XXV, Supp. Pl. XXII, Fig. 3). Er stellt
die Balken von ziemlich gleichmässiger Dicke dar mit einigen verdickten
Stellen, wo die Kerne eingelagert sind. Ich habe in allen Fällen, wo ich
überhaupt ein deutliches Bild gewonnen habe, eine Structur gefunden, ' die
an das embryonale Bindegewebe der Wirbelthiere erinnerte. Die Kerne
waren umgeben von einem körnigen Protoplasmahof, von welchem aus ver-
ästelte, sich allmälig verjüngende Ausläufer ausstrahlten, und sich mit den
ihnen entgesenkommenden Ausläufern der Nachbartheile vereinigten und
damit das Netz bildeten. Dasselbe ist sehr fein und nur bei starker Ver-
grösserung zu erkennen. An gewissen Stellen des Körpers zeigt das
Parenchymgewebe eine eigenthümliche Umformung, in Folge dessen Balken-
stränge frei von Muskeln und anderen Zellen gebildet werden. Diese
Stränge sind von Moseley für das Wassergefässsystem erklärt worden. Ich
werde hierauf später zurück kommen.
Die Beziehung der Zellen zum Balkennetz habe ich nicht erforscht.
Es ist nur noch hinzuzufügen, dass alle Fächer der Leibeshöhle von einer
Parenchymschicht, welche sich stark färbt, umgrenzt sind. Ob sie von
einem Endothel ausgekleidet sind, habe ich nicht entscheiden können ;
manchmal schien es mir der Fall zu sein. Es ist mir wahrscheinlich, dass
die eben erwähnte sich stark tingirende Schicht aus Muskeln bestehe, weil
sie ein gestreiftes oder faseriges Aussehen hat.
Ausser dem Parenchymgewebe kommen zwischen den Organen und
Muskeln noch vor: 1) die Pigmenthaufen, resp. Zellen, 2) die Stäbchen-
bildungszellen, 3) einzeine runde Zellen, deren Funktionen unbekannt sind;
sie werden aber einer Vermuthung gemäss Drüsenzellen benannt. Sie sind
entweder ausschliesslich oder hauptsächlich auf die peripherischen Körper-
theile beschränkt; das heisst zwischen oder unmittelbar unterhalb der Haut-
muskelschichten gelagert. Moseley (Landplanarians, p. 121—122) ist
der einzige, der diese Verhältnisse ausführlicher behandelt. Er sagt, sie
färben sich stark mit Carmin, sind verästelt (?) und ohne sichtbare Kerne.
Ihre Fortsätze laufen bis zwischen die Epidermiszellen hinein. Sie sind
durch den ganzen Körper verbreitet. Die tiefer liegenden haben feinere
Fortsätze und weniger grobe Körner, als die mehr oberflächlich liegenden.
Ich kann nun die Vermuthung nicht unterdrücken, dass diese Zellen keine
Drüsen im Sinne Moseley’s sind, sondern den Dotterstock darstellen.
Da Moseley später mittheilt, dass er keinen Dotterstock bei den Land-
planarien habe finden können, so ist man berechtigt anzunehmen, dass er
sich hier in einem Irrthume befinde.
Darmcamal. Der Verdauungstractus besteht aus einem Rüssel, einem
420 MINOT: Studien an Turbellarien.
Magen und den Magentaschen. Der Rüssel soll für sich betrachtet werden.
Der Darm stellt ein gerades oder hinten gegabeltes Rohr dar, welches viel-
fache Coeca abgibt, die sich vom Hauptcanal gewöhnlich beinahe recht-
winkelig abzweigen (Taf. XX, Fig. 58, Dendrocoelum lacteum) und
bei einigen Arten mit einander anastomosiren. Bei Vortex (Planaria
Graaf) lemani du Plessis ist der Darm ein einfacher, unverzweigter
Sack, dessen Wand oft Falten bildet. Cf. Graaf-Vortex ete., p. 377, Pl.
XXIII, Fig. 1. Die systematische Stellung dieser Art ist aber noch nicht
sicher gestellt, und es ist immerhin möglich, dass sie überhaupt kein
Dendrocoele ist.
Das Hauptrohr wird als Magen bezeichnet, und steht mit dem Lumen
des Rüssels in unmittelbarer Verbindung. Der Rüssel ergreift die Nahrung
und befördert sie in den Magen.
Magen. Der Magen tritt uns unter zwei Hauptformen entgegen, erstens
als ein gegabeltes Rohr (Monogonoporen), zweitens als ein gerader
Sack, oft von bedeutender Weite (Digonoporen). Bei der ersten Form
ist der Rüssel ein mehr oder minder cylindrisches Rohr, dessen freies Ende
nach hinten gerichtet ist, und welches an seiner Ansatzstelle in den Magen
einmündet. Von dieser Stelle entspringen die drei Aeste des Magens, einer
nach vorn in der Richtung des Rüssels verlaufend (vergl. Taf. XX, Fig.
58, Dendrocoelum) und unter Abgabe zahlreicher seitlicher Zweige sich
allmälig verschmälert bis in die Nähe des vorderen Endes reichend, und
zwei nach hinten gehende Aeste, welche nach rückwärts umgebogen, längs
des Rüssels und über denselben hinaus bis an das hintere Ende reichen,
nach aussen zahlreiche Zweige abgeben, und bei einigen Formen in ein-
ander übergehen (Dendrocoelum nausicaae, O. Schm. etc.). Bei der
zweiten Form des Magens ist der Rüssel entweder ein freihängendes Rohr
(Eurylepta, Leptoplana!), Prosthiostomum?), Planaria le-
mani), welches nicht nach hinten, wie bei den echten Planarien, son-
dern nach vorn gerichtet ist, oder ein gespaltenes Organ, welches in einer
besonderen Tasche unterhalb des Magens liegt (die meisten Digonoporen).
Der Magen von Opisthoporus ist ein langes Rohr, welches sich
von der Nähe des hinteren Endes des Penisbeutels nach vorn ausdehnt
und sich etwa ein Millimeter hinter dem Gehirn verzweigt. Auf dem Quer-
schnitt ist er kreisrund (Taf. XVII, Fig. 14). Wo die Darmzweige abgehen,
nimmt er eine elliptische Form an (Taf. XVI, Fig. 11, Mg.), indem er seit-
lich ausgezogen wird, während sein dorsoventraler Durchmesser dagegen
!) Im Sinne Claparedes, Annel ete. Hebrides, p. 143.
?) ef. Ulianin.
MINOT: Studien an Turbellarien. 431
unverändert bleibt. Der seitliche Theil schnürt sich ab und setzt sich als
Magentasche fort. Der centrale Theil dagegen wird kreisrund, bis die
nächste Abzweigung eine nochmalige Formveränderung bedingt. An meinen
Schnitten habe ich zwanzig Abzweigungen zählen können. Sie folgen
schneller auf einander am vorderen als am hinteren Ende des Darmes. Da
meine Schnittreihe zwei Lücken enthält, so dass einige Schnitte mit Diver-
tikeln fehlen, so ist die Zahl der letzteren wohl 22 oder 24.
Bei Mesodiscus fängt die Einsenkung, welche zum Munde wird, gleich
unterhalb des hinteren Endes des Gehirnes an. Die Form ist oben beschrieben
(Muskulatur p. 414, Taf. XVIII, Fig. 26, 27 und 28). Auf meinen Quer-
schnitten ist am Anfang der Darmcanal durch zwei Einschnürungen in zwei
seitliche und einen mittleren grösseren Theil geschieden (Fig. 29). Dies ist
vielleicht blos eine zufällige Contractionserscheinung. Gleich dahinter nimmt
das Lumen auf dem Querschnitt eine unregelmässige, halbmondförmige Ge-
stalt an (Fig. 30), indem die untere Seite ein Halbkreis wird, und die
dorsale Seite sich hervorwölbt. Ueber die histiologische Beschaffenheit dieses
Theiles kann ich nichts mittheilen, da die Auskleidung des ganzen Ab-
schnittes auf meinen Präparaten fehlt und nur eine Membran oder Muskel-
schicht, die dunkel gefärbt ist, noch übrig bleibt und erkennen lässt, dass
die Wand in Falten geworfen ist (Fig. 30). Auf meinen Schnitten erscheint
dieser Theil mit einem Inhalt, der vielleicht aus Speiseresten und Fetzen
der Wand besteht. Weiter nach hinten ragt die Wölbung pfropfartig in
den Canal hinein. Dieser Pfropf ist vielleicht der Rüssel, obwohl von ge-
ringer Ausdehnung. Er verschwindet bald; das Darmlumen wird zunächst
rundlich; ändert aber bald wieder seine Gestalt, in der in Fig. 31 ver-
sinnlichten Weise. Es erscheinen nemlich zwei seitliche Hervorragungen,
die den unteren Theil des Canales so verengern, dass er auf dem Quer-
schnitt T-förmig wird. Oberhalb dieser Stelle liegt schon die enge Ver-
längerung des Magens (Fig. 31, Mg). Um die beiden Darmlumina liegt
ein netzförmiges Grundgewebe, welches mit dem von ihm erfassten Darm
einen kreisföormigen Raum mit scharfer Abgrenzung gegen die übrigen
Körpertheile einnimmt. Ein ähnliches Gewebe umgibt die Penisscheide der-
selben Art, siehe unten. Noch weiter nach hinten wird der Darmcanal
wiederum rundlich und biegt sich dann nach oben und geht in den Magen
über (Fig. 32), der an dieser Stelle von beträchtlicher Weite ist. In den
nun folgenden Schnitten kommt der grosse Magen. Die Mündung des
Munddarmes (Rüsseltasche?) in den Magen liest zwischen 2 und 3 mm.
vor dem Penis.
Der Magen von Mesodiscus ist sehr gross und schickt einen engen
Ast, wie oben erwähnt, nach vorn. Seine Wand ist in Falten gelegt.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 29
492 MINOT: Studien an Turbellarien.
Magenwand. Der Magen ist von einer ziemlich hohen Schicht (cf.
Taf. XVII, Fig. 14, Mg.) ausgekleidet, die wahrscheinlich aus Cylinderzellen
besteht und die auf Muskeln und Parenchymgewebe ruht. Graaf (Vortex,
p. 377) sagt, die Zellen der Magenwand bei Vortex lemani „sind lang-
gestreckt, spindelförmig und stets an der Stelle, an welcher sich der mit
deutlichen runden Kernkörperchen versehene Kern befindet, bauchig auf-
getrieben. Das basale Ende ist bald spitz, bald verbreitert und manchmal
uneben, wie abgerissen. Der untere Theil der Zellen bis zum Kern ist von
einem gleichmässigen, fein granulirten Protoplasma gebildet, während der
- obere, oft weit verlängerte Theil abgerundet endigt und eigentlich einem,
aus dem Zellkörper herausragenden Schleimklumpen gleicht“. Er fasst
diese Gebilde als Becherzellen auf und glaubt, die in dem oberen Ende
vorkommenden Körnchen als absorbirte Fetttröpfchen auffassen zu dürfen.
Er hält die von Du Plessis!) beschriebene amoeboide Bewegungen zeigen-
den Darmzellen dieser Art für die abgebrochenen Enden der von ihm ge-
fundenen Zellen. Keferstein (Seeplanarien, p. 21) spricht von rundlichen,
nicht flimmernden Zellen; da er von einem Unterschiede zwischen den
Fpithelien des Magens und der Divertikel nicht spricht, so halte ich es für
wahrscheinlich, dass die Angabe sich lediglich auf die Darmzweige bezieht.
Ist diese Vermuthung richtig, so stimmt Keferstein mit Moseley.
Davon später. Moseley (Landplanarians, p. 132) sagt von der Magen-
wand: „In the region of the mouth the lining of the main digestive tract
consists of peculiarly rounded bodies arranged irregularly in rows at right
angles to the surface and gathered into elongated groups so as to have a
certain resemblance to the gastric glands of Vertebrates (Plate XV, Fig. 15).
These rounded bodies are imbedded in a finely granular matrix“. Aehn-
liches habe ich bei Mesostomum, Planaria, Dendrocoelum, Opi-
sthoporus und Mesodiscus gefunden.
Bei Mesodiscus ist das Bild sehr scharf und deutlich. Die Dicke
der Magenwand beträgt bei dieser Art etwa ein Siebentel des dorsoven-
tralen Durchmessers des ganzen Thieres. In der oberen Hälfte der Schicht
liegen grosse, runde oder ovale, bestimmt abgegrenzte Kolben (Taf. X VIII,
Fig. 33, kb.). Diese Kolben bestehen aus Körpern, welche rundlicher Ge-
stalt, ziemlich gleicher Grösse und vom Carmin dunkel gefärbt sind, und
deswegen Kernen sehr ähnlich aussehen. Sie brechen das Licht in solcher
Weise, dass sie häufig ein kleines Körperchen zu enthalten scheinen, wo-
durch die Aehnlichkeit mit Kernen noch erhöht wird. Die Entfernung der
") Bull, Soc. Vaud. Sc. Nat. Tom. XII, p. 121.
MINOT: Studien an Turbellarien. 423
einzelnen Körper von einander ist ihrem Durchmesser im Mittel gleich. Die
Kolben sind von einander durch eine kaum gefärbte, undeutlich granulirte
Substanz geschieden, die auch den unteren Theil der die Darmwand dar-
stellenden Schicht bildet, indem Kerne in ihr auftreten, welche zahlreich,
klein, schwach gefärbt und den Kernen des Parenchyms auffallend ähnlich
sind. Diese Nuclei kommen vornehmlich nahe an der äusseren Grenze der
Darmwand vor (Fig. 33). Man bemerkt ferner eine nicht sehr deutliche
Streifung, die durch ihren ganzen Charakter an das Bild erinnert, welches
man bei jedem Cylinderepithel zu Gesicht bekommt. Betrachtet man eine
Stelle, wo eine Falte des Magens so lag, dass man auf dem Längsschnitt
des Thieres einen Flächenschnitt der Magenwand erhielt, so findet man
(Fig. 37) die Körnerkolben als Kreise wieder, woraus man ersieht, dass es
sich um kugelige Haufen handelt. Die freie Oberfläche der Wand scheint
von einer Schleimschicht überzogen’ zu sein, die von der hellen Substanz
der Darmwand durch keine erkenntliche Grenze geschieden ist, obwohl sie
ein anderes Aussehen hat.
Bei Opisthoporus kehren wesentlich dieselben Verhältnisse wieder.
Die Körnerkolben nehmen aber fast die ganze Dicke der Wand ein und
sind so dicht gedrängt, dass sie auf einem Querschnitt äusserst schwer zu
erkennen sind. Ihre Anordnung liest aber an den Stellen, wo die Darm-
zweige von dem Magen abgehen, klar zu Tage, da die Umwandlung der
Structur der Darmwand beim Uebergang aus dem Hauptdarm in die Diver-
tikel eine allmälige ist, indem die Kolben ihren gegenseitigen Abstand ver-
grössern, seltener werden und dann verschwinden. Das Bild wird an einer
solchen Uebergangsstelle dem bei Mesodiscus gewonnenen so ähnlich, dass
kein Zweifel an der Identität der beiden Gebilde zulässig ist. Im Magen
selbst ist die helle, zwischen den Kolben hervortretende Substanz wenig
deutlich. Sie kommt aber in dem äusseren Theil der Magenwand sehr klar
zum Vorschein, und man sieht in ihr zahlreiche kleine blasse Kerne, ge-
rade wie bei Mesodiscus.
Bei Stylochus sp.? liegen die Verhältnisse weniger klar. Es ist
mir leider nicht gelungen, gut gefärbte Schnitte zu erhalten, um deswegen
habe ich nur vermocht, eine obere körnelige und eine untere körnerhaltige
Lage zu unterscheiden. Ich glaubte mehrmals Körnerkolben zu sehen, aber
wegen der schwachen Färbung konnte ich mich von deren Existenz nicht
überzeugen. Andere Male dachte ich grosse Kerne in der Mitte der Darm-
wand zu erkennen, erlangte aber auch darüber keine Sicherheit. Eine senk-
rechte Streifung war dagegen sehr deutlich (Taf. XVII, Fig. 35).
Aehnliche Körnerkolben habe ich in Quetschpräparaten von Meso-
292
424 MINOT: Studien an Turbellarien.
stomum und Planaria lugubris gefunden. Hiernach dürften diese
eigenthümlichen Gebilde bei den Pharyngocoelen ziemlich allgemein
verbreitet sein, obwohl sie allen Forschern bis zur neueren Zeit entgangen
zu sein scheinen. Zuerst habe ich diese Gebilde als Drüsen aufgefasst.
Ihre Function ist natürlich unbekannt. Da mir keine Drüsen bekannt sind,
welche etwa mit den Körnerkolben zu vergleichen wären, und da ich um
die Körner herum keine Zellengrenzen bemerkte, und folglich keine Be-
rechtigung habe, die Körner als Kerne in Anspruch zu nehmen, so kann
ich kein Urtheil hierüber fällen. Ist dagegen meine Vermuthung,
dass der obere Theil der von Graaf bei Planaria (Vortex) lemani be-
schriebenen Darmzellen den Körnerkolben entspreche, begründet, so dürfte
daraus geschlossen werden, dass man es nur mit eigenthümlich umgeformten
Oylinderzellen zu thun habe. In solchem Falle bieten indessen die zahl-
reichen kleinen Kerne in der unteren Schicht der Magenwand eine Schwierig-
keit, indem man von vorn herein weniger und grössere Kerne in so hohen
Cylinderzellen erwartet. Nach Betrachtung des Baues der Divertikel werde
ich hierauf zurückkommen.
Magentaschen. Die Darmzweige fehlen nur bei Vortex (Planaria)
lemani du Plessis, einer in tiefen Seen vorkommenden Art, deren
systematische Stellung keineswegs sicher ist, sonst sind die Divertikel sehr
entwickelt und in einigen Fällen anastomosiren sie mit einander (Eury-
lepta argus, Quatrf. Thysanozoon etc). Einfacher und weniger ent-
wickelt sind sie bei Geodesmus Mecz. Bei Planarien dagegen sind
sie mehrfach verästelt und von bedeutendem Lumen (Taf. XX, Fig. 58,
Dendrocoelum). In anderen Fällen sind sie vielmehr blos enge An-
fangsröhren des grossen Magens. Claparede (Hebrides, p. 145) sagt von
Eurylepta cornuta in Bezug auf diese Röhren: ‚on doit les considerer
comme un fois diffus“. Max Schultze (Landplanarien, p. 19) hat für
Geoplana Burmeisteri dieselbe Meinung ausgesprochen. Diese Ansicht
ist indessen bis jetzt durch gar keine Beweise belegt.
Die Auskleidung besteht aus kernhaltigen Cylinderzellen, die eine kaum
halb so hohe Schicht wie die eigentliche Magenwand darstellen. Die
Körnerkolben kommen in den Anfangstheilen der Divertikel bei Meso-
discus und Opisthoporus vor. Vom Magen ausgehend werden sie
allmälig seltener, bis sie ganz verschwinden. Die Zellen sind blass mit
stark tingirtem Kerne. Da die Magentaschen schräg verlaufen und da
ferner die Thiere beim Absterben sich unregelmässig zusammenziehen, so
erhält man auf Quer- oder Längsschnitten des ganzen Thieres meistens nur
schräge Schnitte der Divertikelwand, so dass man leicht verführt werden
könnte, das Epithel für mehrschichtig zu erklären, wie ja Moseley (Land-
MINOT: Studien an Turbellarien. 425
planarians, Pl. XV, Fis. 14) es bei Planaria torva abbildet. Auf
meinen Schnitten habe ich überall in der Blindtaschenwand rundliche Tropfen
und unregelmässige Stellen, beide von gelblicher oder röthlicher Färbung
gefunden. Hierdurch wird die Verfolgung der einzelnen Zellen, besonders
bei Mesodiscus, sehr erschwert, und ich gebe daher keine Abbildung.
Bei Opisthoporus theilen sich die Zellen in grössere mit grösseren, und
kleinere mit kleineren Kernen; diese sind häufiger. Die Kerne jener haben
je ein oder zwei Kernkörperchen und die betreffenden Zellen sehen meistens
blass aus, während die kleineren dagegen zahlreiche, stark lichtbrechende
Körper der verschiedensten Grössen enthalten und sich durch diese Merk-
male, wenngleich nur graduell von den grösseren Zellen, welche mehr
Drüsen ähnlich aussehen, unterscheiden. Die Einschichtigkeit des Epithels
tritt an den peripherischen Theilen der Schnitte häufig sehr deutlich hervor.
Es ist mir sehr wahrscheinlich, dass die zahlreichen Kerne im Magen,
unterhalb der Körnerkolben auf die Anwesenheit eines einschichtigen Epithels
von ähnlicher Structur wie desjenigen des Blindtaschenepithels zurückzu-
führen seien, weil man in dem Anfangstheil jedes Darmzweiges von Amphi-
" porus, sobald die Körnerkolben so weit auseinander gerückt sind, dass
das Zwischengewebe deutlich wird, in diesem Gewebe die Zellen schon
erkennt.
Mecznikoff (Geodesmus, p. 444) behauptet, der Darm sei ein solider
Eiweissstrang, ein Irrthum, welcher lediglich durch ungenügende Sorgfalt
der Beobachtung bedingt ist. Er hat den Darminhalt als Eiweissstrang
aufgefasst und die Darmwand nennt er einen Theil des Körperparenchyms.
Lässt man Planarien zwei Tage in destillirtem Wasser hungern, so kann
man sich von der Unrichtigkeit seiner Angaben leicht überzeugen. Ich be-
tone diesen Punkt, weil Mecznikoff sich mit solcher Sicherheit geäussert hat,
dass seine Nachfolger nur sehr zurückhaltende Aussprüche gethan haben, ob-
wohl fast alle gegen ihn auftreten.
Rüssel. Durch den äusseren Mund gelangt man in die Rüsseltasche,
welche gewöhnlich als eine Rückstülpung der äusseren Haut und Körper-
wand betrachtet wird. Der Rüssel ist wieder eine Hervorstülpung im
Grunde dieser Tasche und ist unter zwei Formen bekannt; er bildet 1) ein
eylindrisches oder tonnenförmiges Rohr, welches sich vom Grunde der
Rüsseltasche erhebt; oder 2) ein der Länge nach gespaltenes Rohr, das
seitlich an der Taschenwand angewachsen ist. Der Rüssel hängt also nach
Art einer Ausstülpung in der Tasche herab. Ist der Rüssel einfach i. e.
von der ersten Form, so verläuft die Tasche gerade nach dem Darme zu;
ist er dagegen gespalten, so ist er in fast allen Fällen länger und mächtiger,
als wenn einfach, und dem entsprechend wird die Rüsseltasche ein langer,
496 MINOT: Studien an Turbellarien.
unterhalb des Magens ausgedehnter Sack, an dessen dorsaler Wand der
Rüssel angewachsen ist. In diesem Falle erhält man auf Schnitten ein
ähnliches Bild wie in der Fig. 14 (Taf. XVII, Pr. (Rüssel), PrT. Rüssel-
tasche von Opisthoporus.
Die erste Form des Rüssels kommt bei Planaria etc., bei Geodes-
mus und einigen Digonoporen vor. Die verschiedenen Lagen des Rüssels,
entsprechend dem Bau des Magens, sind schon erwähnt (vergl. oben Magen).
Er ist ein Rohr, an dessen äusseren und inneren Flächen Flimmerung
beobachtet worden ist. Hieraus dürfte man auf die Anwesenheit eines
Flimmerepithels schliessen, obwohl solches bisher nur bei Planaria und
Dendrocoelum bekannt ist. Zwischen den beiden Epithelialschichten
findet man Muskeln eingelagert, in einem netzförmigen, deutliche Kerne
enthaltenden Grundgewebe. Die Muskeln sind erstens Längsfasern, welche
einzeln durch die ganze Dicke der Wand vorkommen !) und auch eine be-
sondere dünne Schicht gleich unter dem äusseren Epithel bilden; zweitens
Ringfasern, die dicht an einander gedrängt eine mächtige äussere und starke
innere Schicht bilden (Taf. XX, Fig. 52 und 53); drittens Radiärfasern,
welche einzeln verlaufend in dem Raume zwischen den beiden Ringfaser-
schichten besonders deutlich hervortreten. Rundliche, körnige Drüsenzellen
kommen zwischen den Radiärfasern zum Vorschein. Obige Angaben be-
schränken sich auf Vortex (Planaria) lemani du Plessis (Graaf)
Rhynchodemus (Moseley), Planaria lugubris, und Dendrocoe-
lum lacteum.
Bei den beiden letztgenannten Arten ist der Rüssel ein dickwandiges
Rohr, dessen Oberflächen in- und auswendig von Epithelien überzogen sind,
welche eine Cuticula und Basilarmembran erkennen lassen. Gleich unter-
halb des Epithels der Aussenseite sieht man sehr deutlich die von mir als
Basilarmembran aufgefasste Schicht. Dieselbe färbt sich stark mit Häma-
toxylin oder Carmin, erreicht eine beträchtliche Dicke und sieht der Basilar-
membran des Körperepithels sehr ähnlich. Ich weiss nicht, ob sie die Fort-
setzung derselben sei oder nicht. Der mittlere grössere Theil des Rüssel-
rohres wird gebildet erstens von einem netzförmigen Grundgewebe, welches
wesentlich dieselbe Structur zeigt, wie das Körperparenchym, und besonders
deutlich auf mit Hämatoxylin gefärbten Querschnitten hervortritt; zweitens
Muskeln; drittens von Zellen. Auf einem Querschnitt (Taf. XX, Fig. 52,
Planaria’lugubris, Fig. 53, Dendrocoelum) fallen zuerst die beiden
Ringfaserschichten, eine äussere E. R. und innere J. R. und die zwischen
!) Nach Graaf Z. Z. XXV, Supp. p. 337 bei Planaria lemani nur in zwei
Schichten gleich unterhalb des Epithels, innen und aussen.
MINOT: Studien an Turbellarien. 497
beiden durchziehenden Radiärfasern ins Auge. Eine genauere Betrachtung
lässt folgende Anordnung erkennen. Dicht unterhalb der äusseren Basilar-
membran liest eine äussere Längsschicht L. M., die aus einer einzigen
(Planaria) oder wenigen (Dendrocoelum) Reihen von dicht gedrängten
Fasern gebildet wird. Darauf folgt die dicke äussere Ringfaserschicht E. R.,
deren Fasern keinen kenntlichen Zwischenraum zwischen sich lassen. Zu-
nächst kommt die Schicht der Radiärfasern Rad, die etwas von einander
abstehend von der inneren Fläche zur äusseren ziemlich direct sich be-
geben, und folglich auf dem Querschnitt etwa wie die Speichen eines Rades
angeordnet sind. Ausserdem kommen in diesem Theile noch Längsfasern
vor, welche einzeln ihren Verlauf zwischen den Radiärfasern nehmen. Sie
liegen so zahlreich an der Grenze der inneren Ringfaserschicht angehäuft,
dass man fast von einer besonderen Längsschicht reden könnte. Zunächst
findet man die inneren Ringfasern, die dicht an einander liegend, die innerste
Muskelschicht bilden, die noch mächtiger ist, als die äussere Ringschicht.
