ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
BEGRÜNDET VON E. MEUMANN
ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR EXPERIMENTELLE
PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
VON
N. ACH, E. BECHER, H. HÖFFDING, F. KIESOW,
A. KIRSCHMANN, 0. KLEMM, E. KRAEPELIN,
F. KRUEGER, C. MARBE, G. MARTIUS, A. MESSER,
R. SOMMER, G. STÖRRING, J. WITTMANN
HERAUSGEGEBEN VON
W. WIRTH
LIL BAND
MIT 25 TEXTFIGUREN
LEIPZIG
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT M.B.H.
1925
Es warden ausgegeben:
Heft 1/2 (S. 1—296) am 12. Juli 1926
Heft 3/4 (S. 297—476) am 18. August 1925
„er
Inhalt des zweiundfünfzigsten Bandes,
Seite
G. Störrıng, Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse und kausale
Behandlung einfacher experimentell gewonnener Schlußprozesse . 1
F. Kızsow, Über die Vergleichung linearer Strecken und ihre Beziehung
zum Weberschen Gesetze . . » 2 2 2 2 2 nr nr ren. 61
Jurıan Siemar, Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes 91
Tueopor Nissen, Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der
Düyssee 2.2 Bee ae 177
Friepeich Nosske, Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Unter-
scheidbarkeit sukzessiver Belastungen der nämlichen Hantstelle.
(Auf Grund eines von Kraepelin gewonnenen Versuchsmateriales.)
Mit 12 Figuren im Text .... 222 Er een „ 1%
Franz Scora, Über das Verhältnis von Vorstellungsbild, Anschauungsbild
und. Nachbild 297
Auguste FLacH, Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß.
Mit 13 Figuren im Text . . 2 222m nen 369
CaRısTIıan Rocer, Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie
WITH en ee he a he a Birne a e )e 441
Literaturberichte:
Pavor Häperuin, Der Charakter. (A. Römer) .. ...... .... 287
Oskar Priister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf.
(A. Römer) e E E a E Be w ie ee a a a O 288
James H. Leusa, Religions and other Ecstacies. (4. Römer). .... 289
Kart Jaspers, Die Idee der Universität. (H. Jancke). ....... 289
W. E. Perers, Die Auffassang der Sprachmelodie. (M. Gebhardt) . . 290
Frorıan Znanieckı, The Laws of Social Psychology. (Bergfeld) . . . 291
Dom Tuomas VERNER Moorx, Dynamic Psychology. (Bergfeld). . . . 292
Ropert A. BROTEMARKLE, Some Memory Span Problems. (Bergfeld) . 298
Henry SHERMAN ÜBERLY, The Range for Visnal Attention, Cognition
and Apprehension. (Bergfeld) . . . .: 2:2: 22er. 293
Leon Dupre Stratton, A Factor in the Etiology of a Sub-Breathing
Stammerer. (Berofdd) 2:2 CN 294
BuLLerin of the State University of Jowa. (Beroflldl ....... 294
L. Vıvante, Note sopra la originalitä del pensiero, specialmente con-
cernenti la psicoanalisi e la psicologia. (O. Klemm) ....... 294
L. Vivante, Intelligence in expression. (O. Klemm). . ... 2... 294
Sypxer Aururz, Neue Strahlen des menschlichen Organismus. (Triepel) 295
Kur HıLoeBRanDt, Gedanken zur Rassenpsychologie. (Triepel) . . . 235
GEBHARD SCHERK, Zur Psychologie der Eunuchoiden. (Triepe.). . . . 296
39152
“Frieveich Jon, Lehrbuch der Psychologie. iO. Sterzinger) . .. . . 469
E. Marrınax, Meinong als Mensch und als Lehrer. (O. Sterzinger) . .
G. E. MüLLer, Abriß der Psychologie. (Aloys Miller). .......
Dr. Max Orrnen, Das Gedächtnis. Die Ergebnisse der experimentellen
Psychologie und ihre Anwendung in Unterricht und Erziehung.
(Aloys Müller) a 2.222 2.2 2.0 we a Sa a aa En
A. Hesaro, La Relativite de la Conscience de Soi. (Max Dessoir)
Dr. Hueo Dinarer, Die Grundlagen der Physik. Synthetische Prin-
zipien der mathematischen Naturphilosophie. (Aloys Müller)... .
Dr. Joser SCHWERTSCHLAGER, Die Sinneserkenntnis. (Aloys Müller). .
Kar Reınınger, Über soziale Verhaltungsweisen in der Vorpubertät.
(AROMO 2: ee re ar ee ee ee ar ae S
Eugen Rosenstock, Soziologie. I: Die Kräfte der Gemeinschaft.
— ER) a zes a. ae ee Bee ee e A a we
J. Sınger, Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. (A. Römer)
Oskar DINGLINGER, Arbeit—Glaube—Liebe. Das Glaubensbekenntnis
eines deutschen Christen. (A. Römer) . . .»... 22 2020.
WILHELM Wonpr, Grundriß der Psychologie. (4. Römer). .....
A. Priser, Untersuchungen zur Psychologie der Blinden. (A. Busemann)
M. SırEyKo, Apperzeption und sukzessive Attention als Grundbegriffe
der Arbeitsschul-Didaktik. (A. Busemann) . . ». 2 2... 2.0.
G. Bacher, Die Achsche Suchmethode in ihrer Verwendung zur Intelli-
genzprüfung. (A. Busemann) . . 2: 2 2 2er...
H. Kırek, Über die Bedeutung der sensoriellen Veranlagung für die
Bildung von Objektvorstellangen, insbesondere auch bei Eidetikern.
(A; Busemunn) u. sos e 8 2.0 er ee a a oa
H. Düxer, Über das Gesetz der speziellen Determination. Ein experi-
menteller Beitrag zur Lehre vom Willen. (4. Busemann)
470
470
G. Störrına, Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse und kausale
Behandlung einfacher experimentell gewonnener Schlußprozesse
F. Kıesow, Über die Vergleichung linearer Strecken und ihre Beziehung
zum Weberschen Gesetze . 2 2: 2 22 m mn Er Er a rer 0.
Juan Sıcmar, Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes
Tueovor Nissen, Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der
— u a sn ee re AR š
Frweprgica Nossge, Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Unter-
scheidbarkeit sukzessiver Belastungen der nämlichen Hautstelle.
(Auf Grund eines von Kraepelin gewonnenen Versuchsmateriales.)
Mit 12 Eiguren im Text
Literaturberichte:
PauL Häiserum, Der Charakter. (A. Römer) . . . 2. 2 2 2 2 2 20.
Oskar Prister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf.
(A: Omen ee ee ee
James H. Leusa, Religions and other Eestacies. (4. Römer)... . .
Karı Jasrers, Die Idee der Universität. (H. Jancke). .......
W. E. Peters, Die Auffassung der Sprachmelodie. (M. Gebhardt)
FLorıan Znasteckı, The Laws of Social Psychology. (Bergfeld) . . .
Dom Tuomas Verser Moore, Dynamic Paychology. (Bergfeld). ... .
Rosert A. BROTEMARKLE, Some Memory Span Problems. (Beryfeld)
Henry SHERMAN OserLy, The Range for Visual Attention, Cognition
and Apprehension. (Berafeld) . . 2:2: 2 2 rn m nen
Leon Dupre Sırarton, A Factor in the Etiology of a Sub-Breathing
Stammerer. (Beryufld) . >: : 2 mern
BuLterin of the State University of Jowa. (Bergfeld . ......
L. Vıvante, Note sopra la originalità del pensiero, specialmente con-
cernenti la psicoanalisi e la psicologia. (O. Klemm) .......
L. Vıvante, Intelligence in expression. (0O. Klemm). . . . a.
Seite
1
91
177
Er
Sypney Aururz, Neue Strahlen des menschlichen Organismus. (Triepel) 295
Kurt HıLdesranpt, Gedanken zur Rassenpsychologie. (Triepel)
GERHARD SCHERK, Zur Psychologie der Eunuchoiden. (Triepel). .
235
. . 295
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse und
kausale Behandlung einfacher experimentell ge-
wonnener Schlussprozesse.
Von
G. Störring.
A. Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse.
Bei einer experimentellen Untersuchung der Schlußprozesse
kann man sich auf eine beschreibende Charakteristik be-
schränken, oder man kann auf die beschreibenden Feststellungen
eine kausale Behandlung der in dem Schlußprozesse gegebenen
Operationen gründen. Macht man sich zum letzten Zweck eine
kausale Behandlung der Schlußprozesse, so ist es sehr zweck-
mäßig, allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse dieser
kausalen Betrachtung zugrunde zu legen, Bestimmungen, welche
zum größten Teil auf Grund von pathologischen Fällen gemacht
sind, zum Teil auch auf Grund von experimentellen Unter-
suchungen über Denkprozesse.
Ich werde zur Grundlegung jener Entwicklungen eine psy-
chologische Charakteristik der Urteile geben, die verschiedenen
Formen des Bewußtseins der Gültigkeit feststellen und die Ab-
hängigkeitsbeziehungen des Bewußtseins der Gültigkeit auf-
weisen.
$ 1. Psychologische Charakteristik der Urteile.
Ich beginne mit einer psychologischen Charakterisierung der
Urteile. Bezüglich der Urteile streitet man gegenwärtig dar-
über, ob zum Urteil im psychologischen Sinn ein Bewußtsein
der Gültigkeit gehört oder nicht. Es läßt sich leicht begreifen,
wie man zu der einen und wie man zu der andern Annahme
kommt. Zur Annahme, daß die ‚Urteile sich mit dem Bewußt-
sein der Gültigkeit verbinden, kommt man, indem man sich
sagt, die Urteile sind elementare Schritte im Denken, und das
Denken ist doch eine intellektuelle Operation, auf deren Gültig-
Archiv für Psychologie. LH. 1
gg a ’a . © psoe o e a^ G. Störring,
keit man sich verläßt, es müssen also wohl alle Urteile sich
mit dem Bewußtsein der Gültigkeit verbinden. Diese Annahme
findet man in gewissen Urteilen, in denen wir unsere Auf-
fassung Hemmungen gegenüber behaupten, deutlich bestätigt:
Da sehen wir in unverkennbarer Weise ein Gültigkeitsbewußt-
sein hervortreten. — Die Gegenpartei stützt sich auf die Tat-
sache, daß man beim Rückblick auf die Lektüre einer Reihe
von Sätzen einer Schrift, in deren Materie man zu Hause ist,
den Eindruck hat, als ob nicht mit jedem Schritt im Denken
das Bewußtsein der Gültigkeit aufgetreten sei.
Gegen die letztere Betrachtungsweise läßt sich allerdings
einwenden, daß die Verhältnisse zu komplex sind, als daß man
bei einem solchen Verfahren. zu einem sicheren Urteil kommen
könnte.
In dieser Streitfrage habe ich auf experimentellem Wege
eine Entscheidung herbeizuführen gesucht, und zwar nicht durch
experimentelle Untersuchung von Urteilen für sich genommen,
sondern durch Untersuchung von Urteilen in Schlußprozessen.
Untersucht man die Urteile für sich genommen, wie das Marbe
getan hat, und kommt etwa zu dem Resultat, daß sich nicht
überall bei denselben das Bewußtsein der Gültigkeit findet, so
wird der Gegner einen Beweis dafür verlangen, daß es sich
auch wirklich um Urteilsprozesse gehandelt hat!
Untersucht man aber die Urteile in Schlußprozessen, deren
Resultat als gültig angesprochen wird, so kann niemand be-
zweifeln, daß die in den Schlüssen gemachten einzelnen Schritte,
welche dem Schlußsatz zugrunde liegen, als Urteile anzusprechen
sind.
Eine Untersuchung der Urteile in Schlußprozessen hat aber
zu folgendem Resultat geführt:
Meine Vpn. machen ganz übereinstimmend bei der Ent-
wicklung von Schlüssen auf Grund der Darbietung von zwei
Prämissen die bestimmte Angabe, daß sich nicht
mit jedem Schritt im Denken ein Bewußtsein der
Gültigkeit verbunden habe; aber ich kann bei jedem
Schritt im Denken ein Äquivalent des Bewußt-
seins der Gültigkeit aufweisen.
Vp. E wurden akustisch die Prämissen dargeboten:
Vorgang M später als Vorgang K
Vorgang G später als Vorgang M
Also: a
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 3
Beim Auffassen der ersten Prämisse »Vorgang M später
als Vorgang K« wurden die Buchstabengrößen M und K un-
deutlich lokalisiert, und zwar M mehr nach oben rechts als K.
Beim Anhören der zweiten Prämisse »Vorgang O später als
Vorgang M« entstand sofort der Gedanke: es geht in der
gleichen Richtung noch weiter, dabei war eine Tendenz zur
Bewegung des rechten Arms vorhanden. Bei diesem Gedanken:
»es geht in der gleichen Richtung weiter« war das Bewußt-
sein der zeitlichen Beziehung nicht deutlich ausgeprägt. Es
war die Vorstellung einer geraden Linie vorhanden. Auf Grund
dieses. Gedankens wurde dem O ein bestimmter Platz an-
gewiesen, ohne daß es sich an demselben visuell dargestellt
hätte. Auf Grund dieses Gedankens »in der gleichen Richtung
noch weiter« wurde dann auch der Schlußsatz entwickelt (in-
dem Vorgang O als der späteste Vorgang aufgefaßt Wurde
und deshalb auch später als Vorgang K); ein »Ablesen« des
Schlußsatzes aus dem visuell und akustisch gegebenen Gesamt-
tatbestande hat nicht stattgefunden. — Nach dem Hören der
zweiten Prämisse trat in Vp. die Überzeugung auf, daß sie
ein deutliches und ausreichendes Gesamtbild erhalten werde
und Befriedigungsgefühl. In diesem Moment scheint der Schluß
schon andeutungsweise antizipiert zu sein. Die später auf-
getretenen Prozesse haben vielleicht eine schwache Bekannt-
heitsqualität. — Ein Bewußtsein der Sicherheit hat
sich mit den zum Schluß führenden Prozessen
nicht entwickelt. Vp. sagt: »Aber es waren beim
Aussprechen des Schlußsatzes die Bedingungen
zur Entwicklung des Bewußtseins der Sicher-
heit bis auf die Bedingung realisiert, daß ich
darnach frage«
In späteren Versuchen wurde nur die Richtigkeit —
Bestimmung bestätigt. Vp. sagt ein anderes Mal, es seien die
Bedingungen für die Entwicklung des Bewußtseins der Richtig-
keit so ausgeprägt gewesen, daß ein kleiner Antrieb sofort
das Bewußtsein der Richtigkeit hervorgerufen habe; noch ein
anderes Mal: »Wenn ich zurückgeblickt hätte, würde
ich sofort das Bewußtsein der Sicherheit bekommen haben.«
Es drängt sich Vp. gelegentlich der Vergleich auf: der ganze;
Tatbestand ist einem kleinen, fest konstruierten Turm ähnlich,
das Feste daran sei die Hauptsache. Das Feste sei die Not-
wendigkeit der Aneinandergliederung.
1*
4 G. Störring,
Für eine Vp. K sind die Aussagen zu folgendem Schlusse
charakteristisch.
Es wurde exponiert:
Alle K gehören zur Gattung J
Manche K haben die Eigenschaft R
AlO ur ur cl ar, ee de re
Bei Auffassung der ersten Prämisse wurden K und J als
eng verbunden aufgefaßt. Dabei war sich Vp. bewußt, daß
nur das K an das J gebunden ist, nicht das J an das K.
»Ich kann an das J denken, ohne K mitdenken zu müssen.«
Der Inhalt der zweiten Prämisse erschien ihr als das Behaupten
einer Tatsache. Dabei wurde das »Manche« nicht besonders
beachtet. Dann trat der Gedanke auf: diese K, die zu J ge-
hören, haben die Eigenschaft R. Darauf kam, ohne Hinein-
legem eines Gesichtspunktes der frühere Gedanke: es gibt J,
die auch ohne K gedacht werden können. Diese J haben nicht
die Eigenschaft R. — Ein Bewußtsein der Gültigkeit trat
während der Operationen nicht auf, auch nicht am Schluß.
Diese Vp. gibt im Moment der Gewinnung des Schlußsatzes
ein Klopfsignal, anstatt den Schlußsatz gleich auszusprechen,
da sie etwas stottert. Sie sagt von diesem Signal: Ich gab
das Signal zuversichtlich ohne Schwanken. Es war ein »zu-
versichtliches Verhalten ohne Bewußtsein der Zuversicht«.
Diese Zuversicht begleitet auch die einzelnen Schritte. Es
handelt sich nicht um einen besonderen Gedanken, nicht um
ein Bewußtsein der Gewißheit, aber es ist Etwas da, eine
Verfassung (oder wie man es nennen will), in
dem gewisse Empfindungen und ein Gefühl (wohl
ein lustgefärbtes Gefühl) stecken, welches Etwas bei
Fragestellung, ob die Sache stimmt, einen festen
Anhaltspunkt gibt zur Bejahung.« Vp. hebt dann noch
hervor, daß man leicht den Gedanken ohne Worte in dieses
Phänomen hineintragex könne: »die Sache stimmt, es ist
richtig«.
Eine dritte Vp., Vp. Schl. bezeichnet das, was bei den
Schlußoperationen beim Fehlen des Bewußtseins der Sicherheit
vorhanden ist, als eine bestimmte Seite der Prozesse.
Es wurden akustisch dargeboten die Prämissen:
Alle K haben die Eigenschaft F
Alle K gehören zur Gattung L
Also: ee
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 5
Bei Auffassung der ersten Prämisse stellen sich die Buch-
staben K und F visuell dar. Vp. sagte sich, daß von dem K .
etwas ausgesagt werde.. Bei Auffassung der zweiten Prämisse
trat eine visuelle Darstellung der Buchstaben K und L auf.
K wurde zu L in eine Beziehung gesetzt, die dazu benutzt
wurde, um an die Stelle von K »einige L« in die erste Prämisse
einzusetzen. Damit war der Schluß gegeben: einige L haben
die Eigenschaft K. `
Sicherheit war bei den Schlußoperationen vorhanden, nicht
als Bewußtsein der Sicherheit oder Gültigkeit, außer nach
Entwicklung des Schlußsatzes, sondern als eine Seite der
Prozesse, die ziemlich gleichmäßig auf die Prozesse verteilt
war. Diese Seite war mit den Prozessen kontinuierlich vor-
handen, außer da, wo ein neuer Gedanke einsetzte. Eine Unter-
brechung hat stattgefunden nach Auffassung der ersten Prä-
misse, dann nach Auffassung der zweiten Prämisse, dann blieb
sie bis zur Entwicklung des Schlußsatzes. Nach Entwicklung
des Schlußsatzes trat eine Art Schwanken auf. Vp. sagt, dies
scheine wohl eine Frage gewesen zu sein, ob die Sache stimme.
Diese Frage wurde bejahend beantwortet ohne
W:orte: der Gedanke war da: es ist richtig. Diese Bestimmung
fand statt, ohne daß die Prozesse wieder durchlaufen wurden
— und zwar auf Grund des Vorhandenseins bzw.
Erinnerung an jene Seite der Prozesse.
Nachdem Vp. diese Charakterisierung einmal gegeben hat,
behält sie dieselbe in den späteren Versuchen bei. Stets ent-
wickelt sich erst auf Fragestellung, ob die Sache stimmt, aus
dieser Seite der Prozesse das Bewußtsein der Gültigkeit, und
zwar meist ohne Worte.“
Eine vierte Vp., Vp. Ln., spricht da, wo in den Schluß-
prozessen kein Bewußtsein der Gültigkeit auftritt, von einem
»Charakter der Sicherheit«. Es liegt kein Bewußtsein der
Sicherheit vor, aber, »wenn ich etwas hätte sagen müssen, hätte
ich gesagt, es ist richtig so«. Oder ein anderes Mal: »Wenn
ich dieses Beziehungsetzen hätte charakterisieren müssen, 80
hätte ich es mit Sicherheit als richtig charakterisiert, dasselbe
wurde aber nicht so charakterisiert.« Oder: »Es bestehen
Tendenzen, welche bei Fragestellung die Veran-
lassung gaben zur Entwicklung des Gedankens
der Sicherheit« u. ähnl.
GS
6 G. Stärring,
Die letzte Vp., Vp. R, sagt, es handle sich um eine schwer
. zu beschreibende Art von Empfindung, verbunden mit einem
Befriedigungsgefühl. Auf dieses psychische Etwas gründe
sich das Bewußtsein der Gültigkeit.
Alle Vpn. stimmen also darin überein, daßin
den Schlußprozessen ein Etwas eine dominie-
rende Rolle spielt, welches sich deutlich unter-
scheidet von dem Bewußtsein der Gültigkeit mit
oderohne W.orte: ich muß so denken, es ist denknotwendig,
jeder muß so denken, es kann nicht anders sein u. ähnl.
Dieses in den Prozessen gegebene Etwas ist so
beschaffen, daß auf Grund der Frage nach der
Gültigkeit und beim Hinblick auf dieses Etwas
Bejahung eintritt.
Ich nenne dieses Etwas Äquivalent des Bewußt-
seins der Gültigkeit.
Damit ist die Streitfrage also entschieden, ob
sich mit Urteilen ein Bewußtsein der Gültigkeit
verbindet oder nicht. Wir haben es also in einem Urteil
mit einem Bewußtseinsvorgang zu tun, der sich mit einem Be-
wußtsein der Gültigkeit oder mit einem Äquivalent dieses Be-
wußtseins verbindet. Dieser Bewußtseinsvorgang selbst ist jetzt
noch näher zu charakterisieren. Wir haben es in allen Urteilen
mit Beziehungsgedanken zu tun. So habe ich es mit einem
Gedanken der räumlichen Beziehung zu tun, wenn ich
von einem Körper sage, daß er in der und der Richtung von
einem andern steht, mit einer zeitlichen Beziehung,
wenn ich einen Vorgang als früher ablaufend bezeichne als
einen andern, mit einer Inhärenzbeziehung, wenn ich
von einem Ding sage, daß es die "und die Eigenschaft, die
und die Tätigkeit aufweist. In einem Urteil stellt sich uns
weiter etwa die Beziehung zwischen Teil und Ganzen dar.
Sodann kommen in einem Urteil kausale und logische
Abhängigkeitsbeziehungen zur Feststellung. Ich
charakterisiere in einem Urteil Größen als gleich oder ver-
schieden, als größer oder kleiner. Ich vollziehe in einem
Urteil Kolligationsbeziehungen und man vollzieht
Gattungsbeziehungen.
Wir haben es also in einem Urteil jedenfalls zu tun mit
einem Beziehungsgedanken, der sich mit dem Bewußt-
sein der Gültigkeit oder mit einem Äquivalent dieses Bewußt-
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 7
seins verbindet. Wir müssen das Urteil aber noch näher
charakterisieren, um es abzuheben gegenüber einem reprodu-
zierten Urteil, also gegenüber einem Beziehungsgedanken, an
den sich ein nur reproduziertes Bewußtsein der Gültigkeit an-
schließt, ein Bewußtsein der Gültigkeit, das sich nicht auf die
unmittelbar vorher vollzogenen Operationen, sondern auf weiter
zurückliegenden Operationen gründet.
Wir können nun das Urteil im psychologischen
Sinne endgültig definieren als einen Beziehungs-
gedanken, der sich verbindet mit einem Bewußt-
sein der Gültigkeit oder mit einem Äquivalent
dieses Bewußtseins, wobei das Bewußtsein der
Gültigkeit oder das Äquivalent dieses Bewußt-
seins sich auf die unmittelbar vorangegangenen
Prozesse gründet.
§ 2.
Abhängigkeitsbeziehungen des Bewußtseins der Gültigkeit.
Ein Einblick in die Abhängigkeitsbeziehungen des Bewußt-
seins der Gültigkeit ist natürlich von grundlegender Be-
deutung für die Psychologie der Denkprozesse,
weil die Denkprozesse durch ein Bewußtsein der Gültigkeit
charakterisiert sind oder durch ein Äquivalent dieses Bewußt-
seins.
Im pathologischen Seelenleben tritt das Bewußtsein der
Gültigkeit in abnormer Stärke auf bei den Erscheinungen,
die man Wahnideen nennt. Bei ihnen ist das Bewußtsein der
Gültigkeit so stark, daß der, abgesehen von bestimmten Wahn-
ideen, für gedankliche Entwicklungen durchaus zugängliche
Patient auch nicht durch die plausibelsten Ausführungen dazu
bewogen werden kann, von einer bestimmten Beurteilungsweise
eines gewissen Tatbestandes abzugehen.
In solchen Fällen, wo das Bewußtsein der Gültigkeit ab-
norme Stärke hat, treten auch die Abhängigkeitsbeziehungen
deutlicher hervor als in der Norm.
Ich habe die Abhängigkeitsbeziehungen des Bewußtseins
der Gültigkeit zuerst in meinen »Vorlesungen über Psycho-
pathologie in ihrer Bedeutung für die normale Psychologie«
an der Hand von pathologischen Fällen aufgedeckt.
8 G. Störring,
Man muß bei solchen Untersuchungen darauf bedacht sein,
mit sogen. »reinen Fällen« zu arbeiten, mit Fällen also, die
keine Komplikationen durch anderweitige pathologische Er-
scheinungen aufweisen. So sind Fälle, welche sich mit Hallu-
zinationen oder Illusionen komplizieren, auszuschließen. Am
geeignetsten für solche Feststellungen sind Fälle beginnenden
Verfolgungswahns. Ich kann hier keine Beschreibung von
solchen Fällen geben, das führt mich hier zu weit; ich ver-
weise außer auf das oben zitierte Buch auf meine Psychologie).
Die Verfolgungsideen entspringen aus einer mißtrau-
ischen Verstimmung abnormer Intensität.
Es fragt sich nun zunächst, wie die mißtrauische Ver-
stimmung es fertig bringt, bei intakter Intelligenz die wahn-
haften Urteile zu erzeugen, welche wir in den Wahnideen
vorfinden. |
Früher hat man sich den Einfluß von pathologischen Ver-
stimmungen auf die Bildung falscher Urteile in Wahnideen
durch Schlüsse zustande kommend gedacht. So sagt der be-
kannte Wiener Psychiater Meynert bezüglich der Ent-
stehung der Größenideen auf Grund krankhaft gehobener
Stimmung: von der gewöhnlichen Auffassung werde dem
Reichen, dem Herrschenden, dem Berühmten die Gemütsstimmung
des Glücksgefühls zugeschrieben, und der Kranke schließe nun
von seiner gehobenen Stimmung auf Reichtum, Macht, Be-
rühmtheit usw.
In Analogie mit dieser Betrachtungsweise Meynerts hat
sich Sandberg die Wirkung der pathologischen mißtrauischen
Verstimmung in intellektuellen Prozessen gedacht: »Während der
Gesunde durch Beobachtet-, Verfolgtwerden mißtrauisch wird,
schließt der Verrückte umgekehrt aus dem Mißtrauen, daß er
beobachtet, verfolgt wird.«
Ich wende gegen diese Auffassung ein, daß solche Schlüsse
nicht nachzuweisen sind und daß es eine üble Sache ist, etwa
unbewußte Schlüsse anzunehmen. Ich glaube gezeigt zu haben,
daß sich auf Grund der mißtrauischen Verstimmung falsche
Urteile ausbilden, indem der Gefühlszustand der mißtrauischen
Verstimmung eine Beeinflussung der Aufmerksamkeitsprozesse,
der Wahrnehmungen des Vorstellungs- und Gedankenverlaufs
bedingt, und zwar nach den allgemeinen psychologischen Gesetz-
1) Störring, Psychologie S. 259 ff.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 9
mäßigkeiten. So wird das Material für das Urteil
einseitiggestaltetund verfälscht, so daß auf Grund
dieses Materials ein Urteil zustande kommt, welches sich selbst
wieder mit einem mißtrauischen Gefühlszustand verbindet.
Auf diese Weise kommen infolge der krankhaft-miß-
trauischen Verstimmung mißtrauische Deutungen ge-
gebener Tatbestände zustande.
Wir haben uns nun aber vor allem Sen wie
es kommt, daß eine mißtrauische Deutung mitab-
normer Zähigkeit festgehalten wird. Es hat sich
ergeben, daß von dem abnorm starken Sichauf-
drängen der mißtrauischen Deutung eines ge-
gebenen Tatbestandes gegenüber anderen Deutungen das abnorm
starke Bewußtsein der Gültigkeit des in der Deutung Gedachten
abhängt.
Eine zweite Abhängigkeitsbeziehung des Bewußtseins der
Gültigkeit ergibt sich aus Fällen beginnender Gehirnerweichung.
In ihnen tritt die Abhängigkeit des Bewußtseins der Gültigkeit
von der Aufmerksamkeitsbetätigung hervor. Diese
beiden Abhängigkeiten habe ich in folgender Fassung vereinigt:
Das Bewußtsein der Gültigkeit tritt dann auf,
wenn unsere Aufmerksamkeit sich auf einen zu
beurteilenden Tatbestand unterbestimmtem Ge-
sichtspunkt richtet und wenn sich dabei ein ge-
wisser Beziehungsgedanke aufdrängt, während
die Aufmerksamkeit diese Einstellung hat. Wir
nennen diese Einstellung die Einstellung zum Denken.
Diese an der Hand von pathologischen Fällen gemachte
Feststellung über die Abhängigkeitsbeziehungen des Bewußt-
seins läßt sich in schöner Weise bestätigen. Es läßt sich
nämlich zeigen, daß die hier aufgewiesenen Beding-
ungen für die Entwicklung des Bewußtseins der
Gültigkeit auch das Entstehen wirklich gültiger
Beziehungsgedanken verständlich machen. Be-
achten wir den kolossalen Gegensatz zwischen dem Vorstellungs-
verlauf, der nicht von der beschränkenden Einstellung zum
Denken abhängig ist, und dem Vorstellungs- und Gedanken-
verlauf, der unter dieser Einstellung sich abspielt! Es ist
bekannt, daß, während auf eine Vorstellung V.„ in Repro-
duktionsversuchen bei einem bestimmten Menschen zu be-
stimmter Zeit eine Vorstellung V,, zu einer anderen Zeit bei
10 G. Störring,
derselben Vp. die Vorstellung V, auftritt, und noch andere
Vorstellungen bei anderen Vpn. Diese anscheinende Unregel-
mäßigkeit ist bekanntlich auf die von Moment zu Moment,
bei derselben Person wechselnde Konstellation des Bewußt-
seins zurückzuführen. Angesichts dieser Tatsache fragt man
sich: wie ist es dann überhaupt noch möglich, daß z.B. eine
Rechenaufgabe von mir zu verschiedenen Zeiten und von ver-
schiedenen Personen zu derselben Lösung führt, daß wir Be-
ziehungsgedanken bei Lösung von Denkaufgaben entwickeln,
die Gültigkeit haben für denselben Menschen zu verschiedenen
Zeiten und verschiedenen Personen? Darauf antworten wir:
solche Gedanken kommen zustande, wenn die
Aufmerksamkeitsich in der oben beschriebenen
Weise auf den zu beurteilenden Tatbestand
richtet und dadurch Hemmungen für die Mit-
wirkung variabler Faktoren gesetzt werden; so
wird eine Konstanz der Bedingungen geschaffen,
unter denen Beziehungsgedanken auftreten,
eine Konstanz, welche die Entstehung gültiger
Gedanken verständlich macht.
So finden also unsere Feststellungen über die Abhängigkeits-
beziehungen des Bewußtseins der Gültigkeit eine vorzügliche
Verifikation. Sie bedürfen aber noch der Ergänzung, da das
Bewußtsein der Gültigkeit nicht bloß auftritt, wenn sich ein
Beziehungsgedanke bei Einstellung zum Denken an der Hand
des zu beurteilenden Tatbestandes aufdrängt, also bei der
erlebten Notwendigkeit des Denkens, sondern
auch bei der unter dieser Einstellung erlebten
Notwendigkeit des »Sotunmüssens«.
Ich gebe zunächst einen einzelnen Fall.
Es wurden Vp. E. mit der Anweisung, nur durch Lo-
kalisation zu schließen (nicht unter Verwendung von Gedanken,
der Gleichheit oder des Gegensatzes der in den Prämissen ge-
dachten Beziehungen) die Prämissen exponiert
O rechts von P
F links von P
Also: . ;
Beim Auffassen der ersten Prämisse »O rechts von P« ent-
steht ein leichtes Unlustgefühl, weil hier auf dem Papier die
Buchstaben nicht in dieser Beziehung stehen. Dann wird O
rechts von P lokalisiert, und zwar nahm Vp. ein Ver-
Allgemeine Bestimmungen tiber Denkprozesse usw. 11
schieben von O von der Stellevor, dieesauf dem
exponierten Zettel einnimmt. Vp. hatte den Ein-
druck, einer Vorschrift nachzukommen, wie wenn Experi-
mentator gesagt hätte: ich gebe Ihnen zwei Kugeln von gleicher
Farbe, legen Sie sie vor sich hin; legen Sie die so und so ge-
färbte rechts von der anderen.
Beim Auffassen der zweiten Prämisse »F links von P« trat
das Bewußtsein auf, daß F hier sowieso links von P lokali-
siert ist. Es war keine Lokalisation nötig. Die beiden P wurden
nicht unmittelbar identifiziert, sondern gewissermaßen durch
Einklammern identifiziert.
Bei dem Lokalisieren des O der ersten Prämisse ist ein
deutlichesNotwendigkeitsgefühl aufgetreten. Dieses
gibt auf die Frage hin nicht Anlaß zu dem Be-
wußtsein »ich muß so denken« oder »man muß so
denken«, sondern zu dem Gedanken »so muß ich
estun«.
Ich will noch einige Angaben anderer Vpn. über diese Er-
scheinung nebeneinanderstellen. Ähnlich wie Vp. E spricht Vp.
K von einem »Tunmüssen«, einem Handelnmüssen im
Gegensatz zum Denkenmüssen. So sagt sie in einem dieser
Versuche bezüglich der Sicherheit beim Vorgang des Lokalisierens:
»Es lag am nächsten nicht der Gedanke des So-
denkenmüssens und nicht der Gedanke des So-
seins, sondern der Gedanke des Sotunmüssens;
die vorliegende Aktivität hindert, von einem Sosein zu
sprechen — am fernsten liegt der Gedanke des Sodenken-
müssens, näher noch der Gedanke des Soseins, am näch-
sten der Gedanke von einer richtigen Handlung.« In einem
anderen dieser Versuche sagte diese Vp. bezüglich der Not-
wendigkeit des Tuns, daß dabei ganz das gleiche Ge-
fühl vorhanden zu sein scheine, wie wenn sich
ihrein Gedanke denknotwendig aufdrängt, nur
seieshiereben nicht ein Gedanke, sondern ein
Handeln. Die erlebte Notwendigkeit sei dieselbe. Wie beim
Denken das Recht in Anspruch genommen werde, neue Ge-
danken auf Grund eines denknotwendig sich aufdrängenden Ge-
dankens zu entwickeln, so hier das Recht, aus der Handlung
wieder Gedanken zu entwickeln. Das geschehe beim »Ablesen«
des Schlußsatzes aus dem gewonnenen Resultat. Auch Vp. K
12 G. Störring,
sagt gelegentlich wie Vp. E, daß sie bei dieser Anweisung die
Prämissen als eine Vorschrift auffasse.
Ähnlich betrachtet Vp. R häufig die Prämissen als einen
Befehl. Sie setzt die Notwendigkeit zu denken in
Gegensatz zu der hier erlebten »Notwendigkeit, eine
Handlung auszuführen«. Gelegentlich äußert sie be-
züglich der Sicherheit, mit der diese Handlung ausgeführt wird:
es ist die Sicherheit, die man hat, wenn man zwei Möbel an
die richtige Stelle setzt.
Vp. Sn. spricht von einem Gegensatz des Sodenkenmüssens
zu dem »Soverschiebenmüssen«. Dabei unterscheidet sie zu-
weilen die verschiedenen Phasen: Sie gibt an, im allerersten
Moment der Befolgung der Anweisung liege der Gedanke nahe:
»so muß ich denken«; wenn das Resultat da sei, liege der Ge-
danke nahe: »so ist es«; zwischen beiden Momenten liege der
Gedanke nahe: »so muß ich die Richtung nehmen, wenn ich
lokalisieren will«e. Daß nach der Lokalisation der Gedanke nahe
liegt, »so ist es«, geben auch die Vpn. E, K und R an.
Eine meiner Vpn., Vp. Schl., spricht nie vom »Sotunmüssen«.
Sie scheint auch nie ein »Verschieben« der Buchstaben vorzu-
nehmen. Später komme ich hierauf noch zurück.
Ich habe das »Sotunmüssen« auch auftreten
sehen, wennich bei Schlüssen mit Subsumtions-
beziehung die Anweisung gab, den Schluß durch
Lokalisieren der Umfänge (Breviloquenz für
Lokalisieren von Repräsentanten der Umfänge)
zu ziehen.
Auf Grund dieser Versuche muß ich von einem
Operieren sprechen, welches den Gedanken der
richtigen Handlung nahelegt, d.h. auf Frage
nach der Richtigkeit hin auslöst.
(Es wird sich später zeigen, daß das Bewußtsein »so ist
es« sich auf die erlebte Denknotwendigkeit gründet.)
Ich mache mir diese Erscheinung so verständlich, daß ich
sage: Wiebeider Denknotwendigkeitein Gedanke
vorliegt, welcher ineindeutiger Weise durch die
Einstellung zum Denken und den zu beurteilen-
den Tatbestand bestimmt ist, so liegt hier bei
dem »Sotunmüssen« ein »Tun« vor, welches in
eindeutiger Weise durch die Einstellung zum
Denken bestimmt ist.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 13
Unter Berücksichtigung dieser Feststellung mache ich zu
obiger Bestimmung über die Abhängigkeitsbeziehungen des Be-
wußtseins der Gültigkeit einen Zusatz und sage:
Das Bewußtsein der Gültigkeit tritt dann
auf, wenn unsere Aufmerksamkeitsich aufeinen
zu beurteilenden Tatbestand unter bestimmtem
Gesichtspunkt richtet und wenn sich dabei ein
gewisser Beziehungsgedanke uns aufdrängt —
oder wenn sich dabei ein gewisses Tun uns auf-
drängt und vollzogen wird —, während die Auf-
merksamkeit diese Einstellung hat.
$ 3. Verschiedene Formen des Bewußtseins der Gültigkeit.
Wir können vier verschiedene Formen des Bewußtseins der
Gültigkeit unterscheiden.
1. Die einfachste Form des Bewußtseins der Gültigkeit ist
gegeben im Bewußtsein der Denknotwendigkeit.
Sie entsteht gewöhnlich auf Grund der erlebten Denknotwendig-
keit, auf Grund des Denknotwendigkeitsgefühls. Die Vp. unter-
scheiden scharf zwischen der erlebten Denknotwendigkeit, Denk-
notwendigkeitsgefühl, und der Auffassung der erlebten
Denknotwendigkeitalssolchen, dem Bewußtsein der
Denknotwendigkeit.
Ebenso unterscheiden die Vpn. scharf zwischen dem Er-
leben der Notwendigkeit in Denkprozessen und
dem assoziativ bedingten Zwangsgefühl! Aber
hier ist eins zu beachten: die klare Erkennung eines
bestimmten psychischen Phänomens und sein
Unterscheiden von anderen psychischen Phäno-
. menen kann stattfinden, ohne daß deshalb das
Individuum in der Lage zu sein braucht, eine.
psychologische Beschreibung des betreffenden
psychischen Phänomens unter Angabe des Unter-
schieds vonähnlichen Phänomenen zu geben. M.
a. W.: In vielen Fällen wird von dem ein psychisches
Phänomen erlebenden Individuum erkannt, daß
es sich um das und das Phänomen handelt, und
es wird deutlich von ähnlichen unterschieden,
aber worin der Unterschied besteht, kann im ein-
14 G. Störring,
zelnen nicht angegeben werden oder ist wenig-
stensschwerangebbar.
Der Unterschied zwischen dem Notwendig-
keitsgefühl in Denkprozessen und dem Gefühl
des assoziativen Zwangs scheint darin zu be-
stehen, daß das Notwendigkeitsgefühlin Denk-
prozessen eben ein Notwendigkeitsgefühl ist,
welches unter einer ganz bestimmten Einstel-
lung, der Einstellung zum Denken, auftritt.
Man könnte auch daran denken, daß das Not-
wendigkeitsgefühl beim Denken sich weiter da-
durch charakterisiere, daß es mit einem Identi-
tätsgefühl verschmelze, welches von der Über-
einstimmung des Gedachten Wit dem zu beur-
tejlenden Tatbestand herstammt. Ein solches Zu-
sammen von Denknotwendigkeitsgefühl und Identitätsgefühl ist
nämlich in vielen Fällen mit Sicherheit nachzuweisen, aber
ich muß behaupten, daß beide nicht immer zusammen gegeben
sind. ge
Ich unterscheide das Gleichheitsgefühl von einer Gleich-
heitssetzung. Unter einer Gleichheitssetzung verstehe ich die
Feststellung der Gleichheit von Größen in einem Urteil. Be-
züglich des Gleichheitsgefühls geben die Vpn. an, daß ein
Gleichheitsurteil nicht vorliege, sondern eine Art von Ge-
fühl oder Empfindung, so beschaffen, daß sie bei leichtem An-
stoß, etwa auf Frage hin, ein Gleichheitsurteil auslöst. Wir
verstehen also unter Identitätsgefühl ein Et-
was, welches so beschaffen ist, daßesauf Frage
hir ein Gleichheitsurteil auslöst.
In einzelnen Fällen scheint etwas vorzuliegen, was in der
Mitte steht zwischen einem Gleichheitsgefühl und einer Gleich-
heitssetzung, ein »Gleichheitsbewußtsein«, ich möchte das in-
- der Mitte stehende Phänomen als reproduzierte Gleichheits-
setzung ansprechen.
Das Identitätsgefühl sehe ich z.B. da deutlich auftreten,
wo in Schlüssen mit räumlichen Beziehungen der Schluß durch
Zusammenfassen der Gedanken der Prämissen in einem an-
schaulichen Gesamttatbestande vermittelt ist, ohne daß beim
Zustandekommen des Schlusses der Gedanke der Gleichheit oder
des Gegensatzes der gedachten Beziehungen eine Rolle spielt,
und zwar tritt das Identitätsgefühl dort auf bei der Zusammen-
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 15
fassung der Prämissen zu einem Gesamttatbestand, während bei
der Auffassung der Prämissen und bei der analytischen Ent-
wicklung des Schlußsatzes aus dem Gesamttatbestande, ‘dem
sog. »Ablesen« des Schlußsatzes aus dem anschaulichen Gesamt-
tatbestande oder Identitätsgefühl, mir nicht nachzuweisen ge-
wesen ist.
Man könnte nun geneigt sein, zu sagen: in manchen Fällen
findet man deutlich neben dem Notwendigkeitsgefühl ein Identi-
tätsgefühl; wenn das nicht überall deutlich ist, so beruht das
vielleicht darauf, daß es nicht neben dem Notwendigkeitsgefühl
bemerkt wird, und dies könnte dadurch bedingt sein, daß
das Identitätsgefühl mit dem Notwendigkeitsgefühl eine Ver-
schmelzung eingeht.
Gegen diese Annahme muß ich nun aber folgendes geltend
machen: in vielen Fällen sagen die Vpn., wo sie zum
Operieren ansetzen, aber nicht sogleich einen
Schrittzum Zieltun,esseidie Überzeugung vor-
handen, daß das, wasetwa kommt, sicher richtig
ist! Hier ist noch nichts gegeben, wodurch das Identitäts-
gefühl hätte ausgelöst werden können!
Soviel von der Charakterisierung des Denknotwendigkeits-
gefühls und seiner Unterscheidung von dem Gefühl des asso-
ziativ bedingten Zwangs. Das Denknotwendigkeitsgefühl unter-
schieden wir sodann von dem Bewußtsein der Denknotwendig-
keit, das wir als die einfachste Form des Bewußtseins der
Gültigkeit auffassen und von dem wir feststellten, daß es sich
aus dem Denknotwendigkeitsgefühl entwickeln kann. F
Das Bewußtsein der Denknotwendigkeit braucht aber nicht
so bedingt zu sein: In einzelnen Fällen gründet es sich auf die
»Empfindung der Erleichterung« beim Vollzug des
Schlußprozesses, auf das dabei auftretende »Beruhigungs-
gefühl« oder auf das »Fehlen von Unruhe« in Schluß-
prozessen. So besonders bei schnell sich abwickelnden Schluß-
prozessen. Man muß beachten, daß diese Erscheinungen das
Denknotwendigkeitsgefühl vertreten können, wenn sie bei Ein-
stellung zum Denken auftreten! Tritt unter Einstellung
zum Denken, bei von der Einstellung abhängigen
Prozessen ein Gefühl der Beruhigung, eine Emp-
findung der Erleichterung auf, so werden die
Erscheinungen von den Vpn. als Zeichen dafür
aufgefaßt, daß der Einstellung zum Denken ent-
16 G. Störring,
sprochen ist! Ähnlich steht es bei dem »Fehlen der Un-
ruhe«, der »Abwesenheit von Störungen«. Die Vpn. sagen dann,
daß das Vertrauen in die Prozesse sich darauf gründet, daß sie
als abhängig von der Einstellung zum Denken aufgefaßt werden.
Das Fehlen von Störungen wird dann gedeutet als ein Fehlen
schwacher Stellen in den Entwicklungen. Damit hängt es zu-
sammen, daß die Vpn., wie wir hörten, zuweilen schon da, wo
sie zum Operieren ansetzen, aber nicht sogleich ein Schritt
zum Ziel erfolgt, die Überzeugung haben, »daß das, was komnt,
richtig ist«!
2. Unter gewissen Bedingungen sehe ich bei Schlußprozessen
an die Stelle des Bewußtseins der Denknotwendigkeit das Be-
wußtsein der Tatsächlichkeit treten. Wir wollen
hier von einer objektiven Modifikation des Bewußt-
seins der Denknotwendigkeit sprechen. Das Bewußtsein der
Tatsächlichkeit entwickelt sich in vielen Fällen aus dem Be-
wußtsein der Denknotwendigkeit. Häufig sagen die Vpn., daß
in den einzelnen, zum Schluß führenden Schritten im Denken
und auch bei Entwicklung des Schlußsatzes das Bewußtsein
der Denknotwendigkeit näher gelegen habe als das Bewußt-
sein der Tatsächlichkeit, daß aber bei dem Aussprechen eine
Modifikation vollzogen sei. Diese Modifikation ist
offenbar durch das Interesse für die objektive
Welt bedingt: wir wissen, daß es nicht so sehr darauf an-
kommt, anderen zu sagen, was wir für denknotwendig halten,
als was richtig ist.
Das Bewußtsein der Tatsächlichkeit entsteht aber nicht nur
aus dem Bewußtsein der Denknotwendigkeit, sondern es kann
sich auch primär entwickeln, und zwar da, wo in Denk-
bestimmungen in Schlußprozessen ein Identi-
tätsgefühl oder Identitätsbewußtsein prävaliert
übereinem Denknotwendigkeitsgefühl.
3. Von dem Bewußtsein der Denknotwendigkeit finde ich
in einigen Fällen eine negative Modifikation in dem
Gedanken: »ein anderes Beziehungsetzen ist nicht möglich«
u. ä& Diese negative Modifikation scheint sich aus erlebtem
Deunknotwendigkeitsgefühl zu entwickeln, wenn die Frage auf-
tritt, ob die Sache stimme oder nicht, unter Betonung der
Negation. So kann dann eine negative Feststellung an Hand
des Denknotwendigkeitsgefühls entstehen.
4. Eine letzte Modifikation des Bewußtseins der Denknot-
Allgemeine Bestimmungen tiber Denkprozesse usw. 17
wendigkeit ist das Bewußtsein der Allgemeingültig-
keit. Auf das Bewußtsein der Allgemeingültigkeit habe
ich bis jetzt experimentell wenig geachtet. Ich habe nur
das eine bei experimenteller Untersuchung der Schlußprozesse
konstatiert, daß in manchen Fällen das Bewußtsein der All-
gemeingültigkeit durch kausale Betrachtung des Denkenden
bedingt ist. Vp. sagt sich dann, daß ein Beziehungsgedanke,
der sich mit Denknotwendigkeit aufdrängt, durch die vorhandene
Einstellung zum Denken und die gegebene Urteilsmaterie kausal
bedingt sei und daß bei Anderen unter denselben Bedingungen
wieder derselbe Gedanke auftreten müsse.
Man kann aber das Denken nicht bloß kausal betrachten,
sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Beziehung von
Grund zu Folge. Eine Denkbestimmung kann sich
auch als allgemeingültig darstellen, weil sie als
aus gewissen Voraussetzungen folgend aufge-
faßt wird.
Damit sind zwei total differente Formen des Bewußtseins
der Allgemeingültigkeit gegeben.
Bezüglich der ersten Entwicklung des Bewußtseins der
Allgemeingültigkeit nehme ich folgendes an: Das denknot-
wendig Gedachte stellt sich dem Individuum zunächst als ihm
aufgezwungen dar. Aus der Auffassung des so Gedachten als
ihm aufgezwungen muß sich dem Individuum auf Grund
von einer auf Ähnlichkeitsassoziation gegrün-
deten Analogiebetrachtung die Auffassung ent-
wickeln, daß das so Gedachte unter den ge-
gebenen Verhältnissen sich auch Anderen auf-
zwinge.
Wir hätten dann also zu unterscheiden ein durch Ähn-
lichkeitsassoziation, ein durch kausale Betrach-
tung des Denkgeschehens und ein durch die Betrachtung von
Denkbestimmungen unter dem Gesichtspunkt der Beziehung
von Grund zu Folge bedingtes Bewußtsein der Allgemein-
gültigkeit.
B. Die kausale Behandlung einfacher, experimentell
gewonnener Schlußprozesse.
Die Unterscheidung der Denkprozesse von denjenigen Vor-
stellungs- und Gedankenverbindungen, bei denen Vorstellungen
und Beziehungsgedanken, die früher im Bewußtsein mitein-
Archiv für Psychologie. LII. 2
18 G. Störring,
ander verknüpft waren, sich reproduktiv wieder aneinander
angliedern, haben wir durch experimentell-psychologische Unter-
suchungen vollzogen. Es zeigte sich mir, daß die Denkprozesse
durch ein Bewußtsein der Gültigkeit oder ein Äquivalent des-
selben charakterisiert sind, und es ergab sich mir sodann auf
Grund pathologischer Tatbestände eine für die Psychologie
der Denkprozesse grundlegende Erkenntnis der Abhängigkeits-
beziehungen dieses Bewußtseins; es stellte sich dabei heraus,
wie es möglich ist, trotz des Bestimmtseins unsers nicht unter
Einstellung zum Denken stehenden Vorstellungs- und Gedanken-
verlaufs durch die von Moment zu Moment variable Kon-
stellation des Bewußtseins, Bestimmungen zu machen, die
Gültigkeit haben.
Um einen näheren Einblick in die Einzel-Gestaltung der
Denkprozesse zu gewinnen, schlägt man am besten ein ex-
perimentell-psychologisches Verfahren ein.
Man untersucht die Denkprozesse gegenwärtig mit zwei
verschiedenen Methoden. Die Külpesche Schule hat die
Denkprozesse näher zu bestimmen gesucht, indem sie den Vpn.
Arfgaben stellte, welche zu dem dargebotenen Wort für einen
Begriff die Angabe des Wortes für den übergeordneten Begriff,
für den nebengeordneten Begriff, für den untergeordneten Be-
griff usw. forderten. Ich selbst habe eine Untersuchung der
Denkprozesse vollzogen, indem ich den Vpn. Prämissen mit
verschiedenen Beziehungsgedanken bei der Aufforderung dar-
bot, aus den Prämissen einen gültigen Schluß zu ziehen. Bei
dieser Untersuchung habe ich nicht mit bestimmten Begriffen
gearbeitet, sondern mit Buchstabengrößen, weil so die Verhält-
nisse sich einfacher gestalten. Die denkende Verarbeitung der
schematisch durch die Buchstaben gegebenen Größen ist besser
erkennbar, als wenn man mit bestimmten Größen arbeitet, wobei
die Auffassung dieser bestimmten Begriffe einen großen Teil
der disponiblen psychophysischen Energie in Anspruch nimmt
und wobei außerdem die bei der denkenden Verarbeitung ge-
setzten Beziehungen sich nicht so scharf abheben von dem zu
beurteilenden Material als bei den Buchstabengrößen. Erst nach
der Verarbeitung des ganzen Gebiets mit Buchstabengrößen
halte ich es für angebracht, mit bestimmten Begriffen zu
arbeiten.
Die Untersuchung des Denkens in Schlußprozessen dürfte
vor der Untersuchung nach der Methode der Külpeschen
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 19
Schule jedenfalls den Vorteil bieten, daß man dabei einen
klareren Einblick in die einzelnen Schritte gewinnt, die man
bei Denkoperationen vollzieht: bei Verwendung von Buchstaben-
größen kann ja mit Variation der Buchstabengrößen dieselbe
Art des Prozesses beliebig häufig wiederholt werden, wobei
das eine Mal die eine Partie, das andere Mal die andere Partie
der Operationen und das eine Mal die eine Seite, das andere
Mal die andere Seite eines komplexen psychischen Tatbestandes
deutlicher hervortritt. .
Bisher habe ich mich darauf beschränkt, eine beschreibende
Charakterisierung des Vorgehens der Vp. zu vollziehen unter
Berücksichtigung der Interessen der Logik!). Es ergaben sich
dabei eine Reihe von Schlußweisen, die man bisher nicht kannte.
Ich habe in letzter Zeit die beschreibende Charakteristik der
Schlußprozesse vervollständigen lassen?) und gehe nun dazu
über, die Schlußprozesse kausal zu behandeln. Den Logiker
interessiert nur die Untersuchung gültiger Schlüsse unter dem
Gesichtspunkt der Beziehung von Grund zu Folge. Ihn inter-
essiert nicht, daß unsere Denkbestimmungen in Schlußprozessen
auch in kausalen Beziehungen zueinander stehen. Diese Be-
ziehungen suche ich psychologisch an der Hand der beschreiben-
den Charakterisierung des Vorgehens der Vp. klarzulegen.
€ 1. Die kausale Behandlung von Schlüssen auf räumliche
Beziehungen ohne komplexeres Beziehungsetzen.
In der herkömmlichen Logik sprach man nur von Schlüssen
mit Gattungsbeziehungen. Das ist eine große Einseitigkeit.
Soviel Beziehungsgedanken es gibt, soviel Arten von Schlüssen
haben wir zu unterscheiden. Es gibt also Schlüsse mit räum-
lichen Beziehungen, zeitlichen Beziehungen, den Beziehungen
Teil und Ganzes, den Beziehungen größer—kleiner, Inhärenz-
beziehungen, Kausalbeziehungen usw.
Die der Vp. dargebotenen Prämissen lauten also:
a rechts von b
c rechts von a
Also: .
1) G. Störring, Exp. Untersuchungen über einfache Schlußprozesse,
Archiv für die ges. Psychol. 11.
2) Wilh. Störring, Exp. Untersuchungen über einfache und komplexe
Schlußprozesse, Archiv 51, 1. u. 2. Heft.
9%
20
G. Störring,
Vorgang V später als Vorgang S
Vorgang F rn als — V
Also:
a größer als b
c größer als a
Also:.
K Teil von S
P Ganzes zu S
Also: .
L gehört zur Gattung D
T gehört zur — L
Also: E
Kein S gehört zur Gattung L
Einige V gehören zur Gattung L
Also: . 2.2.8. vi
Wenn A ist, so ist B
Nun ist.B nicht
Also:
Wenn C ist, so ist A
Wenn A ist, so ist C
Also:
A Grund von B
C Grund von A
Also:
A Grund von B
BCD Grund von E
Also: .
R Mitursache von B
BCD Ursache von C
Also:
A ist entweder P oder Q oder T
A ist nicht Q und T
Also: . KS
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 21
a= b
b=c
Also: . .
und ähnliche.
Es wird sich zeigen, daß man die früher einseitig betonten
Schlüsse mit Gattungsbeziehungen besser versteht, wenn man
vorher die Schlüsse mit räumlichen Beziehungen, zeitlichen Be-
ziehungen, den Beziehungen größer—kleiner untersucht hat.
Ich beginne mit Untersuchung der Schlüsse mit räumlichen
Beziehungen, bei denen der Schluß ohne komplexeres Be-
ziehungsetzen, auf die einfachste Weise, zustande kommt. Ich
lasse dann zunächst die Behandlung von solchen Schlüssen mit
den Beziehungen größer—kleiner folgen, die psychologisch sich
ganz ähnlich gestalten wie die Schlüsse mit zeitlichen Be-
ziehungen, mit den Beziehungen Teil—Ganzes, den Beziehungen
Grund—Folge, den Beziehungen Mitursache— Wirkung und wie
ein Teil der Schlüsse mit Gattungsbeziehungen.
Bei Schlüssen mit diesen Beziehungen ist die einfachste
Operationsweise die, bei welcher der Schluß zustande gebracht
wird, ohne daß die Beziehungen oder Prämissen wieder in
Beziehung gesetzt werden, wo also der Schluß sich nicht
gründet auf Feststellung der Gleichheit oder des Gegensatzes
der in den Prämissen gedachten Beziehungen, sondern wo die
Beziehungen der Prämissen in einem anschaulichen Ge-
samttatbestand vereinigt werden, aus dem dann analytisch der
Schlußsatz entwickelt wird, indem diejenigen Buchstabengrößen,
die in den Prämissen noch nicht in Beziehung zueinander ge-
setzt waren, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Vpn.
nennen diese analytische Entwicklung des Schlußsatzes aus
einem solchen Gesamttatbestand unter dem angegebenen Ge-
sichtspunkt ein »Ablesen« des Schlußsatzes aus dem Gesamt-
tatbestand.
Nehmen wir nun an, daß die Prämissen exponiert werden:
a rechts von b
c rechts von a
Also: ...
so läßt sich die Behandlung dieser Prämissen von seiten
der Vp., wenn man die gesamten Protokolle zusammennimmt,
in der nachfolgend angegebenen Weise charakterisieren. Zu be-
merken ist dabei, daß in den einzelnen Referaten das eine
292 G. Störring,
Mal die eine Seite, das andere Mal die andere Seite deutlicher
heraustrat.
In der Vorperiode ist der: Wille vorhanden, aus den darzu-
bietenden Prämissen eine neue Bestimmung zu entwickeln.
Dieser Wille tritt im Laufe der Operationen in den Hinter-
grund des Bewußtseins zurück, so, wo die Vpn. eine klare Auf-
fassung der Prämissen zustande bringen, und macht sich später
wieder mehr im Bewußtsein geltend. Wir wollen den so
sich längere Zeit im Bewußtsein ———
Willen»Einstellung« nennen.
Wir haben es also zunächst zu tun mit ir Einstellung
E, = Wille,ausden dargebotenen Prämissen eine
neue Bestimmungzuentwickeln.
Nach Exposition der Prämissen entwickelt sich auf Grund
dieser Einstellung und eines Überblicks über die Prämissen in
vielen Fällen der Wille, die Prämissen möglichst klar
aufzufassen, wobei sich ein Mittel—Zweck-Gedanke ent-
wickeln kann, aber sich nicht zu entwickeln braucht, jeden-
falls sich meist nicht entwickelt. Es entsteht also so die Ein-
stellung
E,a= Wille, eine möglichst klare Auffassung
der Prämissen zustande zu bringen.
Diese Einstellung bedingt Lesen der 1. Prämisse »a größer
als b« und Auffassung des a als in der Richtung nach rechts
von b aus (dem b des exponierten Zettels aus) liegend. Eine
Auffassung der Stelle des b als einer nur repräsentativen tritt
nur in seltenen Fällen deutlich auf. Durch die Einstellung E,a
ist sodann bedingt Lesen der 2. Prämisse »c rechts von a« und
eine ähnliche Auffassung: das c wird als in der Richtung nach
rechts liegend gedacht. Dabei erfolgt Identifikation der beiden
a; in Fällen schnelleren Operierens in den folgenden Operationen
nur Behandlung dieser Mittelbegriffsgrößen als identisch.
Wo die Identifikation auftritt, kommt sie zustande ohne eine
speziell auf diese Identifikation gerichtete Einstellung! Sie
hängt dann offenbar, da sie auch auftritt, wo der Wille E,a
nicht als Mittel zum Zweck der Realisierung der Einstellung
E, aufgefaßt wird, von der Einstellung E, ab.
Die Akhängigkeit dieses Identitätsurteils von einer auf die
Verarbeitung der Prämissen im Sinne der Gewinnung einer
neuen Bestimmung gerichteten Einstellung habe ich durch Ver-
suche nachgewiesen, in welchen den Vpn. nicht die Anweisung
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 23
gegeben war, einen Schluß zu ziehen, sondern die Anweisung,
eine Auffassung der Prämissen zustande zu bringen — im Ver-
gleich mit Versuchen, wo die Anweisung zum Schließen gegeben
wurde. Bei ersterer Anweisung werden die Prämissen meist
gar nicht zueinander in Beziehung gesetzt, ohne daß während
des Ablaufs der betreffenden Prozesse an die Anweisung
wieder gedacht wird, so daß die Vp. sich häufig nach Ablauf
der Prozesse darüber wundert, daß sie keine Beziehung zwischen
den Prämissen gesetzt hat. Bei der letzteren Anweisung werden
die Prämissen stets zueinander in Beziehung gesetzt, wenn
nicht besondere Störungen auftreten, obgleich nur in wenigen
Fällen vor Auftreten solcher Beziehungen (Identitätsurteil usw.)
die Absicht zu schließen wieder hervortritt.
Ich gebe ein Beispiel solchen Verhaltens:
Es wurde Vp. E die Anweisung gegeben, die Prämissen
klar aufzufassen, aber nicht zu schließen. Exponiert wurde:
U ist links von L
F ist links von U.
Bei Auffassung der ersten Prämisse wird die Lagebeziehung
der Buchstaben U und L auf dem exponierten Zettel als Re-
präsentant des Beziehungsgedankens behandelt. In ähnlicher
Weise wird bei Auffassung der zweiten Prämisse verfahren.
Beidc Prämissen wurden scharf für sich aufgefaßt, eine Identi-
fikation der beiden U fand nicht statt, sie wurden auch nicht
als eine Größe »behandelt«; es trat keine Synthese der Be- '
ziehungsgedanken auf. Es trat auch keine Neigung zu schließen
auf, etwa die Neigung, die Größen L und F zueinander in
Beziehung zu setzen. Während der Auffassung der Prämissen
war der Gedanke an die Anweisung nicht wieder aufgetreten.
An den Vollzug der Auffassung der zweiten Prämisse schloß
sich ein Gefühl der Befriedigung an, und zwar unmittelbar,
nicht auf Grund des Gedankens: »jetzt habe ich geleistet, was
gefordet war«. — »Es trieb jedenfalls die Vp. nichts weier.«
Vp. spricht beim Referat ihre Verwunderung darüber aus, daß
sie keine weitere Verarbeitung der Prämissen vorgenommen hat,
obgleich sie während des Operierens an die Anweisung nicht ge-
dacht hat.
Man sieht also hier — und ähnliches findet sich auch bei
den anderen Vpn. —: Die Identifikation, die Be-
handlung deridentischen Größen als eine Größe
fehlt unter dieser Einstellung im allgemeinen,
24 G. Störring,
obgleich beiden ganzen Operationen an die An-
weisung nicht mehr gedacht wurde, während
die Identifikation oder wenigstens die »Be-
handlung«deridentischen Größenalseine Größe
beider Anweisung, zu schließen, auftritt, auch
wenn während dieser Prozessean die Anweisung
selbst nicht mehr gedacht wird. Wir müssen des-
halb die Identifikation, dieauch ohne merkbare
Identifikationauftretende Behandlung deriden-
tischen Größen als eine, von der auf die Anwei-
sung gesetzten Einstellung abhängig machen.
Die Identifikation hängt also von der Nachwirkung der
Einstellung E, ab, ohne daß diese wieder ins klare Bewußtsein
tritt. Ich nehme deshalb an, daß diese Einstel-
lung vom dunklen Bewußtseinaus diese Wirkung
zustande bringt. Die Einstellung E, wirkt aber doch
nicht gleichzeitig mit der Einstellung E,.a: meist tritt
die Angabe auf, daß das lIdentitätsurteil zwischen der
Auffassung der Prämissen stattfindet: Hier tritt dann also
offenbar für einen Moment die Einstellung E,, in ihrer Wirk-
samkeit zurück; eben dann, wenn sie schon partiell realisiert
ist; in andern, selteneren Fällen, schließt sich die Identifikation
an die Auffassung der beiden Prämissen an. —
Wir erwähnten oben das Auftreten des Identitätsurteils am
Schlusse der Charakterisierung der Wirkung der Einstellung
Ea, welche auf möglichst klare Auffassung der Prämissen
abzielt. Die durch diese Einstellung verursachte Auffassung
der Prämissen wollen wir Feststellung Fial) bezw.
Fiag nennen. Das Identitätsurteil wollen wir als Fon be-
zeichnen: Durch die Zahl 1 des Index wollen wir anzeigen,
daß dieses Urteil von der Einstellung E, abhängig ist, durch
die O des Index, daß für dieses Urteil keine spezielle, auf dieses
Urteil zugeschnittene Einstellung, also die Einstellung zum
Vergleich der Mittelbegriffsgrößen, vorlag.
Nach völliger Realisierung der Einstellung E,, macht sich
die Einstellung E, wieder stärker geltend.
Dadurch ist bedingt eine nochmalige Konzentration
der Aufmerksamkeit auf die aufgefaßten Prämissen. In-
folgedessen erfolgt jetzt unter gleichzeitiger Nachwirkung von
Fiai) und Fiag) eine schärfere Lokalisation des a rechts von
b (natürlich nur vorstellungsmäßig) und eine Lokalisation des
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 25
c von diesem a nach rechts, unter Nachwirkung der voll-
zogcnen Identifikation. |
Ich sagte, daß nach völliger Realisierung der Einstellung
E,. sich die Einstellung E, wieder stärker geltend gemacht
hake. Daß aber die Einstellung E, nach völliger Realisierung
der Einstellung E, sich wieder stärker geltend macht, fasse
ich dadurch bedingt auf, daß die Realisierung der Einstellung
Eia, die sich in Fia) und Fiss, vollzieht, einen relativ großen
Teil der vorhandenen psychophysischen Energie in Anspruch
nahm, so daß also für die Einstellung E, bei dieser Realisierung
das vorlag, was ich als derivative Hemmung!) bezeichne:
Nach Realisierung der Einstellung E}, fällt diese Hemmung für
die Einstellung E, weg. Ich will diese Gesetzmäßigkeit das
»Gesetz von der Wirkung derivativer Hemmung
auf den Wechsel der Einstellungen zum Schließen«
nennen.
So sind nun die Beziehungsgedanken der Prämissen in
einem Gesamttatbestand zur Darstellung gebracht; ich will
denselben symbolisch durch (Fiaa) + Fiag ) bezeichnen.
Jetzt wirkt die Einstellung E, und der Gesamttatbestand
reproduzierend auf den Gedanken einer Verfahrungsweise (auf
Grund früherer Erfahrungen beim Vollzug solcher Schlüsse),
einer Verfahrungsweise, welche zur Auffindung der in den
Prämissen noch nicht aufeinander bezogenen Größen führt:
unter Elimination der Mittelbegriffsgrößen faßt Vp. b und
c als die noch zu beziehenden Größen auf (Fo).
Vp. sucht jetzt endgültig unter Wirkung der Einstellung
E,, des Gesamttatbestandes und der Feststellung (Fo) die Be-
ziehung von b zu c festzustellen an der Hand des Gesamttat-
bestandes; es entwickelt sich also die Einstellung
E, = Wille, die Beziehung zwischen b und c zu
bestimmen.
Diese Einstellung wirkt mit dem Gesamttatbestand (Fiaa)
+ Fiap) zusammen in der Entwicklung der Feststellung
F, »c rechts von b«. Die Entwicklung dieses Beziehungsge-
dankens ist von zwei Seiten eingeengt: durch die
Einstellung E, und durch den Gesamttatbestand. Hier liegt
zudem im Gegensatz zur Entwicklung des früheren Identitäts-
urteils eine speziell auf die Entwicklung dieses Beziehungs-
1) Störring, Psychologie S. 138.
26 G. Störring,
gedankens gerichtete Einstellung vor. Ich spreche hier von
einer maximal einengenden Einstellung zur Ent-
wicklung eines Beziehungsgedankens an der Hand des zu be-
urteilenden Tatbestandes.
Bei der früheren Entwicklung des Identitätsurteils (Fo)
lag auch einc doppelte Einengung der Entwicklung eines Be-
ziehungsgedankens vor: durch die Einstellung E, und den zu
- beurteilenden Tatbestand. Aber die Einstellung E, war, wie
sich zeigte, nicht auf die Entwicklung gerade dieses Beziehungs-
gedankens zugeschnitten, d. h. nicht maximal einengend.
Aber die allgemeine Einstellung E, genügte doch zur Ent-
wicklung eines als gültig aufgefaßten Urteils, indem die
allgemeine Einstellung schon Hemmungen setzte für die
Mitwirkung variabler Faktoren bei Entwicklung des Beziehungs-
gedankens an der Hand des gegebenen Tatbestandes!
Ergebnisse.
I. Es zeigt sich bei dieser kausalen Analyse, daß der Schluß-
prozeß bei den einfachen Schlüssen mit räumlichen Beziehungen
nach der ersten Operationsweise schon eine mehrfache
Änderung der Einstellung aufweist.
II. Es ergibt sich hier — und deutlicher noch bei etwas
komplexeren Schlußprozessen, wie sich zeigen wird —, daß
die Operationen in Schlußprozessen in zwei
Gruppen zerfallen:
l. in eine Gruppe von urteilsmäßigen Fest-
stellungen, welche von den verschiedenen Einstellungen
zum Denken und zugleich von der jedesmal gegebenen
Denkmaterie abhängen;
2.in eine Gruppe von Operationen, welche
auf die Änderung der Einstellungen herbei-
führend wirkt. Hierbei spielen einfache Repro-
duktionen von Vorstellungen und von Beziehungsgedanken
eine Hauptrolle. Näheres wird sich uns später ergeben.
IH. Die einzelnen urteilsmäßigen Feststel-
lungen stehen in verschiedenen Beziehungen zu
den entsprechenden Einstellungen. Entweder
enthalten die betreffenden Einstellungen den
Gesichtspunkt der Betrachtung für die Entwick-
lung des Urteils, wie wenn die Einstellung hier
sich am Schluß darauf richtet, die Größen c
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 27
und b an Hand des Gesamttatbestandes zuein-
ander in Beziehung zu setzen.
Oder die Einstellung bestimmt den Gesichts-
punkt, unter dem das Urteil gefällt wird, nicht
völlig, so daß eine allgemeinere Einstellung vor-
liegt und diese auch schon eine Hemmung für
Mitwirkung variabler Faktoren bedingt. Das
ist z. B. der Fall bei dem Identitätsurteil der
Mittelbegriffsgrößen, für das keine Einstellung
auf Vergleichung vorhanden war. Wir werden
später noch auf viele ähnliche Fälle stoßen. Ich unter-
scheide deshalb zwischen
urteilsmäßigen Feststellungen mit maximal
einengenden Einstellungen und
urteilsmäßigen Feststellungen mit nicht
maximal einengenden Einstellungen.
IV. Die Einengung der urteilsmäßigen Fest-
stellungen vollzieht sich von zwei Seiten her:
1. durch eine maximal oder nicht maximal
einengende Einstellung;
2. durch den zu beurteilenden jeweiligen Tat-
bestand.
V. Durch den Prozeß der Realisierung einer später auf-
tretenden Einstellung wird eine frühere Einstellung, welche
noch nicht zur Realisierung oder nicht zur vollen Realisierung
gekommen ist, bei der wir also von einem noch unbefrie-
digten Willen zu einem Denken sprechen können, in
den Hintergrund des Bewußtseins gedrängt, weil dieser Prozeß
der Realisierung der späteren Einstellung die in dem betreffen-
den Moment disponible psychophysische Energie stark in An-
spruch nimmt (derivative Hemmung). Ist aber der Prozeß
der Realisierung der in Rede stehenden späteren Einstellung
vollzogen, so macht sich auch ohne Reproduktion die frühere
Einstellung wieder stärker geltend auf Grund der durch die
Realisierung der Einstellung vollzogenen Aufhebung der ge-
setzten Hemmung. Ich will hier sprechen von einem
»Gesetz von der Wirkung derivativer Hem-
mung auf den Wechsel der Einstellungen zum
Schließen«.
28 G. Störring,
82. Schlüsse mit den Beziehungen größer —kleiner mit zeit-
lichen Beziehungen, Gattungsbeziehungen usw. in beiden
” Prämissen nach der ersten Operationsweise.
Prämissen mit den Beziehungen größer—kleiner werden nach
denselben ÖOperationsweisen beim Schließen verarbeitet wie
Prämissen mit räumlichen Beziehungen, zeitlichen Beziehungen,
den Beziehungen Teil und Ganzes, den Beziehungen Grund und
Folge und den Beziehungen Mitursache— Wirkung.
Das Schließen kommt bei dieser Art von Prämissen zu-
stande auf vier verschiedene Weisen. Ich bezeichne sie als
Op. I, Op. II, Op. II und Op.IV:). Arbeitet man mit mehr
als zwei Prämissen, so kommt noch eine 5. Operationsweise
hinzu, wie kürzlich Wilh. Störring gefunden hat.
Es wird sich zeigen, daß nach Op. I und Op. IV auch bei
Schlüssen mit Gattungsbeziehungen in beiden Prämissen ge-
schlossen wird.
Beiden Schlüssen miträumlichen Beziehungen
stellt sich die erste Operationsweise einfacher dar
als bei Schlüssen mit den Beziehungen größer —
kleiner usw. Wie das zusammenhängt, wird sogleich klar
werden.
Gegeben seien die Prämissen
a größer als b
c größer als a
Also:
Ich gebe zunächst eine kurze allgemeine Beschreibung der
Protokolle der Vp. beim Schließen auf Grund dieser Prämissen
nach Op. I und trete erst nach dieser nn! in die
kausale Behandlung ein.
In der Vorperiode haben die Vpn. im allgemeinen die Ab-
sicht, die Anweisung des Versuchsleiters zu befolgen, d. h. aus
den darzubietenden Prämissen einen Schluß zu ziehen, d. h. eine
neue Bestimmung zu machen.
Nach Exposition der Prämissen konzentriert sich Vp. zu-
nächst auf die Prämissen, indem sie eine klare Auffassung
derselben zustande zu bringen sucht. Ein Mittel—Zweck-Urteil
1) G. Störring, Exp. Untersuchungen einfacher Schlüsse, Archiv für
Psychol. Bd. XI.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 29
tritt dabei meist nicht auf. Häufig stellt sich nun eine Re-
präsentation des Beziehungsgedankens »größer« in grob umrissenen
Figuren verschiedener Größe oder in Linien verschiedener Größe
dar, wobei die eine deutlich größer als die andere ist. Vp. weiß
bei Betrachtung dieser Repräsentation angeblich, was mit dem
»größer« gemeint ist, ohne eine scharfe begriffliche Be-
stimmung zu vollziehen. Nur in einzelnen Fällen wird die
Auffassung durch begriffliche Angabe der Bedeutung voll-
zogen, indem etwa gesagt wird bei der Auffassung von
»a größer als b«: »a wird aufgefaßt als die gleiche Größe wie b
enthaltend und noch mehr« oder »beim Übergang von b auf a
kommt an Größe etwas hinzu«. Mit Auffassung der Prä-
missen vollzieht sich meist auch eine Identifikation der Mittel-
begriffsgrößen. |
Dann nimmt sich Vp. etwa vor, eine räumliche Repräsen-
tation der Beziehungsgedanken der Prämissen zustande zu
bringen, um so zum Schluß zu kommen. Daraufhin wählt nun
Vp. eine bestimmte Art der Repräsentation aus, etwa die Re-
präsentation der Größer-Beziehung durch die Links-Beziehung.
Es erfolgt dann eine Einsetzung des »links« für das »größer«
bei den Prämissen und eine Lokalisierung der bezogenen Größen,
so daß auf Grund der ersten Prämisse »a größer als b« a links
von b lokalisiert wird und auf Grund der zweiten Prämisse
»c größer als a« c links von a, wobei die beiden a gleichzeitig
als identisch behandelt werden. Nachdem diese repräsentative
Lokalisierung der in den Prämissen gegebenen Beziehungen voll-
zogen ist, sucht Vp. diejenigen Größen in dem Gesamttatbestand
auf, welche in den Prämissen noch nicht zueinander in Be-
ziehung gesetzt sind, um sie in Beziehung zu setzen und so
den Schluß zu gewinnen. Als diese Größen erweisen sich c
und b (auf Grund der Nachwirkung früherer Schlüsse). Unter
Wiederaufhebung der Repräsentation, Zurückübersetzen der
Links-Beziehung in die Größer-Beziehung, ergibt sich aus dem
Gesamttatbestand gewissermaßen durch »Ablesen« »c größer
als b«.
Wir treten nun in die kausale Behandlung dieser Schluß-
weise ein.
In der Vorperiode hat Vp. also die Absicht, aus den dar-
gebotenen Prämissen eine neue Bestimmung zu gewinnen. Wir
können also sprechen von einer Einstellung
30 G. Störring,
E, = Wille, aus den dargebotenen Pr. einen Schluß
zu ziehen.
Diese Einstellung E, löst beim Überblick über die dar-
gebotenen Prämissen in vielen Fällen den Willen aus, eine mög-
lichst klare Auffassung der Prämissen zustande zu bringen, meist
ohne daß dabei eine Mittel—Zweck-Auffassung nachweisbar ist.
Es entsteht also so die Einstellung
Eia = Wille, eine möglichst klare Auffassung der
Pr. zustande zu bringen.
Dieser Wille löst aus eine Konzentration der Aufmerksam-
keit auf die Prämissen, und zwar ohne Vermittlung
einer Reproduktion. Durch solche Konzentration der
Aufmerksamkeit auf die Prämissen ergibt sich die Auffassung
der Bedeutung der Prämissen. Man denke hier an die Be-
ziehung der Wortvorstellung zu der Bedeutungsvorstellung oder
der Gegenstandsvorstellung, wie sie sich bei der Untersuchung
der Aphasiefälle ergeben hat!). In den meisten Fällen stellt
sich diese Bedeutungsvorstellung oder besser dieser Begriff,
welcher die Bedeutung ausmacht, nicht klar dar: bei den Vpn.
tritt meist eine Repräsentation des Beziehungsgedankens größer
in Linien verschiedener Größe oder in grob umrissenen Figuren
usw. auf. Es handelt sich dabei um anschauliche Tatbestände,
auf welche der Beziehungsgedanke größer mit Recht angewandt
wird und welche als bloße Repräsentanten dieser Beziehung
aufgefaßt werden, ohne daß es zu einer abstrakten Heraus-
hebung dieser Beziehung kommt. Wo die seltene Bestimmung
auftritt, daß »a größer als b« bedeutet, beim Übergang von
b zu a komme etwas an Größe hinzu, fasse ich dieses Urteil
als durch die naheliegende Vergleichung der Größer-Beziehung
mit der Gleich-Beziehung zustande kommend auf. Wir haben
es hier also mit Feststellungen zu tun, die unter der Einwirkung
der Einstellung E,, vollzogen sind, den Feststellungen Fa (a
und Fiag- Mit ihnen verbindet sich meist eine Auffassung
der Identität der Mittelbegriffsgröße, über die ich im Fall
des zuerst diskutierten Schlusses mit räumlichen Beziehungen
näher gesprochen habe, die ich als von der Einstellung E,
abhängig charakterisiert habe, und zwar als Fə.
Ist die Auffassung der Prämissen zugleich mit etwaiger
Identifikation vollzogen, so nimmt sich, wie die Protokolle
1) Störring, Vorl. über Psychopathol. S. 147.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 31
sagen, da, wo keine stärkeren Abkürzungen der Prozesse auf-
treten, die Vp. vor, eine räumliche Repräsentation der Be-
ziehungsgedanken zustande zu bringen, um so zum Schluß zu
kommen. Es entsteht also die Einstellung -
E,=Wille,durchirgendeineräumlicheRepräsen-
tation einen Gesamttatbestand zustande zu
bringen, um so zum Schluß zu kommen.
Die Entstehung dieser Einstellung E, mache ich mir in folgen-
der Weise verständlich. Einmal hängt die Entstehung dieser
Einstellung davon ab, daß sich nach der Realisierung der
Einstellung E,, auf Grund Aufhebung derivativer Hemmung
der noch unbefriedigte Wille, aus den gegebenen Tatbeständen
einen Schluß zu ziehen, die Eihstellung E, wieder stärker
geltend macht. Die Einstellung E, wirkt zusammen mit den
durch die Einstellung E ,, bedingten Feststellungen Fi...) und
Fiam : sie rufen die Erinnerung an frühere Verfahrungsweisen
zur Entwicklung von Schlußprozessen unter ähnlichen .Be-
dingungen wach, und mit dieser eine naheliegende Mittel-Zweck-
Beziehung einschließenden Erinnerung zusammen bedingen sie
die Entstehung des Willens, durch irgendeine räumliche Re-
präsentation einen Gesamttatbestand der Prämissenbeziehungen
zustande zu bringen, um so den Schluß zu entwickeln.
Nach den Protokollen wählt nun Vp. eine bestimmte Art
der Repräsentation aus, etwa die Repräsentation der Größer-
Beziehung durch die Links-Beziehung. Es entwickelt sich also
die Einstellung
El = Wille, eine bestimmte, aber beliebige Re-
präsentation zu wählen.
Diese Einstellung Ee ist verständlich zu machen aus der
Einstellung E, — Wille, durch irgendeine (d.h. eine bestimmte
äber beliebige) Repräsentation einen Gesamttatbestand der betr.
Beziehungen zustande zu bringen, um zum Schluß zu
kommen. Die Einstellung E, enthält drei Zweckgedanken,
die zweifach durch Mittel—Zweck - Beziehung verknüpft
sind: 1. Wahl irgendeiner Art räumlicher Repräsentation (M,),
2. Herstellung eines Gesamttatbestandes (M,), 3. Gewinnung
des Schlußsatzes (Z): Aus der Einstellung E, kann sich nun
die Einstellung E3so entwickeln, daß das Urteil gefällt wird,
die Realisierung des Zwecks M, sei conditio sine qua non der
Realisierung der beiden anderen Zwecke (Fæ), und daß darauf-
hin der Wille entsteht, M, zu realisieren. -
32 G. Störring,
AberdieVpn.lassen bei Gestaltungderneuen
Einstellung nicht immer die gesamten möglichen
und auch nicht einmal die gedachten Mittel—
Zweck-Beziehungen zur Geltung kommen! Der
Prozeß gestaltet sich meist mechanischer, so daß die Wahl der
Realisierung des Zwecks M, auf das Konto einer Nachwirkung
früherer ähnlicher Operationen zu setzen ist (so besonders bei
abgekürzten Prozessen). Es wirkt hier sodann in vielen Fällen
außerdem noch ein anderer Umstand mit: die Realisierung
von M, stellt den allein zugänglichen Angriffs-
punkt für weitere Operationen dar! Diese gesetz-
mäßige Beziehung tritt auch in den tierpsychologischen Tat-
beständen bedeutungsvoll hervor.
So haben wir die Entstehung der Einstellung EZ verständ-
lich gemacht.
Durch die Einstellung E. wird nun etwa die Reproduktion
der Vorstellung links ausgelöst. Diese bedingt zusammen mit
der Einstellung E die Feststellung Fi: die Links-Be-
ziehungisteinebestimmte, beliebige Repräsen-
tation der Größer-Beziehung. Diese Feststellung er-
folgt ohne Worte und macht deshalb den Eindruck einer ein-
fachen Zustimmung zu der Reproduktion der Vorstellung links.
Nach Realisierung der Einstellung E} macht sich nach dem
»Gesetz von der Wirkung derivativer Hemmung auf den Wechsel
der Einstellung zum Schließen« der unbefriedigte Wille der
Einstellung E, geltend. Es wirkt jetzt die Einstellung E, zu-
sammen mit der Feststellung F3 zur Entwicklung der Ein-
stellung
E» = Wille, die Beziehung größer durch die
Links-Beziehungzurepräsentieren,umzueinem
Schluß zu kommen.
Nach den Protokollen erfolgt dann eine Einsetzung der
Links-Beziehung für die Größer-Beziehung bei den einzelnen
Prämissen und eine Lokalisierung der bezogenen Größen, so
daß auf Grund der ersten Prämisse »a größer als b« a links
von b lokalisiert wird, und auf Grund der zweiten Prämisse
»c größer als a« c links von a, wobei die beiden a gleichzeitig
als identisch »behandelt« werden.
Die Einstellung E,, bedeutet den Willen, für die Größer-
Beziehung die Links-Beziehung repräsentativ zu setzen und
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 33
eine entsprechende Lokalisierung in einem Gesamttatbestand
vorzunehmen.
Der erste Teil der Einstellung E, E : Einsetzung der
Links-Beziehung für die Größer-Beziehung, löst zusammen mit
der durch diese Einstellung ausgelösten Wiedererneuerung der
Auffassung der ersten Prämisse Fiaa die Feststellung aus:
Fala: & ist nach links von b zu lokalisieren.
Der zweite Teil der Einstellung E,, EX: Lokalisierung in
einem Gesamttatbestande — löst sodann mit der Feststellung
Faia zusammen die Lokalisierung im Vorstellungsbild a b
(a links von b) aus. Diese Lokalisierung in einem Vorstellungs-
bild stellt sich den Vpn. auf Grund des Wirkens der Einstellung
E,, 2. Teil, also El, als ein gültiges »Sotunmüssen«
oder als ein als gültig auffaßbares »Sotun-
müssen« (Äquivalent des ersteren) dar. (Fu)
Nachdem so die Einstellung F,, bezüglich der ersten Prä-
misse realisiert ist, vollzieht sich ihre Realisierung bezüglich
der zweiten Prämisse.
Der erste Teil der Einstellung El: Einsetzung der Links-
Beziehung für die Größer-Beziehung löst zusammen mit der
wiedererneuerten Auffassung der zweiten Prämisse Fung die
Feststellung aus:
Fada: c ist nach links von b zu lokalisieren.
Der zweite Teil der Einstellung Eœ, EX: Lokalisierung in
einem Gesamttatbestande — löst sodann mit der Feststellung
Fala zusammen die Lokalisierung c a (c links von a) in einem
Vorstellungsbild aus unter »Behandlung« der beiden a als iden-
tisch. Bei dieser Lokalisierung c links von a wird wieder ein
als gültig aufgefaßtes oder ein als gültig auf-
faßbares »Sotunmüssen« erlebt (Faig).
So ist also jetzt eine anschaulich repräsen-
tative Gesamtdarstellung der Beziehungsge-
danken der Prämissen zustande gebracht. Wir
nennen sie (Faso) + Fan).
Nach den Protokollen sucht nun die Vp., nachdem die re-
präsentative Lokalisation der in den Prämissen gegebenen Be-
ziehungen zustande gebracht ist, diejenigen Größen in dem Ge-
samttatbestande auf, welche in den Prämissen noch nicht auf-
einander bezogen sind, um sie in Beziehung zu setzen und so
den Schluß zu entwickeln. Als diese Größen erweisen sich c
Archiv für Psychologie. LO. . 8
34 G. Störring,
undeb auf Grund der Nachwirkung früherer Schlüsse. Unter
Wiederaufhebung der Repräsentation, d.h. Zurückübersetzung
der Links-Beziehung in die Größer-Beziehung ergibt sich aus
dem Gesamttatbestand durch »Ablesen« c größer als b.
Nach Realisierung der Einstellung E,, macht sich der noch
nicht befriedigte Wille in Einstellung E, auf Grund des »Ge-
setzes von der Aufhebung der Wertung derivativer Hemmung auf
den Wechsel der Einstellungen zum Schließen« wieder geltend.
Nach derselben Richtung kann wirken eine Reproduktion
des Gedankens an diese Einstellung, der ja mit dem Ge-
danken an die repräsentative Gesamtdarstellung (E Zao) + FA)
assoziativ verknüpft ist!).
Die Einstellung E, wirkt nun zusammen mit den durch die
Einstellung E» bedingten Feststellungen (Fajn Fa): sie
erwecken die Erinnerung, daß der Schluß durch Auf-
suchen und Inbeziehungsetzen der zwei Größen gewonnen wird,
die in den Prämissen noch nicht zueinander in Beziehung ge-
setzt sind. Die Vp. suche nun dementsprechend zu verfahren,
d.h. es entwickelt sich auf Grund der Einstellung E, und
(Font Ferm) und die bezeichnete Erinnerung die Einstellung
E&E,=-Wille, diese Größe festzustellen (Mə) und zu-
einander in Beziehung zu setzen (M,), um so den
‚Schluß zu ziehen (Z).
In der Einstellung E, liegen drei Zwecke und zwei Mittel—
Zweck-Beziehungen vor. Die Aufeinanderfolge der Prozesse ist
aber im allgemeinen nicht durch Mittel—Zweck-Verkettung, ja
wohl meist nicht einmal durch das Gesetz von der Realisierung
des als Mittel Auffaßbaren ohne Mitwirkung des Mittel—Zweck-
Gedankens, bedingt, sondern einfach auf Grund der Erinnerung
an diese Aufeinanderfolge oder — noch einfacher — auf Grund
des reproduktiven Sichaneinanderschließens dieser Verfahrungs-
weisen!
Es erzeugt nun der erste Teil der Einstellung E,, El, also
der Wille, die zu beziehenden Größen festzustellen (M,), zu-
sammen mit dem Gesamttatbestande (Foin + Fax) die Fest-
stellung
1) Man vergleiche die Entwicklungen von G. E. Müller, Über das Ge-
dächtnis, Teil II: Über die Nachwirkung von Zielvorstellungen, S. 425 ff.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 35
Fl: »x und b sind die in den Prämissen zu bezie-
henden Größen«,
unter gleichzeitiger Nachwirkung der Erfahrung, daß die in
den Prämissen noch nicht bezogenen Größen durch Elimination
der identifizierten Größen sich herausgreifen lassen.
Sodann löst der zweite Teil der Einstellung E,, EH, der
Wille, diese Größen in Beziehung zu setzen, zusammen mit
dem Gesamttatbestande (F aia) + Fon) die Feststellung aus:
FẸ : Zwischen c und b besteht räumliche Beziehung von re-
präsentativer Bedeutung.
Für diese Feststellung ist keine spezielle Einstellung,
also keine Einstellung auf Feststellung allgemeiner Art der Be-
ziehung, anzunehmen.
(Das Zwischenglied FẸ findet sich in späteren, mehr aus-
geschliffenen Fällen des Operierens nicht.)
Der zweite Teil der Einstellung Es, ED, der Wille, die nicht
bezogenen Größen in Beziehung zu setzen, löst nun zusammen mit
der Feststellung (FẸ ) die Einstellung aus:
E„,=-Wille, diese räumliche Beziehung von re-
präsentativer Bedeutung zwischen c und b fest-
zustellen und sie zurückzuübersetzen.
Der erste Teil der Einstellung E, E% löst zusammen
mit dem Gesamttatbestand die Feststellung aus:
Fi: c ist links von b (mit dem Nebengedanken der re-
präsentativen Bedeutung).
Der zweite Teil von Ega, Eş, löst zusammen mit der Fest-
stellung F$ : »c ist links von b« (mit dem Nebengedanken der
repräsentativen Bedeutung) durch Einsetzung der Größer-Be-
ziehung für die Links-Beziehung die Feststellung aus:
Fl : c ist größer als b. —
Daß diese Schlußweise sich auch bei Schlüssen mit
zeitlichen Beziehungen findet, ist leicht zu begreifen.
Sie tritt auch bei Schlüssen mit Gattungsbezie-
hungen bei experimenteller Untersuchung hervor. Es wird
dann sehr häufig eine Repräsentation der Gattungsbeziehungen
durch konzentrische Kreise gewählt. Bei Vpn. mit visuellem
Vorstellungstypus findet man eine Neigung zu dieser Schluß-
weise bei Gattungsbeziehungen.
Die Repräsentation der Prämissenbeziehungen in einem Ge-
samttatbestande findet hier in ganz analoger Weise nur bei
ge
36 G. Störring,
den Schlüssen mit den Beziehungen größer—kleiner statt, und
auch die Entwicklung des Schlußsatzes aus diesem anschau-
lich-repräsentativem Gesamttatbestand geschieht unter Zurück-
übersetzung der repräsentierenden Beziehungen in die repräsen-
tierten ganz in derselben Weise wie bei den soeben zur Exempli-
fikation dieser Operationsweise gewählten Beziehungen.
Ergebnisse.
I. Die Scheidung der Operationen in Schlußprozessen in
zwei Gruppen tritt hier deutlicher heraus als bei Schlüssen mit
räumlichen Beziehungen nach Op.I. Die Operationen zerfallen:
1.in eine Gruppe urteilsmäßiger Feststel-
lungen, welche von den Einstellungen und den jedes-
mal gegebenen Modifikationen abhängen;
2. in eine Gruppe von Operationen, welche die
Änderungder Einstellungen herbeiführen. Diese
zweite Gruppe ist hier stärker differenziert wie früher.
Es finden sich hier einfache Reproduktionen von
Vorstellungen und von Beziehungsgedanken, die sich auf
einfache Assoziation von Vorstellungskomplexen und Be-
ziehungsgedanken gründen, sodann spielen dabei Erinne-
rungen eine Rolle, und zuletzt mehroder weniger
produktive Gestaltungen der Phantasie.
Eine Betätigung der intellektuellen Phantasie ist z. B. in
dem Gedanken gegeben, den Schluß durch Repräsentation der
in den Prämissen gegebenen Beziehungen zustandezubringen,
wenigstens da, wo dieser Gedanke zuerst auftritt.
U. Wo die in den Einstellungen gesetzten
Zwecke so gestaltet sind, daß sie eine Mittel—
Zweck-Setzung zulassen, wird diese Beziehung
häufig nicht beim Schließen festgestellt, oder,
wenn sie festgestellt ist, so hat diese Setzung
häufig keinen Einfluß auf die späteren Ent-
wicklungen; es wird aber so operiert, als ob
solche Beziehungsetzungen wirkten. Hier kann
außer Erinnerungen an frühere Verfahrungs-
weisen oder reproduktiver Aneinander-An-
gliederung solcher Verfahrungsweisen auf die
Aufeinanderfolge der Operationen der Umstand
bestimmend einwirken, daß die jedesmal rea-
lisierte Operation diejenige ist, welche den
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 37
allein zugänglichen Angriffspunkt für weiteres
Operieren darstellt.
So finden wir in der Einstellung E, drei verschiedene
Zwecke gesetzt, die zweifach durch Mittel—Zweck-Gedanken ver-
bunden sind: 1. Wahl irgendeiner Art von räumlicher Repräsen-
tation; 2. Herstellung eines Gesamttatbestandes; 3. Entwicklung
des Schlusses an der Hand des Gesamttatbestandes. Nur der
erste Zweck stellte den allein zugänglichen Angriffspunkt für
weiteres Operieren dar, denn ein Ansetzen bei dem
zweiten Zweck muß sich als unrealisierbar er-
weisen ohne vorgängige Realisierung des ersten
Zwecks, und die Realisierung des dritten Zwecks
ist ebenso für sich genommen unrealisierbar,
setzt Realisierung des zweiten Zwecks voraus
und diese wieder die des ersten.
Dieses Prinzip hat vor der Wirksamkeit der
beiden soeben genannten, auf Reproduktion ge-
gründeten, offenbar den Vorzug, daß es nicht
frühere zweckmäßige Verfahrungsweisen vor-
aussetzt. Wir können hier deshalb kurz von einer primären
Realisierung von als Mittel auffaßbaren Ope-
rationen reden. Wir bezeichnen deshalb dies Prinzip als
»Gesetz von der primären Realisierung der als
Mittel auffaßbaren Operation ohne Mittel—
Zweck-Setzung«.
Il. Es tritt hier sodann deutlich hervor der Unter-
schied zwischen dem als gültig erlebten oder als
gültig erlebbaren (Äquivalent) Sodenkenmüssen
von einem als gültig erlebten oder als gültiger-
lebbaren (Äquivalent) Sotunmüssen. Ich verweise
auf die Herstellung eines repräsentativen Gesamttatbestandes,
wobei a links von b in einem Vorstellungsbilde lokalisiert wurde
und weiter die Lokalisation des c links von a vollzogen wurde.
Früher trat uns schon ein so und so »Verschiebenmüssen« der
Buchstabengrößen entgegen.
IV. Die auf die erste Einstellung folgenden
Einstellungen wirken mit den durch frühere
Einstellungen bedingten Feststellungen und
meist auch mit anderen Faktoren zusammen zur
Entwicklung neuer Einstellungen.
38 G. Störring,
(Gesetz vonder Verkettung der Einstellungen
mit den Feststellungen bei Bildung neuer Ein-
stellungen.)
§ 2. Schlüsse mit den Beziehungen größer—kleiner; zeit-
lichen Beziehungen usw. in beiden Prämissen nach der
Operationsweise III.
Nachdem wir die Schlüsse mit den Beziehungen größer-
kleiner nach der ersten Operationsweise im vorigen Paragraphen
kausal untersucht haben — und damit zugleich die in gleicher
Weise sich vollziehenden Schlüsse mit zeitlichen Beziehungen,
einen Teil der Schlüsse mit Gattungsbeziehungen und sodann
auch den Beziehungen Teil—Ganzes, den Beziehungen Grund—
Folge und den Beziehungen Mitursache— Wirkung (wie sich das
später deutlich herausstellen wird) — wenden wir uns jetzt der
kausalen Behandlung der Schlüsse mit den Beziehungen größer—
kleiner nach einer komplexeren Operationsweise zu.
Während bei der besprochenen ersten Operationsweise der
Schluß bei den Beziehungen größer—kleiner auf Grund von räum-
licher Repräsentation der Beziehungsgedanken in einem Gesamt-
tatbestand zustande kam, ohne daß dabei die Beziehungsgedanken
der Prämissen aufeinander bezogen zu werden brauchten,
gründen sich Op. II, III und IV darauf, daß die Beziehungs-
gedanken der Prämissen zueinander in Beziehung gesetzt
werden, auf die dabei entwickelte Feststellung der Gleichheit
oder des Gegensatzes der Beziehungen der beiden Prämissen.
Auf die Feststellung des Gegensatzes der Beziehungen gründet
sich eine Operationsweise, die ich anderen Ortes Op. II ge-
nannt habe, auf die Feststellung der Gleichheit der Bezie-
hungen der Prämissen gründen sich zwei Operationsweisen, die
ich als Op. III und Op. IV bezeichnet habe.
Wir wollen zunächst dieselben Prämissen beibehalten und
behandeln deshalb die dritte und vierte Operationsweise vor
der zweiten.
Wir haben es also wieder mit den Prämissen zu tun
a größer als b
c größer als a
Also:
Die Einstellung in der Vorperiode ist dieselbe wie früher,
also
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 39
E,=Wille, aus den aufgefaßten Prämissen eine
neue Bestimmung zu entwickeln.
Ebenso zieht diese Einstellung zusammen mit dem Überblick
über die Prämissen in ähnlicher Weise wie früher eine klare
Auffassung der Prämissen nach sich in Feststellungen
Fiaa und Fiap.
Mit den Prozessen der Auffassung der Prämissen vollzieht
sich aber nicht nur zusammen eine Identifikation der
als Mittelbegriff funktionierenden Größen, sondern es findet.
auch nach der Auffassung der Prämissen oder zwischen der
Auffassung der beiden Prämissen bei einem Blick auf das
»größer« der zweiten Prämisse eine Beachtung der Gleich-
heit der Beziehungen statt. In einzelnen Fällen tritt
allerdings auch bei dem Operieren nach Op. I eine Beachtung
der Gleichheit der Beziehungen statt, aber dann ist das für
den weiteren Verlauf ohne Bedeutung.
` Sodann laufen die Prozesse meist so ab, daß sich an die
Identifikation der beiden a ein Hinüberspringen des Blickes
von c nach b anschließt. Unter Nachwirkung früherer Schlüsse
werden sie als die hier im Schlußsatz in Beziehung zu setzen-
den Größen aufgefaßt.
Vp. sucht dann weiter festzustellen, was sich über die
Beziehung zwischen c und b sagen läßt. Sie liest die Prä-
missen nochmals »a größer als b« »c größer als a«, betont
meist noch nachträglich »a größer als b« und wirft die Frage
auf: »was gilt von c, welches größer als a ist, im Vergleich
mit a, welches größer als b ist?« Ein nochmaliges Überblicken
der Prämissen ergibt die Bestimmung: »c ist noch größer als a«;
»c ist erst recht größer als b«.
Soweit die Protokolle. —
Es stellt sich also in innigem Zusammenhang mit der Auf-
fassung der Prämissen eine Beachtung der Gleichheit
der Beziehungen ein. Wir bezeichnen diese Feststellung,
da auf sie keine spezielle Einstellung gerichtet ist und für
sie offenbar dieselbe Abhängigkeitsbeziehung gilt. wie die von
uns früher für die Identifikation nachgewiesene mit Fo, die
Identifikation selbst als Fø. Nach der Identifikation
findet also eine Heraushebung von c und b statt und
eine Auffassung derselben als die im Schlußsatz zu be-
ziehenden Größen. Da wir, wie sich uns früher zeigte,
für den lIdentifikationsprozeßB ein Wiedersichgeltendmachen
49) G. Störring,
der Einstellung E, annehmen mußten, so wird auch für
das Herausheben der im Schlußsatz zu beziehenden Größen
die Einstellung E, zusammen mit einem früheren Vollzug der-
selben Verfahrungsweise verantwortlich zu machen sein.
Die Auffassung der herausgehobenen Größen als im Schluß-
satz in Beziehung zu setzen möchten wir nicht bloß auf Er-
innerung gründen: die Feststellung, daßdiese Größen
hier nicht in Beziehung gesetzt sind, liegt doch
zu nahe. Jedenfalls macht sich hier für diese Feststellung
keine maximal einengende Einstellung geltend. Wir charakteri-
sieren sie deshalb als Fg.
Nach völliger Realisierung der auf klare Erfassung der
Prämissen ausgehenden Einstellung E,, macht sich die Ein-
stellung E, nun weiter — nach völliger Aufhebung der deri-
vativer Hemmung — in folgender Weise geltend: Die Einstellung
E, wirkt jetzt zusammen mit der vollzogenen Auffassung der
Prämissen Fisa) und Fin und mit der Feststellung Fg,
der Feststellung, daß o und b die zu beziehenden Größen sind,
auf die Entwicklung der Einstellung
E, = Wille, festzustellen, was sich über die Be-
ziehung von c zu b aussagen läßt.
(Hier tritt übrigens das Gesetz von der Verkettung der Ein-
stellungen mit Feststellungen bei Bildung neuer Einstellung
wieder schön in die Erscheinung!)
Diese Einstellung E, läßt zunächst das Bedürfnis wach
werden, die Prämissen nochmals klarer sich zu vergegenwärtigen.
Es werden deshalb die Prämissen nochmals gelesen »a größer als b«
»c größer als a« und wieder aufgefaßt unter Nachwirkung
der Feststellungen Fina) und Fiag- Dabei wird »a größer
als b« nachträglich noch betont. Nun entsteht die Frage-
stellung: »was gilt von c, welches größer als a ist, im Ver-
gleich mit a, welches größer als c ist?«
Diese Fragestellung ist als in folgender Weise bedingt zu
denken: Vp. vollzieht eine nochmalige klare Auffassung der
Prämissen unter der gleichzeitigen Einstellung, c und b zu-
einander in Beziehung zu setzen; sie sucht das c, das sie
nach der 2. Prämisse auffaßt als größer als a, zu b in Beziehung
zu setzen und hält sich nun an die Beziehung des a zu b, zu
dem c ja schon in bewußter Beziehung steht. a hat den Vor-
zug, in direkter Beziehung zu b zu stehen, deshalb betont Vp.
a größer als b und vergleicht nun das c, welches größer
als a ist, mit dem a, welches größer als b ist.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 41
Die Frage löst eine entsprechende Einstellung aus:
Es = den Willen, festzustellen, was von c, welches
größer als a ist, im Vergleich mit a gilt, welches
größer als b ist.
Durch Wirkung dieser Einstellung auf den gegebenen Be-
ziehungskomplex entsteht die Feststellung
F: c ist nach größeralsa, welches größerals bist,
d. h. beim Übergang von a auf c ist wieder etwas an Größe
hinzugekommen, nachdem schon beim Übergang von b auf a
etwas an Größe hinzugekommen war. Nach Realisierung der
Einstellung E, in der Feststellung F, macht sich infolge Auf-
hebung der derivativen Hemmung für die Einstellung E, diese
wieder geltend, die Einstellung also, c auf b zu beziehen. Die
Einstellung E, realisiert sich leicht an der Hand der Fest-
stellung F, »beim Übergang von a auf c ist wieder etwas an
Größe hinzugekommen, nachdem schon beim Übergang von b
auf a etwas an Größe hinzugekommen war«, in der Feststellung
F,: beim Übergang von b auf c ist etwas an Größe
hinzugekommen, d. h. c größer als b.
Ergebnisse.
I. Am interessantesten ist hier die letzte Gedankenent-
wicklung. Es wird hier zustande gebracht eine gedankliche
Gesamtsynthese der Beziehungen der Prämissen
in der Feststellung F,. Aus dieser gedanklichen Synthese wird
der Schlußgedanke unter Anlegung des in der Einstellung E,
gegebenen Gesichtspunktes, c und b aufeinander zu beziehen,
analytisch entwickelt.
Rein psychologisch gesprochen stellt sich diese analytische
Entwicklung näher so dar, daß an die gedankliche Synthese
F, in der Einstellung E, der Gesichtspunkt der Beziehung des
c auf b herangetragen wird und sich nun an der Hand der
Gesamtsynthese und der Einstellung der Gedanke: »beim Über-
gang von b auf c kommt etwas an Größe hinzu« ev. mit
Identitätsbewußtsein aufdrängt. Der Schlußgedanke ist also
ein Beziehungsgedanke, der unter Wirkung der Einstellung,
besonders des Gesichtspunkts der Einstellung aus dergedank-
lichen Gesamtsynthese »hervorspringt«, eventuell (eben
bei einigen Vpn.) mit dem Bewußtsein der Identität. Die Ent-
wicklung dieses Gedankens ist nicht bloß von zwei Seiten ein-
42 G. Störring,
geengt, sondern auch noch von der Seite der Einstellung
maximal. |
II. Es tritt hier deutlich hervor — was übrigens auch in
Übereinstimmung steht mit der Gewinnung des Schlußsatzes bei
diesen Prämissen nach der ersten Operationsweise unter Bildung
eines anschaulichen Gesamttatbestandes von repräsentativer Be-
deutung — daß das Produktive in dieser Gedankenent-
wicklung in der Bildung einer diegesamten Beziehungen
vereinigenden Synthese liegt. Sie stellt den Höhe-
punkt der ganzen Gedankenentwicklung dar. Nach dieser
Synthese tritt nur noch eine analytische Entwicklung auf.
8 3. Schlüsse mit den Beziehungen größer—kleiner, mit zeit-
lichen Beziehungen, Gattungsbeziehungen usw. nach der
Operationsweise IV.
Wir untersuchen jetzt Schlüsse mit den Beziehungen
größer—kleiner nach einer Operationsweise, die ich als Op. IV
bezeichnet habe: es wird geschlossen wie bei Op. III auf Grund
der Entwicklung des Bewußtseins der Gleichheit der Be-
ziehungen in beiden Prämissen, aber hier wird diese Gleich-
heitssetzung in einer anderen Weise verwertet. Es wird sich
uns. zeigen, daß diese Schlußweise auch bei Prämissen mit
Gattungsbeziehungen Anwendung finden kann, was bei Op. III
nicht der Fall war.
Wir nehmen wieder dieselben Prämissen
a größer als b
c größer als a
Also:
Die Prozesse der Auffassung vollziehen sich in der Haupt-
sache in derselben Weise wie bei Op. IH, nur kommt die
Verdeutlichung der Prämissen in der Weise, daß gesagt wird:
»beim Übergang von b auf a kommt etwas an Größe hinzu«,
»beim Übergang von a auf c kommt etwas an Größe hinzu«
häufiger vor als bei Op. III. Mit der Auffassung (zwischen
Auffassung der Prämissen oder gleich nach derselben) voll-
zieht sich wie dort Identifikation der beiden Größen des Mittel-
begriffs. Hier tritt die Gleichheitssetzung der Prämissen-Be-
ziehungen in der Form der Auffassung des Fort-
schreitens nach derselben Richtung auf. Am Ende des Fort-
schreitens ankommend, sagt sich sodann Vp., daß cam größten ist.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 43
Dann sucht Vp. die Größen heraus, die im Schlußsatz auf-
einander zu beziehen sind, und stellt als solche unter Nach-
wirkung des Operierens bei ähnlichen Schlüssen c und b fest.
Sie sagt sich zuletzt: wenn c die größte Größe ist, so ist sie
auch größer als der Anfangspunkt des Beziehungsetzens b,
also c größer als b.
So weit die Protokolle.
Bei Auffassung der Prämissen vollzieht sich also Bemerken
der Identität (F,,) und Bemerken des Fortschreitens nach
derselben Richtung, d.h. zu immer Größerem (F). Bei der
letzten Beziehungsgröße, c, angekommen, findet eine Ver-
gleichunng mit den vorangegangenen Größen
statt an der Hand des Gedankens, daß beim Übergang von b zu
a, zu c die Größen immer mehr an Größe zugenommen haben.
So entsteht das Urteil c ist die größte, offenbar im allgemeinen
ohne spezielle Einstellung auf dieses Urteil, in Abhängigkeits-
beziehung von Einstellung E, (F).
Nach Realisierung der Einstellung E,, (Auffassung) tritt
E, stärker hervor.
Die Einstellung E, zusammen mit Erfahrungen an früheren
Fällen reproduziert den Gedanken, die noch nicht bezogenen
Größen zueinander in Beziehung zu setzen; es entsteht so die
Einstellung
E, = Wille, die nicht aufeinander bezogenen
Größen festzustellen und zu beziehen; im allge-
meinen mit gleichzeitigem Mittel—Zweck-Gedanken.
Eine Realisierung der Einstellung E, findet statt, wohl. fast
immer ohne Mitwirkung des Mittel—Zweck-Gedankens: die re-
produktive Wirkung auf die Aufeinanderfolge der Verfahrungs-
weisen ist hier zu ausgeprägt. Ich verweise auf meine Ent-
wicklungen über diesen Punkt in $2 Op. Il.
Auf Grund des 1. Teils der Einstellung E, Ei, entsteht
unter Mitwirkung von Erinnerung an früher vollzogenes Her-
ausheben die Feststellung
F!: c und b.
Darnach macht sich der 2. Teil der Einstellung E, EY
geltend. Die Einstellung EÏ erzeugt zusammen mit der Er-
innerung an die frühere Feststellung F œ : c ist die größte
der drei bezogenen Größen, die Feststellung
44 G. Störring,
F: »c ist auch größer als der Anfangspunkt des Beziehung-
setzens — unter Mitwirkung der Erinnerung an die Auffassung
der ersten Prämisse: »Beim Übergang von b auf a« zu
Größerem — b.«
Bemerkungen.
I. Es ist leicht zu sehen, daß diese Operationsweise sich
auch bei Gattungsschlüssen realisieren kann, indem bei Prä-
missen wie
Gattung A gehört zur Gattung B
Gattung B gehört zur Gattung C
Also: .
es naheliegt, den Gedanken des Übergangs auf eine immer höhere
Gattung zu entwickeln.
II. Ich möchte auf die differente Art von Erinne-
rungen hinweisen, welche hier in den urteilmäßigen Fest-
stellungen eine Rolle spielen. Einmal handelt es sich um die aus
mathematischen Deduktionen bekannte Mitwirkung der Erinne-
rung beim Rekurrieren auf früher erwiesene Sätze, also hier
ErinnerunganErfahrungen,dieVp.ausfrüheren
Schlüssen abstrahiert hat. Sodann macht sich hier
noch eine Erinnerung an Feststellungen geltend,
die in diesem Schlußprozeß gemacht sind.
Auf letztere Art der Erinnerung in Denkprozesse hat wohl
zuerst Descartes aufmerksam gemacht. Er gründet darauf
seine Unterscheidung zwischen Induktion und Deduktion: in
seiner Deduktion wirken schon Erinnerungen an die in den eben
vorangegangenen Operationen gemachten Feststellungen mit.
Die erkenntnistheoretische Bedeutung solcher Erinnerung
in der Frage der synthetischen Urteile a priori habe ich meiner
Erkenntnistheorie untersucht.
84. Schlüsse mit den Beziehungen größer— kleiner mit zeit-
lichen Beziehungen usw. in einer Prämisse und einer Gleich-
heitsbeziehung in der andern Prämisse.
Wir wenden uns jetzt zur Untersuchung von Schlüssen,
welche in der ersten Prämisse den Beziehungsgedanken größer
oder kleiner aufweisen und in der zweiten Prämisse Gleich-
heitsbeziehung. |
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 45
Nehmen wir die Prämisse:
a größer als b
c-&
Also:
Die Prämissen werden hier am besten akustisch ge-
geben, damit nicht zu mechanisch operiert wird.
Die erste Prämisse wird in der früher angegebenen Weise
aufgefaßt. Beim Lesen der zweiten Prämisse erfolgt Identi-
fikation der Mittelbegriffsgrößen, sobald Vp. auf die identische
Größe in der zweiten Prämisse stößt.
Wo eine besondere Verdeutlichung der zweiten Prämisse
stattfindet, vollzieht sie sich im allgemeinen so, daß Vp. sich
gleiche Größen vorstellt, etwa gleiche Strecken mit dem gleich-
zeitigen Bewußtsein: es kann auch anders vorgestellt werden.
Nur selten tritt bei der Verdeutlichung der Gedanke auf: die
Größen sind gleich heißt, sie können füreinander eingesetzt
werden.
Sind Schlüsse mit gleichen Beziehungen in beiden Prä-.
missen vorangegangen, so wird meist die Differenz der Be-
ziehungsgedanken der beiden Prämissen beachtet und es macht
sich das Bestreben geltend, der bemerkten Differenz Herr zu
werden, die beiden Prämissen zum Zweck des Schließens zu
einer Einheit zu gestalten.
Es werden dann etwa noch einmal die beiden schon identi-
fizierten gleichen a beachtet und es tritt der Gedanke auf, daß
sich für das a der ersten Prämisse das c einsetzen läßt. Diese
Einsetzung wird dann mit oder ohne deutlich hervortretenden
Willen zur Einsetzung vollzogen. Bei der Einsetzung wird zu-
weilen angegeben, daß ein Notwendigkeitsgefühl, welches den
Gedanken des »Soseinmüssens« nahelegt, dabei aufgetreten sei.
Dann wird das Resultat der Einsetzung abgelesen: c größer
als b. —
Bei Auffassung der zweiten Prämisse werden die beiden a
also identifiziert, sobald das zweite a gehört wird (F ). So-
dann fällt etwa die Differenz der beiden Prämissen-Beziehungen
auf (F). Die Auffassung der zweiten Prämisse vollzieht sich
meist ohne besondere Verdeutlichung. Wo eine solche statt-
findet, tritt sehr selten der Gedanke auf: »gleich« heißt »diese
Größen lassen sich für einander einsetzen«.
Bezüglich der weiteren Verarbeitung wollen wir den Fall
ins Auge fassen, daß die Differenz der beiden Prämissen-
46 G. Störring,
Beziehungen beachtet wird, wodurch die Prozesse sich etwas
in die Länge ziehen. Dieser Gedanke wirkt dann nach Reali-
sierung der Einstellung E,, (Auffassung) zusammen mit der
sich nach Aufhebung der derivativen Hemmung wieder geltend
machenden Einstellung E, darauf hin, daß das Bestreben ent-
steht, die beiden Prämissen zur Einheit zu gestalten. Es tritt
also auf die Einstellung
E,=Wille, eine Zusammenfassung der Prämissen
zur Einheit zustande zu bringen, um den Schluß
zu ziehen.
Diese Einstellung zur Zusammenfassung der Prämissen zur
Einheit ist aber zu wenig bestimmt, um unmittelbar eine
Operation, welche eine urteilsmäßige Feststellung darstellt, aus-
zulösen. Es wirkt deshalb die Einstellung zunächst in der Re-
produktion des Gedankens an den gemeinsamen Mittelbegriff,
welcher sich etwa mit einem Blick auf die beiden a ein Vor-
stellungsbild verbindet. Von hier aus wird dann die Er-
" innerung wach gerufen, daß c=a bedeutet, »a und c können
füreinander gesetzt werden«. Mit dieser Erinnerung zusammen
vollzieht sich das gleichsinnnige Urteil (F).
Diese Feststellung (F&,) nun wirkt bei weniger abgekürztem
Verlauf zusammen mit der Einstellung E, in der Erzeugung
der Einstellung
E,=- Wille, diese Einsetzung zu vollziehen.
Dieser Wille realisiert sich in der Einsetzung des c für das
a in die erste Prämisse im Vorstellungsbilde (F,). Die Einsetzung
wird häufig charakterisiert als ein »Sotunmüssen«, also als ein
als gültig aufgefaßtes oder meist nur auffaßbares intellektuelles
Tu.n Dadurch ist aber ein neues Resultat gegeben, was nur
»abgelesen« zu werden braucht, d.h. es bedarf nur noch der
Auffassung des so gewonnenen Tatbestandes.
Ergebnisse.
I. Die Einstellung E,, der Wille also, die Einsetzung des c
für das a auf Grund der zweiten Prämisse c=a stellt sich als
eigenartig dar: Sie unterscheidet sich von anderen
Einstellungen darin, daß sie als gültig aufge-
faßt wird, während andere Einstellungen nur
als wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich
zweckmäßig erscheinen.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 47
II. Der Einsetzungsprozeß dieses Schlusses stellt sich bei
manchen Vpn. als ein »Sotunmüssen« dar, genau als ein intel-
lektuelles Tun, welches als gültig aufgefaßt wird oder als
gültig auffaßbar (Äquivalent) sich darstellt.
Dieses intellektuelle Tun unterscheidet sich
von dem als gültig aufgefaßten oder als gültig
auffaßbaren Denken dadurch, daß das letztere,
die urteilsmäßigen Feststellungen, durch eine
Einstellung zum Denken und außerdem durch
einen zu beurteilenden Tatbestand, also von
zwei Seiten, eingeengt sind, während das
intellektuelle Tun durch die Einstellung allein
eindeutig bestimmt ist!