Besonders im Bereiche der Radiärfaserschicht kann man das Grundgewebe
und die Zellen gut untersuchen, weil hier die Muskelfasern weniger dicht
gedrängt sind. Die Zellen sind zwischen den Radiärfasern hauptsächlich in
der äusseren Hälfte der Schicht gelagert. Sie sind rundlich oder oval, mit
kleinen eccentrischen Kernen und einem körnigen Inhalt. Der Inhalt färbt
sich mit Picrocarmin gelb, verliert aber diese Färbung, wenn die Schnitte
eine viertel Stunde in Alkohol oder Wasser liegen. Man sieht auf Schnitten,
die mit Hämatoxylin gefärbt sind, zahlreiche grössere ovale Kerne, wovon
ein Theil wenigstens dem netzförmigen Grundgewebe angehört. Hin und
wieder glaubte ich besondere runde Zellenleiber um einzelne dieser Kerne
zu bemerken. Vielleicht hat man da ein weiteres histologisches Moment im
Rüssel zu bestimmen.
Die zweite Form des Rüssels ist noch nicht genauer untersucht. Sie
lässt sich morphologisch von der ersten Form ableiten in Folge der
Beobachtung Clapare&de’s (Ceylan, p. 16, Pl. Fig. 7), der bei Bipa-
lium phebe einen cylindrischen Rüssel fand, welcher statt einer termi-
nalen Oefinung einen wellenförmigen Längsspalt zeigt und dem Spalt gegen-
über an der Taschenwand angewachsen ist (Moseley). Der mit Bipa-
lium eng verwandte Rhynchodemus hat einen Rüssel der einfachen
Form. Moseley (Landplanarians, p. 131) sagt, dass, wenn seine Annahme
von der Homologie des Spaltes bei der einen Art, mit der terminalen Oeff-
nung bei der anderen, richtig sei, so sei die Anordnung der Muskelschichten
in den beiden Fällen identisch. Da er aber der Beschreibung der Musku-
latur des Bipaliumrüssels kein Wort widmet, so können wir uns keine klare
Vorstellung des Verhaltens bei dieser Form verschaffen. Ueber den feineren
498 MINOT:; Studien an Turbellarien.
Bau des Rüssels der zweiten Form besitzen wir nur die Angaben von
Keferstein über Eurylepta cornuta. Er erwähnt dünne äussere und
innere Längsmuskelschichten und eine central liegende dicke Ringmuskel-
schicht, eine feinkörnige Masse (Drüsenzellen) und rundliche Bindegewebs-
zellen, ferner viele radiäre (sagittale, Keferstein) und zerstreute Längs-
muskelfasern. Epithelien hat er nicht gesehen.
Der Rüssel von Opisthoporus erscheint auf dem Querschnitt als
ein Pfropf (Pr Fig. 14), welcher von der dorsalen Wand eines unterhalb
des Magens gelegenen Rohres, in dessen Lumen hineinhänst. Er reicht
von etwa ein Millimeter hinter dem Gehirn bis zu dicht vor der Umbie-
gungsstelle des Vas deferens, i. e. bis zum hintersten Fünftel des Körpers,
d. h. er nimmt mehr als zwei Drittel der ganzen Länge des Körpers ein.
Durchmusterung der Schnittreihe lehrt uns, dass der Durchmesser des
Rüssels von der Mitte aus nach vorn und hinten allmälig abnimmt (ef.
Fig. 14 mit Fig. 12). Der Spalt ist unregelmässig gewunden und sehr
tief und seine Wandungen sind vielfach gefaltet. Diese Eigenthümlichkeiten
erschweren die Verfolgung des Spaltes dermassen, dass ich unterlasse, das
Wenige, welches meine Bemühungen mich darüber gelehrt haben, mit-
zutheilen, weil ich keine Sicherheit habe erlangen können. Das Verständ-
niss der histiologischen Structur haben meine Schnitte mir nicht geliefert —
man sieht viele stark tingirte Punkte, welche in runden oder langgezogenen
Gruppen angeordnet sind, und mich an die von Graaf beschriebenen
Schlauchmuskel erinnerten. Ausserdem habe ich eine Anzahl kleiner schwach-
gefärbter Kerne unterschieden. Einen epithelialen Ueberzug habe ich weder
am Rüssel, noch an der Wand seiner Tasche bemerkt.
Es ist unbekannt, in welcher Weise die Herausstülpung des Rüssels
bewerkstelligt wird. Es liegen nur Vermuthungen hierüber vor. Mertens
(Seeplanarien Pl. I, Fig. 3) bildet den ausgestreckten viertheiligen Rüssel
von Planaria lichenoides ab und bemerkt, dass jeder der vier Arme
sich unabhängig von den anderen zurückziehen kann.
Zerquetscht man eine lebende Planaria, so zerfällt der Körper; der
Rüssel aber bleibt intact und bewegt sich sehr lebhaft einem Wurm ähn-
lich und führt peristaltische Bewegungen aus, welche nach meinen Beobach-
tungen nur durch Berührung mit einem zur Nahrung des Thieres passenden
Körper ausgelöst werden. Ich habe häufig gesehen, dass der Rüssel die
durch die Quetschung von ihm getrennten Körpertheile förmlich verschluckt,
freilich nur, um sie hinten herauszuschleudern. Dieses auffallende Spiel
rechtfertigt die Vermuthung, dass der Rüssel Reflexe auslösende Ganglien-
zellen enthalten müsse. Ich habe jedoch in meinen Präparaten trotz längeren
Suchens keine nervösen Elemente im Rüssel gefunden.
MINOT: Studien an Turbellarien. 499
Geschlechtsorgane. Die Genitalien liegen in der Leibeshöhle zwischen
dem Darm und der Haut, gewissermassen in Kapseln des Körperparenchyms.
Alle Pharyngocoelen (Rhabdocoelen und Dendrocoelen) sind
Zwitter. Die männlichen sowie die weiblichen Organe bestehen aus: 1) keim-
bereitenden Drüsen, welche entweder gross und in der Ein- oder Zweizahl
vorhanden, oder kleiner und zahlreich sind; 2) ausführenden Gängen, welche
Erweiterungen und fernere Complicationen des Baues zeigen; und 3) Be-
gattungsorganen, die gewöhnlich in einen Geschlechtsvorraum hineinhängen,
in welchen die äussere Geschlechtsöffnung einführt.
Nach Schneider soll die häufige Copulation eine wesentliche Be-
dingung der Erhaltung der Gesundheit sein. (Geschlechtsreife, Mesosto-
mum.) Sonstige allgemeine physiologische Beziehungen sind meines Wissens
von Niemand hervorgehoben worden.
Geschlechtsantrum. Bei den Monogonoporen gibt es nur ein ge-
meinsames Antrum für beide Begattungsapparate, bei den Digonoporen
dagegen sind die Vorräume getrennt und es liegt der weibliche hinter dem
männlichen... Bei Mesodiscus, die einzige mir bekannte Ausnahme, ist die
Lage umgekehrt. Die Antra sind als Einstülpungen der Epidermis aufzu-
fassen. Man findet aber in den Epithelialzellen, welche diese Räume aus-
kleiden, keine Stäbchen; die Wimpern werden beibehalten (Keferstein,
Moseley etc. und der Verfasser). Die Drüsenzellen der Haut verschwin-
den, oder wenigstens sind sie noch nicht beobachtet.
Die Oefinung des Antrums, resp. äussere Geschlechtsöffnung ist mit
einem Sphincter versehen, der bei Opisthoporus aus Fasern der äusseren
Längsschicht, dagegen bei Planaria lugubris, Mesodiscus und Den-
drocoelum lacteum aus Fasern der Querschicht entstanden ist, indem
der Verlauf derselben sich ändert. Bei den drei zuletzt erwähnten Formen
geht der innere Theil der äusseren Querschicht und die innere Längsschicht
des Körpers auf das Antrum über. Bei Opisthoporus gehen die zwei
inneren der drei Bauchmuskelschichten auf das Antrum über. In beiden
Fällen sind die Verhältnisse identisch — die Querschicht des Körpers bildet
die Ringmuskulatur des Vorraums, — und die zu innerst liegende Längs-
schicht formt die Längsschicht des Antrums. Die Anordnung bei Meso-
discus habe ich schon eingehend beschrieben (p. 414).
Als Ausstülpungen dieses Raumes, welche bald mehr, bald weniger
selbstständig sind, erscheinen die Penisscheide, der Uterus und ein bei meh-
reren Süsswasserplanarien vorkommendes accessorisches Organ. Diesen
Theilen gegenüber wird das eigentliche Antrum häufig sehr klein.
Accessorisches Organ. Bei Planaria torva und polychroa,
Dendrocoelum und Leptoplana tremellaris (Fig. 59 Acc) mündet
430 MINOT:; Studien an Turbellarien.
ein grosser muskulöser Blindsack in das Geschlechtsantrum. Der Sack ist
birnförmig mit der Spitze, welche die Oeffnung seiner Höhlung trägt, dem
Antrum zugekehrt (cf. Schmidt, Z. Z. X. Taf. X, Fig. 4 und 5). Der
Kanal, im Innern zuerst eng, schwillt im erweiterten Theil des Sackes zu
einem bedeutenden Raum an, in welchem man häufig einen körnigen Inhalt
findet (cf. Fig. 59 Ace) und endist blind. Bei Dendrocoelum lacteum
ist der Canal von einem einfachen Cylinderepithel ausgekleidet und von
einem dicken muskulösen Beleg umgeben (Fig. 59), dessen Fasern ein ver-
wickeltes Geflecht bilden, welches dem am Penisbeutel (s. U.) sehr ähnelt.
Dem Baue nach ist also das accessorische Organ entschieden keine gewöhn-
liche Drüse, wenn es überhaupt eine ist, wie Schmidt, Ulianin und An-
dere meinen, sondern seine physiologische Bedeutung ist ebensowenig bekannt,
wie seine morphologische.
O0. Schmidt beschreibt bei Polycelis cornuta zwei eigenthüm-
liche Organe, die muskulös und hohl sind und in einer hinter der Ge-
schlechtsöffnung gelegenen Einstülpung der Bauchfläche frei hineinhängen
WEDERIDRSS):
Männliche Organe. Hoden. Diese Drüsen sind paarig. Man hat
jedoch bei einigen Rhabdocoelen (Mesostomum obtusum und mar-
moratum) und bei den abweichenden Prostomeen nur einen unpaarigen
Hoden gefunden (Max Schultze, Turbellarien p. 29). Die Hoden sind
durch den Körper vertheilte mehr minder zahlreiche Bläschen. Die Den-
drocoelen unterscheiden sich hierdurch von den Rhabdocoelen, die
in der Regel zwei Hoden haben. Vorticeros pulchellum bietet die
einzige mir bekannte Ausnahme (Graaf, Z. Z. XXIV. p. 152.) Bei
Bipalium und Rhynchodemus bilden die Hoden zwei seitliche Reihen
von solcher Regelmässigkeit, dass Moseley von 24 oder 25 Hodenpaaren
spricht. Diese einfache Anordnung erinnert an Eurylepta cornuta
(Claparede, Hebrides, Pl. VII, Fig. 9aa) und Gunda lobata (0. Schmidt,
Corfu, p. 17).
Die Aushöhlungen im Körperparenchym, resp. die Theile der Leibes-
höhle, in welcher die Hoden liegen, sind umgeben von einer feinen Schicht
verdichteten Gewebes, die sich mit Carmin stark tingirt. Ausserhalb dieser
Schicht folgt das gewöhnliche Körperparenchym, welches bei den Landpla-
narien (cf. Moseley p. 189) etwas freier von anderen Geweben ist, als
bei den von mir untersuchten Arten. Da Moseley die Structur "des
Parenchyms nicht erkannte und folglich die Wandungen der Leibeshöhlen-
kapseln nicht richtig deutete, so fasste er den Raum, in welchem der Hode
liegt, als Hodensack mit eigenen Wandungen auf. Ich habe nicht ermittelt,
MINOT: Studien an Turbellarien. 431
ob der Hode wirklich eine besondere Membrana limitans habe. Ich unter-
schied in jeder Kapsel nur einen Haufen von Spermatozoen und Zellen.
Ueber die Entwickelung der Spermatozoen liegen sehr wenige Beobach-
tungen vor. Die ausgewachsenen Samenfäden bestehen aus einem Kopf,
welcher sich mit Garmin stark färbt und das Licht stark bricht und aus
einem langen Schwanz, der sehr fein und durchsichtig ist und im Leben
lebhafte Bewegungen ausführen kann. Die Angabe von Oskar Schmidt,
dass die Spermatozoen von Opisthostomum pallidum eine Verdickung
in der Mitte haben, berichtigt Max Schultze dahin, dass der Schwanz
kurz vor vollendeter Entwickelung in der Mitte spiralig gewunden ist. Die
Entwickelung des Schwanzes ist eigentlich unbekannt. Nach den vorliegen-
den Beobachtungen erfolgt sie wahrscheinlich aus dem Protoplasma der
Spermatoblastzellen. Die Köpfe entwickeln sich aus Kernen, die in Mutter-
zellen entstehen. Die Kerne verlängern sich allmälig und vollenden ihre
Umwandlungen früher, als die Schwänze. Die einzelnen Kerne aus einer
Mutterzelle können beisammen bleiben (Monocelis, Macrostomum
hystrix Max Schultze, Landplanarien Moseley und Planaria ulvae
Ulianin, Pl. III, Fig. 16. 17) oder einzeln liegen (viele Rhabdocoelen
und Digonoporen). Die Verhältnisse sind noch genauer zu erforschen.
Wenn die Kerne Haufen bilden, so sind ihre Umwandlungen leichter zu
verfolgen und man bekommt Bilder, die an die von Salensky bei Amphi-
lina und von mir bei Caryophyllaeus gewonnenen lebhaft erinnern.
Da die Form und die Umwandlungen einzelner Zellen auf Schnitten
schwer zu verfolgen sind, und ich keine Isolationsmethode zur Untersuchung
der Spermatoblasten angewendet habe, so kann ich Sicheres über die Ent-
wickelung der Spermatozoen bei Mesodiscus oder Opisthoporus nicht
mittheilen. Ich habe gesehen: 1) langgezogene Zellenkerne von bedeuten-
der Grösse und ziemlich stark gefärbt (Taf. XVIII, Fig. 38 a von oben, b Sei-
tenansicht), die aus einer Anzahl langer, dicht gedrängter Körper (Stäbchen)
zusammengesetzt erschienen; 2) Gruppen von stark lichtbrechenden langen
Körpern (Fig. 38 b), die sich hauptsächlich durch ihre bedeutendere Grösse
von den die Kerne bildenden Stäbchen unterscheiden; 3) stark gefärbte,
mehr oder minder gekrümmte Samenfädenköpfe (Fig. 38 e u. ec’). Hiernach
scheint es, dass jeder Kern in eine Anzahl von Spermatozoenköpfe zerfällt.
Man findet in Einklang mit dieser Auffassung Hodenbläschen mit wenigen
Spermatozoen und vielen Kernen und umgekehrt, wo die Spermatozoen zahl-
reich sind, finden sich nur wenige und blasse Kerne vor, darunter noch
einige stark tingirte. Diese Befunde stimmen mit den Angaben früherer
Forscher, andere Arten betreffend, überein.
Ausführungsgänge. Max Schultze (Z. Z. IV. p. 178, Skizzen) be-
439 MINOT: Studien an Turbellarien.
schreibt feine Rohre, welche mit den Hodenbläschen in Verbindung stehen
und sich dann zu zwei Hauptstämmen, Vasa deferentia, vereinigen. Mo-
seley sagt mit Bezug auf die Landplanarien (l. ec. p. 139), dass es eine
Oeffnung auf der Innenseite jedes Hodenbläschens gibt, welche in das an-
geschwollene Ende eines der letzten feinen Verzweigungen der Vasa deferentia
führt. Die Wandungen dieser Verzweigungen bestehen aus einem Cylinder-
epithel mit Basilarmembran. Nach Moseley scheint letztere sich in die
feine Membran des Hodenbläschens fortzusetzen. Er hat keine Cilien in
den Vasa deferentia überhaupt gefunden. Nach langem und mühevollem
Suchen habe ich auf meinen Schnitten dünne mit den Hoden in Verbindung
tretende Canäle gesehen.
Die von den Hoden entspringenden feinen Canäle vereinigen sich bald
zu grösseren Stämmen, bis zwei seitliche Hauptgänge entstanden sind. Die
Gänge beiderseits sind gewöhnlich stark erweitert, und da sie zur Zeit der
Geschlechtsreife gewöhnlich mit Samen strotzend gefüllt sind, so sind sie
zweckmässig Vesiculae seminales genannt worden. Die Samenblasen liegen
bei den Landplanarien hinter den Hoden. Sie sind kurz und gewunden
(ef. Moseley, Landplanarians, Pl. XII, Fig. 3 v. d.). Bei den Seeplana-
rien erreichen diese Organe eine bedeutendere Entwickelung. Bei Lepto-
plana tremellaris (Keferstein, St. Malo, Seeplanarien, Pl. I, Fig. 1
v. d.) und L. alcinoi (0. Schmidt, Corfu, Turbellarien, p. 8, Pl. I,
Fig. 1) vereinigen sich die beiden Gänge hinten zu einer Schleife. Es
fehlen den Vesiculis besondere muskulöse oder sonstige Verdickungen der
Wandungen. Eine epitheliale Auskleidung existirt aller Wahrscheinlichkeit
nach bei allen Formen, obwohl ich sie bisher nur bei Dendrocoelum
lacteum gesehen habe. Die Epithelzellen sind niedrig und haben grosse
Kerne. Auf meinen Querschnitten von Opisthoporus (Taf. XVI, Fig. 14
v. d.) sind die grossen Lumina der Samenblasen mit Spermatozoen prall
gefüllt. Die Schwänze der Samenfäden bilden gebogene Züge, indem sie
sich parallel aneinander legen, wie ich auch bei Mesodiscus be-
obachtet habe.
Wenn die Canäle sich vereinigen, bevor sie in den Penisbeutel mün-
den, so bilden sie eine blasige Anschwellung mit starken muskulösen Wän-
den (Leptoplana alcinoi, O. Schmidt, Corfu, Pl. I, Fig. 1 e, viel-
leicht Eurylepta aurita, Clapar&de, Annel. Hebr., Pl. VII, Fig. 9
und 10, Mesodiscus und Prosthiostomum [Ulianin]); ef. Taf. XIX,
Fig. 43, Erweiterung von Mesodiscus — Längsschnitt. Die von Oskar
Schmidt bei Planaria olivacea abgebildete muskulöse Erweiterung
(Corfu, Taf. II, Fig. 5 d) scheint ein Theil des Penisbeutels und nicht ein
dem hier beschriebenen Gebilde entsprechendes Organ zu sein. Von der
MINOT: Studien an Turbellarien. 433
hier besprochenen Anschwellung verläuft bei den betreffenden Arten ein
kurzer, verhältnissmässig enger Gang gerade oder geschlungen zum Penis-
beutel. (Cf. unten.)
Auch wenn die Samengänge getrennt münden, verengern sie sich erst,
bevor sie in den Beutel übergehen.
Penisbeutel. Das obere stark muskulöse, oft angeschwollene Ende des
Penis habe ich so benannt, um das Stück mit einem nichtssagenden Namen
zu belegen. Es liest im Parenchym, oberhalb der Penisscheide, wo der
Penis sich ansetzt, oder hängt bisweilen ein wenig in die Scheide hinein,
in diesem Falle einen Theil des eigentlichen Penis bildend. Von der An-
satzstelle des Penis setzt sich der Canal und die Muskulatur desselben
weiter auf den Beutel fort. Das Lumen des Ganges bleibt zuerst klein,
indem die Muskulatur je nach der Art mehr oder weniger entwickelt wird.
Bei den darauf untersuchten Arten ist diese gewöhnlich sehr mächtig (ef.
Taf. XVI, Fig. 7—10, Opisthoporus). Weiter zurück erweitert sich der
Gang oder es folgt sogar häufig eine blasige Erweiterung, die mit ver-
schiedenen Namen belegt worden ist. Ich wähle für den engeren Theil die
Bezeichnung Hals, für den blasigen Beutelblase, obwohl die Erweite-
rung bisweilen (z. B. Rhynchodemus, Moseley, Landplanarien p. 142)
nur eine mässige oder kleine Auftreibung ist. Die Samenleiter münden in
die Blase. Bei Planarialugubris, O. Schmidt (7. Z.X. Pl. III, Fig. 5 h),
setzt sich der Gang nach Aufnahme der beiden Samenleiter selbstständig
fort und führt in einen mit körnigem Inhalte gefüllten an dem Beutel an-
liegenden Raum ein. Cf. unten p. 436, Planaria gonocephala, O0.
Schmidt. Die Muskulatur dieser Erweiterung stellt ein Fasergekröse dar
(Taf. XVI, Fig. 8), welches in einigen Fällen eine Dicke erreicht, die den
Durchmesser des Organs dem verticalen Durchmesser des Körpers fast gleich-
bringt (Opisthoporus, Taf. XVI, Fig. 10, Planaria ete.). In anderen
Fällen zeigt die Muskelschicht eine weniger riesige Entwickelung, jedoch
immerhin eine starke. Die Fasern verlaufen nach allen Richtungen, die
queren Ringfasern überwiegend. Inwendig ist der ganze Canal von einem
nicht sehr hohen, schimmernden Cylinderepithel ausgekleidet.
Zur Bildung des Penisbeutels tragen bei Opisthoporus eigenthüm-
liche Drüsen bei. Bei dieser Art ist der Penis nach hinten gerichtet. Der
Gang desselben setzt sich nach vorn durch das Parenchym fort, um den
Beutel zu bilden; er gabelt sich aber bald in der Weise, dass zwei seit-
liche und ein mittlerer Canal gebildet werden. Letztgenannter ist der
Samengang und verläuft durch den muskulösen Beutel gerade hindurch bis
zur Umbiegungsstelle, wo er erst nach unten, dann nach hinten wieder
434 MINOT: Studien an Turbellarien.
umbiest. Cf. Taf. XVI, Fig. 5—12. Die zwei seitlichen Aeste (cf. Taf. XVI,
Fig. 5 und 6) sind die Anfänge der zu besprechenden Drüsenschläuche,
deren sie durch Verzweigung sechs bilden, die kreisförmig um den Samen-
canal gruppirt sind und (cf. Fig. 10) nach vorne blind endigen. Eine von
hinten nach vorn gehende Querschnittsserie gibt folgende Reihe von Bil-
dern. Zuerst kommt die Ansatzstelle des Penis (Taf. XVI, Fig. 4); darauf
folgt die Theilung (Fig. 5), in Folge dessen zwei seitliche Schläuche ent-
stehen; dann die vollendete Theilung (Fig. 6); zunächst vier Drüsencanäle
(Fig. 7), dann fünf (Fig. 8), dann sechs (Fig. 9) und schliesslich ein Schnitt
mit nur fünf Schläuchen und eine deutlich zu erkennende Stelle, die die
angeschnittene Wand des blinden Endes des sechsten Ganges (Fig. 10)
darstellt. Auf den folgenden Schnitten endigen dann noch vier Schläuche
blind, dann fehlen aber leider einige Schnitte aus der Reihe. Man darf
aber wohl annehmen, dass sämmtliche Drüsen blind endigen.
Die Muskelschicht, welche die Drüsen und den Samengang umgibt,
nimmt an Dicke nach vorn allmälig zu. Diese Eigenthümlichkeit, verbun-
den damit, dass die sieben Canäle selbstverständlich viel Raum einnehmen
(cf. Fig. 10), bedingt, dass der vordere Theil des Organs fast den doppel-
ten Durchmesser des hinteren oder Anfangstheiles erreicht. Nach einer
Lücke in der Schnittreihe findet man, dass das Gebilde wiederum kleinere
Dimensionen angenommen hat, und dass nur ein Gang (Fig. 11 P.B.) des-
selben Baues wie der centrale Canal der vorangehenden Schnitte übrig-
bleibt. Es ist der Samengang. Sein Lumen ist etwas grösser, vielleicht
darum, weil eine der gewöhnlichen Beutelblase entsprechende, in den feh-
lenden Schnitten sich befindende Erweiterung sich allmälig verjüngt, und
nur die Verjüngung in dem vorliegenden Schnitte getroffen worden ist.
An demselben Schnitt liegt unterhalb des besprochenen Gebildes ein ähn-
liches Organ, resp. Gang umgeben von einem Muskelgekröse (Fig. 11 ca.).
Einige Schnitte weiter (Fig. 12) biegt der obere Gang nach unten, und der
untere nach oben, und gehen die beiden in einander über. Mit anderen
Worten: der Samengang biegt sich nach unten und dann nach hinten; da-
bei nimmt seine Muskulatur allmälig ab. Verfolgt man den unteren Schenkel
nach hinten, so findet man, dass der muskulöse Beleg bald verschwindet, und
dass der Canal bald nachher sich gabelt; die Aeste enthalten Sperma-
tozoen. Ich habe die. weiteren Verzweigungen nicht genau verfolgt.
Die Muskeln, welche diesen complicirten, langgezogenen Beutel um-
geben, bestehen zum grössten Theile aus Ringfasern, zum Theil aber auch
aus Längs- und schrägen Fasern. Zwischen den Fasern sieht man Kerne,
ob der Fasern oder des dazwischenliegenden Parenchyms habe ich nicht
bestimmt. Der Samengang ist von einem niederen Flimmerepithel aus-
MINOT: Studien an Turbellarien. 435
gekleidet. Eine feine, überall gleich dicke Schicht von mit Carmin
dunkel gefärbten Fasern zieht, einem Gerüst gleichend, zwischen den
einzelnen Schläuchen durch und um sie herum (cf. Fig. 10). Diese
Fasern bilden erstens einen Ring, der sämmtliche Drüsen von den Muskeln
trennt; und einen zweiten Ring, der den centralen Canal von den Drüsen
scheidet; drittens endlich Dissepimente, welche die Drüsen auseinander halten
und vom inneren zum äusseren Faserring strahlenförmig verlaufen. Das
Lumen der Drüsenschläuche ist mehr oder minder ein deutliches Dreieck
(Fig. 10) mit abgerundeten Winkeln und enthält eine feinkörnige Secret-
masse. Die Wandungen bestehen aus hohen Cylinderzellen, die sehr schwer
zu erkennen sind, und zwar in Folge der Anwesenheit zahlreicher, sehr
dunkel gefärbter, stark lichtbrechender Körnchen, welche besonders an der
inneren (freien) Peripherie der Zellen angehäuft sind, und gerade wie die
Körnchen des Secrets aussehen. Ueber die functionelle Bedeutung dieser
Drüsen kann ich nichts sagen.
Bei Stylochus sp? aus Triest folgt der grosse Beutel mit breiter
Höhlung und riesiger Muskulatur gleich auf den hörnigen, spitzen ungeheuern
Penis. Bei den Süsswasserplanarien Dendrocoelum lacteum und Pla-
naria lugubris ist die Beutelblase ungewöhnlich gross; die Muskelschicht
derselben aber lange nicht so entwickelt, wie am Halse des Beutels.
Penis. Das männliche Begattungsorgan ist ein cylindrisches oder coni-
sches Rohr mit einer Oeffnung. auf seiner Spitze. Es hängt frei in der
Penisscheidee Die Grösse des Penis ist nach der Art sehr verschieden.
Am kleinsten habe ich ihn bei Mesodiscus gefunden (Taf. XIX, Fig. 39),
am grössten bei Planarien (Taf. XX, Fig. 56). Er ist in- und auswendig
von einem niederen Oylinderepithel überzogen, welches, wenigstens im Innern
des Ganges, flimmert. Die Wand des Penis enthält zahlreiche Muskel-
fasern, welche in einem parenchymatösen Grundgewebe eingebettet sind, —
ähnlich dem Rüssel. Ist der Penis conisch, so trägt er eine dicke äussere
Cutieula von horniger Consistenz (Stylochus sp? aus Triest, Mesodis-
cus, Leptoplana alcinoi, Prosthiostomum Ulianin), oder ist wie
ein cylindrischer Penis beschaffen.
Ueber die Muskulatur enthält nur die Abhandlung von Moseley ein-
sehende Angaben, welche sich auf Bipalium beziehen. Seine Schilderung
lest dieselbe Anordnung dar, welche ich bei Dendrocoelum lacteum,
Planaria lugubris und Opisthoporus gefunden habe. Ich gebe daher
eine auf diese vier Formen passende Beschreibung, ohne jedoch sagen zu
wollen, damit sei ein allgemein gültiges Bild entworfen. Man findet nament-
lich eine äussere und innere Ringfaserschicht und zwischen beiden radiäre
436 MINOT: Studien an 'Turbellarien.
Muskel untermischt mit Längsfasern. Bei Planaria lugubris bilden
die zwei ziemlich deutlichen Längsschichten eine äussere und eine innere
(Taf. XX, Fig. 56 Pe.), an dem äusseren resp. inneren Theil der Quer-
schicht angrenzend. Bei Bipalium ist die Schichtung weniger deutlich,
bei Opisthoporus gar nicht zu erkennen. Nur die inneren Längs- und
Ringfasern setzen sich als muskulöser Beleg auf den Beutel fort. Die
äussere Ringschicht dagegen mit den ihr anliegenden Längsmuskeln biegt
sich an der Ansatzstelle des Penis um und geht in die Muskelschicht der
Penisscheide über. Demnach stellen die Muskeln des Penis zwei Züge dar,
der eine von der Scheide herstammend, der andere vom Penisbeutel. Denke
man sich den Penis durch eine Hervorstülpung der Wand der Penisscheide
entstanden, so würde man genau die geschilderte Anordnung haben. In
diesem Falle stellen die Radiärfasern des Penis die Sagittalmuskeln des
Körpers dar. Es wäre ferner zu erwarten, dass die innere Ringschicht an
der Spitze des Penis in die äussere übergehe, und dass die Längsfasern an
derselben Stelle sich umbiegen. Ob diese Annahme richtig sei, habe ich
nicht erforscht. Die zwei Schichten des Canals, i. e. die inneren, gewinnen
in der Nähe der Basis des Penis das Uebergewicht; ihre Fasern vermischen
sich und es entsteht durch weitere Veränderungen in dem Verlaufe der ein-
zelnen Fasern das für den Penisbeutel charakteristische Gekröse.
Ich muss hier noch hinzufügen, dass ich den Vergleich, den Oskar
Schmidt (Z. Z. XI. p. 29) zwischen Planaria gonocephala und Den-
drocoelum lacteum zieht, für unrichtig halten muss, und dass der Theil,
den er mit h in seiner Abbildung (Z. Z. X. Taf. IV, Fig. 4) von Pl. go-
nocephala bezeichnet, nicht dem Penis, sondern dem Penisbeutel von D,
lacteum entspricht, und viel eher mit dem abgesonderten Theile des Beu-
tels bei Planaria olivacea (cf. oben und O. Schmidt, Z. Z. XI. Taf. II,
Fig. 5 d) zu vergleichen sein dürfte. Beobachtungen, die ich an meinen
Querschnitten gemacht habe, scheinen mir die Frage ausser Zweifel zu stellen.
Formen mit Widerhaken auf der Spitze des Penis sind bekannt (Pla-
naria nausicaae O. Schmidt, Stylochus sp? Polycelis nigra etc.).
Ein Flagellum ist bei Dendrocoelum lacteum bekannt (cf. O.
Schmidt, Z. Z. XI. p. 29). Es kann handschuhfingerartig umgestülpt
werden. Ich habe es auch gesehen, aber nicht besonders untersucht.
Penisscheide. Der Raum, in welchem der Penis liegt, ist mit dem
Namen Scheide zu belegen und nicht mit Vorraum oder Antrum zu ver-
wechseln, da die beiden Räume, obwohl ursprünglich Theile einer Tasche,
bei der Mehrzahl der Formen getrennt sind, und sogar bauliche Verschie-
denheiten zeigen. Bei den Monogonoporen findet man bekanntlich nur
eine äussere Geschlechtsöffnung, die in ein Geschlechtsantrum führt, in
MINOT: Studien an Turbellarien. 437
welches alle Geschlechtsorgane einmünden. Bei den Formen dieser Abthei-
lung mündet die Penisscheide auf der vorderen Seite des Antrums und er-
streckt sich gerade nach vorn, in Folge dessen zeigt der Penis nach hinten.
Die Scheide erscheint bei Planaria gonocephala (0. Schmidt, Z. Z.
X. Taf. IV, Fig. 4) als eine blosse Ausstülpung des Vorraums. Bei den
Digonoporen gelanst man durch die männliche Oeffnung zuerst in das
Antrum und weiter gehend in die Scheide, deren Form je nach der Art
verschieden ist. Ihre eigenthümliche Gestalt bei Mesodiscus kann man
aus der Abbildung ersehen (Taf. XIX, Fig. 40).
Die Muskulatur besteht aus einer inneren Ringschicht und äusseren
Längsschicht, die wahrscheinlich die Fortsetzungen der zwei Muskelschichten
des Antrums sind. Die Scheide ist ausgekleidet von einem Cylinderepithel,
das mit dem des Penis und des Antrums continuirlich ist. (Of. Taf. XVI,
Fig. 4, Querschnitt durch die Ansatzstelle des Penis von Opisthoporus,
und Taf. XIX, Fig. 40, Längsschnitt der Scheide von Mesodiscus).
Bei Mesodiscus zeigen die mit dem Begattungsorgan in Ver-
bindung stehenden Theile Abweichungen, die eine besondere Schilderung
nöthig machen. Der grosse annähernd cylindrische, schräg nach hinten
steigende Vorraum (Taf. XIX, Fig. 39, V') führt in die Penisscheide,
deren Form aus der Abbildung (Fig. 40) am besten zu ersehen ist. In
ihr liegt der auffallend kleine, spitze Penis P. Dieser ist mit einer dicken
Cuticula versehen und von einem Gang mit körnigem Inhalte durchsetzt.
Am Ende des ersten Drittels dieses Ganges, von der Spitze aus gerechnet,
münden zwei kleinere Gänge (Fig. 40 c.c.), die auf dem abgebildeten
Schnitte nur mit Mühe zu verfolgen sind. Alle drei Gänge treten aus
dem Penis und nehmen einen gewundenen Verlauf nach vorn. Daher
habe ich den Verlauf auf meinen Schnitten nicht genau verfolgen kön-
nen. Die zwei kleineren Gänge führen wahrscheinlich in zwei grosse
übereinander liegende muskulöse Blasen. Der mittlere und grössere Gang
ist weniger schwierig zu verfolgen. Er geht an den obenerwähnten
Blasen seitlich vorbei (cf. Taf. XIX, Fig. 41, Querschnitt durch die
zwei Blasen) und endigt weiter nach vorn in eine Erweiterung mit rie-
siger Muskulatur (Fig. 43). Die drei Blasen zeigen wesentlich denselben
Bau. Die Aushöhlung der beiden kleineren ist rund (Fig. 42), der grösseren
(Fig. 43) oval, langgezogen und steht mit einem Gang in Verbindung, der
die Wand der Blase durchbricht (Fig. 42) und mit dem uns schon be-
kannten Gang vom Penis identisch ist. Die Aushöhlungen und die Gänge
sind von einem Flimmerepithel ausgekleidet. Von der grossen Blasse gehen
ausserdem noch zwei Gänge vom vorderen Theile zuerst schräg nach hinten
rechts und links ab. Sie biegen bald nach vorn um, werden weiter und
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. II. 30
438 MINOT:; Studien an Turbellarien.
sind mit Spermatozoen gefüllt; sie sind also die Samenleiter und die Blase
ist die oben p. 432 erwähnte.
Die Anordnung erinnert an Prosthiostomum Ulianin (ef. Ulianin,
Pl. VII, Fig. 2). Von beiden Gattungen kann man sagen, die Samenleiter
münden in eine muskulöse Blase, die einen Canal abgibt, der bis zur Spitze
des Penis verläuft. Von dem Penis gehen zwei Gänge aus, die in zwei
muskulösen Erweiterungen blind endigen. Diese Erweiterungen hält Ulianin
für Drüsen; dem Baue nach wird diese Deutung unmöglich. Die Homologie
dieser Theile bleibt unerklärt. Man könnte vermuthen, erstens, dass die
grosse Erweiterung dem muskulösen Sack entspreche, der an der Vereini-
gungsstelle der Vasa deferentia bei einigen Arten (vide p. 432) vorkommt,
und dass die beiden Nebenblasen eine Umformung des Penisbeutels dar-
stellen; oder zweitens, dass alle drei Blasen durch eine Umwandlung des
Penisbeutels entstanden seien u. s. w. Das zur Entscheidung dieser Fragen
nöthige Material ist noch nicht gesammelt.
Bei Opisthoporus (Taf. XVI, Fig. 4) und Mesodiscus (Taf. XIX,
Fig. 39) sind die Penisscheide und Nachbartheile des männlichen Ausfüh-
rungsapparates von ganz freiliegendem Parenchymgewebe umgeben, welches
von keinem anderen Gewebe (etwaigen Muskeln) durchkreuzt wird, und da-
durch von den übrigen Theilen des Körpers scharf abgesetzt ist. Aehn-
liches habe ich bei den Süsswasserformen gefunden. Es erinnert dieses an
die Abbildung von Prosthiostomum, die Ulianin (Taf. VI, Fig. 2 a)
gegeben hat.
Nebendrüsen. Mit dem männlichen Apparate in Zusammenhang stehen
häufig Drüsenzellen (Dendrocoelum lacteum ©. Schmidt, Z. Z. XL.
Taf. IV, Fig. 10; Planaria gonocephala O. Schmidt, Z. Z.X. Taf. IV,
Fig. 4; Mesodiscus, Opisthoporus). Schneider (p. 26) widerspricht
den Angaben von Schmidt und behauptet ganz mit Unrecht, dass die
Eiweissdrüse, die Keferstein bei Seeplanarien fand, dasselbe, wie die
Schmidt’schen Penisdrüsen sei (cf. unten). BeiDendrocoelum lacteum
sind die betreffenden Drüsenzellen (Taf. XIX, Fig. 46) unregelmässig spin-
delförmig; sie sind so gerichtet, dass ihre Längsachsen annähernd parallel
mit den Samenleitern, in deren Nähe sie vorkommen, liegen (cf. die Ab-
bildung von Schmidt). Der Zelleninhalt ist feinkörnig und lässt nur un-
deutlich den in der Mitte der Zelle gelegenen ziemlich grossen Kern
erkennen, der mit einem Kernkörperchen versehen ist. Bei Mesodiscus
habe ich in der Nähe der Penisscheide rechts und links kleine Haufen von
runden Zellen gesehen, die wegen ihrer schwachen Färbung wenig hervor-
traten. Ich halte sie vermuthungsweise für Nebendrüsen des männlichen
Apparates.
x
MINOT: Studien an Turbellarien. 439
Bei Opisthoporus sind in der Nähe des Penis und seiner Scheide
unzählige Drüsenzellen angehäuft (Taf. XIV, Fig. 4 Dr). Die Zellen sind
mehr oder weniger birnförmig, mit der Spitze nach der Bauchseite des
Thieres gerichtet (Taf. XIV, Fig. 4). In dem runden Ende ist der Inhalt
feinkörnig und mit Carmin stark gefärbt, so dass der in ihm liegende Kern
wenig hervortritt. Dieser Theil der Zelle ist ziemlich scharf geschieden von
dem unteren spitzen Ende, welches ganz blass und durchsichtig ist. Die
Contouren der Zellen sind scharf und man darf wohl eine Membran anneh-
men. Diese Zellen verbreiten sich von hinter der äusseren Oefinung des
männlichen Antrums bis zu der Umbiegungsstelle des Penisbeutels und
von der Mitte des Körpers um die freiliegende parenchymatöse Um-
gebung der Penisscheide aus, nach beiden Seiten etwa ein Viertel der Ent-
fernung bis zum Rande des Körpers hin (ef. Taf. XVI, Fig. 4 und Taf. XVII,
Fig. 14).
Weibliche Geschlechtsorgane. Es ist mir leider nicht gelungen, eine
auch nur einigermassen befriedigende Reihe von Anhaltspunkten für die
allgemeine Beschreibung der weiblichen Genitalien zu gewinnen, indem die
Verschiedenheiten des Baues bei den einzelnen Gattungen noch nicht auf
eine gemeinsame Grundform zurückzuführen sind. Man dürfte wohl eine
Homologie der Theile für alle Plattwürmer annehmen ; die Darlegung dieser
Homologie ist aber noch nicht möglich, weil wir noch nicht wissen, wo die
Schale des Eies bei den -Dendrocoelen gebildet wird, und ferner, weil
dieser Gruppe eine Vagina fehlt. Hierauf zurückzugreifen, werden wir im
dritten Abschnitte Gelegenheit finden.
Eierstöcke. Die Ovarien sind entweder paarig und liegen zwischen
dem Munde und Gehirn, wie bei den Süsswasser- und Landplanarien (Max
Schultze, Z.2. IV. und in Carus’ Icones zootomicae, Pl. VIII, Fig. 18 ov;
0. Schmidt, Z. Z. XI. p. 18 und an anderen Stellen; Moseley, Land-
planarians p. 136), oder sie sind sehr zahlreich und durch die dorsale
Hälfte des Körpers oberhalb der ventralwärts gelegenen Hoden vertheilt.
(Max Schultze, Würzburg. Verhandl. Bd. IV. 1854, p. 222, und 2. Z.
IV. p. 182. Schmidt, Z. Z. X. und XI. Keferstein, Seeplanarien.)
Vielleicht sind paarige Eierstöcke für die Monogonoporen, vielfache
für die Digonoporen charakteristisch.
Die Eierstöcke liegen in Kapseln, gerade wie die Hoden. Die Kapseln,
wie sonst alle Aushöhlungen im Parenchym, sind von einer verdichteten,
sich mit Carmin stark färbenden Schicht umgrenzt. Das umgebende Paren-
chym liegt ziemlich von anderen Geweben befreit, etwa wie in den Balken-
strängen, aber, wohl bemerkt, ohne Veränderung seines Aussehens, wie in
den Strängen (s. unten). (Taf. XVII, Fig. 19. Cf. Moseley p. 136.) Die
30*
AAO MINOT: Studien an Turbellarien.
Sagittalmuskeln weichen aus, um für die Kapseln Platz zu machen (Fig. 19).
Moseley hat ein Bild gesehen, welches ihn vermuthen lässt, dass die
Ovarien von einem Epithel überzogen sind. Keferstein (St. Malo, See-
planarien, p. 27) hebt ausdrücklich hervor, dass die Ovarien von einer
Membran umschlossen sind. Ich vermuthe, dass er die Grenzschicht der
Kapseln gesehen, und für eine Membran gehalten hat.
Die eigentlichen Ovarien bestehen wesentlich aus Eiern in verschiedenen
Stufen der Entwickelung. Die Entstehung der Zellen, welche sich in die
Eizellen umformen, ist unbekannt. In allen Fällen liegen die unentwickelten
Eier im oberen und peripherischen, die ausgebildeten dagegen im unteren
und mittleren Theile der Eierstöcke. (Moseley, Landplanarien, p. 137.
0. Schmidt, Z, Z. XI. p. 18. Cf. auch Taf. XVII, Fig. 19.) Die Zellen
sind zuerst klein und rund, werden dann grösser und es bleiben Zellenleib
und Kern dabei feinkörnig, wie im Anfang. Der Kern wird dann hell,
das Kernkörperchen tritt deutlicher hervor und man kann nunmehr von Keim-
bläschen und Keimfleck reden, da diese beiden Bestandtheile des werdenden
Eies von jetzt an nur noch grösser werden, d. h. keine weiteren sichtbaren
Veränderungen durchlaufen. Während das Ei weiter wächst, verliert das
Protoplasma allmälig sein feinkörniges Aussehen, indem gelbe Tröpfchen,
die wie Fett aussehen, auftreten. Moseley sagt: „The ovum becomes
enclosed in a capsule with a transparent area between it and the cap-
sular wall.“ Aehnliches habe ich nicht gesehen. Keferstein (St. Malo,
Seeplanarien, p. 27) hebt besonders hervor, dass die reifen Eier keine
Kapseln haben. Bei den Seeformen lag der Kern eccentrisch (Fig. 19) und
war von feinkörnigem Dotter umgeben, indem der fetthaltige Theil des
Dotters auf den entgegengesetzten Pol beschränkt war. Denselben Ent-
wickelungsvorgang kennt man bei den Rhabdocoelen (Max Schultze,
Turbellarien).
Moseley beobachtete (Landplanarien p. 137) bei den Landplanarien,
mit besonderer Deutlichkeit bei Rhynchodemus, zwischen den Ova
Fasern mit anliegenden Spindelzellen. Bei anderen Verfassern habe ich
ähnliche Angaben nicht gefunden.
Ausführumgsgänge. Der Zusammenhang der Eileiter mit den Eier-
stöcken ist von Max Schultze und Keferstein genau beschrieben wor-
den. Moseley theilt mit, dass bei den Landplanarien die Eiergänge mit
einer Erweiterung an der Seite des Eierstockes unmittelbar in denselben
einmünden.
Die Eileiter sind ausgekleidet von einem Cylinderepithel, das auf einer
deutlichen Basilarmembran ruht und inwendig mehr oder minder lange, nach
dem Uterus zu gerichtete Flimmerhaare trägt. Dieses Epithel hat er bis
MINOT: Studien an Turbellarien, 441
zum 'Eierstock, wo es plötzlich aufhört, verfolgt. Es ist die Fortsetzung
des Epithels des Uterus resp. Antrums. Nach Keferstein (cf. seine Ab-
bildung Seeplanarien Taf. I, Fig. 1 ut) gehen die Eileiter bei Leptoplana
vorne in einander über und bilden so eine Schleife, ähnlich den Samenlei-
tern bei derselben Art. Keferstein belegt diese Theile mit dem Namen
Uterus, wie ich erwähnen muss, um Verwechselungen zu vermeiden. Sein
Receptaculum seminis entspricht dem Theil, den ich Uterus nenne. Der
ganze Verlauf des Eileiters ist meines Wissens nur bei den Landplanarien
mit genügender Sorgfalt verfolgt worden (Moseley, Landplanarien, p. 137).
Die Eileiter münden entweder direkt in den Uterus (Digonoporen und
Rhynchodemus und Bipalium unter den Monogonoporen), oder es
kommt nicht zur Bildung eines eigentlichen Uterus, sondern die Eileiter
münden unmittelbar in das Antrum ein (die meisten Monogonoporen).
Uterus. Der sogenannte Uterus ist eine Ausstülpung des Antrums, die
entweder unabhängig von den Eileitern ist (Planaria, Dendrocoelum),
oder mit denselben in unmittelbarem Zusammenhang steht. Im ersten Falle
ist der Uterus ein Blindsack mit langem Halse, dessen Form aus den Ab-
bildungen von ©. Schmidt und M. Schultze zu ersehen ist (Z. Z. XI.
Taf. IV m und u). Das blinde Ende stellt eine kolbige Anschwellung dar.
Taf. XX, Fig. 59 Ut gibt einen Querschnitt vom Halse des Uterus wieder
und zeigt das hohe Cylinderepithel, das den Gang auskleidet und mit dem
Epithel des Antrums und der Endanschwellung des Uterus continuirlich
ist, obwohl seine bedeutende Höhe ihm ein anderes Aussehen leiht. Am
kolbigen Ende des Uterus bildet der dünne Muskelbeleg ein Fasergeflecht
von ähnlicher Anordnung, wie am Penisbeutel; am Halse dagegen sind die
Muskeln deutlich in eine innere Ringschicht und äussere Längsschicht ge-
schieden, wie am Antrum.
Wenn die Eileiter nicht in das Antrum, sondern unmittelbar in den
Uterus einmünden, so ist dieser ein von einem flimmernden Cylinderepithel
ausgekleideter Raum, der von einer inneren Ring- und äusseren Längsmus-
kelschicht umgeben ist. Beide Schichten sind die Fortsetzungen der gleich-
namigen Schichten des Antrums (s. oben). Er zeigt bei den einzelnen
Arten grosse Verschiedenheiten in der Form. Bei Stylochus sp? aus
Triest ist er inwendig wellenförmig gefaltet. Bei Mesodiscus geht von
dem Vorraum (ef. Taf. XIX, Fig. 47 Ut) aus ein Canal, welcher, gerade
emporsteigend, in einen erweiterten Raum führt. In diesen Raum münden
seitlich die beiden Eileiter. Bei den Landplanarien steigt der drehrunde
Uterus von der Geschlechtsöffnung senkrecht empor, biegt dann nach einer
kurzen Strecke rechtwinkeligs nach vorn um und nimmt beide Oviducte
auf (Moseley, Landplanarians, p. 140). Bei Leptoplana alecinoi
442 MINOT: Studien an Turbellarien.
(0. Schmidt, Z. Z. XI p. 8) ist der untere Theil des Uterusganges mehr-
fach geschlängelt und ausgebuchtet, der obere Theil aber stark erweitert;
die Ausführungsgänge münden in das obere Ende des geschlängelten Theiles ;
von der Erweiterung aus geht ein langer enger Gang, der in einer musku-
lösen Anschwellung blind endigt; letztgenannten Theil nennt Schmidt
Samenhälter. Eine Erweiterung des oberen Theiles des Uterus kommt bei
vielen Seeformen vor (cf. Quatrefages, Planaries, und Schmidt, Lepto-
plana tremellaris, Z. Z. XI Pl. I, Fig. 5 k) und erinnert an die ge-
stielte Form des Uterus bei den Süsswasserplanarien. Abweichend ist das
Verhältniss bei Gunda lobata (Oskar Schmidt, Z. Z. XI. p. 17), indem
ein Theil des Uterus, dem Penis ähnlich, frei hängend in den Vorraum
hineinragt.
Bei Opisthoporus ist der Uterus ein langes Rohr, das als die un-
mittelbare Fortsetzung des beinahe senkrecht emporsteigenden Vorraums
erscheint ‚Taf. XVI, Fig. 1). Er verläuft sanft steigend bis an das basale
Ende des Penis, und wendet sich dann nach oben, um in den kleineren,
dorsalen, rückwärts laufenden Schenkel überzugehen. Dieser gibt einen
seitlichen Canal ab und endist hinten blind. Ein Querschnitt (Taf. XVI,
Fig. 1) durch den Vorraum zeist den Anfang des Uterus, und darüber lie-
gend den dorsalen Schenkel (Ut) desselben. Auf einem Querschnitt (Fig. 2)
durch die Oeffnung der Penisscheide (V) hat der Uterus (Ut), der allmälig
an Durchmesser gewinnt, seine grösste Weite erreicht; seine Wand ist inwendig
in Falten geworfen; die Zellen des auskleidenden Epithels sind hoch, ihre
freien Enden abgerundet, etwa wie in der Uteruserweiterung bei Dendro-
coelum; der dorsale Schenkel (Ut) hat seinen Durchmesser nicht ver-
ändert. Noch weiter nach vorn zu wird der Uterus kleiner, der Schenkel
grösser, bis beide von beinahe gleichem Durchmesser werden. An einer
Stelle geht ein Canal seitlich vom Schenkel ab, ich habe ihn nicht genauer
untersucht. Ein Schnitt (Fig. 3) durch die Umbiegungsstelle zeigt, wie die
beiden Uterusschenkel in einander übergehen.
Es ist noch nicht bekannt, ob der Uterus bei den Formen, wo er die
beiden Eileiter aufnimmt, morphologisch identisch sei oder nicht mit dem
sogenannten Uterus bei den Formen, wo der so bezeichnete Theil in keinem
unmittelbaren Zusammenhange mit den Eileitern steht; z.B. Dendrocoe-
lum. Die morphologische Gleichheit derselben dürfte vielleicht demonstrir-
bar sein, weil die Thatsache, dass die Eileiter bisweilen nicht in den oberen,
sondern mittleren Theil des Uterus einmünden, es möglich macht, dass die
Mündung bei einigen Formen bis in den Vorraum gerückt sein könnte, und
damit würde die Trennung des Uterus von den Eileitern erklärt sein.
Eifutterstöcke. Max Schultze (Skizzen, Z. Z. IV. p. 186) fand die
MINOT: Studien an Turbellarien. 443
sog. Dotterstöcke, für die ich die neue Bezeichnung Eifutterstöcke ein-
führen möchte, getrennt von den Keimstöcken. Er sagt 1. c.: „Die Dotter-
masse findet sich in zwei dendritisch verzweigten Schläuchen im Körper
vertheilt“; wie Siebold!) auch angibt. Schultze (Würzb. Verhandl.,
1853, p. 222) berichtigte diese Angabe einige Monate später dahin, dass
bei Thysanozoon und Polycelis (Quatrefages) die Dotterstöcke von
den Keimstöcken nicht getrennt seien. Keferstein erwähnt die Futter-
stöcke überhaupt nicht. Moseley hat sie nicht finden können. Die bei-
den letztgenannten Verfasser haben, wie schon oben erwähnt, im Körper-
parenchym zerstreute Drüsenzellen gefunden. Es ist mir wahrscheinlich
geworden, dass Beide die Eifutterstöcke verkannt haben, weil ihre Be-
schreibungen der Drüsen genau auf die betreffenden Eifutterstöcke passen,
wie sie mir auf meinen Schnitten anderer Arten entgegengetreten sind.