OI. Die Einstellung E, zeigt, daß es wertvolle
Einstellungen gibt, die zu allgemein sind, als
daß sie eindeutig bestimmte Prozesse auslösen
könnten, die sich wenigstens zunächst nur in
einfachen Reproduktionen von Beziehungsge-
danken, in Erinnerungen, Fragestellungen gel-
tend machen.
Ähnlich verhält es sich. mit der Einstellung
E, in 82 8.40, wo eine komplexe Fragestellung
durch die Einstellung angeregt wird und sie
nach Realisierung der durch sie bedingten Ein-
stellung E,erstselbstzur Realisierung gebracht
werden kann!
8 4. Schlüsse mit den entgegengesetzten Beziehungen größer
und kleiner, entgegengesetzten zeitlichen usw. Beziehungen
nach Operationsweise II.
Wir sind noch die Behandlung der Schlüsse schuldig nach
Op. U. Bei ihnen liegen entgegengesetzte Beziehungen in den
Prämissen vor oder es werden (in seltenen Fällen) bei gegebenen
gleichen Prämissenbeziehungen durch Konversion einer Prä-
misse entgegengesetzte Beziehungen zustande gebracht. Bei
solch entgegengesetzten Beziehungen kann der Schluß zur Ent-
wicklung kommen nach Op. I. Wir fassen den Fall ins Auge,
daß die Entwicklung des Schlußsatzes sich gründet auf den
Gedanken des Gegensatzes der in den Prämissen gesetzten Be-
ziehungen. Nehmen wir als Beispiel:
48 G. Störring,
a kleiner als b
c größer als b
Also: ...
Ich gebe zunächst eine Darstellung der Protokolle und trete
dann in die kausale Behandlung ein.
Die Auffassung der ersten Prämisse »a kleiner als b« voll-
zieht sich so, daß zwei Strecken vorgestellt werden, von denen
die eine kleiner als die andere ist, mit dem Bewußtsein, daß
diese Strecken Repräsentanten sind, daß »es auch anders vor-
gestellt werden könnte«. An die Stelle von zwei Strecken treten
in anderen Fällen zwei Kreise differenter Größe u. dergl. In
einigen Fällen tritt eine schärfere Verdeutlichung auf: »beim
Übergang von b auf a wird etwas an Größe weggenommen, ver-
mindert sich die Größe«.
Die entsprechende Feststellung für die zweite Prämisse ist
schon bekannt.
Bei Auffassung der Prämissen oder in unmittelbarem An-
schluß daran erfolgt Identifikation der Mittelbegriffsgrößen und
Beachtung des Gegensatzes der Prämissen-Beziehungen. Vp.
sucht nun die Prämissen zu einer Einheit zu gestalten, um so
den Schluß vorzubereiten. Sie sagt sich: Von b aus geht es
nach a und c in entgegengesetzten Richtungen. Dabei ist zu-
weilen eine Lokalisation des c rechts von b auf dem exponierten
Zettel angedeutet.
Vp. hebt sodann die Größen heraus, die in den Prämissen
noch nicht aufeinander bezogen waren, und stellt als solche a
und c fest unter Nachwirkung von früherem ähnlichen Ver-
fahren. Sie sucht nun a und c aufeinander zu beziehen, in-
dem sie auf die früher vollzogene klare Auffassung der Prä-
missen zurückgreift oder unter Nachwirkung dieser früheren
Auffassung hier diese Auffassung erneuert. Sie sagt sich nun:
was läßt sich von a sagen, welches kleiner als b ist, im Ver-
gleich mit c, welches durch Vergrößerung von b entsteht? Es
ergibt sich ihr: a ist auch kleiner als das durch Vergrößerung
von b entstanden gedachte c.
Diese Art des Schließens hebt sich der Vp. deutlich ab
gegenüber einem Schließen bei diesen Prämissen, bei dem auch
die Prämissenbeziehungen nicht einfach repräsentativ räumlich
lokalisiert werden (ohne daß die in den Prämissen gegebenen
Beziehungen aufeinander bezogen werden), sondern in dem auch
der Gedanke des Gegensatzes der in den Prämissen gegebenen
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 49
Beziehungen sich entwickelt, bei dem sich aber mit der Auf-
Auffassung des Gegensatzes der Beziehungen eine repräsen-
tative Lokalisation (die hier übrigens auch häufig angedeutet
ist) verbindet und wo nun — im Unterschied von dem hier
vorliegenden Operieren — die Entwicklung des Schlußsatzes
sich auf Grund der repräsentativen räumlichen Beziehungen
unter Zurückübersetzen der repräsentierenden Beziehungen in
die repräsentierten vollzieht.
Die Vpn. sagen, daß es viel befriedigender sei, den Schluß-
satz zu entwickeln auf Grund des Gedankens des Gegensatzes
der in den Prämissen gegebenen Beziehungen als auf Grund von
Repräsentation und »Ablesen« des Schlußsatzes.
So weit die Protokolle. —
Die Auffassung der ersten Prämisse vollzieht sich ähnlich
wie früher die Auffassung der Prämissen mit Größer-Be-
ziehung: es erfolgt entweder Verdeutlichung durch Strecken
verschiedener Größe, Kreise verschiedener Größe usw., an Hand
derer das Urteil »kleiner« gefällt wird zugleich mit dem Be-
wußtsein, daß diese Größen nur repräsentative Bedeutung haben
oder abstrakte Verdeutlichung: »a kleiner als b« bedeutet: von
b zu a übergehend wird etwas von der Größe weggenommen.
Verdeutlichung der zweiten Prämisse wie früher (Fina) und
(Fiag). Mit der Auffassung vollzieht sich wie früher Identi-
fikation (F,,) und sodann Beachtung des Gegensatzes der in
den Prämissen gesetzten Beziehungen (F; )-
Vp. sucht nun nach den Protokollen die Prämissen zur Ein-
heit zu gestalten, um so den Schluß vorzubereiten. Es ent-
wickelt sich also nach Realisierung die Einstellung E ,, unter
stärkerem Wiederhervortreten der Einstellung E,, sodann unter
Mitwirkung der Feststellungen Fiaa und Fiag, Fo und Foi,
und unter Nachwirkung früherer Erfahrung über Bedeutung
der Zusammenfassung der Beziehungsgedanken, die Einstellung
Ep» ~ Wille, die Prämissen zu einer Beziehungs-
einheit zu gestalten, um so den Schluß vorzu-
bereiten.
Daraufhin erfolgt an der Hand der Feststellungen Faa und
Fiag die Feststellung o
F»: von b aus geht es nach a und c in entgegen-
gesetzten Richtungen.
Diese Feststellung nimmt auch häufig die Form an: »b
Archiv für Psychologie. LII. 4
50 G. Störring,
liegt in der Mitte, von b aus geht es nach entgegengesetzten
Richtungen«.
In der letzten Fassung haben wir es offenbar nicht mit
‘einer vollen Synthese der Beziehungsgedanken zu tun, es fehlt
die nähere Bestimmung über zwei Beziehungsglieder. Es liegt
hier also eine Synthese vor, die durch Abstraktion von Be-
ziehungsgliedern nur partiell ist.
Aber auch bei der ersteren Fassung liegt keine volle Syn-
these vor. Wenn auch hier die beiden anderen Beziehungsglieder
angegeben sind, so fehlt doch ihre Zuordnung zu einer be-
stimmten Richtung. Diese Synthese ist also auch nur partiell.
Nun sucht Vp. weiter die nicht in der Prämisse bezogenen
Größen in Beziehung zu setzen.
Nach Realisierung der Einstellungen E,, und E,}, macht sich
infolge von Aufhebung derivativer Hemmung die Einstellung E,
und die damit übereinstimmende Einhaltung E,, 2. Teil, also
Ë Z geltend. Diese Einstellung zusammen mit der Feststellung
F» löst unter Nachwirkung früheren Schließens den Gedanken
aus, die noch nicht bezogenen Größen in der Feststellung Fi»
aufeinander zu beziehen. Eine emotionelle Billigung dieses
Gedankens läßt die Einstellung
E,=W.ille, diese Größen aufeinander zu beziehen,
entstehen.
Diesem Willen ist nicht ohne weiteres zu entsprechen. Der
Gedanke, diese Größen aufeinander zu beziehen, steht in inniger
assoziativer Verbindung mit dem Gedanken, sie festzustellen,
so daß die Frage, welches diese Größen sind, auch ohne Mittel—
Zweck-Setzung auftreten kann. Es klingt dann nach dem Auf-
treten jenes Gedankens leicht der Mittel—Zweck-Gedanke an,
aber ohne den Verlauf zu bestimmen.
Aus der Frage, welches diese Größen sind, kann sich ein
entsprechender Wille entwickeln. Das geschieht aber meist
nicht, sondern an die Frage schließt sich meist unter Nach-
wirkung früherer Verhaltungsweisen die Heraushebung von
aundcanmitnachträglicher Anerkennung (Fo,).
Nach den Protokollen sucht nun Vp. a auf c zu beziehen.
Unter Wirkung der Einstellung E, und unter Nachwirkung
der Feststellung F modifiziert sich also die Einstellung E, in
die Einstellung:
E n= Wille, dieGrößenaundcaufeinander zu be-
ziehen.
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 51
Dieser Wille ruft die Erinnerung an die Feststellung Fi»
wach. Das Bedürfnis nach einer maximal klaren Erfassung des
Tatbestandes führt aber meist zum Wiedervollzug und Er-
gänzung der gewonnenen Synthese: beim Übergang von b
auf a vermindert sich die Größe, dagegen beim Über-
gang von demselben bzuckommt etwas hinzu.
Diese ergänzte Feststellung F,į wirkt dann mit der Ein-
stellung E,,, die noch nicht unmittelbar realisiert werden kann,
in der Entwicklung der Frage:
Was läßt sich von a sagen, welches kleiner als b ist, in
bezug auf c, welches dagegen durch Vergrößerung von b ent-
steht?
In dieser Frage ist eine Kombination der gedank-
lichen Synthese Fý und der in der Einstellung
E,, implizierten Frage nach den Beziehungen
vonazucvollzogen!
Es findet dann im allgemeinen eine Auswirkung der Frage
zu einem entsprechenden Wollen statt, zu der Einstellung
E», dem Willen, festzustellen...
Daraus ergibt sich die Feststellung:
F»: a, welches kleiner als b ist, ist auch kleiner
als das durch Vergrößerung von b entstandene
c; a größer als c.
Diese Feststellung ist analytisch aus der gedanklichen Syn-
these F} entwickelt, genauer gesagt: sie ergibt sich durch Ein-
engung der Gedankenentwicklung durch die Einstellung E»
und die zu beurteilende gedankliche Synthese Pih, und zwar
durch maximale,
Ergebnisse,
Überblicken wir die gesamten Schritte, welche in dieser
Schlußweise, die ich als Op. II der Schlüsse mit räumlichen Be-
ziehungen, zeitlichen Beziehungen, den Beziehungen größer-
kleiner bezeichnete, so finden wir viele Anklänge an Op.IIl
und Op.IV.
Ich möchte auf folgende Punkte hinweisen:
I. Die Bedeutung der Frage in unseren Denk-
operationen wird hier in eigenartige Beleuch-
tung gerückt.
Aristoteles bezeichnete das Urteil als Satz mit Behauptung,
die Frage als Satz ohne Behauptung. Man könnte geneigt sein,
4%
52 G. Störring,
die Fragen in solcher Weise zu den Urteilen in Gegensatz gu
setzen, daß man ihre Entwicklung ganz auf das Konto der
intellektuellen Phantasietätigkeit setzt. Das würde nicht der
Erfahrung widerstreiten, daß die Frage im wissenschaftlichen
Betrieb häufig von großer Bedeutung für die Weiterentwick-
lung der Forschung ist, da ja die intellektuelle Phantasie doch
sicherlich bei genialen Konzeptionen eine dominierende Rolle
spielt.
Wir können hier die Abhängigkeitsbeziehungen einer pro-
duktiven Frage deutlich aufweisen.
Die Frage, »Was läßt sich von a sagen, welches kleiner als
b ist, in bezug zu c, welches dagegen durch Vergrößerung von
b entsteht?« tritt uns hier entgegen als eine Kombination der
gedanklichen Synthesis der Prämissen zu einem einheitlichen
Ganzen, der Feststellung F,,: »beim Übergang von b zu a ver-
mindert sich die Größe, dagegen beim Übergang von dem-
selben b zu a kommt etwas an Größe hinzu« mit der Frage
nach den Beziehungen von a zu c, welche in den Willen ein-
geschlossen ist, die Größen a und c aufeinander zu beziehen.
Die in Diskussion stehende Frage ist also
offenbar kein psychisches Gebilde, welches mit
Urteilen nichts zutun hat, sondern sie setztein
Urteilvoraus, nämlich dasin dersynthetischen
Feststellung Fẹ gegebene Urteil!
Dazu schließt diese Frage auch noch ein Ur-
teil ein, nämlich das Urteil, daß diese Frage
zweckmäßig ist. |
Und sieht man sich näher die Frage nach der Beziehung
von a zu c an, So findet man, daß auch diese Frage wieder
ein Urteil voraussetzt, nämlich das Urteil, daß a und c im
Schlußsatz aufeinander zu beziehen sind.
II. Ich möchte sodann hier darauf hinweisen, daß uns hier
ein schöner Fall entgegentrat, wo eine ohne Zweifel geschickte
Einstellung nicht unmittelbar zum Erfolg führte, ein Fall, an
dem man sieht, wie solche Einstellungen Reproduktionsprozesse,
Erinnerungen und Fragestellungen anregen, die dann wieder zu
einer neuen Einstellung führen, welche unmittelbar realisierbar
ist und die Bedingungen erfüllt zur Realisierung der ersteren
Einstellung.
III. Wenn man diejenigen Operationsweisen, bei denen sich
die Entwicklung des Schlusses auf Grund des Setzens von
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 53
Beziehungen zwischen den Beziehungen der Prämissen vollzieht,
also Op. II, UI IV miteinander vergleicht, so ergibt sich
folgendes:
Bei Op. IV superponiert sich über der Feststellung des Fort-
schreitens nach derselben Richtung ein Vergleichungs-
prozeß: es wird das letzte Beziehungsglied, bei dem man an-
gekommen ist, der termius minor, mit den vorangegan-
genen auf Grund der Feststellung des Fort-
schreitens nach derselben Richtung verglichen
und als am weitesten in dieser Richtung liegend charakterisiert
(als Größtes, als Kleinstes usw.). Aus dieser synthetischen
Charakteristik der Beziehungen ergibt sich dann
durch Feststellung des Anfangsgliedes des Beziehungsetzens die
Beziehung des termius minor zum termius major.
Bei Op. II superponiert sich über der Feststellung des Gegen-
satzes der in den Prämissen gesetzten Beziehungen und einer
Synthesis der entgegengesetzten Prämissenbeziehungen fol-
gender Vergleichungsprozeß: Der terminus minor mit
der Eigenschaft, daß von ihm die und die Beziehung zum
terminus medius gilt (etwa die Kleiner-Beziehung), wird ver-
glichen mit dem terminus major von der Eigenschaft, daß er
in der entgegengesetzten Beziehung zum Mittelbegriff steht
(Größer-Beziehung). Also in den Größer—Kleiner-Beziehungen
ausgedrückt: der terminus minor, von dem gilt, daß er kleiner
als der terminus medius ist, wird verglichen mit dem terminus
major, von dem gilt, daß er größer als der terminus medius ist.
Daraus ergibt sich, daß der terminus minor erst recht kleiner
als der terminus major ist. Die Ausführung des Vergleichs-
prozesses ergibt also unmittelbar den Schlußsatz.
Bei Op. EI superponiert sich über der Beachtung der
Gleichheit der in den Prämissen gesetzten Beziehungen ein
Prozeß der Vergleichung derart, daß das, was vom
terminus minor gilt, verglichen wird mit dem, was vom ter-
minus medius gilt. Man kommt zu dem Resultat, daß das, was
vom terminus medius gilt, auf Grund der Gleichheit der Be-
ziehungen, auch vom terminus medius gilt. Aus dieser Syn-
these der Beziehungen ergibt sich dann analytisch die Be-
ziehung des terminus minor zum terminus major.
In allen diesen Fällen ist das Gemeinsame enthalten, daß über
einer Feststellung der Beziehungen zwischen den
Prämissenbeziehungen (Gleichheits- oder Gegensatz-
54 G. Störring,
beziehung) sich superponiert eine Synthesis der Prä-
missenbeziehungen und ein Vergleichungsprozeß,
der sich auf die im Schlußsatz aufeinander zu beziehenden, in
solchen und solchen Beziehungen stehenden Größen unmittel-
bar oder mittelbar richtet.
85. Schlüsse mit Gattungsböziehungen in beiden Prämissen
und einfachem Einsetzungsverfahren.
Wir wenden uns jetzt zur Untersuchung von Schlüssen mit
einfachem Einsetzungsverfahren bei Schlüssen mit Gattungs-
beziehung in beiden Prämissen.
Nehmen wir die Prämissen:
c gehört zur Gattung a
a gehört zur Gattung b
Also: S ae Roi
Zunächst berichten wir über die Protokolle.
Bei Auffassung der ersten Prämisse wird die Gattungs-
beziehung durch Umfangsbeziehung verdeutlicht: »c gehört zur
Gattung a« heißt: c, dem unbestimmt viele Exemplare zu-
kommen, gehört in den Umfang des a hinein (Vorstellung kon-
zentrischer Kreise angedeutet), ist ein Teil von a. Die zweite
Prämisse »a gehört zur Gattung b« wird in ähnlicher Weise
durch Umfangsbeziehung verdeutlicht unter Verwendung der
sich ungewollt darbietenden Vorstellung konzentrischer Kreise.
Nach Auffassung der Prämissen und Identifikation der
Mittelbegriffsgrößen macht sich die Tendenz wieder deutlich
geltend, einen Schluß zu ziehen. Vp. erinnert sich daran, daß
sie früher bei Gattungsschlüssen mit Vorteil eine Zusammen-
ziehung der Prämissenbeziehungen in einem Satz vollzogen
hat und sucht auch hier so zum Ziel zu kommen. Es werden
nun die Prämissen nochmals gelesen, in einzelnen Fällen bei
nicht genügender Konzentration noch ein weiteres Mal. Vp.
sagt sich bei Auffassung der zweiten Prämisse: »a gehört zur
Gattung b«: a, diese a, zu denen als Teil c gehört, gehören zur
Gattung b«.
Dann sucht Vp. eine Beziehung zwischen den in den Prä-
missen noch nicht aufeinander bezogenen Größen festzustellen.
Als diese Größen ergeben sich c und b. Aus der sprachlich ver-
mittelten Zusammenfassung der Beziehungsgedanken wird der
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 55
Schlußsatz durch Abstraktion von einem Teil der Beziehungen
unter Anlegung des gewonnenen Gesichtspunktes »abgelesen«.
Betrachten wir jetzt diesen Schlußprozeß vom kausalen Ge-
sichtspunkt aus.
Die Auffassung der Prämissen vollzieht sich also, wie wir
hörten, indem bei der Gattungsbeziehung an den Umfang ge-
dacht wird. Die Feststellung
F sie lautet: »c, dem unbestimmt viele Exemplare zu-
kommen, gehört in den Umfang von a hinein, ist
ein Teil von a«;
die Feststellung
Fum lautet: »a gehört in den Umfang von b hin-
ein, ist ein Teil von b«.
Mit der Auffassung vollzieht sich, wie gewöhnlich, Identi-
fikation (Fo). Nach Realisierung der Einstellung E, macht
sich infolge Aufhebung der derivativen Hemmung Einstellung
E, wieder geltend. Die Einstellung E, wirkt nun zusammen mit
der Erfahrung über Zweckmäßigkeit der Zusammenziehung der
Prämissengedanken in einen Satz reproduzierend auf den Ge-
danken an diese Zusammenziehung. Dieser Gedanke verbindet
sich mit dem Bewußtsein der Zweckmäßigkeit (F). So ent-
steht die Einstellung
E, = Wille, die Beziehungen der beiden Prä-
missen in einen Satz zusammenzufassen.
Es erfolgt erneute Konzentration auf die Prämissen; sie
werden nochmal gelesen und aufgefaßt unter Nachwirkung von
Fiaa und Fiag- Zuweilen wird dieses Lesen und Auffassen
der Prämissen nochmal wiederholt. Entweder bei der ersten oder
zweiten Wiederholung vollzieht sich dann folgender Prozeß:
erste Prämisse »c gehört zur Gattung a«, d.h. c gehört in den
Umfang der a hinein, ist ein Teil der a. Zweite Prämisse »a
gehört zur Gattung b«: a, diese a, zu denen als Teil
c gehört, gehören zur Gattung b (F,).
Nach Realisierung der Einstellung E, macht sich jetzt
durch das Wirken uns bekannter Ursache die Einstellung E,
wieder geltend. Durch die zusammenfassende Feststellung F,
und die Einstellung E, wird die Erinnerung wachgerufen, daß
die nicht bezogenen Größen aufeinander zu beziehen sind, und
nun entsteht die Einstellung
E,=- Wille, die nicht bezogenen Größen aufein-
ander zu beziehen.
56 G. Störring,
Die Einstellung E, löst auf früher von uns näher bezeichnete
Weise die Heraushebung voncundb aus mit nach-
träglicher Anerkennung Fæ. Es tritt nun eine Modi-
fikation der Einstellung Es durch die Feststellung Fos in die
Einstellung
E ein: Wille, die Beziehung der Größen c und b
in F, festzustellen.
Es erfolgt Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Fest-
stellung F, unter dem Gesichtspunkt von Einstellung E,,. Es
wird von beiden Seiten eingeengt der Gedanke entwickelt: »c
gehört zur Gattung k«. F}
Ergebnis.
Dieser Schlußprozeß mit Einsetzung des terminus minor
neben den terminus medius des Obersatzes bietet gegenüber
den früheren Operationen das Eigentümliche dar, daß hier
eine Synthesis der Beziehungsgedanken der Prä-
missen durch eine bestimmte Art von sprach-
licher Zusammenziehung in einen Satz ver-
mittelt wird.
Wir haben bisher 3 Arten der Synthesis in dem Schluß
eine Rolle spielen sehen:
l. eine mechanische Synthesis der Prämissen-
beziehung in einen anschaulichen, meist räumlichen
Gesamttatbestand, der außer bei Schlüssen mit räum-
licher Beziehung als repräsentativ aufgefaßt wird, ohne
daß dabei auf die Beziehung zwischen den Prämissen
geachtet wird; Schluß durch sogenantes »Ablesen«
auf Grund dieser Synthesis;
die mechanische Synthesis kann sich mit Beachtung
der Beziehungen zwischen den Beziehungen verbinden;
2. eine gedankliche Synthese der Prämissenbezie-
hungen auf Grund der Feststellung der Beziehungen
zwischen den Beziehungen, wobei der Schluß aus
dieser gedanklichen Synthesis und Ver-
gleichung entwickelt wird;
3. eine sprachlich vermittelte Synthesis der
Prämissenbeziehungen, wobei der Schluß unter Ab-
straktion durch »Ablesen« entwickelt wird, jedoch ohne
Zurückübersetzung repräsentierender in repräsentierte
Allgemeine Bestimmungen tiber Denkprozesse usw. 57
Beziehungen. Die sprachliche Synthese verwertet primär
ein Beziehungsetzen zwischen term. minor und term.
medius (vgl. Op. III) und vermittelt sekundär eine ge-
dankliche Synthese.
86. Schlüsse mit Gattungsbeziehungen in beiden Prämissen
und komplexerem Einsetzungsverfahren.
Eine zweite Art des Einsetzungsverfahrens, die bei Schlüssen
mit Gattungsbeziehungen in beiden Prämissen vollzogen wird.
bespreche ich an der Hand des ersten Falles, in dem bei einer
bestimmten Vp. diese Schlußweise auftrat. Es wurden Vp. F
die Prämissen exponiert:
Alle i gehören zur Gattung o
Alle z gehören zur Gattung i
— Alor 2. 5 0 y e
Für die Auffassung der ersten Prämisse ist kein Repräsentant
angebbar. Dann ging Vp. zur zweiten Prämisse über und las
valle z«. Während des Weiterlesens von hier aus sprang der
Biick nach dem zweiten i hinüber. »Um deutlich beobachten
zu können«!) las Vp. die zweite Prämisse, ohne auf die erste
zu blicken, dreimal. Innerlich sagte Vp. sich nun: was fängst
du mit dieser Angabe an? Du mußt sie doch zur ersten Prä-
misse in Beziehung setzen. Wie machst du das? Vp. fragte
sich dann, wo in der ersten Prämisse von i die Rede sei (1).
Dabei fand sie die Stelle »alle i«. Vp. ging nun weiter aus von
der Erkenntnis, daß die z zu den i gehören, und sagte sich,
daß also z für »alle i« »einzusetzen« sei. Während dieses Vor-
gehens dachte Vp. nicht an Gattung o und sah auch nicht die
Schriftzeichen »Gattung ox des exponierten Zettels. Als sich
die Einsetzung vollzogen hatte, sah Vp. »Gattung o«, Bewußt-
sein der Sicherheit.
Über die Auffassung der ersten Prämisse ist in diesem
einzelnen Falle nichts Näheres gesagt. Die zweite Prämisse
wird dreimal gelesen. Sie wird isoliert von der ersten
Prämisse betrachtet infolge der mehrfachen Wiederholung —
1) Diese Absicht hat sich nicht auf Grund einer Anweisung des Ex-
perimentators entwickelt, sondern weil Vp. wußte, daß sie ein genaues Referat
zu geben hatte. Es wurde vom Experimentator wiederholt beim Referat über
solches Vorgehen darauf hingewiesen, daß die Absicht zu beobachten während
des Versuchs auf die Prozesse störend wirke.
58 G. Störring,
in scharfem Gegensatz zu dem Verfahren bei der im vorher-
gehenden § 5 charakterisierten Art der Einsetzung. Eine Folge
wieder dieser Isolierung der zweiten Prämisse gegenüber der
ersten Prämisse ist, daß die Rolle des in in der ersten Prä-
misse der Vp. nicht präsent bleibt. Nun entsteht Ratlosigkeit.
Also mehrfache Wiederholung bedingt isolierte Auffassung,
letztere Ratlosigkeit: »was fängst du nun mit dieser Angabe an?
Du mußt sie doch zu der ersten in Beziehung setzen. Wie
machst du das?«
Die Äußerung »du mußt sie doch zu der ersten in Beziehung
setzen« zeigt, daß sich die Einstellung E, wieder geltend macht
und daß sich die Einstellung
E, = Wille, die zweite Prämisse zur ersten Prä-
misse in Beziehung zu setzen,
entwickelt.
Die Entstehung dieser Einstellung scheint hier-so bedingt
zu sein, daß das Wiederauftreten der Einstellung E, und die
eben vollzogene Auffassung der Prämissen auf Grund der Tat-
sache, daß früher bei anderen Schlußprozessen in ähnlicher
Situation Verfahrungsweisen realisiert wurden, die eine Zu-
sammenfassung der Prämissenbeziehungen herbeiführten, der Ge-
danke reproduziert wird, daß beide Prämissen aufeinander be-
zogen werden müssen.
Die Einstellung E, löst nun zunächst eine die Vergegen-
wärtigung der ersten Prämisse begünstigende Erinnerung
aus: »i kommt auch in der ersten Prämisse vor.« Durch die
Einstellung E, und diese Erinnerung ist bedingt die Frage:
»wo ist in der ersten Prämisse von i die Rede?«
Diese Frage selbst bedingt bei dem von der Einstellung E,
abhängigen Interesse für Beantwortung dieser Frage die neue
Einstellung
E;= Wille, festzustellen, wo bei der ersten Prä-
misse von idie Rede ist.
Dieser Wille löst-eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf
die erste Prämisse aus — natürlich nicht auf assoziativer
Grundlage, sondern unmittelbar! Vp. fand dann die Stelle
»alle i« und macht daraufhin die Feststellung
Fog: von i wird dort etwas ausgesagt (das liegt im
Beachten der Stelle von »alle i«!).
Diese Feststellung F œ aber, daß von i etwas ausgesagt
wird, bedingt, da ja die Beziehung von z zu i im Vordergrund
Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 59
des Bewußtseins steht und da z und i durch Auffassung der
zweiten Prämisse als in inniger Beziehung zuein-
ander stehend aufgefaßt werden, das Aufwerfen der
Frage, ob sich auch von z aussagen lasse, was
von i ausgesagt wird.
Von dieser Frage ist nun, da ein Interesse für die Beant-
wortung vorliegt, anzunehmen, daß sich auf sie ein Streben,
sie zu beantworten, gründet.
Wir würden es dann zu tun haben mit der Einstellung
E,=- Wille, festzustellen, ob auch von z gilt, was
voni gilt.
Diese Einstellung löst an der Hand der Auffassung der
zweiten Prämisse »i ist ein Teil von z« die Feststellung F, aus:
»was von allen i gilt, gilt auch von einem Teil
derselben«.
Nach Realisierung der Einstellung E, macht sich der mit
der Verarbeitung dieser Materie assoziativ verbundene Gedanke
an die Einstellung E, wieder geltend. Sie löst zusammen mit
der Feststellung F, den Einsetzungsprozeß der z für
die i aus. Nach seinem Vollzug bedingt die Einstellung E,
die Feststellung |
F,: z gehört zu Gattung o.
Bemerkungen.
I. In interessanter Weise stellen sich in diesem Schluß-
prozeß die Fragen dar.
Die Frage: »wo ist in der ersten Prämisse von i die Rede ?%«
dient zur Bestätigung des früher über Fragen Festgestellten!
Sie setzt ein Urteil voraus: nämlich das Urteil: i kommt
auch in der ersten Prämisse vor. Sie schließt sodann ein Urteil
ein: das Urteil, daß die Beantwortung der Frage für die
Gedankenentwicklung wahrscheinlich von Bedeutung ist.
Neues gegenüber dem früher über Fragen Festgestellten er-
gibt die Frage: »Läßt sich auch von z aussagen, was sich von i
aussagen läßt?« Sie gründet sich auf die Urteile, daß über i
etwas ausgesagt wird und daß z und i in inniger Beziehung
stehen. Worauf es uns aber ankommt, ist dies, daß diese Frage
eine Analogiebetrachtung darstellt, indem in der Frage
die Vermutung ausgesprochen, daß das, was von i gilt, auch
von dem ihm ähnlichen z gilt!
60 G. Störring, Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse.
II. Bei der hier vollzogenen Einsetzung ist im Protokoll
nicht von einer Notwendigkeit des intellektuellen Tuns die
Rede; über die Art der Notwendigkeit ist überhaupt nichts
ausgesagt. In anderen ähnlichen Fällen spricht diese Vp. von
einer Notwendigkeit des »Sotunmüssens«. Unter meinen Vpn.
ist eine, bei der ich nie diese Art der Notwendigkeit habe
konstatieren können; bei dieser Vp. finde ich am häufigsten
eine objektive Wendung des Notwendigkeitsgedankens, Fest-
stellung der Tatsächlichkeit, und dabei ein häufiges Auftreten
von Identitätsgefühlen und Identitätsurteilen, welche sich auf
die Behauptung der Übereinstimmung des Festgestellten mit
dem gegebenen Tatbestand beziehen. Vielleicht faßt diese Vp.
in Fällen wie diesem nicht so sehr die Betätigung als den durch
dieses Tun zustandegebrachten Tatbestand ins Auge.
III. Während die einfachere Einsetzung die in einer Prämisse
vollzogene Feststellung der Beziehung zwischen term. minor und
term. medius zu einer sprachlich vermittelten Synthese verwertet
(»alle i mitsamt den z gehören zur Gattung o«), superponiert
sich hier über dieser Feststellung eine Vergleichung von
term. minor mit term. medius in bezug auf das,
was vom term. medius gilt.
Die Verwandtschaft mit Op. III ist hier noch größer. Hier
wie in Op. III führt eine Vergleichung zu dem Urteil: »was vom
term. medius gilt, gilt auch vom term. minor«, also hier gründet
sich das Resultat nicht auf Gleichheitssetzung der Beziehungen
der Prämissen.
(Eingegangen am 17. Februar 1925.)
Über die Vergleichung linearer Strecken und ihre
Beziehung zum Weberschen (Gesetze.
Von
F. Kiesow.
Erste Mitteilung.
Die vorliegende Untersuchung ist dem Wunsche entsprungen,
angesichts der Einwände, die neuerdings gegen die Gültigkeit
des W-eb er schen Gesetzes erhoben wurden, zu weiteren eigenen
Überzeugungen zu gelangen. Die Untersuchung zerfällt in zwei
Teile. Während der erste die Gesetzmäßigkeiten zum Gegen-
stande hat, welche bei der Gleicheinstellung von Raumstrecken
zutage treten, ist im zweiten versucht worden, für die gleichen
Strecken die Unterschiedsempfindlichkeit zu bestimmen, sowie
die Beziehung, in welcher die letztere zu den Vorgängen der
Gleicheinstellung steht. In dieser ersten Mitteilung wird über
die Prüfungsergebnisse des ersten Teiles der Untersuchung
berichtet.
Bei diesen Prüfungen hat mir ausschließlich meine Frau
als Versuchsperson gedient. Die Beobachterin ist eine geschickte
Zeichnerin, die zu ihrem eigenen Vergnügen viel kopiert hat. Sie
verfügt somit über ein geübtes Auge. Doch ward das Interesse
an dieser wertvollen Mitarbeit bei mir noch dadurch gesteigert,
daß die Versuchsperson dem negativen Typus angehört, d. h.
daß bei ihr eine ausgesprochene Neigung vorherrscht, den zu
beurteilenden Gegenstand um ein Geringes zu unterschätzen.
Ich selbst sehe in dieser Neigung eine persönliche Veranlagung,
die wie die entgegengesetzte, der man bei anderen Personen
begegnet, noch der näheren Aufklärung bedarf.
62 F. Kiesow,
Dem Vorstehenden ist hinzuzufügen, daß die Beobachterin
den eigentlichen Zweck der Untersuchung nicht kannte, und
daß ihr auch die Einzelheiten der in Frage stehenden Gesetz-
mäßigkeit sowie die Kontroversen, um welche sich die Dis-
kussion in der Gegenwart dreht, fremd sind. Sie hat sich in
jedem einzelnen Falle der Beurteilung der vorgelegten Gegen-
stände mit Aufmerksamkeit hingegeben, ohne dabei an irgend-
welchen Nebenzweck zu denken. Auch ist an sie niemals eine
Frage gerichtet worden, die irgendwie suggestiv hätte wirken
können. Wenn der Versuchsperson während der Beobachtungen
etwas Besonderes aufgefallen war, so fügte sie dies dem ab-
gegebenen Urteil spontan hinzu.
Die Versuche sind während der letzten Monate durchgeführt
worden. Es sei aber hervorgehoben, daß die Beobachtungen von
Anfang bis zu Ende zu immer gleichen Tageszeiten angestellt
wurden. Es waren freie Halbestunden, in denen die Beobachterin
keine Anzeichen von Ermüdung an sich bemerken konnte. Wir
arbeiteten regelmäßig gegen 3 Uhr nachmittags bei gutem Tages-
licht und an den Abenden gegen 8 Uhr bei guter elektrischer Be-
leuchtung. Es versteht sich von selbst, daß, wo an den Abenden
zuweilen ein gewisser Grad von Ermüdung auftrat, die Reihen
abgebrochen und nicht verwertet wurden. Die Beobachterin
gab in solchen Fällen selbst an, daß ihr Zweifel an der Richtig-
keit der Bestimmungen kämen und bat, die Versuche abzu-
brechen. Sonst ist jedoch kein einziger der zahlreichen Werte,
die gewonnen wurden, gestrichen worden.
Ich bemerke ferner, daß den endgültigen Bestimmungen
Übungsversuche voraufgingen, die so lange währten, bis die
Ergebnisse eine relative Konstanz zeigten. Erst von diesem
Zeitpunkte an sind sie verwertet worden. Man ersieht diese
relative Konstanz aus den unten eingefügten Tabellen, in
welche ich für jede der verwandten Normalstrecken die mittlere
Fehldistanz aus je 20 Beobachtungen nebst anderen Be-
stimmungen zusammengestellt habe. Die Einübung war not-
wendig, weil die Versuchsperson Beobachtungen wie die vor-
liegenden bisher niemals ausgeführt hatte.
Schließlich sei noch erwähnt, daß die Augen der Versuchs-
person normalsichtig sind. Sie trägt keine Brille.
Das sind die allgemeinen Bedingungen, unter denen die
Versuche angestellt wurden. Alles weitere ergibt sich aus dem
folgenden.
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 63
Zugrunde liegt dieser Arbeit die .Methode der mitt-
leren Fehler, von Wundt in der neuesten Auflage seines
individualpsychologischen Hauptwerkes zutreffend als »Me-
thode der Gleicheinstellung« bezeichnet!). Die Me-
thode ist mehrfach diskutiert worden?). Sie ist im vorliegenden
Falle in einer von dem Fechnerschen Verfahren abweichen-
den Form verwandt worden, insofern für die Berechnung nicht
der mittlere variable Fehler, in dessen reziprokem
Wert Fechner ein Maß für die Untersckhiedsempfindlichkeit
sah, sondern der nach Eliminierung des Raumfehlers zurück-
bleibende eigentliche oder »wahre konstante Fehler« benutzt
ward. Wundt hat gezeigt, daß dieser Wert der Schätzungs-
differenz entspricht, die man bei der Methode der Minimal-
änderungen gewinnt, obwohl derselbe wegen der ungleichen
Versuchsbedingungen etwas verschieden von der letzteren aus-
fallen muß°®). In diesem Sinne ist die Methode derzeit auch von
Oswald Külpe beschrieben worden +).
‚ Die Aufgabe, welche ich mir in dem ersten Teile der gegen-
wärtigen Untersuchung gestellt habe, besteht somit nicht darin,
für bestimmte lineare Strecken den genauen Wert der Unter-
schiedsempfindlichkeit zu ermitteln, sondern darin, zu erfahren,
bis zu welchem Grade sich bei der Gleicheinstellung solcher
Strecken eine Gesetzmäßigkeit bewahrheitet, welche der, die
in dem umstrittenen Weberschen Gesetze zum Ausdruck kommt,
analog ist. Die Aufgaben sind nicht identisch. Sie können es
nicht sein, weil in beiden Fällen verschiedene seelische Funk-
tionen in Frage kommen. Es ist ein anderes, ob ich mich auf
die subjektive Gleichheit zweier Strecken konzentriere, oder ob
ich die Aufmerksamkeit auf den ebenmerklichen Größenunter-
schied einstelle. Dabei versteht sich von selbst, daß beide Ver-
fahrungsweisen in einer gewissen Beziehung zueinander stehen
müssen. Da wir auf diese Beziehungen im zweiten Teile dieser
Arbeit zurückkommen, so mag es genügen, hier daran zu er-
1) W.Wundt, Grundzüge der physiol. Psychologie I®, S. 595, 1908.
2) G. Th. Fechner, Revision der Hauptpunkte der Psychophysik, S. 104,
1882. — H. Higier, Philos. Stud. VIL S. 232, 1892. — J. Merkel, Philos.
Stud. IX, S. 53, 176, 400, 1894. — G. E. Müller, Die Gesichtspunkte und
die Tatsachen der psychophysischen Methodik, S. 190, 1904. — W. Wirth,
Psychophysik, S. 264, 1912.
3) W. Wundt, a a. O. S. 595.
4) 0. Külpe, Grundriß der Psychologie, S. 78, 1893.
64 F. Kiesow, `
innern, daß auch Müller mit Recht in der »nach den Vor-
schriften Fechners gehandhabten Methode der mittleren
Fehler nichts anderes als eine Benutzung der Herstellungs-
methode zur Bestimmung äquivalent erscheinender Reize« er-
blickt5).
Manche Forscher sind der Ansicht, daß die Methode in
zweckentsprechender Weise nur Verwendung finden kann, wenn
Versuchsperson und Experimentator in einer Person vereinigt
sind. So liest maß bei Külpe: »Bisher ist die Methode der
m. F. nur auf die Reizvergleichung angewandt worden, man
kann daher nicht einmal über ihre Verwendbarkeit für die
Unterschiedsvergleichung mehr als die Möglichkeit einer solchen
aussagen. Außer dieser Beschränkung, die die Methode der
m. F. in bezug auf das mit ihr zu erreichende Ziel erleidet,
ist sie ferner nur da zu benutzen, wo man mit genügender
Sicherheit und Leichtigkeit Experimentator und Beobachter in
einer Person sein kann®).« In dieser letzten Behauptung liegt
aber ein Irrtum vor. Daß die Methode in derartigen Fällen
unter gegebenen Bedingungen tatsächlich zu vorzüglichen Re-
sultaten führen kann, unterliegt keinem Zweifel. Dies hat
auch die unlängst von Dr. Gatti»über die Schätzung
des Mittelpunktes in einigen ebenen geome-
trischen Figuren« veröffentlichte Untersuchung aufs
neue erwiesen?). Aber trotzdem ist es nicht richtig, wenn man
meint, daß die Methode ausschließlich in solcher Anwendung
zu brauchbaren Ergebnissen führen kann. Aus Erfahrungen,
die ich in dem mir unterstellten Institut gewinnen konnte,
kann sie so angewandt für den Enderfolg unter Umständen so-
gar von nachteiliger Wirkung sein. Und das namentlich, wo
es sich um eine große Anzahl von Einzelbestimmungen handelt.
Ich hatte zwei Institutsmitglieder beauftragt, an sich selber
Versuche ähnlicher Art anzustellen wie die, welche unten be-
schrieben sind. Bei diesen Versuchen mußten sie demnach zu-
gleich Experimentator und Beobachter sein. Aber beide Per-
sonen haben mir nach einiger Zeit unabhängig voneinander mit-
geteilt, wie sie an sich bemerkt hätten, daß die Bewegungen,
5) G.E. Müller, a. a. O. S. 1%.
6) 0. Külpe, a a. 0. S. 78.
T) A. Gatti, Archivio Italiano di Psicologia III, 4, S. 227, 1924.
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 65
durch welche die Gleicheinstellungen erfolgten, allmählich me-
chanisiert würden, so daß die Schätzung dadurch beeinträchtigt
ward und sie sich daher in der Ausführung der Versuche
nicht mehr sicher fühlten. Nach diesen Erfahrungen konnte
ich mich nicht entschließen, die Versuche von meiner Be-
obachterin allein ausführen zu lassen. Ich hoffe zeigen zu
können, daß die Untersuchung bei der Getrenntheit von Ver-
suchsperson und Experimentator zu durchaus einwandfreien Er-
gebnissen geführt hat. Dazu kommt ein anderes. In Fällen
wie der gegenwärtige, wo eben eine sehr große Anzahl von
Eınzelbestimmungen in Frage kommt, dürfte es schier un-
möglich sein, die Messungen erst nach Beendigung sämtlicher
Abschätzungen vorzunehmen. Kennt aber der Beobachter in
jedem Falle genau die Länge der Normalstrecken und die be-
gangenen Fehler, so dürfte es nach unserer ganzen seelischen
Anlage und den Gesetzen, welche das Bewußtsein beherrschen,
wiederum schier unmöglich sein, von den gewonnenen Daten
gänzlich abzusehen. Wie sehr sich der Beobachter bemühen
mag, dies zu tun, so dürfte es ihm kaum gelingen. Die ein-
mal erkannten Fehldistanzen werden bei den nachfolgenden
Bestimmungen ihren Einfluß geltend machen. Anders liegt die
Sache natürlich, wenn die Anzahl der Beobachtungen eine ge-
ringe ist und die Berechnungen erst nach Beendigung aller
Versuchsreihen vorgenommen werden können. Meine Beob-
achterin kannte weder die wirkliche Länge der dargebotenen
Normalstrecken noch irgendeinen der numerisch bestimmten
Werte. Sie kennt sie auch heute nicht. Da der zweite Teil
dieser Prüfungen noch nicht beendet ist, so verstand sie ohne
weiteres, daß es besser sei, sie vor dem Abschluß der ganzen
Untersuchung über ihre Schätzungsfähigkeit nicht aufzuklären.
Bezeichnen wir nach dem Dargelegten die mittlere Fehl-
distanz mit Fm, die Normalstrecke mit N und den eigentlichen
konstanten Fehler mit C, so würde sich ergeben: Fn—N=C,
und es würde nach Analogie des W.eberschen Gesetzes zu
fordern sein: © = konstant, Nach diesem Prinzip sind die aus
den vorliegenden Prüfungen resultierenden Bestimmungen be-
handelt worden. Für die Berechnung des wahrscheinlichen
Fehlers habe ich, um das zeitraubende und leicht zu Rechen-
fehlen Anlaß gebende Quadrieren der einzelnen Differenzen
zu vermeiden, nicht die bekannte Gausssche, sondern die
Archiv für Psychologie. LII. 5
66 F. Kiesow,
0,8453 24
n pyn — 0,42921
der einzelnen Fehldistanz von der mittleren Fehldistanz und
n die Anzahl sämtlicher Beobachtungen bezeichnet 8).
Man kann den konstanten Fehler C natürlich auch be-
rechnen, indem man die Summe der positiven Fehldifferenzen
von der der negatıven oder umgekehrt abzieht und den Rest
durch die Anzahl der Einzelfälle dividiert. Fechner?) hat
gezeigt, wie man dann zu der Z4 gelangen kann. Aber da
auf Grund der hervorgehobenen Veranlagung der Beobachterin
in der gegenwärtigen Untersuchung Überschätzungen erst von
einer Normaldistanz von 60 mm an und dann auch nur in ver-
hältnismäßig geringer Anzahl vorkamen, so würde eine solche
Art der Berechnung hier kaum eine Zeitersparnis gewesen
sein. Sie ist deswegen unterblieben.
Formel w= benutzt, in der 4 die Differenz
Als Normal- und Vergleichsstrecken dienten bei dieser Unter-
suchung nicht, wie vielfach üblich, leere Raumstrecken, die
auch Fechner benutzte, sondern, wie schon im Titel hervor-
gehoben, Linien. Sie waren mit tiefschwarzer Tusche auf
weißen Papierblättern von stets gleicher Qualität gezeichnet
und hatten eine Breite von ungefähr !/, Millimeter. Diese
Linien wurden in horizontaler Lage vorgelegt. Sie lagen nicht
übereinander, sondern die eine befand sich rechts bzw. links
neben der anderen. Der Abstand der Linien voneinander war
dadurch gegeben, daß die Papierblätter, auf deren Mitte sie
gezogen waren, mit den Rändern aneinander stießen. Die
Breite dieser Blätter betrug konstant zirka 8 Zentimeter.
Ihre Länge wechselte je nach der Länge der Linien. —
Als Normalstrecken benutzte ich Linien, deren Länge von
10 bis 100 Millimeter, und zwar in Abständen von 10
Millimeter variieren, so daß im ganzen 10 Normalstrecken
beurteilt wurden. Die Vergleichsstrecken waren entsprechend
länger. Bei unseren Versuchen ist jedoch keine mechanische
Vorrichtung irgendwelcher Art benutzt worden. Ich bedeckte
die Vergleichsstrecke zweckentsprechend mit einem freien
Papierblatt von gleicher Qualität und gleicher Breite und schob
dieses, je nachdem es sich um allmähliche Vergrößerung oder
8) Vgl. J. Merkel, a.2.0. S. 58. — G.E. Müller, 2.2.0. S. 19.
9) G. Th. Fechner, a. a. O. S. 106.
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 67
Verkleinerung dieser Strecke handelte, mit beiden Händen lang-
sam und möglichst gleichmäßig vor- oder rückwärts, bis die
Versuchsperson, welche der Bewegung mit den Augen folgte,
dieselbe mit einem Finger anhielt, um die feinere Einstellung
dann eventuell selbst zu bewerkstelligen. Es sind bei dieser Ver-
suchsanordnung somit in gewissem Sinne die beiden Ver-
fahrungsweisen vereinigt worden, welche W.undt früher als
»mittelbares« und »unmittelbares«, in der letzten Auflage seines
oben zitierten Werkes als »reguläres« und »irreguläres« Ver-
fahren bezeichnet hat!‘). Dabei saß die Versuchsperson in
normaler Haltung und in normaler Entfernung bequem vor dem
Tische, auf welchem sich die zu vergleichenden Strecken be-
fanden. Eine bestimmte und konstante Expositionsdauer ward
bei diesen Versuchen nicht innegehalten. Ich ließ der Be-
obachterin die Zeit, welche nötig war, um ihr Urteil zu bilden.
Doch bedurfte es hierzu niemals einer langen Zeit. Diese Maß-
regel erschien zweckentsprechend, weil mir alles daran lag.
übereilte Urteile zu verhindern, und ich auch in der Seele der
Beobachterin auf keine Weise irgendwelchen Zustand von Be-
fangenheit erzeugen wollte. Durch die freie Wahl der Ex-
positionsdauer ward beides vermieden. Hinzugefügt sei noch,
daß den Blättern, welche die Zeichnungen tragen, ein weißer
Papierbogen von gleicher Qualität als Unterlage diente.
Unmittelbar nach Abgabe des Urteils wurde die geschätzte
Vergleichsstrecke mittels eines Präzisionszirkels mit einge-
schraubten runden Stahlspitzen (Richter) von mir genau
gemessen und die so ermittelte Distanz an einem bereitliegenden
Millimetermaßstab abgelesen. Mit Hilfe einer vergrößernden
Linse konnte die Ablesung bis auf Fünfteile eines Millimeters
vorgenommen werden. In Fällen, wo über die genaue Hälfte
eines Millimeters kein Zweifel aufkommen konnte, sind auch
solche Bruchteile mitverwertet worden.
Bei dem beschriebenen Meßverfahren muß man sich jedoch
hüten, die Zirkelspitzen direkt auf die Vergleichstrecke zu
setzen, damit auf derselben kein punktueller Eindruck zurück-
bleibt, der jede weitere Schätzung störend beeinflussen und so
zu Fehlerquellen Anlaß geben würde. Die Vorversuche be-
lehrten mich, daß es gelingt, die Messung exakt vorzunehmen,
wenn man die Zirkelspitzen in schiefer Richtung seitlich an
10) W.Wundt, a a. O. S. 5%.
5*
68 F. Kiesow,
die Linien heranbringt, ohne auf dem Papier Eindrücke zu er-
zeugen. Es bedarf also auch von seiten des Experimentators
einer gewissen Einübung auf die Versuchseinrichtung, doch
ist dieselbe bald erreicht.
Um die aus der Raumlage resultierenden »scheinbaren kon-
stanten Fehler« zu eliminieren, sind die Versuche abwechselnd
bei Vergrößerung und Verkleinerung der Vergleichsstrecken
durchgeführt worden, und ebenso befand sich die Normalstrecke
während einer Versuchsreihe auf der linken, während der
nächsten auf der rechten Seite. Da man beim Kopieren von
zeichnerischen Darstellungen sowie beim Abschreiben von Manu-
skripten oder Druckstellen gewohnt ist, die Vorlage auf der
linken Seite zu haben, so ist ersichtlich, daß aus der ver-
schiedenen Lage der Normalstrecke eine Verschiedenheit im
Schätzungswert hervortreten kann. In den unten mitgeteilten
Tabellen habe ich sowohl die bei Vergrößerung und Verkleine-
rung der Vergleichsstrecke als auch die bei verschiedener Lage
der beiden Strecken gewonnenen Fehldistanzen getrennt zu-
sammengestellt. Schließlich sei noch bemerkt, daß ich die Be-
obachtungen in einer Sitzung mit der kleinsten, in einer zweiten
mit der größten und in einer dritten mit einer anderen Normal-
strecke beginnen ließ. In letzterem Falle ist jedoch zu ver-
meiden, daß auf eine sehr kleine Strecke unmittelbar eine große
oder umgekehrt folgt. Geschieht dies, so kann durch die gegen-
seitige Wirkung solcher Strecken aufeinander eine neue Fehler-
quelle entstehen. Kurz, es ist jede Vorsichtsmaßregel be-
obachtet worden, um den Raumfehler auszuschalten, so daß ich
dafürhalte, daß aus der oben angegebenen Subtraktion der
mittleren Fehldistanz von der Normaldistanz der wahre kon-
stante Fehler hervorgehen dürfte. Da die Beobachtungen bei
simultaner und nicht bei sukzessiver Darbietung der beiden
linearen Strecken erfolgten, so kommt ein etwaiger Zeitfehler
bei diesen Versuchen natürlich nicht in Frage.
Das ist die einfache Versuchseinrichtung, die unserem Zu-
sammenarbeiten zugrunde lag. Sie erfordert keine kostspieligen
Hilfsmittel und kann von jedermann leicht nachgeprüft
werden. Wie man ersehen wird, tritt bei dieser einfachen An-
ordnung in den Prüfungsergebnissen eine Gesetzmäßigkeit her-
vor, die den Forderungen des Weberschen Gesetzes durchaus
analog ist.
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 69
Hervorzuheben ist endlich noch, daß die Untersuchung in
zwei Etappen verlief, insofern zu Anfang ausschließlich Normal-
strecken von 10 bis 50 Millimetern und erst, als die Beobach-
tungen für diese beendet waren, solche von 60 bis 100 Milli-
metern beurteilt wurden. Da in jeder Sitzung stets 5 Normal-
strecken verglichen und für jede einzelne 4 Bestimmungen aus-
geführt wurden, von denen zwei durch die Vergrößerung und
Verkleinerung der Vergleichsstrecke und die beiden anderen
durch die wechselseitige Lage der Strecken veranlaßt waren,
so erhellt, daß in jeder Sitzung im ganzen 20 Beobachtungen
ausgeführt wurden, daß somit in jede der beiden Etappen 500,
in beide zusammengenommen 1000 Einzelbestimmungen fallen.
Dem sei hinzugefügt, daß nach Beendigung dieser Versuchs-
reihen eine beträchtliche Anzahl von Kontrollversuchen unter-
nommen ward, von denen weiter unten die Rede sein wird.
Im Folgenden habe ich zunächst die mittleren Fehldistanzen
.(Fm) nebst den zugehörigen mittleren Variationen (Vm) zu-
sammengestellt, die sich für die Normalstrecken von 10 bis
50 Millimetern ergaben. Da für jede Normaldistanz im ganzen
100 Beobachtungen ausgeführt wurden, so umfaßt jedes Fünftel
der Tabelle genau 20 Bestimmungen. Man mag daraus ersehen,
is zu welchem Grade innerhalb der ersten Etappe die aus den
Versuchen resultierenden Werte konstant blieben. Außerdem
findet sich für jede dieser 5 Gruppen der höchste und der
niedrigste Wert sowie deren Häufigkeit in der Tabelle an-
gegeben. Die mittleren Variationen des Gesamtmittels beziehen
sich sowohl auf die 100 Einzelwerte als auch auf die Mittel-
werte der einzelnen Gruppen. Letztere ist in jedem Falle
durch die Klammer besonders hervorgehoben. Ich bemerke noch-
mals, daß kein einziger Wert gestrichen ward.
Normalstrecke: 10 mm.
1. Fünftel: Fm = 9,71 mm; Vm = 0,257; höchster Wert = 10 mm (7 mal);
niedrigster Wert = 9,2 mm (2 mal).
2. Fünftel: Fm = 9,83 mm; Vm = 0,1345; höchster Wert = 10 mm (8 mal);
niedrigster Wert = 9,6 mm (5 mal).
3. Fünftel: Fm = 9,69 mm; Vm = 0,219; höchster Wert = 10 mm (6 mal);
niedrigster Wert = 9,4 mm (4mal).
4. Fünftel: Fm = 9,615 mm; Vm = 0,285; höchster Wert = 10 mm (5 mal);
niedrigster Wert = 9,0 mm (2 mal).
70 | F. Kiesow,
5. Fünftel: Fm = 9,695 mm; Vm = 0,2145; höchster Wert = 10 mm (6 mal) -
niedrigster Wert = 9,2 mm (1 mal).
Gesamtmittel: 9,708 mm; Vm = 0,23104; Vm (der Mittelwerte) = 0,049.
Normalstrecke: 20 mm.
1. Fünftel: Fm = 18,27 mm; Vm = 0,374; höchster Wert = 19,4 mm (l mal);
niedrigster Wert = 17,4 mm (l mal).
2. Fünftel: Fm = 18,88 mm; Vm = 0,492; höchster Wert = 20,0 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 18,0 mm (2 mal).
3. Fünftel: Fm = 18,885 mm; Vm = 0,268; höchster Wert = 19,4 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 18,0 mm (2 mal).
4. Fünftel: Fm = 18,620 mm; Vm = 0,570; höchster Wert = 19,6 mm (l mal);
niedrigster Wert = 17,2 mm (1l mal).
5. Fünftel: Fm = 18,575 mm; Vm = 0,5775; höchster Wert = 19,6 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 17,2 mm (1 mal).
Gesamtmittel: 18,646 mm; Vm = 0,52432; Vm (der Mittelwerte) = 0,1892.
Normalstrecke: 30 mm.
l. Fünftel: Fm = 27,33 mm; Vm = 0,776; höchster Wert = 29,0 mm (3mal);
niedrigster Wert = 26,0 mm (1 mal).
2. Fünftel: Fm = 27,59 mm; Vm = 0,491; höchster Wert = 28,6 mm (2 mal);
niedrigster Wert = 26,4 mm (l mal).
3. Fünftel: Fm = 27,66 mm; Vm = 0,434; höchster Wert = 29,4 mm (l mal);
niedrigster Wert = 27,0 mm (4 mal).
4. Fünftel: Fm = 27,29 mm; Vm = 0,542; höchster Wert = 28,0 mm (4mal);
niedrigster Wert = 26,0 mm (l mal).
5. Fünftel: Fm = 27,72 mm; Vm = 0,328; höchster Wert = 28,6 mm (l mal);
niedrigster Wert = 27,0 mm (1 mal).
Gesamtmittel: 27,518 mm; Vm=0,52776; Vm (der Mittelwerte) = 0,1664.
Normalstrecke: 40 mm.
1. Fünftel: Fm = 37,81 mm; Vm = 0,93; höchster Wert = 39,8 mm (2 mal);
niedrigster Wert = 35,6 mm (1 mal).
2. Fünftel: Fm = 37,81 mm; Vm=0,59; höchster Wert = 39,2 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 36,4 mm (1 mal).
3. Fünftel: Fm = 37,535 mm; Vm = 0,595; höchster Wert = 39,2 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 36,2 mm (l1 mal).
4. Fünftel: Fm = 36,855 mm; Vm = 0,864; höchster Wert = 39,0 mm (2 mal);
niedrigster Wert = 34,8 mm (1 mal).
5. Fünftel: Fm = 36,440 mm; Vm = 0,538; höchster Wert = 38,0 mm (l mal);
niedrigster Wert = 35,4 mm (1l mal).
Gesamtmittel: 37,29 mm; Vm = 0,8484; Vm (der Mittelwerte) = 0,514.
Normalstrecke: 50 mm.
1l. Fünftel: Fm = 45,995 mm; Vm = 0,9655; höchster Wert = 48,0 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 44,0 mm (l mal).
2. Fünftel: Fm = 47,05 mm; Vm = 1,05; höchster Wert = 49,4 mm (1mal);
niedrigster Wert = 45,0 mm (2 mal).
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 71
3. Fünftel: Fm = 46,885 mm; Vm = 0,9635; höchster Wert = 48,8 mm (2 mal);
niedrigster Wert = 45,0 mm (l mal).
4. Fünftel: Fm = 46,465 mm; Vm = 0,905; höchster Wert = 48,0 mm (3 mal);
niedrigster Wert = 45,0 mm (3 mal).
5. Fünftel: Fm = 46,585 mm; Vm = 0,915; höchster Wert = 49,0 mm (l mal);
niedrigster Wert = 44,6 mm (1 mal).
Gesamtmittel: 46,596 mm; Vm = 0,97 168; Vm (der Mittelwerte) = 0,2972.
Wie man aus dieser Tabelle ersieht, tritt in den 500 Einzel-
versuchen nicht ein einziges Mal eine Überschätzung auf. Darin
offenbart sich die Veranlagung der Beobachterin in unzwei-
deutiger Weise. Zwar ward der Wert der Normalstrecke bei
10 Millimetern 32 mal, bei 20 Millimetern 1 mal erreicht, aber
auch diese beiden Strecken wurden niemals überschätzt. Bei
den übrigen Prüfungen dieser Etappe erreichten auch die
höchsten Werte der Gleicheinstellung niemals die Länge der
entsprechenden Normalstrecke. Sie betragen bei der Strecke von
30 mm 29,4, bei der von 40 mm 39,8 und bei der von 50 mm
49,4 Millimeter.
Stellen wir nun für jede dieser 5 Normalstrecken die aus
der Vergrößerung und Verkleinerung der Vergleichsstrecke re-
sultierenden mittleren Fehldistanzen zusammen, welch letztere
nach dem Vorgesagten aus je 50 Einzelwerten berechnet wurden,
so ergibt sich die nachstehende Tabelle. Die mittleren Varia-
tionen sind hier auf 4 Dezimalstellen reduziert worden. N
heißt Normalstrecke. Das arithmetische Mittel aus beiden
mittleren Fehldistanzen muß natürlich in jedem Falle das in
der vorstehenden Tabelle angezeigte Gesamtmittel ergeben.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 9,652 mm; Vm = 0,2920
„ Verkleinerung „, F Fm= 9764 „; „ =0,1886
N = 20 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 18,518 mm; Vm = 0,4926
„ Verkleinerung „, x Fm = 18,774 „; „ = 0,5352
N = 30 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 27,354 mm; Vm = 0,4758
„ Verkleinerung „ 5 Fm = 27,682 „ ; „ = 0,5357
N = 40 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 37,092 mm; Vm = 0,7554
„ Verkleinerung , 5 Fm = 37,488 „p; » = 0,8920
N = 50 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 46,424 mm; Vm = 0,9758
» Verkleinerung , 5 Fm = 46,768 „; „ =0,9453
12 F. Kiesow,
Die Tabelle zeigt, daß die bei allmählicher Verringerung der
Vergleichsstrecke sich ergebenden mittleren Fehldistanzen nume-
risch größer sind, d.h. sich dem Normalwerte mehr nähern als
im umgekehrten Falle. Aus den beiden vorstehenden Zusammen-
stellungen ergibt sich außerdem, daß die mittleren Variationen
mit zunehmender Verlängerung der Normalstrecke im allgemeinen
gleichfalls stetig größer werden, woraus ohne weiteres auf ein
größeres Schwanken der einzelnen Fehldistanzen und somit
auf eine stetig zunehmende Schwierigkeit in der Beurteilung
der vorgelegten Strecken zurückzuschließen ist. In den meisten
Fällen fällt ferner der Wert der mittleren Variation bei Ver-
ringerung der Vergleichsstrecke etwas größer aus, als bei all-
mählicher Zunahme der letzteren. Da ich auf diese Erschei-
nungen in meiner zweiten Mitteilung zurückkomme, so be-
schränke ich mich hier auf die einfache Feststellung der Tat-
sachen. Jedenfalls liegt auf der Hand, daß es sich dabei um
Gesetzmäßigkeiten handelt, für die eine Erklärung nur auf
seelischem Gebiete gesucht werden kann !!).
In der nächsten Tabelle habe ich für jede Reizgröße die
mittleren Fehldistanzen zusammengestellt, welche sich aus der
verschiedenen Lage der zu vergleichenden Strecken ergaben.
Die Mittelwerte sind auch hier aus je 50 Einzelwerten be-
rechnet, so daß das arithmetische Mittel aus beiden Werten
gleichfalls auf die oben angegebenen Gesamtmittel zurückführt.
In der Tabelle bezeichnen die Ausdrücke »Links« und »Rechts«
die jeweilige Lage der Normalstrecke. Die mittleren Variationen
sind hier ebenfalls bis auf 4 Dezimalstellen abgerundet worden.
N =10 mm. Links: Fm= 9,742 mm; Vm = 0,2339
Rechts: Fm = 9,674 „; ,„ = 0,2300
’
N =20 mm. Links: Fm = 18,632 „; ,„ = 0,5049
Rechts: Fm = 18,66 „; „ = 0,5560
N=30 mm. Links: Fm = 27,422 „; „ = 0,5020
Rechts: Fm = 27,614 „; ,„ = 0,5471
N = 40 mm. Links: Fm = 36,918 „; „ = 0,6911
Rechts: Fm = 37,662 „; „ = 0,8530
N = 50 mm. Links: Fm = 46,274 „; ,„ = 0,8218
Rechts: Fm = 46,918 „; ,„ = 0,9832
11) Vgl. dazu H. Higier, a.2.0. S. 241,
S. 178£.
12) Vgl. H. Higier a. a. 0. S. 269.
D
OD
©
J. Merkel, a.a. 0.
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 73
Ein Blick auf die Tabelle läßt erkennen, daß mit Ausnahme
der Bestimmungen für die Normalstrecke von 10 mm die mitt-
leren Fehldistanzen bei rechtsseitiger Lage der ersteren dem
Normalwerte näher liegen als bei linksseitiger. Der Unter-
schied ist noch gering für die Strecke von 20 Millimetern, er
nimmt aber von hier an bis zur Strecke von 50 Millimetern
stetig zu 12). Hier liegt zweifellos wiederum eine Gesetzmäßig-
keit vor. Die Tatsache hängt, wie schon oben angedeutet, mit
dem Umstande zusammen, daß wir nicht gewohnt sind, eine
Vorlage auf der rechten Seite zu haben, d.h. aus der größeren
Schwierigkeit, die für die Schätzung mit dieser Lage ver-
bunden ist, und die natürlich mit zunehmender Länge der zu
beurteilenden Strecke stetig wachsen muß. Unsere ganze psycho-
physische Organisation zwingt uns vom ersten Schreibunter-
richt an, die Vorlagen auf die linke Seite zu legen. Sollte man
hienach eigentlich ein entgegengesetztes Resultat erwarten, so
ist andererseits zu bedenken, daß die vermehrte Schwierigkeit
eine gewissenhafte Versuchsperson nötigt, ihre Aufmerksamkeit
stärker anzuspannen. Aus diesem Umstande erklärt sich nach
meinem Dafürhalten zureichend der nicht zu verkennende
Unterschied in den Ergebnissen, die bei verschiedener Lage der
normalen Reizgröße gewonnen wurden.
Prüfen wir schließlich für eine erste Orientierung die aus
der Subtraktion der oben mitgeteilten Gesamtmittel von der
jeweiligen Länge der Normalstrecke sich ergebenden wahren
konstanten Fehler (C) auf ihre Bedeutung für die Gültigkeit der
in Frage stehenden Gresetzmäßigkeit, so gelangen wir unter
Zugrundelegung des Quotienten = zu dem folgenden über-
raschenden Resultate:
N-10mm. Fm= 9708 mm; 0 = 0,292 mm; 2 0,0292 = 3;
34
N =20 mm. Fm=18646 „;C=1354 „ ; = 0,0677 -
N =30 mm. Fm = 27,518 „;C=-2,482 „ = 0-2,
N-40 mm. Fm=37,29 „;C=27 „;2—0,0677- ig
N=50 mm. Fm=46,5% „;C=-344 „ ; Ç = 0,06808 = 15
Niemand wird bestreiten, daß aus der vorstehenden kleinen
Tabelle mit aller gewünschten Klarheit eine Regelmäßigkeit her-
74 F. Kiesow,
vortritt, die den Forderungen des Weberschen Gesetzes durch-
aus analog ist. Was die Abweichung für die Strecke von
10 mm betrifft, so liegt diese in der Natur der Sache. Die
Strecke bietet für jeden Beobachter die geringsten Schwierig-
keiten dar. Sie ward in den 100 Beobachtungen, welche aus-
geführt wurden, wie schon oben hervorgehoben, 32 mal richtig
geschätzt. Dementsprechend ist auch die Differenz der mitt-
leren Fehldistanz von der Länge der Strecke sehr gering. Sie
beträgt noch nicht 0,3 Millimeter. Zudem ist allgemein be-
kannt, daß das Webersche Gesetz an den äußersten Enden
einer Reizskala Abweichungen aufweist. Hinsichtlich der ge-
ringen Abweichung, die für den Normalreiz von 30 Millimetern
aus der Tabelle hervortritt (5 statt 2) , ist zu bemerken, daß
auch diese seelisch bedingt ist. Wir kommen darauf unten so-
gleich zurück. Hier sei nur daran erinnert, daß, um auf den
genannten Wert von = zu kommen, den man erwarten würde.
die mittlere Fehldistanz für die in Rede stehende Reizgröße
28 Millimeter betragen müßte, daß es sich somit um den ge-
ringen Unterschied von im Mittel noch nicht einem halben
Millimeter handelt.
Nach Beendigung sämtlicher Versuchsreihen der zweiten
Etappe verlangte mich, zu erfahren, ob infolge der vermehrten
Aufmerksamkeitsspannung, welche die Beurteilung größerer
Strecken (60—100 mm) fordert (und deren Gewöhnung an die
letzteren), in den Mittelwerten der Versuchsreihen der ersten
Etappe (10—50 mm) irgendwelche Veränderung hervortreten
würde, wenn dieselben eine Nachprüfung erführen. Ich habe
daher für jede Reizstrecke von 10 bis 50 mm zunächst noch-
mals 20 Beobachtungen anstellen lassen, deren Ergebnisse mit
den Mittelwerten und den sonstigen Bestimmungen der oben
mitgeteilten Fünftelgruppen verglichen werden konnten. Bei
dieser Nachprüfung mußte sich zeigen, ob die dort angegebenen
Mittelwerte relativ konstant blieben, oder ob durch die Ge-
wöhnung an die längeren Strecken ein maßgebender Einfluß
auf die Gleicheinstellung für kleinere Linien nachweisbar war.
Die erhaltenen Resultate sind die folgenden:
N=10 mm. Fm = 9,555 mm; Vm = 0,2515; höchst. Wert= 10 mm (6mal);
niedr. Wert = 9,0 mm (4 mal)
N = 20 mm. Fm = 18,715 mm; Vm = 0,3035; höchst. Wert = 19,8 mm (l mal);
niedr. Wert = 17,2 mm (l mal)
Über die Vergleichung linearSr etrecken usw. 75
N = 30 mm. Fm = 28,105 mm; Vm = 0,305; höchst. Wert = 29,0 mm (2 mal);
niedr. Wert = 27,0 mm (1 mal)
N = 40 mm. Fm = 36,96 mm; Vm = 0,688; höchst, Wert=33,2mm (l mal);
niedr. Wert = 36,0 mm (3 mal)
N = 50 mm. Fm = 45,87 mm; Vm = 0,80; höchst. Wert=48,0 mm (lmal);
niedr. Wert = 43,2 mm (1 mal)
Wie sich aus dieser Zusammenstellung ergibt, stimmen die
aus der Nachprüfung resultierenden Mittelwerte, wie auch die
sonstigen Bestimmungen mit denen der oben zusammengestellten
Fünftelgruppen gut übereinstimmt. Da mir aber dennoch daran
lag, wenigstens für eine der erwähnten Reizgrößen eine voll-
ständige Nachprüfung (von 100 Einzelbestimmungen) durch-
zuführen, so habe ich dazu die Normalstrecke von 30 Milli-
metern gewählt, für welche der in der vorstehenden Ta-
belle angegebene Mittelwert sich der erwarteten Fehldistanz um
ein Geringes mehr nähert, als dies bei den Mittelwerten der
oben aufgeführten Fünftelgruppen der Fall ist. Die Ergebnisse
dieser vollständigen Nachprüfung, die gleichfalls nach Fünftel-
gruppen (20 Beobachtungen) geordnet sind, sind die folgenden:
Normalstrecke: 30 mm.
1l. Fünftel: Fm = 28,105 mm; Vm = 0,305; höchster Wert = 29,0 mm (2 mal);
niedrigster Wert = 27,0 mm (l mal).
2. Fünftel: Fm = 28,185 mm; Vm = 0,862; höchster Wert = 30,0 mm (3 mal);
niedrigster Wert = 27,0 mm (4 mal).
3. Fünftel: Fm = 28,31 mm; Vm = 0,413; höchster Wert = 29,6 mm (l mal);
niedrigster Wert = 27,4 mm (1 mal).
4. Fünftel: Fm = 28,215 mm; Vm = 0,5195; höchster Wert = 29,5 mm (1 mal);
. niedrigster Wert = 27,0 mm (l mal).
6. Fünftel: Fm = 28,06 mm; Vm = 0,378; höchster Wert = 29,0 mm (2 mal);
niedrigster Wert = 27,4 mm (1l mal).
Gesamtmittel: 28,175 mm; Vm = 0,478; Vm (der Mittelwerte) = 0,074.
Bei der Nachprüfung, die unter äußerlich gleichen Be-
dingungen stattfand, ward der numerische Wert der Normal-
strecke (wie aus der Tabelle hervorgeht) 3 mal erreicht. Es
sei hinzugefügt, daß die Fehldistanz 37 mal 28 Millimeter be-
trug. Setzen wir die mittlere Fehldistanz aus diesen Beobach-
tungen (28,175 mm) für die oben angegebene von 27,518 mm
ein, wozu wir, wie ich meine, nicht nur berechtigt, sondern
verpflichtet sind, so ergibt sich für die Normalstrecken von
10 bis 50 mm die nachstehende Übersicht, der ich auch den
nach der obigen Angabe berechneten wahrscheinlichen Fehler
76 F. Kiesow,
(w) beigefügt habe. Derselbe ist auf 2 Dezimalstellen abgekürzt
worden.
N=10 mm. Fm= 9,708 mm; C= 0,292 mm; © = 0,0292 -z w = 0,02
PN
N=20 mm. Fm=18,646 „;C=134 „:-2=0077 =L}; w=-004
„ ’N 15 ’
N=30 mm. Fm= 28,175 „ ;C=1,825 „ ; E = 0,06088 = ; w= 0,04
N=40 mm. Fm=37,29 „;0=-271 „ ; Ç = 0,06775 = jg; w = 0,07
N=50 mm. Fm=46,596 „ ;C=3,404 „ ; S = 0,06808 = z ; w = 0,08
Eine größere Übereinstimmung von Versuchsergebnissen mit
den Forderungen einer Gesetzmäßigkeit, die den des Weber-
schen Gesetzes analog sein muß, dürfte für ein einzelnes nor-
males Individuum kaum zu erzielen sein. Man wende nicht ein,
daß die an einer einzelnen Versuchsperson festgestellte Regel-
mäßigkeit noch keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann.
Was für ein einzelnes normales Individuum gilt, das gilt im
allgemeinen für jedes andere. Es werden für das S bei ver-
schiedenen Personen durch besondere Dispositionen bedingte
Varianten hervortreten, sei es, daß die eine mehr über-, die
andere mehr unterschätzt, oder daß die eine sich mehr, die
andere sich weniger intensiv auf den zu beurteilenden Eindruck
zu konzentrieren vermag, Dispositionen, die man als individu-
elle Verschiedenheiten zu bezeichnen pflegt, d.h. für die nicht
immer eine hinreichende Erklärung gefunden werden kann, so
wird dennoch eine allgemeine Regelmäßigkeit unter sonst
gleichen Bedingungen bei jeder einzelnen nachweisbar sein.
Auf Grund der gewonnenen Ergebnisse gelange
ich daher zu der Überzeugung, daßinnerhalb der
in Betracht gezogenen Raumgrenzen eine Ge-
setzmäßigkeitanzuerkennenist,diedem Weber-
schen Gesetze in vollem Umfange analog ist. Ich
bin -auch überzeugt, daß diese Gesetzmäßigkeit nicht etwa,
wie man bei einer Nachprüfung des Weberschen Gesetzes
unlängst gemeint hat, auf den Einfluß von »Nebenumständen«
zurückgeführt werden kann 213), sondern daß sie in den, wie
13) K. Hansen, Zeitschr. f. Biologie, 73, S. 167, 1921.
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 77
unser Denken überhaupt, so auch die Vergleichungsakte be-
herrschenden Apperzeptionsvorgängen begründet liegt.
Was die vorerwähnten seelischen Bedingungen betrifft,
durch welche die geringe Differenz veranlaßt ward, die für
die Normalstrecke von 30 mm zwischen den aus den ersten Be-
obachtungen resultierenden mittleren Fehldistanzen und deren
Nachprüfung hervortritt, so ist auf folgendes hinzuweisen:
Jede lineare Strecke übt auf die Versuchsperson eine ge-
wisse suggestive Wirkung aus, insofern sie ihr gleich bei der
ersten Darbietung als leichter oder schwerer zu beurteilen
erscheint. Man kann sich hiervon leicht überzeugen, wenn man
sich selbst mehrere Strecken vorlegt. So wird z.B. jedem eine
Strecke von 10 Millimetern ziemlich leicht, eine solche von 50
Millimetern schwieriger abzuschätzen erscheinen. Dazu kommt,
daß durch die benutzten Linien ästhetische Elementargefühle
in der Seele erzeugt werden, die für die einzelnen Strecken sehr
verschieden sind. Die eine kann lusterregend, die andere mehr
oder weniger unlusterregend sein. Beide Momente, die bis zu
einem gewissen Grade zusammenwirken können, sind hier
durchaus in Betracht zu ziehen. Wird bei der Gewissenhaftig-
keit, mit der meine Beobachterin sich ihrer Aufgabe hingab,
eine Strecke bei der Darbietung »schwer« empfunden, so kann
es licht geschehen, daß die Aufmerksamkeit in übernormaler
Weise gespannt wird, was dann zur Folge hat, daß die Fehler
sich verkleinern. Dabei versteht sich von selbst, daß sich die
Aufmerksamkeit nicht für sehr lange Zeit auf einer solchen
Stufe der Überspannung zu halten vermag. Werden derartige
Versuche zu lange nacheinander fortgesetzt, so kann daher
nach einer gewissen Zeit der Überspannung leicht eine Er-
schlaffung der Aufmerksamkeit eintreten, die dann zu gegen-
teiligen oder wenigstens zu sehr unregelmäßigen Resultaten
führt. Oben ist bemerkt worden, daß die einzelnen Raum-
strecken beider Etappen in jeder Sitzung nur 4mal beurteilt
wurden. Außerdem mußte zwischen einer Strecke und der
nächstfolgenden naturgemäß immer eine kleine Pause eintreten,
und ebenso wurden durch die vorgenommenen Messungen und
das Notieren der erhaltenen Werte für die Versuchsperson
regelmäßig kleine Ruhepausen gewonnen.
Es liegt nun in der Natur der Sache, daß das Gegenteil
eintreten muß, wenn eine Normalstrecke für die Gleichein-
stellung keine besondere Schwierigkeit darbietet und wenn sie
18 F. Kiesow,
außerdem noch ein ausgesprochenes Wohlgefallen erweckt. Dann
liegt keine Veranlassung vor, die Aufmerksamkeit zu über-
spannen. So war es bei der Strecke von 30 mm. Die Be-
obachterin gab nach der Gleichschätzung dieser Strecke häufig
Urteile ab wie die folgenden: »Die Strecke ist nicht schwer«;
»die Linie ist sympathisch« usw. Aus diesem Umstande er-
klärt sich, wie ich glaube, der etwas größere Fehler für diese
Strecke bei den Versuchen der ersten Etappe. Die Aufmerk-
samkeit war in diesem Falle weder überspannt, noch hatte sie,
wie ich vermute, genau die Höhe der Einstellung erreicht, die
bei der Gleicheinstellung der Strecken von 20, 40 und 50 mm
in Anwendung kam.
Demgegenüber wurden die Normalstrecken der zweiten
Etappe in bezug auf die Abschätzung sämtlich als schwieriger
. empfunden, so daß die Beurteilung derselben eine längere Vor-
übung erforderte. Die Strecke von 80 mm z.B., die als die
schwierigste von allen beurteilt ward, war zugleich ausge-
sprochen unlusterregend, vielleicht eben gerade, weil sie be-
sondere Schwierigkeiten darbot. Die Beobachterin gewöhnte
sich allmählich an die Versuche dieser Etappe, aber sie empfand
sie bis zu Ende schwieriger als die der ersten. Es ist somit
begreiflich, daß die Gleicheinstellung für alle diese Strecken
(60—100 mm) unwillkürlich zu einer vermehrten Aufmerksam-
keitsspannung Anlaß gab. Daraus folgt aber weiter, daß diese
Tatsache, an welche ich die Beobachterin allmählich gewöhnt
hatte, bei der Nachprüfung gerade auf die Beurteilung der
Strecke von 30 mm zurückwirken mußte. So erklärt sich auch,
wie ich meine, die obenerwähnte Anzahl der fehlerlosen Gleich-
schätzungen bei der Nachprüfung dieser Distanz. Es dürfte
schwer sein, alle diese Tatsachen, die bei der Würdigung der
in Rede stehenden Gesetzmäßigkeit nicht außer acht gelassen
werden dürfen, aus rein physiologischen Ursachen zu erklären.
Meine ursprüngliche Absicht war, die Untersuchung auf die
Behandlung der genannten Reizgrößen zu beschränken. Nach-
dem sie aber zu so überraschenden Ergebnissen geführt hatte.
ward doch der Wunsch rege, auch längere Strecken in gleicher
Weise einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Und da auch
die Beobachterin ihre Zustimmung erklärte, so sind die Ver-
suche in einer zweiten Etappe mit Normalstrecken von 60 bis
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 79
100 mm fortgesetzt worden. Ich stelle die Ergebnisse dieser
zweiten Etappe wie die der ersten gleichfalls zunächst nach
Fünftelgruppen zusammen. Man mag auch aus dieser Zu-
sammenstellung ersehen, wie weit die mittleren Fehldistanzen
aus je 20 Beobachtungen relativ konstant blieben. Im übrigen
gilt für diese Tabelle das oben Gesagte. Es ward auch von
den Ergebnissen dieser zweiten Versuchsreihe kein einziger
Wert gestrichen.
Normalstrecke: 60 mm.
1. Fünftel: Fm = 56,725 mm; Vm = 1,03; höchster Wert = 59,4 mm (l mal);
niedrigster Wert = 54,0 mm (l mal).
2. Fünftel: Fm = 58,30 mm; Vm = 1,49; höchster Wert = 60,8 mm (2mal);
niedrigster Wert = 56,0 mm (4 mal).
3. Fünftel: Fm = 58,015 mm; Vm = 1,398; höchster Wert = 61,2 mm (l mal);
niedrigster Wert = 55,5 mm (1 mal).
4. Fünftel: Fm = 57,245 mm; Vm = 1,1785 ; höchster Wert = 60,0 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 55,0 mm (1 mal).
5. Fünftel: Fm = 56,570 mm; Vm = 1,224; höchster Wert == 59,4 mm (2 mal);
niedrigster Wert = 54,0 mm (1 mal).
Gesamtmittel: 57,371 mm; Vm = 1,4081; Vm (der Mittelwerte) = 0,6296.
Normalstrecke: 70 mm.
1. Fünftel: Fm = 66,655 mm; Vm = 1,7305; höchster Wert = 71,0 mm (2mal);
niedrigster Wert = 61,5 mm (1 mal).
2. Fünftel: Fm = 67,725 mm; Vm = 1,4925; höchster Wert = 70,0 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 65,0 mm (2 mal).
3. Fünftel: Fm = 67,59 mm; Vm = 1,771; höchster Wert-71,0mm (l mal);
niedrigster Wert = 62,2 mm (1 mal).
4. Fünftel: Fm = 66,87 mm; Vm = 1,03; höchster Wert = 70,0 mm (lmal);
niedrigster Wert = 64,0 mm (l mal).
5. Fünftel: Fm = 66,755 mm; Vm = 1,2995 ; höchster Wert = 70,0 mm (l mal);
niedrigster Wert = 64,4 mm (1 mal).
Gesamtmittel: 67,119 mm; Vm = 1,5113; Vm (der Mittelwerte) = 0,4284.
Normalstrecke: 80 mm.
l. Fünftel: Fm = 77,145mm; Vm = 2,295; höchster Wert = 81,0 mm (2 mal);
niedrigster Wert = 72,8 mm (1l mal).
2. Fünftel: Fm = 79,215 mm; Vm = 1,772; höchster Wert = 83,4 mm (l mal);
niedrigster Wert = 74,0 mm (l mal).
3. Fünftel: Fm = 79,095 mm; Vm = 1,845; höchster Wert = 83,6 mm (l mal);
niedrigster Wert = 74,0 mm (1l mal).
4. Fünftel: Fm = 77,95 mm; Vm = 1,605; höchster Wert = 82,2 mm (l mal);
niedrigster Wert = 73,5 mm (1 mal).
5. Fünftel: Fm = 78,67 mm; Vm = 1,837; höchster Wert = 82,0 mm (l mal);
niedrigster Wert = 75,5 mm (1 mal).
Gesamtmittel: 78,415 mm; Vm = 1,9656; Vm (der Mittelwerte) = 0,494.
80 F. Kiesow,
Normalstrecke: 90 mm.
1l. Fünftel: Fm = 86,07 mm; Vm = 1,686; höchster Wert = 91,0 mm (l mal);
niedrigster Wert = 81,0 mm (1 mal).
2. Fünftel: Fm = 86,46 mm; Vm=1,66; höchster Wert = 91,5 mm (l mal);
niedrigster Wert = 83,6 mm (1 mal).
3. Fünftel: Fm = 89,44 mm; Vm = 1,548; höchster Wert = 93 mm (2mal);
niedrigster Wert = 86,5 mm (1 mal).
4. Fünftel: Fm = 87,545 mm; Vm = 2,305; höchster Wert = 92,0 mm (mal);
niedrigster Wert = 83,0 mm (l mal).
6. Fünftel: Fm = 87,145 mm; Vm = 1,695; höchster Wert = 91,5 mm (l mai);
niedrigster Wert = 82,4 mm (l mal).
Gesamtmittel: 87,332 mm; Vm = 1,97 392; Vm (der Mittelwerte) = 0,9284.
Normalstrecke: 100 mm.
1. Fünftel: Fm = 94,59 mm; Vm = 1,2; höchster Wert = 97,5 mm (l mal);
niedrigster Wert = 91,0 mm (1 mal).
2. Fünftel: Fm = 95,475 mm; Vm = 1,905; höchster Wert = 100,0 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 92,0 mm (l mal).
3. Fünftel: Fm = 98,415 mm; Vm = 1,4865; höchster Wert = 103,8 mm (1 mal);
niedrigster Wert = 95,0 mm (l mal).
4. Fünftel: Fm = 97,16 mm; Vm = 2,03; höchster Wert = 102,0 mm (l mal);
niedrigster Wert = 93,0 mm (2 mal).
6. Fünftel: Fm = 95,745 mm; Vm = 1,476; höchster Wert = 99,2 mm (l mal);
niedrigster Wert = 92,0 mm (2 mal).
Gesamtmittel: 96,277 mm; Vm = 1,95 593; Vm (der Mittelwerte) = 1,2084.
Die Tabelle zeigt, daß für die Strecken von 60 bis 100 mm
gewisse Überschätzungen auftreten. Sie sind am häufigsten
bei der Strecke von 80 mm. Das hängt mit der Tatsache zu-
sammen, daß die Aufmerksamkeit bei der Beurteilung der ge-
nannten Reizgrößen und namentlich bei den Normalstrecken
von 80 und 90 mm oft überspannt ward. Wir gehen weiter
unten näher auf diese Tatsache ein.
Die nächste Tabelle umfaßt für die in Rede stehenden
Normalstrecken die mittleren Fehldistanzen, welche sich bei
allmählicher Vergrößerung und Verkleinerung der Vergleichs-
strecken ergaben. Diese Mittelwerte wurden nach dem Dar-
gelegten gleichfalls aus je 50 Einzelbestimmungen gewonnen.
Die mittleren Variationen sind auf 4 Dezimalstellen reduziert
worden. N = Normalstrecke.
N = 60 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm=57,14 mm; Vm = 1,3864
„ Verkleinerung „, er Fm = 57,602 „; » =1,4142
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 81
N =70 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 67,152 mm; Vm = 1,5184
» Verkleinerung , = Fm = 67,086 „; „ = 1,5923
N = 80 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 78,124 mm; Vm = 1,9140
» Verkleinerung „, j Fm =78,706 „ ; „ =1,9778
N = 90 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 86,916 mm; Vm = 1,8526
„ Verkleinerung , Ar Fm = 87,748 „; „ =2,03%8
N = 100 mm.
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 95,938 mm; Vm = 1,9230
» Verkleinerung „, F Fm = 96,616 „ ; „ =2,0173
Auch aus dieser Zusammenstellung ersieht man, was sich
bei der gleichen Behandlung der Bestimmungen der ersten
Etappe ergeben hatte: Wenn die Vergleichsstrecke allmählich
verringert wird, so nähern sich die mittleren Fehldistanzen
dem Normalwerte in der Regel um ein Weniges mehr als wenn
sie vergrößert wird. Eine Ausnahme scheint im vorliegenden
Fall für die Normalstrecke von 70 mm vorzuliegen. Der Mittel-
wert beträgt bei der Vergrößerung 67,152, bei der Verkleinerung
67,086 mm. Aber da der Unterschied zwischen beiden Werten
ein sehr geringer ist, so liegt die Vermutung .nahe, daß es
sich hier um eine Zufälligkeit handelt, die sich der Kontrolle
entzieht. Im allgemeinen zwingen auch die Versuchsergebnisse
dieser Etappe in dieser Hinsicht zur Annahme einer Gesetz-
mäßigkeit. Desgleichen erkennt man aus den letzten beiden
Tabellen, daß die mittleren Variationen mit der Zunahme der
Normaldistanz im allgemeinen stetig größer werden. Sie er-
weisen sich außerdem im vorliegenden Falle bei der Verkleine-
rung der Vergleichsstrecke stets größer als bei der Vergrößerung
derselben.
Die folgende Zusammenstellung enthält die mittleren Fehl-
distanzen, welche für die in Frage stehenden Strecken aus
der jeweiligen Lage derselben resultieren. Die Ausdrücke
»Links« und »Rechts« beziehen sich auch hier auf die Lage
der Normalstrecke. Die Mittelwerte wurden aus je 50 Ver-
suchen gewonnen. Die mittleren Variationen sind auf 4 De-
zimalstellen reduziert worden.
Archiv für Psychologie. LII. 6
Pr nn a er En — TR TE U Ta N fa €
82 F. Kiesow,
N = 60 mm. Links: Fm = 56,65 mm; Vm = 1,2720
Rechts: Fm = 58,092 „; „ = 1,1737
N=-70 mm. Links: Fm = 66,542 „; ,„ = 1,4643
Rechts: Fm = 67,696 „; „ = 1,5477
N-=80 mm. Links: Fm = 77,272 „; „ =1,7218
- Rechts: Fm = 79,558 „; ,„ = 1,4984
N = 90 mm. Links: Fm= 86,09 „; „ = 1,7578
l Rechts: Fm = 88,574 „; » = 1,7959
N = 100mm. Links: Fm = 95,286 „; ,„ = 1,8930
Rechts: Fm = 97,268 „; ,„ = 1,7808
Auch aus dieser Zusammenstellung geht hervor, daß die
mittleren Fehldistanzen sich bei rechtsseitiger Lage der Normal-
distanz dem Normalwerte regelmäßig mehr nähern als bei
linksseitiger. Bedingt ist diese Tatsache, wie hervorgehoben,
durch eine vermehrte Anspannung der Aufmerksamkeit.
Für eine vorläufige Orientierung erhalten wir in bezug
auf die Bedeutung der gewonnenen Ergebnisse für die Gültig-
keit der in Frage stehenden Gesetzmäßigkeit die nachstehende
Übersicht.
N=60 mm. Fm = 57,371 mm; C= 2,629 mm; © = 0,04382 = I.
N 23
N-70mm. Fm=67,119 „ ;C=2881 „ ; g= 0,04116- 5
N=80 mm. Fm=78,415 „ ;C=1,585 ,„ ; $= 0,01981 = 5,
N-90 mm. Fm = 87,332 „ ;C=2,668 „ ; H= 0,0294 = zi
N= 100mm. Fm=96,277 „ ; C=3,723 „ ; 2 = 0,03723 = 3
Die Tabelle zeigt auf den ersten (oberflächlichen) Blick
eine verblüffende Ähnlichkeit mit derejnigen, die Higier
mitgeteilt hat, welch letzterer seinen Versuchen den mittleren
variablen Fehler zugrunde legte!*). Indem dieser Forscher das
Verhältnis der mittleren Fehler zu den von ihm benutzten
Normaldistanzen (10, 20, 30, 50, 100, 150 und 250 mm) fest-
stellte, glaubte er, aus seinen Ergebnissen schließen zu müssen,
daß die Unterschiedsempfindlichkeit bei 50 mm ein Maximum
erreiche und von dieser Distanz an nach beiden Seiten hin
bedeutend abfalle. Mit anderen Worten, daß »das Webersche
Gesetz für die Augenmaßversuche als nicht geltend angesehen
14) H. Higier, a. a. 0. S. 237.
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 83
werden« müsse!5). Die Schlußfolgerungen Higiers sind von
Julius Merkel in seiner oben zitierten Abhandlung einer
Kritik unterworfen worden. Auch ich gelange durch meine
Untersuchungen zu einem andern Resultate.
Abgesehen davon, daß den vorliegenden Versuchen nicht
der mittlere variable Fehler zugrunde liegt, und daß es sich
bei ihnen auch nicht um eine exakte Bestimmung der Unter-
schiedsempfindlichkeit handelt, die sich eben durch die Methode
der Gleicheinstellung nach meinem Dafürhalten nicht ermitteln
läßt, sondern daß hier vielmehr nur ein dem W.eberschen
Gesetze analoges Verhalten in Frage kommen kann, lassen sich
unschwer die seelischen Motive aufdecken, welche zu den in der
vorstehenden Tabelle namentlich. für die Reizgrößen von 80
und 90 mm hervortretenden Abweichungen Veranlassung ge-
geben haben. Die Quotienten E und 3 verdecken die Gesetz-
mäßigkeit, welche wir durch die Versuche der ersten Etappe
feststellen konnten, aber sie vernichten sie keineswegs. Es wäre
in der Tat ein neues und schwer zu lösendes Rätsel, wenn
für Reizgrößen von 10 bis 50 mm eine klar ausgesprochene
allgemeine Gesetzmäßigkeit anerkannt werden müßte, die für
solche von 60 bis 100 mm keine Gültigkeit- mehr haben sollte.
Es liegt daher auf der Hand, daß sich in die Beobachtungen
für die Strecken von 80 und 90 mm und bis zu einem ge-
wissen Grade auch für die von 100 mm eine Besonderheit
eingeschlichen hat, durch welche die Abweichungen veranlaßt
wurden, und die wir versuchen müssen, so viel als möglich
zu eliminieren. In der Tat! Wenn wir die oben mitgeteilten
Mittelwerte der Fünftelgruppen für diese drei Strecken mit
denjenigen der übrigen Fünftelgruppen vergleichen, so zeigt
sich, daß bei der Strecke von 80 mm die mittleren Fehldistanzen
des zweiten und dritten Fünftels und bei den Strecken von
90 und 100 mm die des dritten Fünftels aus den betreffenden
Reihen herausfallen. Die Mittelwerte nähern sich in diesen
Fällen den entsprechenden Normaldistanzen mehr als die der
anderen Versuchsreihen. Ebenso kommen gerade in diesen
Fünftelgruppen die größten Überschätzungen vor, die, wie be-
merkt, nicht in der Veranlagung der Beobachterin liegen. Das
hängt mit der geschilderten Überspannung der Aufmerksamkeit
15) Ebenda, S. 238.
6*
84 F. Kiesow,
zusammen. In ihrem Bestreben, mit größter Gewissenhaftigkeit
zu schätzen, überspannte die Versuchsperson die Aufmerksam-
keit beim Vergleich von Strecken, die sie als besonders schwierig
empfand und gelangte so zu Überschätzungen, die bei den
leichteren Versuchen der ersten Etappe niemals vorkamen. Aus
solchen Überschätzungen sind die in Frage stehenden Mittel-
werte hauptsächlich hervorgegangen.
Angesichts dieser Tatsachen ist bei der Beurteilung von
Prüfungsergebnissen der vorliegenden Art daran zu erinnern.
daß das psychophysische Individuum kein physikalischer Apparat,
ist, der, wenn vorher ermittelte Konstanten (die Einflüsse der
Temperatur, des Luftdrucks usw.) genau berücksichtigt werden.
auch in immer gleicher Weise funktionieren muß, sondern daß
es die Funktionen des Bewußtseins, die wir untersuchen wollen.
selber sind, welche verändernd in den Ablauf des psychophysischen
Geschehens eingreifen können. Bei physikalischen Unter-
suchungen wundert sich niemand, wenn bei der Unmöglichkeit,
bestimmte Konstanten innezuhalten, Unregelmäßigkeiten in den
Resultaten hervortreten. Um so weniger darf man sich wundern.
wenn bei psychophysischen Versuchen wie die vorliegenden Un-
regelmäßigkeiten in den Endergebnissen zutage treten, die
letzterdings in den verwickelten und schwer konstant zu halten-
den Verhältnissen des seelischen Lebens begründet liegen. Das
kann natürlich nicht heißen, daß das seelische Leben keiner
Gesetzmäßigkeit unterworfen sei.
Um die erwähnten Abweichungen tunlichst auszugleichen,
sind die genannten Fünftelgruppen von je 20 Einzelbeobach-
tungen nach Beendigung sämtlicher Versuchsreihen unter sonst
gleichen Bedingungen einer Nachprüfung unterzogen worden.
Dabei ist aber hervorzuheben, daß die Beobachterin nichts von
jenen Abweichungen erfuhr. Es ward ihr nur gesagt, daß
dieser Teil der Untersuchung zwar beendet sei, daß wir aber
doch, wie üblich, noch einige Kontrollversuche anstellen würden.
Aus diesen Nachprüfungen erhielt ich die folgenden Mittelwerte:
N-=80 mm. (Zweites Fünftel.) Fm = 78,565 mm; Vm = 1,5545;
h. W. = 82 mm (l mal); n. W. =74 mm (lmal)
N =80 mm. (Drittes Fünftel.) Fm =78,185 mm; Vm = 1,9565;
h. W. = 81,4 mm (l mal); n. W. = 73,8 mm (l mal)
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 85
N = 90 mm. (Drittes Fünftel.) Fm = 8783 mm; Vm = 1,62;
h. W. = 91,0 mm (l mal); n. W. = 85,0 mm (l mal)
N = 100mm. (Drittes Fünftel) Fm = 96,065 mm; Vm = 1,4615;
h. W. = 100,0 mm (lmal); n. W. = 93,4 mm (l mal)
Setzen wir die Mittelwerte dieser Fünftelgruppen für die
oben genannten ein, so erhalten wir für die Normalstrecken
der zweiten Etappe die folgenden Gesamtmittel:
N = 60 mm. Fm = 57,371 mm; Vm = 1,4081
N=70 mm. Fm = 67,119 „; „ =1,5113
N =80 mm. Fm =78,103 „; „ = 1,83812
N = 90 mm. Fm = 87,010 „; „ = 1,7492
N = 100 mm. Fm = 95,807 „; „ = 1,75 228
Berechnen wir auf Grund dieser Gesamtmittel die Werte
iür C und so ergibt sich uns die nachstehende Übersicht,
in der w gleichfalls den auf 2 Dezimalstellen abgekürzten
wahrscheinlichen Fehler bedeutet.
c
N =60 mm. C = 2,629 mm; S = 0,04382 = z5 ; W= 0,12
N=70 mm. C=2881 „ ; Č = 0,04116 = | ; w=0,12
N=80 mm. C=1,897 „; Č =0,02731= L
N = 90 mm. C=2,990 „;
————
N = 100mm. C- 4193 „; ; w=0,15
Die neuen Berechnungen zeigen, daß für die Strecke von
100 mm der Quotient von z erreicht wird, und daß sich auch
auch für die von 80 und 90 mm die entsprechenden Werte
dem von den wir unter den gegebenen Bedingungen für
1
94’
die vorliegende Reizskala als den normalen Wert annehmen
dürfen, um ein Beträchtliches mehr nähern. Aber sie zeigen
auch, daß namentlich der für die Strecke von 80 mm neu-
gewonnene Wert immer noch um ein nicht Unerhebliches von
86 F. Kiesow,
dem ersteren abweicht. Die Verhältnisse liegen hier anders als
bei der Nachprüfung der der ersten Etappe angehörigen Strecke
von 30 mm. Dort handelte es sich um eine größere Annäherung
des Mittelwertes an den Normalwert. Hier liegt das Umgekehrte
vor. Die Abweichung hat jedoch für mich durchaus nichts
Erstaunliches. Sie erklärt sich aus dem persönlichen Verhalten
der Versuchsperson dieser Strecke gegenüber, d.h. aus der
suggestiven Wirkung, welche die letztere auf sie ausübte. Die
Beobachterin erkannte gerade in der Beurteilung dieser Normal-
strecke ganz besondere Schwierigkeiten. Sie empfand ein Un-
behagen, sobald die Strecke dargeboten ward und fühlte sich
erleichtert, wenn die Gleicheinstellungen dafür beendet waren.
Sie gab des öfteren an, daß sie sich bei dieser Strecke in ihrem
Urteile niemals recht sicher fühle. In Anbetracht dieser Tat-
sachen begreift man die außerordentliche Willensanstrengung
und somit die Überspannung der Aufmerksamkeit, durch welche
die einzelnen Werte in die Höhe getrieben wurden. In dem
aufrichtigen Bemühen, gewissenhaft zu schätzen, war die Ein-
stellung auf diese Strecke vielfach sicher übernormal. Daraus
erklärt sich auch, daß Überschätzungen gerade hier am häu-
figsten auftraten. Die. Strecke ward unter Berücksichtigung
der Nachprüfungsergebnisse in hundert Beobachtungen 22 mal
überschätzt, wobei die einzelnen Überschätzungen innerhalb der
Grenzen von 80,2 und 32,2 mm lagen. Um bei dieser Reiz-
größe auf den Quotienten von E zu gelangen, hätte die mittlere
Fehldistanz aus 100 Einzelversuchen ungefähr 76,6 mm be-
tragen müssen. Sie beträgt aber, wie angegeben, 78,103 mm,
übersteigt somit den zu erwartenden Mittelwert um rund
1,5 mm. Vielleicht hätte eine nochmalige vollständige Nach-
prüfung dieser Strecke unter möglichst günstigen Bedingungen
(z. B. ausschließlich während der festgesetzten Nachmittagszeit,)
zu einer größeren Annäherung an den Mittelwert 76,6 mm ge-
führt; denn die Versuchsperson hatte sich im Verlaufe der
Beobachtungen: doch allmählich etwas mehr an diese Strecke
gewöhnt. Ich habe auch an eine solche Nachprüfung gedacht.
Aber da ich ihrer Hilfe bei den Bestimmungen der Unterschieds-
empfindlichkeit noch für lange Zeit in Anspruch zu nehmen
gezwungen bin und sie mir bereits seit Monaten ihre Mitarbeit
in uneigennütziger Weise geliehen hatte, so mußte ich auf sie
Rücksicht nehmen. Das wird auch jedermann verstehen. Um
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 87
zusammenzufassen: Ich sehe in dem abweichenden Gesamtmittel
von 78,103 mm keinen Verstoß gegen die in Frage stehende
Gesetzmäßigkeit und bin der Meinung, diese Abweichung nach
psychologischen Gesichtspunkten, die hierfür allein in Betracht
kommen können, hinreichend erklärt zu haben.
Ähnliches gilt für die bei weitem geringere Abweichung.
die im Gesamtmittel für die Normalstrecke von 90 mm hervor-
tritt, so daß es nicht nötig ist, auf die bereits dargelegten
Einzelheiten nochmals einzugehen. Es sei daher nur im all-
gemeinen erwähnt, daß die Beurteilung dieser Strecke nicht so
schwer empfunden ward als die von 80 mm, wenngleich immer
noch schwerer als die der übrigen Strecken dieser Etappe. Die
Gleicheinstellung war für diese Strecke sogar schwieriger als
für die von 100 mm. Die Anzahl der Überschätzungen betrug
bei der Normalstrecke von 90 mm 8, sie lagen zwischen 90,2
und 92 mm.
Um auch der Überschätzungen kurz Erwähnung zu tun, die
bei der Gleicheinstellung für die Normalstrecken von 60, 70
und 100 mm hervortraten, habe ich sie samt ihrer Häufigkeit
in der nachstehenden kleinen Tabelle zusammengestellt.
N — 60 mm. Anzahl der Überschätzungen: 6; niedr. Überwert = 60,2 mm;
höchster Überwert = 61,2 mm.
N= 70 mm. Anzahl der Überschätzungen: 3; niedr. Überwert = 71,0 mm;
höchster - Überwert = 71,0 mm.
N = 100 mm. Anzahl der Überschätzungen: 2; niedr. Überwert = 101,2 mm;
höchster Überwert = 102,0 mm.
Eine fehlerlose Gleicheinstellung ward erreicht bei 60 mm:
1 mal, bei 70 mm: 5mal, bei 80 mm: 6 mal, bei 90 mm: 2 mal,
bei 100 m: 3 mal.
Was die Neigung der Beobachterin betrifft, die darge-
botenen Strecken zu unterschätzen, so ist in dieser Hinsicht
eine Tatsache von Interesse, die ich gelegentlich von ihr er-
fuhr. Sie teilte mir mit, wie sie schon in früheren Jahren
zur Zeit ihres Zeichenunterrichts an sich selbst bemerkt habe.
daß wenn sie gezwungen war, mit freiem Auge zu arbeiten,
ihre Zeichnungen meistens um ein Geringes kleiner als die
Vorlage oder der darzustellende Gegenstand ausgefallen seien,
während sie bei einigen Mitschülerinnen das Gegenteil be-
88 F. Kiesow,
obachtet habe. Sie gab dabei weiter an, daß wenn sie sich
in jener Zeit mit Anstrengung aller ihrer Kräfte bemüht habe,
diese Neigung zu überwinden, ihre Zeichnungen zuweilen zu
groß geworden seien. Da diese Mitteilung im vollsten Einklang
mit den dargelegten Versuchsergebnissen steht, so erhellt, daß
es sich bei meiner Versuchsperson um eine persönliche Ver-
anlagung handelt. Diese Veranlagung kommt eben in den
Prüfungsergebnissen zum Ausdruck.
Aus der unabweisbaren Tatsache, daß es sich bei der Gleich-
einstellung um eine spezifische seelische Funktion handelt, ist.
wie ich meine, auch zu schließen, daß die sogenannte Methode
der mittleren Fehler nicht geeignet sein kann, zu ge-
nauen Angaben über die Unterschiedsempfindlichkeit zu führen.
Die letztere muß sich natürlich bei der Gleicheinstellung geltend
machen, aber zu einer sicheren Ermittelung ihrer Werte kann
die Methode der mittleren Fehler keine Hilfe bieten. In dieser
Hinsicht ist ihr die Methode der Minimaländerungen weit über-
legen. Die letztere bleibt in der Tat die klassische Methode,
welche unter Berücksichtigung aller hier in Betracht kommenden
Einzelheiten sicher zum Ziele führt. Durch sie wird auch zu
ermitteln sein, wie weit die Tatsachen der Unterschieds-
empfindlichkeit bei der Gleicheinstellung in Mitleidenschaft ge-
zogen werden. Das wird, wie bereits hervorgehoben, der Gegen-
stand des zweiten Teiles dieser Untersuchung sein.
Zusammenfassend komme ich auch für die
Versuche dieser zweiten Etappe zu der Über-
zeugung, daß dem Vorgang der Gleicheinstellung
für die Reizgrößen von 60 bis 100 mm gleich-
falls eine Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt, die
den Forderungen des Weberschen Gesetzesdurch-
aus analog ist. Die Frage, warum der Quotient bei den
Prüfungen der zweiten Etappe verschieden ist von dem, der
bei den Versuchen der ersten gewonnen ward, wird sich end-
gültig erst nach Abschluß des zweiten Teiles der ganzen Unter-
suchung entscheiden lassen. Jedoch läßt sich mit Bestimmt-
heit bereits so viel sagen, daß die Vorgänge der Aufmerksam-
keitsspannung dabei eine hervorragende Rolle spielen.
Aus dem Dargelegten ergibt sich, wie ich hoffe, daß die
Gesetzmäßigkeit, welche in den Ergebnissen dieser Untersuchung
Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 89
zutage tritt, weder auf Nebenumstände noch auf physiologische
Vorgänge als deren Erklärungsursachen zurückgeführt werden
kann. — Nebenumstände! Es ist nicht recht einzusehen, worin
diese im vorliegenden Falle bestehen sollten. Die einzige variable
Größe, welche bei den beschriebenen Versuchen überhaupt in
Betracht kommen kann, ist die Ausdehnung der verwendeten
Linien. Und wenn man angesichts dieser Tatsache etwa an
eine Verschiedenheit im Einfluß der Augenbewegungen oder
des Irradiationsvorganges denken wollte, so ist doch andererseits
daran festzuhalten, daß sowohl Muskelempfindungen als auch
die aus den verschiedenen Graden der Irradiation hervor-
gehenden Erscheinungen seelische Inhalte darstellen, die in
jedem einzelnen Falle in den psychischen Gesamtkomplex ein-
gehen. Kurz, es liegt an den Vertretern solcher Anschauungen,
die Nebenumstände aufzuzeigen, welche zu einer so ausge-
sprochenen Gesetzmäßigkeit Anlaß geben, wie sie hier vorliegt.
Was endlich die Versuche betrifft, welche gemacht wurden,
das Webersche Gesetz physiologisch zu begründen, welchen
Versuchen naturgemäß auch die diesem Gesetze analogen Ver-
haltungsweisen untergeordnet werden müßten, so ist bekannt,
daß man bei den Erscheinungen der negativen Stromschwankung
im Nerven. wie bei der isotonischen Muskelzuckung und anderen
Vorgängen Regelmäßigkeiten ähnlicher Art erkannt hat, d.h.
daß auch in solchen Fällen der arithmetischen Progression
eine geometrische parallel gehen kann. Aber so hoch der Wert
solcher Befunde einzuschätzen ist, so wäre es doch ein gewagter
Schritt, aus solchen Ergebnissen auch nur auf die Möglichkeit
einer physiologischen Begründung der in Frage stehenden Ge-
setzmäßigkeiten zurückzuschließen. Was bei solchen Versuchen
übersehen wird, ist, daß jeder seelische Vorgang in irgendeiner
‚Weise zwar immer physiologisch bedingt ist, daß er aber nie-
mals physiologisch erklärt werden kann, weil physiologische
und seelische Vorgänge letzterdings unvergleichbar sind. Hier
gähnt eine Kluft, die noch nicht überbrückt ist. Das W:eber-
sche Gesetz bringt eine seelische Tatsache zum Ausdruck. Und
dasselbe gilt für das gesetzmäßige Verhalten im vorliegenden
Falle. Was wir vergleichen, sind weder die noch in tiefes
Dunkel gehüllten nervösen Prozesse, noch sind es die Be-
‚ wegungen der Augenmuskeln oder die Irradiationsvorgänge,
sondern es sind seelische Inhalte, die sich in kein physiolo-
gisches System zwingen lassen. Angesichts dieser unabweis-
90 F. Kiesow, Über die Vergleichung linearer Strecken usw.
baren Tatsache bleibt daher kein anderer Ausweg, als das
W.ebersche Gesetz und die ihm analogen Verhaltungsweisen
als das aufzufassen, was sie in Wirklichkeit sind und nur sein
können: als Gesetze der Beziehungen, denen psychische Vor-
gänge, und zwar die der aktiven Apperzeption zugrunde liegen.
Meiner treuen Mitarbeiterin gestatte ich mir auch an dieser
Stelle meinen wärmsten Dank auszusprechen.
(Eingegangen am 30. März 1925.)
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§ 13.
(Aus dem Psychologischen Institut München.)
Über Hemmungen bei der Realisation eines
Willensaktes.
Von
Julian Sigmar.
Inhaltsverzeichnis.
Problemstellung . ;
Versuchsanordnung . . . 2 2. 2...
A. Analytische Resultate:
I. Bedingungen eines erfolgreichen Willensaktes.
Die Kontroll-Tendenz . ;
Die »Praxis«. (Zum — führende Verhaltüngsweise) i
Die »Hingabe« . .
Ist die Aufmerksamkeit eine Bedingung 1 der richtigen Reaktion.
Perseveration š ; > u
Inertial-Tendenz .
Reproduktions-Tendenz
Der feste Vorsatz und sein Verhältnis” zur r ribtigeù Liane’.
II. Ursachen der erfolglosen Reaktionen.
Reproduzierende ——
Ablenkungen . er
Eilfertigkeits-Tendenz . 2 :
Ermüdung, Konzentration, unverötanden. Aufgabe ;
B. Synthetische Resultate:
Über Ziel und Anlage der Prüfungsreihen . 3
Fehlreaktionen auf Grund einer reproduzierenden Verhaltungsweise
Versuche zum Nachweis, daß der starke Vorsatz i. F.R. und F.R.
nicht verhindert . i E
Richtige Reaktionen ohne feston Voris.
C. Systematisches:
Über das Assoziationsgesetz . . :
Zur Theorie der i. F.R. und des Willens ;
92 Julian Sigmar,
&1. Problemstellung.
Die Frage nach der Hemmung bei der Realisation eines
Willensaktes hat Narziß Ach in seinen bekannten Ver-
öffentlichungen!) zuerst?) aufgenommen und sie auf Grund seiner
Untersuchungen dahin beantwortet, daß, abgesehen von einigen
verschleiernden Nebenbefunden, mancher Willensakt an der
Macht assoziativer und reproduktiver Tendenzen scheitere. Man
könne geradezu von einem Kampf sprechen, der sich zwischen
den reproduktiven Tendenzen einerseits und jenen »im Un-
bewußten wirkenden, von der Zielvorstellung ausgehenden, auf
die kommende Bezugsvorstellung gerichteten Einstellungen«,
abspielt, »welche ein spontanes Auftreten der deteminierten
Vorstellungen nach sich ziehen«, die Ach als determinierende
Tendenzen bezeichnet?°).
Der Kampf dieser zwei als Tendenzen an sich wesensgleichen
psychischen Phänomene sei so einsichtig, daß Ach auf Grund
der in Gedächtnisexperimenten unzählige Male angewandten
These von der Verstärkung der Assoziationskraft durch zahlen-
mäßig gesteigerte Wiederholungen den Gedanken aussprach, daß
auch eine Messung der Willenskraft möglich wäre. Wenn näm-
lich die reproduktive Stärke von gestifteten Assoziationen mit
der Zahl der Wiederholungen steigt, so muß eine Steigerung
der Wiederholungszahl an jenen Punkt führen, wo die deter-
minierende Tendenz sich an der Assoziationsstärke bricht. Jene
Zahl von Wiederholungen einer Silbenreihe, die eben über-
schritten werden muß, damit die determinierende Tendenz nicht.
mehr den Ablauf der Assoziation stört, nannte Ach das asso-
ziative Äquivalent der Determination (W. u. T. S.43). Es er-
übrigt sich angesichts von Lindworskys eingehender Dar-
stellung der wichtigen Auseinandersetzungen über die Tat-
sächlichkeit der determinierenden Tendenzen und der daraus
gefolgerten Gesetzmäßigkeiten, weitere Erklärungen darüber zu
geben“). Es war Lindworsky stets klar gewesen, daß diese
Kontroverse nicht nur auf dem Wege der immanenten Kritik,
1) Willenstätigkeit und Denken, Göttingen 1905 (zit. W. u. D.); Willens-
akt und Temperament, Leipzig 1910 (zit. W. u. T.).
2) Vgl. jedoch Wirth, Die exper. Analyse d. Bewußtseinsphänomene,
Braunschweig 1908, S.389 ff., sowie die Leipziger Arbeiten in: Psychol.
Studien, Bd. IX, u. Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 39.
3) W. u. D. S. 228.
4) Der Wille, 3. Aufl. 1923.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 03
sondern unbedingt auch durch Kontrollversuche geklärt werden
müsse; und so interessierte er mich schon 1919 für eine experi-
mentelle Analyse des Achschen Gesetzes vom assoziativen
Äquivalent, worüber ein Schüler von Ach, Curt Rux, eine
Spezialuntersuchung veröffentlicht hat®).
Wenn es gilt, die Resultate einer experimentellen Unter-
suchung durch Kontrollversuche zu prüfen, so kann man zwei
Wege einschlagen: entweder man hält sich genau an die Ver-
suchsanordnung des Autors und legt den Nachdruck auf eine
selbständige Analyse der Protokolle, oder man reduziert die
Versuchsanordnung der vorliegenden zu prüfenden Arbeit auf
ihre wesentlichen Grundzüge und stellt dann auf dem Boden
dieser sachlichen Gleichheit neue Versuchsanordnungen her,
die zum selben Resultat führen müssen, aber infolge des neuen
Versuchsmaterials die Ergebnisse von einer anderen Seite sehen
lassen.
Beide Kontrollmethoden sind gegenüber der Achschen
Lehre vom assoziativen Äquivalent der Determination ange-
wandt worden. Während ich im Münchener Psychologischen
Institut unter strenger Anlehnung an die Ruxsche Arbeit,
selbst unter Benutzung desselben Silbenmaterials, das Herr Pro-
fessor Ach gütigst dafür zur Verfügung gestellt hatte, das
Hauptgewicht auf die Analyse gelegt habe, hat Kurt Lewin
in Berlin die zweite Methode der Kontrolle angewandt. Beide
Arbeiten gelangten unabhängig voneinander zum gleichen
Hauptresultat, nämlich zur Ablehnung des Gesetzes vom asso-
ziativen Äquivalent sowie zu der Überzeugung, daß das Grund-
gesetz der Assoziation in seiner überlieferten Fassung unhalt-
bar sei®).
Da ungeachtet der beiden Hauptresultate im einzelnen
zwischen Kurt Lewin und mir wichtige Unterschiede der
Deutung der vorliegenden Phänomene bestehen, möchte ich
durch einen nach Möglichkeit gekürzten Bericht Gelegenheit
zur Stellungnahme geben.
Die literarische Diskussion hatte sich in viele Teilprobleme
differenziert, wodurch der Analyse Ziel und Richtung gewiesen
5) Über das assoziative Äquivalent der Determination, Leipzig 1913.
6) Die Lewinsche Arbeit, 1914 im wesentlichen abgeschlossen, erschien
1922 im ersten und zweiten Band der »Psychologischen Forschung«, während
ich über meine Resultate, die 1921 abgeschlossen waren, zwar im selben
Jahre, aber nur auf dem Behelfswege einer Inhaltsangabe berichten konnte.
94 Julian Sigmar,
wurde. Zunächst versprachen Kontrollversuche wertvolle Ein-
sicht in das Phänomen der Determination an sich. Ist es wirk-
lich nur ein Streit zwischen zwei Tendenzen, der sich in den
Ach-Ruxschen Versuchen abspielt? hatte schon Lindwor-
sky gefragt. Ist ferner der »feste Vorsatz« eine maßgebliche
oder auch nur einfließende Bedingung des Erfolges der Re-
aktion, d.h. bei der Realisation eines Willensaktes? (Selz,
Külpe, Lindworsky?’).. Kommt es nicht vielmehr nur
auf die Konzentration der Aufmerksamkeit an? (Selz). Oder
ist etwa Lindworskys Vermutung richtig, daß für das
Vermeiden der Fehlreaktion entscheidend sei, ob man in der
Hauptperiode auf irgendeiner Stufe das Aufgabebewußtsein
präsent halte?