Oskar Schmidt (Dendrocoelum, Gratz, p. 28) bestätigte die späteren
Angaben von Schultze, behauptete aber später, dass die Futterstöcke den
Planarien mit zwei Geschlechtsöffnungen abgingen. Van Beneden (Com-
position de l’Oeuf, p. 66) sagt von seinen eigenen Beobachtungen: „Zilles
confirment en tous points celles de mes devanciers“. Er erwähnt aber
nur die Angabe von Max Schultze, dass der Dotterstock von den Ovarien
bei den Seeplanarien nicht getrennt sei, und eitirt Keferstein, der keinen
Futterstock fand; daher ist zu schliessen, dass er auch keine Dotterstöcke
gesehen hat. Moseley (Landplanarians p. 137) fand bei Bipalium
neben dem Eierstock eine kleine zellige Masse, wovon er meint: „22 may
represent a yolk gland ın a rudimentary condition.‘ Er hat sie bei
einigen Exemplaren nur undeutlich, bei anderen gar nicht gefunden. Die
einzige Erklärung dieses Gebildes, die ich darbieten kann, ist die Ver-
muthung, dass Moseley eine Anhangsdrüse des weiblichen Apparates vor
sich gehabt habe.
Bei Opisthoporus dehnen sich die Futterstöcke von der Gegend des
Gehirns bis über die Geschlechtsöffnungen hinaus. Auf einem Querschnitt
sieht man, dass sie auf die Umgebung des Magens beschränkt sind, und in
den seitlichen Theilen des Körpers fehlen (Taf. XVII, Fig. 14. Man kann
die zerstreuten Theile des Dotterstockes erkennen, da sie dunkel gezeichnet
sind). Sie bestehen aus Zellen, die nicht einen zusammenhängenden Haufen
bilden, wie bei den Cestoden und Trematoden, sondern mehr oder
weniger durch Parenchymgewebe und Muskeln ‚aus einander gehalten werden
(Taf. XIX, Fig. 48). Das gewonnene Bild ist also genau das, das man be-
kommen muss, wenn die Futterstöcke wirklich in der von Schultze
!) Handbuch der vergleichenden Anatomie, 2. Aufl., Bd. I.
AA4 MINOT: Studien an Turbellarien.
gefundenen Weise verzweigt sind. Die einzelnen Zellen sind gross und
lassen nur selten den Kern deutlich erkennen. Einige Zellen haben einen sehr
feinkörnigen, die meisten aber einen grobkörnigen Inhalt. In diesem Falle,
ist der Zellenleib viel dunkler gefärbt als in jenem. Die einzelnen Körner
sind stark lichtbrechend. Zwischen den fein- und grobkörnigen Zellen findet
man Zwischenstufen; vermuthlich hat man es mit verschiedenen Ent-
wickelungsstadien zu thun. i
Bei Mesodiscus sind die Verhältnisse denen bei Opisthoporus
sanz ähnlich; da aber die Gallertdrüse auch verzweigt und auch dunkel
gefärbt ist, so ist die Unterscheidung der beiden Drüsen auf Querschnitten,
wo sie durch einander zerstreut sind, sehr schwierig. Auch bei Planaria
lugubris und Dendrocoelum lacteum haben die Eifutterstöcke un-
sefähr dieselbe Verbreitung und dasselbe Aussehen wie bei Opisthoporus.
Aus Obigem geht hervor, dass man bei mehreren Formen die Eifutter-
stöcke übersehen hat, und damit wird die Berechtigung geliefert, ihre all-
gemeine Anwesenheit anzunehmen. Immerhin bleiben unsere Kenntnisse
äusserst mangelhaft. Nach der Analogie mit den übrigen Plathelminthen
ist die Entdeckung zu erwarten, dass einzelne Eifutterzellen sich ablösen,
und dass mehrere eine (bisweilen mehrere) Eizellen umgeben. In der That
enthalten die sogenannten Eier der Planarien Futterzellen um eine Eizelle
angeordnet, eine Thatsache, die ich bisher nirgendwo erwähnt gefunden habe.
Einahrungsgänge (Dotterstockgänge). Diese Bestandtheile des
weiblichen Apparates finden bei Max Schultze (Zool. Skizz.) Erwähnung,
sonst aber nirgendwo. Moseley beschreibt Verzweigungen der Oviducte,
die mit den Ovarien in keiner unmittelbaren Beziehung stehen; er hat viel-
leicht die Einahrungsgänge gesehen, aber nicht erkannt, weil er den
Nahrungsstock nicht unterschied. Bei diesem Mangel an Beobachtungen
ist es unmöglich, auch nur zu vermuthen, wo die Produkte der Einahrungs-
stöcke mit den Eizellen zusammentreffen. Max Schultze (Zool. Skizz.)
sagt nur, dass die Gänge der beiden „‚Dotterstöcke‘‘ in den Uterus führen,
wo die „‚Dottermasse mit einer Anzahl von Eikeimen sich vereinigt und von
der Eischale umgeben wird‘. Es bleibt aber unklar, ob ‚Uterus‘ bei ihm
den Theil bedeutet, den ich als Uterus bezeichnet habe.
Ich habe leider keine eigenen Beobachtungen mitzutheilen. Aus obigen
dürftigen Angaben erklärt sich der fast völlige Mangel an befriedigenden
Aufschlüssen über die Nahrungsstöcke und Gänge, wie über die Eibildung
bei unseren Thieren.
Eier. Ich mache hier noch einmal darauf aufmerksam, dass die so-
genannten Eier eine harte, meist dunkelgefärbte ‘Schale haben und eine
oder mehrere Eizellen, und aller Wahrscheinlichkeit nach, auch mehrere
|
MINOT: Studien an Turbellarien. 445
Nahrungszellen enthalten. Sie entsprechen also nicht den einfachen Eiern
der meisten Thiere, sondern genau denen der Cestoden und anderer Platt-
würmer !).
Von einem Unterschied zwischen den Sommer- und Wintereiern, ent-
sprechend dem, welchen Schneider für die Rhabdocoelen (Plathelm.
p. 37 ft. behauptet, ist nichts bekannt.
Gallertdrüse. Bei einigen Formen (Mesodiscus und nach Kefer-
stein, Seeplanar. p. 27 bei Leptoplana tremellaris, Eurylepta
argus und cornuta) ist eine grosse Drüse bekannt, welche um die weib-
liche Geschlechtsöffnung herum liegt, und wahrscheinlich die gallertige Um-
hüllung der gelesten Eier liefert. Sie besteht aus langen verzweigten
Fäden mit feinkörnigem Inhalt. Bei Mesodiscus ist die Drüse sehr
sross. Taf. XIX, Fig. 39 Gdr. Sie reicht von dicht vor dem männlichen
Antrum bis weit über den Saugnapf nach vorne hinaus. Bei der ver-
suchten Durchfärbung des ganzen Thieres drang Carmin nicht weit in die
Drüse ein. So weit sie aber reichte, war die Färbung so intensiv, dass
ich keine Structur unterscheiden konnte; man vergleiche Taf. XVIII,
Fig. 36, Gdr. In dem centralen ungefärbten Theil glaubte ich hin und
wieder runde Zellen mit centralem Kern zu sehen.
Gehirn. Nach den übereinstimmenden Angaben fast sämmtlicher
Forscher, die sich mit den Pharyngocoelen beschäftigt haben, besteht
es aus einem, im vorderen Körpertheile gelegenen Ganglion, von welchem
aus Nerven nach verschiedenen Seiten, aber vorzüglich sehr starke Nerven-
stämme nach hinten ausgehen. Bei den Landplanarien hat Moseley-
(Landplan. p. 143) keine Ganglienzellen und nur undeutliche Fasern in dem
von früheren Verfassern ‚Gehirn‘ genannten Theile ausfindig machen können.
Bei Dendrocoelum lacteum und Planaria lugubris habe ich in
meinen Schnittreihen vergebens nach unverkennbaren nervösen Elementen
gesucht. An der Stelle des Gehirnes habe ich nur eine wenig gefärbte
körnelige, kaum faserig zu nennende Masse gefunden, die bei Dendrocoe-
lum einen viel grösseren Raum einnahm, als bei Planaria. Die Masse
bildet zwei seitliche Anhäufungen, die durch einen engeren Theil mit ein-
ander verbunden sind. Von abgehenden Strängen habe ich nichts ent-
decken können. Diese Befunde entsprechen Moseley’s Beschreibungen von
den Landplanarien. Somit ist man berechtigt anzunehmen, dass das Ge-
2) Die Eier der Süsswasserplanarien können kleine Formveränderungen zu
Stande bringen. Man vergl. Taf. XX, Fig. 54 A, erste Form eines Eies von Pla-
naria lugubris und 54 B, zweite Form desselben Eies, acht Minuten später.
Sind diese Bewegungen amöboide ?
446 MINOT: Studien an Turbellarien.
hirn, wenn das eben besprochene Gebilde überhaupt nervöser Natur ist, bei
den Monogonoporen keine höhere Entwickelung erlangt.
Bei den genauer untersuchten Digonoporen tritt uns das centrale
Organ des Nervensystems in unzweideutiger Gestalt entgegen. Folgende Be-
schreibung bezieht sich auf Leptoplanatremellaris (cf. Keferstein,
Seeplanar. St. Molo, p. 22 ff. und Moseley, Landplan. p. 143), Meso-
discus und Opisthoporus. Das Gehirn liegt in einer Parenchymkapsel,
die wie sonst von einer sich dunkel färbenden Parenchymschicht begrenzt
wird (Taf. XVIII, Fig. 24 und 25). Es besteht aus einer centralen Faser-
masse, in welcher die einzelnen Fasern Züge von unbekannter Anordnung
bilden. Einzelne Züge treten aus dem Gehirn durch die Kapsel heraus und
stellen die Anfänge der Nerven dar. Im peripherischen Theile des Ge-
hirnes (ef. Taf. XVII, Fig. 20) liegen grosse und kleine Ganglienzellen, welche
eine birnförmige Gestalt zu haben scheinen. Der Kern der grossen Zellen
ist blass, scharf contourirt, mit einem sehr deutlichen dunklen kleinen
eccentrischen Kernkörperchen; der Kern der kleinen Zellen dagegen ist
sranulirt mit helleren Räumen zwischen den nicht zahlreichen Körnern; ich
habe in ihm kein Nucleeolus gesehen. Ueber den Verlauf der Nerven habe
ich fast nichts zu sagen, muss aber erwähnen, dass zwei stärke nach hinten
verlaufende Nervenstämme für viele Digonoporen angegeben worden sind.
Ich habe lange, aber vergebens nach ihnen bei den von mir untersuchten
Arten gesucht. Nach Besprechung der Balkenstränge werde ich hierauf
zurückkommen.
Das Gehirn ist gewöhnlich mit zwei mehr oder minder weit nach
hinten ragenden Lappen versehen, wie aus der Betrachtung zweier, Quer-
schnitte verschiedener Höhe hervorgeht (Taf. XVIII, Fig. 24 und 25). Oskar
Schmidt (Dendrocoel. Gratz.) „‚glaubte‘‘ einige Male eine doppelte, einen
Darmsack umschliessende Commissur zu sehen. Von vorn herein möchte
ich die Richtigkeit dieser Beobachtung bezweifeln.
Sinnesorgane. Max Schultze fasst die Stäbchen als Sinnesorgane
auf (siehe oben). Keferstein (Seeplan. Malo, p. 24) und Ulianin ver-
muthen die Existenz von Tasthaaren. Man hat ferner dem vorderen Körper-
ende ein besonderes Tastvermögen zuschreiben wollen. Otolithen sind bei
Dendrocoelen unbekannt, scheinen aber bei vielen Rhabdocoelen
vorzukommen. Wimpergruben sind ebenfalls nur bei Rhabdocoelen be-
kannt; ob sie aber überhaupt zu den Sinneswerkzeugen zu rechnen sind,
muss vorläufig dahingestellt bleiben. Ausgedehnte Untersuchungen in diesem
Capitel würden wahrscheinlich reichlich belohnt werden.
Keferstein (Seeplanarien, Malo) spricht von zwei Körnerhaufen,
welche bei Leptoplana tremellaris dicht vor dem Gehirn liegen.
MINOT: Studien an Turbellarien. 447
Aehnliche Gebilde habe ich bei Opisthoporus gefunden; ein Querschnitt
eines solchen ist Taf. XVII, Fig. 23 abgebildet. Die Körner sind gross,
meistens vierseitig, aber abgerundet und schwach röthlich. Der Haufen ist
unregelmässig mit einem Hohlraum, in den Fasern, vom Gehirn stammend,
hineinlaufen. Ueber die Natur dieser Gebilde wage ich keinen Ausspruch
zu thun.
Augen. Es liegen an der Rückenfläche des vorderen Endes kleine
Pigmentbecher, deren offene Enden nach oben gerichtet sind, Taf. XVII,
Fig. 21. Diese Pigmentbecher sind bei den Digonoporen gewöhnlich
ziemlich zahlreich, und sind in Gruppen angeordnet, die von systematischer
Wichtigkeit sind. Bisweilen sind sie weniger zahlreich (z. B. Diplonchus,
Cephalolepta) oder fehlen ganz (Typhlolepta). Einige Monogono-
poren haben zahlreiche Augen, die meisten dagegen nur ein Augenpaar.
Wenn die Becher zahlreich sind, so findet man häufig grosse und kleine
(z. B. Leptoplana, Prosthiostomum, Mesodiscus).
Unsere Becher liegen unter der Körperwand, treten bisweilen in die
Muskulatur ein, doch wie es scheint, nie an oder durch die Epidermis. Sie
sind wahrscheinlich Augen. Bei Planaria haben sie eine flache Gestalt,
bei den Digonoporen dagegen haben sie die Form von langgezogenen,
an beiden Enden abgerundeten Cylindern (Fig. 21 Oe.), deren jeder von einer
einzigen Lage dicht beisammen liegender Pigmentkörner umgrenzt ist (Taf.
XVII, Fig. 22). Die Körner sind denen, welche die Pigmentirung des Rückens
bedingen, vollkommen ähnlich (cf. oben Pigment). Die Pigmentschicht
lässt das obere Ende des Bechers offen; man sieht somit, wenn man das
Thier von oben betrachtet, in die Augen hinein, und der helle Inhalt setzt
sich gegen das Pigment ab, und das Aussehen widerlegt die Angabe mehrerer
Forscher, dass die Augen mit einer Linse, d. h. einem lichtbrechenden
Körper versehen seien. Keferstein aber beschreibt (Seeplanar. p. 25)
eine besondere, aus Zellen bestehende Linse. Der ganze Inhalt der Becher
ist, soweit meine Präparate reichen, eine helle Substanz, in der ich keine
Structur erkannt habe. Von einer wirklichen Linse habe ich gar keine
Spur gesehen. Nach Mecznikoff soll bei Geodesmus der Augenbecher
von sechseckigen Pigmentzellen umgeben sein, und ferner soll dieselbe Art
Augen mit Linsen, die aus Stäbchenkörpern bestehen, haben.
Keferstein (Seeplan. p. 24), Moseley (Landplan. p. 145),
Schmidt (Dendrocoel. Gratz. p. 27) und Graaf wollen Nerven beobachtet
haben, die mit den Augen in Verbindung stehen. Sie sagen aber nichts
über die Histologie oder den Ursprung der betreffenden Fasern; wir sind
daher auch nicht gezwungen, diese Angaben ohne Weiteres anzunehmen.
Balkenstränge. Ich komme jetzt zur Besprechung einer Structur, die
AA MINOT: Studien an 'Turbellarien.
eine weite, vielleicht allgemeine Verbreitung unter den Plathelminthen hat.
Sommer und Landois (Z.Z. XXIL, p. 49) fanden bei Botriocepha-
lus latus seitliche Stränge, die den Körper der Länge nach durchziehen
und auf dem Querschnitt einen spongiösen Bau zeigen, d. h. sie sind aus
feinen Balken und Blättchen zusammengesetzt. Die Verfasser hielten diese
Stränge für die Wassergefässe, die sie bei den reifen Proglottiden sonst
nicht finden konnten. Salensky (Z. Z. XXIV) fand bald nachher
ähnliche Stränge bei Amphilina, die er auch für Wassergefässe er-
klärte, indem er sich auf Sommer und Landois stützte und gleichfalls
eigentliche Wassergefässe vermisste. Um ungefähr dieselbe Zeit erschien
die Abhandlung von Moseley, der ebenfalls (Landplan. p. 132) die
Balkenstränge und keine Wassergefässe bei den Landplanarien, Dendro-
coelum und Leptoplana fand. Gleich Salensky schloss er sich der
Sommer’schen Auffassung an. Nitsche (Z. Z. XXIII, p. 195) wies
dann aber nach, dass diese Organe bei Taenia neben dem wirklichen
Wassergefässe vorkommen und stellte die Vermuthung auf, dass man es mit
besonderen, allen Forschern bisher entgangenen Organen zu thun habe.
Dieser Ansicht muss ich vollkommen beipflichten. Moseley baute auf
Grundlage dieser Entdeckungen vor der Publication der Nitsche’schen Ab-
handlung eine weitgehende und geistreiche Hypothese der Entstehung der
Vasculärräume überhaupt, durch allmälige Durchlöcherung und Aushöhlung
des Parenchyms auf.
Ich habe die Befunde Nitsche’s und Moseley’s bestätigen können. Bei
Taenia wird das Bild auf Querschnitten oft dadurch undeutlich gemacht,
dass zwischen den Balken eine feinkörnige Masse (geronnene Flüssigkeit ?)
vorkommt; häufig aber ist das nicht der Fall. Auf guten Präparaten kann
man leicht ersehen, dass die Balken der Stränge in die Verästelungen der
Körperparenchymzellen übergehen. Bei Dendrocoelum kann kein Zweifel
darüber aufkommen, dass die Stränge von Parenchymzellen gebildet werden,
die sich von denen des gewöhnlichen Parenchyms nur dadurch unterscheiden,
dass sie mit anderen histiologischen Elementen nicht untermischt sind. Bei
Opisthoporus (Taf. XVII, Fig. 14) und Mesodiscus durchziehen die
zwei Stränge den ganzen Körper. und geben Aeste ab, die bis zu den seit-
lichen Rändern des Körpers verlaufen. Das ganze System ist auf die ven-
trale Hälfte des Körpers beschränkt und wird an vielen Stellen von Muskeln
durchsetzt, so dass man auf dem Querschnitt häufig mehrere kleinere
Stämme, die auf jeder Seite beisammenliegen, statt zweier grosser Stämme
vor sich hat. Das von den Balken gebildete Maschenwerk ist ausserordent-
lich fein. Ich habe mich nicht vergewissern können, ob die Balken mit
denen des Parenchyms zusammenfliessen. Ferner habe ich keine Kerne in
MINOT: Studien an Turbellarien. 449
den Strängen gesehen. Durch die Vergleichung von Quer- und Längs-
schnitten ersieht man, dass die Zwischenräume in der Richtung der Längs-
achse der Stränge ausgezogen sind. Bei Caryophyllaeus mutabilis
liegen ausserhalb der Wassergefässe, also an der Stelle, wo bei Taenia die
Balkenstränge vorkommen, zwei Räume, in welchen das Parenchymgewebe
ziemlich oder ganz frei von anderen Elementen ist. Man könnte also
meinen, dass man es bei diesem Bandwurm mit der ersten Andeutung der
Balkenstränge zu thun hätte.
Aus den obigen Mittheilungen darf man wohl schliessen, dass die Ent-
stehung der betreffenden Organe durch eine eigenthümliche Umwandlung des
Körperparenchyms an beschränkten Stellen gedacht werden muss. Die Be-
deutung der Stränge bleibt aber noch räthselhatft.
Nach Moseley sollen vom Gehirn Fasern in diese Stränge übergehen
und bald unkenntlich werden. Man darf aber mit ziemlicher Bestimmtheit
behaupten, dass die zwei nach hinten gehenden Nervenstämme, die so viel-
fach erwähnt worden sind, weiter nichts als die Balkenstränge sind, weil:
1) diese bei allen genau untersuchten Arten ohne Ausnahme die Stellen, die
sonst die Nerven einnehmen sollen, ausfüllen, und 2) weder Moseley,
noch Keferstein noch ich auf unseren Querschnitten die geringste Spur
von zwei nervösen Längssträngen gesehen haben. Dieser Schluss nimmt
eine bedeutende Stütze der Gegenbaur’schen Auffassung der Entstehung
der Bauchganglienkette der höheren Würmer weg. Hiervon im dritten
Abschnitt.
Wassergefässe. Viele Forscher beschreiben ein Wassergefässsystem ;
Max Schultze äussert sich in seiner vorläufigen Mittheilung (Zool. Skizz.
p. 187), betreffend die Süsswasserplanarien mit grosser Bestimmtheit dahin,
dass diese Würmer zwei leicht erkennbare, mit Wimperlappen versehene
Hauptstämme haben, die hinten eine nicht contractile Erweiterung bilden,
die nach aussen mündet. Dieses haben spätere Beobachter (Claparede,
Schmidt, Keferstein, Moseley) nicht bestätigen können. Ich habe
lange, aber vergebens danach gesucht. Da diejenigen, die sich mit dieser
Frage abgegeben haben, entweder Gefässstämme und keine Nervenstämme,
oder Nervenstämme und keine Gefässstämme beschreiben, so wird es wahr-
scheinlich, dass längere Stränge bald für Nerven, bald für Gefässe ge-
halten worden sind. Da nun die einzigen Stränge, die eine sorgfältige
Untersuchung entdeckt, die Balkenstränge sind, so können wir die Ver-
muthung nicht abweisen, dass die Balkenstränge allein vorkommen, und dass
die Wassergefässe in Wirklichkeit nicht existiren. Ich muss indessen her-
vorheben, dass die Wimperläppchen, die Viele in den Wassergefässen
beobachtet haben, durch diese Hypothese nicht erklärt werden. Die be-
450 MINOT: Studien an Turbellarien.
hauptete Mündung nach aussen könnte auf einer optischen Täuschung be-
ruhen. Hoffentlich werden weitere Untersuchungen das Dunkel dieser
Fragen bald erhellen }).
Querschnitt von Opisthoporus. Um späteren Forschern den Weg zu
erleichtern, will ich an dieser Stelle eine kurze Beschreibung eines Quer-
schnittes aus der Mitte des Körpers von Opisthoporus einschalten. Die Ab-
bildung eines solchen ist in Fig. 14, Taf. XVII. Der Schnitt hat die allgemeine
Form einer Spindel von unregelmässiger Gestalt; durch die Pigmentschicht
Ps kann man die Rückenseite von der Bauchseite leicht unterscheiden. Die
einschichtige Epidermis fehlt gewöhnlich an vielen Stellen, häufig überhaupt.
Die dicke dunkelgefärbte Basementmembrane umzieht den ganzen Schnitt,
die Begrenzung bildend an den Stellen, wo die Epidermis abgefallen ist.
Auf der Rückenseite unterscheidet man zwei Muskelschichten, eine dicke
äussere Längs- und eine innere Querschicht; auf der Bauchseite drei
Schichten, wovon die mittlere aus Querfasern besteht, die beiden anderen
aus Längsmuskeln. In der Mitte des Schnittes hängt ein grosser Pfropf
Pr (Rüssel) in einem grossen Lumen, der durchschnittenen Scheide herab.
Oberhalb desselben liegt der kreisrunde Magen Mg bei dieser Form sehr
klein. Rechts und links von diesen Organen und nicht sehr weit nach der
Seite reichend, liegen dunkel gefärbte körnelige Zellen, Bestandttheile des
„Dotterstockes‘ N. St. Mehr seitlich liegen dorsalwärts die Eierstöcke
Ov, die durch die auffallenden Eier, mit stark lichtbrechenden Keim-
- bläschen deutlich bezeichnet sind, und ventralwärts die Hoden Te, die
grösser als die Ovarien sind. Zwischen dem Rüssel und den Geschlechts-
drüsen liegen die Vasa deferentia v. d. mit Spermatozoen gefüllt. An ver-
schiedenen Stellen unter den anderen Organen sieht man die durchschnittenen
Darmzweige, die durch ihre eigenthümliche Auskleidung und ihren Hohl-
raum leicht zu erkennen sind. Endlich bemerkt man rechts und links vom
Rüssel, gleich oberhalb der ventralen Muskulatur helle Räume B. str, die
lange übersehenen Balkenstränge.
Schnitte aus anderen Theilen des Körpers oder von anderen Arten
zeigen manche Verschiedenheiten in den einzelnen Theilen, doch bleibt die
allgemeine Anordnung, soweit meine eigenen Beobachtungen reichen, in allen
Fällen wesentlich dieselbe.
!) Wenn man eine Planaria zerquetschi, sieht man zahlreiche blasse Zellen
(Taf. XIX, Fig. 49). Sind diese vielleicht Blutscheiben, etwa den Lymphkörperchen
der höheren Würmer vergleichbar? und haben wir ein Kreislaufsystem noch kennen
zu lernen ?
MINOT: Studien an Turbellarien. 451
II. Untersuchte Arten,
. Mesostomum.
. Planaria lugubris (0. Schmidt).
. Planaria nigra.
Leptoplana tremellaris (Keferstein).
Stylochus? sp. aus Triest.
6. Mesodiscus inversiporus nov. gen. et sp. Von dieser Art habe
ich zwei Exemplare aus Triest erhalten. Sie ist jedenfalls mit der Gattung
Prosthiostomum (Ulianin) sehr nahe verwandt, es scheint mir aber zweck-
mässig, sie vorläufig zu trennen. Das Thier misst etwa 16 mm. der Länge,
3 mm. der Breite nach. Es ist nur schwach pigmentirt. Die kleinen
Augen bilden einen Halbkreis am vorderen Rande des Kopfes; die grösseren
zwei etwas unregelmässigen Gruppen über und vor dem Gehirn, welches
gross und mit zwei Lappen versehen ist. Der Mund liegt vorn (Fig. 1M.),
durch ihn gelangt man in ein Rohr, welches zu dem Magen führt. Dieser
ist sehr gross, dehnt sich weit nach hinten aus und schickt einen engen
Ast nach vorn und gibt Seitentaschen ab. In der Mitte der Bauchseite
liest der Saugnapf und dicht hinter ihm, zuerst die weibliche, dann die
männliche Geschlechtsöffnung, also nach umgekehrter Reihenfolge, wie bei
den gewöhnlichen Dendrocoelen. Die Hoden und Eierstöcke stellen zahl-
reiche Bläschen dar, diese liegen in der dorsalen, jene in der ventralen
Hälfte des Körpers. Der weibliche Vorraum ist klein, in seiner Nähe liegt
eine grosse Gallertdrüse. Der Uterus steigt vom Vorraum gerade durch
diese Drüse empor und endigt mit einer Erweiterung, von welcher aus
Gänge nach rechts und links abgehen. Die Einahrungsstöcke sind sehr ent-
wickelt. Das männliche Geschlechtsantrum ist gross und steigt schräg
nach hinten. Der Penis ist klein, conisch und hat eine dieke Cuticula;
von ihm gehen drei Canäle aus, wovon der mittlere grössere in einen mus-
kulösen Sack führt, in welchen die Samenleiter münden. Die zwei anderen
Gänge führen ebenfalls in muskulöse Erweiterungen, welche den Schmidt’schen
Nebensamenblasen bei Prosthiostomum ähnlich sind. Die Hautmuskulatur
bildet auf der Bauchseite eine äussere Quer- und eine innere Längsschicht,
auf der Rückenseite dagegen eine äussere Längs-, mittlere Quer- und innere
Längsschicht.
7. Opisthoporus tergestinus Nov. gen. et«sp. Ich habe mehrere
Exemplare aus Triest erhalten. Die Form ist mit Leptoplana eng ver-
wandt. Das Thier ist 13—14 mm. lang und etwa 3 mm. breit und auf
dem Rücken ziemlich stark pigmentirt, aber ohne besondere Zeichnungen.
Die Augen liegen über dem Gehirn und bilden zwei seitliche, langgezogene
po mD m
453 MINOT: Studien an Turbellarien.
Gruppen; die kleineren Augen meist vorn, die grösseren hinten; eine ähn-
liche Anordnung derselben ist bei Leptoplana bekannt. Das Gehirn ist
gross und zweilappig. Vor ihm liegen zwei eigenthümliche, unregelmässige
Haufen von röthlichen Körnern. Der Mund ist vermuthlich in der Mitte
des Körpers gelegen. Der Magen ist ein langes, verhältnissmässig enges,
annähernd cylindrisches Rohr. Der Rüssel ist ungeheuer gross, und stark
sefaltet und liegt in der riesigen Rüsseltasche. Die beiden Geschlechts-
öffnungen liegen weit nach hinten, ziemlich nah an einander, die männliche
vor der weiblichen. Die Hoden und Eierstöcke stellen zahlreiche Bläschen
dar, die Eierstöcke liegen dorsal-, die Hoden ventralwärts. Der Uterus ist
blos die Fortsetzung des Antrums, erreicht aber eine bedeutende Grösse.
Er verläuft sanft steigend nach vorn, biegt um, wird kleiner und verläuft
nach hinten. Die Ernährungsstöcke sind verzweigt und durch den ganzen
Körper vertheilt. Das männliche Antrum führt direkt in die lange Penis-
scheide, der Penis ist beinahe cylindrisch, und zeigt nach hinten. In dem
Penisbeutel kommen sechs eigenthümliche lange Drüsenschläuche vor. Der
vordere Theil des Beutels verjüngt sich allmälig, biegt nach unten und
hinten um, und geht nach kurzem Verlaufe in die Samenleiter über. Die
Hautmuskulatur bildet auf der Bauchseite eine äussere Längs-, mittlere
Quer- und innere Längsschicht; auf der Rückenseite eine äussere dicke
Längsschicht und innere Querschicht.
8. Distomum hepaticum.
9. Distomum cerassicolle.
10. Distomum cygnoides.
11. Polystomum integerrimum.
12. Caryophyliaeus mutabilis.
13. Ligula sp.?
14. Triaenophorus.
15. Botriocephalus latus.
16. Taenia mediocannellata.
17. Taemia solium.
18. Taenia serrata.
19. Taenia (2 sp. von Cenchris piseivorus).
20. Valencinia ornata.
21. Pohia sp.? von Triest.
III. Allgemeiner Abschnitt.
Es erübrigt uns noch zu untersuchen, in wie weit die vorhergehende
Schilderung der Anatomie für die Bestimmung der Verwandtschaftsverhält-
MINOT: Studien an Turbellarien. 453
nisse der Dendrocoelen zu verwerthen ist. Ich hoffe darthun zu können,
dass eine zum Theil neue Classification der Plattwürmer nöthig geworden ist.
1. Es ist zuerst zu bemerken, dass die „Planarien‘ durchaus nicht
so niedrig stehen, wie man bisher anzunehmen gewöhnt war, weil man ihren
complieirten Bau nicht erkannte. Die frühere Ansicht hatte sich so ein-
gebürgert, dass man sie noch nicht ganz hat beseitigen können. Sogar
Moseley spricht ohne Bedenken von einer protoplasmatischen Grundsubstanz.
Man kannte früher die hohe histologische Difierenzirung nicht. Aber Schritt
für Schritt gelangte man zur Ueberzeugung, dass das ganze Thier aus ver-
schiedenartigen Zellen bestehe. Ehrenberg dachte sich die Planarien aus
Plasma bestehend. Später erkannte man einen Darm, Eizellen ete., Max
Schultze erkannte viele andere histiologische Elemente, Graaf wies die
Zellen der Epidermis nach, und ich habe diese Fortschritte constatiren
können. Schon dies wäre genügend, um die Planarien aus ihrer nied-
rigen Stellung im Systeme zu heben, aber auch ihre Organe sind complicirt
gebaut. Ich weise nur auf das Gehirn, die Augen und Geschlechtswerk-
zeuge hin. Die Betrachtung der letztgenannten entdeckt eine Verwickelung
des Baues, die es uns unmöglich macht, die Plattwürmer den niedrigsten
Würmern zuzugesellen. Dieser Schluss erscheint mir fast selbstverständlich,
daher will ich mich nicht länger damit beschäftigen.
2. Ehrenberg stellte in seinem Werk Symbolae Physicae die Gruppe
der Turbellarien auf. Man findet sie noch in fast allen Handbüchern
unserer Wissenschaft, eingetheilt in drei Ordnungen, Rhabdocoelen,
Dendrocoelen und Nemertinen. Wenn man aber die neueren Unter-
suchungen, die sich auf die sogenannten Turbellarien beziehen, berück-
sichtist, so überzeugt man sich bald, dass die Nemertinen mit den
beiden anderen Ordnungen durchaus in keiner nahen Verwandtschaft stehen.
Ich möchte, weitergehend, sogar behaupten, dass sie überhaupt nicht Platt-
würmer seien.
Um die Gründe dieser Trennung klar zu legen, will ich die verschie-
denen Organe der Nemertinen mit den entsprechenden Systemen der
Dendrocoelen, resp. Plattwürmer überhaupt vergleichen. Der Epider-
mis fehlen bei den Nemertinen die Stäbchen, welche für die anderen
Turbellarien charakteristisch sind. Die typische Anordnung der Muskulatur
ist für keine der drei Ordnungen bestimmt worden. Eine Vergleichung ist
daher kaum zulässig. Das Parenchymgewebe ist bei einer grossen Anzahl
von Würmern von ähnlicher Structur. Der Darmcanal bietet sehr grosse
Verschiedenheiten dar. Die Nemertinen haben keinen Rüssel am Munde,
der mit dem Darmcanal in Verbindung stünde. Der Name Rhyncho-
eoelen, der gegenwärtig vielfach gebraucht wird, sagt eine Unwahrheit und
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. IU. 31
454 MINOT: Studien an Turbellarien.
ist verwerflich. Für die Rhabdocoelen und Dendrocoelen dagegen
ist der Mundrüssel bezeichnend, und für diese beiden Ordnungen werde
ich den Namen Pharyngocoelen anwenden. Der sogenannte Rüssel der
Nemertinen ist ein ganz anderes Organ. Er liegt in einer besonderen
Scheide oberhalb des Darmes und kann nach aussen handschuhfingerartig
umgestülpt werden, und zwar nicht ganz, sondern nur so weit, dass die
Spitze des ausgestülpten Rüssels die Mitte des zurückgezogenen darstellt.
Damit diejenigen, die mit diesem Vorgang nicht vertraut sind, eine Vor-
stellung desselben sich bilden können, verweise ich auf die Abhandlung
von Mc. Intosh. Ueber die Function dieses merkwürdigen Organes liegen
nur Vermuthungen vor. Eben so wenig ist seine morphologische Bedeutung
bekannt. Wir kennen kein homologes Gebilde bei anderen Würmern, wenn
der Rüssel der Prostomeen nicht etwa ein solches ist. Professor Leuckart
hat zuerst auf diese Aehnlichkeit aufmerksam gemacht, und er sah darin eine
Stütze für die Verwandtschaft der Nemertinen und Pharyngocoelen.
Gegen diese Auffassung ist zuerst hervorzuheben, dass man Vergleichungen
zwischen zwei Organen bei verschiedenen Thieren, in Fällen, wie dieser,
wo die Morphologie weder des einen noch des anderen Organes bekannt ist,
nur dann anstellen darf, wenn die Zusammensetzung in beiden Fällen die-
selbe ist, und die Thiere mit einander ziemlich nahe verwandt sind. Nun
aber nähert sich Prostomum den Nemertinen nur durch den Besitz
eines vom Darmeanal unabhängigen Rüssels.. Und ferner entspricht der
Bau des Prostomumrüssels dem der Nemertinen auch nicht. Er be-
steht nicht aus zwei Abschnitten, einem vorderen umstülpbaren und einem
hinteren drüsigen, nicht umstülpbaren, sondern aus einem einzigen. Er
kann überhaupt nicht umgestülpt werden. Er sitzt an der Basis oder dem
hinteren Grunde seiner Scheide befestigt; der Nemertinenrüssel dagegen
haftet an dem vorderen Ende der Rüsselscheide, ist also eine Einstülpung
in dieselbe, während der Rüssel bei Prostomum eine Ausstülpung ist. Die
Anordnung der Muskelschichten ist in den beiden Fällen nicht dieselbe.
Nach diesen Betrachtungen scheint es mir voreilig, die zwei Formen des
Rüssels mit einander vergleichen zu wollen, obwohl die Aehnlichkeit freilich
auffallend genug ist, um eine eingehende Untersuchung anzuregen. Mit der
Betrachtung des Darmcanals fortfahrend, bemerke ich, dass die Nemer-
tinen mit einem After und einem histiologisch scharf differenzirten Oeso-
phagus versehen sind, während beide den Pharyngocoelen fehlen. Die
Geschlechtswerkzeuge der zwei Gruppen mit einander zu vergleichen, ist
schlechtweg unmöglich. Bei den Pharyngocoelen sind die einfachen
oder verzweigten männlichen und weiblichen Geschlechtsdrüsen mit sehr
verwickelten Ausführungsgängen und Begattungsorganen verbunden; die
MINOT: Studien an Turbellarien. 455
Nemertinen sind höchst selten Zwitter, ihre Geschlechtsdrüsen stellen
zahlreiche, in Paaren gereihte Säckchen dar, die zur Zeit der Geschlechts-
reife einfach bersten, und ihren Inhalt nach aussen entleeren. Die Nemer-
tinen haben weder Wassergefässe noch Balkenstränge, wohl aber ein ge-
schlossenes Blutgefässsystem, mit leicht kenntlichen muskulösen Wandungen.
Die Plathelminthen, wenn sie überhaupt ein kennbares Nervensystem
haben, besitzen nur ein einfaches Gehirn im vorderen Körpertheil, von
welchem aus mehr oder minder zahlreiche Nerven in verschiedenen Richtungen
ausstrahlen. Die Nemertinen haben einen Nervenring, von welchem
zwei mit Zellen belegte Faserstämme nach hinten auslaufen. Solche
Stämme fehlen den Plattwürmern, wie ich schon hervorgehoben habe, trotz-
dem schenkte man bis auf Moseley der Annahme ihres Vorkommens
Glauben. Die Plattwürmer sind nie gegliedert, aber verdienen ihren
Namen, indem sie in der Regel abgeplattet sind; die Proglottidenbildung
bei den Cestoden ist keine Segmentirung. Die Nemertinen sind
langgestreckt cylindrisch, und ihr Leib ist durch, sich in regelmässigen Ab-
ständen wiederholende Dissepimente in Abtheilungen gesondert, die eine be-
merkenswerthe Aehnlichkeit mit den Segmenten der Anneliden bieten.
Die sorgfältig durchgeführte Vergleichung zeigt uns, dass man "ie
Nemertinen mit den Pharyngocoelen nicht zusammenstellen kann. Da
. aber die übrigen Plattwürmer die grösste Uebereinstimmung in ihrem
Baue mit den Planarien zeigen, so muss man die Nemertinen aus der
Classe gänzlich entfernen, wenigstens bis man Uebergangsformen entdeckt.
Keferstein hat (niedere Seethiere) eine zwittrige Nemertine gefunden und
Max Schultze erwähnt eine Form, Sidonia elegans, unter den
Planarien, deren Ovarien und Hoden einfache „‚Säcke, wie bei Nemertinen“
sind. Er beschreibt die Art nicht genau, und es bleibt sehr möglich, dass
er entweder die Ausführungsgänge übersehen, oder nur unvollkommen ent-
wickelte Thiere untersucht hat. Man hat sich daran gewöhnt, die beiden
Formen, die ich eben erwähnt habe, für die gewünschten Uebergänge zu
halten, obwohl sie überhaupt viel zu oberflächlich untersucht worden sind,
um darauf eine Ansicht zu gründen, und auch keine wirkliche Ueberbrückung
der Kluft, die die Nemertinen von den Phayngocoelen scheidet
bewerkstelligen könnten, vorausgesetzt, dass die vorliegenden Angaben ihre
Richtigkeit haben. Ebenso verhält es sich mit Prorhynchus Schultze-
Ich halte es für überflüssig, die Gründe und Gegengründe noch ein-
gehender aus einander zu setzen, weil das schon Gesagte genügt, wie mir
scheint, die gänzliche Ausscheidung der Nemertinen zu rechtfertigen.
Wo sie hingehören, ist eine ganz andere Frage, womit ich mich an diesem
31*
456 MINOT: Studien an Turbellarien.
Orte nicht zu beschäftigen habe. Am meisten für sich hat die von Hu-
brecht vertheidigte Zusammenstellung mit den Anneliden.
3. Nach der Ausscheidung der Nemertinen stellen die zurückbleiben-
den Plattwürmer eine Anzahl Formen dar, die, die grösste bauliche Ueber-
einstimmung zeigend, mit einander sehr nahe verwandt sind. Nach den
vorliegenden Beobachtungen weichen die einzelnen Arten und Ordnungen
häufig sehr von einander ab. Erneute Untersuchungen, unternommen um
Vergleichungen anzustellen, ergeben das gehoffte Resultat. Die abweichen-
den Beobachtungen sind mangelhaft, die Homolosisirung der Theile lässt
sich durchführen.
Ich werde die einzelnen Organe systematisch durchnehmen, um die
Richtigkeit der vorigen Behauptung zu beweisen. Leuckart (Parasiten
p. 157) sagt: ,‚Dass die Körperoberfläche der Cestoden von einer Cuti-
cula bekleidet sei, die keinerlei Spuren einer elementaren Zusammensetzung
erkennen lässt“. Unter dieser Schicht liegt eine Zellenschicht, die man
nothgedrungen für die Matrix, resp. Epidermis erklärt, obwohl sie nicht so
aussieht. Alle spätere Forscher stimmen mit Leuckart im Wesentlichen
überein. Sommer und Landois etc. beschreiben Fasern in der soge-
nannten Cuticula. Ich habe aber an Taenia, Botriocephalus und
Caryophyllaeus eine Schicht, in welcher ich einige Male deutliche
Cylinderzellen gefunden habe, ausserhalb der sogenannten Outicula entdeckt.
Die Zellenschicht ist die wahre Epidermis, auf ihr liegt eine äusserst dünne
Cuticula, und die angebliche, faserige Cuticula auct. ist die Basilarmem-
bran. Letztgenannte ist in Wirklichkeit dünn, trotzdem dass man ihr
häufig eine beträchtliche, sogar oft eine ungeheure Dicke zuschreibt. Weil
aber die Cestoden ihre Nahrung durch die Körperoberfläche aufnehmen
müssen, und die Proglottiden, in Carmin gelegt, sich schnell und sicher
durchfärben lassen, so konnte ich mich mit den Angaben über diese dieke
„Cuticula‘‘ nicht befreunden und stellte ich in Folge dessen eigene Beobach-
tungen an und fand die Erklärung, auf die ich hoffte. Die Oberfläche des
Cestodenkörpers ist unregelmässig gefaltet, folglich trifft man die Epidermis
in den wenigsten Fällen senkrecht, sondern wenn man einen Schnitt macht,
so geht er schräg durch die Epidermis, resp. Basilarmembran hindurch. Man
braucht nur solche Schnitte mit den gegebenen Abbildungen zu vergleichen,
um sich zu überzeugen, dass, wo man eine dicke „Cuticula“ beschrieben
hat, man einen schrägen Schnitt vor sich hatte. Somit also entdecken wir
bei den Cestoden eine Epidermis derselben dreifachen Zusammensetzung,
wie bei den Dendrocoelen: eine äussere, sehr dünne Cuticula, eine
Zellenschicht und Basilarmembran. Die bei den Cestoden unterhalb der
Basilarmembran liegenden Zellen, bei Taenia langgestreckt, bei Caryo-
MINOT: Studien an Turbellarien. 457
phyllaeus rundlich, entsprechen wahrscheinlich den Drüsenzellen der
Planarien etc. Ich habe die Trematoden nicht genau untersucht, um
mit Sicherheit zu behaupten, dass sie sich eben so wenig, wie die Cesto-
den, von den Pharyngocoelen durch eine eigenthümliche Epidermis
unterscheiden. Vermuthlich ist aber ihre angebliche Cuticula auch nur die
Basilarmembran. Wenn die darunter liegende Drüsenschicht die Epidermis
wäre, so hätten wir eine Epidermis, durch welche zahlreiche grosse Muskeln
singen! Weder bei den Cestoden noch bei den Trematoden habe ich
Stäbchen in der Epidermis, oder Stäbchenbildungszellen im Parenchym
unterschieden. Die Trematoden und Cestoden unterscheiden sich also
von den Pharyngocoelen (Rhabdocoelen und Dendrocoelen); auch im
Baue der anderen Organe wiederholt sich diese Erscheinung. Ich vereinige
daher die Saug- und Bandwürmer unter dem Namen Vaginiferen, dessen
Bedeutung weiter unten erklärt werden wird.
Was die Muskeln anbelangt, so bemerke ich, dass auch bei vielen
Vaginiferen Längsfasern zu äusserst liegen (z. B. Caryophyllaeus,
Amphilina, Taenia sp.? aus Cenchris piscivorus), dann folgt eine
Quer-, dann eine innere Längsschicht. Bei einigen Formen fehlt die
äusserste Längsschicht; mit einem Worte, die ganze Anordnung ist die-
selbe, die wir bei den Pharyngocoelen kennen lernten. Die Entdeckung
der Saugnäpfe bei Dendrocoelen macht das Band zwischen dieser Ord-
nung und den Trematoden noch enger und zeigt zugleich, dass das Vor-
kommen oder Fehlen dieser Gebilde unwichtig ist (man vergleiche Taenia
und Botriocephalus, Argulus, Firola und Malacobdella, die
nach den brieflichen Mittheilungen Prof. Sempers an mich eine Nemer-
tine ist).
Das Parenchymgewebe, so weit meine eigenen Beobachtungen reichen,
zeist bei allen von mir untersuchten Arten die charakteristischen ver-
ästelten Zellen. Das Gehirn fehlt einigen Formen. Beiläufig bemerkt sind
die Nerven, welche Schneider beschreibt (Plathelminth), die Balkenstränge und
durchaus nicht nervöser Natur, wie Nitsche schon richtig hervorgehoben
hat. Wenn das Gehirn vorkommt, so besteht es aus centralen Fasern und
peripherischen Ganglienzellen und liegt im vorderen Körpertheil, oberhalb
des Darmeanales und bildet nie einen Ring. Der Darm fehlt vielen sehr
degenerirten parasitischen Formen. Die Aehnlichkeit der Gabelung des-
selben bei den Trematoden und Dendrocoelen hat schon die Auf-
merksamkeit vieler Forscher errest. Seine Wand besteht aus Cylinder-
zellen, die bei den Trematoden sehr schön und deutlich hervortreten,
aber bei den Pharyngocoelen einen verwickelten und schwer zu er-
kennenden Bau haben. Bei allen Plattwürmern führt die männliche Ge-
458 MINOT: Studien an Turbellarien.
schlechtsöfinung in einen Vorraum, in welchen ein muskulöses Begattungs-
organ, das bisweilen mit einem umstülpbaren Flagellum versehen ist, hin-
einhängt. Der nicht ausstreckbare Theil des Penis bildet eine muskulöse
Blase (Penisbeutel, Cirrusbeutel), in welche die zwei Samenleiter einmünden.
Die Verästelungen der Samengänge führen zu den, durch den ganzen Körper
vertheilten kleinen Hodenbläschen.
Alle Plattwürmer haben einen complicirten weiblichen Geschlechtsapparat.
Von dem Ovarium verläuft ein Rohr, welches als Ausführungsgang functionirt
und in der Regel einen erweiterten Theil, den Uterus oder Eibehälter,
besitzt. Bei einigen Cestoden (z. B. Taenia) fehlt die äussere Oeffnung
und die Eier gelangen durch Zerstörung des Mutterleibes nach aussen. Bei
den Vaginiferen findet man eine runde Erweiterung im oberen Ende des
Ganges, die, von Drüsenzellen umgeben, die Bildungsstätte der Eischaale
ist. Von den „‚Dotterstöcken‘‘ verlaufen zwei Gänge, die mit dieser Erwei-
terung (Schalendrüse) in Verbindung treten. Ob nun die Pharyn-
gocoelen auch eine gesonderte Schalendrüse haben und wo die Einah-
rungsgänge mit den Eileitern zusammentreffen, ist unbekannt. Die Eier
bestehen bei allen Plattwürmern aus einer oder mehreren Eizellen, umgeben
von mehreren Einahrungszellen („Dotter“, auct), alles in einer harten
Schale eingeschlossen. Es ist also wohl anzunehmen, dass bei allen Formen
der Classe eine Schalendrüse existirt. Bei den Vaginiferen geht von der
betreffenden Drüse, oder von den vereinigten Dottergängen, unweit deren
Mündung in die Schalendrüse, ein Gang!) aus, der auf der Körperober-
fläche mündet und den man Vagina benennt, weil durch ihn das Sperma
bei der Begattung eingeführt wird; daher die Bezeichnung Vaginiferen,
die Cestoden und Trematoden einschliessend. Ein solcher Gang ist
bei den übrigen Plattwürmern gänzlich unbekannt und existirt wahrschein-
lich nicht. Die morphologische Erklärung der Vagina und die Bestimmung
des homologen Theiles bei den Pharyngocoelen kann nur hypothetisch
gegeben werden, indem entweder eine Spaltung eines einzigen Urganges oder.
eine Neubildung angenommen wird. Die Entdeckung der wahren Verhält-
nisse ist ganz neu (vergl. die Arbeiten von Blumberg, Stieda, Som-
mer, Zeller und Salensky). Einahrungsstöcke kennt man nur bei den
Plattwürmern.
4. Wir haben die Eintheilung der Plathelminthen noch zu prüfen.
Nach der Entfernung der Nemertinen bleiben die vier hergebrachten Ord-
nungen: Rhabdocoelen, Dendrocoelen, Trematoden und Cesto-
den. Ulianin hat schon (Seeplanarien p. 86) nachgewiesen, dass die
!) Bei Polystomum zwei (Zeller).
MINOT: Studien an Turbellarien. 459
Rhabdocoelen keine natürliche Ordnung darstellen. Er theilt sie in
drei Gruppen: 1) Acoela (Convoluta Oerst, Schizoprora ©. Schmidt
und Nadina nov. gen. Ulianin einschliessend), die keinen Rüssel haben
und keinen Darmcanal im gewöhnlichen Sinne, sondern nur einen soliden
Strang besitzen sollen. Diese Behauptung ist mir äusserst verdächtig, weil
erstens die nächsten Verwandten dieser Formen einen Darmcanal haben,
und weil zweitens Ulianin keine genügende Methode und Vorsicht an-
gewandt hat, um eine so barocke Auffassung sicher zu stellen. Ist seine
Aussage richtig, so können wir nicht mehr an der Ansicht festhalten, dass
nah verwandte Formen keine fundamentale Verschiedenheit zeigen. Die
Sache wird desto bedenklicher, weil Mecznikoff schon einmal für andere
Rhabdocoelen einen „Eiweissdarmstrang“ unrichtiger Weise behauptet
hat. Ich will also provisorisch diese Gruppe noch annehmen; 2) die zweite
Gruppe von Ulianin ist Apharyngea, die einen Darmcanal, wie die
übrigen Turbellarien, haben, aber keinen Rüssel, sondern nur ein mus-
kulöses Schluckrohr;; die Gruppe umschliesst nur zwei Gattungen: Macro-
stomum und Vera nov. gen Ulianin. Bei beiden Gruppen ist nach der
Angabe des Verfassers der „Dotterstock‘“ vom Keimstock nicht getrennt,
auch vielleicht eine unrichtige Behauptung; 3) die dritte Gruppe umfasst
die übrigen Rhabdocoelen, die er dann zu einer neuen Gruppe mit den
Dendrocoelen vereinigt. Die neue Abtheilung nennt er Pharyngea.
Sie scheint mir die wirklichen Verwandtschaften der Formen wiederzugeben.
Ich möchte aber für sie den schon früher von Prof. Leuckart gebrauchten
Namen Pharyngocoelen beibehalten. Wir erhalten also zwei verwandte
Ordnungen Acoelen und Apharyngen, und eine Abtheilung Pharyn-
socoelen, die wiederum zwei Ordnungen Rhabdocoelen und Dendro-
coelen umfasst.
Die eben betrachteten Formen sind freilebende Thiere, deren sogenannte
animalische Organe vollkommen ausgebildet sind; die übrigen Plattwürmer
sind Schmarotzer und zeigen in ihrem Baue eine grosse Vereinfachung; das
Gehirn ist einfacher, als bei den Seeplanarien, oder fehlt ganz; ebenso ver-
hält es sich mit .dem Darm, den Augen etc. Die Muskulatur ist weniger
mächtig, die Schichten weniger scharf differenzirt, als bei den Pharyngo-
ceoelen. In allen diesen Hinsichten nähern sich die Trematoden und
Cestoden und sind noch schärfer charakterisirt durch den Besitz eines
vom Eileiter getrennten Begattungsrohres, der Vagina. Ich stelle daher die
beiden Ordnungen unter dem Namen Vaginiferen zusammen. Früher
war die Kluft zwischen den zwei parasitischen Ordnungen der Plattwürmer
unausfüllbar; gegenwärtig aber kennen wir so viele Uebergangsformen
zwischen den gegliederten Bandwürmern und einfacheren Saugwürmern, dass
460 MINOT: Studien an 'Turbellarien.
die zwei Formenreihen vereinigt werden müssen. Die gegliederte Taenia
wird durch den unvollkommen gegliederten Triaenophorus und die fast
ungegliederte Ligula mit dem ganz ungegliederten Caryophyllaeus
verbunden. Den Uebergang von diesem zu den Trematoden stellt Am-
philina dar.
Unsere Classification also stellt sich folgendermassen heraus:
? Acoela: Nadina, Convoluta, Schizoprora. |
Apharyngea: Macrostomum, Vera.
Pharyngocoelen:
Rhabdocoelen, Rhabdocoelen auct. partim.
Dendrocoelen.
Vaginiferen:
Trematoden,
Cestoden.