S 2. Versuchsanordnung.
In der Arbeit von Rux hat Ach manche Verfeinerungen der Versuchs-
anordnung vorgeschlagen, die nicht ohne Einfluß auf den Ausfall der Re-
sultate geblieben sind. Die Änderungen gegenüber den Achschen Versuchen
von 1910 sind folgende:
1. Einführung der fünfbuchstabigen Doppelsilben an Stelle der bisher
gebrauchten dreibuchstabigen vom Schema »duk«. Sie ermöglichten ebenso
ein Umstellen der Konsonanten (tibal—libat), wie der Vokale (tabil), während
die dreibuchstabigen nur ein Umstellen der Konsonanten erlauben. Rux be-
zeichnet die Silben, an denen das Umstellen der Konsonanten geübt wurde,
u kx - Silben, jene, an denen das Umstellen der Vokale vorgenommen werden
sollte, als u,-Silben. Ein u,-Silbenpaar wäre etwa: nodel-loden, ein u,-
Silbenpaar: piras-paris.
2. Einführung der »-Silben (neutrale Silbenpaare, deren zweite Silbe mit
der ersten in keiner Umstellungsbeziehung steht; z. B. ligok-vogel).
3. Die Verbindung von sinnlosen mit einer sinnvollen Silbe, so daß das
sinnvolle Wort durch Umstellung aus einem sinnlosen entsteht: naser-rasen,
gebal-gabel; der Zweck war die Stiftung einer stärkeren Assoziation inner-
halb eines Silbenpaares.
4. Eine v-Silbe dagegen kam nie mehr als einmal mit derselben Silbe
zusammen vor, was durch Kombination derselben untereinander erreicht wurde;
denn zwischen den neutralen Silben sollte keine Assoziation entstehen.
Es gab also drei Arten von Silben, ux“, u, und »-Silben, und von jeder
Art 3 Reihen zu je 4 Paaren, die durch Darbietung am Gedächtnisapparat
gelernt werden mußten. Es waren aber auch 3 Tätigkeiten möglich, U x.
(= Umstellen der Konsonanten), Uy. (= Umstellen der Vokale) und Rp. (= Be-
produzieren des Gelernten) an jeder Silbe.
7) Selz, Die experimentelle Untersuchung des Willensaktes, Z. Ps.
Bd. 57 S.241 und: Willensakt und Temperament, Z. Ps. Bd.59 8.113;
Külpes Besprechung von »Ach, Willenstätigkeit und Denken« in den Göt-
tingischen Gelehrten Anzeigen 1907, 169. Jahrg. Heft 8 S. 595—608;
Lindworsky, a.a. 0. S. 103-106.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 95
Je nach dem Charakter der gelernten Silbe konnte von einer homogenen,
heterogenen oder indifferenten Tätigkeit gesprochen werden. Beispiel: Ge-
lernt sei: nodel-loden. Bei der Instruktion Uy. müßte aus nodel nedol ge-
bildet werden, was der gelernten Assoziation widerstrebt (heterogen),
bei Ux. dagegen wird aus nodel ganz im Einklang mit dem Gelernten loden
(homogen), eine indifferente Tätigkeit kann nur an einer» -Silbe ge-
übt werden, welche gegen jede Assoziation gleichgiltig ist. Die Werte der
neutralen Silben wie die des Rp. sollten nur zu Vergleichszwecken gewonnen
werden.
Von den 6 Versuchsanordnungen der Ruxschen Arbeit wählte ich zwei
aus, eine starke, weil bis zu 220 Lesungen gefordert wurden, und eine
schwache, bei der schon nach 20 Lesungen Prüfungsreihen veranstaltet wurden.
Die starke Anordnung führt im Verlauf der Arbeit die Bezeichnung I, die
schwache die Bezeichnung II.
Um die Stärke der Assoziation nicht bloß von der Häufigkeit der Dar-
bietung abhängig zu machen, worauf die Versuchsanordnung AI bei Rux aus-
schließlich gründet, sind die Silbenreihen meiner Anordnung I (wie bei Rux
in BII) aus den zur Hälfte sinnvollen Assoziationspaaren gebildet, deren zweite
Silbe durch Umstellung aus der ersten entstanden ist: nadef-faden usw... .®).
Anordnung I war für 11 Versuchstage berechnet; jeden Tag fanden 20 Le-
sungen statt, nach 60 Wiederholungen setzte die 1. Prüfungsreihe ein; am
11. Tag waren also 220 Lesungen vorausgegangen.
Die schwache Anordnung II heißt bei Rux »C«. Sie hat 9 Versuchstage,
wobei aber täglich neue Silben dargeboten werden. Nach je 20 Lesungen
beginnt die Prüfung.
12 Versuchspersonen hatten sich gütigst zur Verfügung gestellt, die in
der Darstellung fortlaufend mit A bis M bezeichnet werden. Sämtlichen ge-
bührt in Anbetracht der viel Geduld fordernden Versuche der wärmste Dank
des Verfassers. Die Vpn. A—D lieferten das Material zur Analyse der Rux-
schen Versuche, mit den Vpn. E—K wurden synthetische Reihen angestellt,
um das Ergebnis der Analyse zu verifizieren.
Instruktionen.
A. Vor der Darbietung zum Lernen:
1. Es werden Silben erscheinen; es handelt sich nicht darum, daß die
Reihe gelernt, sondern nur mit deutlicher Artikulation im jambischen Iktus
gelesen wird. Sie lesen also einfach die Reihe, ohne den Ehrgeiz, sie mög-
lichst rasch zu lernen. (Bei den Vpn. A—D angewandt.)
2. In den synthetischen Reihen, mit Vpn. E—K, wurde folgende In-
struktion angewandt, deren Verständnis leichter fiel: Es werden nachein-
ander einzelne Silben erscheinen. Lesen Sie dieselben laut mit jambischem
Iktus. Sie sollen die Silben im Gedächtnis zu behalten suchen, aber ohne
8) Die uy- und uy-Silben-Paare wurden permutiert, so daß niemals das-
selbe Paar auf ein anderes mehr als einmal folgte; die neutralen Silben
dagegen blieben auch als Paare nicht zusammen, was durch Kombination
derselben erreicht wurde, weil sich zwischen ihnen keine Assoziation bilden
durfte (vgl. Rux).
96 Julian Sigmar,
daß Sie mnemotechnische Hilfsmittel gebrauchen. Lesen Sie vielmehr, und
suchen Sie die Silben dabei in sich aufzunehmen!
B. Vor den Reaktionen
(bei den Vpn. A—K ohne Unterschied angewandt):
l. Reproduzieren (Rp.): Es werden Silben erscheinen; nachdem Sie die
erscheinende Silbe gelesen und erkannt haben, wollen Sie eine andere Silbe
aussprechen. Nehmen Sie sich aber vorher keine bestimmte Silbe vor; nehmen
Sie sich aber auch nicht vor, einen Reim auszusprechen oder Buchstaben um-
zustellen, sondern sprechen Sie die von selbst zuerst auftauchende Silbe aus!
2. Umstellen der Konsonanten (Ux): Es werden Silben erscheinen. Nach-
dem Sie die erscheinende Silbe gelesen und erkannt haben, stellen Sie die
An- und Auslaute der Silbe um! . |
3. Umstellen der Vokale (U),: Es werden Silben erscheinen. Nachdem
Sie die erscheinende Silbe gelesen und erkannt haben, stellen Sie die beiden
Vokale um!
Wenn die Übung zum erstenmal gemacht werden sollte, wurde die In-
struktion zweimal vorgelesen, dann nur einmal. Zur Ausführung der Unter-
suchungen standen die Apparate des Psychologischen Instituts München zur
Verfügung, der Lipmannsche Gedächtnisapparat, das Hippsche Chrono-
skop, der Achsche Kartenwechsler und der Römersche Schallschlüssel,
welche alle an Präzision nichts zu wünschen übrig ließen. Die Uhrzeiten
wurden am elektrischen Pendel kontrolliert.
A. Analytische Resultate.
I. Bedingungen eines erfolgreichen Willensaktes.
Unter den 432 Versuchen, die mit den vier Versuchs-
personen A—D angestellt wurden, befanden sich 144 Re-
aktionen, in denen bloßes Reproduzieren geübt wurde. Diese
können zunächst außer Betracht bleiben. Von Interesse sind
die 288 Reaktionen, an denen homogene, indifferente und
hetcrogene Tätigkeit geübt wurde. Auf diese 288 Reaktionen
fallen 58 Fehlreaktionen (F. R.) und 7 Versager, mithin
223 richtige Reaktionen (r. R.).
Nach der Überzeugung von Ach müßten diese r. R. aus-
schließlich der determinierenden Tendenz (det. Td.) zuge-
schrieben werden. Er sagt: »durch den gleichen Reiz werden
verschiedene Vorstellungen reproduziert, und zwar wird im
einzelnen Falle jene Vorstellung überwertig, welche dem Sinne
der Absicht entspricht« (W. u. D. S.192/93). Die Frage ist
aber damit noch immer nicht entschieden, warum gerade diese
und nicht jene Vorstellungen überwertig werden. Die Antwort
darauf sollen die Protokolle ergeben; wir werden hier dem
Grundsatz folgen, daß nur jene Ursache als sicher angenommen
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 97
wird, die sich aus dem Protokoll und der Gesamtlage deutlich
ergibt. ne
Ach hat mit der Annahme von Tendenzen, welche ge-
legentlich auch unbewußt auftreten und die psychischen Pro-
zesse lenken,der Forschung einen fruchtbaren Weg gewiesen.
Die Vermutung lag nahe, daß die determinierenden und re-
produktiven Tendenzen nicht die einzigen sein. werden, die
bei der Realisation eines Willensaktes eine maßgebende Rolle
spielen. Die Analyse bestätigte diese Vermutung. Wenn wir
die Protokolle sprechen lassen, so würden als Bedingungen der
erfolgreichen Reaktion in Frage kommen: |
1. die Kontrolltendenz, 2. die Praxis und Hingabe, 3. die
Perseveration, 4. die Innertialtendenz, 5. die Reproduktions-
tendenz. |
$ 3. Die Kontrolltendenz (Ko.Td.).
Den Namen »Kontrolle« haben wir von den Vpn. genommen,
denen dieser Ausdruck sehr geläufig war.
Die Ko. Td. kennzeichnet sich als ein Streben, die Re-
aktionssilbe an der Zielvorstellung zu prüfen, ehe die um-
gestellten Silben ausgesprochen werden.
a) Bedingungen ihres Entstehens.
1. Sie entsteht, wie schon in den Vorversuchen erkannt
wurde, oft nach wenigen, gelegentlich sogar nach einem ein-
zigen Mißerfolg; es stellt sich ein Mißtrauen ein, daß schon
in der Vorperiode beobachtbar ist. Das ist aber nicht bei
jeder Vp. so früh der Fall.
Vp. B hat schon im zweiten Versuch falsch reagiert; aber
statt mißtrauisch zu werden, wollte sie die Schwierigkeiten
durch »starken Vorsatz« hinwegräumen, was durch die ersten
fünf Versuche so bleibt. Dann erst trat die Ko. Td. auf.
2. Sie entsteht aber auch ohne vorangegangenen Fehler
wie von selbst, wenn nach einigen heterogenen und indiffe-
renten Silben, zu deren Umstellung immer Mühe notwendig
ist, auf einmal eine homogene Silbe dargeboten wird. Die
ungewohnte Leichtigkeit der Arbeit ruft dann Mißtrauen wach,
so daß die Reaktionssilbe vor dem Aussprechen erst kontrolliert,
wird.
Archiv für Psychologie. LI. 7
98 Julian Sigmar,
Dasselbe ist natürlich der Fall, wenn nach mehreren homo-
genen Aufgaben plötzlich Schwierigkeiten in Gestalt einer
heterogenen Silbe auftreten.
Beispiele: 3.U,.-Tag, Vp.B. 6. Aufgabe; (nebal) nabel.
V.P. Gewöhnliche Aufmerksamkeit. H.P. nebal-nabel sogleich von allein,
zurückgehalten und kontrolliert, dann erst ausgesprochen. N.P. Zufrieden.
3. Uy.-Tag. Vp. C. 6. Aufgabe. Nach einer neutralen und homogenen
Silbe erscheint die heterogene Silbe ledon.
V.P. Sehr konzentriert, um es schnell zu machen. H.P. nedol kam mir
fremd vor, aber noch während der Wortbildung kontrolliert. N.P. Nochmals
kontrolliert.
b) Erscheinungs- und Wirkungsweisen.
1. Ihrem zeitlichen Auftreten nach könnte man die Ko. Td.
unterscheiden als solche, die sich vor der Reaktion geltend
macht und solche, die nachher auftritt. Daraus wird ihre Be-
deutung als regulatives Prinzip erkennbar. Sie veranlaßt eine
Prüfung mit dem Gelernten oder mit der Aufgabe, verwirft
Lösungsvorschläge und veranlaßt neue Willensantriebe : zur
Lösung. Manchmal tritt sie vor und nach der Reaktion auf.
Der Fall, daß die Kontrolle zuerst nach der Reaktion auftritt
und dann allmählich in die Haupt- und Vorperiode zurück-
weicht, wie Lewin sagt, konnte nicht beobachtet werden (vgl.
unten).
2. In beachtenswerter Regelmäßigkeit setzt die Ko.Td.
gegen Ende eines Versuchstages ein. Das geschieht aber nicht,
wie man mit Ach annehmen könnte?), als Reaktion gegen
die mechanisierende Wirkung der sukzessiven determinierenden
Abstraktion, sondern weil die Vp. gegen Schluß des Versuchs-
tages den dauernden Wechsel der leichten und schweren Auf-
gaben herausgemerkt hat und dann keiner Silbe mehr traut.
3. Die Ko. Td. lehnt auch solche Assoziationen ab, die
überhaupt nicht gelernt worden sind. Sie macht sich dann
noch im letzten Augenblick, eine F. R. verhindernd, geltend.
4. Die eine Lösung der Aufgabe ermöglichende Aus-
führungstätigkeit wird im Laufe der Übung mechanisiert und
von den Vpn. als »Praxis« bezeichnet. Über diese wird noch
eigens zu reden sein. An dieser Stelle soll nur betont werdeh,
daß die Ko. Td. auch gegen eine mechanisierte Praxis auftritt.
Beispiel: Dritter U,.-Tag. Vp. B. Die neutrale Silbe ludep wird ziemlich
schnell, in 1234 o zu pudel umgestellt.
9) W. u. T. S. 246/47.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 99
V.P. Aufmerksam, ohne starken Vorsatz. H.P. ludep entfernt bekannt.
Umgestellt, gestört, weil pudel kam; daher nochmals kontrolliert. N.P. Ge-
fühl der langen Dauer währt nach.
5. Es gibt auch eine Art intuitiver Kontrolle, auf Grund
derer die Vp. das Resultat im Bewußtsein seiner Richtigkeit
sagt, ohne das Bedürfnis, sich darüber Rechenschaft geben
zu müssen. Sich aufdrängende Fehlassoziationen werden ohne
bewußte Kontrolle abgelehnt, die passende Silbe mit großer
Sicherheit gesagt.
Beispiel: 1. Ux.-Tag. Vp. B. Die homogene Silbe lügez wird in 1454
o zu zügel umgestellt.
V.P. Wie immer gespannt. H.P. lügez bekannt, zügel bildete sich recht
schnell, ein Umstellungsversuch kam gar nicht in Betracht. N.P. Richtigkeits-
bewußtsein.
6. Die Ko. Td. überdauert gelegentlich einen ganzen da-
zwischenliegenden Tag und tritt noch zu Beginn des folgenden
Versuchstages in Erscheinung, wo sie dann manchmal nur
hemmend wirkt.
Beispiel: 3. U.,.-Tag. Vp. A. Die neutrale Silbe ribeb wird zu bibel
umgestellt. Es ist die erste Reaktion des Tages.
VP. Erinnerung an die Aufgabe, keine Beherrschung derselben. H.P. Biber,
dann eine Falle vermutet, dann rasch bibel gesagt. Ich habe reproduziert
und nicht umgestellt. N.P. Wissen um die F.R. (Bemerkung: Der voran-
gegangene Tag war ein Rp.-Tag.)
c) Ko. Td. und vermiedene intendierte Fehl-
reaktion.
An jedem Versuchstag, in dem eine Umstellungstätigkeit
gefordert wurde, waren unter den 12 Reaktionen stets 4 hetero-
gene Silben eingestreut, wodurch eine Fehlreaktion nahegelegt
werden sollte; daher intendierte Fehlreaktion (i. F. R.). Bei
den vier Vpn. war also 96 mal Gelegenheit zu diesem Fehler
gegeben. Ein Vergleich der heterogenen Aufgaben ergibt, daß
auch ihre Lösung sehr stark von der Mitwirkung der Ko. Td.
abhängig gewesen ist. 13 i.F.R. erfolgen offensichtlich, weil
die Ko. Td. nicht vorhanden war, 40 i.F.R. werden infolge
der Ko. Td. vermieden. In 33 heterogenen Aufgaben ist die
intendierte Fehlreaktion vermieden worden, obwohl eine Ko. Td.
nicht erkennbar ist; diese Aufgaben gelangen infolge einer
Verhaltungsweise, die von den Vpn. als »Hingabe« bezeichnet
wird, in der aber latent ebenfalls eine kontrollierende Ein-
stellung vorherrscht. Die Beschreibung dieser Verhaltungsweise
wird weiter unten erfolgen. Zwei intendierte Fehlreaktionen
7,
100 Julian Sigmar,
haben zwar Ko.Td., aber nur unvollkommen; für den Miß-
erfolg muß in einem Fall ein ablenkendes starkes Gefühl, im
andern Fall Eilfertigkeit verantwortlich gemacht werden.
Es ist uns in diesem Rahmen unmöglich, die Protokolle
der heterogenen Aufgaben anzuführen und deren Resultat sta-
tistisch wiederzugeben. Wir dürfen aber sagen, daß der Ko. Td.
eine ganz erhebliche, wenn nicht ausschlaggebende Bedeutung
für die richtige Lösung zukommt.
d) Die Selbständigkeit der Ko. Td.
Sie ist nicht zu verwechseln mit der sukzessiven Attention
Ach’s, ist auch etwas anderes als die determinierende Tendenz.
Ach beschreibt die sukzessive Attention als ein stärkeres
Hervortreten der konkreten Bezugsvorstellung (W.u.D. S. 245),
“ein vollständiges Auffassen der qualitativen Bestimmtheit des
Reizeindruckes (a.a.0. 8.246). Solche Erscheinungen finden
wir aber auch bei anderen Faktoren. Wenn der sukzessiven
Attention das besondere Verdienst zugeschrieben wird, F.R.
zu verhindern, so werden wir später auch andere Verhaltungs-
weisen aufzeigen, welche dieselbe Wirkung haben. Ach selbst
unterscheidet zwischen sukzessiver Attention und jener »ur-
teilenden Stellungnahme, die allerdings, sofern die Richtig-
keit der Umstellung als Valenz erlebt wird, nicht in einem
eigenen Akt erlebt wird. Sie stellt ein Urteil darüber dar, ob
der auftretende Inhalt dem entspricht, was früher Gegenstand
des Vorsatzes war« (W.u.T. S. 264).
Damit gesteht ihr Ach Akt-Qualität zu. Seiner Ansicht,
daß die Kontrolle eine Wirkung des geübten starken Wollens
ist (W.u.T. 8.301f.), kann nicht zugestimmt werden, da sie
auch schon vor dem geübten starken Wollen beobachtbar ist.
Die Ko. Td., wie wir sie beschrieben haben, geht ihrer Qualität
nach weit über die sukzessive Attention Ach’s hinaus.
Die Ko.Td. ist aber auch nicht identisch mit der det. Td.,
denn die dieser zugeschriebenen Eigenschaften (vgl. W.u.D.
S. 228) kommen der Ko.Td. nicht zu, wie ein Blick auf die
dargestellten Erscheinungs- und Wirkungsweisen zeigt. Wenn
der det. Td. kontrollierende Wirksamkeit ohne weiteres eigen
wäre, wie ließe es sich dann erklären, daß die Ko. Td. in so
vielen Fällen ganz fehlt, in anderen erst so spät erscheint?
Die Ko.Td. stellt sich auch als eine den regelmäßigen Ablauf
der determinierten Bewußtseinsvorgänge hemmende Er-
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. ` 107° >:
scheinung dar. Eben diese Verzögerung spricht dafür, daß sie
etwas von der det. Td. an sich Verschiedenes ist. Sie äußert
sich in einem eigenen Vorsatz: ich will vorsichtig sein! Wenn
Ach daraus folgert, daß damit ein neuer Inhalt in den Vor-
satz eingegangen ist, so ist dieser Inhalt zwar eine Folge der
Determination, aber an sich ein neuer Entschluß, von dem
eine neue »determinierende Tendenz« ausgehen sollte.
e) Die Ko. Td. in der Literatur.
l1. Aus dem Achschen Kreise liegt über die sukzessive Attention eine
Arbeit von Friderici vor!°), welche sich ganz in den Anschauungen Achs
bewegt!1) und sich damit begnügt, quantitativ die Verzögerungen nachzu-
weisen, welche als Folgen der sukzessiven Attention beobachtet werden
(S. 79£.). Außer der schon erwähnten Verlängerungswirkung wird noch die
sogenannte »Irradiation« festgestellt, d. i. ein Übergreifen der Wirkung
der sukzessiven Attention von einem Übungstag auf den andern (vgl. oben
S.99; 6). Merkt dann die Vp., daß ihre vorsichtige Zurückhaltung unnötig ist,
so erfolgt allmählich eine zunehmende Verkürzung der Reaktion, die sogen.
»Inversion«.
Zu dem die Ko.Td. kennzeichnenden Prüfungs- und Vergleichsprozeß, der
je nach der homogenen, heterogenen oder indifferenten Tätigkeit ein so ver-
schiedenes Gepräge tragen kann, bringt F. keine Beiträge.
Die sukzessive Attention hat nicht die Wirkung, i.F.R. zu vermeiden;
solche Fehlreaktionen sind lediglich die Voraussetzung ihres Auftretens,
und man kann deren Einfluß in den Hemmungserscheinungen messen und
beobachten. Die Ko.Td. tritt, wie wir oben nachgewiesen haben, auch auf
Grund anderer Bedingungen auf, äußert sich nicht bloß in mißtrauischer
Vorsicht und Zurückhaltung, sondern in einem allgemeinen Prüfungsprozeß,
der gelegentlich durch die ganze Versuchsreihe in Wirksamkeit bleibt und
die Charakterzüge einer dauernden Verhaltungsweise annimmt.
2. G. E. Müller unterscheidet drei Arten der Wirkungsweise einer kon-
trollierenden Rolle und Wirksamkeit der Aufgabe1?):
a) Die Aufmerksamkeit wird auf das Reizwort konzentriert, die dadurch
direkt oder indirekt entstandenen oder vorhandenen oder auf Grund
anderer Ursachen auftretenden Wörter werden vom Standpunkt der
Aufgabe aus beurteilt und das erste passende Wort ausgesprochen.
b) Während die Vp. im Begriffe ist, ein unrichtiges Wort auszusprechen,
kontrolliert sie sich selbst und korrigiert sich.
c) Die Aufgabe greift auch in der Weise ein, daß ein Wort zunächst
ohne Mitwirkung der Aufgabe ausgesprochen wird, dann aber erst
der entsprechende Sinn beigelegt wird.
10) Über die Wirksamkeit der sukzess. Attention, Leipzig 1913.
11) W. u. D., S. 245ff. und W. u. T., S. 491.
12) Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit, III. Teil, Leipzig 1913, S. 470,
471 und 473.
-~ ` - œ .
u Julian Sigmar,
d) Gegen eine mechanisch gewordene Ausführungstätigkeit der Aufgabe
macht sich ebenfalls die Ko.Td. geltend: »Es versteht sich von selbst,
daß die kontrollierende Wirksamkeit der Aufgabe nicht bloß in solchen
Fällen auftritt, wenn, wie oben angenommen, nur die mit Aufmerksam-
keit erfaßte Reizsilbe und andere Faktoren von mehr zufälliger Art,
die nach der Darbietung der Reizsilbe auftretenden Reproduktionen
bestimmen, sondern auch in solchen, wo eine der dargebotenen Reiz-
silbe sich anschließende zweckmäßige Verhaltungsweise reprodu-
zierend wirkt« 12).
3. Unsere Ansicht, daß die durch die Ko.Td. herbeigeführte Verzögerung
der Lösung kein bloßes passives Gehemmtsein, sondern ein aktives Moment
ist, vertritt O. Selz in den »Gesetzen des geordneten Denkverlaufa« 13).
Selz kennzeichnet die Kontrollprozesse als die Wirkung einer Tendenz zur
Aktualisierung vom gewissen allgemeinsten, intellektuellen Operationen (Lö-
sungsmethoden), die jeder Determination reproduktiv zugeordnet sind. »Das
Bewußtsein der Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit geht auf eine Abstraktion des
zwischen der Reaktion und den Anforderungen der Gesamtaufgabe bestehenden
Sachverhältnisses zurück. Diese Abstraktion geht wahrscheinlich auf ein
Kontrollbedürfnis der Vp. und die aus ihm entspringende det.Td.« (Gesetze
S. 257). »Durch die Annahme einer determinierten Lösungskontrolle wird
die Tatsache sofort verständlich, daß bei der Aufgabelösung nicht wie bei
einem rein assoziativen Ablauf jedes Erlebnis von dem folgenden abgelöst
wird und damit aus dem Bewußtsein verschwindet, sondern daß der weitere
Ablauf auf den Ausgangspunkt, die Gesamtaufgabe, zurückbezogen erscheint«
(ebenda).
Da diese allgemeinen Lösungsmethoden gewohnheitsmäßig angewendet
werden, so braucht auch der Kontrollprozeß nicht im Bewußtsein hervor-
zutreten, es gibt eine oft ganz unbewußte Kontrolle Im Falle einer Nicht-
übereinstimmung der tatsächlichen und der von der Aufgabe geforderten Vor-
stellungen kommt es zu einer determinierten Abstraktion des Sachverhält-
nisses. Dabei tritt als das eine Fundament des Verhältnisses der Nicht-
übereinstimmung die Instruktion wieder ins Bewußtsein (Gesetze S. 279).
Die Gesetzmäßigkeit, welche die geschilderten Gedankenabläufe zeigen,
drückt Selz in dem »Gesetz der Berichtigung« aus: »Die in dem Lösungs-
versuch einer Aufgabe liegende Sachverhaltsfeststellung zeigt die Td., die
Aktualisierung eines mit ihr in Widerspruch stehenden Wissens, verbunden
mit der Erkenntnis des bestehenden Widerspruches, herbeizuführen« (Gesetze
S. 273).
Als Ursprung der Kontrolle sieht Selz einen determinierten Prüfungs-
prozeß, ein Kontrollbedürfnis der Vp. an. Der Prüfungsprozeß beginne ent-
weder durch klares Ausdenken des in dem Lösungsversuch liegenden Sach-
verhältnisses oder auf Grund einer den Prüfungsprozeß einleitenden Frage.
Denn eine Erklärung des Bewußtwerdens der Sachverhaltswidersprüche oder
Übereinstimmungen auf Grund der Gesetze der Gleichheits- oder Ähnlichkeits-
reproduktion hält Selz nicht für ausreichend. »Die Td. zur Prüfung...
bewirkt einen höheren Bewußtseinsgrad bzw. eine höhere Bereitschaft der
zur Bedeutung des Reizwortes bzw. der Aufgabe gehörigen Bestandstücke ...
13) Stuttgart 1913 und Bd. 83 der Z. Ps. S. 224—226.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 103
Dabei bestehe eine det.Td. zur Abstraktion der Identität bzw. zur Abstraktion
des Verhältnisses der Übereinstimmung der tatsächlich bestehenden mit der
durch die Aufgabe geforderten Beziehung. »Wir haben uns diesen deter-
minierten Abstraktionsprozeß in der Weise vor sich gehend zu denken, daß
die allgemeine Operation der det. Abstraktion ihren Ausgang von einer
schematischen Antizipation des festzustellenden Sachverhältnisses der Über-
einstimmung mit dem Reizwortgegenstand bzw. der Aufgabebeziehung nimmt«
(Gesetze S. 275).
4. Eingehende Darstellungen finden die Korrekturvorgänge auch bei
Lindworsky!t). L, findet das Selzsche Gesetz der Berichtigung in seinen
Untersuchungen bestätigt, sieht sich aber mit Rücksicht auf die kompli- _
zierteren Denkvorgänge des Schlußverfahrens zu einer Erweiterung veranlaßt.
Er bringt die von ihm beobachtete Gesetzmäßigkeit auf folgende Formel:
»Die Einstellung zur Auffindung einer entsprechenden Lösung bedingt die Td.
zu erneuter Beziehungserfassung, eventuell im Verein mit dem Lösungsvor-
schlag zur Aktualisierung eines mit diesem im Widerspruch stehenden Wissens,
verbunden mit der Einsicht in den betreffenden Widerspruch«.
Die Fassung des Gesetzes wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Frage:
welches ist die Ursache dieser Einstellung ?
Auch L. denkt zunächst an reproduktive Tendenzen, die gus der Aufgabe
bzw. dem Lösungsvorschlage entstehen und ein widerstreitendes Wissen her-
vorrufen (a. a. O. S. 324), aber hiermit sieht L. noch nicht ein zweites wesent-
liches Moment berücksichtigt: die Vpn. zeigen stets eine prüfende Haltung,
die bereit ist zu fragen: Genügt der Lösungsvorschlag der Aufgabe? Es ist
dieselbe Frage, von der aus Selz eine Voraussetzung für seine Erklärung
konstruiert hat. L. beantwortet sie dahin: Eine neue Beziehungserkenntnis
ist es, die auf die Frage antwortet, sobald der Lösungsversuch erfolgt ist.
Wird die Frage verneint, dann setzt die unbefriedigte Tendenz zur Aufgabe-
lösung, und zwar nicht ganz ohne Willensmomente ein.
Wir hätten noch aus der Lindworskyschen Arbeit des Erfüllungs-
bewußtseins Erwähnung zu tun, das zum Korrekturvorgang in ganz bestimmter
Beziehung steht!°). Im Erfüllungsbewußtsein — bei Selz Verifikation (Ge-
setze S.257) — sieht L. die Einsicht in die Berechtigung zur Reaktion oder
überhaupt das Bewußtsein, die Aufgabe erfüllt zu haben. Es ist nicht dasselbe
wie die Gewißheit von der Richtigkeit, kann sie aber in sich schließen. Es
gibt ein schwankendes und ein unsicheres, erst werdendes Erfüllungbewußt-
sein, das viel Ähnlichkeit mit den von uns geschilderten Kontrollprozessen
hat; es macht sich als Zweifel bzw. als Mahnung zur Vorsicht geltend. Die
Ursache des Erfüllungsbewußtseins dürfte in einer Beziehungserkenntnis liegen,
die sich neben oder nach der Aufgabe entwickelt.
Bei »sofort vollendeten Schlüssen« (a. a. O. S. 327) wird nun oft sofort
beim ersten Versuch die richtige Folgerung gezogen; die Gewißheit braucht
sich nicht erst durchzusetzen, sie tritt alsbald mit der Lösung selbst ein. Diese
von L. geschilderte Erscheinung erinnert zu sehr an die von uns dargestellte
»intuitive Kontrolle, als daß wir hier nicht besonders auf sie hinweisen
sollten.
14) Schlußfolgerndes Denken, Freiburg 1916, S. 323—332.
15) a. a. 0. S. 139—154.
104 Julian Sigmar,
L. sieht in dieser Erscheinung den Fall einer mehrfachen simultanen
Relationserfassung gegeben; denn die Vp. erfaßt nicht bloß die Sachverhalts-
beziehungen zwischen der Aufgabe und dem Lösungsvorschlag, sondern zu-
gleich auch das Wissen um deren Neuheit und Folgerichtigkeit.
Also auch Selz und Lindworsky, weit entfernt, die Kontrolle als
einen »Nebenbefund« zu betrachten, halten sie vielmehr für eine Einstellung,
die in der Lage ist, neue determinierende Tendenzen hervorzurufen.
5. Interessante Beleuchtung erfahren die Kontrollvorgänge durch die
Mitteilungen Kurt Lewins aus seinen Untersuchungen über die psychische
- Tätigkeit bei der Hemmung von Willensvorgängen!*). Lewin spricht da von
einem »die Richtigkeit des Ergebnisses kontrollierenden Nebenprozeß der
reproduzierenden Tätigkeit« (S. 234), welche er neben dem Hauptprozeß be-
obachtet, der auf die Ausführung der Instruktion ausgeht. An anderer Stelle
handelt er auch von dem »Nachlassen der Ausdehnung der Kontrollprozesse mit
dem steigenden Sicherheitsgefühl« (S. 240). Im übrigen geht Lewin auf
die Kontrollprozesse nicht genauer ein, weil sein Interesse vornehmlich auf
die Identifikationsvorgänge gerichtet ist, in denen er die Hauptursache der
beobachteten Hemmungen und Fehlreaktionen sieht. Immerhin vermerkt er
das Auftreten der Kontrolle nach eingetretener i.F.R. (S.I, 224 u. 226).
Während sich die Kontrolle der umgestellten Silbe anfangs nach, dann all-
mählich vor der Ausführung der Tätigkeit einstellt, tritt nach einer Fehl-
reaktion ein Rückbildungsprozeß ein, d. h. die allmählich vor Ausführung der
Umstellung angestellte Kontrolle und Identifikation der Reizsilbe wird auf-
gegeben und tritt wieder erst nach der Umstellung ein. Inwieweit zwischen
Kontrollprozessen und Identifikationstendenzen Beziehungen bestehen, werden
wir erst nach Besprechung der von uns festgestellten Inertialtendenz be-
sprechen können.
§ 4. Die Praxis.
(Zum Erfolg führende Verhaltungsweise [Vw.]).
Neben den Bezeichnungen: »meine Technik, Mechanik, Ein-
stellungsmethode«, gebrauchen die Vpn. oft auch den Ausdruck
»Praxis«. Damit meinen sie eine praktische Verhaltungsweise,
die sie als etwas Technisches auffassen. Ohne diese glauben sie
nicht zur günstigen Lösung kommen zu können. Manchmal
schildern sie die Praxis als eine Art Gerüst oder Spalier,
welches die Durchführung der übernommenen Aufgabe stützt.
Die Bildung der Praxis erfolgt bei den einzelnen Vpn. mit
individuellen Verschiedenheiten. Bei mancher Vp. steht sie
geradezu im Mittelpunkt ihres Ringens um die rechte Lösung.
16) Vgl. Z. Ps. 77, S. 212ff. und »Das Problem der Willensmessung und
das Grundgesetz der Assoziation« in »Psychologische Forschung« Bd.I u.II.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 105
a) Erscheinungsweisen der Praxis.
Sie tritt in doppelter Form auf, entweder als bewußte in
ihren einzelnen Phasen erarbeitete Umstellungstätigkeit oder
als eine unbewußt wirksam gewordene Technik. Beide ver-
fallen allmählich einer Mechanisierung.
Die bewußt und aufmerksam geübte Praxis bei Vp. A.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß A mit fast nervöser
Anstrengung nach einer erfolgreichen Verhaltungsweise ringt. Am ersten
U,.-Tag konzentriert sich A nach zwei F.R. auf die Vokale, ohne das Wort
als Ganzes zu beachten; vergeblich. Im fünften Versuch scheint die rechte
»Aufgabeeinstellung« gefunden zu sein: Stelle die Vokale um und laß das
Wortgerüst so, wie es erscheint. Trotzdem Fehlversuch, weil die Konsonanten
mit hinübergleiten. Endlich, im sechsten Versuch trifft man in der V.P. den
Vorsatz: Erst den Konsonanten scharf beachten, auf den letzten Vokal über-
springen |
Diese Aufgabeeinstellung wird nun in den folgenden Versuchen 7, 8, 9,
11 und 12 erfolgreich und bewußt beobachtet. Der 10. Versuch mißglückt;
der 9. und 11. zeigen die in der H.P. von entscheidenden Einfluß für die
richtige Reaktion werdende Kontrolle störender Assoziationen. Die für U y.
gefundene Vw. wird am 2. U,.-Tag einfach reproduziert. Dafür sprechen der
erste, fünfte und achte Versuch. Der vierte Versuch enthält die Bemerkung:
Operativ umstellen! Für »Lösung« werden Bezeichnungen gebraucht wie:
»eigene Technik« (1. Versuch), »Ausführungstechnik« (12. Versuch).
In jeder V.P. erscheint ein Vorsatz, dieses Verhalten beizubehalten. Wo
natürlich der Inhalt der Vw. im Bewußtsein zurücktritt, weil Vp. A sich
einbildet, es werde auch so gehen, kann es zur F.R. kommen (5. Versuch des
8. U,.-Tages). Der dritte U,.-Tag ist auf die Erfahrung des ersten und
zweiten begründet.
Dem bisher geschilderten Bild entsprechen die Ergebnisse der U „.-Tage.
Der erste Tag setzt sogleich mit einem Gefühl der Unsicherheit ein,
weil Vp. »keine Technik der Ausführung hatte« (1. Versuch). In der Tat er-
folgt ein Fehlversuch, worauf dann die Instruktion als »etwas Räumliches«
erscheint. Aber schon im 3. Versuch desselben Tages fällt das »praktische
Verhalten« wieder aus. Dann tritt ein Streben auf, durch tastende Versuche
zum Lerngut hin sich unnütze Mühe zu ersparen; endlich ist das »rein geo-
metrische« Umstellen der Konsonanten gefunden (4. Versuch). Damit ist
auch die »praktische Aufgabeeinstellung« gegeben (5. Versuch). Im 12. Ver-
such tritt wiederum die Bezeichnung »geometrisches Umdrehen« auf. Die
11. Reaktionssilbe war in »mechanisoher Weises behandelt worden.
Der zweite U,.-Tag begann mit einem praktisch orientierten Vorsatz,
die Buchstaben in ganz bestimmter Weise zu behandeln; ein kleiner Miß-
erfolg im 2. Versuch ruft die Zusatzinstruktion hervor, die sich die Vp. selbst
gibt: Nicht zu stark auf den Buchstaben konzentrieren! Trotz der wieder-
holten Einprägung tritt eine F.R. ein, worauf eine Neueinstellung erfolgt:
Nimm den letzten Konsonanten, setze ihn vor den ersten Vokal, nicht vor
das Wort, lasse dann das andere ruhig ablaufen! (5. Versuch). Es gelingt
zwar, i.F.R. zu. vermeiden, nicht aber F.R. Die für Upg.» gebildete Vw.
106 Julian Sigmar,
scheint also nicht ganz vollkommen zu sein. Die rein geometrische Einstellung
des ersten Ux .-Tages, die nur zwei F.R. aufkommen ließ, darf also als eine
bessere angesehen werden.
Im 1. Versuch des 3. Uy.-Tages besteht noch kein »Beherrschen der
Aufgabe«; im 2.Versuch ist das »Schema«s ausgebildet, welches dann im
3., 4., 6. und 11. Versuch erfolgreich angewandt wird. Im 9. Versuch taucht
eine neue »gabelige Einstellung« auf; Vp. A will sich aus Bequemlichkeits-
rücksichten die Umstellungsarbeit ersparen, wofern eine homogene Silbe
kommen sollte. Auch am 3. U,.-Tag läßt sich nicht jede F.R. vermeiden,
wieder ein Zeichen, daß die gefundene praktische Vw. entweder nicht die er-
folgreiche ist, oder daß noch andere Momente für die richtige Lösung maß-
gebend werden können.
Vp. A gibt am Schluß zu Protokoll: »Ich nehme mir vor, die Aufgabe
schnell und richtig gemäß der Instruktion zu lösen. Es ist mir bewußt, daß
dieser Vorsatz zur richtigen und zuverlässigen Lösung der Aufgabe nicht hin-
reicht; denn es könnte gerade so gut vorkommen, daß ich trotz des Vorsatzes
ausgleite, wenn ich nicht etwas dazwischen schiebe. Dieses Dazwischenge-
schobene ist eine bestimmte, fixierte Ausführungstechnik, die mir wie in
einem Schema gegeben ist und die ich durch eine erhöhte Aufmerksamkeits+
konzentration unmittelbar vor dem Erscheinen des Reaktionswortes festzu-
halten bemüht bin. Gelingt es mir, so bin ich sicher, daß ohne erhebliches
willentliches Dazutun die gewünschte Reaktion stets richtig erfolgen wird.«
Bei Vp. B: Aus diesen Protokollen ist es nicht so leicht, die Praxis
festzustellen, da Vp. in der Selbstbeobachtung weniger geübt war. Immerhin
finden sich schon am 1. U,.-Tag Ausdrücke wie »mechanisch nach vorn
stellen« (1. Versuch), »m vor das a gestellt« (6. Versuch). Im 1. Versuch
des 2. U,-Tages findet sich schon die Angabe, Gegenstand ihrer Aufmerksam-
keit sei das von ihr gebildete Verhalten. Die Bildung der Praxis richtet sich
zunächst nur auf die erste Silbe, worauf wohl die 5 F.R. und die eine i.F.R.
des 1. U,.-Tages zurückzuführen sein werden. Der 1. U,.-Tag ist ganz wie
bei Vp. A ein Suchen und Ringen um die erfolgreiche Einstellung. B versucht
zunächst vergeblich, durch besonders starken Vorsatz ans Ziel zu kommen;
dann reflektierte sie im Lauf des Tages zu Hause über eine zu findende beste
Lösungsweise, wie sie im 5. Versuch des 1. U,.-Tages gesteht. Welche
»Praxis« aber gebildet wurde, kommt nicht zum Ausdruck; es heißt nur: In-
struktion war durchdacht (1. Versuch).
Der 2. und 3. U,. -Tag bestätigen obige Darstellung. Daß die »Praxis« eine
ganz besondere Tätigkeit ist, erhellt aus dem 4. Versuch des 2. U,- Tages:
»Dann Tätigkeit des Umstellens«. Daß sie ganz mechanisch werden kann, geht
aus dem 7. Versuch hervor: »negar gelesen, dann mechanisch umgestellt,
dann erst kam nager als gelernt ins Gedächtnis«. Im 10. Versuch findet sich
eine ähnliche Ausdrucksweise; im 12. heißt es: Umstellung fiel leichter, weil
sich keine assoziierte Silbe einstellte; mechanisch gehandelt. Fast ebenso
lautet das Protokoll des 5. Versuches am 3. U ,.-Tag.
Bei Vp. C: Die Angaben dieser Vp. sind infolge mangelhafter Gewandt-
heit in der psychologischen Ausdrucksweise spärlich. Dennoch dürften gerade
diese Protokolle sehr wichtig sein, weil es nicht gelungen ist, bei ihr auch
nur eine i.F.R. herbeizuführen. Daß die »Praxis« auch bei ihr vorhanden ge-
wesen ist, verrät schon die Bemerkung des 1. U„.-Tages (4. Versuch): »Auf-
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 107
gabe schon etwas mechanisch bewußt«e. Ebenso der 8. Versuch: »e nach vorn
geholt«. Am 2. U,.-Tag gibt C ausdrücklich an: »Ich ziehe den zweiten Vokal
an die erste Stelle« (4. Versuch). Im 7. Versuch heißt es: »Nachdem das a
hinübergezogen war«; im 8. gelingt die Umstellung schon durch mechanische
»Technik«. : l
Für eine individuelle Ausführungstätigkeit bei U x- sprechen der 3. Ver-
such des 1. Tages: »Vorgenommen, die Aufmerksamkeit auf die End- und
Anfangskonsonanten zu richten«, »Nachdem das g hinübergezogen war« — und
insbesondere der 12. Versuch: »Umgestellt; Vorsicht, als wenn ich Stäbchen
verschieben müßte, was man ja auch sehr vorsichtig tun muß«.
Die Bemerkung der Vp. C: »keine Einstellung auf eine Handlungsweise«
im 4. Versuch des 3. U,.-Tages und die zweifelnde Frage im 4. Versuch
des 2. Ux.-Tages: »Ob meine Methode auch die einfachste ist?« zeigen in
Anbetracht dessen, daß C keine i. F.R. gemacht hat, daß die »Praxis« nicht
die einzige Bedingung einer richtigen Reaktion sein kann. Dafür spricht auch,
daß Vp. A, die eine sehr gute Verhaltungsmethode zu haben glaubt, viel
schlechter gearbeitet hat als Vp. C.
Bei Vp. D: Hier müssen wir entscheiden zwischen der Methode bei
der Uy.- und bei der U,.-Tätigkeit. Die U,.-Praxis ist schon am ersten Tag
gefunden, und es kommt nur eine i.F.R. im 9. Versuch vor. Infolge ihrer
besseren Übung in der Selbstbeobachtung beschreibt diese Vp. ihre Vw. ein-
gehender. Sie gibt an, auf Grund einer »visuellen Lösung« zu reagieren, es
komme ihr vor, als wenn die beiden Vokale um den Mittelkonsonanten der
Reaktionssilbe wie mit einem Knipser umgedreht werden müßten«. D läßt
also die Vokale um den Mittelkonsonanten kreisen. Im 3. Versuch des 3. U',.-
Tages nennt D seine Vw. ganz wie Vp. A »Praxis«. Diese träte erst in der
Hauptperiode auf, während in- der V.P. mehr die theoretische Einstellung,
d. h. die Erinnerung an die Instruktion vorhanden sei.
Bei der U,.-Tätigkeit aber »holt sie den hinteren Konsonanten und stellt
ihn nach vorn hin. Der letzte Konsonant wird so während des Sprechens von
allein ergänzt« (6. Versuch des 1. Uy.- Tages und 7. Versuch des 2. Up..
Tages). Die Vw. tritt oft erst ins Bewußtsein infolge einer Erinnerung an die
Instruktion; das kennzeichnet eine Verschiedenheit von Instruktion und Praxis,
gleichzeitig aber deren gegenseitige Abhängigkeit.
Vp. D kennzeichnet die U,„.-Tätigkeit, die ihm leichter fällt, im 2. Ver-
such des 1. U,.-Tages: »Rein mechanisch eingestellt... umgestellt, indem
ich das o nach vorn schob«.
Die Angaben über die schwierigere Ux .-Tätigkeit werden zahlreicher.
Vp. D spricht von ihrem »Modus« (6. und 10. Versuch des 1. Uy.-Tages).
Im 8. Versuch heißt es: »Visuell-mechanischer Umstellungsmodus«, im 11. Ver-
such des 2. U,.-Tages führt sie das Wort »Umbau« ein. Wie ihre Vw. ent-
steht, gibt D im 1. Versuch des 3. U,.-Tages an: durch Erwägung der In-
struktion und Übung an einem fingierten Wort »Logik« wird die praktische
Vw. gebildet. Im 9. Versuch desselben Tages finden sich Redewendungen wie:
„visuelle Methode«, »an die praktische Vw. gedachte.
b) Die mechanisierte Praxis.
Gar nicht selten wird die Umstelltätigkeit vollzogen und
die Aufgabe richtig gelöst, ohne daß es eigentlich der Vp.
108 Julian Sigmar,
bewußt wird. Man kann das beobachten, wenn infolge von
Ablenkungen der Aufmerksamkeit die Umstellung fehlerfrei
vor sich geht, obwohl ein Fehler oder ein Versager eingetreten
sein müßte. ù
Beispiele: 11. Versuch des 2. Ux.-Tages. Vp. C. V.P. Froh, daß es
bald ist. H.P. unwillkürlich richtig gemacht. N.P. kontrolliert.
5. Versuch desselben Tages. V.P. Nicht sehr aufmerksam. H.P. trotz-
dem keine Schwierigkeiten beim Umstellen. N.P. ob Bügel wohl gelernt worden
ist? Nein!
Solche Beispiele legen die Deutung nahe, daß die Umstell-
tätigkeit schon zu einer mechanischen Gewandtheit geworden
ist, die ihren Weg auch ohne Leitung des Bewußtseins geht.
Dafür spricht auch, daß diese Art von mechanisierter Aus-
führungstätigkeit besonders zum Schluß der Versuchstage vor
Fehlreaktionen schützt.
Beispiel: 6. Versuch des 1. U,.-Tages. Vp. D. H.P. lugek. Die
Spannung verstärkt sich. Das ist ja wieder eins, das nicht gelernt ist! Dann
umgedreht zu leguk. Darauf berechtigte Zweifel an der Richtigkeit, dann um-
gestellt. N.P. Gemerkt, daß der Zweifel unberechtigt war. Die Aufgabe ist
mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich denke in der V.P. nicht mehr daran.
Auch jene Protokolle sprechen für eine mechanisierte Aus-
führungstätigkeit, welche angeben, daß die Umstellung ge-
fühlsmäßig, ohne Präsentation der Aufgabe vorgenommen wird.
Beispiel: 5. Versuch, 3. U,.Tag. Vp. C. V.P. Nur auf das Wort ge-
spannt, nicht an die Aufgabe gedacht. H.P. lafet gelesen, Umstellung gar nicht
schwer. N.P. Kontrolle. (Man beachte, daß es sich hier um eine heterogene
Aufgabe gehandelt hat, bei der die Umstellung zu lefat hätte schwer fallen
müssen.)
Der Prozeß der Mechanisierung scheint durch akusto-
motorische Vorstellungen unterstützt zu werden, die vom Lernen
am Gedächtnisapparat her wirken.
Beispiel: 9. Versuch, 1. U,.-Tag. Vp. C. Es ist die homogene Silbe
danor umzustellen. V.P. Etwas abgelenkt, Aufmerksamkeit auf das Brett vom
Kartenwechsler gerichtet. H.P. Das Wort kam, ich wußte, daß es als Um-
stellung gelernt worden war. Die Lernsituation machte sich akustisch geltend.
c) Die Verhaltungsweise in Konkurrenz mit
anderen Tendenzen.
Es ist natürlich, daß die Praxis bei allen homogenen Silben
eine Unterstützung durch Rp.-Td. erfahren kann. Daß die
Praxis auch an solchen Stellen angewandt wird, obgleich es
nicht nötig wäre, ist ein Beweis für die Kraft dieser Ver-
haltungsweise. Die Vpn. stellen lieber um, als daß sie sich der
frei aufsteigenden Assoziationen bedienen.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 109 .
Beispiel: 8. Versuch des 1. U,.-Tages. Vp. D. Homogene Silbe lafet.
V.P. Ich erwartete ein Wort, das mir Schwierigkeiten bereiten würde. H.P.
lafet, darüber Freude: Das ist ja bekannt! Gelesen; tafel stellte sich teils
als Ergebnis des akusto-motorischen, teils als Ergebnis meines visuell-mecha-
nischen Umstellungsmodus ein. Glücklich über das Gefundene.
Gegen die mechanisierte Tätigkeit tritt auch gelegentlich
die Ko. Td. auf, ein Vorgang, den G. G. Müller geschildert
hat (siehe oben S. 102).
Beispiel: 6. Versuch, 1. U,.-Tag. Vp. D. Homogene Silbe libeb. V.P.
festen Vorsatz gefaßt: jetzt läßt du dich nicht fangen! Dabei inklusive auch
an die Praxis gedacht, aber nicht ausdrücklich. H.P. Arm an Erlebnissen,
libeb — bibel drängte sich heran, abgelehnt. Du gehst nach deinem Modus
vor! Ich hole den hinteren Konsonanten und stellte ihn nach vorn. Der letzte
Konsonant wird dann während des Sprechens so von allein ergänzt. N.P.
Gefreut.
d) Beziehung der Praxis zur Determination.
Bei der großen Bedeutung, welche die Vpn. auf die
Bildung und Behauptung einer richtigen Ausführungstätigkeit
— Praxis — legen, und in Berücksichtigung der Tatsache,
daß jede Vp. ihre »Praxis« hat, wenn sie auch nicht immer be-
wußt ist, drängt sich einem die Frage auf: Was führt nun zur
erfolgreichen Reaktion, ist es die in der Aufgabe liegende
det. Td., wie Ach sagt, oder ist es die erworbene ‚Praxis,
wie die Vpn. behaupten.
Vp. A versichert ja ausdrücklich, das Gelingen der Re-
aktion hänge nicht von dem Vorsatz ab, die Aufgabe in-
struktionsgemäß zu lösen, sondern von ihrer Konzentration
auf die »Technik« (vgl. oben S. 106). Vp. B erklärt, Gegenstand,
ihrer Aufmerksamkeit sei nicht die Instruktion als solche;
sondern das von ihr gebildete Verhalten; ähnlich äußert sich
Vp. D.
Für diese Auffassung sprechen auch»einige Umstände, wie
der, daß die Instruktion bald ganz aus dem Bewußtseinsprozeß
der Vpn. tritt und nur die Erinnerung an die Vw. bleibt; daß
die Erinnerung an die Instruktion nicht bloß als unnütz, sondern
sogar als hinderlich empfunden werden kann, was allerdings
immer erst dann konstatiert wird, wenn die Vp. schon einige
Fertigkeit in der Lösungsweise erworben hat. Beispiele:
Beispiele: Vp. D, 3. Rp.-Tag, 1. Reaktion. ... H.P. redul als bekannt
festgestellt, dann an die Instruktion gedacht, sie innerlich wiederholt. Dann
kam nabél, aber noch nicht ausgesprochen; dann kam die Instruktion wieder.
Auf Grund des Erscheinens der Instruktion geprüft, weil ich fast das Ziel
. 110 Julian Sigmar,
vor lauter Instruktionen vergessen habe. Dann laut: Das ist doch
sonderbar. N.P....
Vp. K, 1. U,.-Tag, 8. Reaktion. Die heterogene Silbe nodaw erscheint
V.P. Ziemlich ausgeprägter Vorsatz, den Rekord zu leisten. H.P. Etwas über-
rascht, ein Moment des Stutzens vorgekommen, als das Wort erschien. Die
Umstellung ist vollzogen worden unter deutlicher Trennung der 1. und 2. Silbe,
dabei ein Gefühl des Komischen über die Lautbildung (Nadow). N.P. Nichts
Besonderes, wenn ich sagte: Ein Moment des Stutzens! so Bene ich, der
Vorsatz hat mich gestört.
Die Geringschätzung der Instruktion durch die Vpn. ist
natürlich unberechtigt; sie würden niemals ihre »Praxis« haben
bilden können ohne eine bestimmte Instruktion.
Jedoch führt diese nicht allein zur Lösung, es kommt auf
das »Wie« der Ausführung an. Die Instruktion gibt daher
den Anstoß zur Bildung einer Vw. und bestimmt durch die in
ihr liegende Zielrichtung den Ausbau derselben.
Die »Praxis« ist eine optisch-motorische Vorstellung, nach
der Erlebnisseite als eine wirkliche »Tätigkeit«, eine geleistete
Arbeit zu bezeichnen.
Nach Verlauf einer verschieden langen Zeit verfällt die
»Praxis« einem Mechanisierungsprozeß infolge allmählichen Aus-
falls von Teiltätigkeiten und -vorstellungen, wobei es zur
Bildung eines Tätigkeits-Schemas kommt. Die Instruktion kann
daher dem Bewußtseinsbereich entschwinden, ohne daß es zu
F.Rn. führt.
Da vorhin die Ko.Td. als Bedingung richtiger Reaktionen
genannt wurde, hier aber dieser Anspruch von der »Praxis«
erhoben wird, so müssen zunächst die weiteren Resultate er-
örtert werden, ehe die Frage entschieden werden kann.
e) Literatur.
1. G. E. Müller widmet der »Verhaltungsweise« eingehende Darstellung,
wobei ihr Entstehen, ihr Auftreten und deren Arten erörtert werden 17). Auch
die »mechanisierte Praxis« wird erwähnt: Bei einer vielfach wiederholten
Darbietung ein und derselben Aufgabe an verschiedenem Versuchsmaterial
bildet sich zwischen der Vorstellung der Reaktionsgelegenheit und dem zweck-
mäßigen Verhalten eine unmittelbare Assoziation, wodurch für die weiteren
Versuche das nochmalige Auftreten der Aufgabevorstellung ausgeschaltet wird
(vgl. das »Gesetz der Ausschaltung« a. a. O. S. 450).
2. Eine deutliche Bestätigung der oben gegebenen Erscheinungsweisen der
»Praxis« bringt die in vieler Hinsicht bedeutsame Arbeit von Kurt Lewin3®).
17) Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit, III. Teil, Leipzig 1913, S. 440, 445.
18) a. a O. Psychol. Forschung I, S. 200 ff.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 111
Seine Versuche betrafen das Grundgesetz der Assoziation. Das Material,
welches uns hier interessiert, enthalten die Versuchsanordnungen I und IV.
In der ersteren wurden Silbenreihen gelernt, wozu bis 270 Wiederholungen
angewandt wurden; das Lernen währte so lange, bis daß im freien Rezitieren
eine Maximalgeschwindigkeit erreicht war. Gemäß dem Assoziationsgesetz
mußte nun erwartet werden, daß im Fall der Darbietung einer der gelernten
Silben eine starke Neigung entstehen würde, die darauffolgende gelernte Silbe
auszusprechen; es war mit i.F.Bn. zu rechnen.
In Prüfungsreihen wurden nun die ungeraden gelernten Silben vermischt
mit neutralen Silben dargeboten, die zwar bekannt, jedoch nicht mit einer
anderen Silbe assoziiert eingelernt waren. Trotzdem zahlreiche Prüfungs-
reihen veranstaltet wurden, blieben die zu erwartenden Fehlreaktionen aus,
eine einzige ausgenommen. Dieses Ergebnis widersprach den Voraussetzungen
des 'Assoziationsgesetzes.
In einer anderen Versuchsreihe, IV, wurden wiederum zunächst Silben-
reihen von dem Muster »tel-del, kur-gur ... .« gelernt (Reimreihen) und Silben-
paare von dem Muster »pon-nop, zar-raz .. . « (Umstellreihen). Als Prüfungs-
reihen wurden zunächst 4 Reimsilben mit der Instruktion »Reimen« dargeboten,
dann die gleichen Silben in anderer Reihenfolge nochmals bei derselben In-
struktion, jedoch wurde diesmal als 3. Silbe eine Umstellsilbe eingeschoben.
Trotzdem nur 8 Wiederholungen vorausgegangen waren, trat bei der ersten
in die Reimsilben eingestreuten u-3ilbe eine Fehlreaktion auf.
Die Erklärung dieser widersprechenden Resultate der Anordnungen II
und IV gehört noch nicht hierher, wir haben sie nur bekanntgegeben, weil
sie die Grundlage bildet, auf welcher Lewin zu der Erkenntnis zweier,
ihrer Natur nach voneinander verschiedener Verhaltungsweisen kam, die er
als konstruierende und reproduzierende Ausführungstätigkeit bezeichnete 19).
Der »konstruierende« Habitus zeigt mehrere Erscheinungsarten. Es ent-
steht beim Einüben der Reimtätigkeit aus der Reizsilbe ein »Diagramm«, aus
dem die umzustellenden Buchstaben heruntergeholt werden; oder die gesuchte
Silbe kommt wie von selbst, wobei aber der 1. Buchstabe von den andern
irgendwie unterschieden ist, oder indem sich in der Silbe zwischen dem 1.
und 2. Buchstaben ein Wendepunkt bemerkbar macht. Beim Umstellen wird
die Reaktionssilbe von der Reizsilbe rückwärts abgelesen. In andern Fällen
kann man von einer symmetrischen Neubildung sprechen, wobei die Buch-
staben 1 und 6, 2 und 5, 3 und 4 in der Beziehung der Gleichheit stehen. Die
beiden mittleren Konsonanten (3 und 4) bekommen dabei häufig den Charakter
als Doppelkonsonanten, z. B. als nn oder rr. Jedenfalls ist die konstruierende
Verhaltungsweise dadurch charakterisiert, daß die zweite Silbe stets wieder
neu auf einem Wege gewonnen wird, der in direktem Zusammenhang mit der
Aufgabe steht.
Dem gegenüber steht eine andere Tätigkeits- oder Verhaltungsweise, die
ebenfalls zum Ziel »Reimen« oder »Umstellen« führen kann, aber nicht durch
stets wieder neu einsetzende Tätigkeit, sondern durch Reproduzieren;
es wird gedächtnismäßig aufgesagt, ähnlich wie bei den Trefferversuchen. Die
einzelnen Buchstaben der Reaktionssilbe stehen in keinem Erlebniszusammen-
hang zur Reizsilbe. Es wird lediglich eine optisch oder akustisch von selbst
19) Psych. Forschung, II. Bd. S. 71 ff.
112 Julian Sigmar,
auftretende Silbe genannt, während im konstruierenden Modus die Silbe »er-
baut« wurde; oder die Reizsilbe wird nur Anlaß zum Wiedersehen und Aus-
sprechen eines vorher erlebten Silbenpaares.
Diesen Ausführungsarten ist gemeinsam, daß die zweite Silbe auf einem
Wege gewonnen wird, der auf eine frühere Aufeinanderfolge beider Silben
Bezug nimmt.
Wir können noch hinzufügen, daß Lewin auch die Mechanisierung der
Ausführungstätigkeiten beobachtet hat. Das Wiederholen der bei einem
früheren Mal genannten folgenden Silbe oder das Wiederholen einer früheren
Tätigkeit als Ausführungstätigkeit wird noch dadurch begünstigt, daß die sub-
jektiven Unterschiede zwischen dem Reimen und Umstellen mit steigender
Mechanisierung sich dauernd zu verringern pflegen. Bei mittlerer Übung wird
z. B. als Unterschied nur noch angegeben: »Beim U fahre ich nach dem Lesen
nach rechts weiter fort, beim Reimen muß ich wieder nach vorn zurück-
kehren< (Vp. G). Auch die Strukturverschiedenheiten können immer mehr
schwinden. Vp. H gibt als Beschreibung der Tätigkeiten an: »Es ist schwer
zu entscheiden, was ich tue; es geht sehr mechanisch.«
Beim Lesen der Darstellungen Lewins fällt die Ähnlich-
keit mit den in unseren Untersuchungen gemachten Beobach-
tungen der Praxis leicht ins Auge. Wir haben bisher allerdings
nur die konstruierende Verhaltungsweise feststellen können, weil
zur Behandlung der reproduzierenden Tätigkeit an dieser Stelle
noch keine Veranlassung (vgl. $11). Das Ruxsche Versuchs-
material läßt aber auch solche Unterschiede zutage treten,
welche innerhalb der konstruierenden Verhaltungsweise be-
stehen können. Es kommt, wie unsere Vpn. gesagt haben, nicht
bloß auf das Konstruieren, das Tätigsein und Arbeitsleisten an,
sondern auch auf die rechte Ansatzstelle für die Tätigkeit,
über die sie sich nicht so leicht klar werden wie die Lewin-
schen Vpn. bei ihren dreibuchstabigen Silben.
$ 5. Die Hingabe.
Mit diesem Namen bezeichnen die Vpn. eine Verhaltungs-
weise, in der sie ganz in der Lösung der Aufgabe aufzugehen
pflegen. Sie brauchen auch den Ausdruck »Hinwendung«, »hohe
Konzentration« dafür. Nachdem wir schon vorhin einige Be-
dingungen der richtigen Reaktionen angeführt haben, ist es
nötig, darauf hinzuweisen, daß die Vpn. glauben, im Zustande
der Hingabe am sichersten einen Erfolg zu erzielen.
1. Merkmale. a) Charakteristisch ist in der Hingabe
das sofortige Ansetzen mit dem Umstellen. Sofort handeln!
heißt da die Devise. Vergleiche 9. Vers. 3. Ux.-Tag, Vp.C. Es
erscheint die neutrale Silbe ralem.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 113
V.P. Ich habe mich sehr dicht an den Schalter gesetzt, aber nicht an
die Aufgabe gedacht. H.P. ralem wird erkannt, und es beginnt sofort die
Tätigkeit, ohne an die Aufgabe zu denken. Ich sehe schärfer die Vokale als
die Konsonanten an. N.P. Befriedigung.
11. Versuch, 1. Ux-Tag. Vp. D. Neutrale Silbe nagew. V.P. Kein be-
sonderes Gefühl, auf das Kommende gespannt. H.P. nagew erkannt. Tendenz:
Was war doch dazu gelernt?! Abgelehnt, gleich ans Umstellen gegangen...
N.P. froh, der Gefahr entronnen zu sein.
b) Die Aufmerksamkeit ist ganz absorbiert von der Auf-
gabe und ihrer Lösung. 8. Versuch, 3. Uk-Tag, Vp. B. Hetero-
gene Silbe mesol.
V.P. starke Aufmerksamkeit; intensives Hinsehen, absichtliches Zurück-
drängen aller störenden Gefühle und Gedanken. Zielbewußtsein. Leichtes
Spannungsgefühl über den Augen. H.P. mesol, sogleich auf mosel gekommen,
unterdrückt, umgestellt, nicht besonders schwer. N.P. zufrieden!
c) Die Konzentration ist so hoch, daß die Umstellungs-
tätigkeit auch an homogenen Silben ausgeübt wird, ohne daß
die Rp.-Tendenz sich vor oder nach der Umstellung geltend
macht.
5. Versuch, 2. Uy-Tag. Vp. A. Homogene Silbe piras. V.P. Ich er-
innerte mich an die Aufgabe: Dann sollst Du den ersten Buchstaben fest-
halten und dann auf den zweiten Vokal überspringen. H.P. Es wurde so ge-
macht, wie vorgenommen. Enttäuscht über die überflüssige geistige An-
strengung.
10. Versuch, 3. U- Tag. Vp. A. Homogene Silbe fesul. V.P. Wie ge-
wöhnlich. H.P. Etwas enttäuscht über das lange f, aber es muß gehen! Um-
gestellt, dabei neu konzentriert, aufgerafft. Nicht leicht gewesen. Fusel.
N.P. Erfüllungsbewußisein.
d) Selbstverständlich gehen mit der Hingabe Anstrengungs-
und Spannungsempfindungen oft parallel.
7. Versuch, 2. U,- Tag. Vp. A. Homogene Silbe gebal. V.P. Besonders
starker Vorsatz, weil vorher falsch reagiert. H.P. entsprechend dem Vorsatz
gehandelt; was hinter gabel kam, war gleichgültig. N.P. Erleichterung, Ent-
spannung.
e) Infolge der starken Konzentration auf die Umstellungs-
arbeit werden Vorstellungen, die sich aufdrängen, zurück-
gewiesen.
Dies geschieht besonders gegenüber aufsteigenden freien
Assoziationen und anderen Reaktionsmöglichkeiten.
11. Versuch, 2. Uy-Tag. Vp. D. Heterogene Silbe selam. V.P. ziemlich
aufmerksam: laß Dich nicht verleiten, ein Wort, das sich aufdrängt, aus-
zusprechen .. .
6. Versuch, 1. Ug-Tag. Vp. D. Homogene Silbe libeb. V.P. Festen
Vorsatz gefaßt, jetzt läßt Du Dich nicht fangen! Dabei inklusive auch an die
Praxis gedacht, aber nicht ausdrücklich. H.P. arm an Erlebnissen, libeb — bibel
drängte sich heran, abgelehnt. Du gehst nach deinem Modus vor! Ich hole
Archiv für Psychologie. LII. 8
114 Julian Sigmar,
den hinteren Konsonanten und stelle ihn nach vorn. Der letzte Konsonant
wird dann während des Sprechens von allein ergänzt. N.P. gefreut.
2. Über die Bedingungen des Auftretens der
Hingabe.
Wir können die Merkmale dieser Vw. kurz darin zusammen-
fassen: Mißtrauisch bleiben, daher immer umstellen und
sofort handeln!
Woher kommt nun diese Einstellung? Ist sie nur eine
Gradsteigerung der Aufmerksamkeit und Konzentration oder
ist sic etwas von der Konzentration Verschiedenes. Die starke
Einschränkung des Blickfeldes auf die für eine richtige Lösung
maßgebenden Punkte sowie die Spannungsempfindungen dürften
die Hingabe in eine Verwandtschaft zu Aufmerksamkeits-
erscheinungen bringen. Andererseits waren unschwer Lösungen
zu beobachten, die kein Anstrengungserlebnis aufwiesen.
2. Versuch, 2. U,- Tag. Vp. C. Die heterogene Silbe rakif. V.P. Nicht
sehr aufmerksam. Abgelenkt. H.P. Überlegt, daß ich Vokale umstellen soll.
Umgestellt, Wort rakif als gelernt erkannt. N.P. An fakir gedacht.
Vielleicht können die Bedingungen, unter denen die Hin-
gabe entsteht, dazu beitragen, die obige Alternative zu ent-
scheiden.
Entweder kommt die Vp. nach mancherlei Irrwegen zu
der Überzeugung, es sei am besten, sofort ans Umstellen zu
gehen und alle sonstigen Vorstellungen abzulehnen, oder die
Vp. gerät, ohne es zu wissen, infolge einer soeben gelösten,
aber schwierigen Aufgabe in eine Anstrengungslage hinein.
Wenn dann neutrale oder gar homogene Silben folgen, bei
denen doch jede Anstrengung überflüssig wäre, so wird un-
geachtet dessen gemäß der soeben eingetretenen Anstrengungs-
lage weiterhin gearbeitet und die Nutzlosigkeit der Arbeit erst
später eingesehen. Es ist dies ein Vorgang, den Hillgruber
durch das sogenannte Schwierigkeitsgesetz der Motivation aus-
gedrückt hat: »Die Schwierigkeit einer Tätigkeit ist das Motiv
für eine stärkere Willensanspannung bzw. Aufmerksamkeits-
konzentration in dem Sinne, daß mit der Schwierigkeits-
steigerung triebartig die Willensanspannung zunimmt«?°). Dieser
Bewußtseinszustand hat allerdings eine Achillesferse insofern,
als er unbemerkt auftritt und, weil in seiner Bedeutung von
20) Fortlaufende Arbeit und Willensbetätigung, Leipzig 1912, S. 46.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 115
der Vp. nicht erkannt, bald wieder schwindet; daher kommt
es zu neuen F.R. trotz vorher spontan aufgetretener Hingabe.
Wenn die Vp. sich längere Zeit mit anhaltender, gleicher
Anstrengung um die Lösung bemüht, ihren Vorsatz immer
energisch durchzuführen versucht, gelangt sie schneller in die
Vw. »Hingabe«. Sehr lehrreich ist hierfür der 2. Uv.-Tag der
Vp. A.
Ist damit auch zugegeben, daß in der Hingabe ein starkes
determinatives Moment liegt, so kann doch nicht behauptet
werden, daß die Determination ausschließlich an die Hingabe
geknüpft ist. Ein Streben zum Ziel der Aufgabe ist ja, wie
die Analyse ergibt, in fast allen Versuchen erkennbar; nur
führte es nicht immer zum Ziel. Die Hingabe scheint, bildlich
gesprochen, der Schlüssel zu sein, welcher der Determination
die Tür zum Erfolg öffnet.
Das Verhältnis der Hingabe zur Aufmerksamkeit und Kon-
zentration kann übrigens nicht eher behandelt werden, bis daß
über die Beziehungen der Aufmerksamkeit und ihren Anteil
an erfolgreichen Reaktionen Klarheit geschaffen ist.
8 6. Ist die Aufmerksamkeit eine Bedingung der richtigen
Reaktion?
Bekanntlich sprach O. Selz die Vermutung aus, das asso-
ziative Äquivalent messe nicht so sehr die Willensstärke der
Vp., sondern vielmehr ihre Fähigkeit zur Aufmerksamkeits-
konzentration ?1). Man kann es verstehen, daß Selz unter
dem Eindruck, den die Aufmerksamkeitserscheinungen auf den
aralysierenden Psychologen machen müssen, zu dieser Ansicht
kam. Jedoch hat schon Lindworsky zum Ausdruck ge-
bracht, daß der Begriff »Aufmerksamkeits-Konzentration« zu
allgemein und daher mißverständlich sei. Hier müsse wenigstens
zwischen der Aufmerksamkeit in der Vorperiode und jener in
der Hauptperiode unterschieden werden ??). In der Tat ist die
Diskussion des Sachverhalts durch die Einführung des Auf-
merksamkeits-Problems nicht erleichtert worden, und es ist
Zeit, die Rolle zu prüfen, welche die Aufmerksamkeit bei der
Lösung der Aufgaben spielt, und zu einer klaren Einsicht in
ihr Wesen zu kommen.
21) Z. Ps. Bd. 57, S. 253 ff.
22) Wille, 1. Aufl. S. 121 f.
116 Julian Sigmar,
Der Begriff »Aufmerksamkeit« stammt wie mancher andere
aus der Popularpsychologie, und es ist verständlich, wenn von
maßgebender Seite auf seine Beseitigung oder gründliche Ana-
lyse gedrängt wird 23).
Bei einem in der lebenden Volkssprache gebildeten psycho-
logischen Begriff ist für seine Bedeutung immer der Sinn des
in ihm steckenden Tätigkeitswortes maßgebend; »Aufmerksam-
keit« besagt also »aufmerken«. Wenn man den Worten ihre Be-
deutung lassen will, so ist Aufmerksamkeit das Richten der
für die Erfassung und Auffassung eines Gegenstandes oder
Vorganges maßgebenden Sinne auf denselben. Ist das Ziel der
Auffassung eine mögliche Veränderung an dem Gegenstand, so
kann für Aufmerksamkeit auch »Erwartung« gesagt werden.
Der Grad der biologisch oder intellektuell bedingten Erwartung
macht sich in einem Spannungs- und Konzentrationsgefühl be-
merkbar. Insofern man nach Belieben auf den oder jenen
Gegenstand oder Vorgang aufmerken kann, spricht man von
einer willkürlichen Aufmerksamkeit. Es gibt aber auch
eine unwillkürliche Aufmerksamkeit, insofern als unsre Sinne
auch gegen unsern Willen auf etwas gelenkt bzw. durch etwas
abgelenkt werden können. Diese Anziehungskraft, welche ein
Gegenstand auf unsere Aufmerksamkeit auszuüben vermag, ist
nicht bloß durch seine Intensität bedingt, sondern auch durch den
biologischen Wert, den er für ein Individuum hat. Wir werden
im folgenden alle Erscheinungsweisen der Aufmerksamkeit, wie
sie in den Reaktionen zum Ausdruck kommen, und ihre Be-
ziehungen zur erfolgreichen Lösung in Betracht ziehen.
1. Inhalt und Richtung der Aufmerksamkeit.
a) in der Vorperiode:
Die Aufmerksamkeit ist wesentlich auf das »Kommende« gerichtet; das
»Kommende« sind nicht bloß die erscheinenden Silben, die oft geradezu mit
Neugierde erwartet werden, sondern auch Teilqualitäten des Reizwortes, z.B.
Schriftzüge, Länge der Buchstaben usw., ferner auch »das zweckmäßigste
Verhalten« bei der Lösung der Aufgabe. Dementsprechend erscheint in der
V.P. manchmal ein unbestimmtes Bild von einer Silbe, an der die Tätigkeit
ausgeübt werden soll.
Es ist natürlich, daß der Vorsatz ausdrücklich oder wenigstens als Be-
wußtheit in den Blickpunkt tritt. Zur Befestigung in der rechten Aufmerksam-
23) Vgl. Sanders Besprechung der Arbeit v. A. Moers, Untersuchung
über das unmittelbare Behalten... und über das dabei auftretende totale
und diskrete Verhalten der Aufmerksamkeit Z. f. Ps. Bd. 91, S. 307 ff.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 117
keitslage treten dann subordinierte Kommandos auf wie: Laß Dich nicht
verwirren! — Halt, paß auf! Auch Teilvorsätze wie: »Schnell reagierenl« —
»In den Trichter sprechen!« beabsichtigen die Vermeidung von Ablenkungen.
Damit hängt auch die Einstellung des Blickes auf den Schlitz im Karten-
wechsler zusammen. Es finden sich auch Vorsätze, alles zu unterdrücken,
was gegen die Vw. und die beabsichtigte Umstelltätigkeit sich richten könnte.
Verschiedene V.P. sind ganz leer, die Vp. weiß nichts zu Protokoll zu
geben; dennoch besteht eine zielbewußte Willensrichtung weiter, wenn auch
nicht reflexiv. Im 9. Versuch des 3. Uy-Tages. Vp. C heißt es: V.P. Ich
habe mich sehr dicht an den Schalter gesetzt, habe nicht an die Aufgabe
gedacht.
b) In der Hauptperiode:
Inhalt der Aufmerksamkeit in der H.P. ist das Auffassen der er-
scheinenden Reizsilbe, ferner ein Suchen nach dem rechten Umstellungsmodus
bzw. der bequemsten Art, zum Ziel zu kommen; daran schließt sich oft ein
Vergleich des umgestellten Wortes mit der Aufgabe. Die Schwierigkeiten, die
besonders in heterogenen Aufgaben liegen, werden gefühlt, womit eine
Steigerung der Aufmerksamkeit verbunden ist.
Nach den Angaben der Vpn. verstehen sie also unter Auf-
merksamkeit das Gerichtetsein der in Betracht kommenden
Sinne auf die am Kartenwechsler zu erwartenden Verände-
rungen, auf die Reizsilbe und die an dieser auszuübende
Tätigkeit. Dabei besteht eine mehr oder weniger deutliche Vor-
stellung von der Reizkarte und der Instruktion, die wenigstens
als unanschauliche Bewußtheit gegeben ist.
2. Erwartung und Spannung.
Sehr bald haben die Vpn. den Eindruck gewonnen, daß sie durch die
Vorgänge am Kartenwechsler eine Überraschung erleben können. Daher setzt
in der V.P. bald eine bis zur Spannung getriebene Erwartung ein. Der Inhalt
der Erwartung ist »das Kommende«: Reizsilbe, Schrift- und Druckab-
weichungen, die manchmal in einer Art Überempfindlichkeit an allen möglichen
Stellen gesehen werden. Unausgesprochen liegt auch die Erwartung irgendeiner
Umstellungstätigkeit vor, was sich nach der Gefühlsseite als freudige Er-
wartung bemerkbar macht, wenn die vorhergehenden Versuche glatt gegangen
sind, als quälende und mißtrauische Erwartung, wenn die Vp. trotz besten
Willens von den Schwierigkeiten überwältigt worden ist. Die Erwartung ist
oft so gesteigert, daß die Vpn. Spannungsempfindungen melden, und zwar
sprechen sie davon öfter als von der Erwartung. Die Spannungsempfindungen
werden über den Augen, an der Stirn und in der Brust gefühlt. Nach der
Reaktion erfolgt dann ein befreiendes, tiefes Aufatmen.
Es ist nicht ohne Interesse festzustellen, auf Grund welcher
Bedingungen die Spannung entsteht.
1. Vp. C meldet am 3. U,- Tag sehr oft Spannung und lebhafte An-
teilnahme an den Versuchen, weil die u,-Silben ihr so sympathisch seien.
2. Aber nicht nur die Leichtigkeit einer Arbeit, sondern auch ihre
Schwierigkeit kann höhere Spannung hervorrufen, z. B. jene Schwierigkeit,
118 Julian Sigmar,
die eine Umstellbarkeit an sich macht. Meist wird von den Vpn. die U x-
Tätigkeit als schwieriger bezeichnet. Eine andere Art von Schwierigkeit bleibt
oft bestehen nach einer vorausgegangenen heterogenen Tätigkeit und greift
auf die nächstfolgende Silbe über, auch wenn sie leichter ist. Vorausgegangene
Fehlresktionen erhöhen auch die Spannung in den folgenden Versuchen. Vor
allem ist es der dauernde Wechsel von leichten homogenen, schwierigen
heterogenen und mittelschweren indifferenten Aufgaben in einer Versuchs-
reihe, der die Vpn. aus einer gemütlichen Stimmung zu mißtrauischer Span-
nung aufrüttelt.
3. Die Konzentration.
Wir verweisen hier auf die gelegentlich der »Hingabe« an-
geführten Beispiele auf S. 113f., woraus das Wesen der
Konzentration unschwer zu erkennen ist. Sie besteht in einem
Hinwenden und Einstellen der entsprechenden Sinne auf das
gestellte Ziel und in einem Zurückdrängen aller störenden Ein-
drücke, seien es unerwünschte assoziierte Silben oder ganze Ge-
dankengänge, oder gar Gefühle. Die Vp. will das alles nicht
beachten oder aufkommen lassen. Als Beispiele mögen hier
angeführt werden:
3. Versuch, 1. Rp.-Tag. Vp. C. V.P. fester Vorsatz, ich will alle fremden
Gedanken ‚ausschalten!
5. Versuch, 3. Ug- Tag. Vp. D. Homogene Silbe nodeb. V.P. gut ein-
gestellt, besonders die Aufmerksamkeit war überschwellig. Schlitz fixiert,
dabei die Befürchtung, der Schlüssel würde umfallen. Aber ich sagte: Gib
nicht darauf acht! |
10. Versuch, 1. Rp.-Tag. Vp. A. V.P. Eine Reihe Wörter tauchte auf,
weil die vorige Reaktion mich doch enttäuscht hat. Es drängen sich Hilfs-
silben auf. Abgelehnt, weil gegen die Instruktion.
Mit der Konzentration geht auch eine Einengung des Blick-
feldes einher, in dem Sinne, daß weder das Summen des Chromo-
skops noch die Person und Hantierung des Versuchsleiters
wahrgenommen wurde. Von der Stärke und Aufdringlichkeit
. störender Reize und Vorstellungen scheint es auch abzuhängen,
ob sich mit der Konzentration Spannungsempfindungen ein-
stellen, die im allgemeinen als unangenehm empfunden werden:
Beispiel: 8. Versuch, 1. U ,-Tag. Vp.C. Heterogene Silbe ludep.
V.P. Was kommt jetzt? Diese kleinen Sachen sind doch aufregend! H.P. Ich
machte die Umstellung, hatte dabei Schwierigkeiten. Große Konzentrationen,
e nach vorn geholt, darauf geachtet, daß der Konsonant stehen blieb. N.P.
Zufrieden!
Während die Spannung als Begleiterscheinung einer hohen
Erwartung auftritt, welche mehr aus den die Aufmerksamkeit,
von selbst fesselnden Vorgängen und Tätigkeiten am Karten-
wechsler entsteht, liegt im Wesen der Konzentration das Hin-
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 119
wenden auf die Hauptsache der Tätigkeit, ein Zurückdrängen
von Nebeneindrücken, eine Einschränkung des Blickfeldes. Die
Konzentration ist daher willkürlich geleitete Aufmerksamkeit.
4. Ablenkungen.
Nicht alle Vpn. zeigten ununterbrochen währende, gleich-
mäßige Aufmerksamkeit. Bei Vp. C fehlte die Aufmerksam-
keit in der V.P. fast immer. Auch die übrigen Vpn. haben in
vielen Fällen nicht sagen können, daß sie Aufmerksamkeit ge-
übt hätten. Nichtsdestoweniger sind solche Versuche gelungen;
bei Vp. C ist nicht eine einzige intendierte Fehlreaktion ein-
getreten; der Mangel an Aufmerksamkeit in den V.P. macht
sich nur in einer Verlängerung der Zeitwerte bemerkbar.
Die Ablenkungen der Aufmerksamkeit werden durch ver-
schiedene Ursachen veranlaßt:
a) Zahlreich sind die Mitteilungen über ablenkende Schriftzüge. Vp. A
meldet, daß die Schriftzüge von rüteg, besonders das g und ü abgelenkt
hätten (11. Versuch, 3. U,-Tag). Im 3. Versuch desselben Tages
soll das w abgelenkt haben. Vp. D teilt mit, daß das ü gefallen habe
(4. Versuch, 2. U x- Tag). Die eigentümliche Schreibweise des »nodaw«
erinnert die Vp. A an englische Buchstaben, dabei vergißt sie die
Instruktion und reagiert falsch.
b) Ablenkende Einflüsse können sich auch geltend machen, wenn die
Reizsilbe wiederholt innerlich gelesen wird. Dabei drängt sich das
hinzugelernte Wort in den Vordergrund und führt zur F.R.
c) Natürlich können auch störende Geräusche, die in näherer oder ent-
fernterer Umgebung von der Vp. entstehen, ablenken, z. B. ein Knistern
am Apparat oder das Fallen eines Gegenstandes oder ein unerwarteter
optischer Eindruck.
d) Stark ablenkenden Einfluß vermögen Reizsilben auch auszuüben, deren
Stamm an einen Ort oder einen Gegenstand erinnert, welcher wesent-
licher Bestandteil einer Gesamtsituation ist. Beispielsweise fühlt sich
Vp. D durch »losem« an »Mosel« erinnert. Das ist ja nichts Auf-
fallendes, da »losem—mosel« gelernt worden war; aber Vp. ist
aus Trier a. d. Mosel und sieht sofort den heimatlichen Strom vor
sich, worauf eine i.F.R. eintritt. Ähnlich geht es derselben Vp. mit
»ledon«, das an »London« erinnert. Vp. C wird durch die Reizsilbe
telar an Talar erinnert und reagiert falsch.
e) Wenn die Umstellung einiger Silben sinnvolle Worte ergeben hat, kann
das ebenfalls ablenkend wirken, weil eine Neigung hervorgerufen wird,
bei der folgenden heterogenen Silbe wiederum ein sinnvolles Wort zu
bilden.
z. B.: Die 1. Reaktion im 3. U,-Tag bei Vp. D ergab »losem« —
»Mosel«; die 2., eine neutrale Silbe ribeb, ergab biber; die 3. hetero-
gene Silbe »ledon« wurde instruktionswidrig zu »loden« umgestellt.
120 Julian Sigmar,
f) Zwischen der .Reizsilbe und der umgestellten Silbe bildet sich manch-
. mal unvermerkt eine neue Assoziation, die ungelegene F.Rn. veran-
lassen kann. Weil einmal nedal zu nadel umgestellt worden war, trat
dieses sinnvolle Wort später störend auf. Besonders oft machte sich
das von selbst entstandene Wort »luder« und »krokodil« geltend (aus
redul bzw. rokil).
Zusammenfassend können wir sagen: Ablenkungen werden
verursacht durch Geräusche, durch innerliches Lesen, infolge
ästhetischer Wirkung der Schriftzüge, aus der Tendenz nach
sinnvoller Einheitlichkeit der Reaktionen. und wofern die Silben
an Worte erinnern, die Bestandteile einer Situation) sind.
5. Verhältnis der Aufmerksamkeit und Konzentration zu rich-
tigen Reaktionen.
Im 5. Versuch des 3. U, - Tages soll Vp. A die heterogene
Silbe »gebal« umstellen. Es gelingt ihr nicht. Das Protokoll
dazu besagt:
V.P. ganz scharfe Konzentration auf meine Technik, aus Vor-
sichtsgründen. H.P. »gebal« gelesen, umgestellt, darauf ein Versprechen. N.P.
Bedauern, Gefühlsbewegung, resignierter Ärger, gelacht.
Solche Fälle, die sich beliebig vermehren ließen, lassen von
vornherein berechtigte Zweifel an der Bedeutung der Konzen-
tration für eine richtige Lösung aufkommen. Diese Vermutung
wird dadurch bestätigt, daß in 39 Fällen Fehlreaktionen
trotz deutlich ausgesprochener Aufmerksamkeit einge-
treten sind, während 33 richtige Reaktionen erfolgten trotz
offenbarer Ablenkungen. (Immer in heterogenen Aufgaben.)
Die Fälle haben ungefähr alle folgenden Charakter:
V.P. gut eingestellt, gespannt, sonst leer. H.P. piras, sofort
Paris. Diese Assoziation war so fest, daß ich hineinfiel und das Prüfen ver-
gaß. Während des Aussprechens innerlich gesagt: Du bist ja wieder herein-
gefallen! (Vp. D, 8. Versuch, 3. U x-Tag.) Dagegen: Vp. B, 2. U,-Tag
9. Versuch, heterogene Silben libeb. V.P. Ich wurde durch eine private Auf-
gabe abgelenkt. H.P. libeb, sofort Bibel. Abgelehnt, weil es nicht stimmte,
dann umgedreht. N.P. Befriedigt.
Auch der Einfluß der Spannung auf das Gelingen der Re-
aktion entspricht nicht dem in ihr liegenden Aufwand an
Kraft. Im seen wirkt die Spannung eher als ein Re-
24) Situation fassen wir hier im Sinne Hans Hennings: Gesamt-
situation ist die Erlebniseinheit aller Anteile eines oder mehrerer Sinnes-
gebiete, in welcher der Unterschied zwischen gegenwärtiger Wahrnehmung
und Erinnerung fehlt, in welcher auch das Ichgefühl und Ichbewußtsein in
die Einheit einbezogen ist (vgl. weiter unten S. 167 £.).
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 121
a
produktionsmotiv, das alle möglichen verwandten Vorstellungen `
in Bereitschaft setzt, so daß sie unerwartet und störend zu un-
gelegener Zeit auftreten. Manche richtige Reaktion würde un- '
geachtet der Spannung ein Fehlversuch geworden sein, wenn
es sich nicht um eine homogene Aufgabe gehandelt hätte, an
der eben ein Fehler nicht möglich ist.
6. Ergebnisse.
1. Der Inhalt der willkürlichen Aufmerksamkeit und Er-
wartung ist durch die Instruktion bestimmt, also abhängig
von der Determination.
2. Der höchste Grad der willkürlichen Aufmerksamkeit, die
Kenzentration, zeigt am deutlichsten deren Abhängigkeit von
der Determination. Demgemäß ist die Bezeichnung »Aufmerk-
samkeit« nur Ausdruck für den phänomenalen Tatbestand einer
vorhandenen Determination.
3. Aufmerksamkeit fehlt oft, ohne daß die richtige Re-
aktion gefährdet ist; manchmal bestehen deutliche Ablenkungen
in der V.P.; dennoch tritt eine richtige Reaktion ein. Daraus
folgt, daß die Aufmerksamkeit keine maßgebende Bedingung
für die richtige Lösung der Achschen Willensexperimente ist.
4. Man wird allerdings auf die Übereinstimmung der Kon-
zentration mit den Erscheinungsweisen der »Hingabe« hin-
weisen und daraus eine maßgebliche Bedeutung der Aufmerk-
samkeitskonzentration für die richtige Lösung ableiten wollen.
Dagegen möchte ich nur auf einige Beispiele hinweisen, in
denen trotz starker Konzentration Fehlreaktionen eingetreten
sind: j
Vp. C, 10. Versuch, 3. Ux- Tag, Heterogene Silbe futam. V.P. Sehr
starke Konzentration, Erwartung. H.P. So schnell gearbeitet, daß ich zu
keiner Überlegung kam. N.P. Überzeugt, daß ich richtig gehandelt habe.
Vp. D, 5. Versuch, 2. Ux- Tag. Heterogene Silbe fesul. V.P. Sehr auf-
merksam eingestellt. Die Aufmerksamkeit besser angepeitscht, indem ich auf
den Schlitz achtete. H.P. fesul erkannt, visuell den Versuch des Umstellens
gemacht, aber nicht zu Ende geführt. Ausgesprochen (i. F.R., weil fusel gesagt).
Die Konzentration ist also nur in der H.P. von Wert, wenn
sie auf den rechten Ansatzpunkt der Umstellbarkeit gerichtet
ist (Praxis), wenn sofort gehandelt und mißtrauische Vorsicht
angewandt wird. Dazu gehört aber Erfahrung in der Lösungs-
weise. Die Konzentration an sich ist blind; erst nach einer
Reihe günstiger und ungünstiger Erfahrungen entwickelt sich
122 Julian Sigmar,
aus ihr die »Hingabe«. Diese Vw. besteht nicht nur unter
Spannungserscheinungen, sondern auch bei gleichmütiger Stim-
` mung.
S 7. Perseveration.
In verschiedenen Fällen, die allerdings wenig zahlreich sind,
gelang die Reaktion, weil die Vp. in einer Vw. sich befand, in
der sie sicherheitshalber, wenn auch unbewußt, Umstellungen
vornahm. Es handelte sich um homogene Silben, die richtig
umgestellt wurden, weil infolge einer vorangegangenen, neu-
tralen oder heterogenen Silbe die Vp. in die konstruierende Vw.
gekommen war. Es lag nahe, diese glücklichen Reaktionen, die
an Stellen vorgenommen wurden, an denen i.F.R. beabsichtigt
waren, auf den Faktor der Perseveration zurückzuführen. Unter
Perseveration ist nach Müller-Pilzecker die Tendenz der
Vorstellungen zu- verstehen, frei ins Bewußtsein zu
steigen 3). Diese Deutung stieß bekanntlich auf Widerspruch,
der besonders aus dem Wundtschen Kreise durch Karl
Jesinghaus geltend gemacht wurde, dem sich später auch
W. Poppelreuter angeschlossen hat?®). G.E. Müllers
Lehre bezieht sich auf Vorstellungen, hier aber handelt es sich,
wie wir zeigen werden, um andere perseverierende Erschei-
nungen, um die Perseveration von Tätigkeiten und Bewußt-
seinslagen. Das veranlaßte Lewin, diese Erscheinung nicht
als Perseveration, sondern als Persistenz von Tätigkeiten zu be-
zeichnen ®). Da aber Ach diese Vorgänge auf Perseveration
zurückführt 2), wollen wir in der beschreibenden Analyse zu-
nächst an dieser Bezeichnung festhalten, bis wir sie nach der
systematischen Erörterung “richtig benennen können.
a) Erscheinungsweisen.
l. Es machte sich natürlicherweise eine Perseveration von einzelnen
Buchstaben bemerkbar, z. B. am 2. Rp.-Tag der Vp. D der Buchstabe a in
den freien Reaktionen 1—3; daneben auch die Reaktion mit gewissen, immer
25) Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis, Leipzig 1900,
S. 58.
26) Joesinghaus, Zur psychol. Theorie d. Gedächtnisses, Psych. Stud.
VIL S. 35; W. Poppelreuter, Üb. d. Ordnung des Vorstellungsablaufes,
Arch. Ps. XXV, S. 293.
27) Lewin a. a. O. Psychol. Forsch. I, S. 236 und 268 f.
28) W. u. T. S. 150, ferner S. 36, 55 f.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 123
gleichbleibenden Worten. Wir möchten als solche vor allem Luder und Kro-
kodil nennen. Da diese Reproduktionserscheinungen gerade an Rp.-Tagen auf-
traten, in denen »die anderweiten das Bewußtsein bestürmenden Faktoren
nicht von besonderer Stärke und Nachhaltigkeit sind«, so scheinen die ange-
führten Tatsachen mit der Müllerschen Lehre im Einklang zu stehen.
2. Man beobachtete aber auch die Perseveration in der Gestalt, daß die
Vp. nicht in der Lage war, an Rp.-Tagen auf gewisse Silben eine andere Silbe
zu finden, und dann in wiederholten Fällen unter unerklärbarer Verwirrung
und Verlegenheit die Reizsilbe einfach wiederholte (7., 8., 9. Versuch, 3. Rp.-
Tag, Vp. D).
3. Zu den Perseverationserscheinungen müssen wir auch das Verharren
der Vp. in gewissen Tätigkeiten und Bewußtseinslagen rechnen, und zwar be-
obachten wir:
a) ein Perseverieren in der Bewußtseinslage der Anstrengung, oder wie
Lewin dafür sagt, in der konstruierenden Vw.
Einen guten Beweis dafür lieferte der 11. Versuch des 1. U, -Tages bei
Vp. B. Im 10. Versuch war an der uy- Silbe nachel die heterogene U,-
Tätigkeit ausgeübt; sie sollte nun gleichfalls an der 11. Silbe vollzogen werden,
der neutralen Silbe lafet. Nun hätte B beinahe die sich aufdrängende Asso-
ziation tafel benutzt, aber »ich war gewohnt, eine Tätigkeit auszuüben: Als
ich diese, d. h. das Umstellen begann, fiel mir sofort der Fehler, der im Wort
Tafel liegt, ein.. .« Wenn der Bewußtseinszustand der Anstrengung ein-
getreten ist, kommt die Vp. nicht leicht in Versuchung, das angelernte Asso-
ziationswort auszusprechen, sondern sie stellt lieber um, in der Tätigkeit
beharrend.
Die Anstrengungslage kann schon durch eine neutrale Silbe eingeleitet
werden, ganz besonders natürlich durch eine heterogene Silbe; denn beide
setzen der Umstellung einen Widerstand entgegen. Die auf solche schwierigen
Reaktionen folgenden homogenen Silben setzen daher die Vpn. weit weniger
der Gefahr einer i.F.R. aus 29).
b) Einen Beweis nach der entgegengesetzten Seite liefert der 3. Versuch
im 2. U,-Tag, Vp. D. Da heißt es: »Ich habe nicht umgestellt, d. b.
nicht nach der Praxis gehandelt ... weil ich gewöhnt bin, immer
etwas Gelerntes zu sagen. Die Falschheit der Reaktion auch nicht
in der N.P. gemerkt«. Ähnlich lautet der 4. Versuch: »rüteg« wieder
nach dem Gelernten ausgesprochen.
Man könnte hier ganze Reihen von aufeinander folgenden Versuchen
anführen, weil nur aus dem Zusammenhang ersichtlich wird, wie nach einer
heterogenen Silbe die Anstrengungslage eintritt, in den folgenden Reaktionen
perseveriert und deren richtige Lösung sichert; während hingegen nach einer
homogenen Silbe oder sinnvollen Reaktion die Vp. in die Rp.-Lage gerät, der
Umstellungsarbeit ausweicht und dann in fehlerhafte Reaktionen fällt.
4. Eine spezielle Art der Perseveration ist das Verharren in einer ganz
bestimmten Tätigkeit. Das fällt besonders bei der Betrachtung der Re-
produktionstage auf, wo die Vp. in der Wahl von U, oder U, frei ist. Je
nachdem an einer Silbe U, oder U) geübt worden ist, wird an der darauf
folgenden indifferenten Silbe sehr oft die gleiche Tätigkeit ausgeübt; ein Vor-
29) Vgl. hierzu das Hillgrubersche Schwierigkeitsgesetz, oben S. 114.
124 Julian Sigmar,
gang, den auch Ach und Rux >30) gewürdigt haben. Zur Veranschaulichung
dieser Regelmäßigkeiten mögen folgende Fälle angeführt werden; es handelt
sich immer um Rp.-Tage.
Voransgehende Tätigkeit Folgende Tätigkeit an der »-Silbe
8/43 u y- Silbenpaar: kegul — kugel 9/43 v-Silbe peron zu poren
Am2 „ m piras — paris 5/72 „ „ nedal zu. nadel
5/88 „ y petar — pater 6/83 „ »„ nagew zu negaw
7/83 „ w basim — bisam 8/83°), „ resan zu rasen
5. Eine andere Wirkungsweise der Perseveration kennzeichnet sich in
folgenden Versuchen:
a) Vp. A, 2. Rp.-Tag. Vorangegangen war ein U,-Tag. Vp. A schwankt
nun im ersten Versuch des Rp.-Tages, wie sie es machen soll. Sie
ist ungewiß und stellt die Reizsilbe fesul zu lusem um. Das kann sie
sich nun gar nicht erklären; H.P.: »Wie ich auf lusem kam, weiß ich
nicht.« Ähnlich verläuft der erste Versuch des 3. Rp.-Tages der Vp. G
und der erste Versuch des 2. Rp.-Tages derselben Vp.
b) Vp. A, 3. Ux-Tag, 1. Versuch. Vorausgegangen war der 2. Rp.-Tag.
Auf die Reizsilbe ribeb hin wagt Vp. es nicht, das sich aufdrängende
biber auszusprechen, sondern sagt »Bibel«. »Ich habe reproduziert,
nicht umgestellt« gesteht sie. Ähnlich verläuft der 1. Versuch bei der
Vp. J am 1. U,.-Tag, der auf einen Ux -Tag folgt. Die Vp. sagt:
»Es erschien das Wort, anstatt die Vokale umzustellen, stellte ich
die anderen Auslaute um.« Der Versuchsleiter fragte darauf, ob sie
sich das erklären könne. Vp.: »Das ist ein Verweilen in der gestrigen
Tätigkeit.«
Es dürfte sich hier um eine Irradiation der am Vortage geübten Tätig-
keit handeln. Wollte man das auch auf Perseveration zurückführen, dann
wäre hier der Fall gegeben, daß die Perseveration länger als 24 Stunden
dauert. Dem widersprächen die Untersuchungen J. Quandts, der gefunden
hat, daß die Perseveration fast immer nur 5—10 Sekunden, und nur bei be-
sonders guten Bedingungen höchstens 20 Sekunden wirkt 32).
6. Ursachen der Unterbrechung der Perserverationslage.
Eine Unterbrechung der fortdauernden Anstrengungslage
tritt ein, wenn die Vp. einsieht, daß die an einer homogenen
Silbe geleistete Arbeit eigentlich überflüssig gewesen ist; sie
hört dann .mit der Umstelltätigkeit auf, verläßt sich aufs Re-
produzieren und begeht Fehlreaktionen.
Umgekehrt wird eine Reproduktionslage dadurch unter-
brochen, daß entweder eine neutrale Silbe allmählich wieder in
die konstruierende Verhaltungsweise hinüberleitet, oder daß eine
Fehlreaktion eingetreten ist, die das Motiv zu neuer An-
strengung wird.
30) a. a. O. S. 147 f.
31) Die Ziffern geben die Bezeichnungen wieder, welche die Reaktionen
in der Sammlung sämtlicher Protokolle erhalten haben.
32) Wundts Psych. Stud. I, Tab. II, IX u. X, S. 146 f. und 167.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 15
b) Zusammenfassung.
Abgesehen von der Perseveration von einzelnen Buchstaben
und Worten, deren assoziative Bindung und Entstehung so
deutlich ist, daß man da von einer eigenen Perseverations-
tendenz kaum wird sprechen können, dürfte es ganz sicher
sein, daß bei den soeben geschilderten Erscheinungen etwas
ganz anderes vorliegt, als was G.E.Müller und Pilzecker
beschrieben haben. Hier werden nicht Vorstellungen beobachtet,
welche frei wieder aufsteigen, sondern Tätigkeiten, und zwar
ganz spezielle Tätigkeiten; es ist noch nicht der Beweis dafür
erbracht, daß das Wiederauftauchen früherer Tätigkeiten und
das Wiederauftauchen früherer Vorstellungen gleichartig sind,
d.h. den gleichen Gesetzen unterliegen. Gegen die Annahme,
daß es sich hier um die Perseverationstendenz handelt, spricht
auch die längere Dauer der beobachteten Vorgänge. Man kann
daher verstehen, daß Lewin den Terminus »Persistenz von
Tätigkeiten« dafür eingeführt hat33).
Darunter versteht er sowohl das Verharren in einer be-
stimmten Tätigkeit, z.B. der Reimtätigkeit, wie auch die Er-
scheinung, daß die Vpn. wiederholt mit demselben Vokal mittel-
gereimt haben. Von letzterem lassen die Vpn. eigentlich nur
ab, wenn ihnen zum Bewußtsein kommt, daß sie dadurch dem
Sinn der Instruktion nicht gerecht zu werden scheinen 33).
Zunächst darf angenommen werden, daß die unter »Irra-
diation: angeführten Phänomene Reproduktionserscheinungen
sind. Inwieweit solche auch bei den anderen Perseverations-
phänomenen vorliegen, wäre noch zu untersuchen. Bedeutsam
ist es aber, daß hiernach der Reproduktionsbegriff auch auf
jene Tätigkeiten ausgedehnt werden müßte, die mit der Auf-
nahme bloßer Vorstellungsreihen vereint gewesen sind.
$ 8. Inertial-Tendenz.
An Stelle der sofort in Angriff zu nehmenden Umstellung
suchen alle Vpn. nach einer bequemeren Lösungsweise, die
ihnen keine Anstrengung macht. Diese Neigung ist insofern
verständlich, als die homogenen Aufgaben nur Reproduktions-
leistungen fordern. Die Vpn. streben aber nicht nur danach,
sich die Arbeit zu ersparen, sondern, wo immer nur möglich,
auch jeden Vorteil der Lösung zu benutzen. Diese Tendenz, das
33) Vgl. Lewin a.a.0. S.236 und 268—70.
126 Julian Sigmar,
Reproduktionsgut auszunutzen, weist darauf hin, daß auch das
seelische Geschehen unter einem Trägheitsgesetz steht. Daher
haben wir die angedeutete Neigung zur Bequemlichkeit als
»Inertialtendenz« bezeichnet. Als klassische Beispiele dieser
Tendenz mögen von Vp. A die Versuche 9, 10 und 11 des
dritten U x- Tages angeführt werden:
9. ritel (nx) V.P. Allgemeine Erinnerung. H.P. Wenn eine Silbe er-
scheint, die in das Lerngut paßt, dann ruhig aussprechen; paßt sie nicht, dann
umstellen. Das ist meine neue Einstellung. N.P. Erfüllungsbewußtsein.
10. piras (u,). V.P. Umstellungstechnik ist als Bewußtheit gegeben.
H.P. piras, kleinen Versuch gemacht; aber das Wort paris trat nicht über die
Schwelle des Bewußtseins, es war eine Valenz. Deshalb sofort ans Umstellen
gegangen. N.P. —
11. losem (ux). V.P. Sohon jetzt die gabelige Einstellung vom vorigen
Versuch. H.P. losem — das paßt! Also mosel! Bemühen wir uns nicht weiter.
N.P. Richtigkeitsbewußtsein, Zufriedenheit mit meiner neuen Technik.
Das Wesentliche der Inertial-Tendenz ist also ein Ver-
gleichen der Reiz- und der dazu gelernten Silbe mit der ge-
forderten Umstellung, als wenn die Vp. sich fragte: Paßt die
dazu gelernte Silbe oder muß ich umstellen? Daher auch ein
gewisses Suchen und Abwarten. Der Vergleich der memo-
rierten Silbe mit der Zielvorstellung geschieht in vielen Fällen
so blitzschnell, daß man mit dem Gegebensein der Zielvor-
stellung als Schema rechnen muß.
Man könnte versucht sein, die Inertial-Tendenz für eine
Spielart der Ko. Td. zu halten. Findet doch auch hierbei eine
Kontrolle statt, aber nicht eine solche der Richtigkeit der ge-
leisteten Arbeit, sondern des vorhandenen Assoziationsmaterials
zum Zwecke der Arbeitsersparung. Es gewinnt oft den An-
schein, als ob die assoziierten Silben hervorgelockt würden, als
ob ein Spielen mit den aus unbewußter Vorsicht zurückge-
tretenen reproduktiven Tendenzen stattfände:
11. Versuch, 1. U,-Tag, Vp. D. H.P. nagew erkannt. Td.: »Was war
doch dazu gelernt... .«
2. Versuch, 3. Ux- Tag, Vp. D. H.P. ribeb sofort als gelernt erkannt.
»Wird wieder so etwas sein wie Mosel!« (im voraufgehenden Versuch war
die homogene Silbe losem — mosel geboten worden). — »Ich wartete auf
das Ergänzungswort. Dann ging ich von der intellektuellen Methode zur akusto-
motorischen Methode über, dann unter Hemmungen gearbeitet.«
Diese Art Kontrolle, wenn man die Inertial-Tendenz dafür
ansehen wollte, ist schließlich nicht eine Sicherung des Han-
delns, sondern Ursache mancher Fehlreaktionen. Sie hat nur
wenige Zufallserfolge aufzuweisen (4 Fälle).
Weiteres siehe S. 141.
Über Hemmungen ber der Realisation eines Willensaktes. 127
1. Entstehung der Inertial-Tendenz.
Wenn wir eine Qualitätenreihe aufstellen wollten, so könnten
wir drei Stadien beobachten: Zunächst merkt die Vp., daß sie
bei einigen Silben überflüssige Umstellungen vorgenommen hat.
Es hätte genügt, die dazu gelernte Silbe auszusprechen. Dieses
Stadium läßt sich bei den Vpn. C und D sehr früh, schon am
1. Umstellungstag beobachten, bei B und A erst am 3. Tag.
Der 11. Versuch des 2. U,- Tages, Vp. A, der eine Reihe
schwieriger Umstellungen abschließt, zeigt, daß auch eine länger
dauernde Anstrengung Veranlassung zur Inertial-Td. werden
kann.
(Homogene Silbe ledon. H.P. Es entsteht eine Neigung, in das Lerngut
zu kommen. lo — aha, endlich etwas, was bekannt ist!)
In einem zweiten Stadium pflegt nach der Erkenntnis über-
flüssig geleisteter Arbeit das deutliche Streben einzusetzen,
sich Arbeit zu ersparen und das Lerngut zu benutzen. Diese
Neigung wird schließlich bewußt.
In einem dritten Stadium erkennt die Vp. dann die Gefähr-
lichkeit der Inertial-Tendenz und wendet sich von ihr ab. Der
Zeitpunkt, in dem es geschieht, liegt bei den einzelnen Vpn.
verschieden; C merkt schon nach zwei, auf Inertial-Td. zu-
rückzuführenden F.R., daß es Zeit ist, lieber sofort umzustellen.
Die Ablehnung wird von den Vpn. deutlich ausgesprochen, z. B.:
11. Versuch, 2. Uy-Tag, Vp. A. »Während der heutigen Versuche bin
ich in der Überzeugung bestärkt worden, mich nicht an das Lerngut zu halten,
weil es doch trügerisch ist.«
11. Versuch, 1. Uy-Tag, Vp. D. nagew erkannt. Td.: Was war doch
dazu gelernt? Abgelehnt, gleich ans Umstellen gegangen.
Es muß auffallen, daß die Vpn. in die Inert.-Td. zurückfallen,
nachdem sie doch ihre Gefährlichkeit erkannt hatten. Der
Grund dafür liegt einerseits in der stets wechselnden Schwierig-
keit einer Versuchsreihe, deren 12 Reaktionen Gelegenheit zu
den verschiedensten Einstellungen geben, andererseits in dem
Unvermögen der Vpn., sich über die wirklichen Ursachen ihrer
Fehler klarzuwerden. Vp. D vermutet sie z.B. in Aufmerk-
samkeitsfehlern. (3. Vers. 3. U,- Tag.)
2. Inertial-Tendenz oder Identifikation?
Die bei den Vpn. oft vorkommende Frage: »Gelernte oder
ungelernte Silbe?r« — »Paßt die assoziierte Silbe für die Lösung
dcr Aufgabe oder muß ich umstellen?« bringt diesen Prozeß
in die Nähe der von Lewin als Ursache der i.F.R. seiner
128 Julian Sigmar,
Anordnung I angesehenen »Identifikations-Tendenz« *). Auch
meine Vpn. haben in vielen Fällen erst nach der Reaktion die
Frage nach der Bekanntheit der Silbe gestellt, in den der Inert.-
Td. zugeschriebenen allerdings vor der Reaktion. Lewin be-
trachtet die Identifikation nach und vor der Lösung der Auf-
gabe als einen und denselben Prozeß, der sich nur unter dem
Einfluß des Übungsfaktors nach vorn verschiebt.
Dem dürfte aber nicht so sein. Nach der ganzen :Anlage
der Versuchsanordnung I und U Lewins mit dem regel-
mäßigen Wechsel von gelernten und ungelernten Silben ist zu
erkennen, daß die Vpn. alle Aufgaben in der konstruierenden
Vw., der Hingabe, lösen. Dieser Vw. ist es eigentümlich, daß
vor der Umstellung gar nicht auf die Bekanntheit oder Un-
bekanntheit der Silbe, die umgestellt werden soll, geachtet
wird; die Vp. ist »ganz Instruktionsmensch«. Nach getaner
Umstellung dagegen macht sich aus einer sehr natürlichen Ten-
denz zur Einordnung aller Eindrücke das Bedürfnis zur Identi-
fikation geltend. Einen andern Sinn wird man in der Identi-
fikation schwer nachweisen können. Die Prägung des Begriffes
der Identifikation durch Lewin hat in dieser Hinsicht eine
wertvolle Klärung der Kontrollprozesse gebracht, die ich in
der Analyse lediglich ihrem zeitlichen Auftreten nach in solche
vor und solche nach der Umstellung unterschieden habe. Nur
entspringt die Identifikation vor der Umstellung nicht mehr der
Tendenz zur theoretischen Einordnung, sondern hat sich in eine
andere Tendenz abgewandelt. Im Verlauf der sich immer gleich-
bleibenden Umstellungen beginnt sich nämlich der Zustand der
»Hingabe« in eine minder konzentrierte, weniger mißtrauische
Vw. aufzulösen. Die Vp. bemerkt, daß manche Silben bekann-
ter und daher angenehmer zu lösen sind als die unassoziierten.
Die Bekanntheit macht ihr das Arbeiten angenehmer, und so
beginnt sie nach solchen Silben Ausschau zu halten und sogar
festzustellen, an welcher Stelle sie ursprünglich in der Lern-
reihe gestanden haben. Diese »Identifikation« ist nicht
mehr eine Folge der Tendenz zur theoretischen Einordnung,
sondern wird getragen von einer gefühlsbetonten Tendenz, der
Inertial-Td. Rief doch bei einer Vp. Lewins das Erscheinen
der g-Silbe einen lebhaften Freudenausruf hervor. Die »Identi-
34) Vgl. in »Psychol. Forschungs, Bd. I, S.211, 214 f., 226, 234, 253 f.
und Bd. II, S.72.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 129
fikation« ist nur ein Mittel zur Erreichung dieses Zieles ge-
worden. (Vgl. unten S. 158, 4.)
Wäre die Idt. vor der Umstellung dieselbe wie nach der-
selben, so dürfte nach einer i. F.R. nicht bloß die von Lewin
beobachtete »Rückbildung« 3%) der Kontrollprozesse, d. h. deren
Verschiebung hinter die Umstellung, stattfinden, sondern es
müßte vielmehr die Identifikation sowohl vor. wie nach dem
Umstellen aufgegeben werden. Es fällt aber nur die eine ge-
fährliche Tendenz aus, die Inertial-Td., nicht aber die unge-
fährliche der Identifikation. Dieser Deutung dürfte auch die
Beschreibung derselben durch Lewin gerecht werden, wie auch
sein geäußerter Zweifel über ihre Natur: »Bei der Identifika;
tions-Tendenz z.B. ist nicht ohne weiteres deutlich, ob es sich
um eine Td. zum Wiedererkennen, oder um eine Td. zur hbe-
grifflich genauen Einordnung, oder um ähnliche Tdn. handelt.«
(U, S. 98/99.) :
Begrifflich ist die Bezeichnung Lewins richtig; es handelt
sich in jedem Fall um eine Identifikation. Sachlich bzw. psycho-
logisch dagegen werden die Idt.-Prozesse zerlegt werden müssen
als wurzelnd in Tdn. entweder zur theoretischen Orientierung,
oder zur Bequemlichkeit, oder zur Kontrolle im Sinne der
Determination.
$ 9. Reproduktions-Tendenz. (Rp.-Td.)
Unter den von den 4 Vpn. gelösten Aufgaben befanden sich
96 homogene Aufgaben. Einer oberflächlichen Beobachtung
dürfte es scheinen, als ob in diesen Fällen die Rp.-Td. aus-
schließlich die Lösung herbeiführt; dem ist aber nicht so. Ein
gutes Viertel der homogenen Aufgaben ist noch unter dem Ein-
fluß der Hingabe bzw. der konstruierenden Tätigkeit gelungen,
ein anderer großer Teil zeigt vor der Lösung Kontrolle (20). Einige
wenige sind unter dem Einfluß der Inertial-Tendenz glücklich
gelöst worden (4). Überall dort, wo die Vw. der Hingabe bestand,
machte sich ein völliges Übersehen der Homogenität der
Aufgabe bemerkbar, wie schon an anderer Stelle gesagt worden
ist. Die Vp. wußte gar nicht, daß sie sich an diesen Stellen
die Umstellarbeit hätte ersparen können, und hat erst nach
vollendeter Umstellung, sei es aus dem Bestreben nach Kon-
85) a. a. O. Bd. II, S. 226.
Archiv für Psychologie. LII. 9
130. Julian Sigmar,
trollen oder infolge der Identifikations-Tendenz festgestellt, daß
bier bloßes Reproduzieren auch zum Ziel geführt hätte.
Eigenartig war das Verhalten fast aller Vpn. an den Rp.-
Tagen. Statt der erwarteten größeren Geschwindigkeit der Re-
aktionen gegenüber den U,- und U, - Tätigkeiten konnte bei
verschiedenen Vpn. eine starke Verzögerung bei der Lösung der
Aufgaben beobachtet werden. Ganz besonders war dies bei
Vp. C der Fall. Die Zeitwerte waren im allgemeinen bei den
ersten Reproduktionen so hoch, und das Verhalten der Vpn.
zeigte eine so auffallende Ratlosigkeit, daß von seiten des Ver-
suchsleiters den Vpn. gesagt werden mußte, sie dürften hier
mit der dazu gelernten Silbe reagieren. Einige Mitteilungen aus
den Protokollen mögen das veranschaulichen:
e Die Vpn. A, C, D standen manchmal den Reproduktionsaufgaben ganz
ratlos gegenüber; Vp. A sagt beim 1. Versuch: Mir fällt kein Wort ein! —
Vp. C: »Mir wird kein Wort einfallen. H.P. Ratlosigkeit....« (1. Versuch).
Im Verlauf desselben Versuchstages bleibt sie bestehen, die Reaktionszeiten
werden infolgedessen so lang (7,4 u. 3,3 Sekd.), daß sie in der Berechnung
der Mittelwerte nicht in Betracht gezogen werden konnten. Auch Vp. D, die
am 1. Rp.-Tag glatt mit dem »Dazugelernten« reagiert hatte, wird am 2. und
am 3. Rp.-Tag ganz hilflos, was um so mehr auffallen muß, als doch die
Assoziationen durch tägliches Memorieren schließlich dreimal so stark ge-
worden sein mußten als am 1. Rp.-Tag. Vp. D sagt im 9. Versuch des 3. Rp.-
Tages, als die so oft schon gelernte und umgestellte Silbe nadef — faden er-
schien: »In großer Verlegenheit! Ein ängstliches innerliches Hin- und Her-
laufen«; Reaktion nach 1,43 Sekunden.
Am besten hat Vp. B mit der dazugelernten Silbe reagiert, wohl deshalb,
weil bei ihr die schwache Anordnung II erprobt wurde, die mit schwachen
Assoziationen arbeitete. Auch bei Vp. D wurde am 1. Rp.-Tag, da die Asso-
ziationen schwach waren, mit der dazugelernten Silbe reagiert. Dies Resultat
widerspricht aber dem Grundgesetz der Assoziation, wonach mit steigenden
Wiederholungen um so sicherer und leichter die assoziierte Silbe hätte gesagt
werden müssen! Übrigens erfolgen die Reaktionen auch bei B mit großem
Zeitaufwand. — | |
Die Vpn. zeigen jedoch im Gegenteil eine gewisse Scheu vor dem Be-
nutzen des Lerngutes. Vp. A, 1. Rp.-Tag: »Es war mir nicht sympathisch,
mit dem dazugelernten Wort zu reagieren!k 8. Versuch: »Ich suche herum und
reagiere endlich mit »donar«. 2. Rp.-Tag, 7. Versuch: »Nur nicht in der
Richtung des Gelernten reagieren!« 3.Rp.-Tag, 1. Versuch: »Schwanken, da
»kugel« Lerngut. — Als im 5. Versuch mit »wodan« auf »nodaw« geantwortet
wird, hört man die Verwahrung: »Ich bezog mich mehr auf frühere Reaktionen
als auf das Gelernte.«
Vp. D verhält sich ebenso; am 2. Rp.-Tag, 2. Versuch sagt sie: »Keine
Regung, auf libeb bibel zu sagen; dafür retil gebildet.«
Statt mit der assoziierten Silbe zu antworten, nennen sie lieber nocb
einmal das Wort im Kartenwechsler.. Vp. A: ligok — ligok, telar — telar,
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 131
lügeb— lügem. Vp. D, 1. Rp.-Tag, 1. Versuch: ludep— ludep. Vp.A ist
darüber erstaunt, daß sie immer mit »luder« antwortet.
Da die zugelernte Silbe zu nennen entweder nicht angenehm ist, oder
ihnen nichts einfällt, so bilden die Vpn. gern fremde Worte, oft unter Be-
nutzung der erschienenen Reizsilbe, z. B. ligok — likör, räfek — refektorium,
telar — ratel. Vpn. A und D helfen sich auch durch Rückwärtslesen aus der
Verlegenheit.
Am 2. Versuchstag merkt Vp. A, daß das Nennen des Zugelernten das
Müheloseste ist. Vp.D beginnt später eifrig in der Richtung des Gelernten
zu suchen, wendet sich aber wieder der Methode der Umstellungen und der
Kontrolle zu.
(Auch Vp. G hat nach Ausweis der Tabelle der Mittelwerte zur Repro-
duktion der u,.-Silben mehr Zeit gebraucht (ca. 300 0), als in homogenen
Aufgaben der U „ Tätigkeit.)
& 10. Der feste Vorsatz und sein Verhältnis zur richtigen
Lösung. |
Nach den Ausführungen von Ach muß man den primären
Willensakt, d.h. den festen Vorsatz, für die unbedingte Vor-
aussetzung erfolgreicher Reaktionen ansehen. Er führt dazu
die Aussage seiner Vpn. B und D an. »B war überzeugt, daß
wenn sie sich dies nicht intensiv vornimmt, etwas anderes ge-
schieht, und daß sie bei intensivem Vorsatz auch wirklich einen
Reim bilden kann°®s).« Vp. D: »Wenn ich ernstlich will, kann
ich doch ®®)« An einer anderen Stelle sagt Ach selbst: Ist
der primäre Willensakt gegeben, so können, wie sich aus unseren
Versuchen ergibt, erhebliche innere psychische Widerstände über-
wunden werden ®). Durch das sekundäre Wollen werden nur
zufällig, d.h. entweder infolge geringer Widerstände oder in-
folge eines entsprechend hohen Übungsko£ffizienten intendierte
Fehlreaktionen vermieden 3).
Demgegenüber behauptet Lindworsky“), daß der feste
Vorsatz keine maßgebende Bedingung des Erfolges ist.
Es wäre infolgedessen die Frage zu prüfen:
1. ob etwa der feste Vorsatz eine ausschließliche, maß-
gebende "Bedingung richtiger Lösungen ist, und
2. ob durch das sekundäre Wollen wirklich nur zufällig
i.F.R. vermieden werden. Auf das Problem werfen
36) W. u. T. S. 160.
37) W. u. T. S. 102.
33) W. u. T. S. 255.
39) W. u. T. S. 279.
40) Der Wille, S. 114ff. 1. Auflage.
9+
132 Julian Sigmar,
manche unserer Versuche ein sehr bezeichnendes Licht.
Es seien daraus als Beispiele nur folgende zwei hetero-
gene Aufgaben angeführt:
1. Uy.-Tag, Vp. B. (reson) rosen. V.P. starker Vorsatz. H.P.
Wort erschien, ganz unbewußt stellte sich rosen ein; im Aussprechen merkte
ich, daß falsch reagiert war. N.P. unbefriedigt.
3. U,.-Tag, Vp. A. (futam) mutaf. V.P. nichts. H.P. futam; dann
traten futur und ähnliches mit dem Stamm fut Zusammenhängendes auf.
Dann an meine Vw. erinnert und entsprechend gehandelt. N.P. Erfüllungs-
bewußtsein.
Diese Erscheinungen bedürfen also der Aufklärung. Um
Ach in jeder Weise gerecht zu werden, haben wir uns bei der
Beurteilung der Protokollangaben, was selbstverständlich ist,
genau an die Terminologie und die Unterscheidungsmerkmale
Achs gehalten, ferner nur die heterogenen Aufgaben ins Auge
gefaßt, weil da ein fester Vorsatz nötig war, um richtig zu
reagieren. Die Frage, wo ein fester Vorsatz gegeben war, ist
nicht etwa bloß aus den Angaben der V.P., sondern auch aus
denen der H.P. beantwortet worden. Natürlich ist es bei der
Ungeübtheit der Vpn. manchmal sehr schwer, die unter-
scheidenden Kennzeichen des primären Willensaktes von denen
des abgekürzten, schwachen oder geübten Wollens herauszu-
lesen, wie es auch Ach wiederholt hat zugeben müssen 4).
Wir wollen uns zunächst vergegenwärtigen, was Ach unter dem pri-
mären Willensakt versteht. »Der primäre Willensakt liegt im allgemeinen in
dem vor, was wir schlechthin als einen Entschluß bezeichnen. Der energische
Entschluß bildet demnach den Gegenstand der folgenden Betrachtungen #?).«
Ach unterscheidet den energischen Entschluß von dem Vorsatz und der Ab-
sicht. Der energische Entschluß enthält die Richtung auf etwas von dem
Individuum selbst zu Tuendes und den Ausschluß jeder anderen Möglichkeit
einer Änderung des Geschehens; wenn er nicht sofort ausgeführt wird, nimmt
er den Charakter des Vorsatzes an.
Entschluß und Vorsatz sind insofern gleichwertig, als in beiden das
aktuelle Moment, d. h. das Bewußtsein liegt: Ich, der Handelnde, Träger des
Bewußtseins, will wirklich, und zwar nichts Anderes als nur dieses! Das »ich
will« allein gibt dem Erlebnis nicht den Willenscharakter, eg muß neben dem
Ziel und der Bezugsvorstellung auch der Ausschluß jeder anderen Möglichkeit
in der kommenden Änderung des Verhaltens erlebt werden. Das sind neben
den zuständlichen und anschaulichen Momenten die wesentlichen Merkmale
des primären Willensaktes.
Etwas anderes ist die Absicht, bei der andere Möglichkeiten ges
kommenden Verhaltens nicht so entschieden ausgeschlossen sind und die er-
41) W. u. T. S. 279, 290.
42) W. u. T. S. 238, Z. Ps. 58, S. 265.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 133
wähnte ausschließliche Betonung des erlebten gegenständlichen Inhaltes in
der Regel nicht besteht.
Ein Entschluß kann ohne Vorsatz bestehen, wenn es sich um einen
momentanen Entschluß handelt, der sofort in die Handlung übergeht; dagegen
kann nie ein Vorsatz ohne Entschluß bestehen. Er ist dann gegeben, wenn
der Entschluß längere Zeit besteht, also nicht unmittelbar eine Verwirklichung
des antizipierten Inhalts eintritt. Die Absicht wird im allgemeinen in dem
sogenannten sekundären Willensakt erlebt 43).
Unter dem sekundären Willensakt versteht Ach alle Willensbetätigung,
bei der das eindringliche, aktuelle Moment ganz fehlt, oder nur verkümmert
oder teilweise gegeben ist 44). Er unterscheidet darin folgende Arten:
a) Das abgekürzte Wollen: Es zeigt einen abgekürzten Verlauf
des Willensaktes, so daß nicht alle seine phänomenologischen Momente
hervortreten. Das aktuelle Moment pflegt zwar noch erlebt zu werden,
wenn auch nicht so eindringlich wie beim energischen Entschluß.
Charakteristisch sind Formen wie: »Ich will dies nicht.« — »Ich will
mich nicht stören lassen.« Die Bewußtseinslage der Anstrengung ist
wenig ausgebildet.
b) Das schwache Wollen: Im Unterschied zum primären Willens-
akt fehlen in ihm
l. die Spannungszustände und die Bewußtseinslage der Anstrengung
(»zuständliches Momente) ;
2. die jede andere Möglichkeit ausschließende Festlegung des kommen-
den Verhaltens; das aktuelle Moment ist nur rudimentär vorhanden
in der Form: Es soll etwas Bestimmtes geschehen, und ich bin
bereit dazu. `
Dagegen bestehen beim schwachen Wollen:
l. die Zielvorstellung und das Bereitsein zu der kommenden Tätig-
keit (die Zielvorstellung ist oft nur als Bewußtheit gegeben, das
Bereitsein als Zustand der Erwartung) ;
2. das rudimentär-aktuelle Moment in der Weise eines Verzichts auf
jede mit dem Ich zusammenhängende Stellungnahme. Das schwache
Wollen kann in seinen phänomenologischen Momenten so stark ab-
flachen, daß die Empfindungsinhalte nur als automatisch gewordene
Bewußtheit, als Valenz gegeben sind. Ach bringt wiederholt zum
Ausdruck, daß das schwache Wollen nur in Fällen geringerer innerer
Widerstände auftritt, daß es also in heterogenen Aufgaben un-
möglich ist! Nur bei seiner Vp. D glaubt Ach das schwache
Wollen bei der Überwindung stärkerer Widerstände beobachtet zu
haben.
c) Das geübte Wollen (»starkes geübtes Wollen« S. 296): Es ent-
steht aus dem primären Willensakt; denn auch die Determination ist
übungsfähig. Die Erscheinungsformen des geübten Wollens haben
große Ähnlichkeit mit denen des schwachen Wollens (S. 297). Dagegen
pflegt bei dauernd starken Widerständen ein völliges Verschwinden
43) W. u. T. S. 24248.
44) W. u. T. S. 277 ff.
134 Julian Sigmar,
des aktuellen Momentes mit den Spannungsempfindungen nicht ein-
zutreten. Daß also das aktuelle Moment sich noch irgendwie be-
hauptet, nicht zur Valenz werden kann, soll der kritische Unterschied
zwischen dem schwachen und dem geübten Wollen sein.
Weil Ach es für wünschenswert hält, den Begriff des
Wollens auf das eigentliche Wollen, so wie es im aktuellen und
dynamischen Moment des primären Willensaktes vorliegt, ein-
zuschränken, kann es einen festen Vorsatz nur im primären
Willensakt geben, nicht etwa auch im sekundären. Daher haben
wir zur Untersuchung des Verhältnisses von festem Vorsatz
zum Erfolg auch nur die heterogenen Aufgaben in Betracht ge-
zogen. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß für die Ana-
lyse nicht etwa bloß die V.P. maßgebend war; wir haben auch
ausdrücklich die Angaben der H.P. für die Bestimmung des
festen Vorsatzes herangezogen. Die von Ach gegebenen Ab-
stufungen des sekundären Willensaktes wurden ebenfalls be-
achtet und bei der Aufstellung der Tabellen berücksichtigt.
Um jedes Mißtrauen in die Richtigkeit der Einordnung in
die 'Willensstufen zu zerstreuen, müssen einige bezeichnende
Protokollangaben angeführt werden:
Primärer Willensakt.
a) Erfolgreich.
Vp. A. V.P. »Du wirst vom ersten Konsonanten ausgehen. Aufgabe-
Einstellung. Noch besonders vorgenommen, nicht nur auf die Vokal-Punkte
zu achten, sondern zu gleicher Zeit den ersten Konsonanten scharf zu be-
achten und dann scharf auf den letzten Vokal überzuspringen.« (6. Versuch,
1. U,.-Tag.) — V.P. Hingebung. (4. Versuch, 2. U „.-Tag.) — V.P. Hinwendung
auf meine Technik. H.P. Das Wort erscheint mir ganz gewaltig sinnlos; weg
damit! Aufgabe machen... (9. Versuch desselben Tages.) — V.P. Noch-
maliger Vorsatz, die Ausführungstechnik zu bewahren... (12. Versuch des-
selben Tages.)
Vp. B. V.P. Gespannte Aufmerksamkeit: Richtig umstellen! (2. Versuch.
2. U,.-Tag.) — V.P. Starke Aufmerksamkeit; intensives Hinsehen, absicht-
liches Zurückdrängen aller störenden Gefühle und Gedanken, leichtes Spannungs-
gefühl über den Augen... (8. Versuch, 3. Uy,.-Tag.)
Vp.D. V.P. Sofort lesen, wenn du das Wort siehst! Nicht gedanklich
auffassen! (4. Versuch, 1. Ux.-Tag.) — V.P. Sehr scharf eingestellt, sowohl
nach der Seite der Aufmerksamkeit, wie der Praxis. Aufmerksamkeit war so
stark, daß Spannungsempfindungen über den Augen eintraten. (7. Versuch,
2. Uy.-Tag.) — Ähnlich lautet der 2. Versuch und 4. Versuch des 3. U ..-
Tages: V.P. Scharf eingestellt, sowohl sehr aufmerksam, als auch der In-
struktion genau bewußt. Leise innerlich gesprochen: Also die Vokale!
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 135
b) Erfolglos.
Vp. A. V.P. Du wirst es diesmal richtig machen. Instruktion weiß
ich... (2. Versuch, 1. Uy.-Tag.) — V.P. Wie machst du die Sache? Re-
flexion über die mögliche Ausführung. Vorsatz, die Buchstaben su umzu-
stellen, daß ich zuerst den letzten Buchstaben ergreife und an den Anfang
setze. H.P. reson, n ergreifen!... (1. Versuch, 2. Uy.-Tag.) — V.P. Ganz
scharfe Konzentration auf meine Technik, aus Vorsichtsgründen. (5. Versuch,
8. Uy.-Tag.)
Vp. C. V. Sehr scharfe Konzentration, Erwartung; . (10. Versuch,
8. Ux. -Tag.)
Vp. D. V.P. Sehr aufmerksam einresteiie Die Aufmerksamkeit besser
angepeitscht, indem ich auf den Schlitz achtete ... (5. Vers., 2. Ux.-Tag).
Sekundärer Willensakt, jedoch erfolgreich.
Vp. B. V.P. Etwas unruhig. H.P. Verwunderung... (1. Versuch,
2. Ux.-Tag.) — V.P. Ich wurde durch eine private Aufgabe abgelenkt, dann
wieder an die Aufgabe erinnert... (9. Versuch, 2. U,.-Tag.) — V.P. Auf-
gabe bewußt, keine besondere Anstrengung. (1. Versuch, 3. U,. -Tag.) — V..
Aufmerksam, sonst nichts vorgenommen. H.P. pedul— pudel kam, lag auf
der Zunge, kontrolliert und mit größter Anstrengung umgestellt... (3. Ver-
such, 3. Ux.- Tag.) l
Vp. C. V.P. Nicht sehr aufmerksam, abgelenkt. (2. Versuch, 2. U,.-
Tag.) — Solcher ablenkenden Gedanken geschieht noch oft Erwähnung; der
Versuch gelingt trotzdem. V p. B. (9. Versuch, 2. U,.-Tag, 1. Versuch, 2. Ux.-
Tag) — Vp. D. (2. Versuch, 2. U,.-Tag.) — V.P. Aufgabe als bewußt...
(4. Versuch, 2. U,.-Tag.) — V.P. Im Bann der letzten Erwägungen. (9. Ver-
such desselben Tages.) — V.P. Ob meine Methode auch die einfachste ist?
H.P. Umstellung glatt gebildet. (4. Versuch, 2. Ux.-Tag.) — V.P. Nur auf
das Wort gespannt; nicht an die Aufgabe gedacht. (5. Versuch, 3. U,.-Tag.)
VPp. D. Nicht gespannt, dafür Atem geholt. (3. Versuch, 1. U,.-Tag.) —
V.P. Nichts Besonderes, allgemeine Erwartung. (9. Versuch, 3. U,.:Tag) und
80 viele andere,
Bei den vier Vpn. waren 96 i.F.R. möglich; zwei davon
waren Fehlversuche, es kommen also 94 Reaktionen für die
Analyse in Betracht.
Dem primären Willensakt sind 12 Erfolge zuzuschreiben.
Trotz des festen Vorsatzes sind 8 Reaktionen mißglückt. Pro-
zentual umgerechnet ergeben sich also bei festem Vorsatz 60%
Erfolge und 40% Mißerfolge. Ohne festen Vorsatz sind 84
Reaktionen ausgeführt worden, und zwar 51 erfolgreiche Re-
aktionen und 23 F.R. In Berücksichtigung der Abstufungen
des sekundären Willensaktes verhielten sich Erfolge zu Miß-
erfolgen:
im abgekürzten Wollen = 7:4
im geübten Wollen 212:2
im schwachen Wollen =32:17.
136 Julian Sigmar,
Das ergibt ein Gesamtverhältnis von 51:23, prozentual umge-
rechnet: Bei sekundärem Wollen 69°/, Erfolge und 31°/⁄ Mib-
erfolge. Der Prozentsatz wäre vielleicht für die Wirkung des
schwachen Wollens ein noch günstigerer. geworden, wenn wir
nicht alles, was auch nur vermutungsweise »festen Vorsatz«
‚verriet, dem primären ‚Willensakt zugeschrieben hätten. Es
verhalten sich also Erfolge zu Mißerfolgen: Ä
beim primären Willensakt wie = Quotient 1,5,
beim sekundären Willensakt wie m 2
I. Das Verhältnis der gelungenen zu den mißlungenen Re-
aktionen ist also günstiger im Zustand des sekundären Wollens.
II. In Anbetracht dessen, daß nur 12 Versuche mit pri-
märem Wollen gelungen sind, 51 dagegen mit sekundärem
Wollen, dürfen wir folgern, daß die Vpn. die Tendenz er-
kennen lassen, das schwache Wollen dem starken vorzuziehen.
Dieser Vorgang scheint sich unbewußt zu vollziehen, denn
wofern der feste Vorsatz in einer indifferenten oder homogenen
Aufgabe auftritt oder gar nach F.R., dann bleibt er nur in dem
Fall konstant, daß sich die Anstrengung als richtig angebracht
erweist. Trifft der feste Vorsatz. dagegen auf eine homogene
Silbe, dahn gibt ihn die Vp. bald wieder auf, weil die An-
strengung überflüssig war; und das kann leicht verhängnisvoll
werden.
II. Den vou Ach behaupteten Unterschied zwischen
schwachem und geübtem Wollen wird man nicht aufrecht er-
halten können, denn wir haben auch bei schwachem Wollen An-
strengungszustände beobachtet. Ach macht aber das zuständ-
liche Moment zum Kriterium des geübten starken Wollens. Dem
Wortsinne entsprechend dürfte das starke geübte Wollen also
nicht zu Beginn der Versuche auftreten, weil ja noch keine
Übung vorhanden sein kann. Nach den vorliegenden Beobach-
tungen erklärt sich das Auftreten der Anstrengungsempfin-
dungen daraus, daß die Vp. sich an manche Lösung bloß mit
einfacher Erinnerung an die Aufgabe heransetzt. Treten dann
bei der leicht begonnenen Arbeit unerwartete Schwierigkeiten
und Hemmungen beim Umstellen auf, so tritt unerwartet das
»zuständliche« Moment von selbst auf. Demnach wären
schwaches Wollen und sogenanntes starkes geübtes Wollen das-
22.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes.. 137
selbe, die Anstrengungszustande dagegen nur eine zufällige
Folge unerwartet aufgetretener Schwierigkeiten, die mit hete-
rogenen Aufgaben verbunden sind.
Das sogenannte geübte Wollen tritt so früh auf, daß man
noch gar nicht von einer Übung der Determination sprechen
kann, nämlich schon in den ersten Versuchstagen der Vpn.
Auch die Vp. D Achs hätte schon nach drei i. F.R. die be-
zeichnete »Übung« erlangt haben müssen. Das spricht doch
auch dafür, daß das Achsche schwache Wollen und das ge-
übte Wollen an sich ein und derselbe Bewußtseinszustand sind,
dessen wesentliches Merkmal die Einstellung der Vp. ist: »Ich
erinnere mich bloß an das, was zu tun ist!«
Nehmen wir aber an, daß es einen Unterschied zwischen
schwachem ‚Wollen und geübtem Wollen gibt, dann ist es doch
auffallend, daß ein so großer Prozentsatz aller Erfolge (ca. 72°/,)
bei durchweg allen Vpn. auf das schwache Wollen zurückgeht,
während Ach nur ausnahmslos bei seiner Vp. D einige dieser
Fälle zugegeben hat“). Im Gegenteil hat sich in den vor-
liegenden Versuchen das schwache Wollen als ein besserer
Faktor für richtige Reaktionen erwiesen, als der feste Vorsatz.
Zusammenfassend kann gesagt werden:
1. Es ist nicht möglich, trotz eindringlicher Instruktion
einen gleichmäßig anhaltenden starken Vorsatz herbeizuführen;
in kaum einem Viertel der Fälle ist es gelungen.
2. Die Vpn. neigen dazu, der Aufgabe mit bloß schwachem
Wollen gerecht zu werden.
3. Der feste Vorsatz schützt nicht vor F.R.; ihr Vermeiden
muß auf einem andern Wege erreichbar sein.
4. Das schwache Wollen und das starke geübte Wollen
Achs sind identisch.
5. Auch das schwache ‚Wollen führt schon zu Beginn der
Versuche in recht erheblichem Umfang zur erfolgreichen Lösung
der Aufgaben.
IL Ursachen der erfolglosen Reaktionen.
Nach den Voraussetzungen des Assoziationsgesetzes und den
Grundanschauungen, auf welchen das Gesetz vom assoziativen
Äquivalent ruht, müßte in allen den Fällen, in denen es zu
45) W. u. T. S. 291.
138 Julian Sigmar,
F.R. oder gar zu i. F.R. kommt, Hemmungen und Verzögerungen
der Reaktionen beobachtet werden können. Davon ist aber
nichts zu merken; nach dem Ausweis der Zeittabellen erfolgen
die F.R. ebenso leicht und schnell wie die erfolgreichen Re-
aktionen. Im Gegenteil sieht man bei manchen erfolgreichen
Reaktionen größere Anstrengung und in deren Gefolge Ver-
zögerungen der Reaktion, so daß zweifellos dort eher ein Kampf
der widerstreitenden Tendenzen angenommen werden könnte,
als in den beabsichtigten Fehlreaktionen.
Unsere Vpn. haben im ganzen 14 i.F.R. gemacht und 44
F.R. Unter dem Gesichtspunkt der dazu gebrauchten Zeit ver-
hielten sich die Zeiten der i.F.R zu denen der glücklichen
Reaktionen eines und desselben Tages wie folgt (a.M.):
Vp. A 10410 + :16100
Vp. D 16860 4 :2314 0
Vp. B 14560 + : 1021 o
Vp.C — —
Während also A und D zu den richtigen Reaktionen mehr
Zeit brauchen als zu den erfolglosen, ist es bei B umgekehrt
gewesen.
Die Mittelwerte (a. M.) der F.R. verhalten sich zu den
erfolgreichen Reaktionen desselben Tages dagegen wie folgt:
Vp. A 16080 x :13440
Vp. D 21310 x :2010 0
Vp. B 1137 0 x :15020
Vp. C 18410 x :2229 o
Hier ist also das Verhältnis umgekehrt; die Ursache dürfte
darin liegen, daß Vp. A und D in den Fällen der F.R. stärker
mit kontrollierenden Tendenzen zu tun gehabt haben werden.
Natürlich ist in den i.F.R. mit der dazu gelernten Silbe
reagiert worden. Damit ist aber kein ursprünglicher Sieg der
Rp.-Td. behauptet. Denn die übrigen heterogenen Aufgaben
desselben Versuchstages hätten dann ebenfalls F.R. werden
müssen, da sie doch dieselbe Zahl von Wiederholungen hinter
sich hatten. Zum mindesten hätte man in diesen Reaktionen
eine starke Hemmung oder Verzögerung beobachtet haben
müssen, was nicht der Fall ist. Nach dem Grundsatz der Asso-
ziation hätten auch die i. F.R. mit dem Grad der steigenden
Wiederholungen immer schneller und zahlreicher erfolgen
müssen. In Wirklichkeit erfolgte die i. F.R. bei den Vpn. an-
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 139
fangs zahlreicher, dann trotz der gestiegenen Wiederholungs-
zahl immer seltener. Das deutet klar auf andere Momente hin.
denen die Schuld an den F.R. zugeschrieben werden müßte.
Gemäß dem Assoziationsgesetz hätte ferner eine richtig ge-
löste homogene Aufgabe infolge einer einzigen richtigen Lösung
eine ganz besondere Stärkung erfahren haben müssen, weil
die Rp.-Td. durch die det. Td. unterstützt worden ist. Wo
immer dann eine solche Silbe später in einer heterogenen Auf-
gabe geboten wird, müßte die Gefahr der i.F.R. gewisser-
maßen unabwendbar sein. Eine solche Regelmäßigkeit kann
aber gar nicht behauptet werden. Nur ausnahmsweise ist es
bei einer solchen Silbe zur i.F.R. gekommen, und die Re-
aktionszeiten weisen keinen maßgebenden Unterschied auf. Das
alles führt von selbst zu der Vermutung, daß andere Faktoren
die F.R. herbeiführen. Diesen könnten wir nur näherkommen,
wenn wir uns die Frage beantworteten: Warum hat in diesen be-
stimmten Fällen die Rp.-Td. siegen können und in anderen
nicht?
Ein großer Teil der F.R. ist auf das Vorherrschen der re-
produzierenden Verhaltungsweise zurückzuführen, welche be-
wußt oder unbewußt in der Vp. zur Geltung gekommen war.
Andere Fehler sind durch verschiedenartige Ablenkungen mög-
lich geworden; wieder andere zeigen deutlich eine Tendenz zur
Eilfertigkeit. Natürlich gibt es auch F.R., die infolge von Er-
müdung der Vp. oder unverstandener Aufgabe eingetreten sind.
$ 11. Reproduzierende Verhaltungsweise.
a) Unbewußt.
Mit einer gewissen Regelmäßigkeit traten fehlerhafte Re-
aktionen gern nach soeben vollzogenen homogenen Aufgaben
auf; diese Fehler machten über ein Drittel aller F.R. überhaupt
aus und. wiesen deutlich auf Einflüsse hin, die von einer bei
der Lösung homogener Aufgaben entstandenen Verhaltungs-
weise auszugehen schienen. Homogene Aufgaben könnten ja
durch bloße Reproduktion der zugelernten Silbe gelöst werden;
meist stellt die Vp. aber um und merkt nur an der Leichtig-
keit der Tätigkeit, schon während des Umstellens, daB hier
Reproduzieren auch zum Ziel führt. Das macht sich durch
eine Bewußtseinslage der Erleichterung (W. u. T. S.269) be-
140 Julian Sigmar,
merkbar. Nun stellt aber die darauffolgende Silbe eine uner-
wartete Schwierigkeit dar, weil hier nicht mehr reproduziert,
sondern umgestellt, d.h. konstruiert werden soll. Daraus ent-
stehen Hemmungen, ein Versprechen, halbe Lösungen oder gar
entgegen der Instruktion eine i.F.R.
Wir sehen hier die entgegengesetzte Seite einer Vw., die
wir oben als »konstruierende« bezeichnet haben, und die sich
hier als einfach »reproduzierende« manifestiert. So wie das
»Arbeitenwollen«, das »Tätigsein« perseveriert, so perseveriert
auch das Untätigsein, besser gesagt, die angenehmere Vw. des
bloßen ‚Wiederaufsagens.
Was wir früher über die Erscheinungsweisen der Perse-
veration gesagt haben, gewinnt hier neue Dlustrierung. Wir
sehen ein Perseverieren der am Vortage geübten Rp.-Tätigkeit,
die bei Vp. A im ersten Versuch des folgenden 3. U,- Tages
zur F.R. führt. (Irradition.) Es entsteht und perseveriert
aber auch manchmal die Neigung, stets sinnvoll zu reagieren,
was von der Vp. auch eingestanden wird. (Vgl. oben S. 119, e.)
Demnach ist es eigentlich unklar, hier nur von einer »re-
produzierenden Vw.« zu sprechen (Lewin); der Achsche Ge-
danke von einer Bewußtseinslage der Erleichterung wird dem
vorliegenden Phänomen gerechter.
War also die konstruierende Vw. eine Sicherung gegen F.R.,
so zeigt sich die reproduzierende Vw. als eine Ursache von
i. F.R. und F.R. Einige Beispiele mögen das veranschaulichen:
Vp.A. 6. Versuch, 2.U,.-Tag. Der Reizsilbe ludep war die homogene
Silbe piras— paris vorausgegangen. Die Neigung, mit dem Gelernten zu ant-
worten, blieb bestehen. Nun ist zwar ludep als neutrale Silbe niemals mit
einer Umstellung gelernt worden; aber sei es, daß die Vp. beim Memorieren
ludep als aus pudel gebildet erkannt hat, sei es, daß die Neigung entstanden
war, »sinnvoll« zu reagieren: Vp. reagiert mit pudel statt ledup. Dazu kommt,
daß als ein den Fehler begünstigendes und vorbereitendes Moment ein
Schwinden des festen Vorsatzes eingetreten war: 4. Versuch. V.P. Hingabe.
5. Versuch. V.P. Erinnerung an die Aufgabe. 6. Versuch. V.P. Es wird
schon gehen !«
Im 6. Versuch des 3. U,.-Tages war basim zu bisam umgestellt, d. h.
das Ziel der Aufgabe fiel mit der Reproduktion zusammen. Wirkung: Die Rp.-
Lage perseveriert, der Vorsatz wird nicht erneuert. V.P. des 7. Versuches
»Leer«. Es erscheint die heterogene ux. -Silbe libeb, auf die statt lebib mit
dem dazu gelernten »bibel« geantwortet wird. Dabei Richtigkeitsbewußtsein.
Vp. B. Im 3. Versuch des 1. U,.-Tages war B durch die homogene Auf-
gabe ritel— liter in die Rp.-Lage gekommen. Im 4. Versuch reagiert sie,
scheinbar gesichert durch ihren »starken Vorsatz«, auf reson mit »Tosen«.
a L m — — — — — — ©
R * Be gu" t4 $ B — 4.
“ — FE ae 2 az} = HE KL a ee DEE et- Ja?
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 141
Die übrigen i.F.R. werden nun von selbst verständlich sein: & U g.=
Tag, 4. Versuch: nuchöb, umgestellt zu buchen; 5. Versuch: legün, umgestellt
zu lügen, statt negül. (In der V.P. des 5. Versuches hieß es schon: »Bißchen
abgelenkt!«) 3. U,-Tag, 2. Versuch. V.P. Mehr aufmerksam als vorher.
H.P. vulem — velum. 3. Versuch: räfek. Statt refäk, welches »falsch und
fremd« erschien, wird »käfer« gesagt. (V.P. »Aufgabe durch Erinnerung be-
wußt.«)
Vp. D. 3. Uy.-Tag, 5. Versuch. nod&b— bod6n. (Rp.-Lage cha-
rakterisiert durch jambische Betonung von bod&n.) Folgen: 4. Versuch. V.P.
Etwas zertreut. H.P. gebal zu gabel, nicht legab, umgestellt.
7. Versuch. V.P. Anspannung der Aufmerksamkeit. H.P. rakif wird vor-
sichtig zu fakir umgestellt und kontrolliert. Da aber sinnvoll, wird im 8. Ver-
such aus piras— paris statt sirap gebildet und zu spät als Fehler bemerkt.
b) Bewußt.
(Inertial-Td.)
»Enttäuscht über die überflüssige geistige Anstrengung«,
heißt es in der N.P. des 5. Vers., 2.U,.-Tag, Vp. A, nachdem
eine homogene Silbe mühevoll umgestellt worden war; und
dann folgt eine glatte i. F.R. |
Die Inertial-Td. hatte nur Zufallserfolge; ihre maßgebende
Wirkung zeigt sich in der Verursachung der F.R. »Was war
doch dazu gelernt? Vielleicht geht es auch ohne Umstellung !«
Das ist die charakteristische Einstellung der Vpn., die dann
zu spät den Fehler merken. »Statt an die Aufgabe zu denkeny
suchte ich das dazu gelernte Wort«, gesteht B beschämt nach
nach einer F.R. (7. Vers. 2.U,.- Tag). »Aber es fiel das dazu
gelernte Wort nicht ein.«
Dieses Suchen nach dem dazugelernten Wort verlangsamte
die Reaktion, so bei Vp. D im 2. Versuch des 3. U,.-Tages bis
zu 5 Sekunden. Im Protokoll heißt es: »ribeb sofort als ge-
lernt erkannt. Ich wartete auf das Ergänzungswort.«
$ 12. Ablenkungen.
Eine ähnliche Rolle wie die Einstellung zur bloß reprodu-
zierenden Tätigkeit spielen ablenkende Reize, welche die Aus-
führung der Aufgabe vergessen machen. Wir haben im $ 6,
4. Abschnitt, S. 119 bereits ausgeführt, welche Faktoren Ver-
anlassung zur Ablenkung werden können. Es sind neben phy-
siologischen Reizen ästhetische Eindrücke, die von den Reiz-
silber ausgehen, neu entstandene, unkontrollierbare Assozia-
tionen, welche das Aufgabebewußtsein zurücktreten lassen;
142 Julian Sigmar,
ebenso kann das aus bester Absicht begonnene wiederholte
»innerliche Lesen« unvermerkt in die reproduzierende Verhal-
tungsweise überleiten. Es ist auch erwähnt worden, daß manche
Reizsilben an Bestandteile einer andern Situation erinnern,
welche auf die Vp. besondere Anziehungskraft ausübt und die
Instruktion vergessen läßt.
Beispiele: Störende Reize üben aus die umfangreiche Apparatur, an
die sich manche Vp. schwer gewöhnt, gelegentliches Versagen des Karten-
wechslers, Knistern am Apparat und vor allem der schlecht funktionierende
Schallschlüssel.
Vp. A begeht einen Fehler und behauptet, »am langen f hängen geblieben
zu sein« (5. Versuch, 3. U,.-Tag); im 2. Versuch, 2. U,.-Tag ist sie am w
hängen geblieben. In rüteg stört sie einmal das g und das ü. Vp.B ist
»perplex« geworden infolge des »Gleichklanges«. Sie stellt sötuz zu zötuz,
statt zu zötus um. Das in Rundschrift geschriebene »nodaw« fesselt die Vp.,
die sich an englische Laute und Buchstaben erinnert fühlt. Dabei vergißt sie
die Instruktion und reagiert aus der Erinnerung mit »wodan« (10. Versuch,
1. U,.-Tag).
Im 5. Versuch des 1. U,.-Tages hat Vp. D die Reizsilbe resan umzu-
stellen. resan ruft unmittelbar rosen wach. Vp. ist verblüfft und kann sich
nicht Rechenschaft geben, warum rosen falsch sein soll. So wird D von der
Aufgabe abgelenkt und stellt nicht die Konsonanten um, sondern die Vokale;
rasen wird mit Richtigkeitsbewußtsein ausgesprochen.
Im 9. Versuch des 2. U,.-Tages wird dieselbe Vp. durch logem sofort
an mosel erinnert; diese Silbe erinnert an die Heimatstadt Trier, die Aufgabe
ist vergessen, es entsteht eine i. F.R. Auch hier mit Richtigkeitsbewußtsein,
Die Stadt Trier und der Moselstrom sowie die Fülle aller daran haftenden
Jugenderinnerungen bildete hier eine so starke gefühlsbetonte Situation, daß
ein Bestandteil derselben, Mosel, die Instruktion vergessen macht. — Dieselbe
Rolle wie das oben erwähnte rosen spielt London, das auf das Reizwort ledon
auftaucht. Auch hier i. F. R.
Bekanntlich fordert die Instruktion von den Vpn.: »Nachdem Sie die
erschienene Silbe gelesen und erkannt haben .. .« Dieses Lesen hat wieder-
holt Anlaß zu F.R. gegeben. So ist es Vp. A gegangen. Im 4. Versuch des
1. U,.-Tages soll sie lugek umstellen. Sie liest es und sagt dann: »Das Wort
ist umgedreht, die Assoziation ist so stark, daß ich nicht anders konnte, als
kugel sagen« (i. F.R.). Dasselbe passierte ihr noch im 11. Versuch des letzten
Versuchstages. H.P. »rüteg, ich will ausführen, aber das g und ü haben mich
gestört. Ich habe zweimal gelesen, durch das Lesen kam ich auf das Asso-
ziationswort .. .« (i. F.R.). Es muß erwähnt werden, daß dieser Fehl-Reaktion
eine homogene Aufgabe vorangegangen war: fesul— fusel. Das innerliche
Lesen hat hier das Bestehen der reproduzierenden Verhaltungsweise ge-
sichert.
§ 13. Eilfertigkeits-Tendenz.
Es ist eigentümlich, daß die Vpn. von dem Drang beseelt
sind, die Aufgaben nicht nur instruktionsgemäß, sondern mög-
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 143
lichst schnell zu lösen. Man könnte bei der Allgemeinheit dieser
Erscheinung direkt von einer Tendenz zur größtmöglichen Eile
in der Lösung sprechen. Vp. © sagt im 2. Versuch des
3. U,.- Tages: »Antworte diesmal schnell« +46). Leider ent-
stehen infolgedessen manche F.R.
Beispiele: Vp. C, 10. Versuch des 3. Uy.-Tages: »So schnell geant-
wortet, daß ich zu keiner Überlegung kam.« futam zu mutam umgestellt.
»Überzeugt, richtig gehandelt zu haben.«
Vp. D, 5. Versuch des 1. U, .-Tages: »Ich ließ mich verblüffen, die Zeit
drängte, ich konnte die Falle nicht erkennen« (i.F.R. mit Richtigkeits-
bewußtsein).
Im 4. Versuch des 2. U,.-Tages hat D den Eindruck, er hätte schneller
reagiert haben können. Er stellte die homogene Silbe rüteg zu güter in 2,3 Se-
kunden um. Nun folgte aber die heterogene Silbe fesul. Unter dem Drang,
schnell zu reagieren, blieb die reproduzierende Verhaltungsweise bestehen
und es kam zur i.F.R. (1,1 Sekunden).
Der 9. Versuch desselben Tages brachte wieder eine F.R. H.P. »lafet
undeutlich aufgefaßt, um schneller zu machen«,
§ 14. _ Ermüdung, Konzentration, unverstandene Aufgabe,
Bei dem Grad der Anstrengung, die das lange Memoiren,
Protokollieren und Aufmerken erfordert, muß man auch mit
einem starken Ermüdungsfaktor rechnen, in dessen Gefolge
F.R.eintraten. Die Ermüdung machte sich manchmal gerade
am Anfang der Versuchsreihe als Wirkung der Memoriertätig-
keit geltend:
»Vom Lernen am Lipmann-Apparat noch ganz erschöpft; schwach kon-
zentriert, mit Lippenbewegungen umgestellt, Infolge des Lesens am Gedächtnis-
Apparat ist es mir, als ob ein Schleier über mein Denken gebreitet wäre.
N.P. Reue über den Fehler, aber nicht stark, weil ich zu müde war.« (Vp.D,
l. Versuch, 1. Uy.-Tag.) Desgleichen im 1. Versuch, 1. Rp.-Tag: »Vom Lernen
siemlich müde.«
Natürlich tritt am Ende des Versuchstages die Ermüdung
um so regelmäßiger hervor. Anders lassen sich die sieben F.R.,
die auf den 11. und 12. Versuch fallen, schlecht erklären.
In dem Bestreben, die richtige Verhaltungsweise zu finden,
versuchen es die Vpn. oft mit dem Mittel eines größeren
Kraftaufgebotes; sie spannen ihre Konzentration an und richten
die Aufmerksamkeit auf bestimmte Reize, an denen die Um-
stelltätigkeit einsetzen soll. Dadurch erhält die Aufmerksamkeit
eine falsche Richtung und es entstehen F.R.; so z.B., wenn
46) Vgl. Ach, W. u. T. S. 257, 270.
144 Julian Sigmar,
Vp. A sich »an den letzten Buchstaben klemmt« (5. Vers. 1. U „.-
Tag und 1.Vers. 2.U,.-Tag), oder an die Vokale (5. Vers.
1. U,.-Tag). Typisch ist die falsche Aufmerksamkeitsrichtung
»auf den Schlitz« (1.Vers. 1.U,.- Tag Vp. C und 10. Vers.
‘2. U.-Tag Vp. D). Erscheint das Reizwort dann zufällig an
einer nicht fixierten Stelle, so tritt Verwirrung und in deren
Gefolge F.R. ein.
Daß zuviel Konzentration schadet, ist schon bei Behand-
lung des Einflusses der Konzentration und Spannung auf die
richtige Lösung gesagt worden (s. oben S.120f.). Es sind wieder-
holt F.R. infolge falscher Konzentration eingetreten.
Bei F.R., die am Anfang des Versuchstages eintraten, ist
oft leicht zu sehen, daß es sich trotz der vorangegangenen for-
malen Übung in Vorversuchen um unverstandene Aufgaben
handelt. Angaben wie: »Gefühl der Unsicherheit, weil ich keine
Technik der Ausführung hatte« (1.Vers. 1.U,.- Tag Vp. A),
oder: »Etwas gestört, weil ich nicht sicher gewesen, ob die In-
struktion weiterhin gilt« (2.Vers. 1.U,.- Tag Vp.B), lassen
sich wohl kaum anders erklären *).
Zusammenfassung.
I. Es ist nicht so, als ob bei der Ausführung der Ach-
schen Aufgaben etwa nur die Reproduktions-Tendenz gegen die
determinierende Tendenz kämpften, als ob im Falle einer ge-
lungenen Reaktion die determinierende Tendenz, im entgegen-
gesetzten Falle die Reproduktions-Tendenz gesiegt hätte.
Die Analyse der Protokolle ergibt vielmehr, wenn man sich
einmal auf den’ Standpunkt einer Tendenzen-Theorie stellen
will, daß Erfolg wie Mißerfolg auf verschiedene Tendenzen
zurückgeführt werden kann.
Als solche, den Erfolg sichernden Tendenzen haben sich
herausgestellt: die Kontroll-Tendenz, die Tendenz zur Per-
sistenz in bestimmten Verhaltungsweisen oder Ausführungs-
tätigkeiten, die Inertial-Tendenz und die KReproduktions-
Tendenz.
47) Die Zahl der i. F. R. bleibt ziemlich dieselbe, ganz gleich, ob das
Umstellen der Konsonanten oder das Umstellen der Vokale geübt wird. Die
Zahl der F.R. ist dagegen bei der U,.-Tätigkeit 31/,mal so groß als bei
der U„.-Tätigkeit. Ux. fällt also bedeutend schwerer, was mit den Protokoll-
angaben übereinstimmt. |
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 145
Jene Ausführungstätigkeit bzw. -technik, die am sichersten
zur erfolgreichen Reaktion führt, nennen die Vpn. »Praxis«
und »Hingabe«. In dieser populären Bezeichnung haben wir
wohl die deutlich empfundenen Abstufungen ein und derselben
Verhaltungsweise zu sehen, die als konstruierender Habitus ge-
kennzeichnet werden kann.
In dem Suchen nach der besten »Praxis« offenbaren sich
einerseits Tendenzen zur möglichst zweckmäßigen, raschen und
sicheren Lösung, andererseits die engen, unauflösbaren Be-
ziehungen zwischen rein intellektualer Auffassung des Zieles
und motorischer Innervation bei der Zielverwirklichung.
In der »Hingabe« und ihrem Merkmal, dem sofortigen
Ausführen der Instruktion, dem steten Tätigsein und dem
latenten oder bewußten Mißtrauen gegen jede andere Aus-
führungsmöglichkeit der Aufgabe scheint das verwirklicht zu
sein, was Ach den »energischen Entschluß« nennt. Er ist ge-
kennzeichnet durch die konstruierende Verhaltungsweise, die
Neigung zu deren Persistenz und zur Kontrolle aller etwa
störenden Tendenzen.
Die Aufmerksamkeits-Konzentration kann als ausschlag-
gebende Bedingung richtiger Reaktionen ebensowenig in Frage
kommen, wie der sogenannte »feste Vorsatz«. Es handelt sich
hier um Bezeichnungen aus der Popular-Psychologie, die für
eine wissenschaftliche Verwendung als viel zu unbestimmt sich
erwiesen.
Ein Unterschied zwischen Willensanspannung und Auf-
merksamkeits-Konzentration ist gegenstandslos, weil die Auf-
merksamkeits- Phänomene nur das sichtbare Korrelat der
Willensstärke sind.
II. Ebensowenig wie determinierende Tendenzen — die
übrigens als solche nicht festgestellt werden konnten — den
Erfolg der Reaktionen herbeiführten, ebensowenig sind repro-
duktive Tendenzen als direkte Ursache der Fehlreaktionen
nachweisbar.
Wo immer in den 14 intendierten Fehlreaktionen die Re-
produktions-Tendenz siegte, geschah es nicht unmittelbar, son-
dern auf Grund einer Verhaltungsweise, die der Reproduktions-
Tendenz erst freie Bahn schuf. Auch Ablenkungen und die
Tendenz zur schnellsten Ausführung (Eilfertigkeits-Tendenz)
waren in der gleichen Weise wirksam.
Archiv für Psychologie. LII. 10
146 Julian Sigmar,
Maßgeblichen Einfluß auf die Entstehung der Fehlreaktionen
übte die bloß reproduzierende Verhaltungsweise aus, welche
sich als unbewußte Verhaltungsweise in der Persistenz einer
bestimmten Tätigkeit manifestierte.e. Die in homogenen Auf-
gaben unbewußt entstandene Neigung zur bloßen Reproduktion
muß in heterogenen Aufgaben zu intendierten Fehlreaktionen
führen.
Die reproduzierende Verhaltungsweise wird aber auch von
den Versuchspersonen bewußt gesucht und angenommen, um
sich etwaige überflüssige Arbeit zu ersparen. Auch diese Ten-
denz (Inertial-Td.) führt Fehler herbei, ebenso wie die in jeder
Versuchsperson liegende Tendenz zur möglichst schnellen
Lösung (Eilfertigkeits-Td.).
Die vielfachen Arten von Ablenkungen sind insofern ge-
fährlich, als sie das Aufgabebewußtsein zurücktreten lassen
und dann falsche Reaktionen bedingen.
III. Das Achsche Gesetz vom assoziativen Äquivalent ist
demnach unhaltbar, weil bei dem nachgewiesenen Neben- und
Durcheinander der Tendenzen zunächst die Entstehungs- und
Wirkungsbedingungen derselben aufgeklärt werden müßten; weil
andererseits schon jetzt gesagt werden darf, daß die Wieder-
holungszahl der Assoziationsreihen keine maßgebende Bedingung
für die Wirkungskraft dieser oder jener Tendenzen zu sein
scheint.
B. Synthetischer Teil.
Prüfungsreihen zur Kontrolle der analytischen Ergebnisse.
8 15. Über Ziel und Anlage der Prüfungsreihen.
Wenn der Erfolg wirklich von der Beobachtung jener Kenn-
zeichen einer Verhaltungsweise abhängt, welche die Vpn. »Hin-
gabe« nennen, das sind: »Sofort an die Arbeit gehen! Immer
umstellen und sich nicht auf andere innere Anregungen ein-
lassen!«, dann muß es möglich sein, richtige Reaktionen ohne
die Kennzeichen des anschaulichen und des zuständlichen Mo-
ments herbeizuführen, also auch bei sogenanntem »sschwachem
Wollen«. Andererseits müßten unter Betonung derjenigen Ten-
denzen bzw. der Herbeiführung einer bloß reproduzierenden
Verhaltungsweise oder durch Ablenkungen i.F.R. trotz des
sogenannten festen Vorsatzes herbeigeführt werden können. Die
Ergebnisse solcher Versuche werden jedenfalls die Frage auf-
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes.. 147
klären, welche fördernde oder hemmende Faktoren jene von
uns angeführte Ko.-Td., Inertial-Td. und die zur Persistenz
einer Tätigkeit sind. Daraus wird auch zu ersehen sein, ob
der »feste Vorsatz« eine notwendige oder eine merklich för-
dernde, oder überhaupt einfließende Bedingung richtiger Re-
aktionen ist.
Um i. F.R. zu vermeiden, sind zwei verschiedene Wege mög-
lich: Entweder muß die Ko.-Td. auf instruktivem Wege oder
durch eine entsprechende Anordnung der Versuche möglichst
früh geweckt werden, oder es ist bei den Vpn. der Zustand der
Hingabe hervorzurufen. Natürlich müßten die Instruktionen
R ux’ an sich unverändert bleiben und die Bildung eines starken
Vorsatzes vermieden werden. Wenngleich nun die Ko.-Td. nicht
schwer zu wecken ist, so liegt doch die große Schwierigkeit
darin, die Ko.-Td. zu einer dauernden Verhaltungsweise
zu machen. Daher lag es viel näher, in der völlig unbefangenen
Vp. die Verhaltungsweise der »Hingabe« wachzurufen. Zu der
Instruktion Rux’, die unverändert blieb, wurde der Zusatz
gemacht: »Machen Sie sich, ohne auf andere innere An-
regungen einzugehen, immer sofort ans Umstellen, wie die In-
struktion es fordert.« Unter »inneren Anregungen« waren stö-
rende Tendenzen und Assoziationen zu verstehen, was aber den
Vpn. von vornherein nicht gesagt wurde. Das »Sofqrt-Um-
stellen« ist, wie oben dargelegt, den Vpn. selbst abgelauscht.
Daß dieser Vorsatz trotz seiner Vorzüge nicht schon die Sicher-
heit gegen Ermüdung, Eilfertigkeit und Unaufmerksamkeit bot,
wurde von dem Versuchsleiter zunächst nicht beachtet. Er-
probt sollte das Verfahren an zwei Vpn. — F und G —
werden, von denen eine nach der »starken Anordnung I«, die
andere nach der »schwachen Anordnung II« die Silben gelernt
hatte. —
Die Herbeiführung von F.R. und i.F.R. sollte geschehen
trotz aller Anzeichen eines festen Vorsatzes.. Es wurde den
Vpn. die feste Vornahme geradezu anempfohlen. Zugleich
aber war die Versuchsanordnung so angelegt, daß jene Ten-
denzen bzw. Verhaltungsweisen geweckt wurden, damit die Re-
aktion im Sinne der Instruktion nicht gelänge. So ist mit
Vp. E die Wirksamkeit der Persistenz der reproduzierenden
Ausführungstätigkeit erprobt worden. Diese Bewußtseinslage
wurde durch eine entsprechende Anordnung in der Reizsilben-
folge hervorgerufen.
10*
148 Julian Sigmar,
Die Herbeiführung von F.R. und i.F.R. dagegen sollte ge-
schehen trotz aller Anzeichen eines festen Vorsatzes. Es wurde
den Vpn. die feste Vornahme geradezu anempfohlen. Zugleich
aber war die Versuchsanordnung so angelegt, daB jene Ten-
denzen bzw. Verhaltungsweisen geweckt wurden, damit die Re-
aktion im Sinne der Instruktion nicht gelänge So ist mit
Vp. E die Wirksamkeit der Persistenz der reproduzierenden
Ausführungstätigkeit erprobt worden. Diese Bewußtseinslage
wurde durch eine entsprechende Anordnung in der Reizsilben-
folge hervorgerufen.
Ein anderer Weg der Versuchsanordnung konnte durch Her-
beiführung von Ablenkungen eingeschlagen werden. War doch
numerisch betrachtet die Zahl der F.R. infolge von Ablenkungen
fast ebenso hoch wie die Zahl der auf andere Ursachen zurück-
zuführenden Fehler. Störungen der Aufmerksamkeit in der Art,
wie sie nach den analytischen Ergebnissen maßgebend geworden
sind, waren nicht schwer herbeizuführen. Andererseits konnte
eine falsche Richtung der Aufmerksamkeit und damit Fehl-
reaktionen ermöglicht werden, indem man beispielsweise der
Vp. sagte, sie solle sich nur kräftig vornehmen, richtig zu re-
agieren und ihr Bestes zu leisten. Dadurch wären die Momente
des Achschen primären Willensaktes sichergestellt, obgleich
die Vp. bei dieser Einstellung den entscheidenden Ansatzpunkt
der Arbeit ohne weiteres nicht finden konnte. Die Wirkung
einer bloß reproduzierenden Verhaltungsweise haben wir bei
Vp. E erprobt, Ablenkungen bei den Vpn. H und J.
§ 16. Fehlreaktionen auf Grund einer reproduzierenden
Verhaltungsweise.
Es handelt sich um eine Versuchsanordnung, welche auf
die Stärkung der gesamten Perseveration, oder, in Ach-
scher Terminologie, auf die Weckung und Behauptung der
Bewußtseinslage der Erleichterung berechnet ist. Sie tritt be-
kanntlich ein, wenn eine homogene Silbe umgestellt worden
ist. Dabei decken sich Umstelltätigkeit und Reproduktions-
tätigkeit. Gewöhnlich verharrt dann unbewußt die Reproduk-
tionslage, wie sie beim Lernen am Gedächtnisapparat ent-
standen war, und die Vp. sucht dann auch eine etwa folgende
heterogene Aufgabe durch bloße Reproduktion zu lösen, was
zu einer i.F.R. führen muß.
a N EE SER 1- > enw
4 ,
1% š ; u
— — nn
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes.. 149
Das charakteristische Moment der Versuchsanordnung wird
also darin liegen, daß eine bestimmte Umstelltätigkeit alle 12
Versuche hindurch angewandt wird, aber stets an Silben aus-
geübt werden muß, die infolge vorangegangener Übungen mehr
oder weniger stark mit andern Silben gelernt worden waren
(vgl. oben S. 95).
Aus dem Achschen Kreis liegt über die Perseverationserscheinungen
eine Arbeit von Wiedenberg vor, die aber das Problem von einer andern
Seite anfaßt“). W. wechselt stets die Tätigkeit, die an den Silben ausgeübt
werden muß; es sind Umstellen der Konsonanten und Reimen durch Ersatz
des ersten Konsonanten. Er beobachtete zahlenmäßig die perseverierendd
Wirkung der gegeneinander ausgespielten Tätigkeiten. Eine Untersuchung der
perseverierenden Erscheinungen, wobei die Ruxsche Instruktion unverändert
blieb, war daher am Platze.
Anordnung der Versuche. Die starke Versuchs-
anordnung Rux’ sieht 9 Umstelltage vor, denen 2 Memoriertage
vorausgehen. Unter den 9 Tagen befinden sich 3 Rp.-Tage, auf
welche wir verzichtet haben. Es kam uns auf die Gewinnung
von allgemeinen Vergleichswerten hier nicht an. Außerdem
machte die Reproduktionstätigkeit den Vpn. so viel Schwierig-
keiten, daß wir ihnen die Verlegenheiten ersparen wollten (vgl.
oben S. 129£.).
Vp. E hat am 3. Versuchstage nach 60 Lesungen mit den
Reaktionen begonnen. Am 3., 5. und 7. Tage wurde U,, am
4., 6. und 8. Tage U, geübt. Die zur Reaktion verwandten
Silben waren so angeordnet, daß die heterogene immer auf
homogene Silben folgte. Um das Eintreten der Reproduktions-
lage zu sichern, wurde der homogenen Silbe eine indifferente
vorangestellt, also keine heterogene Silbe, weil dadurch die Be-
wußtseinslage der Anstrengung (konstruierende Verhaltungs-
weise) nahegelegt wird. Dieses Verfahren ist bis zum 4. Re-
aktionstage einschließlich beobachtet worden mit der kleinen
Veränderung, daß am 3. und 4. Tage jene Reihenfolge ein-
gehalten wurde, die Rux für den 6., 7. und 8. Tag seiner Ver-
suche benutzt hat; diese Anordnung versprach günstige Ge-
legenheit zu F.Rn. Bezeichnen wir, wie schon oben, die neu-
trale Silbe mit I, die u,-Silbe mit II, die u,-Silbe mit III,
so ist in den ersten 4 Versuchstagen mit geringen Abände-
rungen folgendes Schema angewandt worden (NB.! An der mit
* bezeichneten Stelle waren F.Rn. intendiert):
48) Die perseverierend-determinierende Hemmung bei fortlaufender Tätig-
keit, Leipzig 1912.
150 Julian Sigmar,
An U,.-Tagen An U,..-Tagen
HI I I UDl* OHI 0* I Il
Io I U U* I II I
I I I IM m D* I IN
Bei der beschränkten Zahl der homogenen Silben gab die
Anordnung immer nur wenig Gelegenheit zu Fehlern; es wurde
daher das Silbenmaterial durch Hinzunahme von vier homo-
genen Silben ergänzt, obgleich diese schon an anderen Tagen
verwandt worden waren; vier indifferente Silben wurden dafür
ausgeschaltet. (Die hinzugenommenen Silben werden im Schema
durch Klammern bezeichnet.) Wir hofften, durch zwei- bis
dreimalige Darbietung homogener Silben die Reproduktionslage
zu verstärken und i. F.R. leichter zu erreichen. Daß wir diese
Verstärkung erst am 8. und 9. Versuchstage anwandten, ge-
schah als Gegengewicht gegen die Wirkung der im Lauf der
Versuchstage immer stärker gewordenen Ko.-Td. Das Schema
der letzten beiden Tage war daher folgendes:
I I ID II
II ID (I) II*
II (ID) (ID) II®.
Erfolg. An 17 Stellen waren i.F.Rn. beabsichtigt; es
sind drei i. F.Rn. und zwei F.Rn. eingetreten, das macht
29,4%. Im Laufe der Versuche waren noch sechs andere F.Rn.
vorgekommen, wir ziehen sie aber nicht in Betracht, weil sie
nicht an den intendierten Stellen erfolgt und infolgedessen
keine Symptome der Reproduktionslage sind.
Es entsteht natürlich die Frage, auf welche Umstände es
zurückzuführen ist, daß die 12 übrigen Fehlergelegenheiten
vermieden worden sind. Es geschah dies vornehmlich durch die
Verhaltungsweisen der Kontrolle und der Hingabe.
Die Ko.-Td. tritt in allen schon beschriebenen Modalitäten auf. Ganz
auffallend ist bei dieser Vp. die intuitive Kontrolle (vgl. oben S.99). Vp. E
sagte einmal, als sie sich über die Schnelligkeit und Gewißheit der aus-
geführten Umstellung auslassen soll: »Es liegt mir so im Gefühl« (12. Versuch,
3. U,.-Tag). Man wird beim Lesen der Protokolle unwillkürlich an die
v. Kriessche Lehre von der konnektiven Einstellung erinnert. Vp. hat auch
in den homogenen Aufgaben stets, wenn auch meist unbewußt, kontrollierende
Vergleiche des Umgestellten mit der Aufgabevorstellung eintreten lassen. Da
dies besonders deutlich am 3. U,.- und U,.-Tag zu beobachten ist, dürften
hierbei auch Mechanisierungsfaktoren eine Rolle spielen. Versuchsleiter hat
den Fehler gemacht, Vorversuche an denselben Silben anzustellen, die später
als Reaktionssilben verwandt wurden. So hat sich bald eine mißtrauische
Kontrolle herausgebildet, die von der Vp. an allen Versuchstagen beibehalten
m-
i B
nun ne nn
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 151
wurde. Vp. arbeitete schon nach den ersten Fehlern vorsichtig, zurückhaltend,
gab das Protokoll sehr langsam ab, wodurch dié Momente des Kontrollvor-
ganges von neuem stark angeregt wurden.
Diese Beobachtung legt den Gedanken nahe, bei derartigen Prüfungen
der Wirkung von Perseverationserscheinungen für die Zukunft Protokollab-
gaben nicht zu fordern.
Die Hingabe tritt bei der Vp. E schon im 4. Versuch des ersten Tages
auf. Ihre Merkmale sind schon am 1. und 2. Versuchstage deutlich unter-
scheidbar. Selten wird die umzustellende Silbe als gelernt erkannt, d. h. das
hinzugelernte Wort meldet sich fast immer erst nach der erfolgten Lösung
der Aufgabe.
Im weiteren Verlauf der Übungstage mechanisiert sich die Lösungsmethode
der Aufgaben, was die Vp. auch deutlich zu Protokoll gibt. Im 12. Versuch
des 1. U,.-Tages stellt sie sich auf die Inertial-Tendenz ein: »Wieder der
Gedanke, etwas mit dem Assoziationsmaterial zu arbeiten.« Als aber die
Silbe erscheint, wird vorschriftsmäßig die Umstellungstätigkeit ausgeübt. »Zu-
frieden, wenn auch der Vorsatz nicht gelungen ist«, sagte Vp. in der N.P.
Kritik. Die eingetretenen i.F.R. und F.R. an den dafür
berechneten Stellen wiesen deutlich die Existenz der andauern-
den Reproduktionslage nach. Dadurch wurden unsere analy-
tischen Feststellungen bestätigt. Immerhin haben sich bei dieser
Versuchsanordnung Faktoren herausgestellt, welche den Befund
ungünstig verschleiern. Es ist schon darauf hingewiesen
worden, daß die Protokollabgabe ein die Versuchsbedingungen
störendes Moment ist. Es dürfte auch nicht richtig gewesen
sein, die drei Rp.-Tage auszulassen, weil sich an den Rp.-
Tagen nach Achscher wohlberechtigter Anschauung »deter-
minierte, fördernde Assoziationen« bilden können.
Die erst am 3. U,- und U,.-Tag angewandte Aufein-
anderfolge von mehreren homogenen Silben vor der heterogenen
Aufgabe hat ihren Zweck nicht so durchschlagend erfüllt, wie
es hätte geschehen müssen, wenn dieses Schema schon am 1.
und 2. Versuchstage angewandt worden wäre. Die von der Vp.
bereits erworbene Verhaltungsweise der Hingabe (konstruierende
Vw.) war bereits so stark geworden, daß sie in den letzten Re-
aktionstagen in vielen Fällen die Absicht der Versuchsanord-
nung hinderte. Diese Feststellung dürfte beachtenswert sein
gegenüber der Anordnung IV Lewins, bei dem an solchen Stellen
die i. F.Rn. sicher eingetreten sind. Aber auch unsere Vp. E hat
sich am letzten Reaktionstage diesem Einfluß nicht ganz ent-
ziehen können; sie machte an den beabsichtigten Stellen eine
i. F.R. und zwei F.Rn., schob aber die Ursache dieser Fehler
regelmäßig ;auf »das Bestreben, möglichst schnell zu ant-
worten«.
152 Julian Sigmar,
817. Versuche zum Nachweis, daß der starke Vorsatz in-
tendierte Fehlreaktionen und Fehlreaktionen nicht verhindert.
Vp. H in der starken Anordnung I, Vp. J in der schwachen
Anordnung II.
1. Zur gewöhnlichen Instruktion wurde der Zusatz gemacht:
»Nehmen Sie sich in jeder V.P. recht kräftig vor: Ich will die
Vokale bzw. die Konsonanten umstellen !«
2. An den beabsichtigten Stellen wurden die heterogenen
Reizsilben mit Ablenkungen geboten. Hierzu waren ge-
wählt:
a) heterogene Reizsilben in Antiqua-Schrift, während die
übrigen Silben gewöhnlichen Druck zeigten;
b) bunte kleine Flecke auf den Reizkarten;
c) Reizsilben auf einem mit zartem Tapetenmuster über-
zogenen Karton;
d) Scherenschnitte und Köpfe links oben von der Reizsilbe.
Die Reihenfolge a—d drückt auch die Steigerung aus, in der
d:e Ablenkungen angewandt wurden. Am letzten Reaktionstag
wurden an zwei Stellen auch die der heterogenen vorausgehende
Silben mit Karikaturen geboten, um die Bewußtseinslage der
Erleichterung zu befestigen.
3. Am 5. Versuchstage wurde der Vp. der Rat gegeben, sich
nach Möglichkeit die Umstellbarkeit zu ersparen und erst zu-
zusehen, ob nicht die Reaktionssilbe gelernt worden war (In-
ertial-Td.).
4. Die Vorversuche wurden nur an solchen Silben ange-
stellt, die überhaupt nicht gelernt worden waren, also an völlig
neutralem Material, das aus anderen Versuchsreihen entnommen
war.
Ergebnisse: Beabsichtigt waren 20 i. F.Rn., von denen
vier eingetreten sind; an drei Stellen wurde die Gefahr nicht
ganz vermieden, so daß es zu F.Rn. kam; im zweiten Fall wird
von der Vp. dem ablenkenden Bild einer Gans die Schuld daran
zugeschoben.
Mehr als ein Drittel der beabsichtigten F.Rn. ist also auch
eingetroffen. (Die zwei weiteren F.Rn. sollen außer Betracht
bleiben, weil sie auf neutrale Silben fielen; immerhin trotz
ausdrücklich betonten starken Vorsatzes!)
Daß die übrigen 13 heterogenen Aufgaben richtig gelöst wurden, ist
vornehmlich der »Hingabe« zuzuschreiben. Sie trat erst deutlich am 1. U ,.-
Tag (d. h. am zweiten Umstellungstag) auf. Wiederholt wird im Laufe der
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 153
Reaktionstage ausdrücklich zu Protokoll gegeben: »Ich will umstellen und mich
um nichts anderes kümmern.« Die Bezugsvorstellung ruft unter der Herrschaft
dieser Verhaltungsweise kein merkbares Bekanntheitserlebnis wach, weil ja
sofort ans Umstellen gegangen wird, erst in der N.P. wird es gemeldet. In
manchen Fällen werden nicht passende Assoziationen erkannt und abgelehnt.
(»Ich will nicht daran denken, wie es am Gedächtnisapparat gelautet hat.«
9. Versuch, 1. U,.-Tag.) Die ziemlich bald herrschend gewordene konstru-
ierende Verhaltungsweise (Hingabe) mechanisiert sich allmählich, so daß gegen
Ende der Versuchstage die Aufgaben auch ohne große Aufmerksamkeit ge-
löst werden. Darin spricht sich die graduelle Verwandtschaft von »Hingabe«
und »Praxis« aus. Im ganzen sind 11 gelungene Reaktionen (85°/,) auf Hin-
gabe zurückzuführen.
Die Ko.-Td. tritt in manchen Protokollen als das wichtigste Erlebnis
hervor; sie wird gegen Ende des ersten Versuchstages bewußt, als Folge des
rückschauenden Berichts, der durch die Protokollabgabe bedingt ist. Die F.Rn.
des ersten Versuchstages zeigen nämlich Richtigkeitsbewußtsein; im 10. Ver-
such heißt es dann aber: »Ich weiß jetzt, daß ich nicht mehr sagen darf, was
mir einfällt, sondern umstellen muß.« Die Ko.-Td. gründet sich also auf die
Einsicht in die Diskrepanz zwischen Instruktionsziel und Umstellungsergebnis.
Die mißtrauische Haltung wird von da ab gegenüber jeder Silbe be-
obachtet, an jeder wird ohne viel Erwägungen das Umstellen besorgt, so daß
die Zeiten regelmäßig werden.
a M beider U,.-Tage betragen:
u,-8:1478,8 o, neutrale S : 1456,5 o, u,-S : 1433,8 o. Am ersten U,.-
Tag fallen die homogenen Silben am leichtesten, die heterogenen am schwersten ;
a. M.: u,-S:1418,7 o, neutrale S:1639,7 o, u,-S: 1685,5 o.
Kritik. Es bleibt die Frage zu klären, welche Umstände
das Entstehen der konstruierenden Verhaltungsweise so stark be-
fördert haben, wie sich die Ablenkungen bewährten und in
welchem Verhältnis die aufgewandte Willensstärke zum Erfolg
und Mißerfolg stand.
Die als Ablenkung gedachte Antiqua-Schrift der hete-
rogenen Silben hat am 1. Versuchstag ihren Zweck voll erfüllt;
ohne Fehlerbewußtsein beging H zwei i. F.Rn. und eine
F.R.; erst während der Protokollabgabe wurde das Richtig-
keitsbewußtsein erschüttert, ohne daß jedoch die Ablenkungen
als Ursache erkannt worden wären. Das geschah erst am 4. Re-
aktionstag. (»Ich glaube, mich macht die Schrift stutzig.« —
»Vielleicht war wieder die Schrift schuld.«) Nun setzte gegen-
über den Ablenkungen eine mißtrauische Haltung ein, deren
Wirkung um so stärker wurde, als die Instruktion ja durch
die Aufforderung zu besonders kräftigem Vorsatz erweitert
worden war und die Entwicklung der »Hingabe« fördern mußte.
Durch die betonte Angabe: »Die Vokale, die Konsonanten um-
154 Julian Sigmar,
stellen!«wurde die Bildung einer konstruierenden Verhaltungs-
weise und deren Mechanisierung besonders erleichert, was vom
Versuchsleiter allerdings nicht vorausgesehen war.
Die eingeführten Ablenkungen wirkten also von dem Zeit-
punkt ab, da sie als Störungen erkannt wurden, nur fördernd
auf die Entwicklung eines energischen Willensentschlusses. Da-
her konnte deren Wirkung nur durch Steigerung und Häufung
erreicht werden, was am 9. und 11. Versuchstage denn auch
wieder zu zwei i.F.Rn. und zwar F.Rn. führte.
Die Inertial-Td. ist erst am 5. Reaktionstage intendiert
worden; viel zu spät. Die Vp. hatte schon am 1. Versuchstage
von selbst die bequeme Lösungsweise gemerkt und bereits im
9. Versuch als gefährlich abgewiesen. Als Vp. A der Belehrung
zufolge am 5. Tag eine der Inertial-Td. entsprechende Ver-
haltungsweise einnehmen wollte (1. Versuch), meldete sie so-
fort: »Aber das geht ja nicht!« und kehrte zum konstruierenden
Modus zurück.
Der kräftige Vorsatz hat auch hier kein anderes Bild
ergeben, als wie es schon in der Analyse gefunden worden war:
Trotz betonten starken Vorsatzes sind miß-
lungen: 7 heterogene und 2 indifferente Aufgaben.
Ohne Vorsatz gelangen: 4 heterogene Aufgaben.
Bei festem Vorsatz gelangen 9 heterogene Aufgaben.
Wenn wir aber diese 13 gelungenen Reaktionen näher
betrachten, so finden wir, daß sämtliche in der konstruierenden
Verhaltungsweise ausgeführt worden sind, und zwar die 9 mit
»festem Vorsatz« im Zustand der bewußten »Hingabe«, die 4
»ohne Vorsatz« unter dem Einfluß der mechanisierten Hingabe
(Praxis). Die Angaben »fester Vorsatz« und »kein Vorsatz«
sind demnach belanglos; maßgebend für eine erfolgreiche
Lösung ist die »konstruierende Verhaltungsweise«.
Vp. J. (schwache Anordnung II; tgl. andere Silben, nach
20 Lösungen Prüfungs-Reaktion).
Anordnung: Unter Verwertung der bei Vp. H ge-
machten Erfahrungen wurde die Weckung des »kräftigen Vor-
satzes« durch folgenden Zusatz zu der Ruxschen Instruktion
herbeigeführt: »Sie sollen sich in jeder V.P. vornehmen, ich
will möglichst das Beste leisten'« Etwa in der Form: »Ich will,
ich muß umstellen !«
Am zweiten Tag“) wurden die heterogenen Silben mit
49) Der 1., 6. und 8. Tag waren Reproduktionstage.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 155
Antiqua-Schrift geboten und die Vp. dahin belehrt, daß sie
sich nicht mit schematischer Auffassung der erscheinenden Silbe
begügen darf, sondern sie zuerst innerlich lesen müsse.
Am 3. Tag wurde Vp. hingewiesen auf die am Vortage
hie und da geleistete überflüssige Mühe des Umstellens mancher
Silben, die auch durch Reproduktion das richtige Ergebnis
gebracht hätten (Inertial-Td.).
Am 4. Tag erschien die heterogene Silbe nicht mehr in An-
tiqua, sondern mit Scherenschnitten. Außerdem wurde der Vp.
nahegelegt, möglichst schnell zu lösen (Eilfertigkeits-Td.).
Am 5. Tag erschien die heterogene Silbe wieder in An-
tiqua und Scherenschnitten.
Am 7. und 9. Tag statt der Scherenschnitte Karikaturen;
zur Befestigung der reproduzierenden Verhaltungsweise waren
solche auch bei einigen homogenen Silben angebracht, die den
heterogenen vorangingen.
Ergebnisse: Unter 24 heterogenen Aufgaben gab es
4 i.F.Rn. und 2 F.Rn.; jedesmal bei festem Vorsatz in
der V.P. Außerdem traten F.Rn. trotz starken Vorsatzes
in neun andern Fällen auf, und zwar bei zwei homogenen und
sieben neutralen Silben.
Obwohl Vp. J stets bemüht gewesen ist, den besten starken Vorsatz zu
wecken, ist es ihr nicht gelungen, ihn immer auf derselben Höhe zu halten.
Vp. spricht dabei von stärkerem und schwächerem Vorsatz, so daß der Ver-
suchsleiter um nähere Aufklärung über diese Angaben bat. Darauf unterschied
die Vp., welche bisher noch niemals Selbstbeobachtung geübt hatte, deutlich
folgende drei Arten von »Vorsatz«:
l. Wenn ich unwillkürlich im Sitze fester werde, wenn ich zwischen dem
Beginn des Vorsatzes und dem Erscheinen des Wortes keinen anderen
Gedanken, auch keine Abschweifung, keine Abschwächung der Energie
fühle, dann ist das mein stärkster Vorsatz;
2. mein schwächerer Vorsatz: Wenn zwischen dem Zeitpunkt des Er-
scheinens der Silbe und meinem vorhin gefaßten Vorsatz die Energie
nachläßt;
3. noch schwächer ist mein Vorsatz, wenn zwischen dem Vorsatz und
dem Erscheinen der Silbe ein anderer Gedanke eintritt.
»In allen drei Fällen nehme ich mir fest vor, keinen Fehler zu machen.
Ich weiß, was ich zu tun habe; ich will auch wirklich! Auch der -Gedanke,
‚ich soll umstellen‘ ist in allen drei Fällen gegeben; aber beim dritten läßt
diese Einstellung nach, die ganze Energie ist dann nach einem solchen Anlauf
zam Teufel.«
Mit der dauernden Anspannung der Energie ist bei J eine Einengung des
Blickfeldes gegeben, so daß Vp. die Ablenkung selbst am 4. Übungstage noch
nicht gesehen hat. Ganz wie bei Vp. H ist diese Erhöhung der Konzentration
durch den Zusatz zur Instruktion herbeigeführt. Natürlich ist die Zielrichtung
156 Julian Sigmar,
auf eine erfolgbringende Praxis damit noch nicht gegeben. Aber dieser »naive«
starke Vorsatz ist eine günstige Bedingung zur baldigen Entfaltung der Ver-
haltungsweise »Hingabe«: Im ersten Versuch des 4. Übungstages ergänzt Vp.
die Instruktion: »Ich will möglichst gut arbeiten l« durch den selbst gefundenen
Zusatz: »Ich muß die An- und Auslaute umstellen!« Hiermit war die kon-
struierende Verhaltungsweise durch die Vp. von selbst gefunden worden, der
naive Vorsatz hat sich zur erfolgbringenden Determination entwickelt.
Damit soll aber nicht gesagt sein, daß sich »Hingabe« etwa erst am
5. Versuchstag gebildet habe. Schon im 2. und 3. Versuch des 1. U,.-Tages
war die konstruierende Verhaltungsweise vorhanden, aber wieder aufgegeben
worden, weil durch eine homogene Aufgabe die Bewußtseinslage der Er-
leichterung eingetreten war. Es folgten 3 i F.Rn. an demselben Tage, ohne
daß Vp. ein deutliches Fehlerbewußtsein erkennen ließ. Im Verlauf des
2. Umstellungstages tritt wiederum die konstruierende Verhaltungsweise auf,
ist aber noch stark gehemmt, und die Umstellung nimmt noch lange Zeit in
Anspruch. Erst in der zweiten Hälfte des 4. Reaktionstages kann man von
einer sich durchweg behauptenden »Hingabe« sprechen. Vom 5. Tage an
kann sie als herrschend betrachtet werden und geht in den Zustand der
Mechanisierung über, was durch richtige Lösung der Aufgaben trotz Ab-
lenkungen und Störungen zum Ausdruck kommt. Vp. machte von da ab fast
keine Fehler mehr; nur im 9. Reaktionstag wäre es beinahe zu einer i F.R.
gekommen.
Daß im übrigen die konstruierende Verhaltungsweise nicht so deutlich
erkennbar ist wie bei andern Vpn., muß auf Rechnung der durch die In-
struktionszusätze absichtlich ausgeschalteten Ko.-Td. gesetzt werden. Im un-
beeinflußten Zustand offenbart sich die Kontrolle als eine Tendenz zur
Prüfung der Richtigkeit der Umstellung. Sie geht darauf aus, die Überein-
stimmung oder die Widersprüche zwischen Instruktion und Umstellungsergebnis
festzustellen. Als typisches Merkmal der konstruierenden Verhaltungsweise
kann die Formel angegeben werden: »Sich auf nichts einlassen!« Durch die
Instruktionszusätze (»ich wil, ich muß umstellen«) und durch die
Einführung der Vp. in das Wesen der Inertialtendenz war geradezu das
Gegenteil der Kontrolle bewirkt worden. So zeigte daher die Vp. nur ein
schwaches Anklingen der Ko.-Td. Die F.Rn. werden meist mit Richtigkeits-
bewußtsein begangen, und Vp. gibt in den Nach-Perioden zu Protokoll, »es
hätte noch besser gehen können!« statt »das nächste Mal muß richtig um-
gestellt werden!« So ist es vornehmlich dem Fehlen der Ko.-Td. zuzuschreiben,
daß das Bild der Hingabe bei Vp. J so unsicher und verschwommen ist.
Eine besondere Erörterung fordern die zahlreichen F.Rn., die trotz
starken Vorsatzes auf homogene und indifferente Silben fallen. 2 F.Rn.
trafen auf homogene Silben am 3. U,.-Tag und sind Folgen beabsichtigter
Ablenkungen.
7 F.Rn. dagegen trafen auf indifferente Silben; 4 stehen aber hinter
homogenen Aufgaben, welche bekanntlich durch bloße Reproduktion gelöst
werden können. In dieser Bewußtseinslage zu verharren, lag der Vp. um so
näher, als die dauernde Konzentration auf einen möglichst starken Vorsatz
ohnehin stark ermüdend wirkte. Diese F.Rn. sind also Ausdruck der un-
bewußt eingenommenen reproduzierenden Verhaltungsweise, die sich trotz des
starken Vorsatzes der V.P. durchgesetzt hat. 3 solcher F.Rn. folgen dagegen
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 157
auf heterogene Silben, welche zwar gelungen waren, deren Umstellung aber
so schwierig gewesen war, daß eine Art Verwirrung zurückblieb, auf welche
Vp. ihre Fehler zurückführen will. Eine F.R. ist Folge nervöser Eile.
Kritik. Da Vp. J die 4 i. F.Rn. und 11 F.Rn. trotz ihres
starken Vorsatzes nicht vermieden hat, so ist damit von neuem
cer Nachweis erbracht, daß die sogenannte Stärke des Vor-
satzes eine erfolgreiche Lösung nicht verbürgt. Beachten wir
ferner, daß Vp. die Fehler gemacht hat, ohne ihre eigentliche
Ursache, die eingeführten Ablenkungen, zu erkennen, so ist
dadurch glaubhaft gemacht, daß für die F.Rn. nicht in erster
Linie die Stärke der reproduzierenden Tendenzen maßgebend
sein kann.
Es wäre hier angebracht, ein Wort über die Wirkung der
benutzten Ablenkungen zu sagen. Die Antiqua-Schrift hat sich
durchweg bewährt; sowohl bei H wie bei J traten i.F.Rn. auf
ohne Erkenntnis der Ursache. Vp. J stutzte nur, »weiß aber
nicht warum«, dasselbe ereignet sich noch am nächsten Tage.
Eine i. F.R. führt J auf das »Schnappen des Apparates« zu-
rück, fügt aber hinzu, »Richtigkeitsbewußtsein habe ich immerc«.
Noch am 4. Reaktionstage merkt sie noch nichts von Ab-
lenkungen, am 5. Tag gibt sie zu Protokoll, sie merke wohl,
daß Bilder neben manchen Silben stehen, es sei sei ihr aber
nicht bewußt, welche. Am 7. Reaktionstag erkennt sie die Ab-
lenkungen als Störungsursache; sie hilft sich aber dagegen (wie
auch Vp. H), indem sie einfach die Bilder nicht mehr an-
sieht. Was den Versuch anbetrifft, die Bewußtseinslage der
Erleichterung zu befestigen, indem die den heterogenen Auf-
gaben voraufgehenden zwei homogenen Silben mit Ablenkungen
geboten wurden, so scheint dieser Versuch ein Irrweg gewesen
zu sein, denn die Vp. machte bei zwei solchen homogenen Silben
infolge der Ablenkungen Fehler, wurde vorsichtig und ver-
mochte infolgedessen erst recht i. F.Rn. zu vermeiden. Bis zum
letzten Versuchstage stoßen wir immer auf die Erkenntnis:
»Das Bild habe ich nicht störend empfunden, aber durch das
Lesen und starre Anschauen bin ich nicht zum Umstellen ge-
kommen.« (8. Versuch 3. U,.-Tag.)
Die Eilfertigkeits-Td. glaubte der Versuchsleiter erst am
4. Reaktionstag betonen zu sollen; es war wieder zu spät.
Schon im 6. Versuch des 1. Reaktionstages hat sich Vp. selbst
die Instruktion gegeben: »Du stellst jetzt möglichst schnell
um.« Die Inertial-Td. sollte am 2. Reaktionstag geweckt
158 Julian Sigmar,
werden; auch sie konnte bei der Vp. schon am 1. Tag be-
obachtet werden, nur in einer charakteristisch abgedämpften
Form. Sie konnte nicht ganz deutlich werden in Anbetracht
des kräftigen Vorsatzes, der auf Ausführung der Instruktion
drängte.
Zusammenfassung.
1. Der naive feste Vorsatz läßt sich trotz aller aufgewandten
Mühe der Vp. nicht durchgehends auf derselben Intensitäts-
stufe erhalten und sichert nicht die richtige Reaktion.
2. Regelmäßig gesteigerte Ablenkungen sind das Motiv für
regelmäßig sich ebenso steigernde Konzentration des Willens
auf die Zielvorstellung.
3. Der naive feste Vorsatz kann sich daher zu einer die
richtige Reaktion sichernden Bedingung entwickeln, insofern
er durch Betonung der Zielvorstellung deren Inhalt von der
konkreten Bezugsvorstellung kräftiger abhebt und auf diesem
Wege in die konstruierende Verhaltungsweise (Hingabe) über-
leitet.
4. Inertial- und Eilfertigkeits-Td. hemmen die Entwicklung
der Ko.-Td., woraus die grundsätzliche Verschiedenheit deser
beiden, äußerlich eine Identifikation anstrebenden Tendenzen
hervorgeht.
§ 18. Richtige Reaktionen ohne festen Vorsatz.
Vp. F nach Anordnung I (vgl. oben S. 95).
Zu der Instruktion Rux’ wurde der Zusatz gemacht:
»Machen Sie sich, ohne auf andere innere Anregungen einzu-
gehen, immer sofort ans Umstellen, wie die Instruktion es
erfordert.«
Ergebnisse: Es kam in der Tat zu keiner i. F.R. Sämt-
liche 24 heterogene Aufgaben sind ohne sogenannten »starken
Vorsatz« erfolgreich gelöst worden. Im Gegenteil war bei
vielen Lösungen nicht einmal gute Aufmerksamkeit vor-
handen, wodurch die Vermutungen aus der analytischen Er-
örterung (S 6) bestätigt wurden. 11 heterogene Aufgaben ge-
langen trotz Zerstreutheit, Ablenkungen und Störungen, die
durch Geräusche, Straßenlärm bedingt sind. 5 heterogene Re-
aktionen gelingen auf Grund bloßer »Erinnerung an die Auf-
gabe«, die einmal nur »flüchtig wiederholt« wird; 8 andere
haben überhaupt keinen Vorsatz. Erst in der H.P. fühlt Vp. F
Veranlassung zur Konzentration, ein Verhalten, welches mit
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 159
dem bei Vp. C übereinstimmt. Es spricht sicher nicht für
einen »starken Vorsatz«, wenn Vp. (in 8 Fällen!) zu Protokoll
gibt: »In der V.P. zerstreut . .. gestört, . . . etwas unaufmerk-
sam ...« H.P. Ich mußte mich erst konzentrieren . . .
optisch umgestellt... Die optische Umstellung ist das einzige
Mittel für mich .. .« (9. Versuch 1. U,.- Tag). Ein beachtens-
werter Vorsatz wäre höchstens im 7. Versuch des 1. U,. -Tages
festzustellen: »V.P. Nichts besonderes; ich habe mir gesagt:
Unbedingt 5,2 umstellen! .. .«
2 F.Rn. ereigneten sich dennoch am 1. Uy.-Tag, nachdem der erste U,.-
Tag nur fehlerfreie Reaktionen aufgewiesen hatte. Die 1. F.R. fiel auf die
l. Aufgabe des Tages, die neutrale Silbe telar; sie wurde zu ralet um-
gestellt, mit »Richtigkeitsbewußtsein«, wie es in der Nachperiode heißt. In
der H.P. der zweiten Aufgabe gab dann die Vp. spontan noch die Erklärung
ihres Fehlers: »Auf das Umstellen der Buchstaben verlegt: Ich hatte
voriges Mal die Instruktion falsch aufgefaßt; ich wollte rück-
wärts lesen.«
Der 2. Fehler ist ein verwechselter Buchstabe, statt lesuf wurde lefus
gesagt (12. Versuch). Nach dem 11. Versuch war der Strom ausgeblieben;
ehe die Störung gefunden und abgestellt war, vergingen zehn Minuten. Vp.F
gibt als Ursache des Fehlers selbst an: »Die Verzögerung infolge des Strom-
ausfalls hat mich nervös gemacht; dazu kam, daß ich mich für 1000 mit
jemand bestellt hatte und es war schon 102° beim letzten Versuch... Ich
war ärgerlich, weil ich das Bewußtsein hatte, früher gesprochen zu haben,
als ich umgestellt hatte. Eilfertigkeit und Unaufmerksamkeit als Ursache an-
gesehen.«
Die beiden F.Rn. dürften nach diesen befriedigenden Aufklärungen keine
Instanz gegen das Beweisthema sein.
Kritik. Bei Vp. F zeigen sich die Erscheinungsweisen
der »Hingabe« in wünschenswerter Klarheit und Beständigkeit.
»Sofort umstellen!« war durch den Zusatz in der Instruktion
geboten; die Wirkung tritt uns in der Protokollangabe des 3.
Reaktionstages entgegen: »Die optische Umstellung ist das ein-
zige Mittel für mich. Während ich mich bemühe, das Wort
optisch umzustellen, drängen sich die gelernten Worte
ein.« (9. Versuch.) Die sofortige Inangriffnahme der Tätig-
keit schützte also die Vp. vor den andrängenden Fehlassozia-
tionen. Die regelmäßige wörtliche Ausführung der Instruktion
führte aber auch viel schneller zur Befestigung der konstruk-
tiven Verhaltungsweise und zur Mechanisierung derselben. Man
beachte den Modus der Vp., die Buchstaben zu numerieren:
bei U,. werden die Buchstaben in der Folge: 5. 2. 3. 4. 1.
»optisch umgestellt« (3. Versuch 1. U,.-Tag), bei Uy: 1.
4. 3. 2. 5. (vgl. 1. Versuch 1. U,-Tag. Schon am 2, Uņ.-
160 Julian Sigmar,
und U,„.-Tag ist eine größere Sicherheit im Umstellen zu be-
achten, die voraussehen ließ, daß es wohl schwerlich zu F.Rn.
kommen würde. Es ist auch eine Folge des Instruktionszusatzes,
daß die Vp. deutlicher den MechanisierungsprozeB merkt; er
wird ihr in einem Zustand der Ermüdung schon am 4. Tag
bewußt, und hält den Rest des Tages an. Im 9. Versuch des
5. Tages geschieht das Umstellen »noch mehr mechanisch«, wo-
mit auch eine weitere Vereinfachung der »Technik« verbunden ist:
»Beim letzten Buchstaben gleich geblieben und ihn zur neuen
Bildung benutzt: nadefffaden.« Diese Methode wird dann ab-
wechselnd mit der alten angewandt. Zuletzt erklärt Vp. F, die
Methode sei so leicht, daß sie sich nicht mehr zu erinnern
brauche (3. U,.-Tag).
‘Ebenso deutlich wie das sofortige Umstellen tritt die andere
Seite der konstruierenden Verhaltungsweise, das Mißtrauen,
die Ko.-Td., zutage. F beobachtet allen erscheinenden Silben
gegenüber dieselbe Zurückhaltung; zwischen den homogenen
u, - Silben (1445,4 0) und den heterogenen u, - Silben
(1513,6 o) besteht an U,.-Tagen eine Differenz von nur 68 o.
Die U,.- Tätigkeit fällt der Vp. F nach eigener Aussage
und den Ergebnissen der Zeitwerte schwerer; dem entspricht
ein Mittelwert von ca. 2,2 Sek., der aber bei homogenen, hete-
rogenen und indifferenten Silben fast gleich hoch bleibt. Hier-
her gehört auch die wiederholt gemachte Beobachtung, daß
homogene Silben, die auf heterogene folgen, ebensolange Zeit-
werte haben wie ihre Vorgänger. Die Bewußtseinslage der
Anstrengung, welche die konstruierende Verhaltungsweise kenn-
zeichnet, perseveriert noch.
Die Ko.-Td. tritt schon im 3. Versuch auf, »weil der Ver-
dacht da war, es sei falsch«, ebenso aber auch nach Umstel-
lungen, die mit dem Gelernten im Apparat übereinstimmen:
»Hemmung, weil ich fürchtete, daß das Wort falsch gebildet
sein könnte, weil es sinnvoll ist (lafet—tafel). Daher Fest-
halten an meiner Methode« (10. Versuch 1. U,.- Tag).
Konnten wir bei Vp. J feststellen, daß infolge Betonung der
Inertial- und Eilfertigkeits-Td. die Ko.-Td. abgedämpft und
sogar ausgeschaltet werden kann, so sehen wir hier bei un-
eingeschränkter Entwicklung der Hingabe das Gegenteil: Bei
der zielsicheren Bewußtseinslage, die auf sofortige Lösung ge-
richtet ist, kann die Inertial-Td. gar nicht überschwellig
werden; Vp. F hat sie nicht vermeldet.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 161
Aber auch die weit stärkere Rp.-Td. kommt in zahlreichen
homogenen Aufgaben gar nicht mehr zur Wirkung. Das umge-
stellte Wort wird nicht mehr als gelernt erkannt.
Diese Ausschaltung der Rp.-Td. wirft ein bezeichnendes
Licht auf das Assoziationsgesetz, zumal sie gerade am letzten
Reaktionstag (nach 220 Lesungen!) besonders oft vorkam.
Nach einer Richtung brachte die Prüfungsreihe mit Vp. F
eine Erweiterung unserer Anschauungen über die Erscheinungs-
weisen der »Hingabe«. In den analytischen Reihen hatte es so
ausgesehen, als ob die »Hingabe« ein Zustand höchster Auf-
merksamkeits-Konzentration wäre. Zwar gab es auch Erfolgs-
reaktionen ohne Vorsatz oder Aufmerksamkeit. Hier aber wird
es zur Regel, daß die Vp. bei der Lösung sich gar nicht auf-
regt und auch nicht besonders anspannt; zwar unterscheidet sie
deutlich die Schwierigkeitsgrade der Aufgaben, begegnet ihnen
aber erfolgreich durch Behutsamkeit in der Lösung. Die V.P.
ist nicht mehr wie bei den analytischen Reihen (ausgenommen
Vp. C) der Zeitpunkt der Willensbetätigung; im Gegenteil be-
obachten wir da häufig Gleichgültigkeit, Zerstreutheit, mäßige
neugierige Erwartung.
Demnach sind die Spannungs- und Konzentrationserschei-
nungen zwar ein Moment des energischen Entschlusses,
nicht aber wesentliches Moment des erfolgreichen
Wollens.
Vp. G (schwache Anordnung II).
Nachdem der Vp. F die Lösung der schwierigsten Aufgaben
gelungen war, ohne daß sie sich besonders angestrengt oder auf-
geregt hatte, sollte bei Vp. G einmal der Versuch gemacht
werden, eine gleichgültige Verhaltungsweise einzunehmen
und sich mit der bloßen Erinnerung an die Aufgabe zu be-
gnügen. Da bei der schwachen Anordnung II ohnehin nicht
mit starken Hemmungen zu rechnen war, mußten die Ergeb-
nisse auch aus diesem zweiten Grunde neue Einsichten ver-
sprechen. Zu der Ruxschen Instruktion wurden also die Zu-
sätze gemacht: Ä
»Machen Sie sich, ohne auf andere, innere Anregung
einzugehen, immer sofort ans Umstellen, wie die Instruktion
es erfordert.«
»Erinnern Sie sich in jeder V.P. an die Instruktion, etwa
Archiv für Psychologie. LI. 11
162 Julian Sigmar,
in der Form: Ich soll die Vokale, oder: ich soll die An- und
Auslaute umstellen !«
Ergebnisse: Der starke Vorsatz ist infolge der Instruktion mit be-
friedigendem Erfolg zurückgedrängt worden; nach manchen unerwartet
schwierigeren Umstellungen, sowie nach jeder der 3 F.Rn. trat er dennoch
spontan für kürzere Zeit auf; besonders konnte das am 1. U x.- und 1. Uy.-
Tag festgestellt werden. Vp. wurde daraufhin befragt, wie sie ihre Bezeich-
nungen »Vorsatz« und »Erinnerung« unterscheide. Sie antwortete: »Ich ver-
stehe unter Vorsatz, wenn ich selber zu mir sage: Wenn ein Wort erscheint,
dann lies es sofort und stelle um!« Ich gebe mir selbst damit ein Kommando.
Unter »Erinnerung« verstehe ich bloß das Erinnern an die Worte des Ver-
suchsleiters: Sie sollen! — Beim Vorsatz fühle ich mich aktiv, bei der Er-
innerung passiv I«
Demnach wäre es also falsch gewesen, den Vorsatz der Vp. F und zu-
gleich die Instruktion für das bloße »Erinnern« zu geben. Wenn aber
auch die Versuchsbedingungen dadurch ungünstig beeinflußt sein dürften, so
bestätigt die Versuchsreihe in ihren Grundlinien immer noch die Vermutungen
und Ergebnisse der Vorreihen.
Nur etwa 11% der Versuche haben einen stärkeren Vorsatz, der in den
meisten Fälle auf neutrale und homogene Silben und nur einmal auf eine
heterogene Silbe fällt. Die allergrößte Zahl der Reaktionen zeigt nur »Er-
innerung an die Aufgabe« und nur etwa 4°/, der Aufgaben mißlingen.
Kritik. Es sind 2 F.Rn. und 1 i. F.R. vorgekommen, und
zwar alle drei in heterogenen Aufgaben. Das ist eine ungünstige
Belastung dieser Versuchsanordnung; sieht es doch zunächst
so aus, als ob die »bloße Erinnerung« an die Aufgabe eine gute
Lösung nicht verbürge. Zwei F.Rn. ereigneten sich schon am
1. U,.-Tag; ledon wurde zu nodel (statt nedol), redul zu luder
(statt ledur) umgestellt, also scheinbar rückwärts gelesen. Be-
fragen wir jedoch das Protokoll, so ergibt sich ein anderes
Bild:
9. Versuch ledon. V.P. Gedanken abschweifen lassen, nicht
an die Instruktion erinnert. H.P. Gelesen, umgestellt. Nicht schwierig
gewesen. N.P. Erkannt, daß es falsch war, daß auch Vokale umgestellt
wurden. Ärger, daß es mißlungen ist und daß ich in der V.P. habe die
Gedanken abschweifen lassen.
12. Versuch redul. V.P. Instruktion. Und über das vorher ge-
führte Gespräch nachgedacht. (Vp. war ermahnt worden, auch
scheinbare »Kleinigkeiten« zu Protokoll zu geben. Versuchsleiter.) H.P. So-
fort umgestellt, ohne mich anzustrengen. N.P. Richtigkeitsgefühl.
Vom Versuchsleiter auf den Fehler aufmerksam gemacht, sagt Vp.: Ich
habe das letzte Wort nicht etwa von rückwärts gelesen, wie es
scheinen mag; es war auch nicht ein wissentliches Umstellen der Vokale
damit verbunden. Ich glaube, schuld ist nervöse Eile und Hast .. .«
Die Vp. hatte sich also instruktionswidrig nicht an die
Aufgabe erinnert, daher die F.Rn. Die Reaktionszeiten
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 163
waren immer kürzer geworden (von 20360 — 1304 o); die
Leichtigkeit der ersten Lösungen, eine Folge des Instruktions-
zusatzes, wiegte die Vp. in Sicherheit, so daß sie wohl die In-
struktion nicht mehr beachtete. Daher erteilte ihr der Ver-
suchsleiter auf die F.Rn. hin den Rat, sich die Instruktion
vor jeder V.P. ins Gedächtnis zu rufen und sagte ihr: »So-
fort umstellen, heißt aber nicht schnell und oberflächlich
arbeiten!« Trotzdem ereignete sich am übernächsten Tag eine
i. F.R.
T. Versuch, 2. U,.-Tag: basim; in 1180 g zu bisam umgestellt. V.P. Ge-
danken abschweifen lassen... Ich habe mich mit dem, was ich
zum Schluß des vorigen Versuchs zu denken anfing, weiter beschäftigt. H.P.
gelesen, basim — bisam als gelernt erkannt, umgestellt, ausgesprochen. N.P.
Nichts. — »Ah, jetzt geht mir ein, daß ich, verleitet vom Gelernten, gar
nicht umgestellt habe! Ich habe wider die Instruktion gehandelti«
Diese Erklärung der i. F.R. ist plausibel; wir haben ja nie
erwartet, daß die Reaktionen gelingen würden, wenn man über-
haupt nicht aufmerke, sondern wenn man sich der Aufgabe er-
innere. Der Instruktionszusatz bringt mit der »Hingabe« eine
solch fühlbare Ersparnis an Schwierigkeiten mit sich, daß
die unbefangene Vp. hat meinen dürfen, hier liege keine Ge-
fahr mehr vor; die Leichtigkeit einer Arbeit ist ja immer das
Mctiv zum Nachlassen der Konzentration.
Der Versuchsleiter hat daher auf diese Erfahrung hin der
Vp. vor jeder Reaktion die Frage gestellt: Sind Sie auch
gesammelt? Von da ab ereignete sich kein Fehler mehr.
Immerhin bleibt hier die Frage offen: Warum hat Vp. G im
Gegensatz zu Vp. F die Aufgabe vergessen können? Jedenfalls
deshalb, weil die schwache Versuchsanordnung keine stärkeren
Assoziationen begründet. Auch bei einer anderen Vp. L, die
ebenfalls an der Anordnung II erprobt wurde, ließ sich eine
Neigung zu F.Rn. beobachten. Nur die Stiftung stärkerer
Widerstände sowie die Nötigung zur konstruktiven Verhaltungs-
weise scheint demnach die Wirkung jener Tendenzen einzu-
schränken, die der determinierten Lösung entgegenarbeiten.
Daher zeigt auch G nicht allen Arten der Aufgaben gegenüber
die mißtrauische Haltung wie Vp. F, so daß die Zeitwerte
verschieden sind je nach der Qualität der Silben.
Was äußere Ablenkungen und Unaufmerksamkeiten betrifft,
so sind solche zu unterscheiden, die zu F.Rn. und in Gefahr
dazu geführt haben, und solche, die ungefährlich ge-
11*
164 Julian Sigmar,
blieben sind. Wenn man sich nicht die Mühe verdrießen läßt,
sie genau zu vergleichen, so findet man in den trotz Unauf-
merksamkeit richtigen Reaktionen stets »Hingabe« vertreten
(»gelesen, sofort umgestellt«). Im 6. Versuch des 3. U,.- Tages
finden wir das typische Geständnis: »Gelesen, erkannt; an das
zugelernte ‚nabel‘ erinnert. Dennoch umgestellt, als ob ich
mir nicht glaubte.«
Unsere Annahme, daß die »konstruierende Verhaltungs-
weise« richtige Lösungen ohne die Begleiterscheinung der An-
strengungserlebnisse gewährleiste, wurde jedoch restlos bestätigt.
Ein über das andere Mal hören wir: »Ohne Schwierigkeiten« —
»ohne Anstrengungserlebnis« — »nicht schwerer als voriges Mal«
— »nichts, wie oben«. Durch die Instruktionszusätze sind Auf-
regungen, Ungewißheit, Mißtrauen ausgeschaltet worden.
Wie bei F. verdienen auch hier hervorgehoben zu werden:
1. daß die Rp.-Td. bei homogenen Silben vom ersten Tag
an sich erst nach der Umstellung bemerkbar machte,
oft auch dann nicht einmal;
2. daß auch für die Inertial-Td. kein Raum zur Betätigung
blieb;
3. daß eigentümlicherweise heterogene Aufgaben unter dem
Einfluß der »Hingabe« kürzere Rp.-Zeiten haben als die
vorangehenden oder folgenden homogenen Silben; es
handelt sich dabei um Differenzen von 0,1—0,7 Sek. Er-
wähnt sei, daß diese Beobachtung mit denen Lewins
übereinstimmt (a. a. O. I, S. 217/18).
Zusammenfassung.
1. Die konstruierende Verhaltungsweise (Hingabe) schützt
die Vpn. vor F.Rn.; sie kann durch eine entsprechende In-
struktion hervorgerufen werden.
2. Die Ausschaltung störender Tendenzen einer vorschrifts-
mäßigen Lösung durch die Verhaltungsweise der »Hingabe«
wird bedingt durch die wörtliche, getreue Ausführung der
Umstelltätigkeit und durch deren sofortige Inangriffnahme.
Ihre Wirkungen differenzieren sich
3. nach drei verschiedenen Richtungen:
a) die Rp.-Td. wird selbst in homogenen Aufgaben aus-
geschaltet; desgleichen schwindet auch die Inertial-
Tendenz;
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 165
b) die Lösung heterogener Aufgaben erfolgt oft leichter
und schneller als die der homogenen und indifferenten.
c) Die konstruierende Tätigkeit geht müheloser und früh-
zeitiger in den Zustand der Mechanisierung über.
4. Konzentrations- und Spannungsempfindungen sind nur
unwesentliche Begleiterscheinungen der konstruierenden Ver-
haltungsweise bzw. des erfolgreichen Wollens.
5. Erfolgreich ist auch das »schwache Wollen« (nach Ach-
scher Terminologie), ja sogar die bloße »Erinnerung an die Auf-
gabe«. Jedoch muß sich die Erinnerung auf alle Daten der In-
struktion erstrecken und wird daher zweckmäßigerweise vor
jedem Versuch wiederholt. i
6. Die an Reproduktionstagen gemachten Erfahrungen sowie
die Erscheinung, daß heterogene Silben leichter und schneller
umgestellt werden als homogene, weisen darauf hin, daß das
Assoziationsgesetz in seiner überlieferten Form und soweit
die Assoziationsstärke nur von der Zahl der Wiederholungen
abhängig gedacht wird, unhaltbar ist. Die Stärke der Rp.-Td.
muß auf anderen Faktoren beruhen.
Der erörterte Sachverhalt hat auch keinen Nachweis für
die Existenz determinativer Tendenzen erbracht. Was zur er-
folgreichen Lösung führte, war nicht der Stärkegrad des
Wollens, sondern vielmehr Verhaltungsweisen, die durch einen
Tätigkeitscharakter gekennzeichnet waren.
Die Formulierung von Gesetzen eines assoziativen Äqui-
valents der Determination oder von Gesetzen betreffend die
determinative Hemmung und Bahnung ist daher nicht an-
gängig.
C. Systematisches.
8 19. Über das Assoziationsgesetz.
Nach der überlieferten Fassung des Assoziationsgesetzes
ist für die Reproduktion maßgebend das häufige gleichzeitige
Zusammensein oder die unmittelbare Aufeinanderfolge zweier
psychischer Gebilde. Je öfter dies geschehen ist (je größer also
die Wiederholungszahl), desto leichter und sicherer müßte die
Reproduktion erfolgen.
Gegen diese Auffassung des Assoziationsgesetzes sprechen
die hier gemachten Erfahrungen an den Rp.-Tagen; es kam
166 Julian Sigmar,
keineswegs zu einer raschen und richtigen Reproduktion; da-
gegen traten Rat- und Hilflosigkeit auf, und nur zufällig schien
es auch zu richtigen Reproduktionen zu kommen. Die Wieder-
holungszahl spielte hierbei keine entscheidende Rolle; es ist
trotz 220 W: (bei Vp. F z.B.) zu keiner i.F.R. gekommen,
während bei anderen Vpn. solche schon nach 20 W erzielt
wurde. Beachtenswert ist ferner die Tatsache, daß entgegen
der durch die vielen Wiederholungen herbeigeführten Asso-
ziationsstärke die heterogenen Silben schneller und hemmungs-
loser umgestellt worden sind als homogene und indifferente
Silben.. Die genaue Analyse der vorliegenden Bewußtseins-
erscheinungen hat übrigens auch bei i.F.Rn. niemals die Rp.-
Td. als primäre Ursache der Fehler nachgewiesen, sondern sie
wurde immer erst in Verfolg einer andern Ursache ausgelöst.
Also ist das Assoziationsgesetz wenigstens in seiner über-
lieferten Fassung der Kettenassoziation einer Berichtigung oder
Erweiterung bedürftig.
Die Bedenken gegen die Richtigkeit desselben sind übrigens nicht neu.
Poppelreuter hatte schon 1912 den Nachweis erbracht, daß die Re-
produktionen durch eine Tendenz zu der Wiederherstellung der »Totalität«
der Wahrnehmungen charakterisiert seien; der wiedererlebte Teil hätte die
Tendenz, das Ganze zu reproduzieren. Das Rp.-Motiv ist nķht irgendein
beliebiges Glied der Totalvorstellung, sondern immer ein charakteristischer
Teil derselben 50).
Selz hat ebenfalls eingehend nachgewiesen, daß es Reproduktionen von
Beziehungsganzen, Komplexen gibt, die sowohl das Reiz- und Reaktionswort,
wie auch die ihren Bedeutungen entsprechenden Bewußtseinserlebnisse um-
fassen. Das Wesen eines Vorstellungskomplexes sieht Selz in seiner raum-
zeitlichen Anordnung begründet, die als solche aufgefaßt und als Ganzes asso-
ziierend und reproduzierend wirkt. Daher entstehen auch gegenseitige Kom-
plex-Assoziationen. Ein gegebenes Komplexstück hat die Tendenz, die Re-
produktion des ganzen Komplexes herbeizuführen. Diese kann auch durch ein
mit dem Bestand des Komplexes antizipierendes Schema erfolgen 51).
Eine Bestätigung und Erweiterung erfuhren die Feststellungen Selz’
durch Jacob Segal52). Die Protokolle seiner Vpn. ergeben, daß das Seelen-
leben sich nicht in eine Reihe von unabhängig nebeneinander bestehenden
Elementen zerlegen läßt, sondern daß es ein Ineinanderfließen von Situationen
ist, wobei eine jede durch die schon verflossene mitbestimmt wird. Wir haben
nicht bloß Vorstellungen an sich, sondern diese sind stets mit Handlungen
50) Über die Ordnung des Vorstellungsablaufs, Arch. f. d. ges. Ps. XXV
S. 219 ff.
51) Die Gesetze des geordneten Denkverlaufs, Stuttgart 1913, S. 90 ff.
62) J. Segal, Über das Vorstellen von Objekten und Situationen,
Stuttgart 1916.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 167
und Handlungsimpulsen verknüpft. Auf Grund dieser motorischen Kom-
ponenten treten die zu den Vorstellungen gehörigen Situationen auf, in denen
die Vpn. folgerichtig zu leben und zu handeln vermeinen. Dabei weiß man
stets, daß das Wahrgenommene nur den Ausschnitt eines größeren Ganzen
bildet.
Der Wechsel der Situationen vollzieht sich für die Vpn. oft unvermerkt.
Als bewirkende Faktoren kommen dafür motorische Prozesse in Frage, durch
die sich die Vp. von ihrem realen Ort ablöst; die Aufmerksamkeit wendet
sich dem neuen Gegenstand zu, Empfindungen treten auf, die dem neuen
Objekt entsprechen, und es macht sich, wenn nötig, am Vorgestellten eine
Betätigung geltend. Besonders fördernd auf einen Situationswechsel wirkt
das Wiedererkennen bzw. die Erinnerung, wenn die Vp. zufällig und uner-
wartet auf ein bekanntes Objekt aus einer andern gleichen oder ähnlichen
Situation stößt. Wiedererkennen und Erinnerung vermitteln momentan jenen
unvermerkten Übergang aus einer Situation in die andere, so daß die neue
Situation mit der früheren unbewußt identifiziert wird.
Man könnte auf Grund der Selzschen und Segalschen
Erkenntnisse die Vorgänge bei den stattgefundenen i.F.Rn.
völlig erklären, wofern nur angegeben worden wäre, warum
unsere Vpn. nicht jedesmal die Reizsilben »wiedererkannten«.
Unsere Vpn. sind in der Tat im Fall der i. F.R. unbewußt aus
der Situation am Kartenwechsler in die Situation am Ge-
dächtnisapparat hinübergeglitten und haben, statt umzustellen
wie am Gedächtnisapparat, einfachhin reproduziert. Das
»Wiedererkennen« kann nicht ausschließlich der Grund des
Situationswechsels sein, weil in den meisten Fällen die F.Rn.
vermieden wurden, obwohl die Silbe als gelernt wiedererkannt
war. Trotzdem hat das Segalsche Forschungsergebnis seine
große Bedeutung, indem die Verknüpfung der Vorstellungen mit
motorischen Leistungen nachgewiesen wird, so daß motorische
Impulse auch die dazugehörigen Vorstellungen hervorzurufen
vermögen und gegebenenfalls einen Wechsel der ganzen Situ-
ation herbeiführen. Zwei Situationen ließen sich aus dem
Verhalten der Vpn. am Kartenwechsler erkennen: eine Um-
stellungssituation und eine Reproduktionssituation, letztere ver-
wandt mit der Lernsituation am Gedächtnisapparat.
Hans Hennings Untersuchungen über das Geruchsgedächtnis be-
stätigen die Lehre von den Situations- bzw. Komplex-Reproduktionen $3). Ge-
rüche verbinden sich assoziativ leichter mit Gefühlen, Stimmungen, Ein-
drücken höherer Sinnesgebiete und bilden so Gesamtsituationen mit leichterer
Reproduzierbarkeit. Unter gewissen Bedingungen zeigen manche Teilkomplexe
bei der Reproduktion eine assozistive Bevorzugung. Henning definiert:
»Unter Komplex (Gestalt) soll ... verstanden werden, daß alle Anteile
68) Assoziationsgesetz und Geruchsgedächtnis, Z. f. Psych. 89, S. 38 ft.
168 Julian Sigmar,
eines oder mehrerer Sinnes- oder Vorstellungsgebiete als Einheit erlebt
werden... Im Gegensatz dazu bezeichnet Gessamtsituastion die Er-
lebniseinheit, in welcher auch das Ichgefühl und Ichbewußtsein in die Einheit
einbezogen ist, in welcher der Unterschied zwischen gegenwärtiger (geruch-
loser) Wahrnehmung und (optischer) Erinnerung fehlt, ebenso der bewußte
Gegensatz zwischen Ich und Objekt, sowie zwischen Psychischem und Phy-
sischem« (S. 49).
Kurt Lewin hat in seiner schon wiederholt zitierten Arbeit dam Asso-
ziationsgesetz besondere Untersuchungen gewidmet. Er will es durch Angabe
jener weiteren Bedingungen berichtigen, die für das Eintreten und Ausbleiben
der Reproduktionen maßgebend werden können. Als Hauptbedingung stellte
er bei der Kontrolle der Achschen Willensexperimente bestimmt gerichtete
Ausführungstätigkeiten fest. Je nachdem die Vpn. die Bereitschaft zu dieser
oder jener Ausführungstätigkeit einnahmen, fiel die Reaktion instruktions-
gemäß oder instruktionswidrig aus. Dabei handelt es sich nicht etwa nur
um eine isolierte, ganz individuelle Tätigkeits-Bereitschaft, sondern die In-
struktion löst einen ganzen Komplex von Ausführungstätigkeiten aus, in dem
das Rp. nur eine Teiltätigkeit ist. Fehler können nun dadurch entstehen, daß
innerhalb des Gesamtkomplexes die Bereitschaft zu einer Teiltätigkeit sich
bildet, die ad hoc sehr unzweckmäßig, ja falsch wirken muß.
Die Tätigkeits-Bereitschaft (TB.) spielt bei Lewin die Rolle eines bloß
dynamisch erkennbaren Faktors als Erklärungsbegriff wie in der Assoziations-
lehre das »Zusammen-Dagewesen-Sein«. L. hat daher auch die Pflicht, ihren
Erlebnischarakter, ihre Ursachen und die Bedingungen ihrer Aktivierung näher
anzugeben. Als Ursachen weist er Willensakte und deren Automatisierung,
Kontrollprozesse, Ermüdungswirkungen, Neigung zum Beibehalten gewohnter
Tätigkeiten nach. Aber auch latente TBn. können in den Lösungsprozeß ein-
fließen, deren Ursachen in Erziehung, Gewohnheiten und Triebkomponenten
zu suchen wären. Die Übung (Wiederholungen) befestigt also nicht so sehr
Assoziationen als vielmehr die Ausführungstätigkeiten. Eine Wirkung der
Übung ist dann die Mechanisierung der Tätigkeit. Jede TB. tritt infolge be-
stimmter Aktivierungsreize auf, die im einzelnen nachweisbar sind. Akti-
vierungsreize, Durchführungsprozesse und das Tätigkeitsergebnis bilden ein
einheitliches reaktives System. |
Mit dieser Formulierung, die allerdings weiter nicht aus-
geführt wird, kommt Lewin an die Schwelle des Haupt-
problems: Welcher Art sind diese reaktiven Systeme, unter
welchen Gliedern besteht jener wesentliche Zusammenhang, daß
beim Auftreten eines der ganze übrige Komplex reproduziert
wird? Über die Frage, warum gerade diese, ad hoc unpassende
Teil-TB. in den Gesamtkomplex der Ausführungstätigkeit ein-
tritt und nicht eine andere, hat uns Lewin nichts gesagt.
Wir werden diese Antwort nur geben können, wenn wir die
Lösungsvorgänge als Ganzes betrachten und sie auch als Ganzes
zu erfassen suchen, also nicht auf analytischem Wege.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 169
Wenn Wertheimer in seinen »Untersuchungen zur Lehre
von der Gestalt«5*) als gestaltbildende und gestalterhaltende
Bedingungen den Faktor der Nähe, der Gleichheit, des gemein-
samen Schicksals, der Formprägnanz, der Einstellung, der Ge-
schlossenheit u. a. benennt, so gelten diese Faktoren nicht etwa
bloß für Gestalten auf optischem bzw. sinnlichem Gebiete,
sondern vielmehr für das gesamte psychische Geschehen.
Ich möchte hier versuchen, sie auf Denkvorgänge anzuwenden.
Es muß allerdings bemerkt werden, daß es sich vorerst nur um
allgemeine Richtlinien der Erklärung handeln kann, da die
exakte Untersuchung der Gestaltvorgänge auf dem Gebiete des
Denkens und deren Beziehung zu den Elementarprozessen noch
kaum begonnen hat.
Die Silben im Gedächtnisapparat bilden mit der gesamten
Umgebung, der Lerntätigkeit und allem, was zur Lerninstruk-
tion in Beziehung steht, eine spezifische Gestalt (Lernsituation).
Desgleichen ist auch die Reaktionsgelegenheit, der Karten-
wechsler, die Reizsilbe, die Aufgabe und ihre Lösung, das Pro-
tokollieren der Erlebnisse als ein Gestaltkomplex von bestimm-
ter Struktur anzusehen. Nur ist letztere Gestalt durch den
Aufgabecharakter ausgezeichnet, sie muß von der Vp. erst ge-
bildet werden. In der neuen Gestalt sind einige »Gestaltteile«
aus der früheren herübergenommen, die Umgebung, die Silben;
bald merkt die Vp., daß gelegentlich auch das Repro-
duzieren aus der alten Situation genommen werden darf. Andere
Gestaltteile dagegen sind neu; das Ziel der Aufgabe, welches
die Vollendung der psychischen Gestalt mit sich bringen ‚wird,
soll von der Vp. erst gefunden werden. Davon schwebt ihr
infolge der Vorversuche mehr oder minder deutlich nur ein
Schema vor. Die neue Gestaltbildung kann sich nur auf dem
Wege einer Ausführungstätigkeit vollziehen; daher spielt sie
und die dazu gehörige Tätigkeitsbereitschaft jene große ent-
scheidende Rolle für das Gelingen oder Mißlingen der Auf-
gaben, d.h. für die Bildung der geforderten Gestalt. Von dieser
Voraussetzung aus wird auch der Sinn der Ausdrücke »Ein-
stellung«, »Verhaltungsweise« deutlich. Einstellung und Ver-
haltungsweise bezeichnen die von der Vp. gefundene Gestalt
des richtigen Verhaltens und der überschauten Beziehungen der
Einzelprozesse, die zur Lösung führen müssen.
64) Psychologische Forschung IV. Bd. 1923.
170 Julian Sigmar,
Unter dieser Voraussetzung erklären sich auch die Kon-
trollprozesse, hervorgehend aus der Tendenz zur prägnanten
und widerspruchsfreien Gestalt. Die schon getroffene oder noch
nicht ausgesprochene Umstellung der Silbe gerät in Widerspruch
mit dem Schema der instruktionsgemäß bedingten Gestalt; daher
Stutzen, Verwirrung, gegebenenfalls »Kippe des Verhaltens« u. ä.
(Wertheimer a.a.0. S.316) Selz und Lindworsky
haben den Sachverhalt richtig gesehen, wenn sie eine re-
produktive Erklärung des Kontrollprozesses ablehnten. Selz
leitet sie von einem Kontrollbedürfnis der Vp. her; Lind-
worsky weicht von dieser Deutungstendenz nicht weit ab,
wenn er sie auf das »Relationsbewußtsein« als auf einen origi-
nären psychischen Vorgang zurückführt. Weiter ist die Lösung
des Kontrollproblems durch E.Jaensch geführt worden, der
die Frage nach den Aktivierungsreizen dieses »BRelationsbe-
wußtseins« dahin beantwortete, daß in jedem Vergleichsvor-
gang besondere physiologisch begründete Übergangserleb-
nisse beobachtbar sind, deren Stärke sowohl von dem Grade
der Absicht, eine Aufgabe zu lösen, abhängt, wie auch von
der Eindringlichkeit der sich gegenüberstehenden Reizfolgen *).
Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß diese Auffassung
nicht im geringsten einer Deutung durch Gestaltauffasungen
widersprechen kann (Wertheimer a. a. O. S. 336). Das
»Übergangserlebnis« erklärt auch den Vorgang der »intuitiven
Kontrolle: Im Fall der Übereinstimmung des Schemas der
Zielvorstellung mit der homogenen Reizsilbe bleibt eben jedes
Übergangserlebnis und die rudimentäre Hemmung des Lösungs-
prozesses aus, blitzschnell stellt sich das Richtigkeitsbewußt-
sein ein.
Vollzieht sich, wie eben angenommen, die Assoziierung nach
Gestaltgesetzen, dann löst sich auch manches Rätsel der Re-
produktionsvorgänge. Es reproduziert nicht ein Teil den andern
Teil, sondern ein Gestaltsystem das andere. Die Reproduktion
kann eingeleitet werden durch die Wiederkehr eines Bestand-
stückes der Gestalt, deren sämtliche übrigen Teile dann folgen.
Bei der Gestaltreproduktion ist nicht die mathematische Gleich-
heit der Eindrücke, sind nicht die physiologischen Sinnes-Reiz-
66) E. R. Jaensch, Einige allgemeinere Fragen zur Psychologie und
Biologie des Denkens, erläutert an der Lehre vom Vergleich, Leipzig 1920,
S. 21 ff.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 171
punkte maßgebend, sondern die Symmetrie der Gestalt. So
erklären sich einerseits die Erscheinungen der Ähnlichkeits-
reproduktion, andererseits aber auch manche BReproduktions-
fehler infolge »unkontrollierbar entstandener Assoziationen«,
weil ein Gestaltunterteil, falls er zufällig auch in einer andern
Gestalt vorkommt, (diese als Ganzes betrachtet) die fremde Ge-
stalt statt der von der Aufgabe geforderten reproduzieren kann
(vgl. das »Türklinkenbeispiel« Lewins; II, S.103f£.). Das ist
eine der Hauptursachen der i. F.Rn. Achs. Diese Auffassung
gründet sich auf die Feststellungen Segals und Lewins
über die maßgebende motorische Komponente bei der Re-
produktion von »Situationen«; auch eine Ausführungstätigkeit
kann als Reproduktionsmotiv wirken und eine TB. aktivieren,
die zu Fehlreproduktionen führen kann. Die motorische Kom-
ponente in den Gestaltkomplexen, wie sie beispielsweise in den
Achschen Versuchen bestehen, macht auch den Mechanisierungs-
prozeß deutlich, dem die Umstelltätigkeit verfällt. Die moto-
rischen Leistungen darin werden zu Trägern des ganzen
Lösungsprozesses, so daß allmählich manche sie begleitenden
Vorstellungsglieder ausfallen können, ohne die richtige Reaktion
zu gefährden.
Zusammenfassung.
1. Assoziierungsprozesse verlaufen nach Gestaltprinzipien;
diese erstrecken sich nicht bloß auf Vorstellungen, sondern auch
„auf die dazugehörigen motorischen Tätigkeiten. Es gibt nicht
bloß Assoziationen zwischen den Teilen einer Gestalt, sondern
auch Gestalten bzw. Situationskomplexe schließen sich asso-
ziativ aneinander.
2. Das assoziierende Band wird durch Sinn- oder Wert-
gesichtspunkte bestimmt (z. B. biologische, ökonomische, ästhe-
tische, theoretische usw.).
3. Dementsprechend erfolgt auch die Reproduktion nach
Gestaltgesetzen. Charakteristische Glieder einer Gestalt zeigen
Tendenzen zur Reproduktion des ganzen Komplexes; Glieder,
die mehreren Gestalten gemeinsam sind, können daher, ihrer
eigenen Wirksamkeit überlassen, zu Fehlreproduktionen führen.
4. Die Identität einer Gestalt wird nicht durch mathe-
matische Gleichheit ihrer Glieder, sondern durch Symmetrie
derselben im Ganzen bedingt.
172 Julian Sigmar,
$ 20. Zur Theorie der intendierten Fehlreaktionen und
des Willens.
Der Willensprozeß wird in den vorliegenden Untersuchungen
durch die Übernahme der Rolle als Vp. und in deren Verfolg
durch die Übernahme der Instruktion eingeleitet. Nicht alle ge-
eigneten Leute sind ja dazu bereit. Es liegt ein Wahl- und
Entscheidungsakt vor, der durch das Bewußtsein der freien Ent-
schließung, des »Auchanderskönnens« gekennzeichnet wird. Daran
schließt sich die Überlegung, welche Ausführungsmöglichkeiten
zur Erreichung des Zieles führen; ein Vergleichen der Bezugs-
vorstellung (Reaktionssilbe) mit der Zielvorstellung setzt ein,
Gedankenreihen werden angeknüpft, kontrolliert, gegebenenfalls
verworfen oder abgebrochen.
Intensiver gestalten sich die Vorgänge, sobald die Aus-
führung der Aufgabe wirklich anhebt. Die Vp. weiß deutlich,
‘daß sie nur auf dem Wege einer zweckmäßigen Umstellungs-
tätigkeit zum Ziel kommen kann; es ist daher nicht ver-
wunderlich, wenn die Mühe um die Bildung einer richtigen
Ausführungstätigkeit greifbaren Ausdruck erhält und das
Suchen nach der »Praxis« als nächstes Willensziel bezeichnet
wird. Die Vp. möchte die Ausführungstätigkeit bis zur
»Technik« und »Mechanik« ausgestalten. Durch unbewußt ein-
setzende Kontrollprozesse, deren Natur und Ursprung schon
oben angedeutet worden ist, wird die Vp. darüber belehrt, daß
man in dieser Art Aufgaben auf verschiedenen Wegen zum Ziel
gelangen kann. Unter dem Einfluß der Tendenz zur Arbeits-
ersparnis hebt sich besonders der Weg durch Anwendung der
Reproduktion hervor; daneben behauptet sich der Weg durch
Anwendung der Konstruktion neuer Silben. Die Ausführungs-
tätigkeiten hinterlassen eine Art Bereitschaft zur weiteren An-
wendung derselben Tätigkeit, die in Anbetracht der Aufein-
anderfolge der Silben gefährlich wirken muß und leicht zu Fehl-
reaktionen führt.
Dadurch belehrt, wird die Tendenz zur Gestaltreinheit
stärker, die Vp. wendet sich ganz der konstruierenden Vw. zu
(Hingabe). »Ich war ganz Instruktionsmensch«, sagt eine Vp.
Lewins, »ich war in einem Zustand, in dem ich mich ganz
der Instruktion hingab, ohne auf sonstige Nebenumstände zu
achten« (a.2.0. II, S.113). Das Kennzeichen dieser »Hin-
gabe« hat auch Lewin in dem »regelmäßigen Neubilden« er-
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 173
kannt (II, S.77). Der Ärger über Fehlreaktionen, unerwartete
Schwierigkeiten bringt Spannungs- und Anstrengungserleb-
nisse mit sich, die aber nicht wesentlich zum Willensakt ge-
hören, da es gelungen ist, Fehlreaktionen ohne Aufregung, in
gleichgültiger Gemütslage zu vermeiden, durch einfache Er-
innerung an die Aufgabe. Der Willensakt wird wesentlich durch
das Bewußtsein charakterisiert: »Ich könnte zwar anders
handeln, aber ich will dieses und nichts anderes !«
Dieses Phänomen läßt sich nicht mit einer Erklärung von
bloßen assoziativ bedingten »Vorstellungsabläufen« abtun. Ge-
wiß hätte eine solche Erklärung den methodischen Vorzug der
Einheitlichkeit für sich; leider sprechen die Tatsachen dagegen.
So geht es nicht an, zu sagen, die Reaktionsgelegenheit erinnere
die Vp. an die Zielvorstellung; die Reaktionsgelegenheit ist
doch immer da, und nicht alle Zielvorstellungen reizen und be-
wegen die Vp.; nur unter ganz bestimmten Bedingungen weiß
die Vp.: Jetzt gilt es! Gewiß gibt es Zielvorstellungen, die eine
Vp. von selbst zur Annahme nötigen; aber abgesehen davon,
daß sie sich nicht gegen andere ablenkende Assoziationen zu be-
haupten vermögen, ist die Zahl solcher aus innerer Kraft
wirkenden Zielvorstellungen zu gering, um für den Bedarf
eines Menschen in allen Lagen zu genügen. Der Hinweis auf
»Motivations-Zusammenhänge« löst dieses Problem auch nicht,
sondern schiebt es nur zurück. Denn die Entscheidung für ein
Motiv ist wieder als freie Tat des Individuums, als ein Willensakt
zu betrachten. Überdies zwingt einen die Ablehnung des Willens
als psychologischen Faktums zur Konstruktion so vieler Hilfs-
hypothesen, anderer bewegender Faktoren, wie z.B. »Aufmerk-
samkeit«, deren Originalität nicht einmal auf dem Boden der
geltenden psychologischen Theorie haltbar ist.
Versuchen wir es nun, die Natur des Willens aus den Be-
dingungen der vorgekommenen Fehlreaktionen zu erkennen.
Nur sekundär wirkten dem Willensakt die gestifteten Asso-
ziationen, primär die Persistenz in der Ausführungstätigkeit,
die Inertial-Td., Ablenkungen aller Art und das »Vergessen«
entgegen. Die schillernde Vielheit der Bedingungen läßt sich auf
zwei große Hauptgesetzlichkeiten zurückführen, auf das Gesetz
der Gestaltbildung und das Gesetz der Trägheit.
Das Gesetz der Gestaltbildung ist maßgebend für
die Assoziations- und Reproduktionsvorgänge. Ein Gestalt-
174 Julian Sigmar,
unterteil hat die Td., die ganze übrige Gestalt zu reprodu-
zieren. Daraus erklärt sich die Wirkung der Ablenkungen durch
latent und unkontrollierbar entstandene Assoziationen, ebenso
der unbewußte Wechsel der Tätigkeitsbereitschaften. Wenn
zufällig eine Vorstellung bzw. eine dazugehörige Ausführungs-
tätigkeit zwei verschiedenen Gestaltkomplexen angehört, be-
steht die Möglichkeit, daß der von der Aufgabe nicht intendierte
Gestaltkomplex reproduziert wird. (Die Silbe mosel gehört
z.B. in den Gestaltkomplex der Lernsituation, ist aber auch als
Flußname Teil der Gestalt »Heimatstadt«. Vgl. oben S. 119 u.
S. 141.) Ähnlich liegt der Fall, wenn die Vp. eine falsche Aus-
führungstätigkeit, die zur bloßen Reproduktion, anwendet. Wir
müssen uns dabei an die große Strukturähnlichkeit der Auf-
gaben erinnern, die entweder durch die konstruierende oder re-
produzierende Tätigkeit gelöst werden können. Das Gestalt-
ganze bleibt unverändert, nur ein Gestaltunterteil, d. i. der
Lösungsweg, muß gewechselt werden. Kommt nun ein fördern-
des Moment in Form einer Ablenkung oder die aus dem Träg-
heitsgesetz aller Masse resultierende Persistenz der Tätigkeiten
hinzu, so kann die Gestalt der Aufgabelösung nach der un-
richtigen Seite hin ergänzt werden. Das ergibt dann eine i.F.R.
mit Richtigkeitsbewußtsein. Man muß schon starke Gegenmittel
anwenden (bei uns das unausgesetzte »Neuumstellen«), um diese
Möglichkeit zu verhindern.
(Als Analogen auf optischem Gebiete sei an
Fälle erinnert, in denen die »Kippe« vorkommt,
wobei unter bestimmten Bedingungen eine Gestalt-
form in die Kontraform umschlägt. So geht in der
nebenstehenden Figur die Form des Eis. Kreuzes
in die des Johannitersterns über, was man nur
durch Verstärkung der Umrisse des Kreuzes ver-
hindern kann. (Vgl. Wertheimer a.a. O.
S. 344.)
Das schon erwähnte Gesetz der Trägheit beherrscht
die gesamte Natur, auch die psychischen Vorgänge. Daher die
Inertial-Td., die Persistenz der Tätigkeiten, woraus die Bereit-
schaft zur Beibehaltung desselben Lösungsweges sich ergibt;
daher auch die Mechanisierung der »Praxis« mit dem Zweck,
entbehrliche Mittelglieder der Konstruktion auszuschalten. Aus
dem Trägheitsgesetz der Masse folgt auch jener Vergessens-
vorgang, der auf dem Verfall der physiologischen Spuren des
Gedächtnisses beruht.
Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 175
Wo aber die Vpn. im Fall von i. F.Rn. von einem »momen-
tanen Vergessen« der Instruktion sprechen, beruht das Ver-
gessen auf der Enge des Bewußtseins, weil zwei Gestalten, die
instruktionsmäßige und die infolge falscher Anknüpfung sich
bildende, nicht zugleich gegenwärtig sein können. Das »Ver-
gessen« ist da eine Wirkung der Gestaltstörung durch solche
Komplexstücke, die den Prozeß zu einer anderen Gestalt-
ergänzung abdrängen wollen. Wo aber die störenden Reize nicht
Glieder einer der Vp. geläufigen Reihe waren, vermochten sie
die Gestaltergänzung im Sinne der Instruktion nicht zu hindern,
wie aus unsern oft unwirksamen Ablenkungen hervorgeht.
Die Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes
lassen sich also auf psycho-physiologische Gesetzmäßigkeiten
zurückführen.
Betrachten wir nun noch die Faktoren, welchen die sieg-
reichen Lösungen zuzuschreiben sind. Da war zunächst der
motorische Faktor, das regelmäßige Neubilden der Silbe, der
den Erfolg sicherte; daneben das stetige Erinnern an die Auf-
gabe. In sekundärer Beziehung wirkten auch günstig das Kon-
trollieren und die mechanisierte Praxis. Das andauernde Tätig-
sein paralysierte die Wirkungen des Trägheitsgesetzes; es war
jenes Gegengewicht, das die Störungen des Gestaltbildungs-
prozesses durch ablenkende Reize verhinderte. Das Mechani-
sieren der Praxis ist eine physiologische Folge der beharrlichen
Umstellung und somit kein selbständiger Faktor. Man hat die
motorische Komponente des Vorstellungslebens bisher nicht ge-
nügend gewertet; hat Bergson nicht doch recht, wenn er als
das assoziierende Prinzip die »Handlungsbezogenheit« der Vor-
stellung ansah?
Nach der intellektuellen Seite hin erwies sich die stete Er-
innerung an die Instruktion als durchschlagendes Mittel zur
Konservierung des Gestaltbildes. Dadurch wurde die aus dem
Trägheitsgesetz resultierende Persistenz durch eine willentliche
Persisttenz im Lösungsmodus überwunden. Die Kontroll-
prozesse, als Wirkung der Tendenz zur Gestaltreinheit, leisteten
dabei gute Hilfestellung.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Wille nicht Trieb,
nicht Tendenz neben Tendenzen, nicht assoziativ bedingter Ab-
lauf von Vorstellungen ist. Er steht gänzlich außerhalb der
intellektuell-motorischen Vorgänge, bestimmt aber nach dem
Zeugnis des Selbstbewußtseins ihre Richtung. Der Terminus
176 J. Sigmar, Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes.
»Wille« stammt aus der Vermögenspsychologie; vielleicht ist
das der Grund, warum er in das theoretische Gefüge der
heutigen Psychologie nicht hineinpaßt. Muß er deshalb schon
falsch sein? Ist er nicht eine Frage an die Psychologie, ob sie
auch ihren Rahmen weit genug gesteckt hat, um alle psy-
chischen Phänomene zu umfassen? Psychologie ist ihrer Wort-
bedeutung gemäß Erforschung des Geistes, der Seele. Nur von
der Seite der Geistigkeit, Geschlossenheit des Seelenlebens aus
wird man daher dem Willensphänomen gerecht werden können.
(Eingegangen am 27. Februar 1925.)
Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der
Odyssee,
Von
Theodor Nissen (Kiel).
Die folgenden Ausführungen sind eine Fortsetzung meiner
Abhandlung über die Physiologie und Psychologie der Furcht in
der Dias, die im 46. Bande dieser Zeitschrift S. 70—97 erschienen
ist (im folgenden mit J zitiert). Der Gang der dortigen Unter-
suchungen wird im wesentlichen auch hier eingehalten, und es
wird dabei versucht, die Unterschiede der Odyssee von der Ilias
möglichst herauszuarbeiten. Daß in dieser Hinsicht von der
Homerforschung noch manches versäumt worden ist, kann nicht
bezweifelt werden; wie viel selbst auf sprachlichem Gebiet hier
noch zu tun ist, hat K. Meister, Die homerische Kunstsprache
(Lpz. 1921) S. 247f. ausgeführt. Über die Unterschiede der
Menschendarstellung in beiden Epen finden sich feinsinnige Be-
merkungen und Beobachtungen, die auch dieser Arbeit zugute
gekommen sind, bei J. Geficken, Griechische Menschen (Lpz. 1919)
S. 3, 26 ff., 40 (vgl. J S. 71).
Begonnen werde mit einem Vergleich der Terminologie
des Furchtbegriffs in der Odyssee mit der der Ilias. Während
Öıyeiv »erschaudern« und das komparativische ö{/yıo» in beiden
Epen vorkommt, fehlt in der Odyssee das Adjektiv dıyedards;
dafür findet sich einmal (£ 226) <arapıynAöds und außerdem
das Kompositum drogoy&w in der Form dreooiyacı, ß 52;
beides der Dias fremd. Der Odyssee wiederum fehlt das seltsam
bildhafte rzayvovodaı, das P 112 von der Angst eines Löwen
gebraucht wird; gplooesıw wie poi kommen nur in eigentlicher
Bedeutung vor (jenes z 446 vom Eber, vgl. N 473, dieses ô 402
vom Meere). zo&uw als Bezeichnung für angstvolles Glieder-
zittern findet sich in beiden Epen nur je ein einziges Mal (X 390
ind Ö’frgeue yvia, A 527 ro&uov Fúnò yvia Exdorov), häufiger
toópos (o 88 zgduos Maße yvia wie I'34, Z 506 und 2 170; mit
Personenobjekt œw 49) und roou&w (o 80, v 215, medial x 446)
Archiv für Psychologie. LII. 12
178 Theodor Nissen,
mit den der Dias fremden Komposita dugyıroou£w (ô 820) und
neoırpoukonaı (o 77); dnorooutw und das Adjektiv ärpouos
kommen nur in der Ilias vor, das Adverb äroeuas dagegen
auch in der Odyssee (» 92, z 212). ro£&w erscheint in der Odyssee
nur einmal im Aorist (¢ 138 ro&ooav Ö’ällvdıc Klin), Komposita
davon überhaupt nicht und das Adjektiv ronow» wie in der
Dias nur als Beiwort der Taube (n&lea, u 63 und v 243). Das
Wort für die Abwehrbewegung des Duckens, ntóooow, finden wir
in eigentlicher Bedeutung nur einmal (x 304) von Vögeln; in
übertragener Bedeutung heißt es nicht wie in der Ilias »sich
fürchten«, sondern »betteln« (o 227, o 363). Wie in der Dias
einmal xaranındas vorkommt (X 191 vom sich duckenden Hirsch-
kalb), so in der Odyssee einmal xara ÖEnrn&ar ( 190 von
den Phaiaken, die sich unter der Wucht des von Odysseus ge-
worfenen Steines ducken). Dreimal erscheint in der Odyssee das
Partizip nentn@s »geduckt«: £ 354, 474 und x 362 (in der
Dias nur önonentnds B 312). Nur die Odyssee kennt rroıu.w
»scheuchen, in Schrecken setzen« (x 298 poéves Zmroinder) und
dıanroı&w (o 340). Das xarmproas »niedergeschlagen, bestürzt«
von X 293 begegnet x 342 in der Form xarnpnoa», daneben
w 432 das Adjektiv xarnpncs (s. Bechtel, Lexilogus zu Homer
S. 188 f.); xaranintreodaı und Zxnintteodaı fehlen in der Odyssee;
dritw »scheuchen« endlich findet sich, wie in der Ilias meistens,
nur in der Form des Part. Praes. ärv£öuevoc (å 606 und y 42).
Sehr bemerkenswert ist die Tatsache, daß das Wort poßos
in der Odyssee nur ein einziges Mal vorkommt, und zwar in
der Bedeutung >Flucht« (w 57 oi ö’£oyovro Yößov neyadvuoı
"Axacot, nachdem Nestor ihnen V. 54 zugerufen un peöyere). Auch
poßeiodaı und p&ßeodaı »fliehen« erscheinen pur je ein-
Mal, z 163 und x 299; peüyeı» dagegen ist in der Odyssee so
häufig wie in der Ilias (Versschluß oùxére gvxra n&lovro bezw.
-ovzaı und -wyraı Ê 299 und £489 wie I 128); von seinen
Komposita haben beide Epen 2x-, noo-, Öno-, nex- und
ÜNEXNEOPEUYW, napapevyw nur die Odyssee u 99). Das
Substantiv pvyý, das die Ilias nicht kennt, kommt an zwei
Stellen, x 117 und x 306, das komponierte Adjektiv gvyorro-
Acenos einmal, £ 213, vor; púġıç und das Adjektiv pYEnds
fehlen der Odyssee; € 359 steht das Neutrum pö£&ıuo» für
»Zufluchtsort«e (69%: uot páro pöfıuov elvai). Das Wort für die
sangstvolle Flucht«, pú¢ča, kennt auch die Odyssee (È 269,
o 438), nicht dagegen die Ableitungen gvLaxırds und repvlos.
Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 179
Dem Begriff des Fliehens verwandt ist der des Meidens, den
die in beiden Epen vorkommenden Verben d4eelvw, dA&ouaı
und dAvoxw (dAvoxatw) mit dem Kompositum Önaivoxw
(davon das Substantiv öndAv£ıs) enthalten; ünadlevouaı hat nur
die Odyssee einmal, o 275; die Substantiva dA&n und diewen
nur die Ilias.
Das eigentliche Wort für das Furcht- oder Angstgefühl ist
in der Odyssee wie in der Ilias d&os (Gegensatz ddpoos ¢ 140,
vgl. auch ô 825 und ı 377; y 76 ist Ydooos Gegensatz zu aldus
y 14 und 24). Das Adjektiv ddens steht in der Odyssee nur
einmal in der Bedeutung »schamlos« (r91 xvov ddets — ® 481);
öetua fehlt ihr wie deiuos, deıvds und deıAödc sind häufig,
doch letzteres nur in der Bedeutung »unglücklich«e. dw ist der
Odysee fremd; dieuaı »verjagen« erscheint o 317, 398, v 343
und 9 370. Nur die Odyssee kennt dıegös, das ¢ 201 (dvno
dıeoös Bodros) »zu fürchten« heißt (s. W. Schulze, Gött. Gel.. Anz.
1897 S. 906), « 43 (dıeo@ nodi pevyéuer) dagegen »flüchtige« (s.
Bechtels Lexilogus S.101). Das eigentliche Verbum für »fürchten«
ist wie in der Ilias delöw (deldıa, deldorxa); von seinen Komposita
kennt die Odyssee nur önodeiöw; die Ableitungen dediooouaı
und deaönuw» sind ihr fremd. Dagegen hat sie das komponierte
Adjektiv dJeovöns »gottesfürchtig« (pıåóčewor zal opw vdos Eorl
deovöns viermal: £ 121, 9 576, ı 176 und » 202, außerdem r 109
und 364), das in der Ilias nicht vorkommt. rd4oßos, in der Ilias nur
2152= 181, hat die Odyssee nicht, wohl aber einmal raoßo-
oövn (o 342) und öfter das Verbum ragߣw, dagegen nicht
ätaoßns oder draoßntos. dxvos und ôxvréw hat ebenfalls nur die
Dias, á ufos und dBaußeEw (tEdnna, tapyav) sowie yny hin-
gegen beide Epen; zapos wiederum nur die Odyssee. Je einmal
haben beide Epen xataotvyéw »erschaudern«, das P694 absolut
gebraucht, x 113 mit Akkusativobjekt verbunden ist.
Wie die Verbindungen dewös aldoids te (® 22, £ 234) und
aldeouaı xal Öeldıa (o 188) zeigen, ist der Begriff der Furcht
auch schon im homerischen Griechisch dem der Ehrfurcht, Scham
und Scheu nahe verwandt (s. auch oben döens). So tritt neben
ö£os alöws (verbunden O 657.) mit dem Verbum alö£ouaı
(aldöouaı) und den Adjektiven aldoios und dvaröns (wovon
subst. dvaudein), sämtlich in beiden Epen vorkommend wie das
nur auf Götter und heilige Dinge bezogene ddouaı und nét-
Couaı (das Kompositum &rontlouaı hat nur die Odyssee ein-
mal, € 146 Auös &nonileo uiv). Das mediale a foy óvo par: kennt
nur die Odyssee (n 305 deloas aloyvvousrös te, o 12 und @ 323).
12*
180 Theodor Nissen,
Was nun den Sitz der Furchtaffekte angeht, so treten,
anders als in der Dias, die Organe »o&ves (ponjv), xgadin und
ntop merklich vor dem Avuös zurück. Wo die po&ves erscheinen,
ist die physiologische Grundbedeutung bereits verblaßt. Stellen
von einer solchen Plastik, wie sie Z 352, X 10 und O 627
erscheint (s. J S. 76), finden sich in der Odyssee nicht. Die
Wendung d£doıxa xara poéva (A 555, [244 und K 538) kehrt
w 353 wieder, und den beruhigenden Worten der Iris 2 171
doosi, Aapdariön IIplaus, pocol unde ti rdoße entspricht ô 825
dagosı, undE ti ndyyv perà posol Öelödı Ainv (vgl. hymn. in
Vener. 193), Worte, mit denen Penelope vom Traumbild der
Schwester beruhigt wird. ¢ 140 heißt es, daß Athene der Nau-
sikaa Hdooos Evi pocol Üijxev xal &x Ö£os clero yviwv, so daß sie
nicht wie ihre Gespielinnen vor Odysseus entflieht. Die Erholung
von der Furcht wird als ein Aufatmen und Sammeln des uuös
in der por» gekennzeichnet wie X 475 von der aus der Ohn-
macht erwachenden Andromache so e 458 von dem auf Scheria
geretteten Odysseus und w 345 von dem ohnmächtig in den
Armen des Sohnes liegenden Laertes; zu ès poéra Bvuös åyéoðn
ist zu vergleichen x 461 eis ő xev abus Bvuöv Evi anıjdeooı Adßnte
(4 152 äyopoov ol Yvuös Evi orndeoow dy&odn). Mit der Wendung
E88 xal uèv tois Önudos xoateoòyv ĝéos èr pocol inte läßt sich
P 625 ĝéos Zuneoe dvu@ vergleichen, während das unanschauliche
av è poeves Entolnderv (x 298) in der Ilias kein Seitenstück hat.
Nur selten wird die xoaöin als Sitz der Furchtaffekte ge-
nannt, und auch hier erscheint der Ilias gegenüber das Physio-
logische verblaßt. Stellen wie N 282, X 461 und K94f. (J S. 77)
fehlen ganz, kommt doch Herzklopfen als Furchtsymptom in
der Odyssee überhaupt nicht vor. Die Wendung noAla ôé uoı
xoaöin nöppvoe xiovı (ô 427, 572, x 309), die ein Gegenstück
an Ø 551 noMa dE oi xo nöppvoe hat, bezeichnet nur allgemein
eine innere Unruhe; das bestimmtere zoid ĝé ol xoadin nporıöcoer”
öAedoov € 389, das in der Ilias keine Entsprechung hat, zeigt
besonders deutlich, daß das Wort xoaöin seine physiologische
Bedeutung fast ganz eingebüßt hat. x7o findet sich als Sitz der
Furcht in der Odyssee überhaupt nicht; 7roo erscheint in der
siebenmal vorkommenden Wendung Avro yovvara xal pilov ùtoo
(ô 703, & 297, 406, x 68, 147, y 205 und w 345), die die Ilias
nur © 114 und 425 hat, und ebenfalls siebenmal in der noch
zu besprechenden Formel xarexidodn giov too (ô 481, 538,
ı 256, x 198, 496, 566, u 277), die die Ilias nicht kennt; diese
hat xarenAnyn @ilov roo T 31 (J S. 77).
Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 181
Häufiger als diese Organe wird der Wvuös als Sitz der
Furcht genannt. Er erscheint wie in der Ilias bald mit xoaöin
verbunden (Snan oe (ur) xoadin Vvuös te xeieveı o 339, z 81 und
ꝙ 342 wie N 784) und wie diese in der Brusthöhle lokalisiert
(ô 548f., A 152, P 68f., s. J S. 78), bald tritt er ohne merkbaren
Bedeutungsunterschied für xgaöin ein, doch auch hier nur in
verblaßter Bedeutung im Gegensatz etwa zu H 216 dvuös &rl
orndeooı naraooes; dem oben erwähnten xpaöin nooridooer ÖAedoov
€ 389 entspricht £ 219 od noré uoi Pávatov nootióoost ÖAedoov
(vgl. xaxa (xaxöv) Öoosto Pvuós x 374 und o 154; Öooovro yag
äiysa dou@ 2224). Wie in der Ilias bald deioe de Pvuæ (N 163,
vgl. 623£., Q 778£.), bald deive d’5y’Ev Pvuæ (O 138) sich findet,
so in der Odyssee deldıe Bvu® nz 306 neben deioao’ &ri Yvud
z 331; auch die Wendung unde (oödd) te Yvuo rapßa (Tapßeis,
taoßei) erscheint in beiden Epen: y 50 f., o 330 f. — 390 f., Ø 574.
Verbindung von vuós mit dıyew findet sich nur y 215f., mit
tednnevaı bezw. Yaußeiv ¢ 166, w 105, ô 638, x 63 und a 323.
Während es bei der Darstellung der Furchtaffekte in der
Dias notwendig und ergebnisreich war, die Tierpsychologie
mit der Menschenpsychologie zusammen zu behandeln (s. J S. 78
bis 82), liegt die Sache in der Odyssee wesentlich anders, schon
weil hier die Zahl der Gleichnisse etwa nur ein Fünftel von
der der Ilias beträgt. Gleichwohl mögen der Parallelität mit J
zuliebe die wenigen Fälle der an Tieren geschilderten Angst
schon hier behandelt werden. Die Besorgnis der schlaflosen
Penelope um ihren Sohn wird ô 791f. mit der Besorgnis eines
Löwen verglichen, der Angst bekommen hat (deioas), weil eine
Schar von Männern ihn listig im Kreise umstellt hat. Die drei
in der Dias vorkommenden Gleichnisse von einem in Furcht
versetzten Löwen (A 548—555 — P 657—664, O 586—588 und
P 109—112; s. J S. 81) sind völlig anderer Art und mit diesem
schon deswegen unvergleichbar, weil es, wie Hermann Fränkel,
Die hom. Gleichnisse (Göttingen 1921) S. 106 hervorhebt, das
einzige homerische Gleichnis ist, das nur in einem Punkte
— dem deioaa — mit der Erzählung zusammenhängt; ob wir
deshalb freilich dem Gleichnis>zimmerer« mit Fränkel (S. 70)
>völlige Verständnislosigkeit« vorwerfen dürfen, scheint mir
fraglich. Die Angst eines Rehkalbes (&AAöc oder veßoös), von der
in der Ilias mehrfach die Rede ist (X 189—192, A 243 = 929,
X 1), ist auf der goldenen Spange des Odysseus dargestellt
(t 228—231): ein Hund hält es gepackt, und es zappelt mit den
182 Theodor Nissen,
Füßen, begierig ihm zu entrinnen. Wie Rinder der Herde, die
im Frühling die flatternde Bremse jagt, so flüchten die entsetzten
Freier den Saal entlang, als Athene die Ägis erhebt (x 297—301);
auch dieses ein im Homer alleinstehendes Gleichnis (H. Fränkel
a. a. O. S. 84). Berühmt ist die Stelle x 162f,, wo Athene, die
dem Telemach unsichtbar bleibt, von Odysseus und den Hunden
gesehen wird; diese bellen nicht, sondern flüchten mit Gewinsel
(xrulndun) auf die andere Seite des Gehöftes. Mit dem Schwirren
von Vögeln, die nach allen Seiten gescheucht werden, wird in
der orphischen Interpolation das Geräusch der Schatten ver-
glichen, die das Eidolon des Herakles umgeben (4 605 f.), und
die Flucht der Freier mit der der Vögel, wenn sich krumm-
krallige und krummschnäblige Jagdfalken (alyvrıoi yauywrvyes
üyxvioyeiioı x 302 — II 428) von den Bergen her auf sie stürzen;
sie eilen angstvoll in die Wolken aus der Ebene, aber die Falken
vernichten sie, ohne daß Abwehr oder Flucht möglich ist, und
die Männer freuen sich über den Fang (x 302—306; vgl. II 582 f.
und P 755—757, J S. 81).})
Indem wir nunmehr zu den physiologischen Begleit-
erscheinungen der Furcht übergehen, beobachten wir zu-
nächst, daß deren schwächste, der Kälteschauer (dıysiv), wie
in der Ilias so in der Odyssee schon den bloßen Gedanken an
ein bevorstehendes Ungemach oder Leid begleitet (J S. 82). Als
Penelope den Gemahl nach der Wiedererkennung bittet, ihr
nicht zu zürnen, daß sie ihn nicht beim ersten Anblick so be-
grüßt habe, fügt sie zur Begründung hinzu, daß ihr immer der
Övuös in der Brust geschaudert habe bei dem Gedanken, sie
könne von einem Betrüger getäuscht werden, y 216. Höhnende
Übertreibung ist es freilich, wenn Telemach in der Gemeinde-
versammlung der Ithakesier sagt, die Freier schauderten davor
(drreooiyaoı), in das Haus des Ikarios zu gehen, um um seine
Tochter Penelope zu werben; daher kämen sie lieber in sein
Haus, um zu schmausen und zu zechen, $ 52ff. Im fünften Ge-
sang findet sich diynoev zweimal, um den Eindruck einer ent-
setzenerregenden Kunde auf den Empfänger zu bezeichnen. Kalypso
erschaudert, als sie durch Hermes den Auftrag des Zeus ver-
1) Da J S.79 von der einzigen Stelle der Ilias geredet war, an der das
von einem Naturlaut abgeleitete Verbum ivfer vorkommt (P66; s. auch J
S. 90 u.), so sei hier auf das einzige Gegenstück in der Odyssee, o 162, hin-
gewiesen: Männer und Weiber folgen ivforzes einem Adler, der in seinen
Krallen eine weiße Gans trägt, die er aus dem Gehöft geranbt hat.
Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 183
nimmt, den Odysseus heimzusenden, € 116, und ebenso erschaudert
Odysseus, als ihm Kalypso die Heimkehr in Aussicht stellt, weil
er dahinter eine Tücke der Göttin wittert, e 171. Dagegen fehlt
in der Odyssee die in der Ilias so häufige Verbindung von dıyeiw
mit dem Anblick eines Geschehnisses, das ein unmittelbar gegen-
wärtiges oder bald zu erwartendes Unheil anzeigt, ebenso xoveoös
und xgvöes »eisig« als Beiwort der Flucht (ô 403 ist xoveoös
Beiwort der Klage, ydos) und, wie schon oben S. 177 erwähnt,
naxvododaı oder poiocew in übertragener Bedeutung.
Wie in der Ilias die äußerlich sichtbare Wirkung des Kälte-
schauers durch @xoos, fahle Blässe, bezeichnet wird (I 35,
s. J 8.83), so verwendet die Odyssee einmal das davon ab-
geleitete Verbum @yodw (å 529), wo Odysseus dem Schatten
des Achilleus erzählt, daß beim Heraufklimmen in das hölzerne
Pferd die andern Führer der Danaer geweint und gezittert
hätten, daß er aber den Neoptolemos weder @yonoavra xoda
xallıuov noch eine Träne von den Wangen habe wischen sehen.
Wie in der Dias wird das Erblassen als Wechsel der Hautfarbe
bezeichnet, und die Wendung xows Zrodnero, die P 733 von
den Troern gebraucht wird, als die Aianten sich gegen sie
wenden, kehrt » 412 an der eindrucksvollen Stelle wieder, wo
es dem Odysseus gelingt, den Bogen zu spannen: urnorijgow
Ôo’ yos yEvero u£ya, näcı Ö’äpa xows Zroanero. Auch yAwods,
gelbgrün, findet sich als Beiwort der Furcht wie in der Ilias
so in der Odyssee (4 43, 633, u 243, x 42, œ 450, 533), stets mit
dem Prädikat jo. oder eldev.
Wie in der Ilias wird auch in der Odyssee die Steigerung
des Erschauerns, das Zittern, bisweilen als Gliederzittern
spezialisiert (so A 527 und o 88); ein Zittern der go&ves dagegen
(K 10, O 627; oben S. 180) kommt in der Odyssee nicht vor. Sehr
drastisch heißt es von dem zum Kampf geführten Iros: odoxes
ô? neoitoouéovto uéhecoiw, o 77. Schon von der Befürchtung be-
vorstehenden Unheils wird der Ausdruck (dupıJ)zoousw gebraucht,
von deidıa kaum verschieden und ô 820 mit ihm verbunden; hier
sagt Penelope im Traum zu ihrer Schwester zoö ô’ (um Tele-
mach) äugpırpousw xal deldıa, un ti nadmow!). Tröstend dagegen |
spricht z 446 Eurymachos zur Penelope, Telemach sei ihm von
1) Wenn Ed. Schwartz, Die Odyssee (München 1924) 8.310 die Stelle
ô 820f. als »Dublette« zu 819 streicht, so zerstört er die schöne Steigerung
von dövpouas zu dupırooudo xa ðslíðsa und übersieht, daß die Begründung
V.822f. nur zu einem Verbum des Fürchtens paßt.
184 Theodor Nissen,
allen Männern der weitaus liebste, oùôé tí uw Dávatoyv zoou£eodaı
ävywya čx ye uvņotńowv. Über die Freier klagt Philoitios v 215,
daß sie nicht ödnıda Tpou£ovoı Yewv. Eine Drohung ist wie in
Z137 Ursache des Zitterns o 88: den Iros ergreift Gliederzittern
infolge der überaus rohen Drohworte des Antinoos. In den übrigen
Fällen wird das Zittern durch Gesichtseindrücke veranlaßt, ent-
weder durch den Anblick von etwas Wunderbarem wie 49,
wo der Schatten Agamemnons dem Achilleus erzählt, wie alle
Achaier ein Zittern ergriff, als Thetis mit den unsterblichen Meer-
mädchen aus dem Meere stieg, ihren Sohn zu bestatten (vgl.
T 14£f., J S. 84), oder häufiger der Anblick einer drohenden Ge-
fahr. Beim Besteigen des hölzernen Pferdes zittern allen Danaern
die Glieder außer dem Neoptolemos, A 527, und dem Iros zittert,
wie vorhin erwähnt, das Fleisch an den Gliedern, als er die Stärke
seines Gegners gewahr wird, o 77—81. Die gesteigerten Furcht-
symptome des Zähneklapperns und Herzklopfens dagegen, für
die sich in der Ilias fünf Beispiele finden (s. J S. 84 f.), kommen
in der Odyssee nirgends vor.
Häufiger hingegen als in der Ilias wird das Gefühl
lähmender Erschlaffung mit der Formel Avro yovvara
xal plov top bezeichnet, die die Ilias, wie schon gesagt, nur
® 114 und 425 hat. Freilich wird nicht nur die Wirkung der
Furcht, sondern auch die tiefster, freudiger Erregung auf diese
Weise gekennzeichnet, und zwar bei der Wiedererkennung des
Odysseus durch Penelope wie durch Laertes, y 205 f., œ 345f,
Aber an den übrigen fünf Stellen handelt es sich wie in der
Ilias um die lähmende Wirkung des Entsetzens. ô 703 ff. ist von
dem Eindruck die Rede, den die Kunde von dem Plan der
Freier, den Telemach bei seiner Rückkehr zu ermorden, auf
Penelope macht; zu dem Lähmungsgefühl tritt langandauernde
Sprachlosigkeit und das Aufsteigen der Tränen. Im fünften
Buch wird das Entsetzen des Odysseus über den von Poseidon
erregten Sturm und später über das Tosen der Brandung an
der Steilküste von Scheria mit derselben Wendung gekennzeichnet,
€ 297 und 406. x68 sind es die Drohworte des Odysseus, die
. lähmend auf die Freier wirken, wie y 147 der Anblick der plötz-
lich gewafineten Freier in gleicher Weise auf Odysseus. Auch
die Stelle o 341 f. gehört hierher, wo von den Mägden, die die
Drohung des Odysseus an die schamlose Melantho vernommen
haben und vor ihm flüchten, gesagt wird Audev H’üno yvia Exdo-
ins tapßoovrn. pàv yáo uw dAndEa uvdnoaodaı. Dagegen fehlen
Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 185
in der Odyssee die Vorstellungen des Fallens oder Geschlagen-
werdens, mit denen die Ilias mehrfach das plötzlich eintretende
Lähmungsgefühl bezeichnet (s. J S. 85); dafür ist ihr allein die
Formel xarexłáoðņ ílov ijtoo eigentümlich, die in sechs von
den sieben vorkommenden Fällen die Wirkung der Furcht vor
bevorstehendem Unheil schildert: ô 481 »bricht das Herze dem
Menelaos, als ihm Proteus die Fahrt nach Ägypten ankündigt,
«256 dem Odysseus und seinen Gefährten, als der Kyklop sie
anredet, x 198 den Gefährten, als Odysseus ihnen mitteilt, was
er von der Warte aus auf der Insel der Kirke gesehen, x 496
dem Odysseus, als er durch Kirke von der bevorstehenden Hades-
fahrt hört, x 566 wiederum dem Gefährten, als ihnen Odysseus
dieselbe Mitteilung macht, und „ 277, als sie Kirkes Warnung
vor der Insel des Helios erfahren; nur ô 538—541 wird
mit denselben Versen, die x 496—499 verzweifeltes Entsetzen
malen, der schwere Kummer des Menelaos über die Nachricht
von Agamemnons Ermordung geschildert.
Während in der Ilias die Starrheit einer angsterfüllten
Schar zweimal mit der Wendung zednndzes nÜte veßooi gemalt
wird (4 243, P 29), bezeichnet in der Odyssee z&dnna entweder
das rein bewundernde Staunen (£ 166, 168) oder die Befangen-
heit eines Menschen, der an die Wirklichkeit dessen, was er
sieht, nicht glauben kann (y 105 von Penelope angesichts des
wiedererkannten Odysseus, œ 392 von Dolios und seinen Söhnen‘
in gleicher Veranlassung; z 12 springt Eumaios beim uner-
warteten Anblick des Telemach zap&» von seinem Sitz auf).
Hier wird man von einer Beimischung von Furcht kaum reden
können; anders steht es um die Wörter Ydaußos und Yaußew,
die je einmal ein von religiösem Furchtschauer begleitetes
Staunen bezeichnen: y 372 ergreift alle, die es sehen, Ydußos,
als sich Athene in Gestalt eines Seeadlers entfernt, und n 178f.
daußnoe Telemach, als der von Athene verwandelte Odysseus
wieder die Hütte betritt; angstvoll wendet er den Blick zur
Seite (éréowoe BdAl’öuuara) aus Furcht, es möchte ein Gott ge-
kommen sein. Hier finden wir also, wie mehrfach in der Ilias,
die Unsicherheit und Scheuheit des Blicks als ein
Symptom des Furchtgefühls (s. J S. 86). Freilich ist der Vers
der Dias 2507 ndnınvev è Exaoros, Önn Yüyoı alniv Öledoov
an der Stelle, wo er in der Odyssee wiederkehrt, x 43, inter-
poliert; dagegen ist das scheue Umherblicken ein sehr charakte-
ristischer Zug für Medon und Phemios, die, beim Freiermorde
186 Theodor Nissen,
von Odysseus verschont, sich am Zeusaltar niedersetzen ndrrooes
nartaivovzz, póvov noudeyusvrw aici, y 380. Als eine noch ge-
steigerte Äußerung der Unruhe eines Furchtsamen erscheint
wie in der Ilias (X 15) so auch in der Odyssee das Haaraus-
raufen: als Odysseus seinen Gefährten die bevorstehende Fahrt
zum Hades ankündigt, bricht ihnen das Herz, sie klagen und
raufen sich die Haare (tilAovı6 ze yaitas, x 567; vgl. auch X 77£.):
Odysseus selber hatte, als Kirke ihm diese Eröffnung machte,
sich weinend auf dem Lager gewälzt, x 499 (vgl. ô 541).
Als Folge plötzlichen Schreckens wird bisweilen, wie in der
Ilias (s. J S. 87), das Fallenlassen von Gegenständen
genannt, die man in der Hand hält. Als die Gefährten des
Odysseus den rauchenden Wirbel der Charybdis sehen und ihr
Tosen hören, fallen den Geängsteten die Ruder aus den Händen
(169 oa deiodavrrwv èx yeroðv črtať èoctuá), u 203. Derselbe
Vers, nur mit dem Subjekt revyea statt ocruá, kehrt œ 534
wieder, wo die Ithakesier auf den Ruf der Athene, die dem
Kampfe Einhalt gebietet, von bleicher Furcht ergriffen werden,
so daß die Waffen ihnen aus den Händen fallen )).
Indem wir nunmehr zu den Abwehrbewegungen übergehen und
zwar zunächst zu der des Duckens, stellen wir fest, daß sie wie
in der Ilias (s. J S. 87) an dem Verhalten der Tiere ebensowohl
beobachtet wird wie an dem der Menschen. Vor den hernieder-
"stoßenden Jagdfalken enteilen die Vögel zzöooovoa: in die Wolken,
x 304. Unwillkürlich ducken sich die Phaiaken, als Odysseus den
Diskos wirft, unter der Wucht des sausenden Steines, 9 190.
In seiner erdichteten Erzählung berichtet Odysseus, wie er, den
Thesproten entflohen, geduckt (renınas) im Walde gelegen habe,
€ 354; mag auch hier wie an der ähnlichen Stelle £ 474 sein
Verhalten weniger durch Furcht als durch Vorsicht bestimmt
sein, so ist sicher Angst die Veranlassung, wenn x 362 Medon
geduckt unter dem Sessel liegt, oder wenn die Mägde während
des Freiermordes drv£duera: in einem Winkel des Gemaches sitzen,
y 4lf..
Daß für die stärkste unter den Ausdrucksbewegungen der
Furcht, die Flucht, in der Odyssee soviel weniger Beispiele
erscheinen als in der Ilias, ist in der Verschiedenheit des Stoffes
begründet. Von der Terminologie des Fluchtbegriffes in der
1) Nicht als Wirkung eines Angstgefühls ist es anzusehen, wenn der
Bettler Odysseus sich vor den wilden Hunden des Eumaios hinsetzt xeodo-
ovvn und der Stab seiner Hand entfällt, & 31.
Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 187
Odyssee ist oben S. 178 gesprochen. Unter den Beispielen fehlt
die Tierwelt nicht: von der Flucht des Wildes vorm Hunde ist
o 316 und z 231, von der Angst der Vögel vor Falken y 304 fi.
die Rede. Unter den Beispielen aus der Menschenwelt sei die
Flucht vor der Erscheinung einer Gottheit hervorgehoben (y 299
Flucht der Freier vor Athene, » 57 der Achaier vor Thetis und
den Nereiden, œw 536 der Ithakesier auf den Ruf der Athene).
Viele Beispiele der Flucht vor Gefahren, die von Menschen oder
von Naturgewalten drohen, finden sich natürlich in den Büchern IX
bis XT (: 43 Kikonen, ı 236 Kyklop, x 117 Laistrygonen, x 131
Felsen, x 269 Kirke, 4 383 Kampf, u 113, 120 Charybdis, vgl.
auch 260); die Gefahren des Meeres werden außer A 107 auch
noch ô 504, e 446, ¢ 170 und y 236 in Verbindung mit dem
Begriff des Fliehens genannt. Nicht selten sind Stellen, an denen
von Flucht aus der Heimat nach einem begangenen Totschlag
die Rede ist (v 259, o 224, 228, 276, y 120; vgl. auch x 424);
besonders häufig aber werden gedyw und seine Komposita mit
Objekten allgemeinen Inhalts wie ddvarov, xñoals), xaxöınra,
xaxóy, 5Aedoov, vnlets uao, neioao dılvos verbunden (die Stellen
s. unten S.191 und 193).
Häufiger als in der Ilias findet sich in der Odyssee der für
den Furchtaffekt charakteristische Zug, daß der Geängstete den
auf ihm lastenden Druck durch Seufzen, Schreien und
Weinen zu erleichtern sucht (s. J S. 90), ja die Menschen der
Odyssee sind sogar der Ilias gegenüber bisweilen geneigt, » um
des Weinens willen zu weinen« (Geffcken a. a. O. S. 30). Stöhnend
(otevatovıes) erwarten Odysseus und seine Gefährten in der
Kyklopenhöhle den Morgen, ı 306; jammernd (dövgduevor) saßen
derweile die übrigen Gefährten an den Schiffen in banger Er-
wartung der Säumenden, : 545. Eurykleia schreit auf (xwxvoev),
als sie von Telemachs Reiseplänen hört, und sucht ihn weh-
klagend (dAopvpausvn) davon abzuhalten, $ 361f. Kirke schreit
vor dem erhobenen Schwerte des Odysseus laut auf (uéya idyovoa,
vgl. Z 468, Y 62), umfängt seine Kniee und fragt ihn, wer er
sei, x 323f. Die von der Skylla gepackten Gefährten schreien
IxexAnyarras) und strecken die Hände nach Odysseus aus in
furchtbarer Todesnot, u 256ff. Weinend erheben Odysseus und
seine Gefährten die Hände zum Zeus, als der Kyklop zwei von
ihnen packt und verzehrt, ı 294. Als Odysseus den Gefährten
auf der Insel der Kirke berichtet, was er von der Warte aus
erspäht hat, weinen sie in der Erinnerung an ihre furchtbaren
188 Theodor Nissen,
Erlebnisse bei den Laistrygonen und den Kyklopen, x 201.
Odysseus selber weint, als ihm von Kirke die Hadesfahrt an-
gekündigt wird, x 496. Von den beim Besteigen des hölzernen
Pferdes weinenden und zitternden Danaern (4 527) war schon
öfter die Rede Nach der Landung des Telemach in Ithaka
wird ein Herold zur Penelope vorausgesandt, damit sie nicht
aus Angst Tränen vergieße, z 331f.
Auch die gegenteilige, den Äußerungsdrang hemmende Wirkung
der Furcht, das Verstummen, kommt in der Odyssee wenigstens
einmal in gleicher Situation vor wie in der Ilias: wie die Achaier
auf die Herausforderung Hektors, so verstummen die Phaiaken
auf die des Odysseus ( 234 — H 92 ws paf, ol Ö’äpa náves
dxnv Ey&vovro own). Wenn der gleiche formelhafte Vers v 320
wiederkehrt, um die Wirkung der nachdrücklichen Rede des
Telemach auf die Freier zu kennzeichnen, so braucht hier Furcht
so wenig das ausschlaggebende Motiv zu sein wie z 393, wo
die Freier auf den Vorschlag des Antinoos, man solle den Tele-
mach in der Heimat umbringen oder es solle jeder vom eigenen
Hause aus um Penelope werben, in Schweigen verharren. Formel-
hafte Verse sind eben, wie sich schon öfter gezeigt hat, für die
homerische Psychologie nur mit großer Vorsicht und unter sorg-
fältiger Erwägung der Gesamtsituation zu verwenden.
In der Ilias konnten wir beobachten, daß die Furcht ent-
weder selbst als Dämon gefaßt wird oder von Göttern bewirkt
scheint (J S. 92; vgl. auch Wilamowitz, Die Dias und Homer
S. 107 Anm. 2). Auch in der Odyssee erscheinen ôéos und zoöuos
durchweg als Subjektsbegriffe, als wirkende Mächte, die den
Menschen ergreifen und festhalten; aber weit seltener als in der
Dias erscheint eine Gottheit als Urheber der Furcht oder der
Flucht (& d2 Zeus teonıxe&oavvos pöLav Zuois Erapoıcı xaxv Balev
$ 268 f. — o 43T f., vgl. O 62 dvalxida pitav Evöpoas, sc. Apollon) )).
Nicht spärlich dagegen sind Fälle, in denen unmittelbares
Eingreifen einer Gottheit in die Geschicke der Menschen
den Anlaß zur Furcht gibt, vor allen das der Athene. Staunen-
des Entsetzen (áufos) ergreift den Nestor und alle Anwesen-
den, als die Göttin, die eben noch als Mentor geredet hat, sich
in der Gestalt eines Seeadlers entfernt, y 372, und noch in
Nestors Gebet (V. 380—384) zittert die Furcht nach. Winselnd
1) daooos wird erregt von Athene £ 140, vgl. v 357, von einem Dämon : 381.
Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 189
flüchten die Hunde des Eumaios vor ihrer Erscheinung, z 163. Als
sie die Aigis im Saale des Odysseus erhebt, flüchten die Freier wie
gescheuchte Rinder, y 297 f., und als sie den Ithakesiern gebietet,
dem Kampfe Einhalt zu tun, packt diese bleiche Furcht; die Waffen
entfallen ihren Händen und sie flüchten zur Stadt, w 533 ff.
Die Achaier erzittern, als Thetis mit den Nereiden aufsteigt,
den toten Achilleus zu beklagen, w 49. Ängstliches Mißtrauen
vor der Unberechenbarkeit göttlicher Wesen finden wir zweimal
im fünften Buch: als Kalypso dem Odysseus die Heimkehr ge-
bietet, erschauert dieser (diynoev, e 171), weil er eine Arglist
fürchtet, ebenso V.355, nachdem ihm Leukothea den Schleier
überreicht hat. Oft dient die Furcht oder Scheu vor den Göttern
als Vehikel sittlichen Verhaltens. Sie veranlaßte den Ilos von
Ephyre, dem Odysseus kein Pfeilgift zu geben, a 263; mit dem
Gebot Hewv ünodeloare unjvıw unterstützt Telemach seine Bitte
an die Ithakesier, ihn gegen die Freier zu schützen, 8 66, und
mit ähnlicher Warnung (iòs Ö’enonileo unvır) bestärkt Hermes
die Kalypso in ihrem ungern gefaßten Entschlusse, dem Gebote
des Zeus zu gehorchen, e 146. Durch die Mahnung di4’aiöeto,
pepıore, coúc sucht Odysseus den Kyklopen an seine Pflicht
gegen schutzflehende Fremdlinge zu erinnern, ı 269, wird aber
mit trotzigem Hohn abgewiesen (V. 273ff.), was an die Antwort
des Eurymachos an Halitherses ($ 199 ff.) erinnert. Die Freier,
so klagt Eumaios dem Odysseus, denken an keine künftige Strafe
(örıda, € 82, vgl. dazu v 214 où’ örıda toouéovoi deuv und p 28
oùðè Dewv Önıv jjö&oaro von Herakles, der den Iphitos tötete, als
er in seinem Hause zu Gast war), während doch selbst See-
räubern starke Furcht vor ihr ins Herz fällt, 88. In seiner
erdichteten Erzählung rühmt Odysseus an dem Ägypterkönig,
daß er ihn gerettet habe aus Scheu vor dem Groll des Zeus
Eeivios (E 283£.), auf den sich auch Eumaios für sein Verhalten
gegen den Bettler beruft (Aia Eeivıov Ödeioas & 389). Als gottes-
fürchtig (deovörs) werden der Vater der Penelope und der Seher
Theoklymenos gerühmt (r 109, 364).
Bei der durch Menschen gewirkten Furcht spielt die
Angst um das eigene Leben in der Odyssee, der Ver-
schiedenheit ihres Stoffes entsprechend, eine weit geringere Rolle
als in der kämpfereichen Ilias; die meisten Beispiele finden sich
in den Büchern ı, x und x. Odysseus rät den Gefährten, mit
füchtigem Fuße vor den Kikonen zu fliehen, : 43; vor dem
Kyklopen enteilen sie angstvoll in den Winkel der Höhle, ı 236;
190 Theodor Nissen,
bei seiner Anrede »bricht ihnen das Herz« aus Angst vor seiner
tiefen Stimme und seiner Riesenhaftigkeit, ı256f. Vor der
Laistrygonenkönigin, die so groß ist wie ein Berggipfel, er-
schauern die Gefährten (xara ö’&orvyov» adııv), x 113. Angstvoll
schreit Kirke vor dem gezückten Schwerte des Odysseus auf
und umklammert flehend seine Kniee, x 323 (294 ff). Die Danaer
zittern und weinen beim Besteigen des hölzernen Pferdes, A 526 ff.
Furcht vor Blutrache ist das Motiv der Flucht aus der Heimat
an den oben S. 187 angeführten Stellen; starke Furcht vor der
Rache der Ithakesier äußert auch Laertes, œ 353f. Schlotternde
Todesangst packt den Iros, als er zum Zweikampf mit Odysseus
geführt wird, o 77. Bleiche Furcht ergreift die Freier, als
Odysseus sich zu erkennen gibt, x 42, und seine drohenden
Worte bringen alle zum Erzittern, y 61—67. Als Telemach den
Antinoos getötet hat, springt er zurück und läßt den Speer in
der Leiche stecken aus Besorgnis, daß ihn einer der Freier
beim Bücken überfalle, x 95—98. Dem Odysseus selber beben
Knie und Herz, als er die Freier gewaffnet sieht, y 147. Medon
der Herold liegt geduckt unter einem Sessel, in eine Rindshaut
eingewickelt, x 362, und als er mit Phemios — von dessen
Todesangst die Verse y 330 ff. sprechen — von Odysseus in den
Hof gewiesen ist, setzen sich beide an den Altar des Zeus und
spähen nach allen Seiten, da sie immer noch den Tod erwarten,
x 380.
Auch von Tieren oder von Naturgewalten fühlen die
Menschen der Odyssee ihr Leben bedroht (s. J S. 96). So hat
Odysseus Angst, daß ein Dämon ein Ungeheuer aus dem Meere
gegen ihn hetze, e 421, und als er schiffbrüchig in Scheria ge-
landet ist, fürchtet er, wenn er im Gebüsch einschläft, die Beute
wilder Tiere zu werden, e 473. Die Gefährten des Odysseus
geraten in Angst, als sie die Wölfe und die Löwen der Kirke
erblicken, und Eurylochos rät deshalb sogar zur Flucht, æ 219,
268f. Unter den Naturgewalten spielen die Gefahren und
Schrecken des Meeres, von denen in der Ilias nur in dem Ver-
gleich O 624—628 die Rede ist, in der Odyssee eine Hauptrolle.
Als die Winde aus allen vier Himmelsrichtungen die Wogen
aufwühlen, erbeben dem Odysseus Knie und Herz, e 297 (vgl.
auch : 72), ebenso als er die Brandung an den Klippen von
Scheria tosen hört, e 406. (Dagegen wird von den Schiffen der
Phaiaken gerühmt, daß sie keinerlei Gefahren des Meeres fürchten,
ə 563). Unter den Schrecken, die den Odysseus und seine Ge-
Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 191
fährten auf ihren Seefahrten ängstigen, sind die Charybdis und
die Skylla, 5» où no not åxýoror ävöges Alv£av, y 328, die größten.
Wie sie jene tosen hören, entfallen den Händen der Geängsteten
die Ruder, „u 203, und bei der Vorbeifahrt ergreift sie bleiche
Furcht, u 243f. Die Skylla wagt Odysseus überhaupt nicht zu
erwähnen, damit die Gefährten nicht aus Angst aufhören zu
rudern, u 224, und das furchtbarste, was Odysseus auf seinen
Fahrten hat schauen müssen, war der Anblick der von der
Skylla gepackten Gefährten, die schreiend in schrecklicher Todes-
not die Hände nach ihm ausstreckten, u 256 - 260. — Schließ-
lich mag noch darauf hingewiesen werden, wie charakteristisch
für die Rolle, die die Todesfurcht in der Odyssee spielt, die
Häufigkeit von Wendungen ist wie dararov xal xjoas dAvEaı:
ß 352 — e 387 (dAv£as), o 547 — t 558 (dAv£eı), x 66 (dAv£n), ähn-
lich ô 512 (Expvye xnjoas ... nöündAvker), u 157 (N xev Alevduevoı
davarov xal xjpa püyoıuer, vgl. o 275£.), m 447 (Beöder oùx Eor
aitaodaı, Sc.dAvarov, cf.446 Favaror rooueeodaı), y 332 (xjoas hver)
oder von Stellen, in denen Ydvarov und xñoa(s) als Objekte zu
ꝓcoᷣyco und seinen Komposita erscheinen: ô 502 und o 235 (&xpvye
xnoa), X 325 (ddvarov ... ngopöyoıoda), n 21 (èx Yavdroıo pvyóvta),
ô 789 und o 300 (ddavarov pöyoı, vgl. ı 467), o 155 (púye xňoa).
Nächst der Angst um das eigene Leben ruft schon die Be-
sorgnis vor Verwundungen und Schlägen Furchtäußerungen
hervor (s. J S. 95). Der Bettler Odysseus erklärt, er fürchte
sich vor dem Übermut und der Gewalttätigkeit der Freier,
o564f., und die Besorgnis, die er o 52—57 vor den Schlägen
des Iros zu hegen vorgibt, veranlaßt den Telemach V. 62f. zu
der Mahnung, keinen der Achaier zu fürchten, da jeder, der ihn
schlüge, die Mehrheit gegen sich haben werde. Als später Eury-
machos einen Schemel ergreift, um ihn nach dem Bettler zu
werfen, setzt dieser sich zu den Knieen des Amphinomos, Eùoú-
ayov Öeicas o 396. Auch bloße Bedrohung durch Scheltworte
kann Ursache der Furcht sein. Eurylochos wagt nicht, bei den
Schiffen zurückzubleiben, sondern folgt dem Odysseus zur Kirke
aus Angst vor dessen entsetzlichem Schelten, x 447f. Vor der
rohen Drohung des Antinoos erzittert der geängstigte Iros noch
mehr, o 88. Die Drohworte, die Odysseus an die Melantho richtet,
scheuchen die Mägde von dannen, o 340. Als die Freier den
Enmaios schmähen, der den Bogen dem Odysseus bringen will,
setzt er ihn wieder hin aus Angst vor dem Schelten der Vielen,
p 366.
192 Theodor Nissen,
Von der Angst der Sklaven vor ihren Herren ist &£ 60 die
Rede; wenn dagegen x 306 Odysseus dem Telemach vorschlägt,
die Sklave zu prüfen, nov us võ. tlet xal deldıe Övu®, SO
handelt es sich um Ehrfurcht (Gegensatz où» dA&yeı und druud
V. 307). Das leitet uns zu der Beobachtung über, daß in der
Odyssee die ethisch motivierte Furcht und Scheu eine
viel größere Rolle spielt als in der Ilias. Besonders reich an
Beispielen dafür ist die Nausikaadichtung des sechsten Buches.
Die Königstochter scheut sich (aidero), dem Vater von ihrer
Hochzeit zu sprechen, £ 68; ihre Gespielinnen, die beim Anblick
des vor ihnen auftauchenden Odysseus entsetzt auseinanderge-
fahren sind (¢ 138), scheuen sich trotz dem gemessenen Befehl
ihrer Herrin näherzutreten und treiben sich gegenseitig an
(¢ 211, vgl. Geffcken a. a. O. S. 32). Odysseus seinerseits, im An-
staunen der Nausikaa befangen, erklärt ihr, er fürchte sich sehr
(deidıa Ö’alvioc), ihre Knie flehend zu berühren, ¢ 168f., vor den
Mädchen scheut er sich, sich zu waschen, vom Schmutze ent-
stellt wie er ist, ¢ 221. Später eröffnet er, der von Athene er-
mahnt werden mußte, ohne Furcht in den Königspalast ein-
zutreten (n 50f.), dem Alkinoos, er habe der Nausikaa nicht
folgen wollen aus angstvoller Scheu (deivas aloyvvóuevós te),
daß der König darüber zürnen könne, n 305 (feine Bemerkungen
über den aus diesen und ähnlichen Beispielen sprechenden, die
Odyssee vor der Ilias auszeichnenden Herzenstakt bei Geficken
a. a. O. S. 29). Nausikaa wiederum hatte erklärt, sie scheue die
üble Nachrede der Phaiaken, wenn Odysseus ihr in die Stadt
folge, ¢ 273 ff. —, wie anders die Scheu vor übler Nachrede,
die dem Eurymachos zufolge die Freier zu befahren hätten,
wenn sie weniger leicht den Bogen spannen könnten als der
fremde Bettler (p 323 ff)! Beim Gesang des Demodokos verhüllt
sich Odysseus aus Scheu, den Phaiaken seine Tränen sichtbar
werden zu lassen, 9 86. Laertes hat die Eurykleia, die er wie
eine Gattin achtete, nie berührt aus Scheu vor dem Groll seines
Weibes, a 483. Auf die Scheu der Ithakesier vor den Umwohnen-
den beruft sich Telemach bei seiner Bitte, ihn zu schützen, £ 65 ff.
Bitterer Hohn dagegen ist es, wenn er dem Antinoos zuruft, er
solle sich nur ja nicht vor Penelope oder einem der Diener scheuen
(dZev), dem Bettler etwas zu geben (po 40O1f., vgl. auch £ 52, oben
S. 182). Die wahre Gesinnung der Freier offenbart Eurymachos
gegenüber dem Halitherses, wenn er sagt, die Freier fürchteten
durchaus niemanden, auch nicht den wortreichen Telemachos,
Dıe Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 193
und kümmerten sich um keine Weissagung, p 199 ff. (vgl. ı 273 f£.,
oben S. 189). Der Respekt des Eumaios vor seinem Herrn ist so
groß, daß er ihn auch in seiner Abwesenheit mit bloßem Namen
zu nennen sich scheut, £ 145f.; Telemach anderseits erklärt,
er scheue sich, seine Mutter gegen ihren Willen durch ein Macht-
wort wegzuweisen, v 343.
Auffallend häufig ist in der Odyssee, im Gegensatz zur Ilias,
de unbestimmt oder allgemein ausgesprochene
Ahnung von UnheiloderAngstvor Verderbenüber-
haupt. So bricht dem Menelaos das Herz, als ihm Proteus ver-
kündet, er müsse, ehe er die Heimat wiedersehen dürfe, nach
Ägypten fahren, ô 481, ebenso dem Odysseus, als ihm Kalypso
die Hadesfahrt verkündet (x 496—499 = ô 538—541, wo indes,
wie gesagt, nicht Furcht, sondern Kummer die Ursache des
Affektausbruches ist), und den Gefährten, als ihnen Odysseus
diese Ankündigung mitteilt, x 566, und als sie erfahren, daß sie
die Insel des Helios meiden sollen, u 277. Kalypso erschaudert
vor dem Gedanken an die Zukunft, wo Odysseus nicht mehr bei
ihr sein wird, e.116. Wie die unzähligen Scharen der Toten ihn
umgeben, ergreift den Odysseus bleiche Furcht, Persephone
könnte ihm das Gorgonenhaupt aus dem Hades emporsenden,
1633 ff. Charakteristisch für diese Stimmung eines unbestimmten
Grauens vor dem Kommenden ist die mehrfach wiederkehrende
Wendung deloarres diedoov, so «72 (die Gefährten bergen im
Sturm die Segel), x 130 (sie rudern von den Laistrygonen fort),
u 244 (sie beobachten die Charybdis), oder die Verbindung des
Verbums ödooouaı (npotiöooouaı) mit den Objekten xaxöv oder
ölzdoov, so € 389: nachdem Odysseus zwei Nächte und zwei Tage
auf den Wogen umhergeirrt, zolid ön ol xgadin nootdooer Öle-
doov, oder x 374, wo Odysseus, von Kirke eingeladen, zu essen
sich weigert, xaxa Öd’öccero Yvuös, oder besonders eindrucksvoll
o 154, wo Odysseus nach seiner Warnung an Amphinomos diesem
den Becher, nachdem er gespendet, zurückgibt, worauf Amphinomos
durch den Saal zurückgeht, bekümmerten Herzens und das Haupt
wiegend, 67 yao xaxd» Öcoero Bvuös; auch oloua, erscheint in
dieser Bedeutung, z. B. £ 298 tæ Endunv gnl vnös, čıóuevós neo,
åváyxņn und v 349 yóov Ö’@uLero Bvuös. Hingewiesen sei auch auf
die Fülle der Stellen, an denen xaxdv, öAsdoov u. dgl. als Objekt
zu divoxw, dlkouaı, peúyw und Kompp. erscheint (a 11, 18, y 175
= ųı 489 — x 129, y 297, £ 289, 414, ı 17, 286, 455, u 216, 287,
312, 0 47, v 368, x 67, y 238, 287). Gerade in den letzten
Archiv für Psychologie. LII. 13
O pe man 0a A u ab
g pus a as aaa awa.
= l N Enn g
194 Th. Nissen, Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee.
Büchern finden sich solche Stellen, an denen die bange Ahnung
bevorstehenden Unheils in größerer oder geringerer Ausführlich-
keit geschildert wird: so die bangen Erwägungen Telemachs in
schlafloser Nacht in Lakedaimon, die der Dichter der dem Jüng-
ling erscheinenden Athene in den Mund legt, o 10—42; so Tele-
machs entsetztes Staunen (&yn) über die Vermessenheit des von
Odysseus geplanten Freierkampfes, z 243ff. (vgl. y 227), so vor
allem der Wahnsinnsanfall der Freier und die furchtbare Weis-
sagung des Theoklymenos, v 345—357; weiter die angstvolle
‚Erwartung der Freier, Odysseus möchte den Bogen spannen,
py 286, und die Angst der Mägde, die während des Mordwerks
eingeschlossen im Winkel des Gemaches saßen, wo sie nur das
Stöhnen der Sterbenden vernahmen, y 40ff.
An Beispielen der Furcht für andere endlich ist die
Odyssee nicht ärmer als die Ilias (s. J S. 91), und bei der Pene-
lope wenigstens nimmt die Äußerung gerade dieser Furcht auch
besonders starke Formen an: als sie durch Medon von dem
Mordplan der Freier hört, erbeben ihr die Kniee und das Herz;
lange ist sie sprachlos, und ihre Augen füllen sich mit Tränen,
ô 703—705. Vor der Traumerscheinung der Schwester wieder-
holt sie ihre Besorgnis, ô 820—823; s. oben S. 183 Anm. 1. Auf
diese Angst der Mutter um sein Leben nimmt Telemach Rück-
sicht, indem er ihr gleich nach seiner Landung Botschaft sendet,
z 328—332. Kirke äußert Besorgnis um Odysseus und die Seinen,
wenn sie an der Skylla vorübermüssen, u 122f. Angst des
Odysseus um Telemach spricht aus seiner vorwurfsvollen Frage
an Athene, weshalb sie seine Reise nach Sparta nicht verhindert
habe, » 417 ff., wie Telemach seinerseits ja diese Reise aus Be-
sorgnis um den Vater unternommen hat und z 85ff. seine Be-
fürchtung um das Schicksal des noch nicht wiedererkannten
Bettlers, das diesem in seinem Hause widerfahren könnte, offen
ausspricht. Erheuchelt ist die Befürchtung für das Wohlergehen
der Freier, die Telemach zur Begründung der Waffenbergung
äußert: damit sie nicht vom Weine erhitzt, im Streite einander
verwundeten, t 11—13; aufrichtig aber ist das Bangen des
Theoklymenos um das Leben der Freier, wie sie sich in seiner
bereits erwähnten Weissagung v 351—357 kundgibt und V. 367 fi.
als Erwiderung auf das Gelächter der Freier und den Hohn
des Eurymachos ausdrücklich und nachdrücklich ausgesprochen
wird.
(Eingegangen am 4. März 1925.)
(Aus dem psychophysischen Seminar der Universität Leipzig.)
Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Unter-
scheidbarkeit sukzessiver Belastungen der nämlichen
Hautstelle.
Auf Grund eines von E. Kraepelin 1885—1888 gewonnenen
Versuchsmateriales
geprüft von
Friedrieh Noßke.
(Mit 12 Figuren im Text.)
Inhaltsübersicht.
RN Seite
Vorbemerkung ....... a e 197
I. Der bisherige Stand des Problems . . ». 2.22 e 2.200000 197
1. Die spezielle Versuchsbedingung des Vergleiches zweier Reizungen
der nämlichen Hautstelle . . . 2 2 0 2 2 . 197
2. Der Versuch, nur ein bestimmtes Endorgan des Drucksinnes
unter den natürlichen Bedingungen zu reizen, und die tatsäch-
liche räumliche Ausbreitung des Reizes . ». 2... 00... 201
3. Zeitliche Änderungen des Reizes und die Nachreizung beim (plötz-
lichen) Aufhören des Druckes sowie der Versuch ihrer Beseitigung
durch >Ausschleichen« des Reizes . . . » 22020000. 205
4. Die Bedeutung der anatomisch bedingten Komplikation der Reiz-
wirkung für die Untersuchung der Gültigkeit des Weberschen
Gesetzes bei Unterschiedsschwellen . . . - 2» 2220.20. 207
5. Die Einfügung der Kraepelinschen Versuche in diese Problem-
BLELUDREN: s 0.4: 216
IL Die Maßmethodik im allgemeinen. 219
1. Die Anlage der Versuchsreihen nach der Methode der Minimal-
Enderungen:. s w 23 45 Si eier 219
a) Der statistische Wert des Materialb.. soe 219
b) Der vollständige Auf- und Abstieg in relativ gleichen Stufen 221
c) Die systematische Variation von Einflüssen der Raum- und
Zeitlage 5... 3 a
196
Friedrich Noßke,
2. Hauptgesichtspunkte unserer rechnerischen Verarbeitung des
Materials a 2. San eh
a) Die Ersetzung der üblichen Verrechnung einzelner Elementar-
reihen der Minimaländerungsmethode durch das allgemeine
Verfahren der Konstanzmethode.
b) Zur Frage der rechnerischen Elimination der Einflüsse der
Raum- und Zeitlage. . » . 2 2 2 0 0 Er een.
c) Die vorläufige Beibehaltung der gegebenen Gruppierung des
Berechnungsmateriala . - . . s. 2 2 2 2 2 0.
d) Der Aufbau der Kollektivgegenstände (Hauptgruppen) der
von uns berechneten Repräsentanten . . . » 2. i
e) Konkrete Beispiele zweier Hauptgruppen . . .* . 2...
III. Graphische Darstellung (mit einer vorläufigen Prüfung des Weber-
schen Gesetzes) . . . 220 0 0 0 nn 0 er een.
IV. Die Resultate der Berechnung. . . » : 2» 2 22 ren.
1. Die verschiedenen Berechnungsweisen von Repräsentanten der
Urteilskurven nach der Konstanzmethode der 3 Hauptfälle
2. Die Behandlung der Vollreihen nach dem Prinzip des arith-
metischen Mittels . . 2 200 s s e s os eooo sooo 2
a) Die Müllersche Schwelle 2S, die mittleren Fehler M,, M,
und M und der Äquivalenzwert . . . s. 2 22200.
b) Die mittlere Variation und die Prüfung des Gaußschen Ge-
setzes für die Urteilshänfigkeiten g' und k’ . .......
. Anwendungen des Müller-Urbanschen Gewichtsverfahrens . . .
a) Allgemeine Gesichtspunkte. . . . 2 2 220 2.0.
b) Der Einfluß der Abrundung bei auftretender 5 als dritte
Dezimalstelle . . . 2: 2 2 0 0 0 0 Er 0 er een
c) Verstellung der Urbauschen Skala bei ansymmetrischem Aui-
bau der Reihe 4. 5-0: au et: En er ale 3
d) Kontrolle der Rechnung durch die Richsche »Checking-Tabelle«
e) Durchführung der Rechnung nach dem Urbanschen Verfahren
f) Vergleich der Werte des Gesamtstreunngsmaßes M nach den
Wirthschen Formeln mit denen nach dem Müller-Urbanschen
Gewichtsverfahren. . . . s.. s soe 0 vi wen
g) Das Verhältnis von M, zu M, und von M zu M, und M,
. Die Berechnung nach dem Prinzip des Zentralwertes. . . ..
a) Die Müllersche Schwelle nach dem Zentralwertsprinzip und
der dazugehörige Äquivalenzwert.. . . . 2 2 2220000
b) Der empirische wahrscheinliche Fehler des Äquivalenzwertes
V. Die Abschätzung der Einflüsse der Zeit- und Raumlage des pog
und Vergleichsreizes und der Übung . . . . . 2 2.2.2.2. °
VI. Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Unteredhiedi-
schwelle, das Streuungsmaß und den Schätzungsfehler . . .... i
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 197
Vorbemerkung.
Herr Geheimrat Prof. Dr. Emil Kraepelin in München
hat im April 1921 dem psychophysischen Seminar der Leipziger
Universität ein sehr reiches und wertvolles Beobachtungsmaterial
über die Unterschiedsschwelle für Druckreize anvertraut, das er
schon vor nunmehr 36 Jahren abgeleitet, aber bisher noch nicht
verwertet hatte. Herr Professor Wirth hat mir die Bearbeitung
dieses Materials übertragen und von Herrn Geheimrat Kraepeliä
die freundliche Erlaubnis erwirkt, daß ich das Ergebnis dieser
Untersuchung selbst veröffentlichen darf, wofür ich auch an
dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Da die große
Menge der Einzelversuche in allen Untergruppen die Anwendung
einer ganzen Anzahl statistischer Gesichtspunkte gestattete,
meine berufliche Tätigkeit mir aber für diese wissenschaftliche
Arbeit immer nur eine beschränkte Zeit frei ließ, so bin ich
allerdings erst jetzt nach mehr als drei Jahren zu einem ge-
wissen Abschluß gekommen und kann im folgenden einstweilen
wenigstens die psychologisch wichtigsten Ergebnisse vorlegen,
die sich auf die Unterschiedsempfindlichkeit und den Schätzungs-
fehler und speziell auf die Frage ihrer Übereinstimmung mit
dem Weberschen Gesetze beziehen.*)
I. Der bisherige Stand des Problems.
1. Die spezielle Versuchsbedingung des Vergleiches zweier
Reizungen- der nämlichen Hautstelle.
Wenn ein Beobachtungsmaterial so lange Zeit unbenützt
blieb, so legt man sich bei der späteren Absicht zu seiner Ver-
öffentlichung -vor allem die Frage vor, ob es nicht vielleicht in-
zwischen durch neuere Arbeiten nach besseren Methoden über-
holt worden sei. Für Kraepelins Untersuchung kann diese
Frage mit gutem Gewissen verneint werden. Sie bildet eine
*) Anm. des Herausgebers: Wie aus den Einlaufsdaten am Schlusse
zu sehen ist, lag mir diese Bearbeitung des Kraepelinschen Materiales
schon druckfertig vor, als die von mir baldmöglichst im vorigen Bande
8.137 veröffentlichte neue Untersuchung von Herrn H. Schriever und die
ebenda S.399 erschienene Abhandlung von Herrn R. Pauli und A. Wenzl
über das Webersche Gesetz bei mir einging. Die Arbeit aus meinem Seminar
ist also von jenen Beiträgen des Münchener Instituts völlig unabhängig. Sie
bedarf aber auch nach jenen neuen Versuchen Schrievers keiner Revision,
da sie sich in dem Streit zwischen Hansen und Gatti-Kiesow von
Anfang an auf die Seite der letzteren stellte, deren Nachweis des Weberschen
Gesetzes von Schriever und Pauli bestätigt wurde. W. Wirth.
198 Friedrich Noßke,
wertvolle Ergänzung unserer Kenntnis von der Gültigkeit des
Weberschen Gesetzes für die Unterschiedsschwelle des Druck-
sinnes, deren Diskussion nach längerer Pause gerade jetzt durch
neue, teilweise einander widersprechende Beobachtungen der
Schulen M. v. Freys und F. Kiesows (s. u.) wieder einmal
aktuell geworden ist. Denn Kraepelin hat sehr umfangreiche
und sorgfältig gruppierte Versuche mit denjenigen Versuchs-
bedingungen angestellt, unter denen schon E. H.W eber
bei seiner erstmaligen kurzen Überprüfung des
Problems die besten Resultate erhalten hatte,
d. h. Vergleichungen zweier sukzessiver Belastungen der näm-
lichen, vorher und in einer Reizpause zwischen ihnen völlig un-
belasteten Hautstelle. Erst jene neuesten Untersuchungen sind
wenigstens im wesentlichen ebenfalls wieder zu diesen Versuchs-
bedingungen zurückgekehrt, nachdem man sie in der Zwischen-
zeit aus rein technischen Gründen verlassen hatte. Freilich hat
Kraepelin die Gewichte noch mittelst einer unten noch näher
erläuterten Tragvorrichtung freihändig auf die Haut auf-
gesetzt*), die er inzwischen schon in seiner eigenen Veröffentlichung
der ebenfalls hiermit ausgeführten Messungen der Reizschwelle
des Drucksinnes!) beschrieben und abgebildet hat. Dagegen
wurden in den späteren Untersuchungen von Stratton und
Kobylecky (s. unten), auf welche sich die Angaben der Lehr-
bücher über die Unterschiedsschwelle des Drucksinns heute vor
allem beziehen, eine von Stratton eingeführte und von Wundt
modifizierte »Druckwage« benützt, bei welcher ein vorher un-
mittelbar über der Reizstelle ausbalanziertes Gewicht plötzlich
sich selbst überlassen wird und nunmehr eine unter ihm an-
gebrachte Holz- oder Beinpelotte ohne Anfangsgeschwindigkeit
in die Haut eindrücken kann. — Indessen ist es bei dem einzigen
Reizhebel dieser Modelle nicht möglich, der ersten Reizung nach
einer völlig reizfreien Pause von wenigen Sekunden einen anderen
Vergleichsdruck auf die nämliche Hautstelle nachzuschicken,
sondern es wäre hierzu erst eine Auswechselung der Hebel-
*) Anm. des Herausgebers: Bei der Führung durch die Kraepelins
Leitung unterstehende »Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie« in
München auf dem letzten Psychologenkongreß sahen wir seinen neuen
Apparat zur exakten elektromagnetischen Aufsetzung solcher Gewichts-
träger auf eine sehr genau variierbare Hautstelle.
1) Emil Kraepelin, Zur Kenntnis des Drucksinnes der Haut. Psycho-
logische Arbeiten 1922 Bd.7 Heft3 8.413.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 199
belastungen einzuschieben. Aus diesem rein technischen Grunde
haben sich aber eben Stratton und. später ebenso Kobylecky
bei ihren Druckwageversuchen von jenen einfachsten Weberschen
Bedingungen weg auf die Ableitung sogenannter Veränderungs-
schwellen abdrängen lassen, da mit dem einzigen Reizhebel
und je einem der beiden Balanzierungshebel Zunahme bezw. Ab-
nahme des konstanten Anfangsdruckes in der Tat sehr bequem
erreichbar sind. Man braucht aber nur an den zeitlichen Ab-.
lauf der Erregung beim äußeren Tastsinn zu denken, die, zumal
bei enger begrenzten Reizflächen, nach dem Maximum der Reiz-
wirkung in einer von der Intensität abhängigen Kurve rasch ab-
sinkt), und man wird die relative Schwelle für die Veränderung
eines bis dahin stets mehrere Sekunden konstant einwirkenden
Druckes nicht ohne weiteres auf die von Kraepelin fest-
gehaltene Grundbedingung der Messung eigentlicher Unter-
schiedsschwellen übertragen wollen, bei welcher die beiden.
miteinander zu vergleichenden Empfindungen in ähnlicher Weise
von dem Niveau der Reizlosigkeit oder von »Null« emporsteigen,
soweit rasch aufeinanderfolgende Erregungen der nämlichen
Reizstelle überhaupt in ihrem Ablauf übereinstimmen.
will man zwei zeitlich getrennte Druckreize nach dem
Prinzip der Druckwage darbieten, ohne die Pause durch hin-
reichend sorgfältige Neueinstellungen des Apparates unregel-
mäßig oder zu lang zu machen, so bleibt nur die Verwendung
zweier Reizhebel übrig. Tatsächlich sind denn auch mit
zwei Wagebalken, an denen die zunächst ausbalanzierten und
dann einseitig ziehenden Gewichte elektromagnetisch festgehalten
und dann nacheinander losgelassen wurden, von E. Weis am
Wundtschen Institute 1912 eigentliche Unterschiedsschwellen
nach der Methode der drei Hauptfälle abgeleitet und der mittlere
Streuungsbereich (der mittlere Fehler der Urteilsschwankung)
hierbei für ca. 80g etwa o der Reizstufe gleichbefunden
worden. Aber diese Versuche sind fürs erste selbst noch nicht
.
1) Über den Einfluß der Intensität und der Reizfläche auf den Abfall
der Erregung vergleiche auch M. v. Frey und Agnes Goldmann,
Der zeitliche Verlauf der Einstellung bei den Druckempfindungen (Zeitschr.
f. Biol. 1915 Bd.65 8.5). Der Nachteil schwacher Reizstufen gegenüber
den stärkeren dürfte dadurch noch vermehrt werden, daß die Pelotte bei
den ersteren weniger tief einsinkt.
200 Friedrich Noßke,
publiziert 3). Vor allem aber wich hier die Reizgebung eben-
falls aus rein technischen Gründen wiederum in andrer Richtung
nicht unwesentlich von den Kraepelinschen Vergleichs-
bedingungen ab. Denn zwei mit festen Gewichten präparierte
Reizhebel können nicht auf die nämliche, sondern höchstens auf
nah benachbarte Hautstellen eingestellt werden, z. B. wie hier,
der eine auf die erste Phalange des Mittelfingers, der andere
auf die des Zeigefingers. Erst kürzlich hat aber Karl Hansen
bei Vorversuchen mit der Vergleichung sukzessiver Reizung
zweier verschiedener Hautstellen durch je einen v. Freyschen
elektromagnetischen Reizhebel wieder gefunden), daß hierbei
die Vergleichung »häufig durch den verschiedenartigen Empfin-
dungscharakter« der gewählten Hautstellen erschwert ist, wie
auch schon v. Frey früher hervorhob 3).
Auch die Bestimmungen der Unterschiedsschwellen für zwei
durch eine Pause getrennte, je von Null aufsteigende Druck-
reize, die G. F. Arps bei seiner Arbeit über den Anstieg der
Druckempfindung *) nebenbei für die konstanten Gewichte 134 g
und 58 g ableitete, deren Dauer zwischen 0,013 Sek. und
1,385 Sek. variierte, beziehen sich auf die Vergleichung dieses
zeitlich variierten Druckes auf die erste Phalange des Fingers
mit dem zeitlich konstanten Vergleichsdruck auf die entsprechende
Stelle des Nachbarfingers, wobei die Raum- und Zeitlage des
Vergleichsreizes systematisch abwechselte°). Die relative Unter-
schiedsschwelle blieb bei Arps übrigens nicht nur im Mittel
für die u Gruppen mit verschiedenen Hauptgewichten
konstant ca. 2 sondern dieser Wert gilt in jeder Gruppe auch
1) Die nämlichen Apparate sind inzwischen in der bereits veröffentlichten
Untersuchung von W. Schulte über die >gegenseitige Beeinflussung von
Druckempfindungen< (Wundt, Psychol. Studien 1917 Bd. 10 S.339 [347£.])
verwendet und dort sowie in dem Apparatenkatalog der zum E. Zimmer-
mann kurz beschrieben worden.
2) K. Hansen, Die Unterschiedsschwelle des Drucksinns bei möglichst
verhinderter Reizausbreitung, Zeitschr. f. Biologie 1921 Bd.73 S. 167 (171).
8) v. Frey, Ergebnisse der Physiologie 1913 Bd. 13 S. 104 (121).
4) Wundt, Psychologische Studien 1909 Bd.4 S.431 (464).
5) Nur der Hebel für den Vergleichsreiz gehörte hier zu der Wundt-
schen Druckwage, welche zur zeitlichen Abgrenzung des Druckes mit einer
pneumatischen Vorrichtung verbunden war; der konstante Druck von ver-
schiedener Dauer erfolgte mittels des Wirthschen »Ventilreizhebels«, bei
welchem der elektromagnetisch ausgelöste Druck von einer Feder herstammt
(vgl. auch Schulte a. a. O. S. 342f.).
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 201
für alle die sehr verschiedenen Vergleichsgewichte der einzelnen
Reizzeiten jenes ganzen Variationsbereiches, also zwischen 25 g
und 182 g, wobei außerdem auch noch die Dauer des zeitlich
konstanten Reizes in der einen Hauptgruppe doppelt so lang
war wie in der andern (1 Sek. und ?/, Sek.).
2. Der Versuch, nur ein bestimmtes Endorgan des Druck-
sinnes unter den natürlichen Bedingungen zu reizen, und
die tatsächliche räumliche Ausbreitung des Reizes.
Erst bei den neuesten Versuchen der Schulen v. Freys in
Würzburg und Kiesows in Turin wurden, wie gesagt, wieder
selbständig aufeinanderfolgende Empfindungen verglichen, die
beide von der nämlichen Hautstelle herstammten. Dabei kam
freilich zugleich der Fortschritt in der histologischen Kenntnis
der Endapparate des Tastsinns seit den Zeiten E. H. Webers
darin, zur Geltung, daß man beim zweiten Reiz nicht nur un-
gefähr die nämliche mittlere Lage zu treffen suchte wie beim
ersten, auch nicht nur einfach genau den nämlichen anatomischen
Bereich überhaupt. Es sollten vielmehr beidemal die nämlichen
Endorgane des Drucksinnes maximal gereizt werden.
In dem haarfreien Bezirk kommen als solche Organe
bekanntlich die Meißnerschen Tastkörperchen in den
Papillen der Cutie in Betracht, für welche ein Druck auf
die Epidermis natürlich dann am meisten zur Geltung kommt,
wenn er unmittelbar über ihnen ausgeübt wird.
Wenn die drückende Fläche starr und im Verhältnis zum
Abstand zwischen jenen Endorganen relativ groß ist, so wird
freilich jene maximale Wirkung beider Vergleichsreize auf die
nämlichen Endorgane im wesentlichen schon dadurch garantiert
sein, daß eine beliebige anatomische Lage überhaupt möglichst
genau festgehalten wird, weil dann stets für den größten Teil
der beteiligten Endorgane, abgesehen vom Grenzbezirk, die näm-
lichen mechanischen Reizbedingungen erhalten bleiben. Dies
gilt also z.B. für die Versuchsbedingungen bei Stratton mit
Druck auf eine ca. 5 qcm große Fläche der Fingerbeere, an der
von einem so großen Objekt ca. 300 Tastkörperchen zugleich
getroffen werden. Nur wenn die Objektfläche im Verhältnis zur
Dichte der Tastpunkte sehr klein ist, ist man zur Erreichung
des Maximums der Reizwirkung auf einen sogenannten »Druck-
= æ maon op a ~g —
2 EYE q aa sen a 0...
he A a
~. qu Da
FE
202 Friedrich Noßke,
punkt« festgelegt, welcher eben deshalb als Minimum der Reiz-
schwelle für einen räumlich möglichst eng begrenzten Tastreiz
(ein v. Freysches Reizhaar) definiert werden kann, wobei die
absolute Empfindlichkeit der einzelnen Druckpunkte innerhalb
ziemlicher Grenzen schwankt (nach v. Frey!) wie 1:8).
Vom Druck überhaupt getroffen wird aber auch bei kleinster
Objektfläche eine ganze Anzahl nächstbenachbarter Endorgane,
auch wenn die Endorgane sehr weit auseinanderstehen, weil
sich ein Teil des Drucks durch die Haut unter deren gleich-
zeitiger Deformation auf die Umgebung fortpflanzt.
Auf das Studium dieser Ausbreitung des Druckes in die Um-
gebung haben v. Frey und seine Schüler bis auf den heutigen
Tag besonders viel Sorgfalt verwendet, so daß keine Unter-
suchung über die Druckempfindung an der Diskussion dieses
Faktors vorbeigehen darf. Hierbei kommen Druck- und
Zugkomponenten für die Hautorgane in der nämlichen
Weise in Betracht, wie v. Frey und seine Schüler wiederholt
festgestellt?) und neuerdings unter besonderen experimentellen
Bedingungen bestätigt haben, indem »nur die Größe, nicht die
Richtung der in ihr gesetzten Spannungsunterschiede für die Er-
regung maßgebend ist«. Da sich aber die gleichzeitigen Er-
regungen nahe benachbarter Endorgane in dem Intensitätsefiekt
der resultierenden Druckempfindung summieren, so wird ein
Druckreiz im allgemeinen eine größere Empfin-
dungsstärke erzielen, als es beim Fehlen von End-
organen in der deformierten Umgebung der Fall
wäre. Zur Analyse dieser Verhältnisse hat man im Würz-
burger physiologischen Institut namentlich auch den patho-
logischen Ausfall?) benachbarter Endorgane beigezogen, ferner
eine experimentelle Exstirpation mit der Glühnadel*) sowie die
vorübergehende Anästhetisierung durch Vereisung’) und in
neuester Zeit durch »Vertaubung« eines gewissen Ringbereiches
der umgebenden Haut für einige Stunden mittelst eines daselbst
1) Leipziger Abhandlungen 1896 S.235 (zit. nach Nagel, Physiologie
des Menschen Bd. 3 S. 660).
2) v. Frey, Bericht der Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften 1897,
Bd.49 8.462, Zeitschrift für Biologie 1913 Bd.63 S.353 und ein am
20. November 1924 gehaltener Vortrag über die neuesten Ergebnisse.
3) Vgl. Hansen a. a. O.
4) Ebenda.
56) Hacker, Zeitschr. f. Biologie Bd. 61 S. 253.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 203
von H. Rein!) ausgebildeten elektrosmotischen Verfahrens. Die
Größe des Gebietes, von dessen Mitte aus trotz seiner eigenen
völligen Anästhesie noch Druckempfindungen in der Nachbar-
schaft ausgelöst werden können, zeigt die Weite der Reiz-
ausbreitung. Die Erhöhung der Reizschwelle über die normale
hinaus aber läßt ungefähr abschätzen, einen wie großen Bruch-
teil die empfindlich gebliebene Randzone im Normalfalle zu der
Totalwirkung beizutragen vermag.
v. Frey berichtet in seinem Vortrage über die wichtige
Frage: »Gibt es tiefe Druckempfindung ?« vom 20. November
1924 in der Sitzung der physikalisch-medizinischen Gesell-
schaft in Würzburg (dessen Fahnen er Herrn Prof. Wirth
freundlichst überließ), daß eine derartige Vertaubung von 20 qem
der Haut auf der Streckseite des Oberschenkels z. B. die
Schwellen auf das hundertfache, eine solche von 60 bis 70 qem
aufs tausendfache des Normalen emporsteigen ließ, wobei sich
schließlich Empfindungen in weit entfernten Hautgebieten für
die Ebenmerklichkeit eines auf die Mitte des vertaubten Ge-
bietes ausgeübten Druckes als entscheidend erwiesen.
Freilich hat sich dadurch die Ausbreitung der Reizung auf
benachbarte Endorgane in der Richtung des Druckes
selbst senkrecht zur Haut, also in die Tiefe, als weniger
bedeutsam erwiesen, als man früher namentlich im Anschluß an
die Beobachtungen und Versuche Heads angenommen hatte,
welcher die bei pathologischem oder künstlichem Ausschluß der
Hautempfindlichkeit verbliebenen Restwirkungen der »tieferen
Sensibilität« zuschried. Wenigstens scheint es, daß die Reiz-
schwellen für solche Empfindungen, die durch Druck auf un-
empfindlich gewordene Haut bei normaler Erregbarkeit des
unter ihr liegenden Gewebes ausgelöst werden, aus den gleich-
zeitigen Haut empfindungen entfernter, funktionsfähig gebliebener
Teile abgeleitet werden können. v. Frey nimmt aber an, daß
auch bei einem stärkeren, normal weit übermerklichen Druck
auf die Haut keine eigentlichen »tiefen Druckempfindungen«
aus dem Muskelgewebe entstehen, sondern daß die Nerven-
endigungen der Muskeln nur bei der Muskelspannung eine
spezifische Empfindung, eben die Kraftempfindung, entstehen
lassen, bei der aber nicht wie bei der Haut Druck und Zug
zu verwechseln sind. Auch der Zeitverlauf ist ein andrer und
1) H. Rein, Zeitschr. f. Biologie 1924 Bd.81 8.125, 141.
204 Friedrich Noßke,
vor allem die Unterschiedsschwelle viel feiner. Freilich drückt
sich v. Frey in jenem Vortrage hinsichtlich der völligen Ab-
leugnung der tieferen Sensibilität doch vorsichtig aus, weil alle
Beobachtungen über sie sozusagen durch »den Schleier der
Druckempfindung der Haut gesehen werden müßten«.
Die Annahme, daß solche über weite Hautgebiete sich er-
streckende Ausstrahlungen auf Grund der Erfahrung auf einen
ganz anderen Ort, also eventuell auch auf tiefer liegende Ge-
webe, bezogen werden können, enthält nach sonstigen psycho-
logischen Analogien nicht die mindeste Schwierigkeit. Immerhin
bleibt es nicht ausgeschlossen, daß bei hinreichend starken
Reizen die von tieferen Geweben aus zweifellos erregbaren
Empfindungen hinzutreten, also außer reflektorisch erzeugten
Spannungsempfindungen und dumpfen gemeingefühlsartigen Kom-
ponenten namentlich Schmerzempfindungen. Auch diese werden
ja in der nämlichen Weise wie jene >sekundären« Haut-
empfindungen aus entfernteren Hautregionen in der resultierenden
Vorstellung auf bestimmte objektive Druckwerte bezogen
werden können. Beteiligen sich doch auch schon an der in der
Haut ausgelösten Erregung mit zunehmender Größe der »spezi-
fischen« (d. h. auf die Flächeneinheit 1 gem in Atmosphären be-
rechneten) Belastungen von einer gewissen Schmerzschwelle an
immer deutlicher Schmerzempfindungen. Hierbei spielt aller-
dings außer der Lage des Reizes zu dem spezifischen Schmerz-
punkte namentlich auch die Form der Reize eine große Rolle,
da eine scharfe Spitze eines harten Gegenstandes schon bei viel
geringerer spezifischer Belastung von einem beliebigen Punkte
aus zu tieferen Schmerznervenfasern vorzudringen vermag als
ein breites und außen abgerundetes Objekt, das durch den Wider-
stand der Haut von einer solchen Schmerzreizung abgehalten
werden kann). Jedenfalls dürfen wir auch bei völlig passiver
Druckwahrnehmung die Gesamtmasse der Empfindungen und
assoziativ erzeugten Vorstellungen, welche einen bestimmten
objektiven Druck vergegenwärtigen lassen, nicht einfach mit
den aus der Haut stammenden Druckempfindungen identifizieren,
die ohnedies nicht die feinsten Kriterien darstellen, nach denen
wir uns über die Kräfte der Außenwelt orientieren.
1) Nach Kiesow sind diese Ausstrahlungen auf andere Arten von
Organen an Ort und Stelle zumal bei geringeren Intensitäten von der Druck-
empfindung kaum zu unterscheiden. Vgl. Archiv f. d. gesamte Psychologie
1924 Bd. 47 S. 11.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 205
Sobald aber der Druck auf ein durch eine Unterlage ge-
stütztes Glied dessen Trägheitsmoment im ganzen zu überwinden
vermag, beginnen von den Auflagerungspunkten ?) aus neue Neben-
empfindungen auszustrahlen. Bei gleichzeitiger Stützung z.B.
durch Eingipsung setzen sie mit einer besonderen Breite ein,
und bei Verwendung eines elastischen Polsters, das z. B. bei
Kobyleckys Druck auf die Dorsalseite des ersten Finger-
gliedes unter diesem lag, erweitern sich diese seitlichen Kom-
ponenten mit dem tieferen Einsinken des Gliedes bei der Druck-
zunahme. Dazu können aber dann auch bereits ähnliche Ge-
lenkempfindungen angedeutet sein, wie sie in voller Stärke bei
der freihändigen Haltung des Fingers in dieser Lage als Kom-
ponente einer eigentlichen Hebungsschätzung des Gewichtes
hervortreten. Ja, es können sogar schwache Kraftempfindungen
aus den Muskeln hinzukommen, weil auch bei passiver Schätzung
des Druckes durch die Forderung einer möglichst konstanten
Lage gewisse Haltungsspannungen beteiligt sind, welche bei
Überwindung des Trägheitsmomentes des Gliedes ganz von selbst
eine ähnliche Modifikation erleiden wie bei einer minimalen
Hebung, zumal der allgemeine Tonus der Muskulatur durch
Druckreize namentlich von den Gelenken aus reflektorisch be-
einflußt werden kann. Bei einem Druck auf den Finger, ins-
besondere auf die äußerste. Phalange, wie in Kraepelins
Versuchen, werden alle diese Nebenerscheinungen schon bei
einer Belastung mit 50 g entscheidenden Einfluß gewinnen
können. |
Alle diese Verhältnisse sind natürlich so sehr von den
speziellen anatomischen Verhältnissen der be-
lasteten Gewebe abhängig, daß hinsichtlich der Unter-
schiedsschwelle immer nur Belastungen der nämlichen und
dabei gleichartig gestützten Körperstelle durch
ein Objekt von gleicherForm und Ausdehnung mit-
einander genau vergleichbar sind.
3. Zeitliche Änderungen des Reizes und die Nachreizung
beim (plötzlichen) Aufhören des Druckes sowie der Versuch
ihrer Beseitigung durch „Ausschleichen“ des Reizes.
Dabei ist die konkrete Empfindungsintensität auch ganz von
den Zeitverhältnissen der Druckwirkung abhängig, wobei
2) Vgl. auch Kiesow, Archiv f. d. ges. Psychologie 1924 Bd. 47 S. 11.
206 Friedrich Noßke,
außer der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Erregungsverlaufes
unter konstanten Reizbedingungen hier noch rein mechanische
Verschiebungen der Gewebe einschließlich der Gewebsflüssigkeit
‚hinzukommen. Auch das letztere Moment hat v. Frey in dem
genannten Vortrag neulich wieder ausdrücklich mit erwähnt.
An der von Kraepelin benutzten Stelle mit ihrer feinen Haut
ist z. B. die Änderung der Durchblutung mit dem tieferen Ein-
sinken des drückenden Stiftes bei Zunahme der Belastung leicht
an der sich immer weiter . ausbreitenden Eır'blassung der Haut
zu verfolgen.
Da ferner die mechanische Ausbreitung des Effektes nicht
nur in der Kompression des Gewebes, sondern teilweise auch in
seiner Abdrängung von der festeren Unterlage, also im Zug be-
steht, der nach dem bereits Gesagten bei der Haut ganz ähnlich
wie Druck wirkt (wie z.B. an den Seitenflächen des Fingers
bei seiner Quetschung zwischen Gewichtsbelastung und Unter-
lage), so kommt beim Aufhören des Objektdruckes umgekehrt
ein Zug und teilweise auch ein positiver Druck des Gewebes
zur Geltung, der besonders bei plötzlichem Nachlassen des
Druckes deutlich empfunden wird. Wegen dieser positiven Be-
standteile ist daher die Entlastung sogar bei isolierter Dar-
bietung, als Veränderung eines bereits vorhandenen Druckes,
von vornherein gar nicht so leicht von der Druckvermehrung
zu unterscheiden und wird erst allmählich als solche erkannt,
nachdem dieser charakteristische Empfindungskomplex erst durch
die Erfahrung sozusagen geeicht worden ist!).
Bei kurzdauernden Reizen aber, die von Null aufsteigen und
nach etwa 1 Sek. dahin zurückkehren, wird die positive Emp-
findung der Entlastung jedenfalls mit den früher einsetzenden
Empfindungen beim Beginn des Druckes in ein Ganzes ver-
schmelzen. Dessen komplexe Bedingtheit kommt jedoch für die
Vergleichung zweier sukzessiver Reizungen der nämlichen Stelle
oder anatomisch analoger Stellen wegen der Ähnlichkeit der
beiderseitigen Struktur kaum störend in Betracht. Dagegen
könnte der in der Schule von v. Frey übliche Versuch, den
sekundären Prozeß durch allmähliches Ausschleichen des elektro-
magnetisch erzeugten Druckes (mittels einer allmählichen Zu-
nahme des Widerstandes) für die Empfindung möglichst aus-
_ 1) Vgl. Kobylecky, Wundts psychol. Studien 1996 Bd. 1 9.219 (302):
»Über die Wahrnehmbarkeit plötzlicher Druckänderungen.«
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 207
zuschalten!), viel eher zu einer Unvergleichbarkeit der sukzessiven
Erregungen führen, da die allmählich absinkende Empfindung
in sich selbst viel kompliziertere Ablaufsbedingungen besitzt.
Es kann daher auch das freihändige Abheben bei Kraepelin
nicht als Nachteil betrachtet werden.
-4. Die Bedeutung der anatomisch bedingten Komplikation
der Reizwirkung für die Untersuchung der Gültigkeit des
Weberschen Gesetzes bei Unterschiedsschwellen.
Nach den allgemeinen Erfahrungen über das Webersche
Gesetz für ebenmerkliche Reizunterschiede dürfte dasselbe gerade
da am reinsten hervortreten, wo eine in sich einheitliche Emp-
findung hinsichtlich ihrer Gesamtintensität dem äußeren Reiz
möglichst proportional folgt, was direkt freilich nur durch
die Vergleichung übermerklicher Unterschiede einigermaßen
festgestellt werden kann. So gelingt es nach J. Merkel z.B.
auf dem Gebiete der Schallintensität oder auch der Gewichts-
vergleichung durch Hebung, diearithmetische Mitte zwischen
zwei Reizen aus der unmittelbaren Abschätzung nach der Emp-
findung einigermaßen richtig herauszufinden, wie es nur bei
guter Proportionalität der Empfindungsintensität zum äußeren
Reize möglich ist®). In beiden Empfindungsgebieten nimmt aber
der ebenmerkliche Unterschied nach oben hin in einer gewissen
Proportionalität zu dem bereits vorhandenen Reize in der Tat
immer mehr zu.
Die bereits vorhandene Empfindungsmasse stellt also gerade
da, wo sie durch die Methode der übermerklichen Abstufungen
als zum Reiz proportional erkannt wird, der Leistung, einen
minimalen Unterschied überhaupt mit subjektiver Sicherheit
zu erfassen, eine zu ihr selbst und hiermit auch zum Reiz pro-
portionale psychologische Störung entgegen, die mindestens zum
Teil in einer Angleichung zwischen beiden Vergleichsempfindungen
bestehen kann?). Dies hindert nicht, daß der bei größeren Reiz-
differenzen eben erkannte Unterschied auf den höheren Reizstufen
srichtig« größer erscheint als bei den kleineren. Besonders klar
1) Vgl. M.v. Frey u. R.Pauli, Zeitschr. f. Biologie 1912 Bd. 59
S. 501, ferner ebenda M.v.Frey u. Agnes Goldmann Bd. 65 S. 185 und
Hansen S. 170.
2) Wundt, Grundzüge der physiol. Psychol. 1,6 S. 655 u. 677.
3) Vgl. Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene
1908 S. 155 und 202 ff.
208 Friedrich Noßke,
ergibt sich diese psychologische Bedeutung des Web er schen
Gesetzes für Unterschiedsschwellen reizproportionaler Be-
wußtseinsinhalte wohl bei der Wahrnehmung räumlicher
Extensionen und zwar namentlich beim Augenmaß, bei dem
die >richtige«, d. h. reizproportionale Auffassung der Strecken
in weitem Umfange zweifellos feststeht. und doch bei einheit-
licher Auffassung der Vergleichsstrecken die Unterschiedsschwelle
proportional zum Reize anwächst. (Auch wechselseitige psycho-
logische Assimilationen, wie sie vorhin als Komponente der
Unterschiedsschwelle angenommen wurden, sind im Gebiete der
optischen Raumauffassung besonders geläufig.) Diese im Wundt-
schen Kreise entstandene psychologische Auffassung vom Weber-
schen Gesetz läßt dessen Gültigkeit auch für die Unterschieds-
schwelle des Drucksinnes unter den einfachsten Bedingungen
gerade da am reinsten erwarten, wo die Reizwirkung zur ob-
jektiven Belastung proportional zunimmt. Diese Erwartung ist
denn auch in neuester Zeit wieder von Kiesow besonders klar
zum Ausdruck gebracht worden !). Sobald also mit der Zunahme
der Belastung infolge .einer immer weiteren Ausbreitung der
Druckwirkung zu der ungefähr proportionalen Erregungssteigerung
bestimmter Tastorgane neue Elemente aus anderen Nachbar-
organen über die Schwelle treten und die Gesamtintensität der
Empfindung infolge eines beliebig zentral lokalisiert anzunehmen-
den Summationsprozesses noch mehr, d.h. überpropor-
tional steigern, wird man eine relative Verfeinerung der Unter-
schiedsschwelle erwarten dürfen, d.h. eine Verringerung des
Bruchteiles, welchen die Unterschiedsschwelle nach dem Weber-
schen Gesetze vom Vergleichsreiz ausmacht. Tatsächlich fand
sich denn auch bei Kobylecky eine solche schon von Stratton
beobachtete Verfeinerung der relativen Veränderungsschwelle
nach oben hin, indem jener Bruchteil im unteren Gebiete bis
200 g etwa im mittleren bis 500 g etwa und erst im
1
15 20
obersten Gebiet zwischen 500 und 1000 g etwa = ausmachte.
Die absoluten Maße der genannten Grenzen entsprechen wegen
1
der tachen Verbreiterung der Strattonschen, etwa gam
großen Druckfläche spezifischen Belastungen von ca. 710 g/qcm,
1) Zar Frage der Gültigkeit des Weberschen Gesetzes im Gebiete
der Tastempfindungen. Archiv f. d. gesamte Psychologie 1924 Bd. 47 S. 9 ff.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 209
1780 g/gem und 3690 g/qcm und decken hiermit ziemlich genau
den Bereich, auf den sich auch die neueren unten genannten
Versuche Hansens mit v. Frey an einem einzelnen Druck-
punkte beziehen.
Vor längerer Zeit hat A.H. Kinnaman auch für aktive
Gewichtshebungen ein ganz ähnliches Sinken der relativen
Unterschiedsschwelle (US.) nach oben hin auf eine solche Aus-
breitung der Empfindungen zurückgeführt, da mit der Zunahme
des zu hebenden Gewichtes Erregungen aus immer ferner liegen-
den Körperteilen die Schwelle überschreiten. Bei Hebung mittelst
eines um den Finger gelegten Bandes treten hierbei zu der ur-
sprünglich allein entscheidenden Hautdruckempfindung der Hand
zunächst innere Tastempfindungen der Hand, dann solche des
Armes, weiterhin Empfindungen des Rumpfes, der Beine und
zuletzt namentlich auch der Fußsohlen hinzu’). Allerdings be-
tonte Kinnaman zugleich mit Recht, daß diese zunehmende
Empfindungsmasse, ähnlich wie es oben von dem homogenen
Quantum aus einer konstanten Organgruppe gesagt wurde, da-
neben auch wieder Störungswirkungen hinzubringe. Namentlich
läßt ihre Ausbreitung innerhalb eines größeren Raumgebietes
die Beiträge aus dem einen Teil über denjenigen des anderen
nach dem einfachen Konkurrenzprinzip der Ablenkung leichter
zurücktreten.
Mit der Annahme, daß das Webersche Gesetz auch beim
Drucksinn gerade unter den einfachsten Bedingungen der Reiz-
steigerung gelte, hielt nun Karl Hansen seine Beobachtungen
über die Unterschiedsschwelle »unter möglichstem Ausschluß der
extensiven Reizänderungen« unvereinbar. Seine Reduktion der
gesamten Empfindungsmasse auf die von einem einzigen Druck-
punkt herrührende Erregung gelang bei der Versuchsperson
v. Frey inmitten eines zirka 440 qcm großen Bereiches der
Haut des Oberschenkels, an welcher die Dichte der Druckpunkte
an und für sich schon auf T des normalen Wertes reduziert
war. Innerhalb eines kleinen Teiles dieses Feldes von 12 qcm
wurden auch noch alle Tastorgane bis auf einen einzigen Druck-
1) A.J.Kinnaman, A comparison of judgments for weights lifted
with the hand and foot. Amer. Journ. of Psychol. XII, 1901, S. 240 (249 ff.)
(ca. 9000 Einzelversuche unter Leitung von Bryan, Sanford und Hall).
Vgl. Referat von Wirth, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane
Bd. 27, 1902, S. 247.
Archiv für Psychologie. LII. 14
210 Friedrich Noßke,
punkt vom Reizwert 1 g/mm mit einer glühenden Nadel zer-
stört. Die vorübergehende Anästhesierung dieses einzigen Punktes
durch subkutane Injektion von Novokain mit Adrenalin ergab
zugleich, daß der elektromagnetische Reizhebel bis zu einem
Druck von ca. 8,5 g auf 0,2 qmm für die nächstbenachbarten
Druckpunkte in der Tat unwirksam blieb. Unter diesen Be-
dingungen stieg nun die absolute US. für zwei sukzessive Reizungen
dieses einzigen Druckpunktes mit 6 Sek. Zwischenzeit von ihrem
Wert 1,98 g für 3,52 g Vergleichsreiz bis höchstens 2,35 g für
8,07 g, während sie für 9,73 g sogar wieder auf 2,2 g zurück-
ging. Die relative US. sank daher von 56 °/, auf 32 °/, bezw.
zuletzt auf 23°/,, so daß an Stelle des Weberschen Gesetzes
eher eine Annäherung an die Konstanz der absoluten Schwelle
galt. Hansen führt nun S.188f. näher aus, wie er sich das
Webersche Gesetz unter den von Stratton und Kobylecky
eingehaltenen Bedingungen theoretisch ableitbar denkt. Die
absolute US. sinkt nämlich bei gleicher spezifischer Belastung
in dem Maße, als mit der räumlichen Ausbreitung der Reiz-
wirkung immer neue Empfindungszuwüchse hinzukommen. Bei
den niederen Stufen der (spezifischen) Belastung wächst jedoch
das Ausbreitungsgebiet mit der Reizzunahme stärker an als bei
den höheren, weil bei diesen die Haut bereits mehr auf die
knöcherne Unterlage niedergedrückt ist. Dadurch bleibt also
dann die absolute US. für die höheren Reizstufen der von ihm
beobachteten Vergröberung bei völligem Ausschluß der Er-
regungsausbreitung näher, d. h. die absolute US. bleibt nach
oben hin nicht mehr konstant, sondern nimmt zu, was eine ge-
wisse Ähnlichkeit mit der relativen Konstanz aufweisen kann.
So gewiß sich aber auf diese Weise in der Tat eine ent-
fernte Ähnlichkeit mit dem Weberschen Gesetz konstruieren
läßt, so wenig braucht umgekehrt die Annahme, daß das Webersche
Gesetz von einer hinreichend deutlichen Gesamtintensität an
aufwärts auch ohne weitere Ausbreitung des Reizes auf andere
Organe gelten würde, mit den von v. Frey und Hansen be-
obachteten Tatsachen in Widerspruch zu stehen. Die »spe-
zifische Belastung« ist überhaupt ein ganz abstrakter Begriff,
aus dessen Betrag noch gar nichts für die Empfindungs-
wirkung zu entnehmen ist, nachdem einmal die nächstbenach-
barten Erregungen zur Gesamtintensität einer einheitlichen Druck-
1) a. a. O. S. 179 ff.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 211
empfindung zusammenwirken !,. Eben deshalb kann aber auch
aus der Zuordnung eines absoluten Schwellenwertes zu einer
bestimmten spezifischen Belastung noch gar nichts für oder
wider das Webersche Gesetz abgeleitet werden, weil diesem
Gesetze im untersten Gebiete der Empfindungs-
intensität bekanntlich eine entgegengesetzte Ge-
setzmäßigkeit entgegenwirkt, nämlich die Zu-
nahme der Schwelle mit der Schwierigkeit der
selbständigen Erfassung der Vergleichsreize im
ganzen. Bei übermerklichen Reizen tritt diese Wirkung erst
bei einer Ablenkung oder Verteilung der Aufmerksamkeit auf
ein über den Reiz hinausgreifendes Gebiet ein. Bei schwachen,
der Schwelle nahestehenden Empfindungen gilt jedoch die Zu-
nahme der relativen Schwelle mit der Unklarheit der Vergleichs-
reize auch schon bei größtmöglicher willkürlicher Konzentration
der Aufmerksamkeit. Die von v. Frey und Hansen be-
obachtete Haupterscheinung, daß die US. bei gleicher spezi-
fischer Belastung mit der Einengung der Reiz-
fläche außerordentlich stark zunahm und bei der
untersten Stufe Hansens sogar 50°), ausmachte, zeigt
uns mit Sicherheit also nur dies eine, daß die allgemeinen
psychologischen Vergleichsbedingungen hier be-
reits sehr ungünstige waren. Sie sanken offenbar tief
unter das Optimum der sogenannten »Kardinalwertec nach
Fechner im Gebiete der mittleren Intensitäten, die als Ganzes
am besten zu erfassen und zu vergleichen sind. Gerade des-
halb muß aber natürlich von diesen, nur das anderthalbfache
der Reizschwelle betragenden Vergleichsreizen nach oben hin
die relative Schwelle rasch sinken, weil der Reiz immer besser
zu erfassen ist, wobei er sich der Schmerzgrenze nähert. Ja,
man hätte wohl auch ohne die hier ausgeschaltete Reizausbreitung
eine noch etwas stärkere Abnahme der relativen Schwelle nach
oben hin erwarten dürfen, wenn die allgemeinen Vergleichs-
bedingungen etwas günstiger gewesen wären. Abgesehen von
der anormalen Gesamtverfassung der Reizstelle kann hieran auch
i) Nach früheren Versuchen von Hansen über die subjektiv äquivalenten
Druckgrößen bei verschiedener Reizfläche äußert sich diese Summations-
wirkung darin, daß hierbei nicht die gleiche spezifische Belastung äquivalent
erscheint. Die absolute Belastung wächst vielmehr viel langsamer als die
Fläche, annähernd proportional dem Durchmesser. Zeitschr. f.
Biol. 1913 Bd. 62 S. 536.
14 *
212 Friedrich Noßke,
die lange Zwischenzeit zwischen Haupt- und Vergleichsreiz
schuld gewesen sein, die sich auch in einem überaus großen und
ebenfalls nach unten hin stark zunehmenden Vergleichsfehler
äußerte. Es erschien nämlich 1,5 g dem darauffolgenden Reiz
3,52 g gleich, während 7,5 g nur um 2,2g überschätzt wurde.