In diesem System wären vielleicht die Microstomeen noch aufzu-
nehmen. Die vorliegenden Beobachtungen sind nicht hinreichend, eine sichere
Vergleichung dieser eigenthümlichen Würmer mit anderen Thieren zu er-
möglichen, und ich selbst habe keine Gelegenheit gehabt, sie zu untersuchen.
Graaf hat neulich (Z. Z. XXV. p. 408 ff.) die Quertheilung der Micro-
stomeen untersucht und er fand, dass neue Abschnürungen in der Mitte
jedes, durch die angefangene Quertheilung angedeuteten Gliedes erscheinen,
so dass man in einem Thiere häufig eine secundäre und tertiäre Quer- °
theilung neben der primären vorbereitet findet. Wenn nun die Micro-
stomeen den Plathelminthen zugehören, so dürfte vielleicht eine ähn-
liche Theilung bei Cestoden vorkommen. Ich habe aber mehrere Ketten
von Taenia, Botriocephalus latus und Triaenophorus untersucht,
ohne eine secundäre Gliederung der Proglottiden entdecken zu können. Es
fehlt mir also auch die Berechtigung, die Mierostomeen unter die Platt-
würmer einzureihen.
Da Graaf in seiner letzten Abhandlung uns eine neue Eintheilung
der Turbellarien nach den Geschlechtsorganen verspricht, so habe ich
diese Frage nicht berücksichtiet.
Indem ich die obige Classification vorschlage, bin ich mir wohl be-
wusst, dass ich nur einen Versuch gemacht habe, die Verwandtschaften der
Plathelminthen möglichst zu berücksichtigen. Ob ich das Richtige getroffen
habe, müssen spätere Untersuchungen entscheiden.
5. Gegenbaur hat die Hypothese aufgestellt, dass die Proglottiden
der Bandwürmer den Segmenten bei den Anneliden entsprechen. Die
Leuckart’sche Auffassung der Proglottiden als Individuen scheint mir
MINOT: Studien an Turbellarien. 461
viel eher richtig. Durch die Theilung der Cestoden entstehen Organis-
men, die selbstständig weiter leben und sämmtliche Organe, die im aus-
gebildeten, geschlechtsreifen Thiere, abgesehen vom Kopf, vorkommen, ent-
halten. Viel natürlicher ist ein Vergleich mit der Entstehung der neuen
Individuen, bei den Naiden zum Beispiel. Die Aehnlichkeit wäre voll-
kommen, wenn die Proglottiden eine Segmentirung zeigten: — dieses ist
aber nicht der Fall, wie ich schon mitgetheilt habe. Die hier auftauchen-
den Fragen hat Prof. Semper behandelt und ich weise auf seine jüngst
erschienene Arbeit hin.
Nach der Leuckart’schen Auffassung wäre also die Proglottiden-
bildung ein primärer, die Segmentirung ein secundärer Vorgang. Mit dieser
Ansicht stimmt die Thatsache überein, dass unter den Würmern nur die-
jenigen Formen gegliedert sind, welche resistente, mehr oder minder steife
Hautschichten besitzen und daher unbiegsame Körper darstellen würden,
wären sie ungegliedert. Die Segmentirung tritt uns also als eine Folge der
Beweglichkeit entgegen. Es wäre nun zu erforschen, ob dies das Haupt-
motiv sei, mit anderen Worten, ob bei der Entstehung der gegliederten
Formen die Segmentirung des ganzen Körpers der Gliederung der übrigen
Theile, resp. des Nervensystems und der Excretionsorgane voranginge.
6. Da wir gefunden haben, dass die oft angenommenen seitlichen, vom
Gehirn auslaufenden Nervenstämme bei den „Planarien‘ wahrschemlich
nicht existiren, d. h. nur einfache Nerven darstellen, so hat es nichts
Ueberraschendes, dass auch die Trematoden sich in dieser Hinsicht
gerade so verhalten. Es macht dies eine unmittelbare Vergleichung mit
den Nemertinen unmöglich, und die Erklärung des doppelten Nerven-
stranges der Anneliden durch eine Verschmelzung zweier ursprünglicher
Seitenstämme verliert dadurch an Wahrscheinlichkeit, indem eine weite
Kluft die Nemertinen von den Plattwürmern hinsichtlich des Baues
des Nervensystemes trennt. Die alte Theorie ist damit nicht beseitigt; wir
sind nur genöthigt, sie mit grösserer Vorsicht zu betrachten.
7. Man stellt die Plathelminthen gewöhnlich zu den Würmern, das
heisst, man weiss nicht recht, wo sie hingehören, da so ziemlich Alles,
was im zoologischen Systeme keinen rechten Platz findet, unter die Würmer
gebannt wird. In der That stellen diese Plattwürmer eine Reihe sehr ab-
weichender Formen dar, die durch den Besitz einer Einahrungsdrüse scharf
gekennzeichnet sind. Aehnliche Drüsen, die Zellen absondern,, welche zur
Ernährung der Eizellen dienen, sind bei anderen Thieren noch nicht be-
kannt; daher ist unsere Classe durch eine weite Kluft von anderen Thier-
formen getrennt. Mit höheren Classen zeigen sie keine unverkennbare
Verwandtschaft, ausser der allgemeinen Aehnlichkeit, die alle bilaterale
4623 MINOT: Studien an Turbellarien.
Typen verbindet. Es ist, augenblicklich wenigstens, unmöglich, sie in die
Entstehungsreihe der Anneliden einzuschalten, da die Eigenthümlichkeiten
ihres Baues ebenso gut eine Beziehung mit einer beliebigen Gruppe der
Mehrzahl der niederen bilateralen Thiere andeuten, wie mit den Glieder-
würmern. Ich halte es nicht für zweckmässig, an diesem Orte die Frage
eingehend zu erörtern; es wird keinem vergleichenden Anatom schwer
fallen, die Vergleichung selbst auszuführen. Ich will nur hinzufügen, dass
die Nudibranchiaten, wie von älteren Forschern schon mehrfach her-
vorgehoben ist, in ihrer organischen Zusammensetzung viele Beziehungen
mit unserer Classe erkennen lassen. Wenn diese Andeutungen auf die
wirklichen Verhältnisse leiten, so werden die Plattwürmer unter die
Mollusken zu stellen sein.
Ebenfalls nach unten knüpfen die Plathelminthen möglicher Weise
an die Formenreihe der Gastrotricha an, die früher den Turbella-
rien zugesellt wurden, neulich aber in engere Beziehung mit den Rotiferen
gebracht sind!). Bütschli?) vereinigt sie auch mit den Nemathelminthen,
unter dem Namen Nematorhynchen. Die Gastrotricha sind ana-
tomisch noch sehr unvollkommen bekannt und es wäre voreilig, zu behaup-
ten, sie seien mit den Plathelminthen verwandt, trotzdem sie mit den
Apharyngeen (s. oben) viele Aehnlichkeit haben; man müsste vor allen
Dingen nach Einahrungsstöcken suchen.
Ueber die Stellung der Plathelminthen im Systeme herrscht also
noch grosse Dunkelheit; ich verr uthe, dass sie, wenn man sich der jetzt
obwaltenden phylogenetischen Ausdrucksweise fügen will, einen abweichenden,
nicht weiter entwickelten Seitenzweig des thierischen Stammbaumes dar-
stellen. Die Verwandtschaft, die früher zwischen den Plattwürmern und
Hirudineen vermuthet wurde, ist, wie wir heute wissen, keine wirkliche.
!) Mecznikoff, Ueber einige wenig bekannte niedere Thierformen, Z. Z. XV.
1865, p. 450— 458, Taf. XXXV.
H. Ludwig, Ueber die Ordnung Gastrotricha Meeznikoff, Z. Z. XXVL p. 193
und Taf. XIV.
2) O. Bütschli, Untersuchungen über freilebende Nematoden und die Gattung
Chaetonotus. II. Ueber die Gattung Chaetonotus Ehrbg. Z. Z. XXVI. p. 385 mit
Taf. XXVIL
Literaturverzeichniss.
Die ersten anatomischen Beiträge zur Kenntniss der „Planarien“ stam-
men von von Baer, Dug&s, Ehrenberg, Mertens, Quatrefages
etc., die wegen Mangel an Untersuchungsmethoden wenig erreichten und die
Natur der von ihnen gesehenen Organe nicht selten verkannten. Oskar
Schmidt publieirte 1848 seine erste Abhandlung und ihm verdanken wir
eine Reihe sorgfältiger Untersuchungen, die sich hauptsächlich auf die Ge-
schlechtstheile beziehen. Die wichtigste, bis jetzt erschienene Arbeit, ist
Max Schultze’s Beiträge zur Geschichte der Turbellarien,
Greifswald 1851, ein Werk, welches auf jeder Seite den vorzüglichen und
geistreichen Forscher erkennen lässt, und durch kleinere Notizen desselben
Verfassers (s. unten) vervollständigt wird. Clapar&de hat auch Wich-
tiges beigetragen. Die Abhandlungen der beiden Van Beneden, sowie
das Schmarda’sche Werk enthalten wenig Anatomisches.. Von neueren
Sachen verdienen die Arbeiten von Keferstein, der zuerst anfing, Quer-
schnitte zu verfertigen, von Graaf, der alte Fehler entlarvt und neue
Entdeckungen gemacht hat, und von Moseley, der allein sich mit der
Histologie beschäftigt, und schliesslich von Ulianin, der viele Formen
untersuchte, eine besondere Erwähnung. Dieses kurze Verzeichniss erklärt
den mangelhaften Zustand unserer Kenntnisse.
Die nachfolgende Liste gibt die in dieser Abhandlung eitirten Arbeiten.
1. BENEDEN, Edouard van. Recherches sur la composition et
signification de P’Oeuf. Mem. Couron. Acad. Roy. Belg. Tom.
XXXIV.p. 1. Brusells 1870.
2. BENEDEN, P. J. van. Recherches sur la faune littorale de la
Belgique. Turbellaries. ‚Mem. Couron. Acad. Roy. Belg.
3. CLAPAREDE. Etudes Anatomiques sur les Annehdes, Turbel-
laries, Opalines et Gregarines observes dans les Hebrides. Soc. Phys.
et Hist. Nat. Greneve 1860, p. 71.
4. CLAPAREDE. Beobachtungen über Anatomie und Entwickelungs-
geschichte wirbelloser Thiere, an der Küste der Normandie angestellt.
Leipzig 18363. i
5. CLAPAREDE ET HUMBERT. Description de quelgues Plana-
ries terrestres par M. Alois Humbert, suivie d’Observations anato-
464 Literaturverzeichniss.
miques, sur le genre Bipalium par M. Edouard Claparede. Mem.
Soc. Phys. et Nat. Hist. Genive 1861. Tom. XVI. p. 29.
5a. COBBOLD. On the supposed rarity, nomenclature, affınities
and source of the large human Fluke (Distomum crassum). Journ.
Linn. Soc. Vol. XIl. (Zoology), 1876, p. 285.
6. FREY und LEUCKART. Beiträge zur Kenntniss wirbelloser Thiere.
Braunschweig 1847.
7. GRAAF, Ludwig. Zur Kenntniss der Turbellarien. Z. Z. XXIV.
p. 123.
8. GRAAF, Ludwig. Neue Mittheilungen über Turbellarien. Z. Z.
XXV. p, 407.
9. GRAAF, Ludwig. Ueber die systematische Stellung des Vortex
lemani, du Plessis. Z. Z. XXV. Supp. p. 335.
10. GRIMM. Nachtrag zum Artikel des Herrn Dr. Salensky — über
Amphilina. Z. Z. XXV. p. 214.
1l. HALLEZ. Observations sur le Prostomum lineare (Oersted).
Arch. Zool. Eapl. et General. Tom. LI. p. 559.
12. HUBRECHT. Aanteekingen over de Anatomie, Histologie en
Ontwikkelingsgeschichte van eenige Nemertinen. Utrecht 1874.
13. KEFERSTEIN. Untersuchungen über niedere Seethiere. Z. Z.
XI. 71862, p. 1.
14. KEFERSTEIN. Beiträge zur Anatomie und Entwickelungsge-
schichte einiger Seeplanarien von St. Male. Abhandl. d. Königl. Ge-
sellsch. d. Wiss. Göttingen, Bd. XIV, 1868.
15. KEFERSTEIN. Mesostomum Ehrenbergi Oerstedt, anatomisch
dargestellt. Arch. Naturgesch., 1852, p. 234.
16. LEUCKART. Die menschlichen Parasiten. 2 Bde.
; Landois vide Sommer.
Leuckart vide Frey.
17. LEYDIG. Zoologisches. Müller’s Arch. 1854, p. 284.
183. W. C. Me INTOSH. On the structure of British Nemerteams.
Trans. Roy. Soc. Edinburgh. Vol. XXV. p. 305.
19. MECZNIKOFF. Ueber Geodesmus Bilineatus nobis, eine
europäische Landplanarie. Bull. Acad. St. Petersb. Tom. V. 1865.
20. MERTENS. Untersuchungen über den inneren Bau mehrerer in
der See lebenden Planarien. Mem. Acad. St. Petersb. Ser. 6° Sci. Mat.
Phys. et Nat. Tom. II. 1833, p. 3— 19.
21. MOSELEY. On the Anatomy and Ekstology of the Landpla-
narians of Ceylon. Phil. Trans. 1874, p. 105.
22. NITSCHE, Heinrich. Untersuchungen über den Bau der Tae-
nien. Z. Z. XXII. p. 182.
23. QUATREFAGES. Memoire sur quelques planaires marines.
Ann. Sci. Nat. Ser. 3. Tom. IV. (1845) p. 129.
24. ROLLESTON. Forms of Animal-Life, p. 138, London 1870.
25. SALENSKY. Ueber den Bau und die Entwickelung der Amphi-
lina (G. Wagener), Monostomum foliaceum Rudolphi. Z. Z. XXIV. p. 291,
Cf. Grimm.
Literaturverzeichniss. 465
26. SCHMARDA. Neue wirbellose Thiere. Bd. I. Heft I. Turbel-
larien, Rotatorien und Anneliden. Leipzig 1859.
27. SCHMIDT, Oskar. Die Rhabdocoelen (Strudelwürmer) des süssen
Wassers, beschrieben und abgebildet von Dr. E. O. Schmidt. Jena 1848.
28. SCHMIDT, Oskar. Neue Rhabdocoelen aus dem Nordischen
und Adriatischen Meere. Wien, Akad. Sitzungs-Ber. Bd. IX. 1852.
8. 49.
29. SCHMIDT, Oskar. Zur Kenntniss der Turbellaria, Rhabdocoela
und einiger anderer Würmer des Mittelmeeres. Zweiter Beitrag. Wien,
Akad. Sitzungs-Ber. Bd. CLXXII. 1857, p. 347.
30. SCHMIDT, Oskar. Die Rhabdocoelen (Strudelwürmer) aus den
Umgebungen von Krakau. Denkschrift. Wien, Akad. Sitzungs-Ber.
Bd. CLXV. 1858, p. 20.
31. SCHMIDT, Oskar. Untersuchungen über Turbellarien von Corfu
und Cephalonia. Z. Z. XL p. 1.
32. SCHMIDT, Oskar. Die Dendrocoelen (Strudelwürmer) aus den
Umgebungen von Gratz. Z. Z. X. p. 24.
33. SCHMIDT, Oskar. Ueber Planaria torva auct Z 2.
NyRp: ‚89.
34. SCHNEIDER. Bau und Entwickelung von Polygordius Arch.
Anat. Physiol. 1868, p. 51.
35. SCHNEIDER. Untersuchungen über Plathelminthen. Vierzehnter
Jahresber. oberhess. Gesellsch. d. Natur- und Heilkunde Giessen 1873,
auch separat erschienen.
36. SCHULTZE, Max. Ueber die Mikrostomeen, eine Familie der
Turbellarien. Arch. f. Naturgesch. XV. 1849, p. 280.
37. SCHULTZE, Max. Ueber die Fortpflanzung durch Theilung bei
Nais proboscidea. Arch. f. Naturgesch. XV. 1849, p. 293.
38. SCHULTZE, Max. Beiträge zur Naturgeschichte der Turbellarien.
Greifswald, 1851, 4to.
39. SCHULTZE, Max. Beiträge zur Kenntniss der Landplanarien
nach Mittheilungen des Dr. Fritz Müller. Abhandl. d. Naturforsch. Ge-
sellsch. in Halle. Bd. IV.
40. SCHULTZE, Max. Zoologische Skizzen. Z. Z. IV. S. 178.
41. SCHULTZE, Max. Bericht über einige im Herbst 1853 an der
Küste des Mittelmeeres angestellte Untersuchungen. Verhandl. d. Würz-
burger Med.-Phys. Gesellsch. 1853, p. 222.
42. SOMMER und LANDOIS. Ueber den Bau der geschlechtsreifen
Glieder von Botriocephalus latus. Z. Z. XXII p. 49.
43. SOMMER, F. Ueber den Bau und Entwickelung der geschlechts-
reifen Glieder von Taenia mediocannellata und T. solium. Z. Z.
XXIV. p. 498.
44. STIEDA. Ueber den Bau des Polystomum intergerrimum.
Arch, 2 Anat. u. Phys, 18720 p. 660.
45. STIEDA. Ueber den angeblichen inneren Zusammenhang der
männlichen und weiblichen Organe der Trematoden. Arch. f. Anat. u.
Phys., 1871.
466 Literaturverzeichniss.
46. SUHM, Willemoes. Zur Naturgeschichte des Polystomum
intergerrimum und P. coelatum. Z. Z. XXI. p. 29.
47. ULIANIN. Die Strudelwürmer (Turbellaria) des Sebastopolischen
Hafens. Moskau 1870. (Aus den Verhandlungen der zweiten
naturforschenden Versammlung in Moskau im Jahre 1869.)
Russisch.
48. WELCH, F. H. On the Anatomy of Taenia mediocanellata.
Quart. Journ. Microsc. Soc. 1875, p. 16.
49. WELCH, F. H. The Anatomy of two parasitic Forms of the
Family Tetrarhynchidae Journ. Linn. Soc. Vol. XII. (Zoology),
1876, p. 329.
50. ZELLER. Weiterer Beitrag zur Kenntniss der Polystomeen.
7. 2. XXVI. p. 288
Nachtrag.
Als ich Würzburg verliess, war Professor Semper noch mit den
Untersuchungen beschäftigt, deren Ergebnisse er in seiner vorgehenden Ar-
beit (dieser Band S. 115) niedergelegt hat. Es findet da mancher Punkt
Berücksichtigung, der sich auf die in meiner Abhandlung ventilirten Fragen
direet bezieht. Leider erhielt ich sein Werk erst mehrere Wochen, nach-
dem ich mein Manuscript abgeschickt hatte, sonst wäre meine Arbeit ganz
anders verfasst, als sie jetzt dasteht. Ich bitte den freundlichen Leser,
diese Erklärung berücksichtigen zu wollen. Den dritten Abschnitt bitte ich
besonders zu prüfen und mit dem Semper’schen Werk zu vergleichen.
Boston, im December 1876.
C. 8. M.
Tatelerklanuıme.
Accessorische Drüse.
Basilarmembran.
Balkenstränge.
Centralcanal des Penis.
Seitencanäle des Penis.
Vorderer Darmast.
Darmzweige.
Dissepimente.
Penisdrüse.
Epithel.
Aeussere Rinsschicht.
Futterdrüsen.
Fasern.
Gallertdrüse.
Gehirn.
Ganglionzellen.
Innere Ringschicht.
Innere Wand der Mundbucht.
Winkel der Mundbucht.
Körnerkolben.
Körner des Körnerhaufens.
Aeussere Längsmuskeln.
Innere Längsmuskeln.
Längsmuskelschicht.
Mund.
Magen.
Museculatur.
N.B.
Oc.
Ve.
Or.
Ovd.
Par.
P.B.
Pe.
Peg.
Pgl.
P.S.
R.
Rad.
Re.
S,
SG.
Sen.
Ss.M.
Te.
Tr.
v. de.
Nebensamenblasen.
Augen.
Speiserohr.
Eierstock.
Eileiter.
Parenchym.
Penisbeutel.
Penis.
Pigment.
& Accessorische Drüsen.
Penisscheide.
Ringmuskelschicht.
Radiärmuskeln.
Retractor des Saugnapfes.
Sagittalmuskeln.
Samengang.
Saugnapf.
Senkrechte Muskeln des Saug-
napfes.
Hoden.
Dreieck von Muskeln.
Uterus.
Dorsaler Uterusschenkel.
Uterusgang.
Geschlechtsvorraum.
Männlicher Vorraum.
Vasa deferentia.
Taf. XVI. und XVII. betreffen Opisthoporus und die Abbildungen
sind alle von Querschnitten einer Serie und zwar in der richtigen Reihen-
folge hinten Fig. 1 anfangend und vorn mit Fig. 23 endigend, angeordnet.
Fig. 1.
Taf. XVI. Opisthoporus.
Durch die weibliche Geschlechtsöffnung.
Uterusschenkel,
Dr Drüsenzellen, Ut’ dorsaler
Tafelerklärune. 469
Fig. 2. Durch die männliche Geschlechtsöffnung , V’, Muc Hautmuskelschichten ;
Ut Uterus; Ut’ dorsaler Uterusschenkel.
Fig. 3. Durch die Penisscheide, PS.; Muc Hautmuskelschichten; Ut Umbiegungs-
stelle des Uterus.
Fig. 4. Durch die Ansatzstelle des Penis, Pe; PS. Penisscheide; BM. Basilarmem-
bran; Mue Musculatur; Pg Pigment; Div Darmzweig; Dr Drüsenzellen ;
v. d. Vas deferens.
Fig. 5—10. Durch den Penisbeutel, aus verschiedenen Höhen, um die Bildung der
Penisdrüsen klar zu stellen; Muc Musculatur; P.gl Penisdrüsen; ca Cen-
tralecanal des Penis.
Fig. 11. Durch das vordere Ende des Penisbeutels; Mue Musculatur; Pg Pigment;
ca Canal des Beutels im dorsalen Schenkel desselben; PB ventraler Schen-
kel; Mg Magen.
Fig. 12. Dasselbe wie Fig. 12, nur weiter nach vorn.
Fig. 13. Drüsenzellen aus der Umgebung der Penisscheide Div Darmzweig; Par Pa-
renchymgewebe.
Taf. XVII Opisthoporus cont.
Fig. 14. Querschnitt durch die Mitte des Körpers, zur allgemeinen Orientirung.
Mg Magen; Div Darmzweig; v. d. Vasa deferentia; Pg Pigmentschicht;
ov Eierstöcke, R Rüssel ; BStr Balkenstränge; F Eifutterstöcke; Te Hoden.
Fig. 15. Querschnitt eines Balkenstranges, B.Str. F Eifutterstöcke; L.In innere,
L.Ex äussere Längsmuskeln der Bauchseite; R Ringmuskeln.
Fis, 16. Querschnitt der Bauchmuskulatur. LIn innere, LEx äussere Längsschich-
ten; R Ringfaserschicht; BM Basilarmembran.
Fig. 17. Durch die Mitte des Rüssels, Pr; Mg Magen; Pg Pigment.
Fig. 18. Seitlicher Theil eines Querschnittes. Pg Pigment; Muc dorsale Muskulatur;
LIn innere, LEx äussere Längsschicht der Bauchseite; R Ringmuskulatur.
Fig. 19. Theil eines Schnittes, die Ovarien (ov) zeigend; S Sagittalmuskeln.
Fig. 20. Querschnitt des Gehirns. GZ Ganglionzellen.
Fig. 21. Durch die Augen vor dem Gehirn; Oc Ausen; BM Basilarmembran; Muce
Muskulatur; Pg Pigment.
Fig. 22. Durch ein Auge, um die Pigmentkörner zu zeigen.
Fig. 23. Schnitt durch den rothen Körnerhaufen vor dem Gehirn, Fasern vom Ge-
hirn entspringend; Kö Körner.
Die Abbildungen auf Taf. XVII und XIX sind alle, mit Ausnahme von
Fig. 34, 35, 38c und 46, 48, 49, von Mesodiscus. Fig. 24 — 32 sind
aus einer Querschnittsserie und sind in der natürlichen Reihenfolge numerirt,
vorn mit dem Gehirn anfangend und nach hinten laufend. Die übrigen Ab-
bildungen sind von Längsschnitten genommen.
Taf. XVIII. Mesodisceus ete.
Fig. 24. Durch die Mitte des Gehirns, Ge. Oc Augen.
Fig. 25. Durch den hinteren Theil des Gehirns, Ge. Oc Augen.
Fig, 26. Durch den vorderen Theil der Mundbucht, M.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 32
ig. 40.
g. 48.
o. 49.
Tafelerklärung.
Durch die Mitte der Mundbucht, M; i w innere Wand der Bucht; k Win-
kel derselben; Tr Dreieck von Muskel um die Bucht; ER äussere Ring-
muskelschicht; L.M. Längsmuskeln.
Durch den hinteren Theil der Mundbucht, M.
Gestalt des Mundrohres Oe, unweit des Mundes.
Durch das Mundrohr Oe, weiter nach hinten.
Do. noch weiter hinten. Mg Magen.
Do. noch weiter, Div Darmzweig.
Längsschnitt durch die Darmwand, Parenchym, Par, und Bauchmuskulatur,
Muc; Kb Körnerkolben.
Querschnitt des Darmepithels von Distomum hepaticum.,,
. Längsschnitt der Darmwand von Stylochus sp? aus Triest; Ep Epithel
Längsschnitt des Saugnapfes. Gdr Gallertdrüse; Re Retracetores des Napfes
S.M senkrechte Muskeln desselben.
Drei Körnerkolben vom Darme von Mesodiscus.
Entwickelung der Spermatozoen. a erste Stufe; bb’ zweite, — beide
von Mesodiscus; b Seitenansicht, b’ Endansicht derselben Körper: ce’
dritte Stufe von Opisthoporus; ce End-, ce’ Seitenansicht der Sperma-
tozoenköpfe.
Taf. XIX. Mesodiseus ete.
Längsschnitt durch die Seite des Saugnapfes und Mitte des männlichen
Vorraums, V’; Mg Magen; Pe Penis; Sgn Saugnapf; Gdr Genitaldrüse.
Längsschnitt durch das obere Ende des & Vorraums, — ein Theil von
Fig. 39 stärker vergrössert; Mg Theil der Magenwand mit Körnerkolben ;
5 Samengang des Penis, P; c.c seitliche Canäle des Penis, die wahr-
scheinlich zu den Nebensamenblasen führen; PS Penisscheide; V’ Vorraum
oder Antrum; Par Parenchymgewebe.
Querschnitt durch die zwei Nebensamenblasen, NB, und den Samengang, SG.
Längsschnitt durch die Nebenblasen (cf. Fig. 41). Muc Muskulatur; c. e.
Ausführungsgänge; SG Samengang.
Längsschnitt durch die Samenblasen (Penisbeutel?). Muc Muskulöse Wand
desselben; v. d. Samenleiter mit Spermatozoen gefüllt, deren dunkle Köpfe
auffallen; Ut Uterus; Gdr Gallertdrüse.
Querschnitt eines Eileiters.. Ep Epithel desselben.
Querschnitt eines Samenleiters. Ep Epithel.
Accessorische Drüsenzellen aus der Umgebung des männlichen Apparates
bei Dendrocoelum lacteum. /
Halb schematische Zeichnung des ? Vorraums und Uterus bei Mesodis-
eus; V Antrum; Ut Uterus; Ovd Eileiter; Gdr Gallertdrüse mit dunkel-
gefärbtem Streif in der Mitte; Muc Bauchmuskulatur; BM Basilarmembran.
Aus einem Querschnitt von Opisthoporus, die Vertheilung der Zweige
der Einahrungsdrüsen zeigend.. F und F’ Theile derselben; S Sagittal-
muskeln; Div Darmzweige; BStr Theil eines Balkenstrangs.
Zelle (Blutscheibe) aus einer zerquetschten Planaria lugubris
u
0.
51.
ie. 52.
5. 58.
54.
55.
a. 56.
91.
Tafelerklärung. 471
Taf. XX.
Längsschnitt von Mesodiscus, um die Dissepimente, Diss, zu zeigen.
B.M Basilarmembran; R Ringmuskelschicht; L Längsschicht der Rücken-
seite; Muc Bauchmuskulatur.
Querschnitt von Opisthoporus, um die von den Sagittalmuskeln gebildeten
Dissepimente zu zeigen. Die weissgelassenen Stellen stellen die verschie-
denen, nicht eingezeichneten Organe dar (cf. Fig. 14). BM Basilarmem-
bran; Mue Muskulatur; P& Pigmentschicht; LM Längsmuskeln; R Ring-
muskeln.
Querschnitt des Rüssels von Planaria lugubris. BM Basilarmembran ;
LM äussere Längsmuskelfasern; ER äussere Ringmuskelschicht; Rad Ra-
diarmuskeln; I.R innere Ringmuskelschicht.
Querschnitt des Rüssels von Dendrocoelum lacteum.
A Form eines lebenden Eies von Planaria lugubris; B Form desselben
Eies acht Minuten später.
Parenchymgewebe von Taenia Mediocanellata.
Querschnitt durch den Uterus, Ut, und Penisseheide, PS, mit dem
darin liegenden Penis, Pe, von Planaria lugubris; Muc Bauch-
muskulatur.
Querschnitt durch den Uterus von Planaria lugubris. Muc Musku-
latur; Ep Epithel.
Junges Dendrocoelum lacteum. Oc Augen; D vorderer Magenast;
R Rüssel; Mg’ einer der hinteren Magenäste, 5 Diam.
Querschnitt durch die Penisscheide, PS, den Uterusgang, Utg, und das
accessorische Organ, Acc. Mue Muskulatur der Penisscheide; Muc' Mus-
kulatur des accessorischen Organs.
x nr
32
Zur Kenntniss des Vorkommens der Speichel-
und Kittdrüsen bei den Decapoden
von Ss
Dr. M. BRAUN.
(Mit Tafel 21.)
In meiner Inaugural-Dissertation !) habe ich eine Mittheilung über von
ınir im Oesophagus des Flusskrebses gefundene Drüsen gemacht, die ich
einstweilen als Speicheldrüsen ansprach, obgleich mir physiologische Experi-
mente fehlten. Ebenda (p. 135) beschreibe ich auch kleine, rundliche
Drüsen aus dem Schwanz und den Anhangstheilen desselben vom Fluss-
krebs als Kittdrüsen, die zwar schon von Lerebouillet gesehen und unter-
sucht, aber in ihrer Structur falsch erkannt worden sind. Ich versuchte
damals an in Spiritus oder trocken conservirten Exemplaren die Verbreitung
dieser Drüsen bei den Decapoden festzustellen, kam aber zu keinem ent-
scheidenden Resultate; es blieb nichts übrig, als auf die Gelegenheit einer
Untersuchung an frischen Thieren zu warten, die sich mir erst im Herbst
dieses Jahres durch einen mehrmonatlichen Aufenthalt auf den Balearen
bot. Es genügte mir, einige Vertreter grösserer Gruppen in den Bereich
der Untersuchung zu ziehen; die hier aufgezählten Decapoden sind bei
weitem nicht die einzigen an Menorka’s Küsten vorkommenden Species 2),
doch glaube ich, da ich bei allen untersuchten Formen die in Rede stehen-
den Drüsen nachweisen konnte, dass dadurch ihre allgemeine Verbreitung
bei den Decapoden festgestellt ist.
‘) Ueber die histologischen Vorgänge bei der Häutung von Astacus fluviatilis.
Diese „Arbeiten“ Bd. II. p. 141.
*) Eine Zusammenstellung der Crustaceenfauna der Balearen findet sich in dem ziem-
lich unvollständigen: Catälogo de los Crustac&os marinos obseryados en las costas de
las islas baleares aus Apuntes para la Fauna Balear por D. France. Barcelö y Combis
in den Anal. de la Soc. Esp. de Hist. Nat. Tom. IV. 1875.
BRAUN: Zur Kenntniss d. Vorkommens d, Speichel- u. Kittdrüsen b.d. Deecapoden. 475
In Nachfolgendem werden bei den einzelnen Arten, die nach dem Hand-
buch der Zoologie II. Bd. von Gerstaecker angeordnet sind, die einzelnen
Variationen beschrieben und beide Drüsenarten gleichzeitig behandelt.
1. Zunft. Decapoda genuina.
x Howde..Brachyura L,atr.
a. Fam. Canerina. Gerst.
1. Grapsus varius Latr. Kleine, rundliche Drüsen, die seltener
schwach verästelt sind und so einfachste, traubenförmige Drüsen darstellen,
liegen im ganzen Oesophagus einzeln oder in kleineren Gruppen zwischen
dem Chitinogengewebe und der Muskulatur im grosszelligen Bindegewebe ;
die Ausführungsgänge durchbohren das Epithel und münden zerstreut über
der ganzen Chitinhaut, welche ganz mit Cuticularhärchen besetzt ist. Die
Mündungscanäle erweitern sich in der Chitinhaut nach innen, also nach dem
Lumen zu trichterförmig. Die Drüsenzellen sind wie überall in den unter-
suchten Fällen grosse, protoplasmareiche, konische oder mehr kubische
Zellen, mit grossem, ovalen Kern, welche den sehr engen Ausführungsgang
des Drüsenfollikels dicht umstehen.
Aehnlich gebaute Drüsen trifft man ausserdem noch in der Oberlippe
und in der ersten und zweiten Maxille an, an ersterem Orte stehen sie in
grossen Haufen zusammen und münden in zahlreichen engen Canälen nach
aussen; in den beiden Maxillen stehen die rundlichen kleinen Drüsen, deren
Zellen ebenso aussehen wie in den Drüsen des Öesophagus, ganz einzeln,
nicht in Haufen und münden in Reihen zu mehreren zwischen dicken Chitin-
haaren auf einer Seite aus.
Da das einzig untersuchte Exemplar ein Männchen war, so kann ich
über Vorhandensein von Kittdrüsen nichts angeben.
2. Pilumnvs hirtellus. Leach. Weibch. Die Drüsen liegen im
Gewebe des Oesophagus in grösseren Häufchen zusammen, als kleine, runde
Körperchen, welche mit konischen stark getrübten Zellen ausgefüllt sind;
die Ausführungsgänge durchbohren als schmale, cylindrische Canäle die
Chitinhaut; sie münden nicht einzeln, sondern in grösseren oder kleineren
Gruppen vereinigt.
Kittdrüsen: In den falschen Füssen des Schwanzes liegen von der
Wurzel beginnend bis an das Ende derselben runde Drüsenkörper mit koni-
schen Zellen, deren enge Ausführungsgänge den Panzer durchbohren und auf
der Fläche des Beines ausmünden.
3. Eriphia spinifrons. Herbst. Weibch. Speicheldrüsen:
Ziemlich dicht unter dem Epithel des Oesophagus liegen in kleineren Gruppen
474 BRAUN: Zur Kenntniss d. Vorkommens d. Speichel- u. Kittdrüsen b. d. Decapoden.
die rundlichen oder manchmal mehr länglichen Drüschen ; die Ausführungs-
sänge stehen zu 3—6 beisammen. In der Oberlippe sind sie zu zwei
orösseren Packeten angeordnet, die seitlich von der Mittellinie derselben
liegen, und deren Ausführungsgänge in Gruppen bis 20 nach aussen münden ;
wie überall in den untersuchten Fällen, gehört zu jedem Drüsenkörper ein
Ausführungsgang, ein gemeinschaftliches Einmünden mehrerer, gesonderter
Säckchen in einen Gang, habe ich nicht beobachtet. Auch hier konnte ich
in der ersten und zweiten Maxille Drüsen von rundlicher Form erkennen,
die jedoch grösser waren als im Oesophagus; an der zweiten Maxille be-
findet sich eine Platte eingelenkt, welche hauptsächlich Sitz dieser Drüsen
ist; auf ihrer, nach der Mundöffnung zu sehenden Seite läuft eine Doppel-
reihe von Chitinhaaren parallel dem Längsdurchmesser der Platte; neben
diesen Haaren erkennt man auf den ersten Blick die grosse Zahl der Aus-
führungsgänge, die in einer eben solchen Reihe angeordnet sind; nur wenige
Drüsen münden zwischen den Haaren und dem Rande der Platte aus.
Kittdrüsen: Auf der Unterseite des Schwanzes erkennt man seitlich
von der Mittellinie eigenthümliche Zeichnungen, die sich durch ihre Farbe von
den anderen Theilen abheben und ungefähr dieselben Stellen einnehmen,
die ich vom Flusskrebs als den Sitz der Kittdrüsen beschrieben und ab-
sebildet habe (cf. loc. eit. tab. VIII, Fig. 6); bei der. vorliegenden Art
entsteht diese Zeichnung fast allein durch die Anhäufung von Pigment-
zellen; jedoch war es möglich, zwischen dem Pigment einzelne unzweifel-
hafte Drüsen und in dem Panzer Ausführungssänge zwischen den zahlreichen
Chitinhaaren zu erkennen. Da dies ein junges Thier war, so liegt die Ver-
muthung nahe, dass die völlige Ausbildung der Kittdrüsen erst zur Zeit
der ersten Eiablage eintritt; die Vermehrung der Drüsen und die Bildung
von Oefinungen im Panzer dürfte sich wohl an die Häutungen anschliessen.
Bei einem älteren Weibchen verhinderte das stark entwickelte Pigment und
die zahlreichen Haare eine genaue Untersuchung; ich konnte zwar rund-
liche Körper von .derselben Grösse wie anderwärts erkennen, die wohl als
Kittdrüsen angesehen werden konnten, doch waren sie mit einer undurch-
sichtigen Masse erfüllt, die weder bei Zusatz von kaust. Ammoniak noch
conc. Essigsäure sich aufhellte und andere Structurverhältnisse darbot.
Sind damit die Kittdrüsen bei Eriphia auch nicht erwiesen, so scheint mir
doch ihr Vorhandensein sehr wahrscheinlich zu sein.
4. Careinus moenas. L. Speicheldrüsen: Die Drüsenmün-
dungen auf der Chitinhaut des Oesophagus sind in einer Längsreihe ange-
ordnet, die noch vor dem Eintritt der Speiseröhre in den Magen aufhört
und etwa 6—8 gesonderte Gruppen von ıMündungen umfasst, von denen
Tab. 21, Fig. 2 einige abgebildet sind. Die Drüsenkörper von dem ge-
BRAUN: Zur Kenntniss d. Vorkommens d, Speichel- u. Rittdrüsen b. d. Decapoden. 475
wöhnlichen, überall wiederkehrenden Bau liegen ausserhalb der Rings-
muskulatur der Speiseröhre und reissen, wenn man den Oesophagus auf die
gewöhnliche Art herauspräparirt, sehr oft ab, bleiben zwischen Muskel-
bündeln, die zur Oberlippe oder zu den Kieferfüssen ziehen, in der Regel
hängen; es ist nöthig, alle diese Theile mit herauszunehmen, das Organ zu
härten und durch Querschnitte sich von der Lage der Drüsen, die, wenn
sie nicht einzeln sondern mit einem oder mehreren, gemeinschaftlichen Aus-
führungsgängen münden würden, einer traubenförmigen Drüse gleichzusetzen
wären, zu unterrichten.
Die Oberlippe enthält ebenfalls diese Drüsen in grosser Anzahl (cf.
Tab. 21, Fig. 1), sie liegen in rundlichem Haufen jederseits der Mittellinie
nach dem Rücken zu und münden in Gruppen bis zu 20 und mehr nach aussen.
Auch das erste Maxillenpaar ist vollgepfropft von Drüsen, bei denen
es leicht gelingt, den Ausführungsgang von seiner Mündung bis zum Ein-
treten in den rundlichen Drüsenkörper zu verfolgen. Die Mündungen liegen
auf beiden Seiten der Maxille.e Die Untersuchung des zweiten Maxillen-
paares führte wegen des starken Pigmentes und des dicken Chitinpanzers
zu keinem bestimmten Resultat.
Kittdrüsen. Hier ist die Untersuchung wegen des reichlichen Haar-
besatzes ausserordentlich erschwert, namentlich an den falschen Füssen, an
welche die Eier angekittet werden. In der Chitinhaut an der unteren Seite
des Schwanzes habe ich keine Drüsenmündungen gefunden, ebensowenig in
dem Gewebe desselben Drüsen. An manchen Stellen des Chitinpanzers der
Unterseite des Schwanzes tragen die einzelnen polygonalen Zellenbegrenzungen
in ihrer Mitte. einen helleren Fleck, der aber zu wenig bestimmt umgrenzt
ist und eher eine leichte Verdickung als eine Drüsenmündung zu sein
scheint, es wäre auch unverständlich, dass der Ausführungsgang die Chiti-
nogenzelle durchbohren sollte.
5. Stenorhynchus longirostris. M. Edw. Männch. Speichel-
drüsen: Auch hier konnten im Oesophagus Drüsen nachgewiesen werden;
die im Bau von den oben beschriebenen kaum abweichen; besonders habe
ich mir die sehr engen Mündungen auf der Chitinhaut des Oesophagus an-
gemerkt. Das erste Maxillenpaar enthält in seinem blattförmigen Theile
ebenfalls rundliche Drüsen, die einzeln nach aussen münden.
Kittdrüsen?
6. Dromia vulgaris Lam. Männch. Speicheldrüsen: Ein
Querschnitt durch den gehärteten Oesophagus gibt am schnellsten Auf-
schluss über die Lagerung der Drüsen (cf. Fig. 6): sie nehmen in grosser
Zahl die beiden Längsseiten der im Qurschnitt langgezogenen Speiseröhre
ein, während die kürzeren so gut wie frei bleiben; relativ weite Canäle in
476 BRAUN: ZurKenntniss d. Vorkommens d, Speichel- u. Kittdrüsen b. d. Decapoden
der sehr dieken Chitinhaut dienen zur Ausmündung nach dem Innern. Die
Drüsenläppchen sind auf dem Schnitt rund, ihre Zellen konisch, in geringer
Zahl um den drehrunden Ausführungssang gruppirt.
Oberlippen und Maxillen habe ich nicht untersucht.
Kittdrüsen?
b. Fam. Oxystomata. M. Edw.
Von dieser Familie ist mir kein Vertreter in die Hände gekommen.
2. Horde Anomura. M. Edw.
ce. Fam. Lithodina. 6erst. 0.
d. Fam. Pagurina. M. Edw.
7. Pagurus maculatus. Risso. Weibch. Speicheldrüsen:
Dieselben stehen in grösseren Haufen im Oesophagus zusammen, ebenso ihre
Mündungen; auch die Oberlippe enthält ebenso gebaute Drüsen, deren Aus-
führungsgänge in Gruppen bis zu 20 nach aussen münden. In den Maxillen
haben ich keine Drüsen gefunden.
Kittdrüsen. In den falschen Beinen des Abdomens, welche von
der eigenthümlichen, taschenförmigen Verlängerung der Chitinhaut bedeckt
werden, zieht ein ganzer Strang von rundlichen Drüsen (cf. Fig. 3), die
einzeln hintereinander, selten zu zweien neben einander liegen, entlang; zu
jeder Drüse lässt sich leicht der enge, die Chitinhaut durchbohrende Aus-
führungsgang erkennen. Die taschenförmige Hautfalte scheint völlig frei
von Drüsen zu sein.
8. Pagurus Fab. sp.? striatus nahestehend. Männch. Speichel-
drüsen: Hier ist fast wörtlich dasselbe zu wiederholen wie bei der vor-
hergehenden Species. cf. Fig. 4.
Kittdrüsen?
e. Fam. Hippidea Latr. 0.
f. Fam. Galatheidea Latr. 0.
3. Horde Macrurar kart.
g. Fam. Loricata Gerst.
9. Palinurus vulgaris Latr. Männch. Dicht unter dem Cylin-
‚lerepithel des Oesophagus liegen runde Drüsen, welche zu den kleinsten
sehören, die ich bisher gesehen habe; nur 6—8 konische Zellen kleiden
auf dem Querschnitt diese Drüsenmembran aus; die Kerne liegen dicht an
der Membran, mit ihrem Längsdurchmesser senkrecht auf dem der Zellen
stehend. Ein kurzer Ausführungsgang windet sich durch das Epithel nach
der Chitinhaut und mündet mit schmalem, eylindrischen Lumen; meist stehen
mehrere Drüschen beisammen in einer Falte des Oesophagus; radiäre, sich
BRAUN: Zur Kenntnissd. Vorkommens d, Speichel- u. Kittdrüsen b. d. Decapoden. 477
theilende Muskelfasern sondern die Drüsen von dem spärlichen gross-
blasigen Bindegewebe ab.
Ueber das Vorkommen dieser Drüsen in den Maxillen fehlen mir
Präparate,
Kittdrüsen?
10. Seyllarus Fab. sp.? Männch. Auch hier liegen die Drüsen
ganz dicht unter den langgestreckten Cylinderzellen der Speiseröhre ; sie
haben eine mehr ovale Gestalt und stehen als längliche Säckchen dicht
sedrängt neben einander; kleinere Gruppen werden durch das Umfassen
der gabelförmig sich theilenden, radiären Muskelfasern gebildet; die Chitin-
haut ist an solchen Stellen fast siebförmig von den zahlreichen Ausführungs-
gängen durchlöchert. Ganz besonders stark ist die Ringsmuskulatur ent-
wickelt, sie beträgt an Breite mehr als doppelt so viel, wie Chitinhaut,
Epithel und Drüsenschicht zusammengenommen; ihre Contractionen müssen
im Verein mit denen der radiären Muskeln von günstigstem Einflusse für
die Entleerung der Drüsen sein.
h. Fam. Astaeina Latr.
11. Astacus fluviatilis Rond. Speicheldrüsen: Hier habe
ich den Angaben in meiner Dissertation noch hinzuzufügen, dass das erste
Maxillenpaar in seinem mittleren, plattenförmigen Gliede etwa 20 rundliche
Drüsen enthält, welche auf der nach aussen gekehrten Fläche ausmünden.
Dieselben Drüsen liegen auch in der sogenannten „lingula“, welche dicht
am Eingang der Speiseröhre steht. Im Ganzen sind diese Drüsen kleiner,
als die aus dem Oesophagus und gleichen mehr den Kiemendachdrüsen ; bei
anderen Decapoden ist jedoch kaum ein Unterschied zu erkennen.
12. Gebia littoralis Riss. Speicheldrüsen „auf einem Haufen
angeordnet, Ausführungsgänge sich verästelnd, so dass eine einfache, trau-
bige Form entsteht; Drüsenzellen konisch, Protoplasma stark getrübt“,
lautet meine Notiz über diesen Punkt bei der vorliegenden Species; Schnitte
anzufertigen habe ich leider unterlassen.
Kittdrüsen: In dem vorletzten und letzen Schwanzsegment bemerkt
man schon mit blossem Auge eine Anhäufung einer weissen Substanz unter
dem Chitinpanzer, die bei der mikroskopischen Untersuchung als aus feinen
Körnchen zusammengesetzt erscheint, denen sich Rudimente von Zellen und
einzelne konische Zellen zugesellen; dergleichen findet man auch beim Fluss-
krebs ausserhalb der Laichzeit. In den falschen Füssen liegen kleine, runde
Drüsenkörper in geringer Zahl, deren Ausführungsgänge leicht zu er-
kennen sind.
478 BRAUN: Zur Kenntniss d. Vorkommens d., Speichel- u. Kittdrüsen b. d. Decapoden.
Aus der Familie Caridina Gerst. und Cumarea Kroyer fehlen mir
Repräsentanten,
2. Zunft. Stomatopoda.
Hier hatte ich Gelegenheit aus der Familie der Squillina Gerst.
Squilla mantis Rond. zu untersuchen, die ich mir von Triest (Baudisch)
senden liess, leider aber bereits derart macerirt ankamen, dass die Chitinhaut
allein nur brauchbar war. Der Oesophagus ist ausserordentlich kurz und
führt gleich in den geräumigen Magen. Auf der Chitinhaut sah ich, da wo
der äussere Panzer nach der Mundöffnung sich umbiegt, eine Reihe von
kleinen Drüsenmündungen, die ich als hierher gehörig betrachte; diese
Stelle ist auch noch dadurch ausgezeichnet, dass auf jedem Zellenfeld sich
nur eine Cuticularleiste findet, während im Oesophagus resp. Magen deren
8—10 vorkommen.
An den breiten Füssen des Postabdomens gelingt es beim Weibchen
ziemlich leicht, sich von dem Vorhandensein von Oeffnungen im Panzer zu
überzeugen; ich kann noch hinzufügen, dass ich dieselben auch von einer
philippinischen Species der Squilla gesehen habe.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Squilla die Eier nicht am Abdomen
mit herumträgt, sondern Eihaufen von bestimmter Form wie die nahestehende
Gattung Gonodactylus Latr. bildet. Von Gonodactylus chiragra Fab. findet
sich ein rundlicher Eihaufen von der Form eines ausgehöhlten Knopfes
(cf. Tab. 21, Fig. 5) in der hiesigen Sammlung, den ich, da meines Wissens
bis jetzt nichts darüber bekannt ist, hier abgebildet habe. Wenn nun auch
wirklich die Squillinen ihre Eier an andere Orte ablegen, nicht an die
Füsse des Postabdomens kitten, so spricht dies kaum gegen das Vorhanden-
sein von Kittdrüsen, die wohl dann dazu dienen, die Eier in bestimmter
Form an einander zu kitten, oder sie vielleicht an andere Gegenstände
festzuheften.
Zum Schluss gebe ich noch eine tabellarische Uebersicht über das Vor-
kommen der beiden Drüsenarten bei Decapoden; -+ bedeutet „vorhanden“,
? „nicht untersucht oder mit fraglichem Resultat“, 0 „nicht gefunden“ und
— nur bei Kittdrüsen, wo ich nur Männchen der betreffenden Species
untersuchen konnte, also über das Vorhanden oder Fehlen der Kittdrüsen
keinen Aufschluss geben kann.
BRAUN: Zur Kenniniss d. Vorkommens d. Speichel- u. Kittdrüsen b. d. Decapoden. 479
Speicheldrüsen| Kittdrüsen.
Species. E > 288% 3 Bemerkungen.
255 |45|58 |
alcja 3 |
1. Grapsus varius | | ++ | N | Männchen |
2. Pilumnus hirtellus a a
' 3. Eriphia spinifrons Gr lm li. 2 +
4. Carcinus moenas Ze. le | ? |
5. Stenorhynehus longirostr. + | ? | + | — | — || Männchen |
6. Dromia vulgaris ae E eNannchen |
7. Pagurus maculatus + +10? | + 0
8. Pagurus sp. ? + /+/J0?I1— || — Männchen |
9. Palinurus vulgaris + |.2°1 2 1 — | Männchen |
10. Scyllarus sp.? Ze 0. Männehen 7, |
ı 11. Astacus fluviatilis +|+/+|+ | + |
12. Gebia littoralis +1? 2? IH. 2? |
——
13. Squilla mantis = 2? | + 0
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 6.
Tafelerklärung.
Querschnitt durch die Oberlippe von Careinus moenas. °°..
a. Haufen von Speicheldrüsen.
b. Ausmündung einer Drüse.
e. Chitinhaut.
d. Chitinogengewebe (halbschematisch).
e. Grosszelliges Bindegewebe mit Muskelfasern.
Ein Stück Chitinhaut aus dem Oesophagus von Carcinus moenas mit den
Mündungen der Drüsen; die Skulpturen sind weggelassen. "29,,..
Ein falscher Fuss aus der Tasche des Postabdomens von Pagurus macu-
latus mit den Kittdrüsen, stark vergrössert.
Querschnitt durch den Oesophagus von Pagurus sp.? °°,.
a. Speicheldrüsen.
Eihaufen von Gonodactylus chiragra, etwas vergrössert; 14—18 mm. Durch-
messer am Präparat.
Querschnitt durch den Oesophagus von Dromia vulgaris schwach vergrössert
schematisch.
a. Drüsenhaufen.
b. Ringmuskulatur,
c. Chitinogenzellen.
Einige Bemerkungen über die „Nephro-
pneusten“ v. Ihering’s.
Von C. Semper.
In der v. Ihering’schen Monographie über das Nervensystem der
Mollusken finden sich hie und da Sätze, welche wohl kaum in zureichender
Weise begründet sein dürften. Es ist nicht meine Absicht, alle diese hier
zu analysiren, da ich offen bekenne, dass ich weder Zeit noch Lust habe,
die zu einer eingehenden Kritik nöthigen neuen Untersuchungen anzustellen.
Wenn ich mir aber einen der schwachen Punkte heraussuche, da ich glaube,
in den mir seit langen Jahren vorliegenden unpublieirten Beobachtungen
hinreichendes Material zu seiner Kritik zur Verfügung zu haben, so thue
ich dies nur, um auf dem von mir durch längere Zeit hindurch begangenen
Felde meine selbstständig gewonnene Stellung zu wahren, und in der Hoft-
nung, man werde meine Weigerung, Alles, was Ihering sagt, zu unter-
schreiben, nicht auffassen als Ausdruck der Meinung, als theilte ich keine
einzige seiner Ansichten. So betrachte ich als einen neuen und frucht-
bringenden Gesichtspunkt z. B. die Annäherung von Chiton an Neomenia
und Chätoderma, zu dessen festerer Begründung er wohl auf die von
Reincke!) beschriebene Entwickelungsweise der Randstacheln der Chitonen
hätte aufmerksam machen können; sie erfolgt hiernach in ursprünglich ge-
schlossenen Hautfollikeln, genau wie bei den Borsten der Anneliden. Auch
die Verhältnisse der Chitonenniere, die so abweichend von derjenigen der
übrigen Mollusken ist, hätte er wohl mit berücksichtigen dürfen. Bedenk-
lich scheint mir dagegen seine Begründung des Gegensatzes der Arthrocochlida
und Platycochlida; denn das Strickleiternervensystem (der Pedalnerven)
') Reincke, Beiträge zur Bildungsgeschichte der Stacheln ete. im Mantelrande der
Chitonen. Z, f. w. Z. Bd, 18, 1868, p. 304, Taf. XXI und XXII. p. 311 weist er
ausdrücklich auf die Annelidenborsten hin. In seiner Abbildung (Taf. XXI, Fig. 5)
von Chitonellus sind die beiden Nerven, deren Bedeutung uns erst durch Ihering
erklärt wurde, bereits abgebildet.