Bei der letzten Verfeinerung der Schwelle von 32°/, auf 22%,
für 9,7 g dürften aber nicht nur bereits tatsächliche Ausbreitungen
der Reizwirkung schuld gewesen sein, da ja nach Hansens
eigenen Angaben bei jenen Anästhesierungskontrollen 8,8 g be-
reits sicher von den Nachbarorganen wahrgenommen wurden,
sondern es dürfte auch die Ausbreitung auf andere Arten von
Organen der nämlichen Hautpunkte, insbesondere die Annäherung
an die Schmerzgrenze, eine Rolle gespielt haben. Denn Hansen
gibt selbst an, daß bei 8,5 g schon zeitweilig »>juckende und
stechende Empfindungen« auftraten. Für den Normalreiz 7,5 g
gingen aber die subjektiv gleichen Vergleichsreize vereinzelt
sogar bis 14 g empor.
Diese relativ hohe spezifische Belastung von 14 x 500 g’cm
— 7000 g/cm, die dort auf eine Fläche von nur 0,2 mm ein-
wirkte, bleibt aber natürlich trotz ihrer Schmerzhaftigkeit hin-
sichtlich des intensiven Quantums derDruckempfindung
weit hinter der geringsten absoluten Belastung von 200 g
zurück, für welche z.B. noch Kobylecky bei seiner 140 mal
größeren Reizfläche von şs qcm die relative Unterschiedsschwelle
2
32
: 1 ; i ' ;
bereits nur noch also dreimal so fein wie bei Hansens
15’
stärkstem Reiz, fand 1). Die von unserer Aufmerksamkeit leicht
erfaßbaren Intensitäten der Druckempfindung, die uns als mittel
oder stark erscheinen, sind also im allgemeinen erst die Resul-
tanten der Erregung vieler benachbarter Organe, zumal bei der
für unsere Auffassung besonders maßgebenden Betastung mittelst
der Fingerbeeren. Nur dann also, wenn Hansen auch für eine
solche nur durch größere Reizflächen erreichbare Gesamtinten-
1) Es kommt ferner noch hinzu, daß sehr kleine Reizflächen gerade in
der nächsten Nähe der Druckpunkte ihre zufälligen örtlichen Schwankungen
in ziemlich große Intensitätsschwankungen der Empfindung umsetzen, die
von dem Unsicherheitsgebiet der Urteile, also einer Hauptkomponente der
US., nicht abgetrennt werden können. Die unwillkürlichen Bewegungen
des Beobachters lassen auch bei mechanischer Reizauslösung und Ein-
gipsung des gereizten Körperteils diese Ursache der Vergrößerung der
Schwelle bei möglichst punktuellen Reizen kaum völlig verschwinden.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 213
sität unter experimenteller Einschränkung der Erregung auf
eine bestimmte Organgruppe eine ungefähre Konstanz der ab-
soluten Schwelle gefunden hätte, wäre unter sonst
gleichen psychologischen Bedingungen das Webersche
Gesetz für den Drucksinn durch eine andere Regel zu ersetzen.
Hier dürfte aber das Ergebnis eines solchen Experimentes ganz
anders ausfallen. Jedenfalls haben wir nach Kiesow?) vor-
läufig keinen Grund, die Beibehaltung des nämlichen Bruch-
teils der relativen Veränderungsschwelle innerhalb eines zu-
sammenhängenden Intensitätsbereiches bei Stratton und
Kobylecky auf eine Änderung der Ausbreitungsbedingungen
mit der Reizstärke zurückzuführen, sondern das Webersche Ge-
setz ist bei gleicher Weite der zweifellosen Reiz-
ausbreitung sogar am reinsten zu erwarten.
Gerade die Tendenz der relativen US. bei den höheren
Reizstufen zu sinken, spricht in Übereinstimmung mit der von
v. Frey betonten fortgesetzten Zunahme der Reizausbreitung
dafür, daß bei konstanter Ausbreitung mit proportional zu-
nehmender Erregung aller bereits beteiligten Endorgane das
Webersche Gesetz gilt. Der Versuch, aus der Beobachtung von
Reizen minimaler Ausdehnung etwas über die Unterschieds-
schwelle der subjektiven Gesamtwirkung bei gleicher spezifischer
Belastung, aber wesentlich größerer Reizfläche entscheiden zu
wollen, ohne die besonderen psychologischen Bedingungen in Be-
tracht zu ziehen, bildet geradezu einen extremen Fall der
»atomistischen<« Verallgemeinerung des psychischen Effektes ob-
jektiver Reizelemente ohne Rücksicht auf das Ganze
des psychophysischen Effektes, die in neuester Zeit
insbesondere von F. Krueger?) als methodischer Fehler be-
kämpft worden ist.
Berücksichtigt man die tatsächlichen Werte der Unterschieds-
schwellen bei den von Stratton und Kobylecky benützten
größeren Reizflächen, so scheitert überhaupt der oben einstweilen
als rein formal denkbar bezeichnete VersuchHansens vollständig,
das Webersche Gesetz bei jenen Reizflächen mit der Annahme
in Einklang zu bringen, daß die Reizzuwüchse, die zu ebenmerk-
lichen Erregungszuwüchsen einzelner Tastorgane erforderlich
1) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 47 S. 11.
2) Krüger, Über Entwicklungspsychologie, ihre sachliche und ge-
schichtliche Notwendigkeit (Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, 1. Heft),
Leipzig 1915, S. 64.
214 Friedrich Noßke,
sind, für alle Reizstufen annähernd konstant bleiben. Bei der
geringen Variation der Reizstufen, auf welche sich Hansens
Versuche mit dem isoliertem Druckpunkt wegen der Schmerz-
schwelle beschränken mußten (mittlerer Vergleichsreiz 3,5g bis
9,7g), blieb ja die beobachtete Annäherung an die absolute
Konstanz der US. der relativen Konstanz noch sehr nahe (50°|,
bis 20°/,). Sobald aber die Schmerzschwelle bei größerer Reiz-
fläche die Reizschwelle der Druckempfindung immer mehr über-
steigt, bedeutet die dann tatsächlich beobachtete Annäherung
an die relative Konstanz eine viel stärkere Abnahme der
absoluten US. nach unten hin. Wo z. B. ein Bereich der
absoluten Belastung von ca.10 bis 500g verwendbar bleibt, wird
oben eine US. von ca 25g, unten aber nur ca. 1,5g zu finden sein.
Bei einer absoluten Konstanz dürfte man dagegen ein Gewicht
von 10g nicht schon von 11,5g, sondern erst von 35g unter-
scheiden können. Da nun bei dem Druck auf die Dorsal-
seite des Fingers die Ausbreitung des Reizes bei
den höchsten Gewichten durch die Knochenunter-
lage mit der weiteren Zunahme tatsächlich nicht
mehr wesentlich gesteigert werden kann, so müßte
nachHansendieserReizzuwachsvon2ögdemjenigen
Zuwachs am nächsten kommen, der bei seiner An-
nahme einer ungefähren absoluten Konstanz der
US. ohne Änderung der beteiligten Tastorgane auch
für die unteren Reizstufen nötig wäre, um ohne
die hier sich tatsächlich erweiternde Ausbreitung
desReizes merklich zu werden. Die ganze Verfeinerung
der US. bei der Reizstufe 10g von 25g auf 1,5g müßte also
dann von dieser Veränderung der Reizausbreitung mit der Be-
lastungsänderung herrühren. Man mag aber den Einfluß der
Miterregung der nicht direkt komprimierten Tastelemente mit
v.Frey noch so hoch einschätzen, so wird man ihr doch kaum
eine solche 15- bis 20fache Verfeinerung der US. für die Resul-
tante der Summation zumuten wollen.
Je mehr Zunahme der räumlichen Ausbreitung des Reizes
man aber auch noch der obersten Reizstufe 500g als Effekt
ihrer weiteren Steigerung zugestehen wollte, um so mehr würde
der Reizzuwachs, derbeiKonstanzderbeteiligtenOrgan-
gruppe bei 500g eben merklich wäre, den hier tatsächlich
beobachteten übersteigen. Eine um so stärkere Verfeinerung müßte
also dann umgekehrt in der unteren Region (bei 10g) von der
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 215
hier ungestörten Veränderung des Ausbreitungsgebietes ge-
leistet werden. Kurz, Hansen kommt nicht darum herum, der
relativ stärkeren Verschiebung des Ausbreitungsgebietes bei
Änderungen schwacher Belastungen die ganze Abnahme der
überaus hohen absoluten Schwelle der obersten Region bis zu
ihrem in den untersten Regionen beobachteten Minimalwert zur
Last zu legen, wodurch sich diese Hypothese ganz von selbst
widerlegt. Der Zuwachs, den die Empfindungsintensität bei einer
eben merklichen Reizsteigerung infolge derkleinenErweiterung
des Ausbreitungsgebietes nach dem nämlichen Summationsprinzip
erlangt, das schon die Hauptmasse der Empfindung aus den direkt
gedrückten Tastorganen einschließlich der bereits vorhandenen
Miterregung der Nachbarschaft zustande kommen ließ, dürfte
in Wirklichkeit nur sehr gering sein. Dieser minimale Zuwachs
tritt aber hinter der Gesamtmasse so stark zurück, daß er auf
die Schwelle überhaupt kaum einen wesentlichen Einfluß er-
langen kann.
Nun hat aber Kiesows Schüler Gatti in seinen schon
oben genannten Versuchen mit sukzessiver Reizung der näm-
lichen Hautstelle das Weber sche Gesetz sogar für die US.
jener untersten Region der Belastungen feststellen können,
die bei möglichster Einschränkung einer schmerzlosen Reizung
auf einen einzigen Druckpunkt nicht überschritten wird. Nach
einer ersten Prüfung!) im haarlosen Bezirk der Volarseite des
linken Handgelenkes mit ca. 12—44 Druckpunkten auf 1qem
hat Kiesow die Untersuchung noch einmal an einer and2ren
Stelle mit wesentlich geringerer Dichte der Druckpunkte (2—14
pro qem) wiederholen lassen °) (am linken Arm, unweit der Ellen-
beuge nach der Beseitigung der Haare, wo die Druckpunkte fast
durchweg Haarpunkte sind), nachdem ihm in der Zwischenzeit
jene Versuche von Hansen mit v. Frey bekannt geworden
waren. Das Ergebnis mit Reizhaaren von ca. 2 mm Radius
bis zur spezifischen Belastung von 3 g/qmm und mit ca. :
1) F. Kiesow, Über taktile Unterschiedsempfindlichkeit bei sukzessiver
Reizung einzelner Empfindungsorgane. Archiv f. d. ges. Psychol. 1922 Bd. 48
8. 11.
2) F.Kiesow, Zur Frage nach der Gültigkeit des Weberschen Ge-
setzes im Gebiete der Tastempfindungen. Archiv f. d. ges. Psychol. 47, 1 u.2,
1924, S. 1 ff.
216 Friedrich Noßke,
und Smm Radius bis zu 8g/qmm blieb das nämliche, indem
die US. annäherndkonstant ca. : des Reizes ausmachte.
Offenbar sind also schon bei seinen oberen Stufen die Vergleichs-
bedingungen etwas günstiger gewesen als bei Hansens oberster
Stufe mit der relativen US. z
Nähe der Schwelle ziemlich gleichartig. Dies mag freilich, ab-
gesehen von der geringeren Zwischenzeit von 3 Sek., mit der
vollständigeren Wissentlichkeit des Verfahrens
zusammenhängen, da hier nämlich der Beobachter Gat ti selbst
die Reizhaare mittelst einer Lupe auf die bequem erreichbare
Stelle des linken Armes aufsetzte. Nur für die unterste Stufe
1g/mm gelang es Gatti überhaupt nicht, zu einwandfreien
Werten zu gelangen, so daß also wenigstens hier die US. die
von Hansen durchweg beobachtete Erhöhung gezeigt haben
dürfte. Aber selbst, wenn sich bei völlig unwissentlichem Ver-
fahren und ohne gleichzeitige optische Konzentration auf die
Reizstelle diese Konstanz der relativen US.nicht aufrechterhalten
ließe, so wäre nach dem vorher Gesagten hieraus gar nichts gegen
die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes bei direkter Reizung
einer ganzen Gruppe von benachbarten Tastorganen mit ihrem
voluminöseren Empfindungseffekt zu schließen, weil eben hierbei
ganzanderepsychologische Auffassungs- und Vergleichsbedingungen
vorliegen. |
Dabei ist alles Bisherige mit der Voraussetzung im Einklang,
daß die Empfindung einzelner Tastorgane etwa direkt proportional
zum Druck zunimmt. Die Verhältnisse werden aber natürlich
der Annahme der absoluten Konstanz der US. für die einzelnen
Organe noch ungünstiger, wenn man schon für die physiologische
Erregung selbst ein allmähliches Zurückbleiben hinter der vollen
Proportionalität zum Reiz annimmt, wie es bei den stark adap-
tationsfähigen Tastorganen zweifellos in einem gewissen Umfange
der Fall sein wird.
und sie blieben hier bis in der
5. Die Einfügung der Kraepelinschen Versuche in diese
Problemstellungen.
Die Versuche Kraepelins passen auch insofern gut in den
Rahmen dieser neueren Untersuchungen, als auch bei ihnen die
Fläche der selbständig einander folgenden Vergleichsreize
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 217
eng begrenzt war. Die beiden Vergleichsgewichte bestanden
nämlich bei allen 5 Normalstufen 0,1 g, 0,5 g, 50 g und 500g
injezweitrichterförmigen, untenspitzzulaufenden
Gefäßen, welche mit teilweise zusammengegossenen Schrot-
körnern auf die gewünschte Schwere aufgefüllt wurden. Herr
Professor Kraepelin hatte die Güte, uns diese noch wohl er-
haltenen Apparate zuzusenden, so daß wir sie genau beschreiben
können. Die Gefäße standen nach Größe und Schwere zu
dem Gesamtgewicht der einzelnen Stufen in einem gewissen Ver-
hältnis und waren im allgemeinen genau 5 desselben. Die
kleinsten waren flacher, die größeren schlanker, mit weniger als
30° Öffnungswinkel. Bis zur 4. Stufe waren sie aus Pergament-
papier geklebt, für 500 g bestanden sie aus zwei genau gedrehten
Messingtrichtern. Die freihändige Aufsetzung auf die Mitte des
Nagelgliedes des rechten Mittelfingers der Versuchsperson durch
den Experimentator geschah mittelst eines mit Handgriff
versehenen Metallrings von ebenfalls angepaßter Größe,
der bei den drei leichtesten Trichterarten unmittelbar deren Mantel
erfaßte, die schwersten Papiertrichter und die Messinggefäße aber
an einem an ihnen befestigten bezw. angelöteten Ring aus
Pappe bezw. Metall emporhob. Wie die ganze Bauart der
Trichter war aber auch die kleine Angriffsfläche an
ihrer unteren Spitze nicht absolut konstant, sondern
entsprechend dem zu erwartenden Weberschen Gesetz etwas
der relativen Konstanz angenähert, wenn auch die spezi-
fische Belastung nicht entfernt konstant bleiben sollte, sondern
insgesamt um das ca. 400-fache zunahm. Es sollte nur durch
eine gewisse Verbreiterung der abgestumpften Trichterspitze
mit der zunehmenden Reizstufe die Qualität der resultie-
renden Totalempfindungen nicht allzu sehr ver-
ändert, insbesondere bei den größeren Gewichten nicht zu
schmerzhaft werden. In die Spitzen der Papierdüten waren
Stücke von Stecknadeln senkrecht eingenäht, die an ihrem
inneren, nach oben gekehrten Ende zu einem Ringe umgebogen
waren und ihren Knopf der Haut zukehrten. Nur der kleinste
Trichter von 6 mm Höhe für 0,1 g lief in einen glatten Quer-
schnitt einer feinen Ndel von ca.0,3 mm Durchmesser aus. Die
Stecknadelköpfe für 0,5 g bis 50 g waren Kugelabschnitte von
etwas verschiedenem Krümmungsmaß und ca. 1,2, 1,5, 1,4 mm
größter Breite. Bei beiden Vergleichstrichtern differierte diese
218 Friedrich Noßke,
um etwa 0,05 bis 0,1 mm. Die stärker abgeplatteten Messing-
köpfe an dem unteren Ende der beiden Metalltrichter waren
1,98 und 1,82 mm breit. Die kleinen Unterschiede zwischen
Normal- und Vergleichsfläche mögen immerhin etwas zur allge-
meinen Variation beigetragen haben.
Da die Druckverhältnisse an den einzelnen Punkten der Haut-
fläche, die nach dem vollen Einsinken der Trichter mit der Spitze
in Berührung kamen, bei der verschiedenen Krümmung der Spitzen
doch verschieden waren, so verzichten wir auf eine minutiöse
Ermittlung der Berührungsfläche und geben nur die mit diesen
Druckflächen ungefähr gleichen Kreisflächen bei den genannten
Durchmessern an. Sie betrugen für die 5 Stufen der Reihen-
folge nach ca. 0,1,*) 1,1, 1,8, 1,5 und 2,8 qmm und würden hieraus
eine »spezifische Belastung« von 1g, 0,44 g, 2,8 g, 32,5 g und
176 g pro 1 qmm berechnen lassen. Es ist wertvoll, daß wenigstens
bei den untersten Stufen durch Umkehrung der Veränderungsrich-
tung der spez. Belastung mit fünffacher Steigerung des absoluten
Totalgewichtes das Webersche Gesetz von diesen Nebenmomenten
relativ unabhängig erkannt werden konnte. In den höheren
Stufen aber änderte sich die spezifische Belastung jedenfalls
nicht wie bei Stratton und Kobylecky ungefähr so stark wie
die absolute Gesamtbelastung, sondern blieb in ihrer Steigerung
etwas hinter dem Gewicht zurück.
Bei den schwächsten Reizen dürfte sich nun der eng begrenzte
Reiz wenigstens in seiner in die Tiefe gerichteten Hauptkompo-
nente tatsächlich auch hier auf ein einziges Endorgan gerichtet
haben. Herr Dr. Strughold hat im Würburger physiologischen
Institut schon vor einiger Zeit die Dichte der Druckpunkte für
das Nagelglied des Zeigefingers als 30 pro 1 qem gefunden ?).
Herr Geheimrat v. Frey hatte nunmehr auf die Bitte von Herrn
Professor Wirth hin die Liebenswürdigkeit, Herrn Dr. Strug-
hold auch zur Prüfung der nämlichen Stelle anzuregen, die in
Kraepelins Versuchen benutzt würde. Er ermittelte hierbei
in guter Übereinstimmang mit jenen ersten Messungen an der
analogen Stelle 7 pro !/, qcm, also 28 pro 1 qcm. Den Herren
sei auch an dieser Stelle für ihre freundliche umgehende Er-
füllung unserer Bitte herzlichst gedankt.
Die feinsten Spitzen mit 0,1 qmm fallen also hier nicht aus
1) In der 8.198 Anm. genannten Abhandlung Kraepelins steht in-
folge eines Druckfehlers »etwas über lqmm«.
2) Zeitschr. f. Biologie 80, S. 871.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 219
dem im Mittel mit einem Druckpunkte besetzten Gebiet von
ca. 3 qmm heraus. Aber auch bei den mittleren Reizstufen
bleibt die Fläche unter jenem durchschnittlichen Areal eines
Druckpunktes dieser Stelle, und selbst bei dem stärksten Reiz
von 500g war dieses eben erreicht. Die Deformation der Haut
reichte natürlich nach dem früher Gesagten bei allen Reizen
mehr oder weniger über dieses Areal hinaus.
Dabei führen aber nun Kraepelins Versuche unter diesen
speziellen Bedingungen wieder zu wesentlich höheren Belastungen
hinauf als bei Hansen und Kiesow und lassen bei 50g und
500 g eindrucksvolle Druckempfindungen unter günstigsten psycho-
logischen Auffassungsbedingungen vergleichen. Auch die bei
Schwellenversuchen sonst stets übliche Bedingung war erfüllt, daß
die Reize der Vp. von einem Experimentator dargeboten wurden.
Die technische Ausführung der Versuche geschah in der
Weise, daß nach einem vorbereitenden Signale der Experimentator
die beiden Trichter mit dem Normal- und Vergleichsgewicht im
zeitlichen Abstand von 3 Sek. nacheinander in der Stärke auf-
setzte, wie es das Reihenprogramm im einzelnen vorschrieb.
Kraepelin selbst ist sich der Schwankungen in der Einwirkung
des Gewichtes auf die Haut bei seinem Verfahren sehr wohl be-
wußt, nimmt aber mit Recht an, daß sich die zufälligen Er-
höhungen und Verminderungen der Anfangsgeschwindigkeit und
der Reibungsverluste an den Tragringen im Mittel werden aus-
geglichen haben, und daß jedenfalls bei dem freien Spielen der
Düte in dem Ringe eine gewisse Zeit das beabsichtigte Gewicht
voll zur Geltung gekommen sei. Eine ganz ähnliche Anordnung
zum Aufsetzen leichter Gewichte von nagelartiger Form ist
übrigens später von Pi&ron angegeben worden, wobei diese
Stifte ebenfalls in dem Ausschnitt eines Halters frei spielen,
aber wegen ihres breiteren Kopfes nicht hindurchfallen konnten. ?)
II. Die Maßmethodik im allgemeinen.
1. Die Anlage der Versuchsreihen nach der Methode der
Minimaländerungen.
a) Der statistische Wert des Materials.
Die Methode war eine Variation der Wundtschen Minimal-
änderung, welche von Kraepelin selbst in seiner späteren
1) Toulouse, Vaschide et Pi&ron, Technique de psychologie ex-
perimentelle 1904 S. 66.
o aA Ur En u - en *
BB Bun o wa eru
Ay. -
ag
220 Friedrich Noßke,
methodischen Untersuchung !) als „Grenzmethode“ bezeichnet
wurde, ein Name, unter dem diese Methode auch von G. E.
Müller in seinen „Gesichtspunkten und Tatsachen der psycho-
physischen Methodik“ (S. 164 ff.) dargestellt worden ist. In der
hier allein in Frage kommenden Urform dieses Verfahrens wurde
der Vergleichsreiz wissentlich in einer bestimmten Rich-
tung abgestuft. Kraepelins Anwendung dieser Form gestattet
aber durch die überaus große Anzahl von insgesamt 16800 Einzel-
versuchen, von ihren Zufälligkeiten in hohem Grade frei zu
werden. Denn das gesamte Material kann bei diesem Umfang,
wie ebenfalls von Kraepelin selbst a. a. O. vorgeschlagen
wurde, auch nach dem Prinzip der „Konstanzmethode“
oder der „Urteilsstatistik* bei der Methode der so-
genanntendreiHauptfälle rechnerisch verarbeitet werden.
Sämtliche Vergleichsreizstufen jeder Reihe, außer den Grenz-
stufen und der dem Hauptreiz gleichen Stufe, sind in der unten
genauer angegebenen Weise stets gleich oft dargeboten worden,
was die Rechnung nach den neueren Formeln für diese Methoden
sehr erleichtert. Ein besonderer Vorzug der Arbeit ist auch
die Gleichmäßigkeit, mit der sämtliche Versuchsreihen ganz in
der nämlichen Weise passiv und aktiv von den beiden Versuchs-
personen, Herm E. Kraepelin selbst und seiner Frau Ge-
mahlin, Irene Kraepelin, durchgenommen wurden. In den
Versuchen, in denen der eine der beiden Gatten der Beobachter
war, funktionierte der andere als Experimentator. Als Vpn.
werden sie weiterhin mit E und J bezeichnet.
Herr Geheimrat Kraepelin beklagte allerdings selbst be-
reits bei der Übergabe seiner Versuchslisten an uns, daß die
Übung bei den verschiedenen Stufen des Normalreizes 0,1 g,
0,5g, 5g, 50g und 500 g nicht überall die nämliche gewesen
sei, insofern vor allem die Versuche mit 5g am Anfange ab-
solviert wurden und daher viel höhere Schwellenwerte zeigten.
Auch lag zwischen den Versuchen mit 5 g und 0,5 g einerseits
und den übrigen Versuchen mit 0,1 g, 50 g und 500 g ein Zeit-
raum von mehr als zwei Jahren (die genauere Verteilung der
Reihen auf die einzelnen Versuchstage wird unten noch mitge-
teilt). Indessen wurde wohl gerade durch die Häufung dieser
Vorversuche mit 5g bereits ein hoher Grad von allgemeiner
— —
1) Zur Kenntnis der psychophysischen Methoden. Wundt, Phil.
Studien 1891 Bd. 6 S. 493.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 221
Übung erreicht. Daher ist auch später bei dem Hauptreiz
0,5g dieses ersten Zeitabschnittes kein merkliches Gefälle der
Leistung zu erkennen, ja die beiden Gruppen der Vp. E von je
40 Elementarreihen für diese Stufe zeigen sogar eine seltene
Konstanz der mittleren Vergleichsleistung. Aber auch das letzte
Fünftel der ersten Versuche mit 5 g fügt sich hinsichtlich des
allgemeingültigsten Maßes der Vergleichsleistung bereits sehr
gut in die späteren Resultate ein. Bei dem zweiten, wesentlich
späteren Abschnitt wurden aber die Übungsbedingungen für je
zwei der drei Hauptreize 0,1 g, 50 g und 500 g durch Unter-
mischung der ihnen gewidmeten Sitzungen immer möglichst
ähnlich gemacht, wobei für die Prüfung des Weberschen Gesetzes
insbesondere die Koordination der niedersten Stufe mit der
höchsten von Wert ist. Aber auch der Vergleich mit den zwei
Jahre vorher gewonnenen Resultaten der Stufen 0,5 g und 5 g
dürfte durchaus zulässig sein, wenn man das Fehlen eines wesent-
lichen Fortschrittes der allgemeinen Übung in dieser zweiten
Periode in Betracht zieht.
Jedenfalls dürfte es gestattet sein, die gesamte auf je eine
Stufe des Normalreizes verwendete Versuchsmasse als einen
einzigen Kollektivgegenstand zu behandeln, bei dem
alle weiteren Verschiebungen der Urteilsleistungen durch Übung,
Ermüdung oder Tagesdisposition, wie sie bei keinem psycholo-
gischen K.G. von solchem Umfange zu vermeiden sind, wenig-
stensgleichmäßigaufsämtliche Stufen des variablen
Vergleichsreizes verteilt sind. So dürfte das Kraepe-
linsche Material geradezu ein klassisches Beispiel zur psycho-
physischen Anwendung der statistischen Methoden nach dem
Prinzip der großen Zahlen darstellen, dem höchstens noch das
bisher am meisten zu Rechenbeispielen der Konstanzmethode
verwandte Material H.Kellers über die Intensitäts-Unterschieds-
schwelle der Schallempfindung !), auf dem Gebiete der Druck-
empfindung aber überhaupt zunächst nichts Geichwertiges an
die Seite gestellt werden kann.
b) Der vollständige Auf- und Abstieg in relativ gleichen Stufen.
Bei den 5 bereits genannten Stufen der Normalreize
Kraepelins 0,1 g, 0,5 g, 5g, 50 g und 500 g war, von dem
1) Die Methode der mehrfachen Fälle im Gebiete der Schallempfindungen
und ihre Beziehung zur Methode der Minimaländerungen. Psychol. Stud.
1907 Bd. 3 Heft 1 S. 49.
222 Friedrich Noßke,
ersten Intervall abgesehen, in der höheren Stufe der Normalreiz
immer das Zehnfache der nächstkleineren. Zu jedem der 5
Hauptreize wurden 4 Versuchsgruppen nach der Methode der
Minimaländerungen ausgeführt, die untereinander symmetrisch
aufgebaut sind. Unter 0,1 g konnte man wegen der Reizschwelle
nicht herabgehen.
In seiner bereits genannten eigenen Veröffentlichung über
die Ergebnisse dieser Methodik bezüglich der Reizschwelle !)
fand Kraepelin für sich selbst, Vp. E : 0,0886 g und für seine
Frau, Vp. J:0,0975g. Es findet sich daher auch schon bei
den Reihen, die mit 0,1 g als Normalreiz angestellt worden sind,
manchmal die Bemerkung, daß überhaupt nichts gefühlt wurde.
Diese Versuche mußten dann wiederholt werden.
Was zunächst die minimale Abstufung des Vergleichsreizes
anlangt, so wurde mit einer dem Hauptreize gleichen Stufe be-
gonnen und diese dann in Intervallen von 2 des Hauptreizes
verändert. Die Elementarreihen beschränken sich jedoch nicht
auf die einseitige Ableitung einer »obererene oder einer
>unteren« Schwelle, sondern an die Rückkehr des Vergleichs-
reizes zum Hauptreiz nach der ersten Entfernung von ihm schloß
sich unmittelbar, in stetiger Fortsetzung der nämlichen Ab-
stufungsrichtung, die symmetrische Entfernung in der ent-
gegengesetzten Richtung mit einer darauffolgenden
zweiten Rückkehr zum Hauptreiz an. Wir haben es also in ge-
wissen Sinne doch mit derjenigen Form der »Grenzmethode« zu
tun, dieals »VerfahrendesvollenAb- und Aufstieges«
bezeichnet werden kann, wie G. E. Müller (Gesichtspunkte
S. 169) die von ihm selbst empfohlene Anwendung später ge-
nannt hat. Nur kehrt Müller die hierbei führende Analogie
zur Methode der vollständigen Reihen dadurch noch mehr her-
vor, daß er die Abstufung des V mit einem der beiden Extreme
in einer so großen Entfernung vom Hauptreiz beginnen läßt,
daß das Urteil V sicher »größer als H« lautet, um dann ab-
steigend oder aufsteigend bis zum entgegengesetzten Extrem
fortzuschreiten, worauf die Reihe in umgekehrter Richtung durch-
laufen wird. Für den vollständigen Hin- und Hergang bei
Kraepelin ist es also charakteristisch, daß die Umkehr sich
1) E.Kraepelin, Zur Kenntnis des Drucksinnes der Haut. Psycholo-
gische Arbeiten Bd 7 Heft 3 S. 415.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 223
nicht von der Abgabe des Urteils selbst leiten läßt, wie es bei
Wundts und Müllers Anwendung der Grenzmethode einge-
schlossen ist. Es wird vielmehr nach einem vorgegebenen Plane,
bei dem aber natürlich durch Vorversuche schon die Extreme
der sicheren Verschiedenheitsurteile ungefähr ausprobiert sein
müssen, stets die nämliche, also eine »konstante« Stufenreihedurch-
laufen. Dies ist also bereits ganz auf die Behandlung der Ergeb-
nisse der Grenzmethode nach dem statistischen Gesichtspunkte der
Konstanzmethode angelegt, welche den Grundgedanken der
Kraepelinschen Behandlung der Grenzmethode überhaupt
bildete, der sich in der Überleitung der Methode der Minimal-
änderungen in die Methode der vollständigen Reihen so gut be-
währt hat. Die Geschlossenheit der Doppelreihe aller Reizstufen
des V in der Rückkehr zu V=H könnte geradezu die Darstellung
der Urteilskurven, die sich aus der Zusammenfassung mehrerer
Wiederholungen dieser Kraepelinschen Reihe ergeben, auf
einer geschlossenen Zylinderfläche als beste Veranschaulichung
nahelegen. Ohne diese Zusammenfassung getrennt abgeleiteter
Versuche mit gleicher Abstufungsrichtung, also rein empirisch,
könnte natürlich eine völlige zweimalige Absolvierung des für
die »Vollreihen« der Konstanzmethode charakteristischen An-
und Abstieges der Häufigkeitskurven g und k von O bis 1 nur
bei der Einführung jenes Prinzipes von G. E. Müller erreicht
werden, daß man von einer sicheren Verschiedenheit in
der einen Richtung ausgeht und mit einer solchen abschließt.
Kraepelin berücksichtigt aber auch sofort die beiden
Möglichkeiten, die es hinsichtlich der Fortschrittsrichtung
innerhalb dieses vollen Ab- und Aufstieges gibt, insofern er die
eine Hälfte der Elementarreihen mit der Vergrößerung des
Vergleichsreizes von H aus und die andere Hälfte mit der Ver-
kleinerungbeginnenläßt. In beiden Gruppen von Elementar-
reihen wird also der in sich bei der Größe V=H geschlossene
Kreis aller Stufen des Vinentgegengesetzter Richtung
zueinander vollständig durchlaufen. Wir bezeichnen daher diese
beiden Arten von Elementarreihen als »ab- und aufsteigende«
und als »auf- und absteigende« Reihen oder kurz als ab-auf-
oder auf-ab-Reihen. Bei Kraepelin verband sich hiermit
allerdings noch ein Einfluß der Zeitlage, da im allge-
meinen — wie aus 2 d 8.234 zu ersehen ist, die auf-ab-Reihen
nach den ab-auf-Reihen absolviert werden. Vgl. unten Abschn. V
S. 275.
224 Friedrich Noßke,
Der Vergleichsreiz V entfernte sich überall vom Hauptreiz H
beiderseits um je 5 Reizstufen. Bezeichnen wir den Hauptreiz
relativ mit 10, so werden also die Darbietungen bei dem ab-
und aufsteigenden Verfahren lauten:
10, 9, 8, 7, 6, 5, 6, 7,8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 14, 13, 12, 11, 10
und beim auf- und absteigenden:
10, 11, 12, 13, 14, 15, 14, 13, 12, 11, 10, 9, 8, 7, 6, 5, 6, 7, 8, 9, 10.
Die in der beschriebenen Reihenfolge dargebotenen Reize
waren in ihren absoluten Werten, gemessen in Gramm:
Hauptreize:
0,5 g 5g 50 g 500 g
0,25 2,5 25 250
0,30 3,0 30 300
0,85 8,5 85 350
0,40 4,0 40 400
0,45 4,5 45 450
0,50 5,0 50 500
0,55 5,5 55 550
0,80 6,0 60 600
0,65 6,5 65 650
0,70 7,0 70 700
0,75 Tb. 75 760
bad
-<
Dieser in allen Stufen relativ gleiche Aufbau der Reihen
ist bereits ganz darauf berechnet, im Falle der Gültigkeit des
Weberschen Gesetzes für Druckempfindungen die Versuchs-
bedingungen für alle Hauptreizstufen möglichst analog zu ge-
stalten. Denn wie von G. E. Müller betont wurde (Gesichts-
punkte S. 28), ist die Einstellung der Aufmerksamkeit von der
Größe der Stufen abhängig, und bei einer proportional mit dem
Reiz zunehmenden Schwelle ist nur bei einer gleichzeitig pro-
portionalen Zunahme der Intervalle des Vergleichsreizes ein
gleichmäßiges Aushalten der Aufmerksamkeit zu erzielen. Soweit
aber freilich die US. vom Weberschen Gesetze abweicht,
wird dann natürlich überall der Einfluß eines im Verhältnis zur
Schwelle zu großen oder zu geringen Sprunges mit in Kauf ge-
nommen. Für die Darstellung der Versuchsresultate hat die
Wahl der relativen Stufen der Vergleichsreize als Rechnungs-
grundlage den großen Vorteil, daß für sämtliche Hauptreiz-
größen stets die nämlichen relativen Abszissenwerte erhalten
werden, wie sie in der ersten Rubrik der obenstehenden Tabelle
stehen. Auch die Berechnungen können ohne weiteres mit diesen
relativ konstanten Abszissen durchgeführt werden, und würde
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 225
das Webersche Gesetz dann an einer, Konstanz der ge-
fundenen (relativen) Zahlenwerte zu erkennen sein.
Die einzelnen Versuchsreihen umfassen nach
dem vorhin Gesagten stets 21 Versuche. Dabei wurde
die dem Hauptreiz gleiche Stufe dreimal als Vergleichsreiz dar-
geboten, während die beiden äußersten Vergleichsreize nur je
einmal und die vier Stufen oberhalb und die vier unterhalb des
Hauptreizes je zweimal vorkamen.
e) Die systematische Variation von Einflüssen der Raum-
| und Zeitlage.
Kraepelin suchte aber nun weiterhin auch die »Fehler«
zu eliminieren, die aus der »Zeitlage« des Haupt- und Vergleichs-
reizes entsprangen, sowie die »Fehler« der Raumlage, die aus
dem Aufsetzen der Düten mit der rechten oder linken Hand
des Experimentators folgten. Bezeichnet man, wie es inKraepe-
lins eigenen Protokollen geschah, von den Einzelreihen der
oben beschriebenen Struktur zu je 21 Einzelversuchen diejenigen
mit A, bei denen der Hauptreiz zuerst dargeboten wurde, und
mit B die umgekehrte Zeitlage, ferner mit r die Aufsetzung mit
rechter Hand, mit J die mit linker Hand, so lassen sich die von
Kraepelin durchgeführten Kombinationen dieser Elementarbe-
dingungen zur Elimination jener Fehler der Raum- und Zeit-
lage mit folgenden Symbolen des Reihencharakters bezeichnen:
Ar, Br, Al, Bl. Diese wurden nun in Gruppen aus je 8 Reihen
Ar, Br, Br, Ar, Al, Bl, Bl, Al durchgeführt, in denen auch noch
die Fehler der Zeitlage dieser verschiedenen Kombinationen
der Raum- und Zeitlage auszugleichen waren. Da nun diese
Achtergruppen mit jeder Hauptreizstufe sowohl im »ab- und
aufsteigenden« als auch im »auf- und absteigenden< Verfahren je
fünfmal bei jeder Vp., insgesamt also 10 mal durchgenommen wurden,
so ergeben sich für jede der 5 Hauptreizstufen 80 Elementarreihen
zu je 21 Einzelversuchen, in deren Gesamtheit die Nebeneinflüsse
hinreichend ausgeglichen erschienen. Bei allen 5 Hauptreizen mit-
einander macht dies also bei jeder Vp. insgesamt 5-80-.21 = 8400
Einzelversuche. Das gesamte Versuchsmaterial für beide Vpn. E
und J erstreckt sich daher über 16800 Einzelversuche.
Archiv für Psychologie. LII. 15
-~-i — T a „Sn —- _ [an
„Fi — 2 d = w” — so
226 Friedrich Noßke,
2. Hauptgesichtspunkte unserer rechnerischen Verarbeitung
des Materials.
a) Die Ersetzung der üblichen Verrechnung einzelner
Elementarreihen der Minimaländerungsmethode durch das
allgemeine Verfahren der Konstanzmethode.
Für die Ableitung von Maßen der Unterschiedsempfindlich-
keit, des konstanten Fehlers usw. aus diesem Material. ist es
von entscheidender Bedeutung, in welcher Weise die einzelnen
Elementarreihen zu je 21 Versuchen zu einem Kollektivgegen-
stand zusammengefaßt werden. Wäre das nach dem Prinzip der
sogenannten Minimaländerungs- oder Grenzmethode gesammelte
Material auch in der gewöhnlich mit dieser Ableitung der Be-
obachtung verbundenen Berechnungsweise verarbeitet worden,
so hätte sich bereits zu jeder einzelnen Elementarreihe ein oberer
und unterer Grenzreiz r, und rą sowie ein Äquivalenzwert
(mittlerer Schätzungswert) A=5 (ro + ru) finden lassen. Sieht
man aber genauer zu, was die 4 Werte, die von Kraepelins
Schüler Higier?) bei einer sorgfältigen statistischen Bearbeitung
eines solchen »vollständigen An- und Abstieges« sowohl beim
Anstieg als auch beim Abstieg abgeleitet wurden, vom Stand-
punkte der noch umfassenderen Urteilsstatistik der Konstanz-
methode aus eigentlich bedeuten, so kommt man auf die im
folgenden nach Wirth als E, und E,„ bezeichneten Extreme
der sogenannten »Vollreihen< (G. E. Müller), bei denen alle
Urteile eindeutig >größer« oder »kleiner« lauten, sowie auf E,
und E., von denen an kein Urteil mehr »größer« oder »kleiner«
lautet. (Die 3 Häufigkeitskurven der Konstanzmethode der drei
Bauptfälle »größer«, >gleich« (unbestimmt) »kleiner< lassen keine
iteren »Grenzen« dieser Art bestimmen, da von den 6 Grenzen
.„r 3 Kurven g, u und k stets zwei mit anderen zusammenfallen,
gewöhnlich der Anfang und das Ende der mittleren Gleichheits-
oder Unentschiedenheitskurve mit E, und E,). Die Mittel r,
und r, für eine bestimmte Fortschrittsrichtung sind also einfach
die Mittel aus jenen Extremen r, =; (Eo + E'u) und ra =
- (Eu + E'u), wobei dann wieder je ein endgültiges Universalmittel
1) Experimentelle Prüfung d. psychophysischen Methoden im Bereiche
des Raumsinnes des Netzhaut. Wundt, Phil. Stud. VII, 282.— Vgl. auch
G. E. Müller S. 164 ff. u. besond. S. 176 ff.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 227
aus der Vereinigung der beiden Fortschrittsrichtungen entsteht.
Die prinzipielle statistische Unsicherheit, welche solchen Extremen
anhaftet, kann aber natürlich durch die selbstverständliche Ein-
deutigkeit bei nur einmaliger Ableitung einer Urteilsreihe am
allerwenigsten aufgehoben werden. Wenn aber einmal mehrere
Elementarreihen zur Verfügung stehen, hört jener Schein der
Eindeutigkeit im allgemeinen auf. Zur Auswahl von Repräsentanten
des Kollektives aus allen diesen Reihen miteinander liegen dann
andere statistische Prinzipien viel näher als dieMittelwerte jener Ex-
treme. Die Minimaländerungs- oder Grenzmethode hört daher über-
haupt auf, ein eigenes Berechnungsprinzip zu sein, und man
hat einfach die Konstanzmethode als Universalmethode der Urteils-
statistik zu verwerten).
b) Zur Frage der rechnerischen Elimination
der Einflüsse der Raum- und Zeitlage.
Eine besondere Aufmerksamkeit erfordert bei dieser stati-
stischen Verarbeitung noch die Elimination der schon oben
genannten Einflüsse der Raum- und Zeitlage in den mit Ar,
Al usw. charakterisierten Kombinationen der Elementarreihen.
Sie verändern die Maße der Unterschiedsschwelle, Streuungs-"
mae und Äquivalenzwerte um eine bestimmte Fehlergröße f,
die man bei nicht zu großem absoluten Betrage für entgegen-
gesetzte »Lagen« entgegengesetzt gleich, also als +f und — f
anzusetzen pflegt. Hinsichtlich der Elimination dieser Fehler durch
eine rechnerische Verbindung des Beobachtungsmaterials aus ent-
gegengesetzten »Lagen« ergibt sich aber nun ein prinzipieller
Unterschied für zwei Hauptkategorien von Werten, für
die »Hauptwerte« im engeren Sinne Fechners und für die +
»Streuungsmaße«. Zu denHauptwerten in diesem Sinne gehören: ;
Der Äquivalenzwert 5 (ro + Tu), aus dem der sogenannte >kon- ~
stante Fehler. c = H — (ro + ru) berechnet zu werden pflegt,
sowie die Müllersche Unterschiedsschwelle > (ro — Tu), ins-
besondere das halbe Idealgebiet der Gleichheitsfälle, das mit
der nach dem Prinzip des arithmetischen Mittels berechneten
US. S (A) = > (ro (A) — ra (W) identisch ist. Bei dieser fällt
1) Wirth, Psychophysik S. 282.
15*
228 Friedrich Noßke,
der Wert aus der Totalreihe mit dem Mittelwerte der
gefundenen analogen Partialwerte zusammen, die aus den
Partialreihen nach dem nämlichen Verfahren berechnet
worden sind. Diese Gesetzmäßigkeit tritt allerdings nur bei
der Berechnung nach dem sogenannten unmittelbaren Ver-
fahren rein hervor, insbesondere bei der Berechnung nach
dem Prinzip des arithmetischen Mittels. Denn sowohl
A 2) = 5 (ro (M) + ra N) als auch S = 5 (ro N — ra (A)) sind
Funktionen der beobachteten relativen Urteilshäufigkeit g, u, k,
bei denen die Abweichungen der Grenzen roi, roz usw. sowie
Tal, Tu2 USW. von den Universalmitteln r, und rą, in der ersten
Potenz mit ihrem algebraischen Vorzeichen zur Geltung
kommen. (Ähnliches gilt auch für den Zentralwert A (C), der
analog aus den Grenzreizen r, (C) und r, (C) gefunden wird, bei
denen g und k = 0,5 wird, und der linear interpoliert zu werden
pflegt, sowie für die zu S (A) analoge Unterschiedswelle S (C).
Dagegen ist diese einfache Gesetzmäßigkeit in dem » Verfahren
mittelst Formel« dadurch verdeckt. daß sich hier zwischen die
beobachteten g und k und die abgeleiteten Mittelwerte A und S
ein (nur bei bloß zwei Reizstufen in eine eindeutige Berechnung
übergehendes) Ausgleichungsverfahren einschiebt, bei dem
eine mit den beobachteten relativen Häufigkeiten viel kom-
plizierter zusammenhängende Funktion für ihre Totalkurve, die
®-Funktion vorausgesetzt wird. Fechner kannte in der
Methode der r- und f-Fälle nur dieses mittelbare Verfahren und
glaubte daher ganz allgemein nur sein Verfahren der »voll-
ständigen Kompensation« zur Elimination der Zeit- und Raum-
lagefehler der einzelnen Partialreihen empfehlen zu müssen.
Hierbei findet man das Totalmittel erst aus den einzelnen, unter
Zugrundelegung der -Funktion berechneten Partialwerten.
Dagegen verwarf er die Vereinigung aller Reihen zu einer
Totalreihe mit direkter Berechnung eines einzigen Totalwertes
A oder S als »Verfahren der unvollständigen Kompensation«
als ungenau. G.E. Müller ist ihm hierin nachgefolgt 1). Wäre
Müller bei seiner späteren Berechnung der US. aus dem
»Idealgebiete der Gleichheitsfälle« auf diese Frage der Elimi-
nation der systematischen Zeit- und Raumfehler zurückgekommen,
so wäre schon dort die vollständige Kompensation von
1) G. E. Müller a. a. O. S. 72.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 229
Fehlern dieses Idealgebietes in dem Resultate der vereinigten
Totalreihe, das er weiter oben so allgemein ablehnte, bereits
deutlich hervorgetreten.
Ganz anders liegt jedoch die Sache bezüglich
der Streuungsmaße M,, Ma und des von Wirth emp-
fohlenen Gesamtstreuungsmaßes M, das mit dem Fechner-
1
schen Streuungsmaß iya nach Halbierung der »Gleichheits-
fälle« identisch ist.) Hier gehen nämlich in das Totalstreuungs-
maß die Schwankungen der partiellen Äquivalenzwerte A,, A2 · · Am
mit ein, auf welche die Partialstreuungen bezogen sind. Das
nämliche gilt aber dann natürlich auch für die unten ebenfalls
betrachtete mittlere Variation der Schwelle Du, Do bezw. A und
bezüglich der gleichfalls beigezogenen wahrscheinlichen Fehler
der Schwellen, d. h. dem halben Abstand zwischen den Punkten,
wo g und k gleich 0,25 bezw. 0,75 wird. Je größer also die
Schwankungen des Äquivalenzwertes innerhalb der einzelnen
Partialreihen sind, um so mehr wird hier das aus der Total-
reihe direkt berechnete Totalstreuungsmaß M die analogen
Werte Mı, M2 --- M, übersteigen. Am einfachsten ist dies
wieder bei dem unmittelbaren Verfahren, und zwar vor allem
bei dem mittleren Fehler, also bei M, wobei das Totalmittel M
aus den Partialmitteln M, M,-- und ihren einzelnen Ab-
weichungen (A, — A), (A,—A)--- vom Totaläquivalenzwert A
durch die Beziehung folgt:
n M? = Z M; + Z (A, — A)”. [1]
n ist die Anzahl der Partialgruppen und » der Index der ein-
zelnen Gruppen !). |
Auch die Beziehung des Gesamtstreuungsmaßes M zu den
oberen und unteren Streuungen M, und M, der Grenzreiz-
mittel r, und ru und den G. E. Müllerschen Schwellen
*) Anm. des Herausgebers. Der Verf. hat im Manuskript nach
meiner bisherigen Symbolik das Gesamtstreuungsmaß mit dem großen
griechischen Buchstaben M bezeichnet. Ich schlage aber nunmehr vor, das
vom Setzer oft hierfür gesetzte lateinische M ohne Index stehen zu
lassen, da die einfachen Strenungsmaße der Grenzreize r, und r, mit ihren
Indices M, und M, hiermit nicht zu verwechseln sind. Ebenso lassen wir
unten für die mittlere Variation A bei Halbierung der Gleichheitsfälle das
lateinische D eintreten.
1) Wirth, Archiv f. d. ges. Psych. 24 S. 166 ff. und Spez. psychophys.
Maßmeth. S. 160.
230 Friedrich Noßke.
I g (ro — ru) — Su befolgt diese Gesetzmäßigkeit, da eben
2 M? = M? + Me? F S? H Su” (2]
gilt. Wenn also z. B. aus zwei Partialreihen zunächst die
Gesamtstreuungsmaße M, und M, und die Äquivalenzwerte A,
und A, (s. u.) nach den Wirthschen Formeln berechnet werden,
so sind die beiden Kurvensysteme g,,, k,, und g,,, K, um
(A, — A,) gegen einander und um (A— A,), (A—A,, d i
5 (A, —A,) gegen den Totaläquivalenzwert A = 5 (A, + A,) ver-
schoben, und es muß daher für das Totalstreuungsmaß M der
gemischten Kurve g und k die Beziehung gelten:
2M—M+M+S (A, —A,) [3
Sind also z. B. M, und M, unter sich annäherd gleich, so kann
trotzdem das Totalmittel M beliebig weit über sie hinaussteigen,
je weiter die Schwerpunkte A, und A, der beiden Kurvensysteme
gegeneinander verschoben sind, während die Müllersche
mittlere Totalschwelle 2 S bei beliebigen Schwankungen des
Äquivalenzwertes A aus der Totalreihe direkt ebenso gefunden
wird wie beim Umweg über die Partialschwellen 28,,28,...2 Sa.
Für die Statistik der U.S. ist es daher von Bedeutung, ob
man die Frage des Weberschen Gesetzes nur mit der
Müllerschen Schwelle zu klären glaubt, oder ob man zugleich
und vielleicht sogar in der Hauptsache zum Prinzip des
Streuungsmaßes greift. Würde man nur die Abhängigkeit der
Müllerschen Schwelle vom Normalreiz untersuchen, so könnte
man sich ohne weiteres auf den aus der Totalreihe berechneten
Wert beschränken, falls nur die Variationen innerhalb der Total-
reihe, die von den verschiedenen Lagen Al usw. abhängen, wie
zufällige Fehler entgegengesetzt gleich groß betrachtet werden
dürfen. Das Mittel dieser Größen in den einzelnen Partialreihen
würde hierbei nur von diesen systematischen Einflüssen gereinigt
werden.
Soweit dagegen das Streuungsmaß als mittlere Grenze
für die eindeutige Unterscheidung interessiert, wird man auch
dann, wenn man nur die Partialstreuungsmaße von systematischen
oder zufälligen Fehlern reinigen will, erst das Verhalten der
Partialäquivalente A,,A,..An in Betracht zu ziehen haben.
Wären diese Werte zufällig konstant, dann würde natürlich
das zweite Glied 2(A, — A)? der rechten Seite von Formel [1]
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 231
verschwinden und die direkte Berechnung des Totalmaßes M
würde wie bei S und A mit dem Mittel aus den Partialmaßen
M, usw. zusammenfallen. Im allgemeinen aber wird dies nicht der
Fall sein. Wenn nun in diesen Partialäquivalenten eine syste-
matische Abhängigkeit von den speziellen Versuchsbedingungen
der Partialreihen nach Raum- und Zeitlage usw. erkennbar
wäre, so müßte diese von einem direkt aus der Totalreihe
berechneten Maß M erst abgetrennt werden, um die unkon-
trollierbaren Schwankungen des Urteils zu erlangen, die in
jenem Streuungsmaß als Abgrenzung der eindeutigen Unter-
scheidung bei gegebener Raum- und Zeitlage allein für sich
zum Ausdruck kommen sollen. Zu dieser Abtrennung der Äqui-
valenzschwankungen von dem Mittelwert der zufälligen
Streuung braucht man aber freilich nicht die partiellen Streu-
ungen selbst nach ihren immerhin schon etwas komplizierteren
Formeln zu berechnen, sondern nur die Partialäquivalente,
da ja die Größe 4.2 M,’ dann nach Gl. [1] leicht aus dem
Totalstreuungsmaß M und dem Totaläquivalent A durch einfache
Subtraktion zu finden ist. (Nur wenn in den Partialstreuungen
eine irgendwie systematische Änderung, z. B. ein einseitiger
Übungs- oder Ermüdungsfortschritt zu suchen ist, müssen sie
natürlich auch im einzelnen berechnet werden.)
Wenn aber die Partialäquivalente ohne systematische
Beziehung zur Raum- und Zeitlage, also unkontrollierbar um
den Totalwert herumschwanken, wird man diese ÖOszillationen
der Größen (A,— A) von der Partialstreuung als dem Maß
der Fähigkeit zur eindeutigen Unterscheidung ebensowenig ab-
zulösen haben, wie die Schwankungen des einzelnen Urteils
zwischen richtig und falsch in dem Unsicherheitsbereich in den
einzelnen Partialreihen selbst. Die mittlere Partialstreuung
> M,’ würde dann einen nur zufällig kleineren Wert der Un-
sicherheit vortäuschen, der auf der empirischen Beschränkheit
ihrer zu kleinen Partialkollektive beruht und durch die Er-
fahrungen des vollständigeren Kollektivgegenstandes überholt
wird.
Freilich ist bei einer Fraktionierung des Materials in Partial-
gruppen zur Berechnung von partiellen Repräsentanten zur Be-
stimmung der Elimination systematischer Lageeinflüsse stets erst
zu fragen, ob den Untergruppen überhaupt noch ein hinreichendes
232 Friedrich Noßke,
Gewicht verbleibt, andernfalls man sich doch im wesentlichen auf
die Totalrepräsentanten beschränken und die Äquivalenzschwan-
kungen einfach als theoretisch gleichwertig mit zufälligen Urteils-
schwankungen auffassen wird.
c) Die vorläufige Beibehaltung der gegebenen Gruppierung
des Berechnungsmaterials.
Kraepelin selbst hat uns nun sein Material bereits in 20 Gruppen
geordnet übergeben, nämlich für beide Vpn. zu jeder der 5
Hauptreizstufen je zwei Untergruppen. Von diesen enthält die
eine 40 nur auf-ab-, die andere 40 nur ab-auf-Elementarreihen,
die sich aus je fünfmaliger Absolvierung jener 8 Reihen ArBr..
Al ergeben. Wollte man nun bei der Anwendung der Konstanz-
methode auf dieses Material völlig homogene Partialreihen ge-
winnen, in denen nur noch unkontrollierbare (zufällige) Fehler
(keine systematischen Zeit-, Raum- oder Richtungsfehler mehr)
vorkommen, so müßte diese inDoppelreihen des vollständigen
Auf- und Abstieges mit je n — 5 konstanten Darbietungen der
Reizstufen in einer bestimmten Abstufungsrichtung bestehen.
Dabei wären also zunächst auch die verschiedenen Abstufungs-
richtungen bei Wiederholung der nämlichen Reizstufe im zweiten
Teil der Elementarreihe noch gesondert gedacht. Es wären also
16 verschiedene Unterschiedswellen S (halbes Idealgebiet der
Gleichheitsfälle), Präzisionsmaße M und Äquivalenzwerte A zu
bestimmen, die mit den paarweise als entgegengesetzt gleich
groß angenommenen „Fehlern“ jener Lage und Richtungseinflüsse
behaftet zu denken sind. Hierbei würde aber der Hauptvorteil
der großen Versuchszahlen für eine möglichst allgemeingültige
Bestimmung von S und M nicht zur Geltung gebracht. Nachdem
wir oben erkannt haben, daß zur Elimination der Lagenfehler
für Sund A eine separate Ableitung überhaupt unnötig ist, und
daß auch bei M der Totalwert eine selbständige und vielleicht
sogar universellere Bedeutung beanspruchen kann, so werden wir
zunächst alle Elementarreihen der Kraepelinschen Gruppen,
von einigen vorher angedeuteten Fraktionierungsbeispielen ab-
gesehen, zu einem Ganzen vereinigen. Außerdem komprimieren
wir aber innerhalb jeder Elementarreihe die Doppelreihe des
vollständigen Ab- und Aufstieges in eine gewöhnliche Reihe der
Konstanzmethode mit je einmaligem Vorkommen aller Stufen des
Vergleichsreizes zwischen den Extremen 5 und l15ihrerrelativen
Werte, wobei also nur diese Extreme je einmal, V=H dreimal,
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 233
die übrigen Stufen je zweimal vorkommen. Das Fraktionierungs-
beispiel wird diese Beschränkung auf die Totalrepräsentanten der
Gruppe zu je 40 Elementarreihen auch im allgemeinen, außer
etwa für den Normalreiz 5 g, gerechtfertigt erscheinen lassen.
Insbesondere wird sich unsere Prüfung des Weberschen Gesetzes
bereits im wesentlichen an der Hand der Totalreihen vornehmen
lassen.
Da die Konstanzmethode ganz besondere Verfahren nach dem
Prinzip des arithmetischen Mittels gestattet, wenn sie sich auf
sogenannte »vollständige Reihen« mit Einschluß der beiden Ex-
treme des sicheren »größer«- und »kleiner«-Urteiles stützen kann,
so werden wir die 20 Totalreihen, die Kraepelin unterschieden
hat, vor allem auf diese Vollständigkeit zu betrachten haben.
Dabei tritt übrigens auch die Ungleichmäßigkeit, daß die Grenzen
der Abstufung mit den relativen Werten 5 und 15 nur je einmal
vorkommen, zurück, insofern an diesen Grenzen ohnehin häufig
bereits Eindeutigkeit der Beurteilung auf Grund des sonstigen
Verlaufes der »psychometrischen« Kurven für die relative Häufig-
keit g und k anzunehmen ist. Um die zwanzig Gruppen Kraepelins
in Zukunft kurz bezeichnen zu können, halten wir weiterhin
folgende Numerierung ein:
Mit dem kleinsten Normalreiz beginnend, zählen wir zunächst
jedesmal Vp. J, dann Vp. E, und bei jeder Vp. zuerst die »ab-
aufsteigende«, dann die »auf-absteigende« Reihe. Wir erhalten
somit folgendes Bild:
N.R.:O1g| 05g bg 50 g 500 g
Vp. J ab-auf 1 5 9 13 17
J auf-ab 2 6 10 14 18
E ab-auf 3 7 11 15 19
E auf-ab 4 8 12 16 20
d) Der Aufbau der Kollektivgegenstände (Hauptgruppen)
der von uns berechneten Repräsentanten.
Wenn wir von vereinzelt auftretenden Fehlentscheidungen
in den Grenzgebieten absehen, befinden sich unter den genannten
20 Hauptgruppen 11 Vollreihen in dem eben genannten Sinne
G.E. Müllers. Nur bei dem kleinsten Hauptreiz 0,1 g, bei dem
das Unsicherheitsgebiet unverhältnismäßig groß war, sind bei
dem hier in Anwendung gekommenen Abstufungsbereiche zwischen
0,05 g und 0,15 g keine Vollreihen erreicht worden. Ebensowenig
gelang dies bei den zeitlich zuerst ausgeführten Reihen mit 5 g
234 Friedrich Noßke,
als Hauptreiz, da hier das Unsicherheitsgebiet infolge mangeln-
der Übung ebenfalls noch sehr groß war.
An jedem Tage machte jede Vp. zwei Elementarreihen durch,
eine A- und eine B-Reihe (oder in umgekehrter Reihenfolge).
In dem ersten Zeitabschnitt der Versuche, während der zweiten
Hälfte des Jahres 1885, wurden die Versuche mit gleichem
Normalreiz an aufeinanderfolgenden Tagen ausgeführt; später
gehen zwei Reihen verschiedener Reize nebeneinander her, um
die Unterschiedsschwellen für diese beiden Reizstufen nament-
lich hinsichtlich der Einübung möglichst vergleichbar zu machen.
Jener erste Abschnitt erstreckt sich auf die Reize 0,5 g und
5 g, und diese Hauptreize sind auch später nicht mehr vor-
gekommen. Auch liegt zwischen ihnen und der gleichmäßiger
verteilten Fortsetzung der Versuche ein Zeitraum von über
zwei Jahren. In dieser zweiten Hauptgruppe von Februar bis
Mai 1888 kam außer den Reizen 50 g und 500 g auch noch
der schwächere Reiz 0,1 g zur Untersuchung. Die zeitliche Ver-
teilung der oben unterschiedenen Hauptgruppen ist aus der
folgenden Tabelle zu ersehen.
; Normal- |Versuchs-| Reihen-
— | Naa [oeron |
j * absteigend 5g E 11
8.—27. 7. 1885 | ; F
* aufsteigend 5g E 12
28. 7T.—10. 8. 1885 | € i io
292, 11 18 12 1885 | absteigend | 0,5 g 5 7 I. Periode
. . . . ` 0,5 g J 5
* aufsteigend 0,5g E 8
14.—22, 12. 1885 | i 058 > :
10. 2.—8. 3. 1888 | absteigend | 0,1g E 3 abwechselnd
l l ET
v4 absteigen g od. auch jed.
12. 2.—8. 3. 1888 | 08 r E AA
— aufsteigend Olg E 4
7, 8.—6. 4. 1888 | 01: E >
2* absteigend 500 g E 19
4. 8.—10. 5. 1888 | 500 & z i
aufsteigend 50 g E 16
T EER 1888 | RE - Ý
w aufsteigend| 500 g E 20
11. 4.—4. 5. 1888| ; 500 & z 2:
Keine der gemachten Beobachtungen wurde fortgelassen oder
wiederholt, selbst wenn das abgegebene Urteil von den Nachbar-
urteilen abwich. Allerdings gab es bei dem Normalreiz 0,1 g
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 235
und den Vergleichsreizen zwischen 0,05 g und 0,15 g, wie schon
erwähnt, manchmal die Erscheinung, daß überhaupt nichts ge-
fühlt wurde. Der Versuch wurde dann wiederholt, bisweilen
mehrere Male, bis ein Urteil möglich war. Die Versuche, bei
denen diese Wiederholungen stattfanden, sind in den Original-
listen durch Unterstreichungen kenntlich gemacht. Sie betreffen
ausnahmlos Versuche mit dem Hauptreiz 0,1 g und umfassen
10—15°/, der Versuche.
An einer Stelle findet sich die Bemerkung: >Nachmittag viel
Aufenthalt im Freien, es wurde schlecht gefühlt.< Sonst sind
keine Störungen verzeichnet, die die Urteilsabgabe beeinflussen
könnten. Daß an einem Tage einmal zwei A-Reihen gemacht
worden sind, wurde am nächsten Versuchstage durch zwei B-
Reihen ausgeglichen. Bei der Einordnung in die Gruppen sind
die Umstellungen berücksichtigt worden.
e) Konkrete Beispiele zweier Hauptgruppen.
Von den genannten zwanzig Gruppen Kraepelins zu je
40 Elementarreihen füge ich von beiden Vpn. je eine Reihe in
Abschrift bei, und zwar von J für den größten Hauptreiz 500g,
von E für den kleinsten 0,1g; eine Sonderstellung nehmen die
gewählten gegenüber den 18 anderen Gruppen nicht ein. (Tab. 1
S. 236/237.)
Die eingetragenen Zahlen geben ebenfalls, wieinKraepelins
Protokoll, einen konkreten Versuchstatbestand wieder. Das Urteil
wurde nämlich stets in der Weise abgegeben, daß die Versuchs-
person angab, ob der zuerst oder an zweiter Stelle dargebotene
Reiz der stärkere war. In unseren Tabellen bedeutet also
die Ziffer »1«, daß der erstgebotene Reiz, gleichgültig ob er
Hauptreiz oder Vergleichsreiz war, als größer empfunden wurde;
im anderen Falle steht »2«. Daneben wurde noch das Urteil
>—« abgegeben, d. h. beide Reize wurden als »gleich« empfunden.
Das Urteil »Unentschiedene wurde nicht abgegeben. Bei den
paarweise nebeneinanderstehenden A- und B-Reihen mit ihrer
entgegengesetzten Zeitlage des Hauptreizes kommt also das
nämliche Urteil durch ungleiche Zahlen zum Ausdruck, insofern
bei H zuerst das Urteil V kleiner mit 1, bei V zuerst mit 2 zu
bezeichnen ist. Eine solche Konstanz der Beurteilung in der
auf- und absteigenden Reihe tritt bei den Reihen von J mit dem
großen Normalreiz 500g deutlich zutage.
236 Friedrich Noßke,
| e — — — — — — ga a a N N Ka OAI N ON ON —
Al e e OA AT ANI A A AT AI AN A A O d t d at a OT OI
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Versuchsperson J
Tabelle la.
Hauptreiz 500 g
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ab-auf-Reihe
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März 1888
|
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|auuaauaunuanuan | mmmemmm
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N m e e e e e e u EN EN EN ES EN N AN AN
r.
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Reihe 17
ANNANN NNNANA | e e e t e oe e e ee
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| OI e e e e e e e e AN AN AN AN AN AN
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Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 237
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nu AN ANI NI AI o a se OG a a OAI COI COI COI OI AT
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Versuchsperson E
A N N AN AN I N AN EN A NE
AIAN Co - A ANT AN A ANT A A su O a aa GO a AT
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NANNAN NN m N Tee
CI AI A m e um — OT AI COI OI OI OAI AT A Il AI AI AT
-e N N AN I a A A A A NN o
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m N AN AN AN AN AN NN TEN AN TEN m
Seele e OI OT O o o emd COI C
auf-ab-Reihe
Eu N AN AN ANI N AN AN m AN NEN I —
NNNNA MANNA | A m a N e AN AN AN AN m m A
OI o e CO OI e e e O O e a OAI NANTA | -
Tabelle 1b.
O] e e e A a o a a OAI O I AT I ANT ANI OAI NI N n —
ANNAN N AN A AN AN A AN e N o e O e e | Ta
m A N N I INTERN
N N AN m o a m a CAI AT AI AT AI AN I OAI OI COI A mim
COI e t a i e CO OT e t e GOIG a OI COI OI O n COI RN
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März 1883
26 | 21 | 22 | 23 | 24 25 26 27 29 80
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Hauptreiz 0,1 g
| AIN e em e A e A e O t OAI AI N
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Pod i pi i y — i a a GO O a a COAN GOG O NI NI Ne N
O] r d g o CN O a NI O N I AN ANI N ON I I a a AN
NNNNA NNA = | NANN AN A m e I e e A
N m AN AN N A N A I A N O e e e e o e | O
OI CONI o OAI et y t a GOI t GI t a OI OI AT m COG COI COI O
Pi — N CO a O ee a ON OON O a a OG a
Reihe 4
ra 17 | 18
N N m N AN N N AN N m m e O | o e e ea e OAI
be en N S m E SA E AERE, VOER E NEE nn E N Tg E E S E a ENE
B= E e e a a a
— gd — — — — — — — — — Run |
238 Friedrich Noßke,
Wir bilden nun gemäß der Zusammenfassung der Kraepelin-
schen Protokolle aus jeder solchen Gruppe von 20 Elementar-
reihen mit der A-Zeitlage und aus 20 mit der B-Zeitlage eine
Kollektivreihe zur Behandlung nach dem Prinzip der Urteils-
statistik der Konstanzmethode, in welcher die Urteile ohne
Rücksicht auf die Zeitlage der Reize eindeutig auf bestimmte
Stufen des variablen Reizes bezogen zu werden pflegen.
Zu diesem Zwecke mußte ich also die Angaben 1 und 2 der
Urlisten je nach der Zeitlage des Normalreizes entsprechend
umdeuten. Führen wir dies wieder an den Reihen 17 und 4
aus, so werden wir folgendes Bild der absoluten Häufigkeiten
der Beurteilung jeder Reizstufe erhalten, wenn die Zahlen 1 und
2 in die gewöhnliche Bezeichnung k,u,g, bezogen auf den variablen
Vergleichsreiz, übergeführt werden (Tabelle 2).
Tabelle 2.
Reihe 17 A-Reihen B-Reihen
Bezeichnung — absolute
der Werte ä b
Beurteilg. des peia
Vergl.- Reizes
zE o w|
16 39 1 0 40 40
7 40 0 0 40 40
8 36 3 2 82 40
9 27 4 1 34 40
10 16 17 6 22 60
11 4 4 7 10 40
12 1 0 1 5 40
18 1 0 0 2 40 *
14 0 0 0 0 40
15 0 0 0 0 20
Reihe 4 A-Reihen B-Reihen
— absolute
Urliste - Häufig-
Urteil: u. keit
Reizstufe: 5 12 0 8 0 20
A 6 20 1 19 1 40
7 29 2 9 0 40
8 21 2 17 0 40
9 21 1 18 2 40
10 29 0 31 1 60
11 15 1 24 1 40
12 9 2 29 0 40
13 7 0 33 0 40
14 7 0 33 0 40
15 7 0 13 0 20
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 239
Ich habe nun im folgenden die Elementarreihen A und B
zusammengelegt, so daß also auf jede der Stufen des Vergleichs-
reizes, abgesehen von der dem Hauptreiz gleichen und den beiden
Extremen, je 80 Einzelurteile entfallen. Wir numerieren die
11 Stufen des Vergleichsreizes mit den Indizes r = 0 bis 10,
wobei also r= 5 die dem Hauptreiz gleiche Stufe bedeutet,
welche in den 40 Elementarreihen 120 mal beurteilt wurde. Die
beiden Extreme r= 0 und r= 10 kamen nur je 40mal vor. Ist
n diese absolute Zahl, so ist also:
D =40 n,=120 no =40 n,=80 für x=1,2,3,4, 6,7,8,9.
Wollen wir aber bei der Rechnung mit den relativen Häufig-
keiten gemeine Brüche mit dem nämlichen Nenner und ganzzahligen
Zählern benützen, so müssen wir den Generalnenner 240 = 2 . n,
= -no (bezw. ô- n) =3-nx wählen. Bei ausschließlicher Ver-
wendung der A- oder B-Reihen genügt natürlich die Hälfte 120
als Generalnenner. Auf der beiliegenden Tabelle 3 sind wieder
die Reihen 17 und 4 aufgeführt, und zwar:
1. die relat. Häufigkeiten der A-Reihen
(Nenner 120 ist zu ergänzen).
2. die relat. Häufigkeiten der B-Reihen
(Nenner 120 ist zu ergänzen).
3. die relat. Häufigkeiten der Gesamtreihe
(Nenner 240 ist zu ergänzen).
Tabelle 3.
Vp. J. H==500g.
Reihe 17. À B Gesamt :
V < = > < = > < = >
5 120 — — 120 — — 240 — —
6 117 8 — 120 — — 237 3 —
7 120 — — 120 — — 240 — —
8 108 9 8 96 6 18 204 16 21
9 8&ı 12 27 12 — 18 183 12 45
10 82 84 5 44 32 44 76 66 98
11 12 12 8 80 21 69 42 83 165
12 8 — 117 15 8 102 18 8 219
18 8 — 11 6 — 114 9 — 281
14 — — 120 — — 1% — — %40
15 — — 120 — — 120 — — w0
240 Friedrich Noßke,
Vp. E. H=0,1g.
Reihe 4. A B Gesamt:
V — — — S A n a
108 — 12 180 — ©
8&7 383 30 17 6 8
738 — 4&2 165 6 69
75 — 4 1388 6 %
54 6 60 117 9 114
72 2 46 180 2 108
54 3 63 f 9 6&6 1
72 — 48 99 6 135
8 — 8 54 — 18
36 — +84 57 — 18
45 — 78 84 — 156
II. Graphische Darstellung.
(Mit einer vorläufigen Prüfung des Weberschen Gesetzes.)
Wir vergegenwärtigen uns für die 20 Totalreihen, die wir
aus den 20 Gruppen des Kraepelinschen Protokolls in der
oben S. 237 genannten Weise abgeleitet haben, den Verlauf der
drei Kurven für die relativen Häufigkeiten der 3 Urteilsfälle F; (x),
F. (x) und F; (x), bei denen die Abszissen die Vergleichsreize sind. Auf
jeden der beobachteten Normalreize 0,1 g, 0,5 g, 5 g, 50 g und
500g trafen somit 4 Gruppen, je zwei für jede der beiden Vpr
E und J, wobei die eine die Zeitlage der Abstufungsrichtung
ab - auf, die andere auf-ab enthält. (Für diese Gruppen ist
S. 233 die auch weiterhin benutzte Numerierung angegeben).
Dabei ist wenigstens bei je einer Gruppe für jeden. Normalreiz,
nämlich bei Gruppe 1, 5, 9, 13 und 17 der Vp. J zwischen den
Zeitlagen A und B des Haupt- und Vergleichsreizes unterschieden
worden. Im folgenden sind diese 3 Kurven wenigstens für die
beiden Gruppen 5 und 17 wiedergegeben, also für die »auf-ab-
Reihen< mit den Normalreizen 0,5 g und 500 g der Vp.J, bei
denen auch noch zwischen Zeitlage A und B (vgl. S. 225) unter-
schieden worden war. Für die Zeitlage A des Normalreizes (N
voraus) ist die Kurve ausgezogen, für B gestrichelt, u. z. beide in der
nämlichen Figur. Für die Kurven der u-Fälle gilt der nämliche
Maßstab der relativen Urteilshäufigkeiten von O bis 1 wie für
die vier übrigen Kurven der g-und u-Fälle. (Figur 1 bis 6.)
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 241
Außerdem wurde für sämtliche Gruppen die Kurve k’ mit der
Fechnerschen Halbierung der Gleichheitsfälle, also k’ = k -+ 5.
entworfen, welche zu der Kurve g =g +5 in der eindeutigen
Beziehung ’=1-—-Kk’ steht, also sie zur relativen Häufigkeit 1
ergänzt, da hierbei nur die beiden Möglichkeiten »größer«
oder »kleinere unterschieden werden. Hierfür sind die Kurven
der 5 Gruppen 4, 8, 12, 16 und 20 der Vp. E als Beispiel ab-
gebildet, also für die auf-ab -Reihen aller Normalreize 0,1 bis
500 g (Figur 7 bis 11). |
Aus dieser graphischen Darstellung läßt sich aber offenbar
unsere Hauptfrage bezüglich der Gültigkeit des Weberschen Ge-
setzes bereits bis zu einem gewissen Grade rein anschaulich lösen,
daja die Abstufung der Vergleichsreize zum Hauptreize proportional
war (vgl. S. 224) und die abgeleiteten Kurven sich stets über
die nämliche Anzahl solcher relativ gleicher Stufen erstreckten. -
Bei einer genauen Gültigkeit des Weberschen
Gesetzes müßte sich also einfach für sämtliche
Reizstufen das nämliche Kurvenbildin denvonuns
gewählten Maßen der Reize und relativen Häufig-
keitenergeben. In Wirklichkeit zeigen sich jedoch von diesem
übereinstimmenden Verlaufe schon auf den ersten Blick Abweichun-
gen. Ein Teil der Gruppen sind sogenannte vollständige Reihen, > Voll-
reihen«, bei denen die Vergleichsreize bei ihrer Abstufung sich
so weit vom Äquivalenzwert entfernt haben, bis sämtliche wieder-
holten Darbietungen der extremen Reizstufe eindeutig das Urteil
»kleiner« oder »größer« ergaben. Diese Extreme des Unsicher-
heitsgebietes werden bei 5 Gruppen völlig erreicht; in 6 weiteren
Gruppen fehlt bei nur einer von den beiden äußersten Reizstufen
je ein einziger Urteilsausfall bis zu dieser Eindeutigkeit, was
bei 80 Beurteilungen als i offenbar für das Gesamtbild und seine
vorläufige Veranschaulichung des Weberschen Gesetzes nicht
weiter in Betracht kommt. Man kann bei diesen Reihen als
wahrscheinlich annehmen, daß die nächste Reizstufe völlig ein-
deutig beurteilt worden wäre und somit die nur um eine Reiz-
stufe erweiterten Reihen Vollreihen sein würden. Die Urteils-
kurven der übrigen 9 Gruppen bleiben dagegen für beide Urteils-
arten zum Teil noch wesentlich hinter der vollen Höhe der
relativen Häufigkeit 1 zurück. Die Abweichung vom Weberschen
Archiv für Psychologie. LII. 16
242 Friedrich Noßke,
a
5 6 7 8 9I WM RN MW TS
Fig. 1. Fig. 2.
Reihe 5 Vp. J Kurve der k Reihe 5 Vp. J Kurve der u
WEE EE RE ——— 4 BERN —
56789 DM TR TR WISS 5 6 7 89 mn nn 13 m
Fig. 4. Fig. 5.
Reihe 17 Vp. J Kurve der k Reihe 17 Vp. J Kurve der u
Gesetze zeigt sich nun darin, wie sich diese unvollständigen
Reihenauf dieeinzelnen Reizstufen verteilen. Da-
bei ist allerdings noch nichts darüber ausgemacht, ob bei einer
solchen Unvollständigkeit der Reihe sowohl die extremen Urteils-
arten »größer« und >kleiner« als auch die Gleichheitsfälle zahl-
reicher und weiter ausgebreitet sind als bei den vollständigen
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 243
7= 1729
0,50}
0.25
0 : 0
5 6 7 8 9 0 A23
5 10 15
Fig. 3. Fig. 7.
Reihe 5 Vp. J Kurve der g . Reihe 4 Vp. E Kurve der x
GTS i
950
0,25
0 0
5 6 7 8 9 O-N 23 MW NS 5 10 15
Fig. 6. Fig. 8.
Reihe 17 Vp. J Kurve der g Reihe 8 Vp. E Kurve der k'
300 100 100
0,75 015! 0,75,
Q © D-
8 8
an S
8 8
rA
D D N
O
8 S
5 70 = 5 10 75
Fig. 9. Fig. 10. Fig. 11.
Reihe 12 Vn.E Kurved.k’ Reihe 16 Vn.E Kurved.k’ Reihe20 Vp.E Kurve d.k’
244 Friedrich Noßke,
Reihen, wie es bei einer Übereinstimmung hinsichtlich des Gauß-
schen Gesetzes der Fall sein müßte, oder ob nur eins dieser beiden
Symptome der Unsicherheit deutlicher hervortritt. Die bloße Be-
trachtung der allgemeinen Kurvenform im ganzen gestattet aber
auch hierüber ein unmittelbares Urteil, da sich die Anzahl der
Gleichheitsfälle an dem Flächeninhalt der mittleren Kurven ab-
schätzen läßt. Denn bekanntlich ist bei relativ gleichem Abszissen-
maß die relative G. E. Müllersche Unterschiedsschwelle diesem
Flächeninhalte proportional.
Bei den einzelnen Normalreizen erhielten wir folgendes Bild:
Beim Normalreize 0,1 g finden wir keine Voll-
reihe, was also darauf hinweist, daß der zu schwache Reiz
nur mit einer größeren relativen US. verglichen werden kann,
wie dies nach unserer historischen Betrachtung (S. 208) ‚mit der
bisherigen Erfahrung übereinstimmt und als untere Abweichung
des Weberschen Gesetzes unterhalb der Kardinalwerte bezeichnet
zu werden pflegt.
Beim Normalreiz 0,5 g ist ebenfalls noch keine
Vollreihe vorhanden, doch fehlt bei zwei von den unvollständigen
Reihen nur je ein Urteilsfall in der obengennanten Weise zur
Eindeutigkeit der beiden Extreme (Gruppe 7 und 8).
Normalreiz 5 g: Die Unsicherheit der Beurteilung ist in
diesen Versuchen auffällig größer als für den kleineren Normal-
reiz 0,5 g, da sie ja, wie schon S. 220 ausdrücklich erwähnt wurde,
als die zeitlich frühesten am meisten unter der Ungeübtheit zu
leiden hatten. Eine Gruppe gehört immerhin auch hier zu jenen
beinahe vollständigen Reihen (Gruppe 12). Die Gruppen mit dem
Hauptreize 50 g zeigen einen ähnlichen Typus wie die mit dem
Hauptreiz 0,5 g, so daß in diesem Bereich das Webersche Gesetz
sich in der Tat schon für eine oberflächliche Betrachtung als
gültig erweist.
Beim Normalreiz 500g haben wir überall eine sichere
Erreichung der Vollreihen, zum Teil schon in einem kleineren
Abseissengebiete. Die allgemeine Unsicherheit zeigt sich somit
hier relativ kleiner als in den Gebieten 0,5 g bis 50 g, was zum
Teil auch schon von Kraepelin selbst hervorgehoben worden
ist und auf Übungsfortschritte und eine größere räumliche Reiz-
fläche zurückzuführen sein wird. Auffällig ist ferner bei den
Reizstufen 0,5 g und 5g ein wesentliches Übergewicht der
Gleichheitsfälle, woraus sich schon nach dieser Methode insbe-
sonders für die Müllersche U.S. des Idealgebietes der Gleich-
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 245
heitsfälle eine stark relative Verkleinerung nach oben hin er-
kennen läßt.
Unsere graphische Methode läßt endlich noch den Unterschied
zwischen den beiden Vpn. E und J hervortreten. Die absolut
oder beinahe vollständigen Reihen verteilen sich auf die einzelnen
Vpn. wie folgt:
J : Totalreihe 13, 14, 17, 18.
E: j 7, 8 12, 15, 16, 19, 20.
Es treffen also von diesen 11 Reihen beinahe doppelt so viel
(7) auf E als auf J (4). Da aber die Reizstufen für beide Per-
sonen die nämlichen waren, so kann man daraus erkennen, daß
das gesamte Unsicherheitsgebiet bei E wesentlich geringer war
als bei J. Auch finden sich bei E weniger Verkehrtheiten
erster und zweiter Ordnung; es findet bei E somit ein regel-
mäßigerer Verlauf der Urteilskurven statt. Eine Ausnahme davon
machen die Veruche mit 0,1 g. Dies ist um so auffälliger, als
die Reizschwelle bei J etwas größer war als bei E. Die von
Kraepelin selbst veröffentlichten Werte!) sind: E: 0,0886 g;
J: 0,0975 g. Wie weit hierbei die Wissentlichkeit des Verfahrens
mitgewirkt hat, läßt sich natürlich ohne Vergleichsversuche mit
völlig zufälliger Untermischung der Reizstufen nicht näher be-
urteilen.
Was endlich die graphische Prüfung des Einflusses der systema-
tischen Lage-und Richtungsunterschiedeanlangt,soläßtsichaufdiese
Art keine unterschiedliche Wirkung der beiden Zeitlagen des
auf und ab herausbekommen, die wir auch bei der Bildung der
Hauptgruppen mit Kraepelin auseinandergehalten haben.
Auch über den Einfluß der A- und B-Lage des Hauptreizes, auf
deren Unterscheidung wir in unseren Totalreihen bei der Be-
rechnung im allgemeiuen verzichtet haben, läßt sich aus den 5
Reihen der Vp. J., in denen wir A und B graphisch trennten,
nichts Abschließendes sagen. Bei Reihe 1 für 0,1 g sind die
A-Kurven nach rechts, die B-Kurven etwas nach links verschoben,
d.h. wenn der Normalreiz vorausgeht, so wird er im Vergleich
zu V etwas überschätzt. Es liegt ein positiver Zeitfehler im
Sinne Fechners vor. Das nämliche gilt bei Reihe 5 (vgl.
Fig. 1 bis 3) und 9 für 0,5 g und für 5g. Dagegen verhalten
. sich Reihe 13, 17 (vgl. Fig. 4 bis 6) und 19 für 50 g und 500g
entgegengesetzt, indem die punktierten Kurven der B-Lage
1) Vgl. S. 198 Anm. 1.
246 Friedrich Noßke,
etwas nach rechts rücken, also eine Unterschätzung des
vorausgehenden Reizes ergeben. Es scheint also hier eine
Abhängigkeit des spezifischen Lageinflusses von der Inten-
sität der Reize vorzuliegen, der an die Mitwirkung der
Schätzung nach dem absoluten Eindruck oder an Eigentümlich-
keiten des Erregungsanstieges denken läßt. Doch wäre hierüber
erst nach einer Prüfung sämtlicher Reihen in dieser Hinsicht
zu entscheiden, die wir hier noch nicht vorgenommen haben.
Die einzige Reihe 4 des Vp. E für 0,1 g, die wir oben S. 237
und Tabelle 2 analysierten, wurde jedenfalls aus der soeben er-
wähnten Regel bereits herausfallen, da bei ihr umgekehrt die
k-Kurve bei B und die g-Kurve bei A überwiegt, also das
A-System nach links, im Sinne einer Unterschätzung des N, ver-
schoben erscheint. Auch die unten rechnerisch behandelte Reihe
18 der Vp. J für Reiz 500 g zeigt die entgegengesetzte Tendenz
wie Reihe 17 bei der nämlichen Reizstufe und scheint auf
speziellere psychologische Ursachen des Einflusses der Lage A
und B hinzuweisen, da die Reihe 18 nach der Reihe 17 unter
sonst ähnlichen Bedingungen abgeleitet wurde (Vgl. Abschnitt V).
Von dem allgemeinen graphischen Überblick über die Urteils-
kurven gehen wir nun zu einer genauen Prüfung des Unsicher-
heitsgebietesan derHanddereinzelnen Repräsentanten,
d. h. der Hauptwerte und Streuungsmasse der hier abgeleiteten
Kollektivgegenstände der Schwelle über, die sich aus diesen Be-
obachtungswerten berechnen lassen. Dabei ergibt sich außer
den Maßen für die Unterschiedsempfindlichkeit stets auch gleich-
zeitig der Äquivalenzwert A des variablen Reizes im Vergleich
mit dem Normalreiz N, aus welchem sich die sogenannte mittlere
Schätzungsdifferenz
f=V—N
zwischen den mittleren Auffassungen des Vergleichs- und Nor-
malreizes finden läßt. Zugrunde gelegt wurden die Formeln in
der Form und Schreibweise, wie sie sich in Wirths »Psychophysik>
und »Speziellen psychophysischen Maßmethoden« finden ?).
1) »Psychophysik, Darstellung der Methoden der experimentellen Psycho-
logie« von W. Wirth, Leipzig, Hirzel, 1912, ist augenblicklich vergriffen.
Das darin enthaltene Formelmaterial findet man teilweise, und zwar er-
weitert und fortgeführt, in den »Speziellen psvchophysischen Maßmethoden«
von W.Wirth, erschienen im Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden,
herausgegeben von Abderhalden, in Abteil. VI A, Heft 1, Lieferung 4,
Urban u. Schwarzenberg, 1920 (einzeln käuflich).
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 247
IV. Die Resultate der Berechnung.
Die verschiedenen Berechnungsweisen von Repräsentanten
der Urteilskurven nach der Konstanzmethode der 3 Hauptfälle.
Das Material zerfällt hinsichtlich der Voraussetzungen für
die Anwendung bestimmter Methoden zur Berechnung der typischen
Werte in zwei Hauptgruppen. Einerseits sind 11 völlig
oder nahezu vollständige Reihen vorhanden, auf welche die
Formeln des sogenannten »unmittelbaren Verfahrens« ohne Vor-
aussetzung des Gaußschen Gesetzes auch insoweit anwendbar
sind, als sie nach dem Prinzip des arithmetischen Mittels
abgeleitet sind. Die übrigen 9 Reihen dagegen sind von diesem
Idealfall mehr oder weniger entfernt, lassen aber trotzdem eine
Reihe exakter Repräsentanten aus sich bestimmen. Eine völlig
einheitliche Behandlung ist allerdings nur mit diesen letzteren
Methoden möglich, die auf die unvollständigen Reihen ebenso
angewandt werden können wie auf die vollständigen. Immerhin
ist die Anzahl der Gruppen, die eine vollständige Reihe abzu-
leiten gestatten, groß genug und vor allem gleichmäßig genug
auf die einzelnen Reizstufen verteilt, um das Webersche
Gesetz auch an der Hand jener Werte des sogenannten »un-
mittelbaren Verfahrens« nach dem allgemeingültigsten Prinzip
des arithmetischen Mittels erkennen zu lassen.
1. Berechnung der Repräsentanten der Vollreihen
mittelst des unmittelbaren Verfahrens nach dem Prinzip
des arithmetischen Mittels.
Wir bestimmen hierbei zunächst getrennt die Mittel der zu-
fällig schwankenden oberen und unteren Grenzreize r, (X) und ra (W
und die Müllersche Unterschiedsschwelle S (A) = > (ro (W) — ra (W) )
sowie den Äquivalenzwert A (A) = 5 (ro (W) + ra (W).
Hierbei ist:
nM=E ti (zx — 5) ana ro (0) = E, —i (28— 3) 1) [4 und 5]
E. und E, sind dabei die Reize der Urteilskurven, von
denen an das Urteil eindeutig abgegeben worden ist; i ist das
Intervall zweier benachbarter Reizstufen. k und g sind die
1) Wirth, Psychophysik $S. 188/192.
948 Friedrich Noßke,
Summen der relativen Häufigkeiten der kl.- bezw. gr.-Urteile
zwischen E,„ und E,. Der Äquivalenzwert A ist gemäß seiner Be-
rechnung die Mitte des Schwellenbereiches. Als Streuungsmaße für
die Grenzreize werden die auf das arithmetische Mittel der beiden
Grenzreize bezogenen mittleren Fehler M, und M, berechnet.
Es ist!):
8
[2x 2) [6]
1 2
q ist die Anzahl der Reizstufen innerhalb des Gebietes der
Änderung der k, wobei E, mitzuzählen ist; p bedeutet dasselbe
für das Gebiet der g-Urteile. Die relativen Häufigkeiten werden
durchnumeriert in der Richtung der Zunahme der Ordinaten. Die
Abgabe von Gleichheitsurteilen oder Unsicherheitsurteilen ist
von subjektiven Bedingungen, die außerhalb der Unterscheidungs-
fähigkeit als solcher liegen, entscheidend mitbedingt. Man kann
demnach 2S nicht allein als Repräsentanten der Reihe ansehen.
Andrerseits darf man auch nicht, wie Müller gezeigt hat, die
Reziproken der Streuungsmaße der Grenzreize, also die So-
= 2la-n k, +(q-2) k+. 1 kyat
1
Mt- 2i lo- gı +P- 2) g+: le gaat g
1 1
genannten Präzisionsmaße h, = M VY hu — v allein als
o u
Maß der Unterscheidungsleistung betrachten. Das einheitliche
Maß muß demnach eine Funktion der drei Größen M., Mu und
S sein. Als diese Funktionen nehmen wir das Hauptstreuungs-
maß M, welches nach Wirth?) als Funktion der genannten
3 Größen der Beziehung genügt:
2 M? = M? + 2 S2? + M.’ [8]
und außerdem direkt nach den Formeln [6] und [7] nach Vor-
nahme der Fechnerschen Halbierung der Gleichheitsfälle aus
k’ und g’ berechnet werden kann. In mehreren psychophysischen
Untersuchungen hat sich dieses Hauptstreuungsmaß M als zweck-
mäßige Charakterisierung des Unsicherheitsgebietes bewährt.
Von F.M. Urban und Wirth sind auch die wahrscheinlichen
Fehler zu den wichtigsten Formeln für Unterschiedsschwelle,
1) Wirth, Psychophysik S.188, 192 und Spez. psych.-phys. Maß-
methoden S. 297.
2) Wirth, Ein einheitliches Präzisionsmaß der Urteilsleistung bei der
Methode der drei Hauptfälle und seine Beziehung zum mittleren Schätzungs-
wert. Arch. f. d. gesamte Psychologie Bd. 24 S. 142 ff.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 249
Streuungsmaße und Äquivalenzwerte nach dem unmittelbaren
Verfahren bestimmt worden. Da unser Resultat bezüglich des
Weberschen Gesetzes vor allem in dem einheitlichen Streuungs-
maß M zu erblicken ist, so wollen wir wenigstens auch den
wahrscheinlichen Fehler Wm angeben. Er beträgt*): [9]
0,675 i? > 1 ) \
= — 2X — = — k) — g; —Kk,)’
M M.-2.Vn 9 d [(g,+ y) 8, ») ] j
y=0,...10
Dabei bedeutet i wiederum das Reizintervall, M das Haupt-
streuungsmaß; 0,675 ist die Abkürzung von 0,67449
(log 0,67449 = 0,82897 — 1). DerRadikand ist eine Summe von
(10-1) allgemein (m -+ 1) Summanden. Der einzelne Summand ist
2
(2x3) [(g, + k, — —
Dabei ist Zk’ die Summe der kleiner-Urteile, denen die Hälfte
der gleich - Urteile zugeschlagen worden ist, » ist der Summa-
tionsindex. Der noch auftretende Faktor n (im Nenner als V n
vorkommend) ist die Anzahl, die angibt, wievielmal jeder Reiz
in der ganzen Versuchsgruppe geboten worden ist. Unter
der Voraussetzung, daß jeder Reiz gleich oft geboten worden
ist, erscheint Vn als ein allen Summen gleicher Faktor. Nun
ist diese Bedingung bei uns nicht erfüllt. Die Zahl n hat den
Wert 80 für die Reizstufen (relativ gemessen) 6, 7, 8, 9, 11, 12,
13,14 (vx = 1,2,3,4,6,7,8,9. Für die Extremreize ist n — 40
=0 und »=10) und für den Hauptreiz 10 ist n = 120
(x= 5). Auf diese Weise ist der Nenner n nicht bei allen
Summanden der gleiche. >Wenn nun die einzelnen Stufen x,
des Vergleichsreizes nicht gleich oft, sondern n, mal beurteilt
1
werden, kann natürlich Vn nicht als gemeinsamer Faktor vor-
angestellt werden, sondern es bleibt in
5 TE
v n. (. .. )
y
unter dem Wurzelzeichen.< Diese Abänderung von der oben
gegebenen Formel für den wahrscheinlichen Fehler gilt für alle
Formeln über wahrscheinliche Fehler. Daß die Extremreize
1) Wirth, Spezielle psychophysische Maßmethoden S. 318 als Formel
(191 ®),
2) Wirth, Spezielle psychophysische Maßmethoden S. 313.
250 Friedrich Noßke,
n, = 40 statt n, = 80 haben, beeinflußt die Formeln nicht, da
für diese Reizstufe in Anbetracht der zugrunde gelegten voll-
ständigen Reihen entweder g, oder k, an diesen Stellen 0
oder 1 ist und somit die Summanden für diese Reizstufe 0)
sind. Dagegen ist die Abänderung der Summenformel zu be-
rücksichtigen beim Hauptreiz 10, bei dem n,=120 ist. In
unserem Rechenschema bekommen demnach alle auftretenden
Summanden unter dem Wurzelzeichen den Nenner 80, nur der
eine Summand den Nenner 120).
Außer dem einheitlichen Streuungsmaß M nach dem Prinzip
des mittleren Fehlers läßt sich aber auch A nach dem Prinzip
der mittleren Variation, d. i. des Mittels aus den ersten Potenzen
der absoluten zufälligen Abweichungen bestimmen. Da aber M
und A unter Voraussetzung des Gaußschen Gesetzes für
die Schwankung in einem bestimmten Verhältnis zueinander
stehen müssen, so wird sich auch in dieser Bestimmung eine
erste Kontrolle für die Gültigkeit des Gaußschen
Gesetzes für die reduzierten Urteilskurven g’
und K’ ergeben.
Die auf alle Gruppen gleichmäßig anwendbaren Methoden
zerfallen in zwei Untergruppen.
Fürs erste lassen sich die mittlere obere und untere Unter-
schiedsschwelle r, und ru, ihre Streuungsmaße M, und M, und der
Äquivalenzwertt A nach der Methode der kleinsten
Quadrate berechnen, indem man das Gaußsche Exponential-
gesetz für die Kollektivgegenstände zu r, und rą voraussetzt
(Verfahren mittels Formel). Hierfür ist heute das so-
genannte Müller-Urbansche Gewichtsverfahren als exaktestes
Hilfsmittel anerkannt. F. M. Urban hat hierzu auch die Formeln
für die in der Methode der kleinsten Quadrate übliche Genauigkeits-
bestimmung, also die wahrscheinlichen Fehler der Schwelle usw.
berechnet. Wir berechnen diese Werte wenigstens an einigen
Beispielen, um die überall ungefähr relativ gleiche Dimension
der Genauigkeit bei dieser Berechnungsmethode mit derjenigen
nach der anderen Methode vergleichen zu können.
Dabei läßt sich auch wieder das soeben schon beim unmittel-
baren Verfahren benützte einheitliche Streuungsmaß M
1) Man setzt trotzdem bei der Ausführung der Rechnung den Faktor
gg vor die Hauptwurzel und erteilt sofort beim Summieren dem Gliede 5
2
das Gewicht 3.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 251
zur Charakterisierung der mittleren Ausdehnung der Unsicherheits-
region unter diesen nämlichen Voraussetzungen ableiten, an der
Hand dessen das Webersche Gesetz eine besondere einheitliche,
der Neigung zu mittleren Gleichheits- oder Unsicherheitsurteilen
überhobene Prüfung gestattet. Man kann hierbei M entweder
direkt als Funktion der nach Müller-Urban gewonnenen Werte
2 S = (ro — ru), Mo und M, nach der Formel [8] für M berechnen,
wobei kein neuer Äquivalenzwert resultiert, oder man kann
zuerst die Gleichheitsfälle nach Fechner halbieren, was, wie
schon gesagt, von Wirth als gleichwertig mit dieser Berechnung
von M nachgewiesen wurde, und dann erst das Müller-
Urbansche Ausgleichungsverfahren anwenden, das hierbei
wegen der Einführung der Methode der kleinsten Quadrate in
den verschiedenen Stadien der Berechnung natürlich nicht zu
genau den nämlichen Werten führt. Es ergibt sich deshalb
auch ein neuer Äquivalenzwert A’ = En +-ru). Es wird weiter
unten zu prüfen sein, ob diese Differenzen groß genug sind, um
bei ausschließlichem Interesse für die allgemeine Charakterisierung
der Gesamtunsicherheiten bei den einzelnen Reizstufen und der
Abweichung des mittleren Schätzungswertes A vom Hauptreiz H
den Umweg über die gesonderte Berechnung einer oberen und
unteren Schwelle und der Müllerschen Schwelle (r — ra) neben
der direkten Berechnung nach der Fechnerschen Halbierung
der Gleichheitsfälle überhaupt noch notwendig zu erachten. Es
wird weiterhin von besonderem Interesse sein, den schon von
Urban an dem Material von Keller geprüften Grad der Über-
einstimmung dieser nach verschiedenen Verfahren gewonnenen
Resultate zu untersuchen.
Zweitens lassen sich aber auch ohne Voraussetzung des
Gaußschen Gesetzes im sogenannten »unmittelbaren Verfahren«
nach Müller dieZentralwerte der Schwelle r, (C) und ro (C)
am einfachsten linear als die Werte —— bei denen die
Kurve der größer- bezw. kleiner-Urteile den Wert 1 5 * °/,) erreicht.
Damit ist auch ein neuer Äquivalenzwert A (C) = — (ro (C) + ra (C))
festgelegt. Als oberes und unteres Streuungsmaß nach dem
nämlichen Prinzip des Zentralwertes würden hierzu die wahr-
scheinlichen Fehler der Kollektivgegenstände für die Grenzreize
Ta und ro gehören, wie sie ohne Voraussetzung des Gaußschen
252 Friedrich Noßke,
Gesetzes als der halbe mittlere Streuungsbereich dieser
Grenzreize zu definieren sind. Sie entsprechen dem Abstande
des Zentralwertes r (C) mit g = k = 50 °/, von den ebenfalls zu
interpolierenden Stellen, an denen g und k darunter und darüber
25°/, und 75°/, erreicht. Da aber nach dem nämlichen Prinzip
des Zentralwertes auch ein Äquivalenzwert nach der Fechnerschen
Halbierung der Gleichheitsfälle direkt ableitbar ist, so läßt sich
ihm auch ein einheitliches Streuungsmaß nach diesem Prinzip
des wahrscheinlichen Fehlers an die Seite stellen, das nach dieser
Reduktion der Kurven auf g’ und k’ den halben Abstand
zwischen den Vergleichsreizen bei 25°/, und 75°/, bedeutet.
2. Die Behandlung der Vollreihen nach dem Prinzip des
arithmetischen Mittels.
a) Die Müllersche Schwelle 2 S, die mittleren Fehler M., Mu
und M und der Äquivalenzwert.
DieSpearman-Wirthschen Formeln sind auf die 11 Voll-
reihen anwendbar. Da für die einheitlichen Streuungsmaße
und Äquivalenzwerte die Halbierung der Gleichheitsfälle (u-Fälle)
und die Reduktion der Kurven auf g’ und k’ entscheidend ist,
so geben wir zunächst in einer Tabelle die Häufigkeitsordinaten
dieser reduzierten Urteilskurve g’ = (z + z") mit der auch K'
durch die Gleichung k’= 1 — g' eindeutig gegeben ist. Durch
die Halbierung der Gleichheitsfälle müßten wir den gemeinsamen
Nenner 480 benützen. Wir behalten aber den Nenner 240 bei.
Dadurch können im Zähler Zahlen mit dem Nenner 2 auftreten.
Ihre Bezeichnung ist: 207’ = 207!/,) (Tabelle 4).
Tabelle 4.
Gruppe:
SODANN OD CS
—
60 | 15 | 65, 84 | 24 | 24 3 0 | 51 | 30
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 253
Gruppe:
222 |237 |240 |284 |234 |234 |240 |240 | 240
0| —5 5 240
1 — 4 6: {219 |238' |240 |234 |240 |222 | 238’ | 237 |240 | 240
2| —3 7 210 238’
3| —2 8 i 229
4| —1 9 207
5 0 10 145
6 1 11 69
7 2 12 31’
8 3 13 9
9 4 14 0
10 5 15 0
(Zu ergänzen: Nenner 240; 207' = 207 !/,.)
Die Ergebnisse der Rechnungen nach den genannten Formeln
(4), [5], [6], [7], [8] und [9] sind in Tabelle 5 geordnet. Diese
Tabelle gestattet sofort die Prüfung des Weberschen Gesetzes,
da bei der relativen Konstanz der Stufen der Vergleichsreize
bei allen 5 Normalreizen auch die Berechnungsgrößen (Schwelle,
Äquivalenzwert, Streuungsmaß) in relativen Werten erscheinen.
Da hierbei N = 10 ist, so gibt die Abweichung des Wertes A (XW)
von 10 die relative Schätzungsdifferenz.
Tabelle 5.
*7 | E| 085g | 9,325| 10,038 oma 9,681|1,942|2,150|2,079! + | 0,0690
*8 | E|05«| 9,760! 10,508] 0,751 |10,129|2,114 1,921 |2/067| + | 0,0657
“12 | E| 5g8| 9384| 10,917) 1,533 10,160|1,948| 1.792|2'001| + | 0,0562
*13 | J | 50g| 9,613] 10,571| 0.958 | 10.092) 1,708 |1,732| 1,416! + | 0,0673
*14 | J | 508 | 9,550|10,046| 0,496 | 9,798 2.068 |2,043|2.070| + | 0,0891
*15 | E| 6508| 9,792|10.208| 0.417 |10,000 2,158|2,141|2,159| + | 0,0672
"16 | E| 50g | 9.750|10,046| 0.296 | 9,898|2,261,2'339|2,305 | + | 0,0726
17 | J |500 g| 9,717|10,254| 0,537 | 9,986|1,453) 1,466 1,479| + | 0,0576
18 | J |500 g | 10,129) 10,579| 0,450 | 10,854] 1630| 1,428] 1549| + | 0,0677
19 | E|500 g| 9858| 9.968|0,100 | 9,908|1,575|1,596|1,686| + | 0,0639
20 | E | 500 g |10,254| 10,492| 0238 10,373] 1,463) 1,307 | 1,387| + | 0.0567
Zur Betrachtung der Tabelle 5 sind noch folgende Bemer-
kungen zu machen:
*7 bedeutet: In den mit * versehenen Reihen fehlt noch ein
Urteil (von 40) zur vollen Eindeutigkeit bei einem der extremen
relativen Vergleichsreize 15 oder 5; bei **16 je eins bei beiden
Extremen 5 und 15. Alle Rechnungen sind doppelt ausgeführt
worden: 1. mit den relativen Häufigkeiten der Tabelle 4, so daß
die Nenner 240 zu ergänzen sind; 2. mit den in Dezimalzahlen
254 Friedrich Noßke,
verwandelten relativen Häufigkeiten. (Grundlage der Rechnung
3 Dezimalstellen) Außer diesen Kontrollen ergibt sich eine
wesentliche Kontrolle in der mehrfachen Berechnung von M nach
den 3 Formeln:
— > Mt +284 M’) [8]
M? =2|( Jors + 2% 5) j [10]
M? = 2i|( Xe- v) g'» + 5) — (De — 5) i [11]
wobei die beiden letztgenannten Formeln die Formeln 185* und
186* aus Wirths »Speziellenpsychophysischen Maßmethoden « sind.
Aus der letzten Spalte ersieht man, daß der Bestimmung von
M theoretisch nach diesem Prinzip, bei dem nur das Bernoulli-
sche Theorem für die beobachtete Urteilshäufigkeit vorausgesetzt
zu werden braucht, ein außerordentlich hoher Genauigkeitsgrad
zukommt, der aber auch schon in anderen Untersuchungen empi-
risch kontrolliert worden ist, und auch hier wieder durch Frak-
tionierung der großen Versuchsreihe geprüft werden könnte.
Berechnen wir nun zu den in Tabelle (5) angegebenen rela-
tiven Zahlen die absoluten Werte, so ergibt sich folgendes Bild
(Tabelle 6).
Tabelle 6.
Gruppe | Normal | Ta (%) To Q) 2 S (W) A (U) M (A)
7 05g
8 0,5 g
12 bg
13 50 g
14 50 g
15 50 g
16 50 g
17 500 g
18 500 g
19 500 g
20 500 g
b) Die mittlere Variation und die Prüfung des Gaußschen
Gesetzes für die Urteilshäufigkeiten g’ und K'.
Eine erste einfache Prüfung der Annäherung der Verteilungs-
funktionen f,(x) und fa(x) der Grenzreize r, und rą, an das Gauß-
sche Gesetz bezw. der beobachteten Urteilskurve F,(x) und F.(x)
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 255
an die ®-Funktion, d. h. die Summenfunktion zum Gaußschen
Gesetz finden wir, wenn wir die mittlere Variation D der
Schwellenwerte berechnen. Wir beschränken uns auf den Fall,
wo die Gleichheitsfälle halbiert worden sind. Die beiden so
erhaltenen Kurven f,(x) und f’,(x) sind zufolge ihrer Beziehung
fx) + fo(x) = 1 spiegelbildlich zur Parallelen zur x-Achse im
Abstande 5
Bezeichnet E, die Vergleichsreizabszisse, bei der k’=1 wird,
und E, die Abszisse für g’=1, ferner S den Schnittpunkt der
gelegen.
beiden Kurven g’ und k’, bei welchem g = k' = 5 sein muß,
so ist die mittlere Variation A = D*) das von den Punkten En S E,
begrenzte Flächenstück!), wobei die jeweiligen Abszissen im
Teile E, S die Werte g’, sind, zwischen SE, die Werte Kl, Das
Flächenstück zerfällt sinngemäß in zwei Teile, die durch die
zur Abszisse r(><) gehörige Ordinate getrennt werden. Der Wert
r(x) ist als Schnittpunkt der beiden Verteilungskurven wegen
ihrer symmetrischen Struktur als der Zentralwert einer der beiden
Kurven zu berechnen. Da dieser Wert im allgemeinen nicht
auf eines der beobachteten Reizintervalle fallen wird, muß er
durch lineare Interpolation gewonnen werden. Bei der Zählung
der Intervalle von O bis 10 möge der Schnittpunkt zwischen
x, und x,-+ı liegen, also
X, <IX)<X,+1-
Wir nennen die Restbestandteile a und £:
r(>x<) — X, =a X„+1ı— r(x) = $, wobei a + f =1
sein muß.
Fig. 12.
*) Vgl. die Anm. des Herausgebers S. 228.
1) Vgl. Wirth, Archiv f. d. ges. Psychologie Bd.24, 1912, S. 143 u. 1631.
256 Friedrich Noßke,
Nach den Trapezformeln gemäß der linearen Integration er-
gibt sich:
Des +++ + Wut gultalgu+ 5)
+E (3+ Kari) + gl +]
da die Höhe der einzelnen Trapeze bezw. Dreiecke gemäß den
äquidistanten Reizstufen jedesmal 1 ist. Bei den in der Nähe
des Schnittpunktes liegenden Trapezen sind die Höhen a und $.
Wir erhalten:
1
D=g' +g +, tgltagut+zga+R
eE E kunt + kur
D-Igıtzltagutz +5 (E Ap 2:
0.
u lu +2---10
Die Rechnung sei an dem einen Beispiel der Gruppe 7 aus-
geführt, deren Werte k 'und g’ in Tabelle 7 zusammengestellt sind.
(Bei k’ und g’ zu ergänzen Nenner 240.)
Der Schnittpunkt der k- und g-Kurven liegt bei:
Tabelle 7. 24
— + 46
vK |g also ist: 4<r(x)<5 |
EI P
2 223 18 D= gol0 +13 +16+48 +t -96 + 60°)
4 | 144 | 9% 1,43
6 | 102 | 138 — 102 +63 +24+19+9+0).
e | 63 | 177
7 | 24 |216
8 | 19 | 220 = zig (78 -4 75,36 + 60 + 72,93 + 115,5)
10 | © |210 — 1,674.
Die Berechnung liefert die Resultate, die in Tabelle 8 zugleich
in Verknüpfung mit den Resultaten nach dem direkten Verfahren
zusammengestellt sind:
l) Wegen des Nenners 240 muß in der Rechnung er der Wert 60 an-
gesetzt werden.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 257
Tabelle 8
— D
7 eg
8 1,738
12 1,663
13 1,363
14 1,656
15 1,220
18 1,897
17 1,192
18 1,127
19 1,268
20 1,108
Dabei bedeuten die Spalten: D die nach dem eben entwickelten
Verfahren berechnete mittlere Variation der Schwelle; M das
Hauptstreuungsmaß nach dem direkten Verfahren, entnommen
aus Tabelled. D: M ist = Quotient dieser beiden Zahlen.
Aus den Beziehungen h = —— und h = — ergibt sich das
My2
Verhältnis: y
D : M = y2 : yx = 0,79788 (abgerundet 0,798).
(Wirth, Psychophysik S. 108.)
Der Mittelwert aller 11 Quotienten ist 0,803 und zeigt eine
erstaunlich genaue Übereinstimmung mit dem idealen
Wert 0,798. Die Schwankung um diesen Mittelwert
ist offenbar sehr gering. Auch bei den einzelnen
Reihen ist die Abweichung nie über 9!/,°/,, wobei dieses Maximum
des Fehlers nach unten (M zu groß) bei Reihe 18 vorliegt, die
auch nach anderen weiter unten betrachteten Kriterien vom
Gaußschen Gesetz am meisten abweicht. Dies ist also zugleich
der Beweis dafür, daß wir auf diesem Gebiete weiterhin auch
da, wo dieses unmittelbare Verfahren nicht möglich ist, das
Gaußsche Gesetz als Ausgleichungsfunktion nach der Methode
der kleinsten Quadrate einführen dürfen, das wir im nächsten
Paragraphen auf alle Reihen gemeinsam anwenden wollen.
3. Anwendung des Müller-Urbanschen Gewichtsverfahrens.
(Nach Wirth, Psychophysik S. 213ff. und F. M. Urban, Die
Praxis der Konstanzmethode 1912.)
a) Allgemeine Gesichtspunkte.
Das Müller-Urbansche Gewichtsverfahren ist im An-
schluß an das Rechenschema, das Wirth in seiner Psychophysik
Archiv für Psychologie. LII. 17
258 Friedrich Noßke,
für äquidistante Reize gegeben hat (und solche Reizstufen liegen
hier vor) durch Urbans vollständige Tabellierung aller in Be-
tracht kommenden Ansatzmöglichkeiten überaus erleichtert worden.
Dort findet sich eine Tabelle der Gewichtswerte P und der Pro-
dukte und Quadratprodukte dieser Zahlen mit y, dem Argument
des Wahrscheinlichkeitsintegrals. Man kann dann sofort alle
auftretenden Reihen tabellieren und braucht nicht erst die ein-
zelnen Summanden aus Produkttafeln zu gewinnen. Auf diese
Weise kann die Bestimmung der Größen h und c aus einer
Beobachtungsreihe in kurzer Zeit gewonnen werden. Aber auch
beim ungünstigen Falle der Reihenanlage, d.i. bei nicht-äqui-
distanten Reizen, kann man bei Benutzung moderner Rechen-
maschinen die in früherer Literatur angegebene Zeit von zwei
Stunden auf eine halbe Stunde herabdrücken. Kann man die
Tabelle, wie sie sich bei Urban findet, in ihrem vollen Ausmaße
benutzen, so werden 20 Minuten zu einer Bestimmung genügen.
Ohne Zuhilfenahme mechanischer Apparate und demgemäß not-
wendiger Kontrollen durch doppeltes Rechnen glaube ich, auf jede
Reihe zwei Stunden verwendet zu haben.
In der Bezeichnung richte ich mich nach der Form, wie sie
Urban bei seiner Tabelle angegeben hat:
a = Px? t PLH = [Px] = [ray]
b, = P, + PR te = [Px] = [ra]
b, = P, Pete = [P] = [T] [13]
m, = 7, P, X, + ys Ps X, +. = [y Px] = [d Tt]
m, = 7, P, F rPe tH = [yP] = [Tt]
dabei entsprechen einander die Größen P, x,y und T, d, t. Die
aufzulösenden Gleichungen für c und das Präzisionsmaß h lauten:
a, h — b, c = m,
b, h — b, ¢ = m,
und liefern die Auflösung :
— Mb, — b m — bım, — a m, ’)
n= a, be — b,? = a,b, — b,” n4
Man hat also die drei Ausdrücke zu berechnen:
Zähler h: m, b, — b, m, = A = [Tt d]. [T] — [Tt . [ra]
Zähler c: b, m, — a, m, = B = [Td]. (Tat) — [Td?]. [Tt]
Nenner (für beide): a,b, — b° = N = [r4 [T] —[[Td}
Wirth S. 212,
Da die meisten Resultate relativ berechnet worden sind, kann
1) In Urbans Arbeit finden sich bei den Auflösungsformeln zwei störende
Fehler; ebenso steht in seinem Rechenbeispiel bei c das falsche Vorzeichen.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 259
man hier für alle zwanzig Gruppen den gleichen Ansatz ver-
wenden. Bei dem großen hier vorliegenden Kraepelinschen
Beobachtungsmaterial können wir außerdem die Anwendungs-
möglichkeit des Urbanschen Verfahrens nach vielen Richtungen
auf ihre Genauigkeit und Vorzüge prüfen.
Der Hauptreiz 10 wird stets der Nullpunkt der Rechnung;
die relativen Reizintervalle sind je 1, so daß die Vergleichsreize
heißen!) :
— 5, — 4, — 3, — 2, — 1, 0, +1 + 2, +3, +4 +5.
(Eine Reihe mit einer geraden Anzahl von Reizstufen haben wir
nicht, doch wird auch dieser Fall einer Kontrollrechnung zu-
grunde gelegt.) Die Rechnung würde sich noch weiter verein-
fachen, wie Urban hervorhebt, falls mit den Vergleichsreizen
gerade 25, 50 oder 100 Versuche gemacht worden sind (da er
die relative Häufigkeit [p genannt) in zweistelligen Dezimalzahlen
angibt), was hier allerdings nicht der Fall ist, da sich in jeder
Reihe für die einzelnen Reizstufen 40, 80 oder 120 Beobachtungen
finden. Wir müssen demnach die einzelnen relativen Häufigkeits-
zahlen, die den Generalnenner 240 besitzen,®) in Prozentzahlen
umrechnen. Bei der notwendigen Beschränkung auf zwei Dezimal-
stellen werden Abrundungsfehler auftreten können, die nach den
allgemeinen Rechenvorschriften von der Größe der dritten Dezimal-
stelle abhängen. Sie können in allen Fällen als einander auf-
hebend betrachtet werden, auch in weiteren Rechnungen, mit
Ausnahme des Falles, wo die Zahl 5 an dritter Stelle auftritt.
Ich habe deshalb ein Beispiel durchgeführt
1. mit jedesmaliger Abrundung nach oben,
2. unter Verzicht auf Erhöhung.
Sind die erhaltenen Resultate wenig voneinander abweichend,
so kann man ohne Bedenken die allgemeine Rechenvorschrift
mit Aufrundung anwenden. Sind auf diese Weise alle Zweifel
betreffs der Anwendungsmöglichkeit des Urbanschen Verfahrens
geklärt, so können wir die Rechnungen folgen lassen.
b) Einfluß der Abrundung bei auftretender 5 als dritte
Dezimalstelle.
Den Einfiuß der Abrundung will ich an den beiden Beispielen
der®) A- und B-Reihe 18 prüfen, auf die wir in Abschnitt V
1) Vgl. Tab. 4 S. 242, 2) Ebenda.
3) anderweit auch als Muster dienenden
17*
260 Friedrich Noßke,
nochmals zurückkommen. Rechnet man die gegebenen relativen
Häufigkeiten, die den Generalnenner 120 haben, in die Prozent-
zahlen p der Tabelle 9 um, so haben wir in Reihe A dreimal,
in B viermal (bei 11 Spalten) an dritter Stelle 5. In I ist an
dieser Stelle nicht erhöht worden, in II ist erhöht worden.
Tabelle 9.
I
Alı
gii 86 1,
u 86 | 89 1,00
Das Resultat zeigt Tabelle 10.
Tabelle 10.
Ba Zu Zo N | h | c M
20,833 | 14,665 | 44,766 | 0,454 0,328 1,557
19,674 | 18,575 | 42,458 | 0,463 0,320 1.526
-B I 25,6% 0,305 59,943 0.429 0.051 1,65U
u 25,758 | — 0,995 59,143 0,463 0,017 1,624
Die Differenzen betragen in h 2°/, und 1?/,°/,, in M 2°, und
1?/,°/,. Die prozentualen Abweichungen untereinander zeigen,
daß die Werte gut, bis zur zweiten Dezimalstelle über-
einstimmen. Bei Reihen, in denen die Abrundungsüberlegung an
weniger Stellen auftrat, das ist bei den meisten Reihen der Fall,
werden die Differenzen naturgemäß noch geringer.
c) Verstellung der Urbanschen Skala bei unsymmetrischem
Aufbau der Reihe.