SEMPER: Einige Bemerkungen über die Nephropneusten v. Ihering. 481
welches er bei Chiton !), Haliotis und Fissurella entdeckt hat, kommt zum
Theil etwas metamorphosirt, auch echten Platycochliden zu (Vaginulus,
Onchidium, Limax). Ja, bei Vaginulus ist es sogar in einer Beziehung
typischer ausgebildet, als bei Chiton; denn die beiden von Ihering hier
ganz übersehenen Pedalnerven tragen an den Stellen, wo sie durch die in
Abständen von 1/—!/;, mm. auf einander ziemlich regelmässig folgenden
Quercommissuren mit einander verbunden sind, Ganglienzellen in solcher Menge,
dass dadurch echte Ganglienknoten gebildet werden; und es vereinigen sich
zweitens die beiden primären Pallialnerven — welche bei Vaginulus in die
Leibeshöhle hinein gerathen sind und desshalb wohl von Ihering als die
Pedalnerven angesehen wurden — jederseits mit dem entsprechenden Pedal-
nerven, gerade so, wie dies bei Chätoderma die beiden Längsnerven jeder
Seite nach Graff thun. Umgekehrt stehen bei Chiton die Pallialnerven
nicht mit den Pedalnerven in Verbindung; diese vereinigen sich vor dem
After, jene hinter demselben. Es ist indessen nicht meine Absicht, hier
auf eine Vergleichung des Nervensystems der Mollusken einzugehen; die
obigen kurzen Bemerkungen mögen genügen, um zu zeigen, dass derjenige
Charakter, welcher allein oder doch vorzugsweise Ihering bestimmt, die
Arthrocochliden direct von den Anneliden abzuleiten — das Strickleiter-
nervensystem des Fussmarkes — auch ziemlich deutlich erkennbar bei den
von den Plattwürmern abgeleiteten Platycochliden vorkommt. Die Thering’sche
Entdeckung des Strickleiternervensystems bleibt unter allen Umständen ein
hübscher Griff; und wenn damit auch nicht, wie Ihering wohl in etwas
jugendlicher Begeisterung meint, der Beweis polyphyletischer Abstammung
der Mollusken wirklich bereits erbracht worden ist, so wird er doch nicht
unbedeutenden Einfluss äussern, wie er denn mir selbst schon — ich ge-
stehe das gerne — zur Entdeckung des eigenthümlichen Strickleiternerven-
systems von Vaginulus verholfen hat.
Die Punkte, auf die ich hier etwas näher eingehen möchte, sind die
Stellung von Veronicella und Onchidium zu den übrigen Zwitterschnecken
und die neue Gruppe der Nephropneusten. Hier ist nun vor Allem ein
!) Chiton soll nach Ihering keine „Ganglienknoten‘‘ im Bereich der Pedalnerven
haben. Das ist richtig, wenn man den Nachdruck auf das Wort „Knoten‘ legt.
Ganz falsch aber würde es sein, wollte man nun annehmen, auch die Ganglienzellen
fehlten hier; sie sind vielmehr in massenhafter Entwickelung vorhanden, nicht kleiner
als die des Schlundringes und seiner Ganglienknoten, und sie bilden bis an das
hinterste Fussende eine continuirliche Lage um und an den Pedalnerven Auch die
Pallialnerven sind hier von den gleichen — allerdings recht kleinen — Ganglien-
zellen umgeben. Ich verstehe nicht recht, wie Ihering dieselben hat übersehen
können, was aber doch der Fall gewesen zu sein scheint.
482 SEMPER: Einige Bemerkungen über die Nephropneusten v. Ihering.
Beobachtungsfehler zu berichtigen, für den nicht Ihering, sondern mein ver-
storbener Freund Keferstein !) verantwortlich ist. Derselbe beschreibt genau
den Verlauf einer von der sogenannten Geschlechtsöffnung bei Onchidium
ausgehenden Rille, die er ohne weiteres Samenrille nennt; er gibt ganz
richtig an, dass sie nicht an die zwischen beiden Tentakeln gelegene Oeft-
nung der männlichen Begattungsapparate herantrete, und er beruft sich
dabei auf die gleichlautenden Bemerkungen Blainville’s und Cuvier’s. Ich
kann hinzufügen, dass sie sich unter die Unterlippe herunterbiegt und hier
in einem breiten Spalt zwischen dieser und dem Vorderrand des Fusses
endigt, in welchen sich die sehr kleine, aber bei fast allen ?2) bisher von
mir untersuchten (5) Arten deutlich vorhandene sackförmige Fussdrüse öffnet.
Diese letztere, bekanntlich bei Veronicella und den Limacinen so stark ent-
wickelt, finde ich nirgends in den anatomischen Beschreibungen der Gattung
Onchidium erwähnt.
Trotzdem also erwiesen ist, dass diese Furche nicht an die männlichen
Begattungsorgane herantritt, bezeichnet Keferstein sie doch in entschieden-
ster Weise als Samenrille. Und obgleich er bald darauf bei Vaginulus ?)
eine solche Rille, die von der Geschlechtsöffnung in die Nähe der Be-
gattungsorgane führte, nicht findet, er ferner erwähnt, dass Blainville aufs
Bestimmteste behauptet habe, es verlaufe vom Penis aus der Samenleiter in
der Körperwand bis zur Genitalöffnung, und er endlich ausdrücklich auf
die nahe Verwandtschaft oder Aehnlichkeit zwischen Peronia und Veroni-
cella hinweist: so fühlt er sich doch nicht veranlasst, seine früheren An-
gaben über die Samenrille der ersteren Gattung einer abermaligen Prüfung
zu unterziehen. Ihering adoptirt Keferstein’s Ansicht, ohne ihn auch nur
im Literaturverzeichniss zu citiren; es scheint also, dass er durch eigene
Untersuchung zu demselben Resultat, wie Keferstein, gekommen ist.
Trotzdem ist dies völlig falsch. Wenn die besprochene Rille über-
haupt etwas mit der Ausübung der Geschlechtsfunetionen zu thun hat, so
kann sie unter keinen Umständen als eine äussere Zuleitungsrille des
Samens zu dem Penis, sondern höchstens als weibliche Genitalfurche an-
gesehen werden. Denn es öffnet sich an der dicht neben dem After
!) Keferstein, Ueber die Geschlechtsorgane von Peronia verruculata. Z. f. w.
Z. Bd. 15, 1865, p. 87 und 88.
?) Bei der typischen Onchidium typhae, von der mir zwei Exemplare durch
Stoliezka zugeschickt wurden, habe ich diese Fussdrüse nicht finden können; doch
will ich nicht behaupten, dass sie wirklich fehle; der Erhaltungszustand liess leider
eine sorgfältige Untersuchung nicht zu.
®) Keferstein, Anatomische Untersuchung von Veronicella Bleekeri. Z. f. w.Z.
Bd. 15, 1865, p. 122.
SEMPER: Einige Bemerkungen über die Nephropneusten v. Ihering. 483
liegenden Genitalöffnung eben nur der Eileiter; der Samenleiter geht, mehr
oder minder weit von jener Rille entfernt, und als überall geschlossener
Canal tief in die Muskulatur der Seitenwand des Fusses, eingegraben bis
an den Penis, um hier in bekannter Weise sich an diesen anzusetzen. So-
wohl die Arten der Gattung Onchidium (auch die typische O. typhae), wie
die der Gattung Onchidella verhalten sich in dieser Beziehung völlig gleich.
Es genügt eine einigermassen sorgfältige Untersuchung durch Querschnitte —
die ich bereits vor 17 Jahren in Zamboanga machte, um mich über diesen
Punkt zu orientiren —, an verschiedenen Stellen des Körpers (natürlich
nur rechts), um sich überall von der Anwesenheit eines echten geschlossenen
Samenleiters zu überzeugen. Genau die gleiche Lage hat er bei Vaginulus,
wie schon Blainville gewusst hat; nur ist hier der in der Muskulatur ver-
borgene Theil weit kürzer, als bei Onchidium, da die weibliche Geschlechts-
öffnung viel weiter nach vorn liest.
Die von Ihering nur angedeutete und gleich darauf ziemlich entschieden
abgewiesene Möglichkeit, dass — wie es die Samenrinne zu beweisen
scheine — Onchidium direct von den mit einer echten Samenrinne ver-
sehenen Steganobranchien abzuleiten sei, wird hierdurch entschieden wider-
lest. Denn es stimmt die Gattung Onchidium in allen Einzelheiten ihres
Geschlechtsapparates mit den beschalten „Nephropneusten“ und zum Theil
auch mit den Phanerobranchien überein. Es könnte also scheinen, als ob
die zweite von Ihering hingestellte Alternative in ihr Recht eintrete; dass
Onchidium und Vaginulus als die primitivste Gruppe in derjenigen Ent-
wickelungsreihe der Zwitterschnecken anzusehen seien, die er Nephropneusten
nennt, und dass sie diese direkt mit den Phanerobranchien verbände.
Ich muss indessen gegen diese Annahme entschiedenste Einsprache er-
heben und ebensowenig kann ich die Charakterisirung der Gruppe der Ne-
phropneusten gelten lassen. Ich habe vielmehr die Ueberzeugung gewonnen,
dass Vaginulus und Onchidium nur das eine Ende einer bestimmten Ent-
wickelungsreihe der Stylommatophcoren bezeichnen, nicht aber den Aus-
gangspunkt derselben, und ferner, dass die mit grosser Lungenhöhle ver-
sehenen „Nephropneusten“ doch wahrscheinlich durch die „Steganobranchien“
mit den „Phanerobranchien“ zusammenhängen. Das heisst also, ich kann
die Ihering’sche Ableitung der Lunge der Stylommmatophoren aus einem
Abschnitt der Niere der Phanerobranchien nicht gelten lassen, sie ist
vielmehr eine zu Luftathmung eingerichtete echte Kiemenhöhle.
Zunächst ist zu erwähnen, dass Ihering’s Gedanke recht alt ist; schon
Oken und Souleyet haben die Niere der Nacktschnecken des Meeres
(Elysia etc.) als eine Lunge aufgefasst; ob man aber die Lunge eine um-
gewandelte Niere nennt oder diese als Lunge bezeichnet, ist doch offenbar
ABA SEMPER: Einige Bemerkungen über die Nephropneusten v. Ihering.
ziemlich gleich. Ich meinerseits vermag keinen sonderlichen Unterschied hierin
zu erblicken.
Nach Ihering hat sich also aus einer ursprünglichen echten Niere all-
mälig zunächst die Lunge der Onchidium und Vaginulus, und aus diesen
die der beschalten oder nackten Stylommatophoren entwickelt. Zwei der
drei hierfür angegebenen Argumente aber sind falsch !), wenigstens nicht in
der von Ihering ihnen gegebenen Fassung richtig. Ich finde diese beiden
Argumente in folgendem Satz: Er sagt (p. 226) „Letztere“ (die Lungen-
öffnung der Nephropneusten nemlich) „entspricht aber ihrer Lage nach ge-
nau der Oefinung der Niere bei den übrigen Opisthobranchien und es
entsteht daher sofort die Vermuthung, es möge das Organ, welches hier
functionell als Lunge erscheint, morphologisch die Niere sein. Diese Ver-
muthung wird zur vollen Gewissheit erhoben durch die histologische Unter-
suchung der drüsigen Wandungen des betreffenden Organes, welche in den
Zellen die wohlbekannten Harnconcremente nachweist“.
Es könnte hiernach erstlich scheinen, als habe v. Ihering in der
drüsigen Wandung der Lunge selbst jene Harnconcremente gefunden. Ich
bedaure, ihm hierin entschieden widersprechen zu müssen: die wirkliche
Lunge enthält nie eine Spur der Concremente. Diese kommen vielmehr
ausschliesslich, wenn überhaupt ?), in einem Organ vor, welches der Lunge
!) Auch der darauffolgende Satz enthält einen wesentlichen Irrthum. Ihering
sagt hier, es seien die Onchidien bekanntlich Thiere von amphibischer Lebensweise, bei
denen die Luftathmung noch nicht die ausschliessliche sei. Er ignorirt
dabei, dass Keferstein aus der Untersuchung der histologischen Structur der Rücken-
anhänge von Onchidium verruculatum schon gefolgert hat, dass diese keine Kiemen sein
könnten. Das ist völlig richtig. Die Mehrzahl der Onchidien hat diese Pseudo-
kiemen gar nicht ; wo sie vorkommen (verruculatum, Peronii, tonganum ete.), enthalten
sie kaum Gefässe, sondern fast ausschliesslich dichtgedrängte Gruppen von einzelligen
Drüsen Die Thiere sind auch gar nicht mehr amphibisch, als es z. B. die Auri-
eulaceen sind, Ja selbst weniger; ein in tiefes Wasser gesetztes Onchidium verrucu-
latum kriecht sofort wieder heraus. Nie habe ich ein Exemplar dieser Gattung auf
meinen Reisen so recht im Wasser, sondern immer nur am oder halb im Wasser
gefunden, in Gesellschaft von Insecten, Spinnen, luftathmenden Krebsen (Gecarcinus)
und Schnecken. Von wirklicher Kiemenathmung kann in der That hier nicht die
Rede sein. Wenn einzelne Arten wirklich, wie das mitunter von älteren Reisenden
angegeben wird, längere Zeit, bis zu 24 Stunden oder selbst mehr, unter Wasser
bleiben, so beweist das noch durchaus nicht, dass sie zu dieser Zeit mit ihren soge-
nannten Kiemen athmen; es hängt das vielleicht mit ihrer sehr eigenthümlichen und
unter Schnecken ganz unerhörten Nahrungsweise zusammen. Sie fressen nemlich,
wie die Holothurien, nur Meeressand.
2) In der Mehrzahl der Fälle fehlen bei Vaginulus und Onchidi:m sicherlich
die bei den Heliceen so charakteristischen Harnconeremente, Bei oberflächlicher
SEMPER: Einige Bemerkungen über die Nephropneusten v. Ihering. 485
hart anliegt, neben dieser und theilweise von ihr umschlossen bis zu dem
ziemlich weit vorn, oft selbst in der Mitte des Körpers — genau wie bei
Vaginulus — liegenden Herzbeutel hinzieht, und die wirkliche echte Niere
ist. Ihre histologische Structur ist durchaus abweichend von derjenigen der
Lunge, stimmt aber mit der der Stylommatophorenniere überein.
Man könnte hiergegen vielleicht einwenden, es sei trotzdem jene Lunge
dem ausführenden Abschnitt der Niere oder dem Urinleiter gleichzustellen.
Dagegen hätte ich freilich zu bemerken, dass die bei Vaginulus und Onchi-
dium ganz gleich gebaute (in der Lungenhöhle liegende) echte Niere sich
ihrem Bau nach genau ebenso verhält, wie die der Doriden und beide Ab-
schnitte erkennen lässt, und zweitens, dass bei sehr vielen Stylommato-
phoren die beiden typischen Abschnitte, welche Bergh unterscheidet, die
Urinkammer und der Urinleiter ganz deutlich entwickelt sind, obgleich da-
neben noch eine Lungenhöhle vorhanden ist. Wollte also Ihering trotzdem
die Lunge als den erweiterten Endabschnitt der ursprünglichen Niere an-
sehen, so hätte er anders, als durch die falsche Behauptung, es kämen in
der Lunge der Onchidien Harnconcremente vor, den Nachweis zu führen,
wie aus den ursprünglichen zwei äusseren!) Abschnitten der Niere der
Phanerobranchien die von ihm angenommenen drei Abtheilungen der
Stylommatophoren-Niere hätten werden können.
Auch der erste oben citirte Satz enthält eine schwerwiegende Un-
richtigkeit. Er sagt, es liege die Athemöffnung der Onchidien und Vaginu-
lus genau da, wo sich bei den übrigen Opisthobranchien die
Nierenpore finde. Das ist eigentlich vollständig falsch. Bei allen ‚‚Phanero-
branchien““ und ‚Sacoglossen“, auf die allein es hier ankommt, da Ihering
selbst die „Steganobranchien‘ bei Seite geschoben hat, liegt die Nieren-
pore in der Nähe des Herzbeutels. Da der letztere nun bei der grossen
Mehrzahl dieser Formen weit vorn und meist nach rechts geneigt liegt, so
Untersuchung, wenn man nemlich Lunge und Niere in Fetzen reisst, und zerrupft,
könnte es allerdings scheinen, als seien doch bräunlich gelbe, sehr unregelmässige
Concremente vorhanden. Schnitte lehren, dass diese ausschliesslich im Gewebe der
Lunge vorkommen, und eine genauere Untersuchung und Vergleichung zeigt denn
auch, dass dies nur Pigmenthäufchen, aber keine Harneoncremente sind, Sollte sich
Ihering vielleicht durch diese haben täuschen lassen?
U) Der dritte bei den Phanerobranchien und Steganobranchien vorhandene Ab-
schnitt der Niere, die Nierenspritze (Bergh), welche die Höhlung der Niere mit der-
jJenigen des Herzbeutels in Verbindung setzt, war bisher bei den Stylommatophoren
nicht bekannt; auch ich habe Jahre lang vergeblich darnach gesucht. Sie ist den-
noch bei Helix, wie bei Vaginulus vorhanden; sorgfältig hergestellte lückenlose
Schnittreihen haben dies Resultat völlig sicher gestellt. Der in den Herzbeutel sich
öffnende Trichter der Nierenspritze wimpert, wie bei allen Mollusken.
Arbeiten aus dem zoolog.-zootom. Institut in Würzburg. III. 38
ww
AS6 SEMPER: Einige Bemerkungen über die Nephropneusten v. Ihering.
befindet sich die Nierenpore meist an der rechten Seite des Thieres und
sehr weit vorn; so z. B. liegt sie bei den echten Aeolidien (Cratena,
Flabellina etc.) unter dem zweiten Papillenkissen. Auch wo das Herz, wie
bei Placobranchus fast in der Mitte des Rückens liegt, findet sich die
Nierenpore rechts davon, also seitlich. Nur bei den Doriden und einigen
anderen Familien findet sie sich, wie der After in oder doch sehr nahe an
der Mittellinie am hinteren Ende des Körpers; an diese allein kann
also auch Ihering wohl nur gedacht haben. Aber auch hier nimmt sie
thatsächlich meist eine andere Lage ein, als bei Onchidium; bei dieser
Gattung liegt sie hinter dem After an der Unterseite des Mantels, in der
Furche zwischen diesem und der Fussspitze; bei den Dariden liegt sie mit
dem After zusammen auf der Rückenfläche des Mantels. In der Mehrzahl
der Fälle ist also, ganz im Gegensatz zu Ihering’s Behauptung, keine Ueberein-
stimmung in der Lage der Nierenpore bei Onchidien und den übrigen
Opisthobranchiern vorhanden; und wo sie annähernd, wie bei den Doriden,
stattzufinden scheint, ist sie keinesfalls so genau, wie Ihering meint.
Der Nachweis, dass die Beobachtungsgrundlage, auf welche Ihering
seine Auffassung gründet, falsch ist, könnte ein weiteres Eingehen fast über-
flüssig machen. Es ist indessen ein dritter Punkt, auf welchen Ihering
auch noch Gewicht legt, der Thatsache nach richtig, indessen, wie mir
scheint, von ihm falsch gedeutet worden. Er sieht in dem Factum, dass
Vaginulus wie Onchidium opisthobranch sind !) — wie die „Phanerobranchien“
— einen weiteren Beweis dafür, dass diese beiden Gattungen auch die
niedriger stehenden sein, und als Ausgangspunkt für die phylogenetische
Erklärung der übrigen ‚‚Nephropneusten‘‘ benutzt werden müssten. Er
meint, es sei in der bei diesen beiden Gattungen vorhandenen Lunge be-
reits die Lunge der beschalten Stylommatophoren gegeben, wenigstens der
Anlage nach, und es brauche nur eine allmälige Dislocation und Erwei-
terung zu erfolgen, um aus ihr die Lunge und Niere etwa einer Helix zu
entwickeln.
Es lässt sich hiergegen doch wohl eine andere und wie mir scheint,
besser berechtigte Deutung aufstellen; die nemlich, dass die opisthobranche
Natur von Onchidium und Vaginulus nur eine Folge der gänzlich verdrehten
Lage der Lungenhöhle ist. Es liest auf der Hand, dass die Herzkammer
sich nach vorn, der Vorhof nach hinten richten muss, wenn die Lunge sich
vom Vordertheil des Thieres zurückzieht und ganz nach hinten rückt,
‘) Er vergisst dabei, dass auch Limax und Arion opisthobranch sind; auch bei
diesen beiden „Nephropneusten“ tritt der Vorhof von hinten her an die Kammer und
empfängt — wie bei den Opisthobranchiern — die Lungengefässe von hinten. cf:
Bronn, Thierreich. Bd. III, 2. Taf. CIV, Fig. 3.
SEMPER: Einige Bemerkungen über die Nephropneusten v, Ihering. 487
während das Herz vorne liegen bleibt, wie es der Fall ist. An und für
sich kann also die Thatsache, dass diese beiden Gattungen opisthobranch
sind, nicht ohne Weiteres als ein Argument für ihre Uebergangsstellung zu
den opisthobranchen Phanerobranchien gelten. Es müssten andere Beweis-
sründe hinzukommen. Diese aber fehlen. Ich will kein Gewicht auf die
Flimmerrinne legen, da sie sicherlich derjenigen der Steganobranchien nicht
entspricht, wenn diese wirklich überall eine Samenrille ist. Die Geschlechts-
organe der Onchidiaceen sind durchaus übereinstimmend mit denen der
übrigen Stylommatophoren, und sie schliessen sich viel enger an die eines
Theils der Steganobranchien, als an die Mehrzahl der gleichen Organe bei
den Phanerobranchien an; unter diesen sind es eigentlich nur die echten
Doriden, die in der Beziehung mit jenen einigermassen stimmen, diese aber
sind sicherlich — wie auch Ihering anzunehmen scheint — nicht die ein-
fachsten Phanerobranchien. Die Niere ist gleichfalls grade bei den ein-
facheren Phanerobranchien wesentlich (im Detail wenigstens) anders gebaut,
als bei den Onchidiaceen, welchen letzteren die stark verästelten Nieren-
canäle (Scyllaea, Placobranchus etc.) vollständig mangeln; bei allen „Ne-
phropneusten“ wie „Steganobranchien“ ist der drüsige Theil der Niere
wesentlich compact. Auch im Nervensystem schliessen sich Onchidium und
Vaginulus nicht an die einfacheren Phanerobranchien, sondern vielmehr an
die Steganobranchien oder die höheren Familien jener Gruppe an.
Nimmt man dagegen an, es stellten die Onchidiaceen — neben
mehreren anderen (Zonitidae, Limacidae etc.) — nur den Endpunkt einer aus
den Steganobranchien ableitbaren Entwickelungsreihe dar, so würden alle
jene Gegensätze zu den Phanerobranchien von keiner Bedeutung mehr sein,
da jene ja zunächst aus beschalten Lungenschnecken, und diese wieder aus
beschalten Kiemenschnecken abzuleiten wären. Diese letzteren behielten
ihre Stellung zu den Phanerobranchien vollständig bei; ebensowenig würde
das Mindeste in der Stellung der Basommatophoren — oder Branchio-
pneusten — verändert. Die Nephropneusten selbst würden nicht als
Gruppe (Unterordnung) fallen, da sie in der That in vielen Dingen sowohl
den Basommatophoren, wie den Steganobranchien gegenüberstehen; aber
ihre Lunge wäre nichts desto weniger mit derjenigen der Wasserlungen-
schnecken identisch und nicht als eine umgewandelte Niere zu betrachten.
Der alte Name der Stylommatophoren wäre daher beizubehalten.
Ein wesentliches indirectes Argument, das ich noch für meine Ansicht
anführen kann, glaube ich der Entwickelungsgeschichte — trotz Ihering —
entnehmen zu dürfen. Es ist ein allgemein anerkanntes Gesetz, dass in der
Regel — allerdings nicht immer (Peneus) — die abgekürzte Entwickelung
bei den am Ende einer Entwickelungsreihe stehenden (sogenannten höheren)
33 *
488 SEMPER: Einige Bemerkungen über die Nephropneusten v. Ihering.
Thierformen eintritt. Nun entwickeln sich alle bis jetzt untersuchten Pro-
tocochlides, Planerobranchien und Sacaglossa in der wenigst abgekürzten
Weise, ihre Larven haben die grösste Umwandlung zu bestehen. Bei den
Steganobranchien finden sich dieselbe Larvenform, dieselben Larvenorgane,
aber die Entwickelung ist doch schon direeter, da die Thiere die Schale
behalten. Bei den Pulmonaten (unter die ich nur Ihering’s Branchiopneusta
und Nephropneusta bringe), fehlt meistens die gedeckelte Larvenschale, es
treten zwar neue Larvenorgane auf, aber dies sind embryonale Organe:
das junge aus dem Ei kriechende Thier ist, abgesehen von den Auriculaceen,
schon keine Larve mehr. Bei Vaginulus endlich fehlen, wie ich aus eigener
Untersuchung weiss, nicht blos Larvenorgane, sondern auch alle embryo-
nalen Organe; ihre Embryonen haben weder Schwanz- noch Kopfblasen und
selbst die primären Nieren fehlen hier gänzlich. Die Keimblase wandelt
sich direet im Ei in einen vollständig ausgebildeten Vaginulus um. Wie
sich Onchidium verhält, ist leider unbekannt !); soviel ich auch nach ihren
Eiern gesucht habe, so ist es mir doch nie gelungen, derselben ‚ansichtig
zu werden.
Es leidet für mich hiernach keinen Zweifel, dass Vaginulus gerade so
gut eine nackt gewordene Lungenschnecke ist, wie Limax, Arion, Tennentia,
Anadenus, Testacella etc. und ich bezweifele ebensowenig, dass ihre Lunge
nicht aus der Niere der Phanerobranchien, sondern aus der Kiemenlunge
der Stylommatophoren und Basommatophoren und durch diese aus der Kiemen-
höhle der Steganobranchien abzuleiten ist. Dies Resultat wird bestätigt
durch den Bau der Geschlechtstheile, wie ich demnächst an einem anderen
Orte auseinandersetzen werde.
') Eine kurze Bemerkung von Stoliezka scheint anzudeuten, dass auch hier eine
direete Entwickelung — ohne Larve und Larvenschale — eintrete; denn er sagt, er
habe ganz kleine Thiere in Haufen beisammen in tiefen Erdlöchern gefunden.
Würzburg, den 6. Januar 1877.
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