Bei symmetrischer Annahme des Aufbaues um den dem
Hauptreize entsprechenden Vergleichsreiz ist anzunehmen, daß
die Extremwerte O und 1 in gleichen Abszissenabständen vom
Hauptreize erreicht werden. Ist dies nicht der Fall, wie im
Beispiel 2 die Reihe A II von 18 (die Reihe erstreckt sich von
— 2 bis 44), so können wir die Indizes um 1 verstellen. Es
entsteht dann aus der Reihe:
AII 18|—2 —-1 0 +1 +2 +3 4+4
p=0,| 05 08 29 69 83 90 $8 ja
die Reihe: | —3 —2 —1 0 +1 +2 +3ı
p=0,| 05 08 29 69 83 90 98 J
Man erhält Tabelle 11.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 261
Tabelle 11.
2 Z, N h
AT 18 19,674 | 138,575| 42,458 | 0,468 1,526
Verschoben | 19,674 |— 6098| 42,450 | 0,468 B 144 1'526 | $
Wir sehen in h uad M eine bis zur dritten Stelle reichende
Übereinstimmung. Für ca und cs muß zufolge der Verschiebung
um 1 die Beziehung gelten:
Ca S. __
ETET.
d) Kontrolle der Rechnung durch die Richsche »Checking-
Tabelle«.
In »The Essentials of Mental Measurement« von William
Brown und Godfrey Thomson, Cambridge 1921, findet sich
eine Tabelle von Rich, welche die nach der Urbanschen
Methode ausgeführten Rechnungen kontrolliert (check). Sie ist
nach folgendem Prinzip aufgestellt:
Bei der Berechnung finden wir folgende vertikale Spalten:
x p P yP xP x’P yxP
—5 0,13 0,215 — 0,4950 — 3,1075 15,5375 2,4751
und von den (im ganzen 11) horizontalen Reihen sind die verti-
kalen Summen zu bilden unter Einhaltung der Vorzeichen. Das
Ziel ist, wie in Formel [13] angegeben, die Summierung
b, = ZP, m, =2yYP,b=2ıP, a, =2x'P, m =2yıP
Schreibt man in eine anschließende Spalte jedesmal die Summe
der in gleicher Horizontalen stehenden
P+yP+xP+xr’P-+yxP)
so bekommt jede Zeile eine Summenzahl (genannt »total«); diese
Zahl hängt nur ab von x und p. Addiert man diese »total« s,
so muß man die gleiche Zahl erhalten wie bei der Addition von
b, -+ m, + b, + a, + m,.
Auf diese Weise haben wir eine Kontrolle für die richtige An-
wendung der Urbanschen Tabelle und eine Kontrolle für richtige
Addition. Die Rich-Checking-Tabelle enthält zwei Eingänge:
senkrecht p, gehend von 0,00 bis 1,00; wagrecht x von — 7
bis +7. Sucht man den Schnittpunkt der beiden Eingänge x
und p, so erhält man im Beispiel x = — 5, p = 0,13 die Zahl
15,0316. Dies ist die ausgerechnete Summe von
0,6215 — 0,4950 — 3,1075 + 15,5375 + 2,4751 = 15,0316.
Die Summe dieser Zahlen ergibt die Kontrolle.
262 Friedrich Noßke,
Tabelle 12.
Beispiel der Anwendung: g'-Urteile der Reihe 2
x | p | Check-Tab. andrerseits
5 | 089 20,1706
4 | 024 12.0670
3| 029 6.9567 A
2 | 08 3,0314 a
; AE 1: ZyP= 0,0207
1 | 036 0.9542 m —
0 | 04 8860 ie
> Zxp= 87,1024
1 | 064 3.2464 ee lan
2 | 087 7.3915 vxP= 110087
3 | 089 13/1642 106,3574
4 | 08 16.9667
5 | 08 21.4227
106,3574
Die Möglichkeit, diese Tabelle zu benutzen und eine Kontrolle
für die Addition zu haben, empfindet man als angenehm; aller-
dings darf nicht verschwiegen werden, daß sie die Hauptrechnung,
die Berechnung von Z», Z. und N, nicht kontrolliert. Hätte
man eine Kontrolle für diese Operation, die sich in eine nur
wenige Seiten lange Tafel bringen ließe, so wäre diese ungleich
wertvoller. Trotzdem würde ich es für angenehm halten, wenn
diese Check-table, erstmalig erschienen in Amer. Journ. Psycho-
logy 1918 XXXIX, denen, welche die Urbansche Tabelle be-
nutzen, leicht zugänglich gemacht werden könnte.
e) Durchführung der Rechnung nach dem Urbanschen
Verfahren.
Es wurde berechnet für alle 20 Gruppen.
I. bu cu bo co Mu Mo 2S A und M.
Dabei ergeben sich h, und Cu einerseits, họ und cC, andrer-
seits durch je einmalige Anwendung des Urbanschen Rechen-
schemas. Daraus wurden gefunden:
€ o Co Cu Co Cu
—— M=1:h,Y2, Be, T 2A=, +,
[15] [16]
und nach [8] 2 M? = M? + 2 S? -+ Ma’.
Dabei ist in Formel [15] und [16] besonders das Vorzeichen
der einzelnen Glieder zu beachten.
II. Nach der Halbierung der Gleichheitsfälle genügt zur Be-
rechnung ein Rechenschema. Dies ergibt c und h. Daraus er-
hält man M = 7
—
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 263
Die Resultate der Rechnungen I finden sich in Tabelle 13;
die aus II in Tabelle 14.
Tabelle 13.
ı | J | o1 | 0508 | 10,888 | 6,023 | 8,090 | 6,078 | +0,88
2 | J | 01 ! 0806 | 9681 | 5227 | 5,058 | 5.183 | — 0,319
3 | E | 01 | 0234 | 10180 | 8.080 | 5.952 | 6'057 | +0180
4 | E | o1 |0175 | 9838 | 8222 | 7805 | 8'018 | — 0.182
5 | J | 05 | 0501 | 9806 | 3318 | 3513 | 3435 | — 0,194
e | J | 05 |0854 | 10375 | 3'818 | 3014 | 3.189 | -+0375
7 | E | 05 |0346 | 9698 | 2035 | 2041 | 2108 | —
8 | E | 05 |0348 | 10,112 | 2245 | 1,741 | 2038 | +0112
9 |J 5 | 0925 | 9718 | 4541 | 5941 | 5.122 | — 0237
10 | J 5 | 0.538 | 10,877 | 4304 | 8.606 | 3'369 | + 0.377
1 | E 5 | 1,201 | 10.065 | 2845 | 2308 | 3183 | + 0,055
2 | E 5 | 0,746 | 10,199 | 2081 | 1,770 | 2071 | +0,199
8 | J | 50 |0469 | 10116 | 1810 | 1879 | 1.912 | +0116
14 | J | 50 | 0207| 9768 | 2219 | 2184| 2218 | — 0.82
15 | E | 50 | 0199| 9934 | 2377 | 2369 | 2381 | — 0'u66
16 | E | 50 |0138 | 9862 | 2374 | 1524 | 2489 | — 0.188
17 | J | 500 | 085 | 9977 |1 1512 | 1,582 | — 0,028
ı8 | J | 500 | 0.188 | 10,332 | 1663 | 1,532 | 1587 | +0332
19 | = | 500 | 0,100 | 9948 | 1.828 | 1.629 | 1.832 | — 0'052
20 | E | 500 | 0,190 | 10,77 | 1,460 | 1,285 | 1,888 | +0,477
Hauptreiz | M =h 1
Gruppe V3
< ç
[0 Koi) 701 OUO a pt pad pand
-
eo0o000>0
O OONO NED
hamt
Analog dem Rechenprogramm im unmittelbaren Verfahren
hat hier die Behandlung des wahrscheinlichen Fehlers
zu erfolgen. |
Bei der Berechnung der mittleren oder auch wahrscheinlichen
Fehler der Repräsentanten, die nach dem Müller-Urbanschen
Verfahren berechnet worden sind, ist als Hauptrechnungsgröße
der mittlere Fehler der Ausgleichung, M zu berechnen.
2 Pv’?
m— 2
M = +
264 Friedrich Noßke,
wobei v, die einzelnen Beobachtungsfehler darstellen, die nach
Einsetzung des berechneten h und c in die m einzelnen Be-
obachtungsgleichungen t, = hx, — c übrig bleiben und wieder
mit ihren Gewichten P, in den mittleren Fehler M einzurechnen
sind!). Der Gang der Rechnung ist also folgender:
Nach Berechnung von h und c ist zu bestimmen
tv = h. xy — c, wobei in unserem Falle x, die Werte — 5,
—4...—1 0,1... +5 annimmt. Da dies 11 Werte sind,
ist (m — 2) = 9; diese Zahl verkleinert sich bei den Vollreihen.
Aus den erhaltenen Werten t, ist, ausgedrückt durch die Fechner-
schen Symbole, Z, zu bestimmen. Zu diesem Zwecke müssen
wir aus der Fechnerschen »Fundamentaltabelle der Methode
der richtigen und falschen Fälle<?®) zu den Werten ty die zu-
gehörigen Werte Z, entnehmen. Dieser Wert Z, stellt die durch
die Berechnung erhaltene relative Häufigkeit dar, ihre Differenz
mit der beobachteten relativen Häufigkeit p, ergibt die Zahl v,.
Wir erhalten also v, = p, — Z,, mit dem Gewichte P,. Der
Zähler des Radikanden ist [Pv?] oder £P, v,?.
Nach der Berechnung von M erhalten wir dann, wenn M,
den mittleren Fehler bedeuten soll, We den wahrscheinlichen
Fehler 3):
= [P]
Ma, =M M x
Mn
Mu = 1V2 h+ Ma)
vn y/ER
M
Mn gP HPE) [20
1 EEEE EN
Ma = Ms= 5 yM Mi [21]
entweder bei allen Größen der Index u oder o.
Zu allen Werten erhalten wir das Entsprechende Wa nach
dem Ausdruck:
W. = 0,6745 Ma. (log 0,6745 = 0,82897 — 1) [22]
1) Wirth, Spezielle psychophys. Maßmethoden S. 301.
2) Wirth, Psychophysik S. 204.
3) Formeln aus Wirth, Spezielle psychophysische Maßmethoden S. 301/302.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 265
Urban selbst hat angegeben, daß die wahrscheinlichen
Fehler der Grenzreize oder der Schwelle im mittelbaren Ver-
fahren oft sehr groß ausfallen. |
Ich ‚zeige dies an zwei Beispielen, und zwar:
I. Reihe 17, für die einzige Verteilungskurve nach Hal-
bierung der Gleichheitsfällee Es ist da nur Ma, Mu
und M, zu berechnen.
II. Reihe 4 getrennt für die Verteilungskurven der Größer-
und Kleiner-Urteile. Dabei ist alles zu berechnen: [17]
bis [21], und dazu die entsprechenden Wa.
Zur Erläuterung füge ich eine Tabelle: Gruppe 4 (g-Urteile)
zur Berechnung von
3
M= 2 (Pv?)
l m— 2
bei, die anderen Werte sind durch logarithmische Rechnung
leicht, wenn auch mit viel Rechenarbeit, zu finden.
Tabelle 15.
Gruppe 4. Tabelle der „Größer-Urteile“.
ho = 0,0906, co = — 0,0007, [P] = 10,527, N = 1016,9,
[P x?] = 99,350.
-5
-4
— 8
-2 , 1—0,60 = 0,40 9768
-1| -0090 |1—0,55=0,45 0,9991
u| + 0,000 0,50 0,9943
1| +0091 0,55 0,9918
2| +0,182 0,60 0,9918
3| +027 0,65 0,8025
4! +0,363 0,70 0,8590
5| +0454 0,74 0,9470
Aus den beiden letzten Spalten ergibt sich Pv’, und dann
als Summe:
D'Por — [Pv?] = 0,035(007)
Mo = * — 0,0624.
Alles weitere gemäß Formeln.
266 Friedrich Noßke,
I. Resultat bei Gruppe 17. (Halbierung der Gleichheitsfälle.)
Normalreiz = 500 g.
M = 0,0479
Ma = 0,0166 W, = 0,0112
Mu = 0,0703 Wu = 0,0474
M.e = 0,0243 W. = 0,0164.
h = 0,4508 + 0,0112
49769 ones 1569 + 0,0475.
II. Resultate der Gruppe 4. Normalreiz 0,1 g.
Ma = 0,0479. M, = 0,0624.
Mna — 0,00639 Wha = 0,00431 Mno — 0,00626 Who — 0,00425
Mumu = 0,5678 Wyuu— 0,3830 My 0,5043 Wo 0,3401
Mea = 0,0198 Weu = 0,0134 Mo—=00195 We = 0,0131
Mru = 0,2303 Wu = 0,1554 Mr = 0,2151 Wo = 0,1451
Ma — Ms = 0,1576
W, = Ws = 0,1063.
Deshalb ergibt sich:
ha — 0,0860 + 0,0043 ho— 0,0906 -+ 0,0043
Cu = 4,9694 + 0,0134 c—= 4,9999 + 0,0131
ra = 0,3560 + 0,1554 re =— 0,0001 + 0,1451
M. = 8,222 + 0,383
M, = 7,805 + 0,340
Zusammenfassung: Die einzelnen Werte für [Pv?] waren
0,0364, 0,00919, 0,0350. Bei 7 Berechnungen Urbans schwankten
sie zwischen 0,011 und 0,098. Wir haben hier dieselben Größen-
ordnungen. Der wahrscheinliche Fehler der direkt ermittelten
Konstanten h und c, bezw. hu, Cu und ho, Co fällt klein aus. Bei
h gegen 5°/ und weniger; bei M sind es Werte kleiner als 3°/,.
Der wahrscheinliche Fehler der Schwelle (bei Gruppe 17) ist
relativ 0,106, während der (relative) Schwellenwert selbst nur
0,175!) ist. Es bestätigt sich demnach, daß ihre Bestimmung
wenig zuverlässige Resultate gibt.
S = 0,175 + 0,106.
f) Vergleich der Werte des Gesamtstreuungsmaßes nach den
Wirthschen Formeln mit denen nach dem Müller-Urbanschen
Gewichtsverfahren.
Bei den 11 Vollreihen ist man in der Lage, die erhaltenen
Resultate aus dem unmittelbaren Verfahren und aus der Müller-
1) Bei Urban findet sich sogar ein Beispiel, wo der wahrscheiniiche
Fehler größer ist als der mittlere Schwellenwert.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 267
Urbanschen Methode zu vergleichen. Nachdem sich für A schon
bei Urbans eigner Prüfung sehr gute Übereinstimmung ergeben
hatte, richten wir unser Augenmerk hier vor allem auf M, weil
es bereits dort ein klein wenig systematisch differiert. Wir er-
halten Tabelle 16; sie enthält die Zusammenstellung der Resultate
aus (5) und (14). Da bei Müller-Urban das Gaußsche Gesetz
vorausgesetzt ist, so ist der Grad der Übereinstimmung des nach
ihnen berechneten Wertes mit demjenigen der unmittelbaren
Berechnung aus den gegebenen Kurven ein Kriterium dafür, wie-
weit diese natürlichen Kurven mit dem Gaußschen Gesetz über-
einstimmen.
Tabelle 16.
M, =M Vollreihen Ma = M Müll.-Urb. Ma Größer um
7 2,079 2,186 4,1%,
8 2.067 2,108 2.09,
12 2.001 2.136 6.70),
13 1.416 1,837 29 9),
14 2.070 2'119 2,4
15 2'159 2.337 8,3%),
16 2'805 2'424 9,
17 1,479 1,569 5.49),
18 1,549 1,802 16 h
19 1,586 1,626 2,5%,
20 1,887 1,399 0,9),
Ordnet man die Resultate der beiden verschieden gewonnenen
Streuungsmaße M, und M, so ergibt sich ihr Korrelations-
koeffizient o = 0,91.
Wir sehen, daß M, in allen 11 Fällen der größereist,
Sieht man von den beiden Gruppen 13 und 18 ab, die auch nach
anderen Kriterien von dem Gaußschen Gesetz am weitesten ab-
weichen, so beträgt die mittlere Abweichung der Müller-Urban-
schen Werte nach oben hin nur ca. 4°/ Die Erklärung für die
einseitige Verschiedenheit wird zum größten Teil im folgenden
zu sehen sein: Beim direkten Verfahren wird die Integration
über endliche Grenzen erstreckt, die Müll.-Urb.sche Methode um-
faßt die Integration von — œ bis 4 œ. Auf diese Weise müssen
die Werte M, etwas größer ausfallen als die anderen Streuungs-
maße M,. Urban hat nachgewiesen, daß die mit M zusammen-
hängenden h-Werte in einer Reihe von Versuchen um den gleichen
Wert 0,013 kleiner waren. Um dies auch hier durchzuführen,
vergleichen wir die M, und M, nach der direkten Vollreihen-
methode und nach dem Urbanschen Konstanzverfahren (Archiv
f. d. ges. Psychol. 32, 1914, S. 466).
268 Friedrich Noßke,
Tabelle 17.
I My
|Vollreih. |MIL.-Urb.| M.-U.— V.
I. M,
Vollreih. | Mll.-Urb.
+ 0,097 2,041 — 0,109
+ 0,131 1,742 — 0,180
12 + 0,133 1,770 + 0,028
13 + 0,187 1,879 + 0,147
14 + 0,161 2,184 + 0141
15 + 0,218 2,369 + 0,228
16 + 0,118 2,524 + 0,185
17 + 0,156 1,512 + 0,056
18 + 0,030 1,532 + 0,103
19 + 0,063 1,629 + 0,033
20 | 1,453 | 1,460 + 0,007 1,285 — 0,022
Bei M,: e = 0,9, M, : e = 0,93.
Während wir in der Rangordnung der M, bei der Art voll-
ständige Übereinstimmung sehen, wirkt sich bei den M,-Werten
störend aus, daß nicht durchgehend M.-U. der größere Wert ist,
sondern an 3 Stellen der V-Wert. Die prozentuale Abweichung
geht in keinem Falle über 10°/, hinaus.
Wenn wir die Zurückführang der M-Werte auf h gemäß
der Formel
h=1:My2
machen, so werden bis auf die 3 entgegengesetzten Fälle die
h-Werte der M.-Urb.schen Methode durchgehend kleiner werden
als die h-Werte der Vollreinenmethode. Rechnen wir die h-Diffe-
. renz bei den Reihen aus, bei denen die M„-Differenz (bezw. M,-
Differenz) der mittleren Differenz aus allen 11 Reihen am nächsten
kommt, so ist dies bei M, Reihe 16 (Differenz 0,113, Gesamt-
differenz 0,111) und bei M, Reihe 17 (Differenz 0,056, Gesamt-
differenz ebenso). (Daß die Gesamtdifferenz so klein ist, kommt aus
den negativen Werten da, wo V größer als M.-U. ist.) Es ergibt sich:
Ma Vollreihe: 2261 h:0313 | _.
Reihe 16| mu. : 2874 h:0298 | Differenz 0,015
M, Vollreihe: 1456 h:0,486 „.
Reihe 17 [mu 1512 h:0,468 | Differenz 0,018.
Bildet man die gleiche Umrechnung aus den Werten M, die
als Mittel der je 11 gleichgearteten entstehen, so erhält man
bei M, als h-Differenz 0,021 und bei M, 0,012, so daß auch
hier die Werte nahe bei 0,013 liegen. Wir sehen also, wie gut
die zugrunde liegenden Reihen sich für beide Rechenmethoden
eignen. Bei einer Probe dieser Rechnung für M erhielten wir bei
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 269
Reihe 16, deren M-Differenz dem Differenzmittel am nächsten
kam, 0,015. Es ist noch hinzuzufügen, daß bei dem Streuungs-
maß des unmittelbaren Verfahrens überhaupt der Grad der An-
näherung der linearen Integration an die parabolische ge-
ringer ist als bei den linearen Funktionen von g und k und
nach Wirth 1 bis 2°/, zu betragen pflegt ?).
g) Das Verhältnis von M, zu M, und von M
zu M, und Mau.
Die Übereinstimmung der einzelnen Werte h, und h,, die
zu gleichen Versuchsreihen gehören, ist eine eindeutig gute.
Dies ist bei der Methode der Minimaländerungen mit Wissent-
lichkeit der Abstufungsrichtung von besonderer Bedeutung, da
hier der oberen und unteren Abweichung vom Hauptreiz eine
besondere psychologische Einstellung entspricht. Der Mittel-
wert aus allen 20 Werten Ma ist 3,270, aus allen M, bis auf
die erste Dezimale identisch 3,212. Dies zeigt also wieder,
daß in dem Unterschied der oberen und unteren Unsicherheits-
grenze nicht etwa das Webersche Gesetz zur Geltung zu kommen
braucht, und daß man gegen die Verstärkung eines Reizes,
an den man sich angepaßt hat, empfindlicher sein kann als
gegen eine Verminderung von gleich großem Empfindungsmaße.
Hieraus leitet sich die Berechtigung her, auch in solchen
Empfindungsgebieten, bei denen für lauter obere oder für lauter
untere US. das Webersche Gesetz gilt, den Äquivalenzwert A
in der arithmetischen Mitte zwischen r, und r, anzusetzen
oder auch die Abschnitte S, und S, der Müllerschen Doppel-
schwelle 2 S = ro — Tu absolut gleich zu nehmen, also nicht
etwa das geometrische Mittel y Tora als Äquivalent zu betrachten.
Bis auf Reihe 8, bei der die Zahlen weit abweichen (Vp. E;
0,5 g), sind die Zahlen nahe aneinanderliegend; bei Vergleichung
der Rangordnungen ist keine Abweichung über 2. Sechs Paare
bekommen den gleichen Rang, und es wird o= 0,98. Daß dies
ebenso für M, und M, gilt, ergibt sich aus ihrer Berechnung
1 1
gemäß ha y2 und h y Die einzelnen erhaltenen Streuungs-
maße sind ein deutliches Bild für die Verbesserung der Ver-
suchsreihen mit wachsender Übung einerseits und mit der
1) Psychophysik S. 126.
270 Friedrich Noßke,
Zunahme der Hauptreize andrerseits. Um zum Hauptstreuungs-
maß M zu gelangen, müssen wir die Berechnung von 2 S vor-
nehmen. Hier zeigen sich die mannigfaltigsten Schwankungen,
teils bei den 4 Gruppen, die zum gleichen Normalreiz gehören,
teils auch im Verfolg der einzelnen Hauptreize, sowie bei den
zwei Vpn. Trotzdem vermögen sie den Charakter des Haupt-
streuungmaßes nicht wesentlich zu beeinflussen gegenüber den
Streuungsmaßen des oberen und unteren Grenzreizes. M liegt
fast immer zwischen M, und M,, nur bei den Gruppen 9
und 13 liegt M über dem größten der beiden, weil 2 S groß ist.
Betrachten wir M als Hanptpräsentanten der Reihe, so ergibt
sich, vom größten Werte beginnend:
41 3 2 910 5 6 1116 1514 712 8 13 20 19 18 17
Vp.EJEJIJIJIJIJEEEJ EEE JE E J J
N.-Reiz 0,1 0,1 0,1 0,1 5 5 0,5 0,5 5 50 50 50 0,5 5 0,5 50 500 500 500 500
Im Durchschnitt sind die Hauptstreuungsmaße bei E etwas
geringer, denn J erscheint im ersten Teile der Liste öfter als
im letzten. Die Eckgruppen bilden die extremen Reize mit
0,1 g und 500g, dann erscheint 5g eher als 0,5 g; die Versuchs-
reihen der Vp. E mit dem Normalreiz 0,5 g erscheinen sogar
weit hinten, zeigen also eine relativ kleine Streuung.
Vergleichen wir die Hauptstreuungsmaße M aus I und II
Tabelle 13 und 14), die beide nach dem M.-Urb.schen Rechen-
schema gewonnen sind, aber dort unter Berechnung des M aus
den Ausgleichsresultaten Ma, M, und 2 S aus den Kurven g, u
und k, hier direkt aus den Kurven g’ und k’, so zeigen sie
eine sehr große Übereinstimmung (o = 0,99). Im ganzen ist
M; 11 mal größer, 1 mal gleich und 8mal kleiner als Myr; die
durchschnittliche Abweichung beträgt 3/, °/,.
4. Die Berechnung nach dem Prinzip des Zentralwertes.
a) Die Müllersche Schwelle nach dem Zentralwert-
prinzip und der dazugehörige Äquivalenzwert.
Das unmittelbare Verfahren gestattet für sämtliche Reihen
die Berechnung der Zentralwerte C der Grenzreize ra (C) und
To (C). Anschließend daran kann man, wie auch anderweit,
bestimmen: 28 (C) = ro (0) — ra (C) und A (O) = Èr, (0) + ra (0).
Der Zentralwert des hypothetischen Kollektivgegenstandes der
Grenzabszisse ist diejenige Größe x, bei der die beobachtete
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 271
Häufigkeitszahl des extremen Falls (g bezw. k) gerade die Hälfte
aller auf eine Abszisse entfallenden Versuche erreicht (Wirth,
Psychophysik S.184). Da diese relative Häufigkeit im allgemeinen
nicht gerade beobachtet sein wird, ist zur Bestimmung der
betreffenden Abszisse eine Interpolation erforderlich, sie erfolgte
linear. Bei Gruppe 4 ist die »kleiner«-Kurve in der Nähe des
50°/,-Wertes mit Verkehrtheiten durchsetzt, so daß die Or-
dinate = dreimal angenommen wird. Der angegebene Wert
(9,47) ist die Mittelabszisse aus diesen 3 Werten, er ist ein-
geklammert und ebenso die daraus folgenden Werte.
Tabelle 18.
2 S (©)
Ed | | — aus Tab.
Gruppe reiz | Tu (C) | ro (C) |28 (C) us A(C) IN—A A (6)
1 0,1 | 873 | 11,38 | 2,556 |’ 0,015 | 10,08 | 0,06 =
2 0,1 | 10,09 | 10,48 | 0,89 | O, 10,29 | 0,29 ex
3 0,1 | 9,19 | 10,33 | 114 | 001 9,76 | 0,24 =
4 0,1 | (9,47)| 10,44 | (0,97) | (0,01) | (9,96)! 0,4 —
5 0,5 | 9,24 | 1053 | 1.29 | 0,06 89 | 0,11 —
6 05 | 954 | 10,866 | 112 | 00 10,10 | 0,10 =
7 0,5 | 924 | 10,25 | 1,01 | 0,05 9,75 | 0,25 | 9,68
8 0,5 | 9,33 | 10,72 | 1,39 | 0,07 10,03 | 0,03 | 10,13
9 5 | 780 | 1186 | 3,55 | 1,78 9,53 | 0,42 —
10 5 | 920 | 1070| 1,50 | 075 9,95 | 0,05 —
11 5 852 | 11,57 | 2,75 | 1,38 10,20 | 0,20 =
12 5 | 885 | 10,75 | 1,90 | 0,95 9,80 | 020 | 10,15
13 | 50 | 9563 | 1060 | 1,07 | 5,35 10,07 | 0,07 | 10,09
14 50 | 950 | 1033 | 0.83 | 4,16 9,92 | 0,08 9,80
15 | 50 | 941 11043 | 102 | 5,10 992 | 0,08 | 10,00
16 | 50 | 954 | 10,20 | 0,86 | 3,30 9,87 | 013 | 990
17 | 500 | 9,59 | 10.33 | 0,74 | 37 9,96 | 0,04 ‚99
18 |500 | 10,08 | 10,50 | 0,48 | 23 1027 | 027 | 10,35
19 |500 | 993 | 1011 | 018| 9 10,02 | 0,02 9,91
20 500 10,23 | 10,41 | 0,18 9 10,32 | 0,32 10,37
In der letzten Spalte habe ich den Vergleich mit dem
arithmetischen Mittel der Schwelle hinzugefügt, soweit Voll-
reihen vorliegen. Es zeigt sich, daß manchmal A (XN) größer
ist, manchmal kleiner als A (C) Die Abweichungen sind
sehr gering, sie gehen einmal bis 3°), und bleiben fünf-
mal unter 1 °/,, was wiederum auf die bereits S. 257
aufgezeigte große Annäherung an das Gaußsche Gesetz hin-
weist. Die US.S(W) nach dem Prinzip des arithmetischen Mittels
ist im Mittel nur */, der hier gefundenen Werte nach dem
Prinzip des Zentralwertes. Dies gilt sowohl bei einem Vergleich
272 Friedrich Noßke,
des Totalmittels S(C) = 0,61 mit dem Totalmittel der nach
Müller-Urban berechneten Werte, also mit dem Totalmittel
S— 0,396 nach Tabelle 13, als auch bezüglich der Gruppen 13
bis 18, welche sich auch nach dem unmittelbaren Verfahren mittels
der Spearman-Wirthschen Formeln S (WU) = 0,218 (nach
Tab. 5, S. 253) finden lassen, fast genau übereinstimmend mit dem
entsprechenden Mittel 0,217 nach Müller-Urban. Denn aus
den Zentralwerten von r, und r, ergibt sich als Mittel für diese
8 Gruppen der Normalreize 50 g und 500 g der ebenfalls um
s/, größere Wert S (C) = 0,32. Diese Differenz zwischen S (C)
und S(W) beruht offenbar auf einer mittleren Abweichung der
Kurvenform vom Gaußschen Gesetz bezw. von der ®-Funktion,
wonach die Zentralwerte der Grenzreize rą und ro weiter nach
den Extremen E. und E, hingelegen sind als arithmetischen
Mittelwerte. Insbesondere der untere Grenzreiz r,(C) ist bis
auf Reihe 19 tiefer gelegen als r, (N) der entsprechenden Werte
von Tabelle 5.
Die Zentralwerte zeigen im übrigen die nämliche Verfeinerung
der Müllerschen Schwelle S(C) nach oben hin wie die arith-
metischen Mittel, da das Mittel der Reihen 1 bis 12 den Wert
0,81 erreicht, gegenüber dem schon genannten Mittel 0,32 für
die Normalreize 50 und 500 g. Im einzelnen zeigen die Werte
S (C) nach dem Zentralwertprinzip jedoch ähnlich gestaltete
Schwankungen wie das Idealgebiet der Gleichheitsfälle für Voll-
reihen (S. 252). Auch der Zentralwert zeigt also, wie wenig diese
Müllersche Schwelle allein für sich auch bei sehr sorgfältig
abgeleiteten Versuchsreihen zur Charakterisierung der Unter-
schiedsschwelle ausreichend ist.
Betrachten wir die Werte der vorletzten Spalte (N —A), so
können uns diese Zahlen die Frage beantworten, ob und wie
weit auch hier eine Annäherung an das Webersche Gesetz
gilt. Die Zahlen sind nicht durchgängig gleich, was bei der
Relativität der Maße sein müßte, andrerseits geht aber ihre
Abweichung nicht so weit, als es bei absoluter
Konstanz der Dimensionen sein müßte. Man kann
also auch hier von einer Art »Webersches Gesetz« für die
Schätzungsfehler sprechen; das ist nicht zu verwundern, da
ja in das Gesamtstreuungsmaß des Unsicherheitsgebietes stets
zufällig schwankende Schätzungsfehler eingehen.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 273
b) Der empirische wahrscheinliche Fehler
des Aquivalenzwertes (die halbe Differenz zwischen
den Argumenten für &'’=25°,, und 75°/,).
Nach dem Prinzip des Zentralwertes läßt sich bekanntlich
auch ein Streuungsmaß eines Kollektivgegenstandes be-
stimmen, indem man die unteren und oberen Abweichungen in
je zwei Hälften teilt. Der Teilungspunkt wird als sogenannter
»wahrscheinlicher Fehler« bezeichnet. In dieser Weise
läßt sich also zu den K.-G. r, (C) und r„(C) je ein Streuungs-
maß bestimmen, indem man die Punkte bestimmt, bei denen
die g- und k-Fälle 25°/, und 75°/, erreichen. Die Differenzen
der Argamente mit diesen Prozentsätzen von den r(C) bezw.
ihre eigene halbe Differenz ist der gesuchte wahrscheinliche
Fehler. Doch würde sich hieraus gegenüber den M, und Ma
kaum wesentlich Neues ergeben. Wir prüfen daher nur den
analogen Wert, wie er nach Halbierung der Gleichheitsfälle zu
dem Äquivalenzwert A (C) desZentralwertprinzips bei ’—k'’—0,05
gehört, also die halbe Differenz der Argumente, bei denen
g' = (1 — k’) 25°, bezw. 75°/, erreicht. Nennen wir diese
dazugehörigen Argumente der Vergleichsreize in der Bezeichnung
der Verfasser) Q und Q’, so haben wir in dem Ausdrucke
ze — Q’) einen brauchbaren Repräsentanten.
Im vorliegenden Material von Kraepelin können wir nicht
in allen Reihen die Werte Q resp. Q’ bestimmen, da die relative
Häufigkeit — oder manchmal außerhalb der beobachteten Inter-
valle liegt. Eine Extrapolation ist wenig zuverlässig, Wir
müssen aus diesem Grunde die Reihen 1—4 ausscheiden und
können nur die Gruppen mit den Normalreizen 0,5 g, 5 g, 50 g
und 500 g betrachten. Die Werte müssen, wenn die relativen
Häufigkeiten 25°/, und 75°/, nicht beobachtet wurden, wieder
durch lineare Interpolation gewonnen werden (Tabelle 19).
Betrachten wir den Wert 5 (Q — Q’) als Repräsentanten
der Versuchsgruppe, so sehen wir den auch bei den anderen
statistischen Methoden erhaltenen Verlauf. Die Werte der
Gruppen mit den Normalreizen 0,5 g und 50 g sind annähernd
— — —
1) Brown u. Thomson, The essentials of mental measurement.
Cambridge. S. 75/76.
Archiv für Psychologie. LII. 18
274 Friedrich Noßke,
gleich, die Werte der Gruppen mit dem Normalreiz 5g sind
durchgehends größer, die zu 500 g gehörigen kleiner. Es liefert
uns also auch der Ausdruck = (Q — Q’) ein gutes Abbild der
Abhängigkeit der US vom Normalreiz.
Tabelle 19.
5 1 1,94 8,485 0,562
6 0,5 8,10 240 | 8,189 0,758
7 05 8.25 1,42 2.108 0,746
8 05 | 858 1,52 2.088 0.746
9 5 6,33 2.84 5,122 0,
10 5 7,86 2,79 3.969 0,702
11 5 8,00 2.08 8,133 0,
12 5 8,54 1,55 2.071 0,748
13 50 9,17 1,00 1,912 0,520
14 50 7.94 1,46 2.218 0,860.
15 50 8,44 1,56 2.381 0,855
16 50 8.32 1,59 2.489 0.
17 500 9,11 0,93 1.582 0,594
18 500 954 0,75 1.587 0,473
19 500 8'88 0,99 1.632 0,
20 500 9,44 0,90 1,388 0,849
Sind die Bedingungen des G außschen Gesetzes ideal erfüllt,
so müssen die Werte > (Q — Q’) mit dem anderweit gewonnenen
Hauptstreuungsmaße M in bestimmter Relation stehen. Es ist
deshalb das Hauptstreuungsmaß aus Tabelle 13 beigefügt. Dies
Gesetz lautet, daß der Quotient, (Q — Q): M den Wert 0,675
oder ca. a annehmen muß. In der letzten Spalte sind diese Quo-
tienten berechnet; ihre Annäherung andenidealen Wert
ist eine gute; der Mittelwert aus den 16 Quotienten ist 0,637.
Auch in ihrer gegenseitigen Rangordnung stimmen die Werte
für 5 (Q — Q’) und M gut überein; ihr Korrelationskoeffi-
zient ist 0,96. Wir haben somit in den beiden Zahlen Q und
Q' eine weitere Bestätigung der Gültigkeit des G au ß schen Ge-
setzes. Nachdem wir oben schon in der. ersten Kontrolle durch
die Verhältnisse D:M, ferner in der Annäherung des Streuungs-
maßes des unmittelbaren Verfahrens an das Müller - Urbansche
und in der Annäherung des Zentralwertes A (C) an das arith-
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 275
metische Mittel A (M) des Äquivalenzwertes eine sehr gute
Übereinstimmung gefunden haben, kommt also diese neue Kontrolle
hinzu. Dabei verdient noch Beachtung, daß die beiden Gruppen
13 und 18 mit der geringsten Übereinstimmung der Werte des
Müller-Urbanschen Verfahrens und der nach dem unmittelbaren
Verfahren (vgl. S. 267) auch bei dieser Kontrolle am weitesten
vom Gaußschen Gesetz abweichen, indem der mittlere Fehler
M sich vom wahrscheinlichen Fehler beidemale zu weit nach
oben entfernt, ähnlich wie nach S.257 von der mittleren Variation
D, zumal bei Reihe 18.
Im ganzen kann aber von dem Kraepelinschen Material eine
große Annäherung an die »normale« Streuung des
Gaußschen Gesetzes‘) und somit eine sehr gute Aus-
geglichenheit aller zufälligen Nebeneinflüsse be-
hauptet werden.
V. Die Abschätzung der Einflüsse der Zeit- und
Raumlage des Haupt- und Vergleichsreizes
und der Übung.
Nach den Ausführungen von S. 227 des II. Abschnittes über
die Maßmethodik im allgemeinen sind in den Werten der Müller-
schen Schwelle S =; (ro—ra) und des Äquivalenzwertes A der
Totalreihen die sogenannten Zeit- und Raumlagefehler, die S. 225
mit den Symbolen Ar, Al, Br, Bl bezeichnet wurden, bereits
eliminiert. Das Streuungsmaß M muß dagegen nach Gleichung [1]
eigentlich erst noch von den systematischen Verschiebungen des
Äquivalenzwertes mit der Zeit- und Raumlage gereinigt werden.
Wir ersehen jedoch an einer genaueren Analyse der zweiten
Totalreihe 18 von Vp.J für Normalreiz 500, bei welchem
infolge des hohen Übungsgrades und der günstigen
Reizbedingungen größere Lagefehler besonders sicher zu er-
mitteln wären, daß diese Verschiebungen der Partialäquivalente A
der einseitig beeinflußten Partialgrößen zu je 8 Elentarreihen
sehr gering sind, so daß eine Korrektur der mittleren M-Werte
zumal nach dem Ausziehen der Quadratwurzel aus der so wenig
1) Über weitere Kriterien der Gültigkeit dieses Gesetzes für psycho-
physische Versuche vgl H. K eller (nach H. Bruns) auf S.36, A.1a.a.0 .S.55ff
und Wirth, Spez. psych. Mathemat. S. 49 ff.
18*
276 Friedrich Noßke,
reduzierten Summe kaum in Betracht kommt. Gleichzeitig läßt
sich an diesem Beispiel auch die Größe der in den Mittelwerten
bereits eliminierten Lageeinflüsse auf die Schwelle S direkt er-
kennen, sowie die Abweichung der Partialstreuungsmasse M,
von ihrem (reinen) Mittelwerte. Da die Werte, wie im nächsten
Abschnitt noch besonders zu betrachten ist, überall zur Reiz-
stufe hinreichend proportional sind, so ist kaum zu erwarten,
daß eine Durchführung dieser Fraktionierung in allen übrigen
19 Totalgruppen wesentlich Neues zutage fördern würde.
Was zunächst die oben mit A und B bezeichneten Fehler
der Zeitlage von H und V anlangt, so erscheinen diese in Reihe 18
besonders groß. Da diese Reihe neben dem Müller-Urban-
schen Gewichtsverfahren auch die Spearman-Wirthschen
Vollreihenformeln ableiten läßt, so sind die üblichen Repräsen-
tanten nach beiden Methoden berechnet. Bei der Vollreihen-
methode läßt sich dabei auch jene auf S. 229 hervorgehobene Be-
ziehung zwischen den Resultaten der Partial- und Totalreihen
konkret veranschaulichen. Hier ergibt sich nämlich für die beiden
Gruppen, deren Symbole einerseits nur A, andererseits nur B ent-
halten:
Tabelle 20a.
Reihe 18. Normalreiz: 500g. Vp.J.
Ta To | 2 S A Ma M, M
10,500 | 10,891 | 0,391 | 10,698 | 1,628 | 1,325 | 1,97
9,758 | 10,267 | 0,509 | 10018 | 1,547 | 1459 | 1,526
10,129 | 10,579 | 0,450 | 10,855 | 1,880 | 1,428 | 1,549
Die Gesetze betrefis der linear berechneten Werte sind er-
füllt. Der Zusammenhang der drei M-Werte jeder Art ist ge-
geben durch Gleichung [1], wobei n = 2 und (A—A,)=(A—A))
— 50,883 ist,
Es muß also für dte Totalwerte gelten:
2 Ma? = 1,628? 4 1,547? -+ 2 0,583?
2 M. = 1,325° + 1,459° + 5. 0,583:
2 M° — 1,497° 4 1,526° + 5- 0,583"
und man erhält in der Tat M, = 1,624. M, = 1,434. M = 1,549.
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 277
Nach Müller-Urban berechnen sich die entsprechenden
Größen für die Kurve g’ der A- und B-Gruppen:
Tabelle 20b.
Z, Z% | N | hà o | A| m
20,333 | 14,665 | 44,766 0328 | 1072 | 1,67
25690 | 0,305 | 59,943 0051 | 1011 1,650
Total | | 10,38 | 1,587
Die Abweichung der A und M liegt also in der nämlichen
Richtung und ist ähnlich wie bei der Berechnung nach Spear-
man-Wirth. Bei der getrennten Ausgleichung für A und B
kann natürlich Gleichung [1] nicht mehr wie bei der Vollreihen-
methode genau gelten.
Da der schon bei der graphischen Analyse S. 244 genannte
„Zeitfehler* nach der ersten Methode beim Vorangehen von N
(relativ) für den Äquivalenzwert A nur +0,84 = (10,696 — 10,013)
beträgt, also nur 3,4°/, des Normalreizes (+ 0,30 nach Müller-
Urban), so ist das aus der Totalreihe direkt gefundene Streu-
ungsmaß 1,549 von dem quadratischen Mittel 5 (Ma? + Mg? nur
um 0,04, also nur ganz unwesentlich verschieden, ebensowenig
von dem einfachen Mittel 5 (Ma + Mn) = 1,52.
Was nun weiterhin den „Fehler der Raumlage“ der auf-
setzenden rechten oder linken Hand des Experimentators anlangt,
so ist hier in Reihe 18 sogar der auf S. 230 ebenfalls genannte
Grenzfall vertreten, daß die Äquivalenzwerte A, und A,, nach
der Vollreihenmethode berechnet, zufällig fast genau gleich und
daher auch dem Totalwert A gleich sind, so daß auch M mit
dem quadratischen Mittel von M, und M, zusammenfallen muß.
Die Repräsentanten für beide Raumlagen sind nämlich:
Tabelle 21.
Io ra 28 A M
rechts | 10,13 | 10,53 0,4 1033 | 1,482
links 10,13 10,63 0,5 10,38 | 1,613
Allerdings ist die Streuung M beim Aufsetzen mit der linken
Hand etwas größer, ebenso die Schwelle S, was leicht von größeren
Oszillationen der Reizgebung in diesem Falle herrühren könnte.
278 Friedrich Noßke,
Wollte man also nur die Aufsetzung mit der rechten Hand als
das maßgebende Optimum verallgemeinern, so wäre von dem
1
quadratischen Mittel des Streuungsmaßes M erst noch etwa 30
und von der mittleren Schwelle S etwa noch 2 in Abzug zu
bringen.
Der wichtigste Einfluß ist aber natürlich derjenige der Übung.
In dieser Hinsicht ist freilich zunächst bei der Reihe 18 nach
der großen Allgemeinübung kein wesentlicher Abfall mehr zu er-
warten. Da dies aber überhaupt für die Güte des Kraepelinschen
Materials, nach der ersten Einübungsgruppe mit 5g, charakter-
istisch sein dürfte, so haben wir zur Kontrolle für 18 die Frak-
tionierung in die zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgenden Partial-
gruppen aus je 8 Elementarreihen A,, B, usw. wieder nach beiden
Methoden vorgenommen. Die Vollreihenmethode ergab:
Tabelle 22a.
Teil Elementarr. 28 A M
Total (Tab.5) | | 0,450 | 10,854 | 1,549
Berechnet man zur Kontrolle das früher schon aus der
Totalreihe gefundene Streuungsmaß M nach Gleichung [1] als
5M’=M?+ Mr --- +(A—A)?+(A—Am?-+ ---,so erhält
man 1,521 (statt 1,549). Die Abweichung wird darauf beruhen,
daß die Annäherung der abgekürzten Formel für die Steuungs-
maße diejenige bei rein linearen Funktionen (2 S, A) nicht er-
reicht. Nach dem Müller-Urbanschen Verfahren erhalten wir:
Tabelle 22b.
Teil Elementarr. A | M
I 1—8 10,8343 1,596
II 9—16 10,918 1,842
III 11—24 10,214 1,191
IV 25—32 10,011 1,614
V 33—40 10,191 2.074
Total | | 10,332 | 1,587
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 279
Wie man sieht, ist die bei genügender Versuchszahl besonders
große Annäherung für A hier nicht in dem erwarteten Maße er-
reicht, wodurch die schon oben S 231 empfohlene Vorsicht hin-
sichtlich einer zu weit gehenden Fraktionierung der Totalgruppen
zumal bei der Methode der kleinsten Quadrate begründet er-
scheint. Jedenfalls läßt sich eine gewisse Verfeinerung des
relativen Schätzungsfehlers (A —N) mit der Übung erkennen. Da-
gegen ist weder in der nach der Vollreihen-Methode bestimmten
Schwelle S noch gar im Streuungsmaß ein einseitiger Fortschritt
zu erkennen, sondern das Streuungsmaß ist in den letzten Partial-
gruppen sogar am größten, während die Doppelschwelle 2S nur
wenig unter dem Totalmittel 0,450 gelegen ist.
Deutlicher ist der schon von Kraepelin selbst hervorge-
hobene Übungseinfluß bei den zeitlich ersten Totalgruppen mit
dem Normalreiz 5g. Wir haben deshalb hier den Totalreihen-
Repräsentanten der Gruppe 12 (Vp. E) diejenigen der letzten (5.)
Achtergruppe (s. S. 225) dieser Reihe wenigstens nach der Voll-
reihen-Methode an die Seite gestellt. Zur Prüfung des Weber-
schen Gesetzes haben wir dann auch noch analoge Partialwerte
für Vp. E aus Gruppe 8 und 16 für die Reizstufe 0,5 g und
50 g abgeleitet und in Tab. 23 mit den in Klammern beigefügten
Totalwerten der Tab. 5 (S.253) zusammengestellt. Das Streuungs-
maß M 1,541 der letzten Partialgruppe für 5g weicht in der
Tat von demjenigen der Totalreihe, 2,001 ab. Dagegen zeigt
sich die größere Zufälligkeit in der Neigung zu Gleichheitsurteilen
darin, daß die zur Summe Zu proportionale Doppelschwelle in
der letzten Teilgruppe sogar etwas größer ist als im Mittel
(1,63 statt 1,53). Auch der Schätzungsfehler ist in der letzten
Fraktion wieder etwas größer als das Totalmittel. Jedenfalls
dürften die Werte der Gruppe 5 nach der Reduktion des Streuungs-
maßes durch die Übung aus denen für die übrigen Hauptreize
dieser kleinen Vergleichungstabelle kaum mehr wesentlich
herausfallen.
Tabelle 23.
0,90 (0,75) | 10,36 (10,13) | +0,86 (40,129) | 2,021 (2,067)
12 |E| 5g| 188(1,53) | 10,22(10,15) | +0,22 (+0,160)| 1,641 (2,001)
18 |E| 50g | 0,77(0,80) | 9,52 (9,90) | —0,48 (— 0,102) | 1,424 (2,305)
13 |3|5008 | 0,42(0,45) | 10,18 (10,35) | +0,18 (40,354) | 1,925 (1,549)
280 Friedrich Noßke,
Am eindeutigsten aber ist der Einfluß der Übung in den
Systemen der beiden Hauptgruppen, die wir oben zunächst durch
den Unterschied der Anfangsrichtung der Abstufung des V
als auf-ab- und ab-auf-Gruppen unterschieden, die aber sachlich,
wie ebenfalls S. 224 schon erwähnt wurde, eine systematische
Verschiedenheit der Zeitlage enthalten. Denn abgesehen von
den beiden Gruppen der Vp. E mit 500g ist die auf-ab-Gruppe
stets nach der Gruppe ab-auf, und zwar im unmittelbaren
Anschluß daran abgeleitet, so daß sich hier der Einfluß der
Übung besonders ideal zur Geltung bringen kann.
Auch die oben genauer analysierte Reihe 18 der Vp. J hat
als auf-ab-Gruppe bereits diese spezielle Einübung durch die
ab-auf-Gruppe hinter sich. Diesen eindeutigen Einfluß hinsicht-
lich aller drei Wertarten S, M und A können wir am genauesten
verfolgen, da wir uns hier ja tatsächlich die beiden eindeutig
beeinflußten Teilgruppen für. jede Normalreizstufe getrennt ge-
halten haben. Daß die deutlichen Unterschiede der beiden Gruppen,
die zunächst durch die beginnende Abstufungsrichtung charak-
terisiert sind, nicht diesem Nebenmerkmal, sondern vor allem
dem Übungsfortschritt durch die Zeitlage zu verdanken sind,
erkennt man auch daraus, daß sich der Unterschied, wenigstens
für die Schwelle S, bei den beiden einzigen Gruppen 19 und 20
des Normalreizes 500 g mit Umkehrung der Zeitlage des ab-auf
und auf-ab auch mit umkehrt. Wir haben demnach bei der
folgenden Zusammenstellung der Mittelwerte beider Systeme
bei der Vp. E in Klammern die für uns eigentlich entscheiden-
den Mittelwerte beigefügt, die sich bei Umstellung der beiden
mit dem Reiz 500 g arbeitenden Gruppen 19 und 20 ergeben.
Es ist für Vp. J und Vp. E
Tabelle 24.
Vp.J Vp. E
I (ab-auf) II (auf-ab) I (ab-auf) | I (auf-ab)
8 0,416 (0,434) 0,322 (0,802)
M 3.060 (8,012) 3202 (8,250)
— 0,03 (+0,05) +01 (0,0)
In dieser Tabelle 24 ist zugleich das Hauptresultat hinsicht-
lich der mittleren Leistung der Versuchspersonen in den drei
Richtungen S, M und A zusammengefaßt.
Ein besonders wertvolles Ergebnis dieser Auseinanderhaltung
der beiden Systeme mit verschiedener Einübung auf eine be-
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 281
stimmte Hauptreizstufe besteht aber nun offenbar darin, daß
sich in den späteren Gruppen, also 2, 6, 10... für J und
48,12... für E dieindividuellen Unterschiede in hohem
Maße ausgleichen und eine wirklich interindividuelle oder generelle
Bedeutung gewinnen. Man wird sich daher auch bei der end-
gültigen Beurteilung des Grades, in welchem sich das Webersche
Gesetz bestätigt findet, im wesentlichen an dieses zweite, ge-
übtere System halten können.
VI. Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die
Unterschiedsschwelle, das Streuungsmaß . und den
Schätzungsfehler.
1. Was zunächst die Müllersche US. = 5 (ro — ru) an-
langt, der auch das Resultat nach der üblichen Berechnungs-
methode der Methode der Minimaländerungen bei einer genügen-
den Zahl von Elementarreihen am nächsten kommen soll 1), so
schwankt sie bei beiden Vpn. innerhalb eines der beiden in
Tabelle 24 unterschiedenen Systeme von Totalgruppen für die
verschiedenen Reizstufen relativ nicht stärker als in den nach
jenem älteren Modus der Minimaländerungsmethode berechneten
Werten von Stratton und Kobylecky. Aber der absolute
Betrag sinkt hier auf wesentlich geringere Werte
als dort und in den älteren Versuchen E. H. Webers.
Bei der nahen Übereinstimmung der Resultate in Tabelle 5
und 13 können wir uns bei dieser Prüfung ganz an die voll-
ständigere Tabelle 13 S. 263 halten. Wenn wir dort von den
ungeübten Reihen für 5 g absehen, so ist in den auf-ab-Reihen S
bei Vp. J nicht größer als 0,35 oder 5 bei 0,5 g, was bereits
der feinsten Schwelle bei Weber und Kobylecky nahekommt?).
Das Minimum der Schwelle aber, das wie bei Stratton und
Kobylecky bei der oberen Stufe 500 g liegt, beträgt 0,18
oder z Für die Vp. E. haben wir bei dem analogen zweiten
System (von 0,75 für 5 g abgesehen) das nämliche Maximum
0,35, und zwar ebenfalls für die Stufe 0,5 g. Das Minimum bei
1) Vgl. auch G. E. Müller, Gesichtspunkte usw. S. 182.
2) Die Dezimalbrüche 0,35 usw. sind der Tabelle entnommen, also auf
den Wert 10 als Normalreiz bezogen.
282 Friedrich Noßke,
1
100
herab. Auch bei der niedrigsten Reizstufe 0,1 g, die der Schwelle
sehr nahe liegt, steigen sogar die ungeübten Werte nur auf 0,51,
500 g aber geht bei der späteren Reihe sogar auf 0,1 oder
also etwa A und bleiben somit von dem Kiesowschen Wert 7
oder gar dem Hansenschen Wert von 22°/, bis 50°/, der Reiz-
stufe weit entfernt. Schon bei den Versuchen von H. Keller
über die Vergleichung von Schallintensitäten hat sich aber ja
gezeigt, daß die mittlere Schwelle S viel tiefer lag (4 bis z)
als nach früheren Versuchen angenommen wurde, W daß sie
bei einzelnen Vpn. sogar unter — ja bis auf 7 herunter-
10 10
ging‘). Es kann eben auch bei den gewissenhaftesten Vpn. die
Neigung zur Abgabe von Gleichheitsurteilen, zumal mit der
Übung, sehr abnehmen, womit aber dann auch die Doppelschwelle
2S, die bei der Vollreihenmethode der mit dem (konstanten)
Reizintervall multiplizierten Summe der Gleichheitsfälle gleich
ist, entsprechend reduziert wird. Das Webersche Gesetz könnte
also auch da, wo die sonstigen Voraussetzungen für seine Gültig-
keit erfüllt sind, in S überhaupt nur insoweit zutage treten, als
auch die Geneigtheit zur Abgabe von Gleichheitsurteilen an Stelle
von teilweise sogar falschen größer- und kleiner-Urteilen relativ
für alle Reizstufen konstant bleiben würde. Bei diesen relativ
mäßigen AE des Gn in den geübteren
Reihen 5 bis — = bei J und 5 bis Ea bei E bleibt der Wert S
der U-Schwelle aber natürlich von einer absoluten Konstanz
in dem großen Bereich einer 5000 fachen Steigerung der abso-
luten und einer 400 fachen der spezifischen Belastung (S. 217) so
deutlich entfernt, daß, wie bisher nach den Ergebnissen von
Stratton und Kobylecky über die Veränderungsschwelle,
ebenfalls eine annähernde Gültigkeit des Weberschen
Gesetzes für S behauptet werden darf.
Die Verfeinerung der Schwelle S nach oben hin, an der hier
zugleich die Verbreiterung der Druckfläche beteiligt war, erkennt
man am besten aus der Nebeneinanderstellung der Totalmittel
1) Vgl. Wirth, Zur Methode der mehrfachen Fälle im Gebiete der
Schallempfindungen, Wundts psychol. Studien Bd. 5, 1910, S. 412 (S. 41%).
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 283
für die unteren Reizstufen von 0,1 bis 5 g einerseits und für
50 g und 500 g andererseits. Diese betrugen nach Tabelle 13
(S.263) S = 0,515 und S = 0,217. Dies bedeutet einen Rückgang
von E auf * und übertrifft die Abnahme bei Kobyleckys
Versuchen mit konstanter Druckfläche in der Tat ganz wesentlich.
2. Bezüglich des Streuungsmaßes dürfen wir uns bei
der Prüfung des Weberschen Gesetzes auf das Gesamt-
streuungsmaßM (unter Halbierung der u-Fälle) beschränken,
da es von dem quadratischen Mittel der oberen und unteren
Streuungen M, und M, bei dem kleinen Betrag von S nur wenig
abweicht und außerdem zu den sonst üblichen Streuungsmaßen
der mittleren Variation D und des wahrscheinlichen Fehlers der
Schwelle nach IV b,, S. 257, infolge der annähernden Gültigkeit
der -Funktion für die Urteilskurven, in einem ziemlich festen
Verhältnis steht. Da zeigt sich nun zunächst in dem Bereich
der deutlichen Reize 0,5 bis 500g in dem zweiten System —
bei Vp. E selbst unter Einschluß der ungeübten Versuche mit
5g — ungefähr der nämliche Grad der Konstanz des Verhält-
nisses zum Normalreiz wie bei dem Wert S.
Denn M sinkt bei Vp. J von 3,19 oder zis des Normal-
?
reizes 0,5 g auf 1,59 oder = des Normalreizes 500 g, also ge-
nau auf die Hälfte, und bei E für die analogen Gruppen von
2,04 oder 5 auf 1,63 oder = also nur etwa wie 6:5, wobei
? ?
ähnlich wie in den gröbsten Werten von S hier in den feinsten
von M eine fast völlige Übereinstimmung beider Vpn. zutage tritt.
Auffällig ist nur der verhältnismäßig sehr hohe relative Betrag
a ja bei E sogar k für die unterste, der
Reizschwelle nahe Stufe 0,1 g, bei der also der halbe, ja fast
der ganze Betrag des Normalreizas von der Unsicherheitsregion
aufgezehrt wird. Bei dieser Erscheinung äussert sich also doch
die bei S vermißte starke Zunahme der Unsicherheit bei diesen
untersten Stufen, wie sie bei Kiesow und Hansen zutage
trat. Die Steigerung von unten bis 500 g, wo nach den älteren
Methoden für die US. der Wert * gilt, war bei Gattis
Wert etwa die vierfache, bei Hansen mit bis sogar
der Streuung von
284 Friedrich Noßke,
die sechs- bis fünfzehnfache. Somit stimmt also die Steigerung
der Mittelwerte des Streuungsmaßes M für J und E, von 1,61
auf 6,56, um das 4,1fache fast genau mit der von Gatti be-
obachteten Steigerung der Schwelle nach der untersten Region
hin überein. Die absoluten Beträge aber erinnern ganz an
die Schwellen dieser Region dei Hansen, ja sie übersteigen bei
Vp. E mit 8,02 die 50 Prozent bei Hansen noch ganz erheblich.
Dies hängt aber offenbar damit zusammen, daß die absoluten
Werte des Streuungsmaßes auch für die höhern Reizstufen bei
unserem Material außerordentlich hohe sind und selbst in dem
geringsten relativen Wert, der auffälligerweise bei der ersten
Hauptgruppe der Vp. E. mit Reizstufe 500 g als 1,39 auftritt,
noch etwa 2 des Reizes betragen, also soviel wie die relative
US. Gattis in der untersten Region. Im Mittel aus sämt-
lichen Reizstufen beträgt die Gesamtstreuung M
(für das System der zweiten Hauptgruppen aller Reizstufen)
ungefähr gerade das 10fache der Müllerschen US. (vgl.
Tabelle 24, S. 280).
Wieweit die von Kraepelin selbst bei der Übergabe des
Materials betonte größere Variabilität der experimentellen Be-
dingungen an dieser Größe des gesamten Variationsbereiches des
Urteils mit beteiligt ist, werden erst neuere Versuche mit sonst
gleich günstigen psychologischen Bedingungen und einer gleich
großen Versuchszahl entscheiden können. Durch Berücksichtigung
der im vorigen V. Kapitel betrachteten systematischen Einflüsse
könnte der Minimalwert des M von 2 kaum auf 5 gebracht
werden. Eine gewisse Verbreiterung des Unsicherheitsgebietes
kann freilich gerade bei gewissenhaften Vpn. auch das hier fest-
gehaltene wissentliche Verfahren mit sich bringen, insofern
die von selbst sich aufdrängenden Erwartungen zusammen mit
dem unmittelbaren subjektiven Eindruck einen komplizierten
Zustand der Unsicherheit erzeugen können. Jedenfalls zeigt dies
aber, daß das Streuungsmaß M als dasjenige Maß der Vergleichs-
leistung, das von den subjektiven Zufälligkeiten der Neigung zur
Abgabe von Gleichheitsurteilen relativ unabhängig ist, in allen
Normalreizstufen sehr viel höhere Beträge erreichen kann, als
man bisher angenommen hat.
Das Streuungsmaß wächst offenbar nur durch die zufälligen
Fehler in der Auffassung des Normalreizes über die US. im
Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 285
engeren Sinne hinaus, d. h. über denjenigen Bereich, in welchem
überhaupt keine Verschiedenheit erfaßt wird und vielleicht eine
tatsäche Angleichung zwischen den beiden Reizwirkungen statt-
findet (vgl. S. 207). Daher ist es bei der annähernden Gültigkeit
des Weberschen Gesetzes für dieses Streuungsmaß nicht ver-
wunderlich, wenn auch für eine konstantere Tendenz in jenen
Auffassungsfehlern, die sich als sogenannter >konstanter Fehler«
in dem mittleren Äquivalenzwert A der Reihe zur Geltung
bringt, das Webersche Gesetz mit einer gewissen Annäherung
gilt. Da es sich bei diesem Gesetz überhaupt überall um die
relative Konstanz eines Bereiches handelt, der durch psycho-
logische Wechselwirkungen bei ungefährer Reizproportionalität
der Empfindungswerte zustande kommt, so wird natürlich
auch das analoge Webersche Gesetz für den Schätzungsfehler
A—N, genau so wie bei S und M, nur bei einer gewissen
Konstanz der für jenen »Fehler« verantwortlichen inhaltlichen
Nebenvorstellungen zu erwarten sein. In dieser Hinsicht gibt
es aber natürlich eine viel größere Variabilität, die auch von
der Höhe der Reizstufe mit abhängt. Man wird also nur die
Dimension in Betracht ziehen können, in der sich der Schätzungs-
fehler auf den verschiedenen Reizstufen bewegt. Bei der Vp.
J bleibt er in der Tat zwischen den Grenzen — 0,32 der
untersten und + 0,38 der zweituntersten Stufe .Und auch bei
Vp. E sind die Extreme — 0,16 und + 0,20 schon bei der
untersten Stufe 0,1 g und der dritten 5 g erreicht, die auch bei
500 g nicht überschritten werden. Im Mittel erhebt sich
der Fehler bei beiden Vp. nicht über den relativen Wert 0,1
oder I des jeweiligen Normalreizes, eine Objektivität der
mittleren Auffassung, die teilweise wohl auf die Wissentlichkeit
des Verfahrens zurückzuführen sein wird.
Wer sich einmal daran gewöhnt hat, in dem relativen Maß
aller dieser mittleren Repräsentanten der Urteilsstatistik, auf
den Normalreiz bezogen, eines der psychologischen Symp-
tome der Vergleichsleistung zu sehen, der wird bei der relativ
großen Variabilität der psychologischen Nebenbedingungen, die
bei einfachen Vergleichsversuchen stets übrig bleibt, überhaupt
- keine größere Konstanz des Proportionalitätfaktors im Weberschen
Gesetz erwarten, weder für ebenmerkliche Unterschiede und
ihre Streuungsmaße, noch für die Schätzungsfehler, selbst wenn
286 Fr. Noßke, Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes usw.
die Abhängigkeit der Empfindungswerte vom Reiz, die
man früher zu Fechners Zeiten mit solchen Schwellenmessungen
direkt fassen zu können glaubte, in allen Reizstufen konstant
ganz einfach wäre, z. B. eine direkte Proportionalität bilden
würde.
Der psychologische Blick hierfür wird um so freier werden,
je mehr auch recht vielen anderen Gebieten eine ähnliche Sorg-
falt zuteil werden wird, wie sie die Druckempfindung in den
hier bearbeiteten Versuchen Kraepelins erfahren hat.
Zum Schlusse möchte ich mir gestatten, Herrn Professor
Dr. W. Wirth meinen Dank für die Anregung und Förderung
dieser Arbeit auszusprechen.
(Eingegangen am 20. Januar 1925.)
Literaturberichte.
PanlHäberlin, Der Charakter. Basel, Kober C. F. Spittlers Nachfolger,
1925. 341 Seiten Großoktav; geheftet Schweizer Frank 10.—,
Reichsmark 8.—; gebunden Fr. 12.—, Mk. 9.60.
Die von Häberlin dargebotene’ differentielle Individual-
psychologie, die Charakterologie, bildet eine Fortführung seiner im
gleichen Verlag erschienenen Elementarpsychologie, betitelt: »Der Geist und
die Triebe«. Wie die Naturwissenschaft dadurch konsequent ist, daß sie
alles Wirkliche prinzipiell dinghaft betrachtet, so schließt sich Häberlin
der entsprechenden konsequenten Psychologie an, die nun die persönliche
Betrachtungsweise konsequent durchführt (S. 32£.), Auf dieser Seite steht
»jeder, der den Menschen als Person faßt, ihm also persönliche Seelen-
haftigkeit zubilligt«. Person ist Wesen, insofern unergründlich, ein
Geheimnis. Person kann aber als Wesen erlebt und festgeatellt
werden (S. 8£.), nämlich im Selbst- und im Fremderlebnis, freilich nur unter
den Kategorien des Bewußtseins; die Erhebung oder Umwandlung des Er-
lebten in Gewußtes bedeutet also eine innere Arbeit, eine Gestaltung. —
Was jeden Menschen als solchen zur Person macht, ist die Personalität
im Sinne einer allgemein-menschlichen Eigenart. Die Personalität, welche
Wesenhaftigkeit, also »Selbsttätigkeit, Subjekthaftigkeit« (S. 17, bes. S. 5)
ist, ist Wesenhaftigkeit von besonderer Art. Dieser Unterschied aber
liegt in der Funktionweise, d.h. in der Art ihrer Selbsttätigkeit, in
ihren Qualitäten (S. 17). Zum Geheimnis der Existenz (d.i. Wesen-
haftigkeit als solche) tritt die Individuation und damit die Einzel-Wesen-
haftigkeit als Geheimnis des Lebens, der lebendigen Existenz. Indem
man die Relation, die in allem Wesenserlebnis mit enthalten ist, meist
übersieht, spricht man von den Einzelnen fälschlich als absoluten
Trägern ihrer Funktionen; aber >diese stammen, als Wesensfunktionen, aus
dem wesenhaften und Einen Urgrund aller Einzelexistenz«. Als Aufgabe
ergibt sich, nicht differente Wesenhaftigkeit zu bestimmen, sondern
eigentümliche Modifikationen der Wesenhaftigkeit überhaupt.
Häberlin gewinnt den Begriff der Persönlichkeit: »Persönlichkeit ist
seelisch verstandene, strukturell und genetisch komplexe Individualität von
der Art, wie wir sie in der typisch menschlichen Verhaltensweise erfahren«
(8. 37).
»Charakter« gebraucht Häberlin unter Ablehnung der üb-
lichen wertbetonten Bezeichnungen (S. 41) als allgemeinen Begriff der
persönlichen Sonderart; er definiert ihn als >die geeinte Gesamtheit der
Reaktionsmöglichkeiten oder also der Qualitäten einer Person« (S.47). Schließ-
lich ist die Charakterologie die »Lehre von der Persönlichkeit ...
in ihren individuellen Darstellungsmöglichkeiten« (S. 64).
288 Literaturberichte.
Die Untersuchung erfolgt unter den Gesichtspunkten der faktischen
Stellung im Leben (Lebensrichtung, Lebensform = die Art des
Zusammenhangs des Einzelwesens mit der übrigen Wirklichkeit, Form
des Handelns) und der grundsätzlichen, d.h. für die Zukunft als maß-
gebend erwählten — s. S.92 — Einstellung zum Leben (Lebensideal, Lebens-
problem, Lebensgeschichte). So zeigt Häberlin die Besonderungsmöglich-
keiten, wobei er sich mit den großen Zügen begnügt; denn er gibt keine
spezielle Charakterologie, z. B. Psychopathologisches. Aber auch eine gene-
ralisierende Charakterkunde weist er wegen gewisser Nachteile einer Typo-
logie ab (S. 62 ff.).
Unter dem Prinzipiengegensatz der Ganzheit und Besonderheit
oder der Einheit und der Subjektivität oder der geistigen Energie und der
Triebenergie steht das ganze Werk. Askese, Werkgerechtigkeit u. a. finden
ihre Stelle in diesem groß angelegtem System ebenso wie die Konsequenzen
für die Praxis in den Erziehungsfragen, die — wenn auch in Kürze zu-
sammengedrängt — die Bücher von Sprangerund Hoffmann ergänzen.
Es wird dieser Häberlinschen Charakterologie nicht leicht sein, wegen
ihrer Begriffsverwendung neben Kerschensteiner, Förster u. a. zu
treten; wegen der Anregung zur Besinnung möchte man ihr
aber eine große Leserschaft wünschen. Besonders verweisen wir
die religionspsychologisch Interessierten auf die Behandlung der Religiosität,
bes. S. 151—154, 249, 291. (Religiosität ist eine prinzipielle Richtung des
Lebens überhaupt, im sekundären Sinne der Einstellungsfrömmigkeit: die
Urform der geistigen oder Gewissenseinstellung.)
A. Römer (Leipzig).
OskarPfister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf:
8. Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben
von S. Freud. Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1925. 2. ver-
besserte Auflage. 132 Seiten, 5 Mk.
Durch eine eingehende Berücksichtigung der Kritik, die die
1. Auflage gefunden hatte, ist die Lektüre der vorliegenden Analyse gleich
in die Bahnen gelenkt, von deren Beschreiten sich der Verfasser nunmehr
den Erfolg verspricht, der ihm bei der 1. Auflage nur teilweise zufiel. Um
seiner Schrift besonderen Nachdruck zu verleihen, hat sich Pf. entschlossen,
alle Stellen, an deren Auslegung die Gegner Anstoß nahmen, preiszugeben,
obwohl er damit nicht die Unrichtigkeit seiner früheren Exegese für alle
diese Fälle zugeben will. Daß es ihm nicht leicht geworden ist, die Mängel
Zinzendorfs ans Licht zu bringen, ersieht man immer wieder aus dem
Bestreben, die guten Eigenschaften zu betonen, so seine Energie, seinen
Arbeitsfleiß ‚seine Duldsamkeit usw. Für Z.s religiöse Entwicklung ist es
nun von unheilvoller Bedeutung gewesen, »daß ihm nicht nur die aut-
erotischen Betätigungen, sondern auch die Übertragungen auf Eltern und
Geschwister oder ihre Surrogate unter schweren Qualen abgeschnitten
_ waurden« (S. 104). »Die infantilen Liebesverdrängungen haben so schließlich
dazu geführt, daß in Z.s Frömmigkeit diejenigen Vorstellungen wieder auf-
tauchen, die in primitiven Religionen und Mysterienkulten die Vereinigung
von Mensch und Gottheit ausdrücken« (S. 112).
Literaturberichte. 289
Die Differenzierungen zwischen Sadismus und Masochismus und die
zwischen Homo- und Heterosexualität halten — von der frühen Kindheit
ab — bis ins Alter an; im Laufe der Entwicklung ergab sich eine andere
Differenzierung: »dem Kind ersetzte Jesus Eltern und Altersgenossen«,
später wird Jesus vorzugsweise zur Geliebten.
Gegen Hoffmanns Kritik erklärt Pf., daß er das Sexuelle nicht
als die alles erklärende Ursache hinstellt, worauf wir schon früher bei
einer ebenfalls beachtenswerten Schrift Pf.s hinwiesen.
A. Römer (Leipzig).
James H. Leuba, Religions and other Ecstacies.
Im 1. Bd. (Nr. 4) von The Journal of Religion sucht L. die Beziehungen
zwischen religiöser und nichtreligiöser Ekstase auf. Er beginnt mit der
Verzückung des Epileptikers vor dem Anfall, indem er ärztliche Berichte
oder Selbstzeugnisse verwertet. Beim Epileptiker sind in jenem Falle Reiz
und Disposition nicht im normalen Verhältnis, sondern der Reiz ist nicht
bewnßt. Die religiöse Ekstase tritt unter besonderen Bedingungen ein;
nämlich bei einem vorausgehenden Glauben an den’ göttlichen Ursprung der
Ekstase oder bei einem Glauben an Gott, der sich selbst in den Menschen
offenbaren kann. | A.Römer (Leipzig).
KarlJaspers, Die Idee der Universität. Berlin, Julius Springer, 1923.
80 Seiten.
Als Universitätsprofessor und Forscher sucht Jaspers sich Klarheit
über den Sinn des eigenen Tuns, ein Bewußtsein seiner selbst zu schaffen
and Kriterien zur Beurteilung der widerstreitenden neueren Meinungen über
die Aufgaben der Universität zu entwickeln. Die Schrift, die selbst heikle
Fragen, wie die der Verleihung des Dr. hon. caus., der Professorenberufung,
der Stellung der Universität zu Staat und Nation usw. tapfer und mit feinem
Takt entscheidet, wird ihm zu einem Appel an unser kulturelles Gewissen,
die Idee des Geistes gegen alle mechanischen, persönlichen, nationalistischen
usw. Interessen zu erkennen und rein zu halten. Es ist ihm nicht in über-
lebter philosophischer Manier um letzte Grundsätze zu tun, sondern er
sucht im Kampf gegen die Definition das Fließende, Faktische, in unserer
Zeit wirklich und notwendig Gewordene der Universitätsidee faßbar zu
machen.
Die Ausführungen über die Idee der Universität an sich werden um-
lagert von einer Untersuchung über die zentralen Kräfte und die allgemeinen
Formen geistiger Existenz, die sich auf die Themen »Geist, Bildung, Wissen-
schaft«, »Erziehung und Unterricht«, »Begabung und Auslese«, »Kommu-
nikation« (der Geist ist seinem Wesen nach sozial) und »Persönliche und
institutionelle Gestalt des Geistigen« erstrecken, sowie von praktischen
Schiußfolgerungen über die >»Abhängigkeiten und Auswirkungen der Uni-
versitätsidee in der Wirklichkeit«. Die Lebendigkeit der Idee der Universität
charakterisiert sich in einer Einheit von voneinander unlöslichen Zwecken
(Fachschulung zum Beruf, Bildungsschulung und Forschung), die auf dem
Wege der Entfaltung der Organe zum wissenschaftlichen Denken in philo-
Archiv für Psychologie. LU. 19
290 Literaturberichte.
sophischer und kommaunikativer Weise auf ein Ganzes hin zielstrebig sind,
auf ein Ganzes sowohl was persönliche Berührung mit dem Erkenntnis-
material, als auch was Bildung im Sinne der Humanität, Weltanschauung
und freie autonome Gestaltung des Lebens betrifft. — So wenig die Uni-
versität eine zufällige staatliche Institution ist, so wenig darf sie den An-
spruch der führenden Institution an sich machen. »In ibr zu leben, gibt
der Existenz Struktur und Farbe und nimmt sie auf in ein Ganzes.«
H. Jancke (Heidelberg).
Dr. W. E. Peters M. A., Die Auffassung der Sprachmelodie. Leipzig, Kom-
missionsverlag vom Theosophischen Verlagshaus, 1924.
Als auf dem Kongreß für allgemeine Ästhetik und Kunstwissenschaft
in Berlin (7. bis 9. Oktober 1914) der Leipziger Germanist Sievers seinen
Vortrag »Demonstrationen zur Lehre von den Klangkonstanten in Rede und
Musik«< hielt, wurde ihm verscbiedenerseits, besonders von dem Würzburger
Psychologen KarlMarbe!), entgegengehalten, daß seine Lehre von der
»individuellen Klanggebung« sich vielfach auf subjektive Urteile gründe
und einer Nachprüfung und Ergänzung durch die wissenschaftlich einwand-
freien Methoden der Experimentalpsychologie dringend bedürfe. Die auf dem
Kongreßvortrag von den Diskussionsrednern so stark betonte Notwendigkeit
objektiv einwandfreier Untersuchungen haben Sievers veranlaßt, gemein-
sam mit dem psychologischen Institut Leipzig solche Untersuchungen vor-
zunehmen. Sievers selbst hat in einer Vorrede zu den Untersuchungen
von W. E. Peters, »Der Einfluß der Sieversschen Signale und Bewegungen
auf die Sprachmelodie« (Psychologische Studien 1918 Bd. 10), die von den
Psychologen erhobene Forderung anerkannt und sich bereit erklärt, dem
Verlangen nachzukommen, »das, was auf diesem Gebiete bisher nur durch
subjektive Beobachtungen ermittelt worden war, einer experimentellen Prüfung
' gu unterziehen, die festzustellen hätte, was von dem bisher Vorgetragenen
als sichere Grundlage für den Weiterbau betrachtet werden dürfe«.
Ein neuer Schritt zur kritischen Würdigung der Sieversschen Lehre
von der Sprachmelodie ist die neue Publikation von W.E. Peters, die in
einem stattlichen Bande von ca. 200 Druckseiten den Sieversschen Ent-
deckungen zu einer experimental-psychologischen Basis verhelfen möchte.
Wichtig ist vor allem die kritische Einstellung des Verfassers. Er beginnt
seine Arbeit mit einer Klärung des so wichtigen Begriffes der Sprachmelodie,
indem er im ersten Kapitel seines Buches eine historische Entwicklung des
Problems gibt, die wichtigsten Namen und Lehrmeinungen anführt, Kritik
an allen übt und eine Scheidung in den Anschauungen von der Sprach-
melodie gibt, wobei er der älteren Auffassung von der »Musikalischen
Melodie« die modernere von der »Reinen Sprachmelodie« entgegensetzt.
Aus dieser historischen Kritik ergeben sich für ihn eine Reihe von Auf-
gaben allgemeiner und spezieller Art für die experimentelle Prüfung. Ein-
gehend wird das psychologische Untersuchungsverfahren beschrieben. Dem
1) Vgl. hierzu die Arbeiten aus dem psychologischen Institut Würzburg,
K. Marbe, Über den Rhythmus der Prosa, Gießen 1904; Eggert, Unter-
suchungen über Sprachmelodie. Ztschr. f. Psych. Leipzig 1908.
Literaturberichte. 291
Verfasser ist es nach langen Versuchen gelungen, die Luftübertragung vom
Grammophon und Phonographen auf das Rußpapier des Kymographions zu
erfinden und dieses Verfahren durch direkte Verbindung von Kymographion
und Grammophon so zu vervollkommnen, daß es den weitreichendsten An-
sprüchen genügt. Es ist also die Möglichkeit gegeben, das subjektive Ab-
hören einer sich gleichbleibenden Tonquelle (Grammophonplatten) durch die
Versuchsperson an den objektiven Kurvenaufzeichnungen durch das Kymo-
graphion in verschiedener Weise bis ins einzelste nachzuprüfen und die
Sprachmelodie nach einer Reihe von Gesichtspunkten zu bestimmen, also
das Wesen der Sprachmelodie und ihre Auffassung zu analysieren.
Das gebotene Material ist sehr reich. Die zeitraubenden Versuche sind
mit größter Gewissenhaftigkeit durchgeführt worden, und man sieht mit
Erwartung weiteren in Aussicht gestellten Veröffentlichungen entgegen,
durch welche die Erkenntnis der inneren Struktur der Sprachmelodie, die
sich als sehr komplizierte Komplexe darbietet, noch weiter gefördert und
vervollkommnet wird. Dr. M. Gebhardt.
Florian Znaniecki. The Laws of Social Psychology. Warsaw, Cracow,
Poznan, Gebethner & Wolff, 1925. 3208. 2 Dollar.
Der Verfasser versucht den seit ungefähr 40 Jahren in unsere mathe-
matisch - naturwissenschaftliche Gedankenwelt eindringenden Relativitäts-
gedanken in die Sozialpsychologie einzuführen. Sie erforscht nach Znaniecki
die sozialen Erfahrungen und die sozialen Akte. Soziale Erfahrungen sind
die von Individuen oder von Gruppen gewonnenen Erfahrungen, daß andere
Individuen oder Gruppen als beseelte Wesen handeln. Soziale Akte sind
solche Handlungen, mittels deren Individuen oder Gruppen andere Individuen
oder audere Gruppen in bestimmter Hinsicht beeinflussen wollen. Ein sozialer
Akt und die durch ihn bei einer Person oder einer Gruppe hervorgerufene
Reaktion, insofern sie für den jenen Akt Ausübenden eine soziale Erfahrung
ausmacht, bilden zusammen eine soziale Aktion. Sie stellt, so kompliziert
sie auch manchmal sein mag, immer ein relativ geschlossenes soziopsycho-
logisches System dar, d. h. sie wird von dem, der den sozialen Akt ausübt,
mehr oder weniger ganzbeitlich und als sich von seinen anderen Erfahrungen
und Handlungen abhebend erlebt. Daß eine soziale Aktion, wenn sie ein-
mal begonnen hat, früher oder später zu Ende geführt wird, ist »die letzte
nnd unerklärliche Tatsache der Sozialpsychologie« (S. 63). Nur die Ab-
weichungen von diesem »Vollendungsprinzip« sind kausal erklärbar.
Als wesentliche Bestandteile jeder sozialen Aktion werden die soziale
Tendenz und die soziale Situation unterschieden. Die soziale Tendenz, d.h.
der zur sozialen Handlung drängende Impuls ist für jede soziale Aktion
das grundlegende Element, das zwar nicht das Entstehen und Verlaufen
der sozialen Aktion kausal zu erklären vermag, aber als ein dynamisches
Element eines praktischen Systems aufgefaßt werden kann. Jede soziale
Situation enthält immer drei Elemente, nämlich das soziale Objekt, das bee
zweckte Resultat und den instrumentalen Prozeß, zuweilen auch noch als
ein viertes Element das über sich nachdenkende Ich. Indem das handelnde
Subjekt mittels eines instrumentalen Prozesses, beispielsweise mittels Worte
oder mittels Körperbewegungen, ein soziales Objekt, d. h. eine zumeist
19*
292 Literaturberichte.
wirkliche, manchmal auch nur imaginäre Person oder Gruppe, zu beeinflussen
sucht, erwartet und bezweckt es eine Reaktion des sozialen Objektes.
Sämtliche vier genannten Elemente der sozialen Situation bedeuten für das
Subjekt Werte. Sobald sich Elemente einer sozialen Situation verändern,
werden sie vom Subjekt neu bewertet, so daß dadurch eine Veränderung
der sozialen Tendenz eintritt. Znaniecki formuliert für diese Änderungen
Kausalgesetze, die, obgleich sie weder endgültig (S. 136) noch vollzählig
(S. 288) sein wollen, doch geeignet sind, die mannigfachsten sozialen Hand-
lungen unter gemeinsame, kausal erklärende Gesichtspunkte zusammen-
zufassen.
Wie das einen sozialen Akt vollführende Subjekt die einzelnen Elemente
einer sozialen Situation bewertet, hängt mit davon ab, wie das soziale
Objekt auf jenen sozialen Akt reagiert. Ob und wie aber das soziale Objekt
reagiert, beruht wieder mit darauf, wie es das handelnde Subjekt und
dessen soziale Handlung bewertet. Der Mensch als sozial handelndes Wesen
ist also von seiner Bewertung durch die Umwelt wesentlich mit abhängig.
Demzufolge läßt sich vom sozial handelnden Menschen auch kein endgültiges,
sondern nur ein relatives Bild entwerfen, das der Kultur und der Orga-
nisation der jeweiligen Gesellschaft entspricht. Bergfeld (Leipzig).
Dom Thomas Verner Moore, Dynamic Psychology. London, 16 John
Street, Adelphi, J. B. Lippincott Company, 1924. 444 S. 15 sh.
Des Verfassers aus dem Titelblatte ersichtliche dreifache Eigenschaft
als Psycholog, Benediktinermönch und Psychotherapeut spiegelt sich darin
wieder, daß sich das Buch eine dreifache Aufgabe stellt, nämlich 1. einen
Einblick in die modernen Richtungen der Psychologie zu geben, 2. den
Menschen das eigene Innere erkennen zu lebren und dadurch seelische
Konflikte lösen zu helfen und 3. in die klinischen Probleme der Psychologie
einzuführen. Trotz so verschiedenartiger Aufgaben ist, da sich deren jede
mit bewußten Reaktionen befaßt, ein einheitliches Werk, eine Dynamic
Psychology entstanden.
Gegenüber der modernen Richtung des Behaviorismus, eines “outgrowth
from animal psychology” (S. 8), wird erfolgreich dargetan, daß schon der
Psychologie der Tiere, geschweige derjenigen der Menschen das Bewußtsein
kein verpönter Begriff sein darf. »Die Vernachlässigung der historischen
und das Ignorieren empirischer Forschung« wird als "capital sin” (S. 265)
der Psychoanalyse vorgehalten. Sie ist keine psychologische Theorie, sondern
eine durchaus nicht verwerfbare, aber unzulängliche Methode.
Mit bewußten Reaktionen, die teils freiwillige Willensakte, teils not-
wendige Gefühle, Affekte (emotions), Impulse oder Wünsche sind, reagiert
das Bewußtsein auf seine empfangenen Eindrücke. Die Zahl der Gefühls-
qualitäten ist unbekannt, übersteigt aber höchstwahrscheinlich Wundts
Sechszahl. Der Affekt wird durch die intellektuelle Einsicht in die beim
Affekterlebnis gegebene Situation verursacht. Ein Impuls ist die bewußte
Tendenz, eine unserer physischen oder psychischen Fähigkeiten auszuüben.
Durch Hemmung eines Impulses wird ein Wunsch hervorgerufen, d.h. die
Begierde, eine Situation zu suchen oder zu schaffen, in welcher der Impuls
befriedigt zu werden vermag. Da die Wünsche von den Impulsen, diese
Literaturberichte. 293
aber von den Fähigkeiten abhängen, sind die Arten unserer Wünsche ebenso zahl-
reich wie die Arten unserer Fähigkeiten. Die Wünsche haben eine natürliche
Tendenz zur planmäßigen Gruppierung. Damit die Gruppierung zu einem
angemessenen, das individuelle Glück ausmachenden Lebensplan führt, hat
die dynamische Psychologie praktische Direktiven zu geben.
Der Psychotaxis genannte durchausnormaleImpuls, angenehme Situationen
aufzusuchen, unangenehmen aber auszuweichen, kann zur Übertreibung, zu
einer Parataxis ausarten, die elementarer Bestandteil der Psychosen und
Psychoneurosen ist. Nicht durch Organerkrankungen bedingte Psychosen
und Psychoneurosen sind zu heilen, indem die ihnen zugrunde liegenden
Parataxeis bekämpft werden.
Am Schlusse seiner mit großer Sach- und Literaturkenntnis und kritischer
Schärfe entwickelten Ausführungen fordert Moore, daß man den Seelen-
begriff, im metaphysischen Sinne, nicht im Sinne einer psychologischen
Struktur genommen, nicht länger mehr vernachlässigen solle. "The soul is
a conclusion arrived at by argument, not an object of perception” (S. 18).
Moores zwei Hauptargumente sind, daß man auf Grund der Entwicklungs-
vorgänge im Organismus auf ein dem letzteren innewohnendes vitales
Prinzip, eine Entelechie oder Seele schließen müsse und daß unsere Be-
wußtseinsprozesse, da sie nicht mechanische Tätigkeit der Atome unserer
Nerven und Gehirnzellen sein können, einer spirituellen Substanz, einer
Seele, zugeschrieben werden müssen. Die beiden Argumente kommen da-
durch zustande, daß Organismen und Atome als physisch, als materiell
unterschieden werden von psychischen, nicht-materiellen Bewußtseinsprozessen
und ihnen analog gedachten Entwicklungsvorgängen im Organismus. Wer
jedoch eingedenk bleibt, daß ihm das als physisch und als psychisch Unter-
schiedene im Grunde immer nur psychisch, d.h. als Bewußtseinstatsache
gegeben ist, kann jenen Argumenten keine Beweiskraft einräumen.
Bergfeld (Leipzig).
Robert A.Brotemarkle, Some Memory Span Problems. An Analytical
Study at the College-Adult Level, Philadelphia, University of
Pennsylvania, 1924. S. 229—258.
Brotemarkle prüfte die Fähigkeit durchschnittlich 20—21 Jahre
alter Studenten und Studentinnen, eine Anzahl diskreter Elemente auf-
merksam aufzufassen und sofort zu reproduzieren. Innerhalb der Geprüften
sonderten sich zwei extreme Flügelgruppen ab, deren eine in einem hohen
Grade und deren andere in einem niederen Grade jene Fähigkeit besaß.
Bergfeld (Leipzig).
Henry Sherman Oberly, The Range for Visual Attention, Cognition
and Apprehension, Philadelphia, University of Pennsylvania, 1924,
Nachdruck vom American Journal of Psychology, Vol. 35 S. 3832—52.
2—15 schwarze, ungruppierte Punkte auf weißem Grunde wurden
tachistoskopisch dargeboten und ihrer Zahl nach beurteilt. Aus den Selbst-
beobachtungen der Vpn. über das Zustandekommen ihrer Urteile schließt
Oberly, daß die systematischen Kategorien “attention”, “cognition” und
294 Literaturberichte.
"apprehension” anders, als es in der Literatur geschieht, charakterisiert
werden sollten. Bergfeld (Leipzig).
Leon Dupre Stratton, A Factor in the Etiology of a Sub-Breathing
Stammerer, Metabolism as Indicated by Urinary Creatine and
Creatinine, Philadelphia, University of Pennsylvania. 1924. Nach-
druck vom Journal of Comparative Psychology, Vol. 4 Nr. 3
S. 325—46.
Strattons im wesentlichen physiologisch-medizinische. Untersuchung
gehört nur insofern zum Bereich der Psychologie, als sie einen Beitrag
dazu liefert, daß der Gesundheitszustand der Körperorgane die von diesen
Organen ausgehenden Reize mitbeeinflußt. Bergfeld (Leipzig).
Bulletin of the State University of Jowa, December 15, 1924. What the
University of Jowa is Doing for Children. 24 Seiten.
In programmatischer Form wird beschrieben, was alles die Jowa Child
Welfare Research Station für die physische und psychische Wohlfahrt der
Kinder tut, damit sie, ihrem Stiftungszwecke gemäß, wissenschaftliche
Methoden zur Bewahrung und Entwicklung normaler Kinder erforschen und
Studierenden und weiteren Kreisen bekanntgeben kann.
Bergfeld (Leipzig).
L. Vivante, Note sopra la originalitä del pensiero, specialmente concernenti
la psicoanalisi e la psicologia. Sonderdruck aus Rivista di cultura,
Bd. 11/12, ohne Jahresangabe. 30 Seiten.
Auf eine Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse folgt eine Kritik
von McDougall. Obgleich dieser den Tropismus und den Behaviorismns
bekämpft und selbst den Begriff einer Zielbestimmtheit in der Tätigkeit
des Denkens anufstellt, wird er den Erscheinungen des Denkens nicht gerecht,
da ihm der Begriff der Originalität und der inneren Zielbestimmtheit
(attività intima) des Denkens fehlt. O. Klemm (Leipzig).
L. Vivante, Intelligence in expression. With an Essay: Originality of
thonght and its physiological conditions. Aus dem Italienischen
übersetzt von B. Bullock. London 1925. XI u. 205 Seiten.
Die Originalausgabe wurde in Bd. 47 S. 224 besprochen. Hinzugekommen
ist eine Erörterung über die Selbständigkeit des Gedankens, die auch seine
»Freiheit« in sich schließt, und seine physiologischen Grundlagen, ein-
schließlich der Bindung an ein erlebendes Individuum überhaupt. Der Verf.
entscheidet sich dafür, daß es zwischen der transzendentalen und der psycho-
genetischen Betrachtung des Denkens keinen wesentlichen Unterschied gebe,
und daß demnach auch die Psychologie und die Philosophie des Denkens
letztlich miteinander zusammenfallen. 0.Klemm (Leipzig).
Literaturberichte. 295
Sydney Alrutz, Neue Strahlen des menschlichen Organismus. (Ein Bei-
trag zum Problem der Hypnose.) Mit einer Abbildung. Kleine
Schriften zur Seelenforschung, herausgegeben von Arthur Kron-
feld. Stuttgart, J. Püttmann, 1924. Heft 9. 32 Seiten.
Kurt Hildebrandt, Gedanken zur Rassenpsychologie. Ebenda Heft 10.
20 Seiten. 1924.
Gerhard Scherk, Zur Psychologie der Eunuchoiden. Ebenda Heft 12.
24 Seiten. 1924.
Die Schrift von Alrutz ist ein Auszug ans seinem 1917 veröffent-
lichten schwedischen Hauptwerk »Till nervaystemets dynamik« und mehreren
englischen und französischen Veröffentlichungen über denselben Gegenstand.
Verf. setzt sich in Gegensatz zu denjenigen Forschern, die die Entstehung
des hypnotischen Zustar.des auf Suggestion oder auf nervös-somatische Ein-
wirkungen zurückführen, und glaubt wie Ochorowicz u. a. an einen
spezifischen, vom Hypnotiseur oder seinem Nervensystem ausgehenden Ein-
flüß. Bei diesem kann es sich um eine Emanation oder um eine besondere
Form strahlender Energie handeln. In seinen Versuchen, in denen sich die
Vp. meist in leichter Hypnose befand, erzielte er am Arm durch »Passes«
(Striche ohne Berührung) eine Änderung der Sensibilität; der Erfolg blieb
der gleiche, wenn der Arm von einer durchlässigen Platte aus Glas oder
Metall bedeckt war, er blieb aus bei einem Schutz durch Karton, Wolle,
Watte. Bewegung eines Muskels erfolgte, wenn der entsprechende motorische
Punkt oder seine Sehne fixiert (»visiert«) wurde. Auch einige Versuche
über Telepathie wurden angestellt. A. glaubt, daß ihm das Erwecken der
Vp. aus dem hypnotischen Schlaf durch Konzentrierung des Willens ge-
lungen ist (?). Ref. erkennt die Bemühungen des Verf., alle Fehlerquellen
auszuschließen, an, kann aber Bedenken gegen seine Versuche und Schlüsse
nicht zurückhalten. Es wäre nützlich gewesen, die durch Visierung hervor-
gerufenen Bewegungen genauer zu analysieren.
Kurt Hildebrandt verbreitet sich zunächst über das Wesen der
Rasse, die er als die Summe erblicher Eigenschaften einer bestimmten
Menschenform definiert, sodann über den Anteil der Vererbungslehre an der
Rassenkunde. Vererbung erworbener Eigenschaften spielt beim Menschen
höchstens eine untergeordnete Rolle, bestimmenden Einfluß auf sein leib-
liches und geistiges Verhalten hat die Kreuzung, deren Ergebnis als Misch-
rasse zu bezeichnen ist. Konstant bleiben immer die »Erbeinheiten«, ein
Höherzüchten der Menschen gibt es nicht. Verf. nimmt die von Günther
gegebene Einteilung der europäischen Rassen in eine nordische (arische),
westische (mittelländische), ostische und dinarische (adriatische, sarmatische)
an. Die nordische Rasse ist die edelste, aber ihre Reinheit fällt nicht mit
hoher Kulturstufe zusammen, gerade die bedeutendsten Dentschen ver-
danken ihre Größe einer Blutmischung. Vollkommener Abschluß einer Rasse
führt zu Einseitigkeit; eine Rassenmischung ist zu erstreben, sofern es
sich nicht um Blutarten handelt, die einander vollständig fernstehen. Den
Juden ist in der Geschichte das bei ihnen stark entwickelte Blutbewußtsein
sehr zu statten gekommen. Die Mischung nordischen Blutes mit jüdischem
ist nicht unbedingt abzulehnen, wenigstens wenn es sich um eine Kreuzung
296 Literaturberichte.
mit Westjuden handelt. Wenn auch nicht wirklichen Kreuzungen, also
Ehegemeinschaften das Wort geredet werden darf, so kann doch geistige
Gemeinschaft nützlich sein.
Wie Scherk ausführt, müßte man erwarten, daß den typischen
somatischen Erscheinungen des Eunuchoidismus, der uns bald in der Form
des eunuchoiden Höhenwuchses, bald in der des eunuchoiden Fettwuchses
entgegentritt, ein typisches Bild des psychischen Verhaltens entspricht.
Trotzdem findet man in der Literatur keine einheitliche Auffassung der
eunuchoiden Psyche. Peritz sieht im Kunuchoidismus eine Form des
Infantilismus, Sterling stellt mehrere Typen der Anomalie auf nach der
gleichzeitig beobachteten Störung des Intellekts, Krisch legt Gewicht auf
die Beziehungen zu epileptischen Erscheinungen, Onuf findet keine sicheren
Störungen des Sexuallebens, während umgekehrt H. Fischer alle psychischen
Eigenheiten der Eunuchoiden auf den Mangel der Vita sexualis zurück-
führt, und F. Fränkel endlich lehnt überhaupt jeden Zusammenhang
zwischen äußerem Habitus und seelischer Struktur ab. Nach der eignen
Ansicht des Verf. gehören Intelligenzdefekte nicht zum typischen Bilde
des Eunuchoidismus. Dagegen sind bestimmte Eigentümlichkeiten des
Charakters regelmäßig anzutreffen, wie Mangel an Aktivität, an Wagemut,
an Ehrgeiz. Der sexuelle Trieb fehlt, und höhere seelische Affekte können
nicht entstehen. Triepel (Breslau).
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m.b.H. IN LEIPZIG
Die Dekadenz der Arbeit
Prof. Dr. Th. Svedberg
Nach der 2. Auflage aus dem Schwedischen übersetzt von
Dr. B. Finkelstein
Die aktuellen Probleme der Physik und Chemie — Umwandlung der
Energie, Moleküle und Atome, Kolloide, moderne Transmutationsversuche,
flüssige Kristalle usw. — werden in dem Werk in jener allgemeinverständ-
lichen und anziehenden Form dargestellt, für die die schwedischen Gelehrten
eine besondere Gabe besitzen.
Nicht nur der gebildete Laie, sondern auch der Fachmann findet in dem
Buch viele Angaben, die in der zugänglichen Fachliteratur fehlen.
Gebunden Goldmark 6.—, broschiert Goldmark 5.—
Besprechung: Das Buch hat seinen Titel nach dem Prinzip erhalten, das mehr als
alle anderen die Naturforschung der letzten Jahre beherrscht, von dem Gesetze der Degradation
der Energie, der Arbeitsdekadenz. In wahrhaft allgemeinverständlicher Form werden die im
Vordergrunde des wissenschaftlichen Interesses stehenden Probleme dargelegt. ...
Das Werk gehört unbestreitbar zu den interessantesten und wertvollsten Erscheinungen.
Die Ausstattung ist hervorragend, die Übersetzung ausgezeichnet.
Prof. Quibier, Jena, in Chemikerzeitung.
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m.b.H. IN LEIPZIG
Vor kurzem erschien:
Die Formen der Wirklichkeit
Vorträge, gehalten in der
Kieler Ortsgruppe der Kant- Gesellschaft
zum 200. Geburtstage Kants
von
G. Martius und J. Wittmann
ehem. Prof. a. d. Univ. Kiel a. 0. Prof. a. d. Univ. Kiel
114 Seiten. Preis: Goldmark 5.—
Der erste Teil der Schrift von J. WITTMANN handelt über
Raum, Zeit und Wirklichkeit
(zugleich eine Würdigung der Lehre Kants)
Der zweite Teil von G. MARTIUS über
Die Kategorienlehre Kants
In diesen Arbeiten werden Kants kritische Grundideen vom wirklich
empirischen Standpunkt, wie Biologie und Psychologie ihn heute bieten,
in einfacher, klarer Form entwickelt.
Inhalt des 3. u. 4. Heftes.
Seite
Franz ScoLa, Über das Verhältnis von Vorstellungsbild, Anschauungsbild
uid Nachbild = s s e e è mw ach a Bar ae a a o 297
Aueuste Fuacu, Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß.
Mit 13 Figuren im Text ... 2. 22 2 ee nee. 369
CurisTtIan Rocce, Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie
WITKL 5. 5: ar a ce ee Eee eh 441
Literaturberichte:
Friepeich JODL, Lehrbuch der Psychologie. (O. Sterzinger) . . . . . 469
E. Martxak, Meinong als Mensch und als Lehrer. (O. Sterzinger).. . 470
G. E. MüLzer, Abriß der Psychologie. (Aloys Müller)... ..... 470
Dr. Max Orrner, Das Gedächtnis. Die Ergebnisse der experimentellen
Psychologie und ihre Anwendung in Unterricht und Erziehung.
(Aloys Müller): 5. #5 wm ea 470
A. Hezsnarv, La Relativit& de la Conscience de Soi. (Max Dessoir) . 471
Dr. Huco Dınerer, Die Grundlagen der Physik. Synthetische Prin-
zipien der mathematischen Naturphilosopbie. (Aloys Müller)... . 471
Dr. Joser ScHwERTSCHLAGER, Die Sinneserkenntnis. (Aloys Müller). . 472
Karı Reinınger, Über soziale Verhaltungsweisen in der Vorpubertät.
— Homer) 2.3 we ae ee en 474
Evcen Rosenstock, Soziologie. I: Die Kräfte der (Gemeinschaft.
(I ROMEI Su ine ea E a A a Er 414
J. SapGer. Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. (A. Römer) 75
Oskar DIXGLIXGER, Arbeit—Glaube—Liebe. Das Glanbensbekenntnis
eines deutschen Christen. (A. Römer) . . 2... 2 2 2 2 200. 415
WiırneLs Wexor, Grandriß der Psychologie. (4. Römer) ...... 476
A. Priser, Untersuchungen zur Psychologie der Blinden. (A. Busemann) 476
M. SarEYKo, Apperzeption und sukzessive Attention als Grundbegriffe
der Arbeitsschul-Didaktik. (A. Busemann) . . .. 22.2.0... 417
G. Bacher, Die Achsche Suchmethode in ihrer Verwendang zur Intelli-
genzprüfung. (4. Busemann) . .. . >: >22. 478
H. Krk, Über die Bedeutung der sensoriellen Veranlagung für die
Bildung von Objektvorstellungen, insbesondere auch bei Eidetikern.
(I. Busman) = 3.8 2:00. a a ee E 479
H.Düxer, Über das Gesetz der speziellen Determination. Ein experi-
menteller Beitrag zur Lehre vom Willen. (A. Busemann) 480
— |
N
(Aus dem psychologischen Institut der Universität Köln.)
Über das Verhältnis von Vorstellungsbild, Anschau-
ungsbild und Nachbild.
Theoretische Erwägungen im Anschluß an die Marburger
eidetischen Untersuchungen.
Von
Franz Scola (Köln).
Inhaltsübersicht.
Verzeichnis der häufiger zitierten Schriften .
Vorbemarkung
1. Allgemeines über das Verhältnis von oretellungs-
bild, Anschauungsbild und Nachbild. . ....
Gedächtnisbilder und Nachbilder. . . . . 2...
Nachbilder und Anschauungsbilder .
Vorstellungsbilder und Anschauungsbilder i ;
2 Die Entwicklung von Anschauungsbild und Vor-
stellungsbild.. —F
3. Die Bedingungen für das Auftreten der Ausehanunge-
bilder und Vorstellungsbilder
4. Die Entwicklung des Nachbildes. ; i
5. Die Merkmale und Verhaltungsweisen der Bilde er.
Die Deutlichkeit . . . 2
Das Gewicht (die Intensität) der Bilder ;
Die Erscheinungsweise des Hintergrundes .
Die Projektion der Bilder auf farbige Hintergründe .
Die Projektion der Bilder auf nichtebene Gründe .
Die Lageänderung der Bilder bei Neigung des Kopfes . `
Die Gestaltänderung der Bilder bei Drehung des Schirmes .
Die Größenänderung der Bilder bei ne des Schirmes
Die Lokalisation der Bilder . f ;
Der Einfluß von Störungsreizen .
Die Größe des Sehbezirks bei den einzelnen Bilde.
Schlußbemerkung
Archiv für Psychologie. LU. 19
315
33882323838833888
298 Franz Scola,
Verzeichnis der häufiger zitierten Schriften.
Über die Vorstellungswelt der Jugendlichen und den Aufbau des in-
tellektuellen Lebens. Eine Untersuchung über Grundfragen der Psychologie
des Vorstellens und Denkens. Hrsg. v. E.R. Jaensch, Zeitschrift für
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Abt. I. (Im folgenden ZP. I.)
*(1) I. Busse, P., Über die Gedächtnisstufen und ihre Beziehung zum Auf-
bau der Wahrnehmungswelt. ZP. I. 84.
*(2) II. Gottheil, E., Über das latente Sinnengedächtnis der Jugendlichen
und seine Aufdeckung. Ebenda 87.
*(3) II. Jaensch, E. R. und W., Über die Verbreitung der eidetischen An-
lage im Jugendalter. Ebenda 87.
*(4) IV. Gösser, A., Über die Gründe des verschiedenen Verhaltens der
einzelnen Gedächtnisstufen. Ebenda 87.
*(5) V. Krellenberg, P., Über die Herausdifferenzierung der Wahr-
nehmungs- und Vorstellungswelt aus der originären eidetischen
Einheit. Ebenda 88.
Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre Struktur im Jugend-
alter. Eine Untersuchung über Grundlagen und Ausgangspunkte unseres Welt-
bildes usw. von E. R. Jaensch und Mitarbeitern. Leipzig 1923.
*(6) I. Jaensch, E. R., Zur Methodik experimenteller Untersuchungen an
optischen Anschauungsbildern.
(7) I. Jaensch, E. R, und Reich, F., Über die Lokalisation im Seh-
l raum. $
(8) TI. Kröncke, Karl, Zur Phänomenologie der Kernfläche des Seh-
raums.
(9) IV. Jaensch, E. R, Über den Nativismus in der Lehre von der
Raumwahrnehmung.
(10) V. Jaensch, E. R., Über Raumverlagerung und die Beziehung von
Raumwahrnehmung und Handeln.
(11) VI. Jaensch, E. R., Übergang zu einer Schichtenanalyse des Bewußt-
seins USW.
(12) VIL. Jaensch, E.R., Die Völkerkunde und der eidetische Tatsachen-
kreis.
(13) VII. Freiling, H., und Jaensch, E. R, Der Aufbau der räum-
lichen Wahrnehmungen.
(14) IX. Jaensch, E. R., Beziehungen von Erlebnisanalyse und Sprach-
. wissenschaft usw.
(15) X. Freiling, H., Jaensch, E. R, und Reich, F., Das Kovari-
antenphänomen mit Bezug auf die allgemeinen Struktur- und
Entwicklungsfragen der räumlichen Wahrnehmungen.
(16) XI. Freiling, H., Über die räumlichen Wahrnehmungen der Jugend-
lichen in der eidetischen Entwicklungsphase.
(17) XI. Jaensch, E. R, Der Umbau der Wahrnehmungslehre und die
Kantischen Weltanschauungen.
(18) XIII. Jaensch, E. R., Wahrnehmungslehre und Biologie.
(19) XIV. Jaensch, B. R., Ausblicke auf kulturphilosophische und päd-
agogische Fragen und die Jugendbewegung unserer Zeit.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 299
Über Grundfragen der Farbenpsychologie. Zugleich ein Beitrag zur Theorie
der Erfahrung. Hrsg. von E.R. Jaensch, Zeitschrift für Psychol. u.
Physiol. d. Sinnesorg. Abt. I. |
(20) Jaensch, E. R., Vorbemerkung. — ZP. I, 83.
*(21) V. Herwig, B., Über den inneren Farbensinn der Jugendlichen und
seine Beziehung zu den allgemeinen Fragen des Lichtsinns.
Ebenda 87.
*(22) VI. Jaensch, E. R., Über Kontrast im optischen Anschauungsbild,
Ebenda 87.
*(23) VII. Herwig, B., und Jaensch, E. R., Über Mischung von objektiv
dargebotenen Farben mit Farben des Anschauungsbildes.
Ebenda 87.
*(24) Jaensch, E. R., Über die subjektiven Anschauungsbilder. Ber. über
d. VII. Kongr. f. exp. Psychol. in Marburg, hrsg. v. K.Bühler.
Jena 1922.
*(25) Jaensch, E. R., Zur Richtigstellung und Ergänzung. ZP. I, 88.
(26) Jaensch, E. R., Einige allgemeinere Fragen der Psychologie und
Biologie des Denkens, erläutert an der Lehre vom Vergleich.
Leipzig 1920.
(27) Jaensch, Walther, Ober Wechselbeziehungen von optischen, zere-
bralen und somatischen Stigmen bei Konstitutionstypen. Zeit-
schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Band LIX.
1920.
*(28) Jaensch, E. R., und W., Neue Untersuchungen der Jugendpsychologie.
— Aus »Der Schulfreund«. Okt. 1921.
*(29) Kroh, Oswald, Subjektive Anschauungsbilder bei Jugendlichen. Eine
psychologisch-pädagogische Untersuchung. Göttingen 1922.
(30) Kroh, O.„ Eine einzigartige Begabung und deren psychologische
Analyse. Göttingen 1922.
*(31) Kroh, O., Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlichen.
(32) Jaensch, E. R., und Schönheinz, W., Einige allgemeinere Fragen
der Wahrnehmungslehre, erläutert am Problem der Sehgröße.
Nach Untersuchungen über Mikropsie beim Rollettschen Kon-
vergenzplattenversuch. Archiv für die gesamte Psychologie.
XLVI, 1. u. 2. Heft, 1924.
(3) Koffka, K., Über die Untersuchungen an den sogenannten optischen
Anschauungsbildern. Psychologische Forschung. III, 1923.
(34) Koffka, K., Über die Messung der Größe von Nachbildern. Psycho-
logische Forschung. III, 1923.
Vorbemerkung.
Subjektive Anschauungsbilder beruhen auf der Fähigkeit,
einen anschaulichen Eindruck, nachdem der Reiz schon kürzere
oder längere Zeit verklungen ist, mit sinnlicher Deutlichkeit
zu reproduzieren, z. B. einen gesehenen Gegenstand nach seiner
Wegnahme nicht nur vorzustellen, sondern im eigentlichen und
wörtlichen Sinne wiederzusehen. Schon in der älteren Literatur
19*
300 Franz Scola,
war das Phänomen gelegentlich erwähnt worden, ohne doch eine
genauere Bearbeitung zu finden!). In jüngerer Zeit wurden
Anschauungsbilder des Gesichtssinnes zuerst von dem Wiener
Ohrenarzt V. Urbantschitsch, der sie bei seinen Pa-
tienten feststellte, beschrieben. E.R.Jaensch griff die
durch Urbantschitsch gegebene Anregung auf, und es
kommt ihm das große Verdienst zu, in unermüdlicher Forscher-
arbeit eine bis dahin fast unbeachtete, doch nicht bedeutungs-
lose Erscheinung mit ihren eigenartigen Gesetzmäßigkeiten ans
Tageslicht gezogen zu haben.
Die systematische Erforschung des Anschauungsbildes durch
Jaensch und seine Mitarbeiter im Marburger Psychologischen
Institut begann, nachdem eine gelegentliche Beobachtung von
Kroh ergeben hatte, daß unter Jugendlichen in der Alters-
stufe von 9—14 Jahren eine größere Anzahl von Eidetikern?),
d.h. von Individuen, die die Fähigkeit zu Anschauungsbildern
besitzen, sich finden ließen. Seitdem ist von Jaensch und
den Mitgliedern seines Instituts die experimentelle Unter-
suchung des Anschauungsbildes von den verschiedensten Seiten
her in Angriff genommen worden, so daB nunmehr eine Fülle
der interessantesten und wertvollsten Tatsachen zusammen-
gebracht ist.
Die Grundlage aller Marburger eidetischen Arbeiten bilden
die Versuche, in denen das Anschauungsbild mit den ihm ver-
wandten oder ähnlichen Erscheinungen, mit der gewöhnlichen
Vorstellung nämlich (dem Vorstellungsbild) und mit dem Nach-
bild, zusammengestellt und hinsichtlich seiner Merkmale und
Verhaltungsweisen verglichen wird. Dabei ergeben sich ge-
wisse Gesetzmäßigkeiten, die Jaensch zu einer weitausschau-
enden, ungemein geistvollen Theorie verwertet, die wir an
dieser Stelle nur in ganz großen Zügen mitteilen: Vorstellungs-
bild, Anschauungsbild und Nachbild sind Gedächtnisbilder. Sie
stellen eine Schichten- oder Stufenfolge, eine Hierarchie dar,
deren unterste Stufe das Nachbild ist und die im Vorstellungs-
bilde gipfelt. Von diesen drei Gedächtnisbildern, zwischen denen
übrigens kontinuierliche Übergänge bestehen, besitzt das An-
schauungsbild insofern eine besondere Bedeutung, als es nach
1) Angaben darüber bei Kroh (29, 3£.).
2) Der Ausdruck stammt von Jaensch, der auch alle mit dem An-
schauungsbild in Beziehung stehenden Erscheinungen als »eidetische« Tatsachen
bezeichnet.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 301
der Auffassung von Jaensch die alleinige Frühform des Ge-
dächtnisses ist und aus ihm sich sowohl das Vorstellungsbild
als auch das Nachbild im Laufe der Entwicklung herausdiffe-
renziert. Aber nicht nur die Vorstellungswelt, sondern auch
die Wahrnehmungswelt entwickelt sich aus dem Anschauungs-
bild, das demnach die primitive Form alles anschaulichen Er-
kennens darstellt. Schließlich spannt sich der Rahmen der
Theorie noch weiter, indem die Hierarchie der Gedächtnisbilder
eingegliedert gedacht ist in eine Stufenfolge intellektueller Funk-
tionen überhaupt, die ihr Endziel in der Gestaltung des wissen-
schaftlichen Weltbildes findet. Die auf dieser höchsten Stufe
intellektueller Betätigung herrschenden sinnhaften Tendenzen
(z. B. die Tendenz zur Gewinnung eines objektiven Weltbildes)
sind auch schon in den niederen Schichten des Psychischen
wirksam und vor allem in den Gesetzmäßigkeiten der eidetischen
Erscheinungen erkennbar. — Von hier aus überschreitet die
eidetische Theorie die Grenzen der Psychologie und nimmt
unter Hinzuziehung erkenntnistheoretischer Gedankengänge all-
gemeinphilosophischen Charakter an.
Es kann und soll nicht unsere Absicht sein, diese Theorie
einer Kritik zu unterziehen. Vielmehr ist es das Anschau-
ungsbild selbst in seiner Eigenart und sind es die von Jaensch
und seinen Mitarbeitern beigebrachten Tatsachen, die uns zu
einer eingehenderen Beschäftigung mit den durch sie nahe-
gelegten Problemen reizten und die vorliegende Arbeit veran-
laßt haben. Letztere soll durchaus nicht mehr als ein Versuch
sein, die eidetischen Phänomene auf eine unserer psycholo-
gischen Gesamtanschauung entsprechende Art verständlich zu
machen und möge als Versuch auch nur gewertet werden, bei
dem wir uns wohl bewußt sind, daß über Tatsachen nicht so
bald das letzte und entscheidende Wort geredet wird.
Die Anregung zu dieser Arbeit ging von Herrn Prof. Lind-
worsky aus. Ihm sei dafür und für das Interesse, das er
ihr stets in freundlichster Weise entgegenbrachte, auch an
dieser Stelle der verbindlichste Dank ausgesprochen.
Die Aufgabe, die wir uns stellen, rechtfertigt gleichzeitig
die Beschränkung auf eine bestimmte Gruppe von Unter-
suchungen und Tatsachen. Indem wir nämlich das Wesen des
Anschauungsbildes und sein Verhältnis zu den ihm verwandten
Phänomenen zu bestimmen trachten, haben wir uns lediglich
mit den Feststellungen zu befassen, die sich auf die allge-
302 Franz Scola,
meinen Eigenschaften und Verhaltungsweisen der drei oben ge-
nannten Bilderarten beziehen und, wie wir schon sagten, die
Grundlage und den Ausgangspunkt für die weiteren eidetischen
Forschungen und Überlegungen bilden. Wennschon wir also
alle mit dem eidetischen Tatsachenkreis in Verbindung stehen-
den Veröffentlichungen der Marburger zum Studium der Er-
scheinungen verwerteten, so ist es doch nur ein kleinerer Kreis
von Arbeiten, die wir vor allem im Auge haben. In unserem
Literaturverzeichnis sind diese Schriften mit einem * be-
zeichnet.
Für die oftmals wiederkehrenden Ausdrücke: Gedächtnis-
bild(er), Vorstellungsbild(er), Anschauungsbild(er) und Nach-
. bild(er) bedienen wir uns nach dem Vorgang der Marburger der
Abkürzungen: GB, VB, AB und NB.
1. Allgemeines über das Verhältnis von VB, AB und NB.
GB und NB.
Bevor wir auf das Verhältnis der drei Erscheinungen näher
eingehen, müssen wir uns über folgendes klar werden: Bei
jedem anschaulichen Erlebnis, sei es eine Vorstellung oder ein
Nachbild oder auch eine Wahrnehmung, ist zu unterscheiden
zwischen dem Gesamtverhalten, das vom Subjekt eingeschlagen
wird, und dem anschaulichen Kern, der jedem dieser Erleb-
nisse, ob ich nun sehe oder bloß vorstelle oder ob mir ein Nach-
bild erscheint, innewohnt. Fragen wir also nach dem Ver-
hältnis zwischen VB, AB und NB, so bezieht sich diese Frage
entweder auf das subjektive Verhalten, das etwa bei dem einen
Bilde anders ist als bei dem anderen, oder auf den anschau-
lichen Kern, auf den Bewußtseinsinhalt, der bestimmte, ob-
jektive Merkmale und Eigenschaften besitzt. Mit diesem Be-
wußtseinsinhalt, mit dem eigentlichen Bild, beschäftigen sich
die Marburger Untersuchungen, die wir im Auge haben, fast,
ausschließlich, weshalb auch unsere Erörterungen von hier ihren
Ausgang nehmen sollen.
Den bisherigen Anschauungen gemäß verstehen wir unter
einer Vorstellung einen anschaulichen Bewußtseinsinhalt, der
auf der Wiedererneuerung eines früher gehabten Eindruckes
beruht, der also nicht unmittelbar von einem peripheren Reiz
bedingt ist. In dieser Bestimmung sehen wir das wesentliche
Charakteristikum der Vorstellung überhaupt, gleichgültig ob
dic wieder erneuerten Bilder in ihren Merkmalen und ihrem
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 303
Verhalten, in ihrer Erscheinungs- und Erlebnisweise sich weit
voneinander unterscheiden. Demgemäß sind auch die AB als
wiedererneuerte anschauliche Bewußtseinsinhalte prinzipiell zu
den Vorstellungen zu rechnen. Weil sie sich aber durch ihr
Wirklich-gesehen-werden, durch ihre Sinnenfälligkeit, von den
gewöhnlichen, nicht wirklich gesehenen Vorstellungen als eine
besondere und bemerkenswerte Art deutlich abheben, so ist
es wohl berechtigt, sie mit einem eigenen Namen zu bezeichnen,
und wir folgen dem Beispiel der Marburger, wenn wir den Be-
griff der Vorstellung in dem oben angegebenen, weiteren Sinne
durch den des Gedächtnisbildes ersetzen und die AB (wirklich
gesehene Vorstellungen) und VB im engeren Sinne (nicht wirk-
lich gesehene Vorstellungen) zusammenfassend als Gedächtnis-
bilder bezeichnen. — Ihnen gegenüber steht nach unserer An-
sicht das Nachbild. Es erscheint nicht als wiedererneuerter,
sondern lediglich als nachklingender, anschaulicher Inhalt.
Infolgedessen fehlt ihm die wesentliche Bestimmung eines GB,
und es besteht eine Kluft zwischen NB und GB. Das NB kann
nicht GB sein, weil es nur NB ist, weil es nur nachklingt
und nicht wieder erneuert wird, weil sein Zustandekommen
von dem Nochvorhandensein des unmittelbar vorher ausgelösten
Reizzustandes der Netzhaut abhängt. Umgekehrt: Ein Bild, das
nicht im engen Anschluß an die Wahrnedmung, als nachklingende
Empfindung, auftritt, sondern nach kürzerer oder längerer Zeit-
spanne wieder erneuert wird (wie etwa die Wiederholungsemp-
findungen, die Erscheinungen des Sinnengedächtnisses), ist eben
deshalb kein NB mehr, sondern es ist ein GB!).
Man könnte uns einwenden: Das Merkmal der Wiedererneuerung sei gar
nicht die wesentliche Bestimmung des GB. Von einem GB sei vielmehr immer
dann schon zu reden, wenn ein Bild gegeben sei, ohne daß der jetzt gegen-
wärtige Gegenstand durch physikalischen Reiz auf das Sinnesorgan einwirkt.
Wesentlich sei also für ein GB das Zurückbleiben einer Erregung überhaupt,
die nicht durch äußeren Reiz bedingt sei. Dabei bedeute es nur einen graduellen
Unterschied, ob diese rückbleibende und nicht durch äußeren Reiz direkt
veranlaßte Erregung gleich nach der Wahrnehmung oder später, nach längerem
Zwischenraum auftrete. — Unter solchen Voraussetzungen wäre allerdings
das NB zu den GB zu rechnen.
1) Die Forderung nach einer strengen theoretischen Scheidung von NB
und AB, unbeschadet ihrer etwaigen phänomenologischen Ununterscheidbarkeit
(siehe weiter unten!), finden wir auch von R. H. Goldschmidt vertreten
(Rückblick auf Nachbildtheorien bis zur Herausbildung der Fechner-Helm-
holtzschen Auffassung. Arch. f. d. ges. Psych. Bd.42 S. 263).
304 Franz Scola,
s
Demgegenüber erinnern wir daran, daß dann schon das langsame Ab-
klingen einer Empfindung, durch das die Dauer der Empfindung über die ob-
jektive Reizdauer hinausgeht, als Gedächtniserscheinung aufzufassen wäre.
Vor allem aber würde es ein Irrtum sein, wollte man den Unterschied zwischen
dem bloßen Nachklingen und der Reproduktion eines Eindruckes nur als
graduellen Unterschied in der Zeitdauer des Verbleibs der Erregung ansehen.
Denn die Reproduktion, die Wiederbelebung eines Inhaltes nach längerer
oder kürzerer Zwischenzeit setzt notwendig ein prinzipiell anderes Verbleiben
des Eindruckes voraus als das bloße Nachklingen. Beim GB klingt die
Empfindung nicht nach, sondern sie hinterläßt, wie man nicht unzutreffend
sagt, eine »Disposition«, womit das latente oder potentielle Nochvorhanden-
sein des Eindruckes gekennzeichnet werden soll. Es läßt sich dieser Tat-
bestand auch durch den Gegensatz der primären und sekundären Erregung
wiedergeben, ein Gegensatz, der sich übrigens nicht mit dem von peripher
und zentral decken muß. Beim NB ist es die primäre Erregung, die noch
andauert; beim GB ist es die sekundäre Erregung, die aus der Erregungs-
disposition heraus entsteht. Das scheint uns ein mehr als gradueller Unter-
schied. Von ihm aus gelangen wir weiter zu einer noch tieferen Bestimmung
des GB. Das latente, dispositionelle Zurückbleiben der Eindrücke weist näm-
lich darauf hin, daß es sich nicht bloß um ein mehr oder weniger aus-
gedehntes Andauern der Erregung, sondern um eine durch die primäre Er-
regung veranlaßte dauernde Veränderung des psychischen Apparates
handelt. Man ist geneigt, hierbei an die Tatsachen der Assimilation von
Stoffen durch den Organismus zu denken, durch welchen Prozeß dieser selbst
eine dauernde Veränderung erleidet. — In diesem Sinne offenbar spricht
auch Hering vom Gedächtnis als von einer »allgemeinen Funktion der
organisierten Materie«. — Bei den GB findet dies seinen Ausdruck darin,
daß die Bilder in eine enge Verbindung treten mit der Gesamtheit des Psy-
chischen, indem sie einesteils in die vorhandenen Komplexe eingehen und
andernteils dem Verlauf des psychischen Geschehens ihre Wiederbelebung
verdanken. Das NB dagegen erwächst nicht aus einer dauernden Verände-
rung des Organismus, was darin zum Ausdruck kommt, daß es in seiner Ent-
stehung notwendig an die unmittelbar voraufgegangene Wahrnehmung ge-
bunden ist, und daß es spurlos, ohne irgendwelche Bedeutung für das Ganze
des Organismus (des psychischen wie des physiologischen) gewonnen zu
haben, verschwindet.
Es treten uns also in den Marburger Untersuchungen zwei
Gruppen von Erscheinungen entgegen: Nachbilder und Ge-
dächtnisbilder; die Gedächtnisbilder sind entweder Vorstellungs-
bilder (Vorstellungen im engeren Sinne) oder Anschauungsbilder
(wirklich gesehene Vorstellungen).
NB und AB.
Unabhängig von dieser theoretischen Scheidung besteht nun
die andere Frage der praktischen Unterscheidbarkeit der Bilder,
die Frage, ob es bestimmte Merkmale und Verhaltungsweisen
gibt, die ausschließlich entweder den NB oder den GB zu-
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 305
kommen, so daß es möglich wäre, eindeutig anzugeben, wann
wir es mit einem NB und wann mit einem GB zu tun haben.
— Diese Frage erhält ihre eigentliche Bedeutung erst da, wo
der Unterschied zwischen Wiedererzeugtsein und bloßem Nach-
klingen äußerlich fortfällt, wo nämlich das GB im unmittel-
baren Anschluß an die Wahrnehmung reproduziert wird (was
in den Marburger Untersuchungen meist der Fall war), und
wo außerdem infolge besonders günstiger Versuchsbedingungen
die NB eine große Beständigkeit erlangen.
Für die eine Gruppe der GB, für die VB, besteht aller-
dings auch dann keine Schwierigkeit, weil sie sich durch ihre
Erscheinungsweise des »Bloß-vorgestellt-seins« von den wirk-
lich gesehenen NB in jedem Falle deutlich abheben. Nicht so
einfach ist dagegen die Unterscheidung von NB und AB. Beide
werden nach der oftmaligen Angabe der Marburger wirklich ge-
sehen; und wenn sie nun außerdem in gleicher Weise unmittel-
bar nach der Betrachtung des Vorbildes auftreten, dann bedarf
es zu ihrer Unterscheidung anderer Kriterien. Als solche Kri-
terien sind zu nennen: 1. die Fixation des Gegenstandes bei
Erzeugung des NB gegenüber der aufmerksamen Betrachtung
des Objektes bei Erzeugung des AB; 2. der Umriß- und Farb-
fleckcharakter sowie die negative Farbe und Helligkeit des
NB gegenüber der Tendenz des AB, den dargestellten Gegen-
stand womöglich mit allen oder doch mit den bedeutsamsten
Einzelheiten und in seiner ursprünglichen Farbe und Helligkeit
wiederzugeben; 3. das starre Verhalten des NB in bezug auf
Größe, Gestalt, Lage und Lokalisation gegenüber der größeren
Variabilität der geometrischen Verhältnisse beim AB.
Diesen Kriterien aber, das hat sich in den Marburger Unter-
suchungen deutlich erwiesen, kommt keineswegs unbeschränkte
Geltung zu. Es gibt einerseits NB mit vielen Einzelheiten
(5, 100) und in positiver Farbe (5, 98f.; 102f.) und solche,
die in ihren geometrischen Verhältnissen ein von der gewöhn-
lichen Starrheit abweichendes Verhalten zeigen (5, 63 Tab.
u.a.); es gibt andererseits AB, die durch Fixation erzeugt
werden (5, 98ff.; 7, 72; 21, 147 u.a.), die, wie NB, als
bloße, nicht selten negativ gefärbte Lichtflecke erscheinen (4,
105; 10, 165; 29, 15 u.a.), und die sich in den geometrischen
Verhältnissen dem starren Gebaren der NB sehr weit nähern
(3, 95; 29, 40). — Hier ist nun allerdings zu berücksichtigen,
daß sich die Entscheidung, ob ein Bild AB oder NB ist, letzten
Archiv für Psychologie. LI. 20
306 Franz Scola,
Endes auf die Aussagen der Vpn. stützt; und es ist noch eine
offene Frage, ob das Urteil der Vpn. in jedem Falle dem wirk-
lichen Tatbestand entsprechen muß. So wie es nämlich vor-
kommt, daß unter gewissen Bedingungen ein durch äußeren
Reiz faktisch veranlaßter Eindruck dem Beobachter als Vor-
stellung und umgekehrt ein subjektiv erzeugtes Phänomen als
wirklich wahrgenommene Erscheinung gilt, ebenso könnte auch
ein Bild als AB beurteilt werden, wennschon es durch das
Nachklingen des Reizes bedingt, also ein bloßes NB ist.
Aber abgesehen von dieser theoretischen Frage interessiert
uns jetzt vor allem die Tatsache, daß bei dem Urteil des Be-
obachters, ob eine Erscheinung NB oder AB ist, die objek-
tiven Bestimmungen und Merkmale der Bilder weitgehend un-
berücksichtigt bleiben, die Tatsache, daß ein Bild, wennschon
es seiner Erzeugungsart (Fixation) und seinem ganzen phäno-
menalen Charakter nach (negative Farbe usw.) als NB sich
gibt, dennoch als AB beurteilt wird. Diese Tatsache, ist nur
verständlich zu machen durch die Annahme eines subjek-
tiven Kriteriums, das sich mehr oder weniger unabhängig von
den objektiven Merkmalen und Bestimmungen bildet und dem
Urteil der Vpn. zugrunde liegt. Bevor wir jedoch diesen Ge-
danken weiter verfolgen, wenden wir uns, um mit dem Wesen
des AB vertraut zu werden, dem Verhältnis von VB und AB zu.
VB und AB.
Beide unterscheiden sich scharf durch ihre Gegebenheits-
oder Erlebtheitsweise: Das AB wird wirklich gesehen, das
VB aber bloß vorgestellt. Der Unterschied findet in den Mar-
burger Schriften an anderen Stellen anderen Ausdruck. Wir
lassen die wichtigsten Termini hier folgen: Die AB unter-
scheiden sich in nichts von der Wirklichkeit (6, 16), sie er-
scheinen wie etwas wahrnehmungsmäßig Gegebenes (23, 276).
sie besitzen Wahrnehmungs- oder Empfindungscharakter und
sinnenfällige oder sinnliche Deutlichkeit (6, 16; 1, 4; 4, 97;
24, 3; 28, 3), sie werden in eigentlichem und wörtlichem Sinne
wiedergesehen (1, 4 u. 9; 4, 97; 6, 40; 8, 273; 16, 295£.:
21, 130; 24, 3; 25, 3). Alle diese und ähnliche Bestimmungen
treffen für das VB nicht zu. Von ihm wird immer wieder
gesagt, daß es nicht wirklich gesehen, sondern bloß vorge-
stellt werde (1, 8; 6, 40; 8, 273; 16, 295f.; 24, 3; 28, 3 u.a.).
Dieser Unterschied wird von den Vpn. spontan gemacht und
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 307
immer wieder von neuem betont. Dennoch findet sich an keiner
Stelle eine bündige Aussage darüber, worin er eigentlich
gründet, was es heißt: ein Bild sei »wirklich gesehen« oder
es sei »bloß vorgestell«. Diese Frage ist nicht etwa gleich-
bedeutend mit der, wodurch sich Wahrnehmung und Vorstellung
voneinander unterscheiden. Daß zwischen Wahrnehmung und
Vorstellung im absoluten Sinne prinzipiell kein Unterschied be-
steht (wenn wir nämlich als Wahrnehmung einen Bewußtseins-
inhalt bezeichnen, der unmittelbar von einem äußeren Sinnes-
reiz abhängig ist, und als Vorstellung einen solchen, der nicht
unmittelbar von einem äußeren Reiz bedingt wird), muß nach
den neueren Untersuchungen, deren Resultate Lindworsky
in seiner Abhandlung über »Wahrnehmung und Vorstellung«
(ZP I, 80) zusammenfaßt, als erwiesen gelten und findet
seine Bestätigung durch den Aufweis des AB als einer recht
häufigen Form von Vorstellungen mit empfindungsmäßigem
Charakter. Auch hat die oben angedeutete Frage nach dem
‚Wesen des Unterschiedes von »Wirklich-sehen« und »Bloß-vor-
stellen« nicht den Sinn: durch welche Merkmale sich VB und
AB im allgemeinen unterscheiden. Denn wir wissen, daß sie
sich in jedem Falle voneinander abheben eben durch das Merk-
mal der Sinnenfälligkeit, das den AB zukommt, und das die
VB nicht aufweisen (1, 10; 4, 97; 6, 40; 7, 52; 29, 23ff.;
29, 56). Hier fragen wir vielmehr, was die Ausdrücke Sinnen-
fälligkeit, Wahrnehmungsgemäßheit, Wirklich-sehen einerseits
und Bloß-vorstellen andererseits bedeuten, was mit ihnen eigent-
lich gemeint sei. Dieser Frage wenden wir uns jetzt zu, weil
wir glauben, nur durch ihre Beantwortung den Schleier von dem
so geheimnisvoll erscheinenden Wesen des AB abheben zu
können. — Auch Kroh gibt in seinem Buche »Subjektive An-
schauungsbilder bei Jugendlichen« eine Analyse des Wirklich-
sehens, die jedoch zu keinem für unsere Zwecke brauchbaren
Ergebnis führt. Wir werden an gehöriger Stelle auf sie hin-
weisen.
Daß die Deutlichkeit, d. i. der Einzelheitsreichtum
der Bilder in keinem wesensmäßigen Verhältnis zu dem ge-
nannten Unterschiede steht, geht aus den Marburger Unter-
suchungen hervor. Mögen "immerhin die wirklich gesehenen
AB im allgemeinen deutlicher sein als die bloß vorgestellten
VB (29, 28 u. 76), so können doch auch letztere mehr Einzel-
heiten aufweisen als AB (29, 15 u. 28). Diese erscheinen
20 *
308 Franz Scola,
nicht selten wie bloße Farbflecke (4, 105; 10, 165; 19, 15 u.
28 f.; 31, 42), ohne darum an ihrer Sinnenfälligkeit etwas ein-
zubüßen. Von erwachsenen Nichteidetikern werden bekanntlich
die NB ohne jede Einzelheit wirklich gesehen, während die
Vorstellungen trotz allen Detailreichtums empfindungsmäßigen
Charakter für gewöhnlich nicht aufweisen. Übrigens hebt Dr.
E., eine Vp. Krellenbergs, ausdrücklich hervor, daß der
Unterschied zwischen vorgestellten und gesehenen Bildern nicht
in der Deutlichkeit bestehe (5, 84 f.).
Dasselbe ist über die Körperlichkeit der Bilder zu
sagen. Gehen wir die diesbezüglichen Ergebnisse der Mar-
burger durch (1, 30—35; 2, 88; 5, 106ff.), so finden wir,
daB die verschiedensten Formen des Verhältnisses von räum-
licher Erscheinungsweise und Gedächtnis-Stufe!) beobachtet
worden sind, daß schließlich jedes Bild, ob es, wie die VB,
bloß vorgestellt, oder, wie die AB und NB, wirklich gesehen
wird, sowohl körperlich als auch reliefartig und flach er-
scheinen kann.
Weiter könnte der Unterschied zwischen vorgestellten und
gesehenen Bildern ein gradueller oder auch wesentlicher Unter-
schied in der Intensität sein. So vertritt Kroh die An-
sicht, daß die Intensität des VB wesensverschieden von der
des AB sei (29, 26f. u. 115). Dagegen zeigt der Versuch
Busses über das Gewicht der GB (1, 27 ff.), in dem für die
VB die gleiche Methode zur Feststellung der Intensität benutzt
wird wie für die AB und NB?°), daß ein wesentlicher Unter-
schied in der Intensität zum mindesten nicht überall besteht,
und daß es sich oftmals nur um einen graduellen ‚Unterschied
in der Lebhaftigkeit der Bilder handelt. Demzufolge nun könnte
man glauben, eine jede Vorstellung werde dann wirklich ge-
sehen, wenn sie einen gewissen Grad der Intensität erreicht.
Aber selbst diese Annahme besteht nicht zu Recht. Denn die
beiden Ausnahmen im Busseschen Versuch (1, 29 Tab.) zeigen
für VB und AB das gleiche Gewicht, ohne daß deshalb die VB
wirklich gesehen würden. — Wennschon wir also auf Grund
der oftmaligen Aussagen über die Lebhaftigkeit der AB zu-
1) Wir erinnern daran, daß VB, AB und NB als Gedächtnisstufen be-
zeichnet werden.
2) Busse ließ die Bilder auf einen detailierten Hintergrund projizieren,
und die Vpn. mußten angeben, wieviel Einzelheiten des Hintergrundes während
der Betrachtung der GB zu erkennen waren.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 309
geben, daß in sehr vielen und vielleicht in den meisten Fällen
das VB an Intensität vom AB weit übertroffen wird, go
glauben wir doch nicht, daß die verschiedene Intensität der
Bilder den Unterschied zwischen bloßem Vorstellen und wirk-
lichem Sehen ausmacht.
Wenn nicht in den Bildern selbst, so könnte doch in ihrem
Zustandekommen, in der erlebten Verschiedenartigkeit der In-
anspruchnahme des psychischen oder physiologischen Apparates,
der Unterschied zwischen Sehen und Vorstellen begründet
liegen. So führt Kroh die Empfindung des Beteiligtseins des
äußeren Auges an (29, 69). Und in der Tat scheint damit ein
wesentliches Charakteristikum des wirklichen Sehens gefunden
zu sein. Möchte man doch sagen: Gesehene Bilder »kommen
durch die Augen« und das »durch-die-Augen-kommen« werde
faktisch erlebt. Jedoch ist auch diese Annahme unhaltbar, was
darın zum Ausdruck kommt, daß es nicht möglich ist, für die
bloß vorgestellten Bilder den Ausfall irgendeiner Empfindung
im Organ zu konstatieren. Denn auch bei VB können Kon-
vergenz- und Akkommodationsimpulse sowie Druck- und Span-
'nungsempfindungen auftreten (29, 73), ja es ist anzunehmen,
daB derartige Erscheinungen in viel höherem Maße dann er-
lebt werden, wenn der Nichteidetiker seine bloß vorgestellten
Bilder mit großer Anstrengung auf den Schirm projiziert, als
wenn der Eidetiker bei ungezwungenem Aufschlagen der Augen
fast mühelos seine Bilder sieht!). Eine eigentliche Empfindung
im Organ, die bei den gesehenen Bildern stets, bei den bloß
vorgestellten aber nie vorhanden ist, wird sich also kaum auf-
weisen lassen. Überhaupt erscheint es ganz aussichtslos, nach
einer empfindungsmäßigen Gegebenheit zu suchen, durch die
das periphere oder zentrale Zustandekommen von Eindrücken
unmittelbar bewußt würde. Bestehen doch bei den Illu-
sionen peripher und zentral erregte Eindrücke unbemerkt neben-
einander. Und schließlich müßten aus dieser Annahme für die
AB sowohl wie für die wirklich gesehenen Traumbilder
Schwierigkeiten erwachsen, da sie zentral erzeugt sind und
dennoch mit dem Eindruck auftreten, als seien sie dem Sinnes-
organ, dem »physischen Auge« (29, 69) gegeben.
1) Martin berichtet: »Organempfindungen stellten sich häufiger bei
solchen Bildern ein, die besonders schwer zu projizieren und festzuhalten
waren« (Martin, Die Projektionsmethode und die Lokalisation visueller und
anderer Vorstellungsbilder. ZP. I, 61 S. 339).
310 Franz Scola,
Aber es kann die Aussage der Vpn., daß bei Erzeugung und
Betrachtung eines AB das Auge, und zwar das äußere, selbst
beteiligt sei (29, 15f.), nicht aus der Luft gegriffen sein und
muß eine real erlebte Unterlage haben. Wo soll diese gesucht
werden, da der Eindruck des Beteiligtseins des Organs aus
keiner objektiven und unmittelbaren Gegebenheit resultieren
kann?
Es bleibt nur ein Weg der Lösung des Problems, der darin
besteht, daß wir den Unterschied zwischen Sehen und Vor-
stellen in dem subjektiven Verhalten suchen, das je-
weils eingeschlagen wird und, wie wir schon zu Anfang unserer
Ausführungen (S. 302) andeuteten, bei jedem anschaulichen Er-
lebnis von dem anschaulichen Kern, dem eigentlichen Bild,
unterschieden werden muß. Dann wäre der soeben erörterte
Eindruck des Beteiligtseins des äußeren Organs etwa folgender-
maßen zu erklären: »Weil ich so tue, als ob ich mit den
Augen sähe, darum meine ich, das Beteiligtsein der Augen
auch zu empfinden.« Dieser Gedanke wird übrigens nicht nur
durch unsere vorangegangenen Überlegungen, sondern durch die
Berichte der Marburger selbst nahegelegt. Wir .erfahren
nirgendwo, daß ein Bild erst nach seiner Erzeugung an Hand
des objektiv Gegebenen auf seine Erscheinungsweise des Ge-
sehen- oder Vorgestelltwerdens geprüft werden muß. Vielmehr
ist es die Intention der Vp., die das GB derselben Vorlage will-
kürlich zum gesehenen oder vorgestellten macht. Diese Inten-
tion kann nur durch eine vom Subjekt einzuschlagende Ver-
haltungsweise, vielleicht durch gewisse Nebenbedingungen unter-
stützt, ihre Erfüllung finden.
»Von welcher Art die Verhaltungsweise ist, von der es ab-
hängt, ob ein VB oder ein AB entsteht, ist offenbar schwer
zu sagen. Bisher haben wir selbst von Erwachsenen keine voll-
befriedigende Beschreibung davon erhalten können«, schreibt
Busse (1,9), setzt jedoch in einer während des Druckes bei-
gefügten Anmerkung hinzu, daß »die Frage inzwischen durch
eine andere Arbeit des Institutes in weitgehendem Maße ge-
klärt« worden sei. Offenbar ist hiermit die Arbeit Krellen-
bergs gemeint, der den »psychophysischen Gesamtzustand bei
Erzeugung und Beobachtung eines AB« (den eidetischen Zu-
stand) mit dem gewöhnlichen Zustand des Sehens und dem bei
Erzeugung eines VB vergleicht (5, 73ff.). Abgesehen von
wichtigen Einzelergebnissen, auf die wir später zurückkommen
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 311
werden, entnehmen wir seiner Untersuchung in bezug auf die
uns vorliegende Frage die Feststellung, daß es sich bei der Be-
trachtung eines AB im allgemeinen um das ganz ungezwungene
und natürliche Verhalten handelt, wie es beim wirklichen Sehen
eines gegenwärtigen Objektes stattfindet (5, 80). Wie aber
unterscheidet sich das Verhalten des wirklichen Sehens von dem
des bloßen Vorstellens?
Man ist geneigt, den Gegensatz von aktivem und passivem
Verhalten heranzuziehen und zu sagen: Vorgestellte Bilder
werden (aktiv) erzeugt, gesehene Bilder »läßt man (passiv)
kommen«. Dem aber widerspricht die Tatsache, daß es frei-
steigende Zwangsvorstellungen gibt, Eindrücke, bei deren auf-
dringlichem Erscheinen sicher nicht das Gefühl der Aktivi-
tät, des Erzeugens, im Subjekt vorhanden ist, und die doch
nicht wirklich gesehen werden. Demgegenüber erfordert
manches gesehene Bild einen hohen Grad von Aktivität, dann
etwa, wenn es sich um das Erkennen einer nur undeutlichen
und schwachen Gegebenheit handelt. Dr. E., eine Vp. Krel-
lenbergs, kehrt das Verhältnis geradezu um, wenn er sagt:
»Beim VB besteht der Eindruck der reinen Betrachtung, der
Passivität und des Unbeteiligtseins, beim AB der Eindruck
der Aktivität und des Beteiligtseins« (5, 83). Diese Aussage
beweist zur Genüge, daß die Begriffe Aktivität und Passivität
für sich allein und ohne nähere Umschreibung ihres Sinnes
nicht geeignet sind, den Unterschied von Sehen und Vorstellen
verständlich zu machen +). i
Weiter könnte ein bestimmtes Verhalten der Lokalisation
der Eindrücke für den genannten Unterschied in Frage kommen.
Nach Kroh ist das Wirklich-gesehen-werden, die Sinnenfällig-
keit der AB letzten Endes eine Folge des Erscheinungsortes
(29, 69). Die AB treten im Sehraum auf (29,58), sie werden
im Außenraum lokalisiert (29, 56 f.), sie sind in jedem Falle
im Wahrnehmungsraum (29, 59 f.). Die VB dagegen erscheinen
im sogenannten Vorstellungsraum ?), und zwischen Vorstellungs-
und Wahrnehmungsraum besteht völlige Inkongruenz, Über-
gangslosigkeit (29, 58—77).
1) Martin (a.a.0. S.341) berichtet: »... es zeigen die Protokolle, daß
der jeweilige Eindruck von einer Rezeptivität oder Passivität des Verhaltens
bei der Perzeption nicht in bisher üblicher Weise als Kriterium für (gesehenes;
d. Verf.) Objekt und (vorgestelltes; d. Verf.) Bild zu benutzen ist.«
2) Über die hieraus entstehende Schwierigkeit für die projizierten VB
weiter unten.
312 Franz Scola,
‚Was nun diese letztere Behauptung anbelangt, so glauben
wir, folgendes feststellen zu dürfen: Ihrem Wesen und ihrer
Struktur nach müssen Wahrnehmungs- und Vorstellungsraum
als gleichartig angenommen werden. Denn ursprünglich ist uns
nur ein Raum, der Wahrnehmungsraum gegeben. Wir können
demnach auch nur diesen einen und keinen prinzipiell anders
gearteten Raum vorstellen. Völlige Inkongruenz und Übergangs-
losigkeit dürfte also zwischen dem wahrgenommenen und dem
vorgestellten Raume nicht bestehen.
Dennoch hat die Scheidung von Wahrnehmungs- und Vor-
stellungsraum eine gewisse Berechtigung, wenn wir nämlich
unter dem Wahrnehmungsraum nicht den Raum überhaupt ver-
stehen, der (bei Nichtachtung aller Hindernisse, die sich der
freien Bewegung unseres wahrnehmenden Organismus in den
Weg stellen) seiner Struktur nach möglicherweise wahrge-
nommen werden kann, sondern den besonderen und sehr be-
schränkten Raumausschnitt, der momentan der Wahrnehmung
wirklich zugänglich ist und als jetzt wahrnehmbar erlebt wird,
den ich immerfort »um mich« habe, ohne übrigens die in ihm
befindlichen Gegenstände kennen zu müssen, den ich in un-
mittelbarer Verbindung weiß mit meinem aktuell wahr-
nehmenden, entweder sehenden, tastenden oder hörenden
Organismus. Mit diesem Wahrnehmungsraum ist offenbar
identisch der von Dr. E. bei Krellenberg beschriebene
»Eigenraum«, »der Raum, der mit der eigenen Person (wahr-
nehmungsmäßig; Zus. d. Verf.) verbunden gedacht wird« (5,
81). Ein besonderer Ausschnitt dieses Wahrnehmungsraumes
ist nun wieder der »Sehraum«, der allein für unsere Unter-
suchungen in Betracht kommt, da wir es nur mit optischen
Eindrücken zu tun haben. Während der Wahrnehmungsraum
»um mich« erlebt wird, ist der Sehraum nur »vor mir«; er
ist das Stück des Raumes, das mir dann gegeben ist (oder ge-
geben wäre), »wenn ich die Augen öffne« (oder »jetzt öffnen
würde«).
Demgegenüber ist der Vorstellungsraum jeder beliebige
andere Raumausschnitt, in dem, etwa auf Grund früherer Wahr-
nehmungen, ein Eindruck lokalisiert werden kann, und der mit
dem gegenwärtigen Sehraum nicht zusammenfällt, wie etwa
der Raum hinter mir oder ein von mir entfernter oder durch
irgendwelche Gegenstände getrennter Raum. Es besteht
zwischen ihm und dem Subjekt keine direkte wahrnehmungs-
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschaunngs- und Nachbild. 313
mäßige Verbindung; er ist ein Raumstück, das »jetzt nicht ge-
sehen werden kann«. |
Auch Segal!) kommt auf Grund seiner Untersuchungen
zu dem Ergebnis, daß der sogenannte Vorstellungsraum nur ein
Teil des Wahrnehmungsraumes ist, daß also zwischen beiden
nicht eine übergangslose Kluft besteht. Übrigens dürfte sich
eine solche Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Vor-
stellungsraum mit der von G.E.Müller?) vorgenommenen
zwischen rein egozentrischer und topomnestischer Lokalisation
weitgehend decken.
Was nun die Lokalisation gesehener und bloß vorgestellter
Bilder anbelangt, so läßt sich folgendes sagen: Wirklich ge-
sehene Bilder sind stets im Sehraum lokalisiert (4, 98; 7, 52:
24, 27; 29, 56ff.). Bloß vorgestellte Bilder werden häufig in
einem Vorstellungsraum lokalisiert, d.h. in einem Raumaus-
schnitt, der augenblicklich nicht gesehen werden kann, wobei
nun die weitere Frage entsteht, in welcher räumlichen Be-
ziehung ein solcher Vorstellungsraum zum Sehraum erlebt wird.
Es können jedoch auch bloß vorgestellte Bilder im Sehraum
selbst lokalisiert werden, was durch die Untersuchungen G. E.
Müllers schon erwiesen und durch die Tatsache der pro-
jizierten Vorstellungen bei Martin und in den Marburger
Experimenten bestätigt wurde. Über diese Schwierigkeit, die
hauptsächlich durch die projizierten Vorstellungen entsteht,
hilft sich Kroh dadurch hinweg, daß er sagt: Vorstellungen
werden nicht eigentlich gesehen, sondern sie erscheinen nur im
Sehraum (29, 73). Damit aber ist der eigenartige Tatbestand
ebensowenig erfaßt, wie wenn er andernorts den projizierten
VB eine Mittelstellung hinsichtlich ihrer Lokalisation einräumt
und meint, es bestehe bei ihnen weder vollkommene Kohärenz
noch auch totale Inkohärenz mit den gleichzeitig im Gesichts-
feld auftretenden Wahrnehmungsbildern (29, 77).
Über das Negative dieser Angabe könnten wir durch den
Gedanken der Bestimmtheit der Lokalisation hinauskommen.
Tatsächlich mag der bloß vorgestellte Gegenstand häufig nur
unbestimmt im Sehraum lokalisiert sein. Doch ist auch dieser
Unterschied nicht durchgängig; denn es kann ein Gegenstand
1) J. Segal, Über das Vorstellen von Objekten und Situationen, Stutt-
gart 1916.
2) G.E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vor-
stellungsverlaufes II §§ 48—78.
314 Franz Scola,
an derselben Stelle wirklich gesehen und bloß vorgestellt werden,
was in den Marburger Experimenten nicht selten der Fall ge-
wesen ist. Das Lokalisationsverhalten allein macht also auch
nicht den Unterschied von Sehen und Vorstellen aus.
Eng mit dem Vorigen zusammenhängend ist die Frage der
Aufmerksamkeitsrichtung. Kroh sagt an einer Stelle (29, 24),
beim Sehen sei die Aufmerksamkeit nach außen gewandt. Dar-
nach könnte für das bloße Vorstellen eine Aufmerksamkeits-
richtung nach »innen« angenommen werden; dem aber wider-
spricht die Tatsache, daß bisweilen vorgestellte Bilder so gut
wie gesehene im Außenraum, ja im Sehraum lokalisiert sind,
und die Aufmerksamkeit ist auf die »innere« Reproduktions-
tätigkeit des Vorstellens so wenig wie auf die Funktion des
Sehens, sondern in jedem Falle auf den gesehenen oder vor-
gestellten Gegenstand gerichtet. — Auch der von Kroh ver-
wandte Terminus »oculo-sensorische Aufmerksamkeit« (29, 69)
führt uns nicht weiter, da das der Aufmerksamkeit beigefügte
Attribut nur wieder besagt, daB es sich um ein Verhalten
handelt, wie es beim wirklichen Sehen mit den Augen statt-
findet, und daß dieses Verhalten durch den Begriff der Auf-
merksamkeit allein nicht erfaßt werden kann.
Der negative Ausfall unserer Analyse und der vergebliche
Versuch, den Unterschied von Sehen und Vorstellen auf eine
einzelne, psychisch einfache Verhaltungsweise zurückzuführen,
veranlaßt uns zu einer Annahme, die auch durch Überlegungen
allgemeinerer Art nahegelegt wird: Wir wissen, daB in der
Gesamtheit des Psychischen die Komplexe von Elementen und
elementaren Funktionen eine bedeutsame Rolle spielen. Wir
wissen ferner, daß ein Komplex, der sich etwa durch das oft-
malige Beisammen der Elemente im Laufe der Entwicklung
gebildet hat, nicht mehr als bloße Summe seiner Glieder, sondern
als neue und eigenartige Einheit erlebt wird. Und endlich
wissen wir, daß eine solche komplexe Erlebniseinheit auch dann
ins Bewußtsein treten kann, wenn faktisch nicht alle komplex-
bildenden Elemente gegeben sind. In Ansehung dieser Tat-
sachen glauben wir uns zu folgender Hypothese berechtigt:
Der Unterschied von Sehen und Vorstellen ist nicht in einem
einzelnen, psychisch einfachen Verhalten zu suchen, sondern
es werden sich im Laufe der Entwicklung verschiedene Ver-
haltungsweisen zu Komplexen, zu Gesamtverhaltungsweisen zu-
sammenschließen, die, selbst beim Ausfall einzelner Glieder, in
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 315
ihrer typischen Eigenart erlebt, den Eindruck des Sehens bzw.
Vorstellens bedingen. Solche Gesamtverhaltungsweisen aufzu-
decken, ist nun unsere nächste Aufgabe, und wir glauben uns
ihrer am besten dadurch zu entledigen, daß wir den Verlauf
der Entwicklung selbst verfolgen und zusehen, an welchen
Stellen Ansatzpunkte zur Bildung eines besonderen Verhaltens
des Subjektes den Eindrücken gegenüber gegeben sind.
Bei diesem Versuch einer genetischen Lösung des Problems
stützen wir uns in den Grundgedanken auf die Auffassung von
Lindworsky, wie sie verschiedenerorts, vor allem auch in
der schon genannten Abhandlung über »Wahrnehmung und
Vorstellung« niedergelegt ist.
2. Die Entwicklung von AB und VB.
Im frühesten Entwicklungsstadium des Erkenntnisprozesses
hat das Kind weder wirklich gesehene noch auch bloß vor-
gestellte Bilder (so wie es Wahrnehmung und Vorstellung nicht
unterscheidet); es hat nur anschauliche Inhalte überhaupt.
Zwischen diesen Inhalten bestehen Unterschiede in bezug auf
die Deutlichkeit, die Ausgeprägtheit der Farben, die Schärfe
und Bestimmtheit der Linien und Formen, kurz die Lebhaftig-
keit oder Intensität sowie die zeitliche und räumliche Aus-
dehnung. Weil aber einerseits diese Unterschiede mannigfaltig
und die Übergänge zwischen ihnen kontinuierlich sind, und weil
‚andererseits das Kind weder die Herkunft noch die Bedeutung
der Eindrücke kennt, so ist es allen, je nach seinem psychischen
Gesamtzustande, in gleicher Weise hingegeben. Irgendeinem
Eindruck eine besondere Einstellung, ein eigenes Verhalten
entgegenzubringen, besteht vorerst keine Veranlassung. Es
mag dieser Zustand sein wie ein verständnis- und interesse-
und wahlloses Hinnehmen alles dessen, was sich dem Bewußt-
sein darbietet, mag es durch äußeren Reiz oder durch innere Er-
regung veranlaßt sein. — Allmählich nun vollzieht sich der
Prozeß, den Lindworsky in seiner genannten Abhandlung
eingehend geschildert hat und den wir zwecks Grundlegung
unserer weiteren Ausführungen hier nur kurz skizzieren wollen:
Wir sagten oben, daß sich die Eindrücke in bezug auf ihre
anschaulichen Merkmale mannigfaltig unterscheiden. In vielen
Fällen werden diese Unterschiede nur sehr gering und kaum
merklich sein. Auch kreuzen sich häufig die Eigenschaften in
ihren gradweisen Abstufungen dergestalt, daß beispielsweise
316 Franz Scola,
hohe Deutlichkeit mit geringer Intensität und umgekehrt ge-
paart ist, daß schwache, aber äußerst beständige Eindrücke
mit kurzdauernden, höchst intensiven Inhalten wechseln. Wäre
nur diese Regellosigkeit, dann würde wahrscheinlich die noch
unentwickelte Psyche, von der Fülle der Beziehungen erdrückt,
keine festen Verhältnisse erfassen können; nur schwerlich würde
es zur Bildung bestimmter Gruppen der Erscheinungen kommen.
Nun aber hebt sich aus allen Eindrücken einerseits eine ge-
wichtige Anzahl solcher hervor, bei denen die obengenannten
Merkmale in höchstem Grade vereinigt sind, während anderer-
seits eine nicht weniger bedeutende Gruppe die niedrigsten
Grade jener Eigenschaften ausprägt. Alle diese Eigenschaften
wollen wir hier vorläufig einer kurzen Ausdrucksweise halber
unter dem Begriff der Intensität zusammenzufassen !) und reden
demgemäß von intensiven oder starken und weniger intensiven
oder schwachen Eindrücken. Wo nun zwei Vertreter dieser
beiden Gruppen nebeneinander (in dichter Abfolge) erlebt
werden, ist Anlaß zu einer Beziehungserfassung gegeben, die
vorerst nur rein formal zu charakterisieren sein wird: Inhalt A
ist anders als Inhalt B.
Infolge des für das Kind charakteristischen oftmaligen
Wechsels zwischen Schlaf oder Halbschlaf und Wachen,
zwischen Traum und Wirklichkeit wird die Entwicklung dieses
Beziehungserlebnisses?) begünstigt und gefördert. Außerdem
führt die häufige Vergleichsmöglichkeit zum dauernden Ver-
bleib des reproduzierbaren Wissens, »daB es solche und solche,
d.h. starke und schwache Inhalte gibt«, und schließlich zur
Bildung eines absoluten Eindruckes, so daß unmittelbar und
ohne jeweils neuen Vergleich dieser oder jener Inhalt als zu
der einen oder anderen Gruppe gehörig erlebt wird.
Bedenken wir nun, daB das Kind schon früh aus dem
interesselosen Zustand, wie wir ihn oben nannten, hinaustritt,
daß sehr bald gewisse Inhalte und Komplexe von Inhalten eine
Bedeutung für es gewinnen, die allerdings als solche nicht
erfaßt, aber in den mit dem Auftreten der Inhalte verbundenen
1) Das ist an sich unkorrekt und wird hier nur durch die Voraussetzung
gerechtfertigt, daß die Grade der übrigen Eigenschaften (Deutlichkeit usw.)
mit den Abstufungen der Intensität gleichsinnig gepaart sind.
2) Nach jüngsten Ausführungen von Lindworsky sind wir berechtigt,
von einer »Entwicklung des Beziehungserlebnisses« zu reden (Lindworsky,
Revision einer Relationstheorie, Archiv f. ges. Psych. Bd. 48 S. 248).
Über das Verhältnis von Vorstellangs-, Anschauungs- und Nachbild. 317
Lustgefühlen erlebt wird; bedenken wir weiter, daß durchaus
nicht immer diese lustbetonten Inhalte auch gleichzeitig inten-
sive Inhalte sind, sondern sehr häufig schwach, undeutlich und
flüchtig auftreten werden, dann können wir aus dieser Tat-
sache das Bestreben herleiten, solche schwachen aber gern ge-
habten Eindrücke durch eine besondere Verhaltungsweise zu
fördern, zu stärken, zu halten, zu unterstützen.
Hier kann mit Recht die Frage aufgeworfen werden, wie
denn dieses Bestreben sowohl als auch seine Erfüllung durch
das Einschlagen einer gewissen Verhaltungsweise (ohne die
Voraussetzung einer ursprünglichen Anlage) möglich sein soll,
wenn nicht das zu erreichende Ziel, nämlich die Förderung der
schwachen Eindrücke, samt dem zu ihm führenden Wege vorher
schon in einer ungewollt aufgetretenen Situation des öfteren
gegeben war. Eine solche Situation ist unschwer aufzuweisen:
Einerseits erlebt das Kind bei dem oftmaligen Übergang vom
Schlaf zum Wachen, wie die wenig intensiven Eindrücke plötz-
lich durch starke verdrängt werden, die in verschiedenster
Art (als optische, akustische, taktile Inhalte) auf es eindringen:
wenn es die Augen öffnet, wenn die Körperlage verändert
wird, wenn sich der Kopf aus den Kissen hebt, wenn es Be-
wegungen mit den Gliedern ausführt und etwa durch sein
eigenes Schreien die bis dahin herrschende Stille unterbricht,
kurz, wenn jener, aus mannigfaltigsten Inhalten gebildete Kom-
plex ins Bewußtsein tritt, der sich in seiner Aufdringlichkeit
und Lebhaftigkeit schon jetzt als »meine Umwelt« aus allem
Erlebten herauszuheben beginnt. — Andererseits geschieht es
beim Übergang vom Wachen zum Schlaf, daß die Eindrücke,
die vorher nur flüchtig, undeutlich und mit geringer Intensität
hier und da in dieser »Umwelt« umherschwirrten, allmählich
aufleben, sich breit machen und an Deutlichkeit und Intensität
gewinnen: wenn die Glieder erschlaffen und in eine bequeme,
möglichst empfindungslose Lage gebracht werden, wenn der
Kopf sich zurücksenkt, wenn (infolge verminderter Konvergenz
und Akkommodation) alles vor dem Blick verschwimmt und
einförmig wird, wenn die Augen erst zwinkern, wobei das
Licht mehr und mehr schwindet, dann halb und schließlich
ganz geschlossen werden, wenn nach und nach die Geräusche
verstummen und gar der eigene Atem so leise geht, daB voll-
kommene Stille herrscht; kurz wenn die empfindungsreiche
»Wach-Umwelt«, aus dem Bewußtsein tretend, den schwachen
318 Franz Scola,
Inhalten Raum gibt. Durch dieses Erlebnis und die darauf sich
gründenden Beziehungserfassungen: daB ein schwacher Ein-
druck gefördert werden kann, und daß zu seiner Unterstützung
diese und jene Bedingungen erfüllt sein müssen, ist das Ver-
halten vorgezeichnet, das einzuschlagen ist, wenn schwache
Inhalte gestützt und gefördert werden sollen, und das eben
darin besteht, die genannten Bedingungen willkürlich: herbei-
zuführen: Man ist bemüht, die Inhalte jener eindringlichen,
intensiven Umwelt möglichst unberücksichtigt zu lassen, sie
zu verdrängen, sich gegen sie abzusondern; man will nicht
hören und nicht sehen, man lehnt den Körper zurück, man
senkt den Kopf, der Blick sucht eine einförmige, farbhomogene
Fläche, man bedeckt oder schließt die Augen, man vermeidet
sorgfältig jede Bewegung, durch die neue Eindrücke wach-
gerufen werden könnten, ja man hält den Atem zurück, um die
den schwachen Eindrücken zugunsten angestrebte »Stille des
Bewußtseins« vollkommen zu machen.
Man wird nicht leugnen, daß hiermit Verhaltungsweisen
aufgezeigt sind, die in ihrer komplexen Geschlossenheit ein,
vielleicht individuell variierendes, aber doch typisches Gesamt-
verhalten bilden, das sich unschwer jeder zum Erlebnis bringen
kann.
Diesem bei schwachen Eindrücken eingeschlagenen Gesamt-
verhalten gegenüber erhält sich bei den starken, selbständigen,
keiner Unterstützung bedürftigen Eindrücken die ursprüng-
liche Verhaltungsweise, die vorerst nicht anders denn als
schlichtes Hingegebensein, als pures Aufnehmen zu charakteri-
sieren ist.
War es bisher nur der Gesichtspunkt der Ausgeprägtheit
und Lebhaftigkeit der Inhalte, der zu einer Scheidung aller
Bilder in zwei Gruppen und damit zu einer verschiedenen Ver-
haltungsweise ihnen gegenüber führte, so treten mit fort-
schreitender Entwicklung andere Anlässe für eine noch schärfere
Zweiteilung sämtlicher Eindrücke hinzu, wodurch gleichzeitig
auch das jeweilige Verhalten einen besonderen Akzent erhält. —
‚Wird beispielsweise zum ersten Male ein Pferd gesehen, dann
hebt sich zweifellos dieser eigenartige Komplex dergestalt aus
seiner Umgebung heraus, daß die Umgebung gar nicht be-
achtet und erfaßt wird. Darum wird es durchaus nicht auf-
fällig sein, wenn das Bild eines Pferdes im Zimmer, etwa vor
dem Bette sich zeigt. Sobald aber die Eindrücke überwiegen,
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 319
in denen das Pferd in seiner charakteristischen Umgebung (etwa
auf der Straße) sich befindet, will es nicht mehr ins Zimmer
»hineinpassen«. Man erfährt von anderen über die Zusammen-
gehörigkeit der Dinge; diesbezügliche eigene Überlegungen setzen
ein, kurz: alle gehabten Eindrücke, verbunden mit dem immer
weitergehenden Beziehungswissen, führen zu einer kritischen Ein-
stellung in bezug auf das Beisammen der Gegenstände, die durch
die Frage charakterisiert werden kann: ob die auftretenden
Bilder auch hierher gehören? wobei das als Ausgangspunkt der
Beurteilung angenommene »hierher« eben jene Gruppe von
Eindrücken ist, die sich als die intensive und stabile Umwelt
mehr und mehr auszeichnet. — Gleichzeitig wird die Erfahrung
gemacht, daß gerade solche Bilder, die nicht in jene Umwelt
»hineinpassen« wollen, d. h. die zumeist in anderer Umgebung
erlebt worden sind, »von mir allein« gesehen werden und von
den übrigen Personen nicht nur keine Beachtung, sondern gar
direkte Ablehnung erfahren. — Als wichtigster Gesichtspunkt
für eine tiefere Zweiteilung aller Eindrücke ist schließlich zu
nennen der erlebte Zusammenhang der Bilder mit »meinem
tätigen und leidenden Organismus«. Es ist etwas anderes, ob
man sich jetzt aufmacht zu einer Fahrt in die Stadt und nach
ausgedehnter Zeitspanne, angefüllt mit mannigfaltigen Tätig-
keiten und Eindrücken, den Dom vor sich sieht, oder ob,
während man im Stuhle sitzen bleibt, das Bild des Domes vor
Augen tritt. — Und es ist etwas anderes, ob man im warmen
Zimmer den brennenden Ofen vor sich hat, den man brummen
hört, an den man herantreten, an dem man sich wärmen, gar
verbrennen kann, was langwierige Folgen nach sich zieht, oder
ob man fröstelnd im kalten Zimmer das Bild des geröteten
Ofens erscheinen läßt.
Durch solche und ähnliche Erfahrungen erhält nun einer-
seits die fast ständig in größter Intensität erlebte Umwelt ein
neues Charakteristikum: Die Gegenstände in ihr sind »wirk-
lich da«, sie stehen mit meinem Organismus, weil sie wirklich
da sind, in unmittelbarer Verbindung, welche Verbindung in
einer ununterbrochenen Kette von Eindrücken verschiedenster
Art faktisch erlebt wird oder doch als möglicherweise erlebbar
gegeben ist.
Dagegen sind die Dinge, die nicht in diese Umwelt hinein-
‚passen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit meinem
wahrnehmenden Organismus stehen, die meist nur in undeut-
320 Franz Scola,
lichen, schwachen und flüchtigen Bildern sich darstellen, »nicht
wirklich da«.
Nun fällt dieser letztcharakterisierte Unterschied von »wirk-
lich da« und »nicht wirklich da« im allgemeinen, wie wir
schon andeuteten, mit dem früher erkannten von intensiven
und schwachen Eindrücken zusammen; gerade die der Unter-
stützung bedürftigen Inhalte sind es zumeist, die nicht in die
Umwelt hineinpassen und hineingehören, die von anderen ab-
gelehnt werden und in keinem anschaulich erlebten Zusammen-
hang mit meinem Organismus stehen. Infolgedessen bildet sich
die Neigung heraus, die den schwachen Eindrücken gegenüber
eingeschlagene Verhaltungsweise auf alle die nicht wirklich
gegenwärtigen Inhalte auszudehnen. Und wenn die Verhaltungs-
weise als das Zurückziehen in die »Stille des Bewußtseins«,
wie wir es nannten, anfangs nur der Unterstützung schwacher
und flüchtiger Bilder diente, so wird sie nun zur bewußten
und dem erkannten Sachverhalt entsprechenden Absonderung
alles nicht wirklich Gegenwärtigen, »bloß vor mich Hinge-
stellten« bloß »Vorgestellten« von dem, was wirklich da ist.
Auf der anderen Seite erhält nun auch das den starken
Eindrücken gegenüber eingeschlagene Verhalten, das bisher nur
negativ durch das Nichtvorhandensein irgendeines besonderen
Bestrebens oder Bemühens charakterisiert werden konnte, einen
eigenen Ton, indem es nicht mehr allen intensiven und be-
ständigen, sondern nur noch jenen Inhalten entgegengebracht
wird, die auf Grund der oben angedeuteten Kriterien als »wirk-
lich gegenwärtig« gelten. Es wendet sich bewußt nur noch
der Umwelt zu, dem Gegenstandskomplex, der jeweils »vor
mir« ist, und der, nachdem durch oftmaliges Öffnen und
Schließen der Augen, durch Bewegungen des Kopfes die be-
stimmten und festen Beziehungen zu »meinen geöffneten und
dorthin gerichteten Augen« erfaßt worden sind, zur »wirklich
gesehenen Welt«, zum Sehraum wird. Aus der ursprüng-
lichen Verhaltungsweise ist durch das mit ihr zumeist ver-
bundene ungezwungene Aufschlagen der Augen »wirkliches
Sehen« geworden.
Es hat sich also unsere Annahme, nach der der Unter-
schied in der Erlebnisweise des Gesehen- und Vorgestellt-
werdens in einem Unterschied im Gesamtverhalten des Subjektes
zu suchen ist, als prinzipiell durchführbar erwiesen, indem.
sich gezeigt hat, daß es tatsächlich einen solchen Unterschied
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 321
in dem den Eindrücken entgegengebrachten Gesamtverhalten
gibt. Weil nun nach unseren Darlegungen die Verhaltungs-
weise des wirklichen Sehens die ursprünglichere ist, und weil
sich das bloße Vorstellen erst im Laufe der Entwicklung als
besonderes Verhalten herausbildet und, anfangs nur schwachen
Eindrücken gegenüber eingeschlagen, erst nach und nach auf
alle subjektiv erzeugten Inhalte übertragen wird, so ist damit
die Möglichkeit gegeben, daß etwa in einem gewissen Stadium.
in dem die Entwicklung ihr Endziel noch nicht erreicht hat,
und unter gewissen Bedingungen, wozu besonders die indi-
viduell verschiedene Anlage zu lebhaften Sekundär-Emp-
findungen gehört (siehe weiter unten Kap.3 8.323), Eindrücke,
die faktisch bloß vorgestellt, d. h. nicht unmittelbar von einem
äußeren Reiz bedingt sind, noch von der ursprünglichen, an-
schauenden Verhaltungsweise umspannt und demnach wirklich
gesehen werden. Wir haben es dann mit einem AB zu tun.
Überall da aber, wo das obengeschilderte, eingezogene, ab-
geschlossene, »vorstellige« Gesamtverhalten eingeschlagen wird,
entsteht ein VB mit dem Eindruck des bloßen Vorgestelltseine.
Indem wir den Unterschied zwischen Sehen und Vorstellen
auf einen Unterschied in der vom Subjekt eingeschlagenen
Gesamtverhaltungsweise zurückführen, wird es uns möglich,
auch die Tatsache des kontinuierlichen Überganges zwischen
VB und AB verständlich zu machen. Wir sagten oben (S. 314),
daß das jeweilige Gesamtverhalten sich aus einzelnen Teil-
verhaltungsweisen bildet, die sich zu einem Komplex von
charakteristischem Gepräge zusammenschließen. Nehmen wir
nun beispielsweise an, das schlichte Sehen setzt sich aus den
Verhaltungsweisen S1, S2, S3, S4, S5, .. . zusammen,
während das Vorstellen durch die Komponenten V1, V2, V3,
V4, V5 ... gebildet wird, so ist es wohl denkbar, daß aus
dem Komplex des vorstelligen Verhaltens infolge gewisser Be-
dingungen die Teilverhaltungsweisen V5 oder V4 durch S5
oder S4 ersetzt werden. Das bedeutet dann eine Annäherung
des VB an das AB in irgendeiner Hinsicht (Größenänderung,
Lokalisation), ohne daß dadurch das Bild schon zum gesehenen
Bilde würde. Denn die V, d. h. die zum vorstelligen Verhalten
gehörigen Komponenten, sind immer noch genügend stark ver-
treten, um den charakteristischen Eindruck des bloßen Vor-
gestelltseins wachzurufen. So sind die projizierten Vorstellungen,
obgleich sie bei geöffneten Augen erzeugt und in den Sehraum
Archiv für Psychologie. LU. 21
322 Franz Scola,
hineinprojiziert werden, dennoch nur VB, weil trotz der äußer-
lichen Annäherung an das wirkliche Sehen die innere Gesamt-
haltung des bloßen Vorstellens eingenommen wird. Die In-
struktion, die die Erzeugung eines VB und keines gesehenen
AB verlangte, versetzte die Vpn. wahrscheinlich schon bei
Betrachtung der Vorlage in jene Situation, in der wir uns
befinden, wenn wir ein anschauliches Objekt zwecks späterer
Reproduktion in seinen Teilen behalten wollen: Wir bemühen.
uns, das Gesehene während oder kurz nach der Betrachtung
zum Sachverhaltswissen zu erheben, um hernach aus diesem
Wissen heraus das VB zu konstruieren. Hinzu kommt die
kurze Einprägungsdauer, die bei den meisten Vpn. nur ein
schwaches undeutliches und flüchtiges Bild erwarten läßt. Da-
durch aber wird einerseits die Konstruktion des Bildes aus dem
Wissen heraus veranlaßt!), zu welchem Zwecke man sich
sammelt, sich besinnt; und andererseits wird das oben charakte-
risierte Bestreben herbeigeführt, den Eindruck trotz der Pro-,
jektion in den Sehraum, von den Wahrnehmungsgegebenheiten
möglichst abzusondern, zu isolieren. Infolgedessen muß das
Projizieren mit geöffneten Augen, wobei der Blick auf den
Schirm, also in den Sehraum gerichtet ist, als etwas emp-
funden werden, das eigentlich nicht zum bloßen Vorstellen
paßt und ihm hinderlich ist. Man wird also diese ganze er-
zwungene, äußerliche Situation möglichst wenig beachten, so
daß auf Grund jenes inneren Verhaltens selbst bei geöffneten
Augen der Gesamteindruck des bloßen Vorstellens besteht.
Übrigens ist es nicht ausgeschlossen, daß in derartigen Fällen, wo sich
die Verhaltungsweisen des Sehens und Vorstellens miteinander vermengen,
Unsicherheit darüber besteht, ob der Eindruck gesehen oder bloß vorgestellt
ist. So teilt G. Schwab (Vorläufige Mitteilung über Untersuchungen zum
Wesen der subjektiven Anschauungsbilder. Psych. Forschung V, 321 ff.) eine
Anzahl von Protokollen seiner Vpn. mit, in denen diese Unsicherheit aus-
gesprochen wird. — Jedoch können unseres Erachtens die Folgerungen, die
Schwab aus seinen Ergebnissen zieht, nicht allgemein auf die Marburger
Feststellungen übertragen werden und etwa die Echtheit der AB überhaupt
in Frage stellen. Schwab glaubt durch seine Beobachtungen gezeigt zu
haben, »daß mit der Erklärung der Vpn., daß sie im AB etwas »sehen«,
durchaus keine Gewähr dafür gegeben ist, daß es sich dabei auch um ein
leibhaftiges Wahrnehmen handelt« (a.a.0. S.339). Die Schwierigkeit liegt
hier vor allem in dem Begriff des leibhaftigen Wahrnehmens, der offenbar
1) Gerade dieses Moment kommt in den von Martin berichteten Proto-
kollen verschiedentlich zum Ausdruck (Martin, Die Proj.-Meth. S. 368, 376,
383 f. 393).
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 323
mehr als wirkliches Sehen besagt, indem er auf den »Objektivitätscharakter«
(a. a. O. S.321) der Erscheinungen zielt. Auch die Marburger Vpn. unter-
liegen nur selten einer Täuschung über die subjektive Bedingtheit ihrer AB,
sie wissen, daß die Bilder nicht eigentlich wahrgenommen werden, wennschon
sie wirklich gesehen sind (24, 32; 29, 73 u. 100). — Gegen die Echtheit
der AB spricht auch nicht, wie Schwab meint (a.2.0. S.339), die Tat-
sache, daß Einzelheiten gesehen werden, die nicht in der Vorlage enthalten
waren, da prinzipiell jeder wiedererneuerte Inhalt von. der ursprünglichen
Verhaltungsweise umspannt werden kann. — Ferner ist für die Ergebnisse
Schwabs zu berücksichtigen, daß sie an Mädchen gewonnen sind, bei denen
vielleicht jene spielerische Willkür im Wechsel der Verhaltungsweise nicht
so wie bei Knaben ausgebildet ist. — Schließlich gibt Schwab ausdrücklich
die Instruktion, die Gegebenheitsweise des »gesehenen« Bildes mit der des
bloß vorgestellten oder wahrgenommenen zu vergleichen und sie zu beschreiben,
eine Aufforderung, die ohne Zweifel gerade bei Mädchen Zurückhaltung des
Urteils, Unsicherheit und Berücksichtigung der gewußten Wirklichkeitsver-
hältnisse (Nichtvorhandensein des Gegenstandes) veranlassen mußte.
3. Die Bedingungen für das Auftreten der AB und VR.
Nach unseren obigen Ausführungen (S. 316£.) nimmt die
Bildung der vorstelligen Verhaltungsweise ihren Ausgang von
dem Bestreben, schwache Eindrücke zu fördern und zu unter-
stützen. Es wird also das Auftreten von AB im allgemeiner
abhängig sein von der Fähigkeit zu intensiven, se-
kundärerregten Eindrücken; denn schwache, undeut-
liche und flüchtige Bilder drängen von sich aus dazu, von
dem eigenartigen isolierenden, schützenden, vorstelligen Ver-
halten umspannt zu werden. Daraus erklärt sich die von den
Marburgern festgestellte Bedeutung der gesamten psychophy-
sischen Konstitution des Individuums für das Auftreten und
die Ausgeprägtheit von AB (5, 91; 16, 298f.; 24, 4f.; 28, 11;
29, 126), der Einfluß geologischer Verhältnisse (6, 42ff.; 7,
48f.; 10, 167£.; 21, 135; 24, 4; 29, 127), der Vererbung (29,
56ff.; 28, 4), der therapeutischen Behandlung (5, 72f.; 16,
312; 28, 8; 6, 41), sowie der Erziehung durch die verschiedenen
Gemeinschaftsformen und endlich des »psychischen : Klimas«
eines Ortes oder einer Landschaft überhaupt (16, 298ff.; 24,
31ff.; 28, 4 und 9; 29, 53ff.).. In welchem Maße und in
welcher Ordnung durch derartige Faktoren die individuellen
Schwankungen und die örtlichen Differenzen in der Fähigkeit
zur Erzeugung von AB bewirkt sind, kann und soll an dieser
Stelle nicht untersucht werden.
Nun müßte nach unserer Theorie ein jeder, der über ge-
nügend starke Vorstellungen verfügt, prinzipiell zur Erzeugung
21*
324 Franz Scola,
von AB imstande sein, wenn er seinen starken Vorstellungen
gegenüber das ursprüngliche Verhalten einschlägt. Tatsächlich
aber ist die eidetische Fähigkeit durchweg nur auf einen ge-
wissen Prozentsatz Jugendlicher beschränkt, denen eine viel
größere Anzahl jugendlicher und erwachsener Nichteidetiker
gegenübersteht, deren Vorstellungen an Intensität den AB der
Eidetiker nicht in jedem Falle nachstehen. Das wird ver-
ständlich, wenn wir bedenken, daß das vorstellige Verhalten,
das anfangs nur der Unterstützung schwacher Eindrücke diente,
mehr und mehr auf alle sekundär erregten Bilder übertragen
und anfangs willkürlich jedesmal dann eingeschlagen wird, wenn
sich das kritische Wissen einstellt, der Inhalt sei »nicht wirk-
lich da«, er sei nur subjektiv erzeugt. Infolge einer sich bildenden
festen Assoziation führt dieses kritische Wissen endlich ge-
wohnheitsmäßig und notwendig zu der vorstelligen Verhaltungs-
weise, so daß das Subjekt nicht mehr imstande ist, willkürlich
das ursprüngliche Verhalten auch da einzuschlagen, wo die
subjektive Herkunft des Bildes auf Grund irgendwelcher
Kriterien erkannt wird. Es ist also nicht so, daß einer An-
zahl von Individuen ursprünglich die Fähigkeit zu AB abgeht.
Vielmehr ist jeder in einem gewissen Stadium seiner psy-
chischen Entwicklung Eidetiker gewesen!), in dem Stadium
nämlich, da er die vorstellige Verhaltungsweise noch nicht
»gelernt« hatte?); und das Unvermögen zur Erzeugung von
AB hat nur darin seine Ursache, daß sich in gewissen Situ-
ationen und gewissen Eindrücken gegenüber das vorstellige
Verhalten, infolge fester Assoziation, zwangsläufig einstellt.
Wir haben also hier den Fall, wo eine bestimmte Verhaltungs-
weise im Laufe der Entwicklung verloren gegangen ist, die aber
prinzipiell wieder geweckt werden kann, wenn nur die geeignete
Situation geschaffen wird, die es, um einen Ausdruck Lind-
worskys zu gebrauchen, dem Subjekt ermöglicht, den »ab-
gerissenen Faden zu jener Verhaltungsweise wiederzufinden«.
Darum gibt es auch Fälle, in denen selbst der Nichteidetiker
gelegentlich AB erzeugt. So wurden, nach einer Mitteilung
von Lindworsky, in Versuchen über die Wertheimer-
schen Scheinbewegungen Phänomene wirklich gesehen, denen
1) Diese Ansicht wird übrigens auch von den Marburgern vertreten.
2) Selbstverständlich wird je nach der Gesamtveranlagung und je nach
den Erziehungseinflüssen im weitesten Sinne dieses Stadium für den einen
früher und für den andern später anzusetzen sein.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 325
kein äußerer Reiz entsprach und die auch kaum durch eine
physiologische »Querfunktion« (Wertheimer) zu erklären
waren!), wobei sich die Beobachter der subjektiven Herkunft
dieser Phänomene wohlbewußt blieben. Hier war es also die
Gesamtsituation, das dauernde Sehen auf die dargebotenen Fi-
guren, verbunden mit der Erwartung, dort irgend etwas zu er-
blicken, die das vorstellige Verhalten gar nicht aufkommen ließ
und die subjektiv erzeugten Gebilde zu wirklich gesehenen
machte. — In anderen Fällen werden AB auch von Nicht-
eidetikern erzeugt, wenn entweder der Gesichtspunkt, ob
primär- oder sekundärreizbedingt, gänzlich fortfällt, wie im
Schlaf, wo die Traumbilder wirklich gesehen werden; oder aber
es wird die wirkliche Gegenwart eines dem Eindruck korre-
spondierenden Dinges durch die gegebene Situation dergestalt
fest suggeriert, daß ein Zweifel an ihr gar nicht aufkommt.
Dieser Fall liegt vor bei den Illusionen, wo reproduzierte
Ergänzungen des sinnlich Gegebenen deshalb wirklich gesehen
werden, weil die aus den reproduzierten und wahrgenommenen
Inhalten entstehenden Komplexe der Gesamtsituation völlig ent-
sprechen und durch sie geradezu nahegelegt sind. Hierher
gehört das von Lindworsky in der genannten Abhand-
lung angeführte Beispiel (ZP I, 80: 205), wo die Vp. einen
Farbfleck wirklich sah, weil sein Erscheinen vom VI. ange-
kündigt war, und weil tatsächlich andere Farbflecken in
größerer Zahl erschienen, so daß auch der nur vorstellungs-
mäßig gegebene Fleck keine Besonderheit darstellte und mit
Bestimmtheit erwartet werden mußte. Von ähnlichen Fällen
berichten die Marburger (5, 64; 7, 76; 12, 227ff.), und auch
die Versuchsergebnisse Külpes, Perkys und anderer For-
scher dürften hier einzuordnen sein: Erscheinungen werden
wirklich gesehen, weil der Glaube an die Realität der Inhalte
neben genügender Intensität den Beobachter in das ursprüng-
liche Verhalten hineinführt. — Mit Kroh stimmen wir über-
ein, wenn er (29, 73) derartig bedingte AB für die früheste
Kindheit ansetzt; denn hier ist nach unserer obigen Schilderung
die Scheidung zwischen wirklich und unwirklich noch nicht voll-
zogen, während in einem späteren Entwicklungsstadium nur in
besonderer Situation und Bewußtseinslage das kritische Wissen
1) Der Lichtstreifen ging als solcher deutlich über die nichterleuchtete
Strecke.
326 Franz Scola,
um die subjektive Herkunft von Bildern zurücktreten kann. —
Aber selbst in einer Phase, wo die Scheidung zwischen objektiv-
und subjektiv-bedingt schon gemacht ist, wird ein Jugend-
licher viel häufiger als der Erwachsene in die Lage kommen,
Vorstellungen zu objektivieren und demgemäß das ursprüngliche
Verhalten ihnen gegenüber einzuschlagen, weil ihm einerseits
der Gesichtspunkt, ob wirklich oder bloß gedacht, noch nicht,
wie dem Erwachsenen, ständig mitgegeben ist und an jedes
Bild herangebracht wird, und weil andererseits dem Jugend-
lichen infolge der geringeren Erfahrung noch manche von den
Kriterien fehlen, die ihn eine Vorstellung als solche erkennen
lassen könnten.
In den zuletzt genannten Fällen werden Eindrücke deshalb
wirklich gesehen, weil sie mit hinreichender Intensität und ohne
das Bewußtsein subjektiver Herkunft auftreten. Damit aber
sind die eigentlichen und echten AB, wie sie von den Mar-
burgern beschrieben werden, noch nicht erklärt. Denn nach
ausdrücklichem Bericht sind die Täuschungen über den Wirk-
lichkeitscharakter der gesehenen Eindrücke äußerst selten (24,
32; 29, 73 u. 100). Hier wird also die ursprüngliche Ver-
haltungsweise eingeschlagen, obwohl das Nichtvorhandensein
eines dem Eindruck entsprechenden Dinges bewußt ist: AB
werden willkürlich erzeugt. — Unserer Theorie macht
das keine Schwierigkeiten: Eine bekannte Tatsache ist die
Labilität der jugendlichen Psyche. Soll nun der Begriff der
Labilität, um wissenschaftlichen Wert zu erhalten, in Hin-
sicht auf die von der Psychologie erarbeiteten Erscheinungen
und ihre Gesetzmäßigkeiten näher umschrieben und ausgefüllt
werden, so muß vor allem, wie uns scheint, auf das Fehlen
ausgebreiteter und dauernder Gewohnheiten hingewiesen werden.
das seinerseits in der noch wenig entwickelten Ausbildung und
geringen Festigkeit assoziativer Verbindungen zwischen Kom-
plexen in großem Stile, die sich trotz aller Variierung der
Situation und Konstellation des Psychischen durchsetzen, seine
Ursache haben dürfte. — Bedenken wir nun, daß jene vor-
stellige Verhaltungsweise nicht etwa mit der Wiedererneuerung
anschaulicher Inhalte überhaupt schon notwendig verknüpft ist,
sondern erst nachträglich an die wiedererzeugten Eindrücke
herangebracht wird, um sich schließlich mit ihrem Auftreten
assoziativ zu verbinden, so ist damit ohne weiteres die Mög-
lichkeit von Fällen gegeben, in denen die einzuschlagende Ver-
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 327
haltungsweise noch nicht durch die feste Assoziation bestimmt
wird. Hier sind es dann zumeist irgendwelche andere Fak-
toren oder Motive, die das ursprüngliche Verhalten veranlassen:
Ein Eindruck ist oftmals oder soeben vorher sehr lange in der
ursprünglichen Verhaltungsweise wahrgenommen worden; ge-
wohnheitsmäßig!) wird dieselbe Verhaltungsweise auch dann
noch eingeschlagen, wenn er auf Grund sekundärer Erregung
wiedererscheint. Hierher gehört die von Jaensch angeführte
Beobachtung, daß Schüler nach längerem Lesen im Buche beim
Aufblick den Kopf des Lehrers nicht sehen, weil er ihnen
durch das AB des Buches verdeckt wird (28, 10), und Kroh
berichtet, daß ihm vor dem Einschlafen die am Abend korri-
gierten Schülerhefte seitenweise vor den Augen erschienen seien
(29, 85; dort auch andere Beispiele). Ferner wird des öfteren
bezeugt, daß bekannte und vertraute Gegenstände mit Vorliebe
wirklich gesehen werden (5, 84; 4, 101; 7, 101). Ein Knabe,
der sonst nicht über AB verfügt, sieht das Bild seiner Eltern
wie in weiter Ferne (29, 32). Hier macht sich gleichzeitig ein
anderes Motiv, das zum ursprünglichen Verhalten führt, geltend:
Der vorgestellte Gegenstand hat für das Subjekt eine gewisse
Bedeutung. Dinge, die man gern sieht, die man liebt, die das
Interesse in Anspruch nehmen, von denen man wünscht oder
gar erwartet, daß sie hier im selben Raume seien, werden eher
wirklich gesehen als solche Gegenstände, die unbeliebt sind,
mit denen man sich nicht gern beschäftigt und die man nicht
vor sich haben möchte. Interessantes, Sinnvolles wird den
homogenen Farbquadraten und sinnlosen Bilder- und Buch-
stabengruppen gegenüber bevorzugt (1, 10; 5, 86ff.; 6, 17ff.;
29, 29ff. u. v. a.). Hieraus erklärt sich die von einigen Vpn.
hervorgehobene Notwendigkeit einer inneren Beziehung zu dem
gesehenen Gegenstand (5, 86ff.; 24, 32), die dann nicht selten
im Experiment durch »vertiefte Betrachtung« erst hergestellt
wird; das Vorbild ist in seinen Einzelheiten zu durchwandern
und manche Vpn. müssen sich ganz in den Raum des Bildes,
das sie wiedersehen wollen, hineinversetzen (5, 81ff.), offen-
bar, um den hemmenden Gedanken zurückzudrängen, »die er-
scheinenden Gegenstände könnten sich nicht in diesem Zimmer
befinden«, ein Schweizerhaus stehe wohl auf den Alpen, nicht
1) Auch diese Tatsache der Bildung »kurzer Gewohnheiten« dürfte neben
dem oben Gesagten über die Labilität ein Charakteristikum der jugendlichen
Psyche sein.
328 Franz Scola,
aber auf dem Tisch des Versuchsraumes, ein Gedanke, der bei
vielen Individuen das vorstellige Verhalten wachrufen würde.
— Aus demselben Grunde werden gelegentlich Bilder leichter
gesehen, wenn der zu reproduzierende Gegenstand noch vor-
handen und vom Projektionsschirm nur verdeckt ist (29, 57),
während eine Vp. es nicht vermag, das AB eines Objektes neben
das Objekt selbst zu projizieren (29, 60), wahrscheinlich, weil
der Gedanke, es könne der Gegenstand nicht zweimal da sein,
die ursprüngliche Verhaltungsweise zurückdrängt. — AB werden
durch die Erwartung ihres Erscheinens (29, 135 ff.) und durch
‚Wahrnehmungskomplexe, in die sie hineinpassen und leicht
hineingesehen werden können, begünstigt (12, 233; 29, 61).
Darum auch wirkt das Abdunkeln des Raumes und die Homo-
genität des Gesichtsfeldes fördernd auf die Erzeugung von AB
ein, weil unter solchen »optimalen« Bedingungen (21, 139;
29, 12ff. u. a.) die wirkliche Umgebung und damit das störende
und die ursprüngliche Verhaltungsweise hemmende Bewußt-
sein zurücktritt, daß der reproduzierte Gegenstand nicht in
diese Umgebung hineinpasse und deshalb möglichst von ihr
isoliert und von der vorstelligen Verhaltungsweise umspannt
werden müsse!).
Schließlich gibt es unter den Eidetikern eine nicht geringe
Anzahl solcher, bei denen das kritische Wissen um die sub-
jektive Bedingtheit der Eindrücke durchaus nicht hemmend
auf das Einschlagen der ursprünglichen Verhaltungsweise ein-
wirkt, und die also ohne die genannten Hilfen und Begünsti-
gungen AB mit großer Leichtigkeit erzeugen, die keinen Unter-
schied machen zwischen interessanten und uninteressanten, sinn-
vollen und sinnlosen, beliebten und gleichgültigen Objekten,
denen jegliche Situation recht ist und die sich nicht scheuen,
einen Gegenstand in unmöglicher Umgebung wiederzusehen.
Dieses vollkommen freie Verfügen über die eidetische Fähigkeit
kommt bezeichnenderweise durchweg nur ganz jugendlichen
Eidetikern zu, während mit steigendem Alter immer mehr
Sonderbedingungen zur Erzeugung eines AB vonnöten sind (5,
80 ff.). Dafür lassen sich aus unserer Grundauffassung zwei
Ursachen beibringen: Einerseits ist die Gewohnheit, den sub-
jektiv erzeugten Bildern die vorstellige Verhaltungsweise ent-
1) Es kann dies auch so ausgedrückt werden, daß die optimalen Be-
dingungen von sich aus den Eindruck gegen störende Reize schützen und
deshalb die vorstellige Verhaltungsweise nicht vonnöten ist.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 329
gegenzubringen, um so weniger ausgebildet, je weiter wir in
der Entwicklung zurückgehen (siehe unsere obige Bemerkung
über die Labilität der jugendlichen Psyche). Je mehr aber diese
Gewohnheit durch Bildung einer starken Assoziation sich festigt,
um so bedeutender werden die Hemmungen, die daraus für das
Einschlagen des ursprünglichen Verhaltens erwachsen, und um
so günstiger müssen die Bedingungen sein, damit diese Hem-
mungen überwunden werden können. — Andererseits entspricht
es dem kindlichen Charakter viel mehr als dem zum Ernste
des Lebens Heranreifenden und Herangereiften, eine spiele-
rische Umkehr der wohlerkannten Wirklichkeitsverhältnisse
vorzunehmen und just solche Dinge sehen zu wollen, die eigent-
lich nicht gesehen werden können; zum mindesten legt das
Kind eine große Gleichgültigkeit gegenüber dem Wirklich- oder
Nichtwirklichsein an den Tag. Die Veränderungen, die es
allein durch sein Verhalten in der Umwelt hervor-
rufen kann, machen ihm Spaß, es spielt mit seinen AB und
erlangt durch die vielfache Übung schließlich eine solche Fertig-
keit in der Kunst, daß es imstande ist, allen Eindrücken und
selbst den schwachen, undeutlichen und flüchtigen Bildern
gegenüber die ursprüngliche Verhaltungsweise des Sehens ein-
zuschlagen!). — Ja, es kann das schlichte Anschauen aller
auftauchenden Inhalte derartig zur Gewohnheit werden, daß
das Individuum gar nicht mehr imstande ist, sich etwas »bloß
vorzustellen«. »Was ist Denken? Das ist doch, wenn man
etwas sieht%«, sagt Ernst Wi, eine Vp. Krellenbergs
(5, 66). Auch an anderer Stelle erfahren wir, daß VB schon
nach kürzester Betrachtung und wenn der Blick auf den Schirm
sich richtet, zu AB werden (4, 103 und 111 und 121; 5, 61;
28,8). Hier ist ohne Zweifel die Projektion der Eindrücke bei
geöffneten Augen in den Sehraum hinein ein zu starker Anlaß,
1) :Wir können hier auf eine Erscheinung hinweisen, bei der ein ähnlicher
Wechsel in der Verhaltungsweise stattfindet. Steht man auf einer Brücke und
sieht unter sich den Fluß vorüberziehen, so kann man sich in die Situation
vergetzen, als lägen die Wellen ruhig, während man selbst mit der Brücke
über das Wasser dahinschwebt. Bei gehöriger Umstellung des Verhaltens
verschwindet der Eindruck; die Wellen ziehen vorbei und die Brücke steht
stil. Ein jeder wird sich erinnern, daß er in seiner Kindheit dieses Spiel
auf der Brücke besonders gern und mit großer Geschicklichkeit vollführt
hat, während es dem Erwachsenen nicht immer mehr gelingen will. Das ent-
spricht unserem Befunde über die Fähigkeit zu willkürlichem Wechsel in
der Verhaltungsweise im Jugendalter.
330 - Franz Scola,
das Verhalten des schlichten Sehens einzuschlagen, als daß die
Instruktion, bloß vorzustellen, befolgt werden könnte!). Bei
anderen Vpn. verschwinden die VB, wenn der Blick während
ihrer Erzeugung auf einen farbigen oder gekrümmten Schirm
gerichtet wird (4, 115; 4, 117), offenbar deshalb, weil ein
solcher Hintergrund nicht unbeachtet bleiben kann und die
Bilder zu wenig Intensität besitzen, um sich, wie die wirklich
gesehenen, ihm gegenüber zu behaupten.
4. Die Entwicklung des NB.
Im ersten Kapitel unserer Arbeit (S.304 ff.) konnten wir
zeigen, daß zwischen NB und GB im allgemeinen wohl Unter-
schiede bestehen, daß aber diese Unterschiede bei Jugendlichen
weitgehend verwischt sein können und doch der bestimmte
Eindruck vorhanden ist, demzufolge das Bild als NB oder GB
(AB) beurteilt wird. Wir schlossen daraus (S.306), es müsse
diesem Urteil der Vpn. ein subjektives Kriterium zugrunde
liegen, das sich mehr oder weniger unabhängig von den ob-
jektiven Merkmalen und Bestimmungen bildet. Ein solches
subjektives Kriterium aufzuzeigen sind wir imstande, wenn
wir das NB in den von uns im 2. Abschnitt (8.315 ff.) geschil-
derten allgemeinen Entwicklungsverlauf hineinversetzen.
Wir gingen davon aus, daß im frühesten Entwicklungs-
stadium das Kind weder die Herkunft noch die Bedeutung der
Eindrücke kennt. Es weiß nicht, ob ein ihm bewußter Inhalt
primär- oder sekundärreizbedingt ist, und ob der Reiz durch
ein gegenwärtiges Objekt veranlaßt wird oder nur nachklingt.
Allmählich nun setzt sich auf Grund der von uns aufge-
wiesenen Erfahrungen die Scheidung durch in solche Inhalte,
die wirklich vor mir, und in solche, die nicht wirklich vor mir
sind. Während aber diese Scheidung vollzogen wird, bleibt
eine Art von Bildern zurück, die weder zu der einen noch zu
der anderen Gruppe gehören will. An Intensität den Eindrücken
der Umwelt nicht nachstehend, paßt die Erscheinung dennoch
in diese Umwelt nicht hinein. Sie ist flüchtig, und wenn man
sie ergreifen will, wenn man sie mit den Fingern abtasten will,
wie etwa das Muster der Tapete, so verschwindet sie um so
1) Siehe hierzu unsere Ausführungen auf S.321f., wonach sich beim pro-
jizierten VB mit dem Hinausschauen in den Sehraum dennoch die vorstellige
Verhaltungsweise verbindet.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 331
eher, ohne irgendeine Spur von sich zu hinterlassen. Wendet
man sich um, so folgt die Erscheinung dem Blick und läßt
gerade hierdurch die Stabilität und Selbständigkeit vermissen, die
man an der Umwelt so oft zu erleben Gelegenheit hat. Auch
die Tatsache, daß ein Gegenstand, wenn ich nach längerer Be-
trachtung von ihm hinwegsehe, einfachhin verdoppelt wird,
entspricht nicht den aus sonstigen Quellen stammenden Er-
fahrungen. — Ebensowenig aber ist die Erscheinung der anderen
Gruppe der als »von mir erzeugt« geltenden Inhalte zuzurechnen.
Indem sie sich keinem größeren Komplexe erfahrungsgemäß
einordnet und dem Vorstellungsablauf durchaus nicht ent-
spricht, indem sie aus keiner Interessen- und Aufmerksamkeits-
richtung erwächst und, ohne erwünscht zu sein, ohne aber auch
durch einen bloßen Akt des Erinnerns erzeugt werden zu
können, für gewöhnlich nur dann auftritt, wenn der Blick
längere Zeit starr auf ein durch Einfachheit oder Leuchtkraft
ausgezeichnetes Objekt gerichtet war, indem sie endlich von
diesem Objekt in stereotyper Einförmigkeit nur die Umrisse,
und zwar in negativer Farbe und Helligkeit wiedergibt, stellt
sie sich als ein für das gesamte psychische Geschehen be-
deutungsloses Nebenprodukt der Wahrnehmung, als bloßes
»Nachbild« eines vorher gehabten Eindruckes, dar. Auf Grund
dessen bildet sich diesem NB gegenüber mehr und mehr ein
Verhalten heraus, das seiner Bedeutungslosigkeit entspricht:
Es wird für gewöhnlich nicht, wie die GB, selbst intendiert
und beobachtet; vielmehr läßt man es abfallen, man beachtet
es nicht, sieht an ihm vorbei und gibt sich ganz den Eindrücken
hin, auf die soeben die Aufmerksamkeit gerichtet war!). Es
ist klar ersichtlich, daß dieses Verhalten des »Vorbeisehens«
an dem Eindruck, obgleich es ein wirkliches Sehen ist, denn-
noch sich unterscheidet von dem Sehen eines AB. Hier (beim
AB) wird das Bild selbst gesehen, dort (beim NB) er-
scheint es nur während und bei Gelegenheit des Sehens eines
Umweltobjektes. Weil nun dieser Unterschied in dem subjek-
tiven Verhalten erst allmählich, und zwar auf Grund einer mehr
oder weniger bewußt vorgenommenen Wertung der Erschei-
nungen hinsichtlich ihrer Bedeutung für das jeweilige Er-
leben, sich herausbildet, so sind sehr wohl Fälle denkbar, in
1) Auf die Fälle, für die das oben Gesagte nicht zutrifft, kommen wir
sogleich zu sprechen. — Übrigens wird diese Verschiedenheit des Verhaltens
von den Vpn. Martins betont (Martin, Die Proj.-Meth. S. 361ff.). .
332 Franz Scola,
denen das NB nicht einfach unbeachtet beiseite geschoben,
sondern, wie die übrigen anschaulichen Phänomene, etwa wie
die GB, gewertet und behandelt wird. Das mag beim normalen
Erwachsenen nur selten vorkommen; denn sein psychisches
Geschehen steht fast ständig unter der Determination be-
stimmter Aufgaben, in die die flüchtige Nacherscheinung an
keiner Stelle hineinpaßt. Selbst in den Experimenten, in denen
das NB als solches beobachtet werden soll, ist er wohl im-
stande, der Instruktion, einen Punkt des Schirmes zu fixieren,
Folge zu leisten, besonders dann, wenn er weiß, unter welch
zufälligen Bedingungen die Erscheinung entsteht, und daß es
keiner besonderen Intention, sondern lediglich eines gleich-
gültigen Hinstarrens bedarf, um sie von selber kommen zu
Jassen!). Wenn aber beispielsweise, etwa infolge von Er-
müdung, die Richtung des psychischen Verlaufes nicht fest
bestimmt ist, wenn man seine Aufmerksamkeit sozusagen nicht
»in der Hand« hat, so daß sie sich schon durch geringe An-
lässe ablenken läßt, wenn außerdem das NB mit großer Leichtig-
keit nach kürzester Betrachtung eines Gegenstandes entsteht
und man sich gar nicht bewußt wird, diesen Gegenstand über-
haupt angeschaut zu haben, dann kann man — auch als Er-
wachsener — versucht sein, in seinen NB mehr als NB zu
sehen, sie zu beobachten, sich mit ihnen zu beschäftigen und
sie mit gleichzeitig erzeugten GB zu vermengen und zu ver-
wechseln. Eine irgendwie geartete individuelle Veranlagung,
eine bestimmte äußere und innere Situation mögen einem solchen
ungewöhnlichen Verhalten den NB gegenüber förderlich sein.
Dagegen bedarf es wahrscheinlich beim Jugendlichen keiner be-
sonderen Zustände, um die geschilderte Verwechslung und Ver-
mischung des NB mit den GB herbeizuführen. Denn je weiter
wir in der Entwicklung zurückgehen, um so weniger ist die
Entstehungsweise und die Bedeutung der Erscheinungen be-
kannt. Deshalb wird der Jugendliche, zumal sein Vorstellungs-
ablauf noch wenig geordnet und nicht stets von dem Schema
einer Aufgabe beherrscht ist, häufig und vielleicht normaler-
weise im NB eine den GB gleichwertige Erscheinung erblicken
und sich dementsprechend verhalten; d.h. er schaut nicht gleich-
gültig am NB vorbei, sondern hebt es als interessantes Phä-
nomen aus dem Komplex der Umwelt heraus, es erscheint
1) Siehe hierzu die schon oben S. 331 zitierte Stelle bei Martin.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 333
ihm nicht bloß, während er den Schirm fixiert, sondern er
sieht es selbst, und wenn er Eidetiker ist, sieht er es ähn-
lich, wie er seine AB zu sehen gewöhnt ist.
Von hier aus wird es verständlich, daß, wie die Mar-
burger berichten, ein kontinuierlicher Übergang besteht zwischen
NB und AB (1, 5; 24, 8 u. a.). Auf die einzelnen Tatsachen
gehen wir weiter unten ein. Hier sollen die möglichen Zwischen-
formen nur angedeutet werden: Sind beispielsweise AB zu er-
zeugen, wobei aber die Fixation der Vorlage gefordert ist (wie
bei Herwig; 21, 147), so könnte es wohl sein, daß infolge
des Fixierens ein negatives NB entsteht, die Beobachter aber,
in dem guten Willen, der Instruktion des Vl.s zu genügen, sich
diesem NB gegenüber ganz so wie bei Betrachtung eines AB
verhalten und auch selbst glauben, sie hätten es mit einem AB
zu tun. Wie wir später zeigen können, nähert sich in solchen
Fällen das NB der Gesetzmäßigkeit des AB, so daß auch der
VI. den Eindruck gewinnen muß, AB, wenn auch negativ ge-
färbte, vor sich zu haben. — Wir sind geneigt, die von Her-
wig untersuchten Erscheinungen zum großen Teil auf diese
Weise zu erklären; und auch die von ihm (21, 140ff.) vor-
gebrachten Argumente für den AB-Charakter dieser Erschei-
nungen können uns nicht überzeugen, da eben die Abwei-
chungen von der normalen NB-Gesetzmäßigkeit aus dem un-
gewöhnlichen Verhalten derVpn. verständlich zu machen sind.
Vielleicht lassen sich ebenso die Fälle erklären, in denen das
AB beim Rückgang der eidetischen Fähigkeit aus positiver .
in negative Farbe umschlägt (1, 5; 21, 148 u. 208 f.; 24, 8).
Wir würden dann nicht, wie die Marburger, das negative Bild
als AB, sondern als NB bezeichnen, das, wegen des Unver-
mögens, in jedem Falle und von jedem Objekt ein AB zu er-
zeugen, unbemerkt an dessen Stelle tritt, aber infolge der
durch die Instruktion geforderten Verhaltungsweise wie ein
AB behandelt und als solches auch beurteilt wird. Übrigens
ist es nicht ausgeschlossen, daß in manchen Fällen während
der Entstehung eines NB durch die Verhaltungsweise des Sub-
jektes, die auf die Reproduktion des Eindruckes gerichtet ist,
gleichzeitig ein AB auftritt und mit dem NB verschmilzt,
so wie es mit einem Wahrnehmungsbild verschmelzen kann!).
Das dürfte dort zutreffen, wo NB »mit vielen Einzelheiten«
1) Derartige Verschmelzungen bezeugt Martin a. a. 0. S. 345.
334 Franz Scola,
gesehen werden (5, 100) oder wo durch Denken an die Farbe
des Originals die komplementäre Farbe im NB (bzw. AB)
überwunden wird (5, 101ff.). Es wird von Fall zu Fall ver-
schieden sein, ob wir bei derartigen Verschmelzungen an ein
Eingehen des AB in das NB (und umgekehrt) oder an eine
teilweise oder gänzliche Verdrängung des einen Inhaltes durch
den anderen denken sollen. Herwig berichtet (21, 159) von
Wettstreiterscheinungen, bei denen positives und negatives AB
(welch letzteres wir als NB betrachten) neben- und überein-
ander gesehen wurden. — Im Anschluß an das früher Ge-
sagte (S.328) über die optimalen Bedingungen zur Erzeugung
eines AB können diese Tatsachen auch so gedeutet werden, daß
das Auftreten eines NB die Erzeugung des AB begünstigt,
etwa so, wie ein Wahrnehmungskomplex das wirkliche Sehen
einer Vorstellung veranlassen kann:). Damit glauben wir
die bedeutsamsten Übergangsformen zwischen NB und AB be-
sprochen zu haben.
5. Die Merkmale und Verhaltungsweisen der Bilder.
Die Deutlichkeit.
Nach dem übereinstimmenden Berichte der Marburger
zeichnet sich das AB im allgemeinen gegenüber dem VB durch
seinen großen Einzelheitsreichtum aus (1, 26; 29, 28 u. 76).
Das deckt sich mit unserer Grundauffassung von dem Unter-
schied der GB. Denn detailarme Eindrücke drängen von sich
* aus zu dem isolierenden, vorstelligen Verhalten, während deut-
liche Bilder infolge ihrer Objektadäquatheit die naive, ur-
sprüngliche Verhaltungsweise begünstigen und also am ehesten
wirklich gesehen werden. — Umgekehrt wird die auf Erzeugung
eines AB gerichtete Intention Bedingungen schaffen, die nun
ihrerseits den Reichtum an Einzelheiten herbeizuführen ge-
eignet sind: Die Betrachtungsdauer war in den Marburger Ex-
perimenten für das AB zumeist länger als für das VB; die
Vorlage wurde nicht nur flüchtig, sondern aufmerksam be-
trachtet und mit dem Blick durchwandert. Einzelne Vpn. reden
gar von einer Vertiefung in das einzuprägende Bild, damit es
ein besonderes Verhältnis zum Subjekt erlange.
1) Ähnlich sagt Martin (a.a.0. S.365), es sei das Fechnersche Er-
innerungsbild »ein momentan durch Spuren des NB erhelltes GB«. — Der
besprochene Tatbestand kommt übrigens auch in verschiedenen der von ihr
protokollierten Selbstbeobachtungen zum Ausdruck (a. a. O. S.355ff.).
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 335
Auf der anderen Seite ist doch nach unserer Theorie auch
die von den Marburgern gemachte Feststellung verständlich,
daß das VB bisweilen reicher an Einzelheiten ist als das AB
(29, 15 u. 28; 4, 99; 10, 126). Denn die jeweils einzuschlagende
Verhaltungsweise ist nicht allein abhängig von der Deutlich-
keit eines Inhaltes, so daß es sehr wohl möglich ist, daß ein
deutliches Bild bloß vorgestellt und ein undeutliches wirklich
gesehen wird.
Das Gewicht (die Intensität) der Bilder.
Wie wir schon oben erwähnten (S.308), prüft Busse das
Gewicht aller drei Bilderarten auf die gleiche Weise, indem
sie den Gedanken zugrunde legt, daß zwischen subjektiv- und
objektiverregten Eindrücken ein Wettstreit besteht, in welchem
die GB den gleichzeitigen Wahrnehmungsgegebenheiten mehr
oder weniger unterliegen können (1, 27). Aus diesem Versuche
ergibt sich die prinzipielle Gleichartigkeit der Intensität der
VB mit der der gesehenen AB und NB, wennschon in den
meisten Fällen ein gradueller Unterschied besteht: Das Ge-
wicht des VB ist geringer als das des AB und dieses wieder
geringer als das des NB. Bei 2 von 9 Vpn. wurde für
alle drei Bilder die gleiche Intensität festgestellt (1, 29). —
Dagegen meint Kroh (29, 115), es sei die Intensität wenigstens
reiner VB wesensverschieden von der der gesehenen AB,
welche Ansicht durch Aussage der Vp. K. bei Gößer
bestätigt wird, nach der das »Verschwinden« des Hinter-
grundes bei Betrachtung eines VB von ganz anderer Art
ist wie dann, wenn ein AB den Hintergrund zudeckt (4, 101).
Von dieser Beobachtung wollen wir ausgehen. Sie erklärt sich
zwanglos aus der von uns aufgewiesenen Verschiedenartigkeit
der jeweiligen Verhaltungsweise, durch die sich der Eindruck
der Bilder als »wirklich gesehener« oder »bloßB vorgestellter«
konstituiert: Nach unserer Beschreibung geht das vorstellige
Verhalten darauf hinaus, die augenblicklichen, empfindungs-
mäßigen Wahrnehmungsgegebenheiten möglichst unberücksich-
tigt zu lassen und gar nicht zu beachten. Ist nun der Inhalt
imstande, das Bewußtsein des Subjektes derart auszufüllen,
daß das Interesse oder die Aufmerksamkeit vollkommen ab-
sorbiert wird, d.h. besitzt der Inhalt höchste Intensität im
engeren Sinne, so wird die vorstellige Verhaltungsweise von
vollem Erfolg begleitet sein, indem der Sehraum, wie überhaupt.
336 Franz Scola,
der ganze momentane Wahrnehmungskomplex, verdrängt wird
und dem Bewußtsein gänzlich entschwindet. Wir haben dann
den von der Vp. K. charakterisierten Zustand: »Bei scharfer
Konzentration der Aufmerksamkeit auf das VB sehe ich den
Schirm als Hintergrund nicht.« — »In dem Augenblick, wo
ich mir das Schweizerhaus vorstelle, ist der Hintergrund über-
haupt nicht da« (4, 101).
Anders liegen die Verhältnisse, wenn entweder die vor-
stellige Verhaltungsweise nicht zur völligen Verdrängung des
Sehraumes führt, oder wenn das VB, als projizierte Vorstellung,
ausdrücklich in den Sehraum hineinverlegt, oder wenn das
AB dort gesehen wird. Dann setzt der von Busse beschriebene
eigentliche Wettstreit zwischen objektiv- und subjektiverzeugten
Inhalten ein, der sowohl durch die Fähigkeit der Bilder zur
Aufmerksamkeitsabsorption als auch durch ihre Frische der
Farben, durch die Schärfe und Bestimmtheit der Linien und
Formen, durch den Einzelheitsreichtum, kurz durch die Leb-
haftigkeit oder das »Gewicht« der Erregung entschieden wird.
Bei höchstem Gewicht ist dann das Bild imstande, die Wahr-
nehmungsgegebenheiten nicht nur infolge von Nichtbeachtung
aus dem Bewußtsein zu verdrängen, sondern die Empfindungen
selbst gewissermaßen teilweise auszulöschen, gar nicht auf-
kommen zu lassen, die Gegenstände faktisch zu verdecken +).
So wird uns verständlich, daß es einerseits Fälle gibt, in
denen die Intensität der VB und AB ganz unvergleichbar und
wesentlich verschieden scheint (Kroh), daß andererseits, wie
im Busseschen Versuch, VB im gleichen Sinne wie AB Ge-
wicht besitzen und die Einzelheiten des Hintergrundes »ver-
decken« können (1, 29). Allerdings wird im letzteren Falle
durchweg das VB von geringerem Gewicht sein als das AB
(Busse), weil gerade die Schwäche der Erregung der erste
Anlaß war, das vorstellige Verhalten einzuschlagen, und weil
(wie wir schon bezüglich der Deutlichkeit bemerkten) in den
Marburger Experimenten durch die Intention auf ein bloß vor-
gestelltes oder wirklich gesehenes Bild die Schwäche bzw.
Lebhaftigkeit der Erregung mitbedingt wurde (Einprägungs-
dauer und Einprägungsart). — Weil aber die einzuschlagende
1) Stumpf unterscheidet den Vorstellungsraum im engeren Sinne, der
den ganzen Wahrnehmungsraum verdrängt und deshalb keine gesehene Raum-
beziehung zu ihm hat, und den Vorstellungsraum, der im Sehraum untergebracht
ist. Angeführt bei Fröbes, Lehrb. der exper. Psych. Bd. I? S. 226 f.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 337
Verhaltungsweise durchaus nicht allein von der Lebhaftigkeit
der Erregung abhängig ist, sondern, wie wir zeigen konnten
(S. 324 ff.), durch die verschiedensten Faktoren bestimmt werden
kann, so ist es möglich, daß auch intensive Eindrücke bloß
vorgestellt und schwache Eindrücke wirklich gesehen werden,
woraus sich die von Busse bei ihren beiden Ausnahmen fest-
gestellte Gleichheit des Gewichtes von VB und AB erklärt
und selbst eine Umkehrung des Gewichtsverhältnisses verständ-
lich würde.
Die Erscheinungsweise des Hintergrundes.
Mit den von uns aufgewiesenen Gesamtverhaltungsweisen,
die den einzelnen Bildern gegenüber eingeschlagen werden,
sind, wie wir schon andeuteten (S.314£. u. 321 f.), gewisse Teil-
verhaltungsweisen verbunden, die als äußere oder innere Willens-
handlungen aufzufassen sind und die je nach den besonderen
Umständen und je nach dem psychischen Gesamtzustande eine
verschiedene Wirksamkeit entfalten und dadurch mannigfaltige
funktionelle Unterschiede der Bilder herbeiführen können.
Auf eine dieser Teilverhaltungsweisen stießen wir schon
bei Besprechung der Intensität. Dort (S. 335 f.) zeigte sich, daß
infolge des eigenartigen Verhaltens beim VB der Projektions-
grund wie überhaupt der ganze momentane Wahrnehmungs-
komplex unbeachtet bleiben und dem Bewußtsein völlig ent-
schwinden kann. Wird nun auch eine derartig strenge Iso-
lierung des VB nicht allzu häufig sein), so ist doch zu er-
warten, daß durch die mit dem vorstelligen Verhalten ver-
bundene Aufmerksamkeitsrichtung oder besser Auf-
merksamkeitsverengung die Erscheinungsweise des Hinter-
grundes beeinflußt wird. So fügen sich die Gößerschen Er-
gebnisse zwanglos unserer Theorie ein: Da, wo es überhaupt
möglich ist, beim bloßen Vorstellen eines Bildes den Blick auf
den Schirm zu richten (ohne daß das Bild verschwindet oder
als AB gesehen wird; 4,103; siehe auch S. 329£.), erscheint der
Hintergrund nach den Aussagen der Vpn. »unbestimmt«, d.h.
ver kann nicht näher beschrieben werden« (4, 102f.).
Dagegen scheint es verwunderlich, daß auch beim AB,
obgleich es wie das NB mit ursprünglichem Verhalten auf dem
1) Sie kann beispielsweise dort nicht stattfinden, wo VB gemessen werden,
also bei den »projizierten« Vorstellungen.
Archiv für Psychologie. LII. 22
338 Franz Scola,
Schirm gesehen wird, dennoch der Hintergrund »nebelhaft«.,
»wolkig«, »verschwommen«, »wie ein grauer Schleier« erscheint,
während er beim NB deutlich als »Papierfläche« gesehen wird
(4, 102f.). Aber auch das ist verständlich, wenn wir auf den
oben 8.331) erörterten Unterschied im Sehen von AB und NB
zurückgreifen: Das AB wird als solches intendiert, die Auf-
merksamkeit ist primär auf das Bild gerichtet, und allein diese
Aufmerksamkeitskonzentration läßt die Umgebung des Bildes
verschwimmen. Das zeigt sich schon in der gewöhnlichen Wahr-
nehmung, etwa bei aufmerksamer Betrachtung eines an der
Wand hängenden Bildes, zumal wenn die nichtbeachtete Um-
gebung einförmig ist, wie es in dem Gößerschen Versuch
der Fall war. — Demgegenüber sahen wir das Eigenartige der
beim NB eingeschlagenen Verhaltungsweise darin, daß das NB
als solches nicht intendiert ist, nicht eigentlich beobachtet, daß
an ihm gewissermaßen vorbeigesehen wird. Bei seiner Er-
zeugung ist der Blick und die Aufmerksamkeit primär auf den
Hintergrund gerichtet, so daß dieser vom Beobachter gesehen
wird, wie er in Wirklichkeit ist. — Wir haben es also bei
dem besprochenen Unterschied nicht, wie Gößer meint (4,
125), mit einer mehr oder weniger starken Annäherung an das
»innere Vorstellungsgrau«, sondern mit einer Verschwommen-
heit der äußeren Wahrnehmung zu tun, die durch die mit dem
Gesamtverhalten verbundene Blick- und Aufmerksamkeits-
richtung bedingt ist.
Die Projektion der Bilder auf farbige Hinter-
gründe.
Eine Bestätigung dieser unserer Anschauung finden wir in
den Ergebnissen des Gößerschen Versuches, in dem die Bilder
auf farbige Hintergründe projiziert wurden. Warum eine solche
Projektion des VB meist nicht gelingen konnte (4, 117), haben wir
schon weiter oben (S. 329 f.) dargelegt, so daß wir uns nur noch
mit dem Unterschied von AB und NB zu beschäftigen haben. —
Das AB, so sagten wir, wird als solches selbst intendiert und
als eigenwertige und selbständige Erscheinung beobachtet. Dem
entspricht es, wenn die AB farbiger Quadrate von den anders-
farbigen Hintergrundsquadraten deutlich unterschieden werden,
wenn das AB nicht völlig im Hintergrunde aufgeht, wenn es
erst einer besonderen Bemühung bedarf, beide zur Deckung
zu bringen (4, 117f.). Da, wo diese Deckung stattfindet, be-
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 339
steht der Eindruck, daß nicht das verfärbte Hintergrunds-
quadrat, sondern das verfärbte AB gesehen wird (4, 117£.).
— Anders beim NB: Bei seiner Erzeugung wird lediglich der
Hintergrund ins Auge gefaßt, und gewissermaßen beiläufig
entsteht das Phänomen, ohne als gegenständlich bedeutungs-
volle Erscheinung aus den gesehenen Objekten herausgehoben
zu werden. Es wird also vom Hintergrundsquadrat nicht unter-
schieden, deckt sich mit ihm und geht so gänzlich in ihm auf,
daß die Vpn. den Eindruck gewinnen, nicht ein NB, sondern
den verfärbten Hintergrund zu sehen (4, 117).
Eine Schwierigkeit für unsere Auffassung, es sei die mangelhafte
Deckung von AB und Hintergrundsquadrat eine Folge der dem AB gegenüber
eingeschlagenen Verhaltungsweise, scheint aus den Ergebnissen der von
Herwig und Jaensch angestellten Mischungsversuche zu entstehen. Dort
wurde bei der Projektion von AB auf farbige Gründe zumeist vollkommene
Deckung und Mischung erreicht, und der von Gößer festgestellte Wett-
streit wird nur als Ausnahme erwähnt (23, 275—281). Dieser Tatbestand
wird uns verständlich, wenn wir hören (23, 280), daß zur Erzeugung der
AB bei Herwig und Jaensch die Vorlage, allerdings nur 3 Sek. lang,
fixiert wurde. Ohne behaupten zu wollen, es handle sich deshalb gar nicht
um AB, sondern um NB !), dürfen wir doch annehmen, daß durch die
Fixation eine dem NB-Verhalten ähnliche Einstellung veranlaßt war. Außer-
dem hatte Herwig dieselben Vpn. schon bei seinen offenbar langwierigen
Farbenuntersuchungen benutzt, in denen die Vorlage durchweg 20 Sek. lang
fixiert werden mußte (21,,139) und nicht selten auch bei seitlicher Be-
obachtung des AB die Fixation eines Punktes des Hintergrundes
durch die Instruktion gefordert war (21, 151). Daran gewöhnt, wird sich eine
gleiche Einstellung und Blickrichtung auch in den darauf folgenden Mischungs-
versuchen durchgesetzt haben.
Die Projektion der Bilder auf nichtebene
Gründe.
‚Weiter tritt die typische Verschiedenheit der Blick- und
Aufmerksamkeitsrichtung, die aus dem jeweiligen Gesamt-
verhalten resultiert, in den Versuchen zutage, in denen die
Bilder auf nichtebene Gründe projiziert wurden (4, 114ff.).
Als solche benutzte Gößer einen geknickten Schirm, dessen
Kante auf den Beobachter zustand, und eine gewölbte Fläche.
— Vor solchen nichtebenen Hintergründen mußte sich das für
das VB charakteristische Bestreben, die Umwelt-Gegebenheiten
weitmöglichst zurückzudrängen, noch stärker geltend machen
1) Diese Frage zu prüfen, müßte das Experimentum crucis auf die
Wiedererzeugbarkeit der Bilder angestellt werden. (Siehe unsere Bemerkung
über die NB bei Herwig auf S. 333.)
22»
340 Franz Scola,
als vor ebenem, homogen-grauem Schirm, weil hier die Gefahr
einer Störung der vorgestellten Bilder bedeutend größer war
als dort. — Man wird sich also bemüht haben, während des
Vorstellens sogar den Gedanken an die Struktur des Hinter-
grundes nicht aufkommen zu lassen; der Schirm war gewisser-
maßen für die Vpn. nicht da und konnte demnach auch keinen
Einfluß auf das VB geltend machen. Dieses wurde nach An-
gabe Gößers (4, 114f.) bei ungezwungenem Verhalten durch-
weg in seiner ursprünglichen Gestalt sowohl vor der ge-
krümmten Fläche als auch vor der Kante des geknickten Hinter-
grundes vorgestellt. Daß es sich hier nicht eigentlich um eine
mit dem Bild als solchem verknüpfte Eigenart, sondern, unserer
Anschauung gemäß, um die Wirkung einer gewissen subjek-
tiven Verhaltungsweise handelt, geht aus der von Gößer
gleichfalls beobachteten Möglichkeit hervor, auch das VB dem
nichtebenen Hintergrunde anzupassen, wenn nämlich die In-
struktion ausdrücklich verlangt, es auf dem Hintergrunde zu
sehen, wenn also, nach der oben angeführten Stelle, nicht mehr
das »ungezwungene« Verhalten eingeschlagen wird, d.h. wenn
man sich so verhält, wie man sich beim bloßen Vorstellen im
allgemeinen nicht zu verhalten pflegt. Es tritt dann zu dem
durch die Instruktion gegebenen antizipierenden Schema: den
Gegenstand vorzustellen, die Bestimmidng hinzu, ihn auf dem
so und so strukturierten Grunde, eben auf dem geknickten oder
gewölbten Schirm, vorzustellen, so daß dieser auf die Gestaltung
des Bildes Einfluß gewinnt. |
»Das NB machte alle Krümmungen und Knickungen der
benützten Projektionsflächen mit« (4, 115), was sich daraus
erklärt, daß bei seiner Erzeugung Blick und Aufmerksamkeit
primär auf den Schirm gerichtet sind, daß das NB beim Sehen
des Grundes nur beiläufig erscheint und demgemäß völlig in das
Gesehene, gleichgültig, welcher Struktur es ist, eingeht, wobei
keinerlei Rücksicht auf das Objekt genommen wird, weil eben
. das Objekt als solches gar nicht intendiert wird.
Beim AB dagegen findet gerade das letztere statt. Hier
spielt die Rücksicht auf den vorher gesehenen Gegenstand, auf
seine Eigenart und das zu ihm verwandte Material schon bei der
Erzeugung eine mehr oder weniger große Rolle: wie weit die
Vp. imstande ist, jedweden Gegenstand in jeder Wahrnehmungs-
situation und mit dieser oder jener Veränderung wirklich
wiederzusehen, und wie und als was sie ihn in der neuen
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 341
Situation auffaßt und demgemäß wiedersehen will, ob sie etwa
- einen steifen Karton oder ein auf den Grund aufgeklebtes
Papierquadrat zu erblicken glaubt (siehe hierzu das Kapitel
über die Bedingungen für das Auftreten von AB, 8.323 ff.).
Darum zeigt das AB, wie aus dem Gößerschen Bericht her-
vorgeht (4, 115f.), ein verschiedenes Verhalten: teils paßt es
sich dem Hintergrunde an, wenn auch nicht immer gleich stark
wie das NB, teils erscheinen nur einige Teile vom Schirm be-
einflußt, so daB etwa nur die äußerste Kante der geknickten
Projektionsfläche sich durchdrückt, teils hängt es glatt in ur-
sprünglicher Gestalt vor dem Hintergrunde.
Die Lageänderung der Bilder bei Neigung des
Kopfes.
| Untersuchungen über die Lageänderung der Bilder sind an-
gestellt worden von Busse (1, 14—21), Gottheil (2, 85
—87) und Krellenberg (5, 66f.). Der Verlauf der Ver-
suche war folgender: Das Objekt, meist ein mit einem Wort
beschriebener Papierstreifen, wird in 50 cm Entfernung und
in Augenhöhe auf einem Schirm genau wagerecht dargeboten
und nach Erzeugung des VB, AB oder NB der Kopf der Vp.
um 45° (bei Gottheil um 50°) geneigt. Die Stellung des
Kopfes war jeweils durch eine Stütze fixiert. Das Ergebnis
der Versuche läßt sich dahin zusammenfassen, daß für das
VB eine Tendenz besteht, es auch bei geneigtem Kopf in seiner
ursprünglichen Lage erscheinen zu lassen. Das NB dagegen
folgt im allgemeinen der Neigung des Kopfes, wennschon die
Neigungswerte hinter denen der Kopfneigung zurückbleiben.
Das AB nimmt zumeist eine Mittelstellung zwischen VB und
NB ein.,
Zur Erklärung dieser Tatsachen greifen wir auf das zu-
rück, was G.E.Müller in seiner Abhandlung »Über das
Aubertsche Phänomen« über die Lokalisation eines Ein-
druckes bei Neigung des Kopfes ausführt‘). Dabei wollen wir
von Lagerung und nicht von Lokalisation reden, da wir den
Terminus Lokalisation in anderem Sinne verwerten wollen.
Nach der Auffassung Müllers besteht für die Lagerung
von Eindrücken bei Neigung des Kopfes eine doppelte Tendenz:
1) G. E. Müller, Über das Aubertsche Phänomen, ZP. II, 49 S. 109.
Siehe auch G.E.Müller, Anal. d. Ged.-Tätigkeit usw. II S. 66 ff.
342 Franz Scola,
nämlich ihre Lage zu bestimmen einerseits in Beziehung auf
den geneigten Kopf (B- oder K-Tendenz), andererseits in Be-
ziehung auf den in normaler, gewohnheitsmäßiger Haltung be-
findlichen Rumpf (S-Tendenz). Der Effekt dieser beiden
Tendenzen ist, wie leicht eingesehen werden kann, entgegan-
gesetzt und besteht für subjektiv erzeugte Bilder darin, daß die
Bilder bei Einordnung in das Bezugssystem des Rumpfes ihre
ursprüngliche Lage beibehalten, bei Einordnung in das Bezugs-
system des Kopfes aber mit dem Kopf sich gleichgerichtet
und im selben Maße neigen!), Aus dem Zusammenwirken
oder besser Gegeneinanderwirken dieser beiden Tendenzen re-
sultiert eine mittlere Neigung, die sich entweder mehr der
ursprünglichen oder einer der Neigung des Kopfes ent-
sprechenden Lage nähert. Im einzelnen werden die genauen
Neigungswerte von dem gegenseitigen Stärkeverhältnis der ,
beiden Tendenzen abhängig sein. — Gehen wir also kurz auf
die Art und die Wirksamkeit dieser Tendenzen ein, um daraus
die Bedingungen für die Stärke ihres Auftretens und die Nach-
drücklichkeit ihres Einflusses auf die Lagerung der Bilder er-
schließen zu können. Offenbar haben wir es hier mit dem
Auftauchen weitgehend schematisierter, kaum oder gar nicht
beachteter, räumlicher Vorstellungen von der Kopf- und Körper-
lage zu tun, die durch gewisse »Lageeindrücke«?) mannig-
faltiger Art wachgerufen werden. Die Wirksamkeit dieser
oder jener Lagerungstendenz wird sich also darnach bemessen,
ob mehr die gewohnheitsmäßige, normale Haltung des Körpers
oder die gegenwärtige Neigung des Kopfes vorstellungsmäßig
auftritt und die Lagerung der Eindrücke bestimmt. Damit ist
nun die Möglichkeit einer Erklärung der Marburger Tatsachen
gegeben, wenn wir zeigen können, daß (neben anderen Faktoren,
die entweder aus der individuellen Eigenart oder aus der augen-
blicklichen Situation entspringen) auch das subjektive Ver-
halten in irgendeinem Sinne Einfluß darauf hat, welche Körper-
lagevorstellung mit größerem Nachdruck auftaucht und welche
der beiden Lagerungstendenzen demnach überwiegt.
Gehen wir vom NB aus. Weil ihm eine Erregung der Netz-
haut zugrundeliegt, so ist die natürliche Folge der Kopfneigung
die gleichsinnige Neigung des Bildes. Hinzu kommt die Ver-
1) Wir wollen hier die Gegenrollungen der Augen unberücksichtigt lassen,
da sie für alle drei Bilder im allgemeinen gleich sein dürften.
2) G. E. Müller a.a.0. S. 158.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 343
haltungsweise, die dem NB gegenüber gewöhnlich eingeschlagen
wird: Das interesselose Hinstarren auf den Projektionsgrund
läßt den Gedanken an die ursprüngliche Lage des Eindruckes
zurücktreten, so daß jene Tendenz dominiert, infolge derer das
Bild, eingeordnet in das Bezugssystem des Kopfes, dessen
Neigung mitmacht (2, 85ff... — Daß aber auch beim. NB
die entgegengesetzte Tendenz wirksam werden kann, die aus
der Vorstellung der normalen Körperhaltung entspringt und
dem Bild seine ursprüngliche Lage zu geben trachtet, zeigen
die Fälle, in denen die Neigung des NB hinter der Neigung des
Kopfes um einen Betrag zurückbleibt, der so groß ist, daß er
nicht mehr durch den Einfluß der Augenrollungen erklärt
werden kann. Derartige Fälle finden sich bei Busse (1,
16f.) und in noch größerer Anzahl bei Krellenberg i(5,
63). Wiederum also sind es die Eidetiker, die hier den NB
gegenüber nicht das gewöhnliche Verhalten einschlagen, indem
sie in besinnlicher Einstellung die Vorstellung von der ursprüng-
lichen Lage des Eindruckes reproduzieren.
Auch beim AB ist der Blick in die Umwelt gerichtet, und
während sich der Kopf neigt, wird die dadurch hervorgerufene
Veränderung der Situation wohl bemerkt. Aber das. AB hat
gegenstandsbezogene Bedeutung, es nimmt das Interesse des Be-
obachters in Anspruch, so daß ihm gegenüber die Umwelt nur
eine geringere Beachtung findet. Die durch die Kopfneigung her-
vorgerufenen Körperempfindungen treten im Bewußtsein zu-
rück; man ist zu sehr mit dem Bild beschäftigt, als daß man
genau auf sie merken könnte. Infolgedessen tritt die Vorstellung
von der Kopfhaltung nur mit geringerer Kraft auf. Das
Stärkeverhältnis der beiden Lagerungstendenzen verschiebt sich
zugunsten jener, die die Lage des Bildes in Beziehung zur nor-
malen Rumpflage bestimmt: Das AB wird durch die Neigung
des Kopfes weniger beeinflußt als das NB (1, 16; 5, 63).
Noch mehr verschwindet beim VB die tatsächliche Wahr-
nehmungssituation. Hier zielt ja das vorstellige Verhalten
geradezu auf eine weitestmögliche Verdrängung alles empfin-
dungsmäßig Gegebenen hin. Man bemüht sich, die Verände-
rungen der Umwelt nicht zu sehen; man will nicht wissen, daß
man den Kopf neigt; und je mehr dieses Absehen von der gegen-
wärtigen Situation, dieses »bloße Vorstellen« gelingt, um so
mehr werden die Lageeindrücke zurückgedrängt, und um so
weniger Kraft besitzt die Vorstellung von der Lage des
344 Franz Scola,
Kopfes, ihren Einfluß geltend zu machen. Hinzu tritt das
besinnliche Verhalten beim VB, der oftmals bewußte Rekurs
auf die ursprüngliche Wahrnehmung, die Berücksichtigung be-
kannter Gegenstandsverhältnisse, das Bestreben, während des
Vorstellens sich in ungestörter, bequemer, gewohnter Haltung
zu befinden, was alles das Gesamtschema der gewohnheitsmäßig
eingenommenen, normalen Körperstellung mit großer Eindring-
lichkeit auftauchen läßt und zu einer mehr oder weniger starken
Annäherung an die ursprüngliche Lagerung des Bildes führt
(ebenda).
Die Gestaltänderung der Bilder bei Drehung des
Schirmes ist von Busse (l, 21ff) und Gößer (4, 110£f.) unter-
sucht worden. Der Hergang des Experiments ist folgender: In 50 bezw.
35 cm Entfernung vom Auge des Beobachters wird auf einem Schirm eine
stehende Ellipse mit dem Achsenverhältnis 5,5:6 zur Einprägung dargeboten.
Sodann wird der Schirm durch einen drehbaren ersetzt und dieser, nachdem
das Bild auf ihn projiziert worden ist, um seine senkrechte Achse gedreht.
Die Vp.-hat anzugeben, wann die Ellipse als Kreis erscheint!). Der dieser
Angabe entsprechende Drehwinkel des Schirmes wurde abgelesen. Dabei er-
gab sich, daß beim VB die Gestalt sich länger erhielt als beim AB und bei
diesem länger als beim NB; d. h. es bedurfte einer größeren Drehung des
Schirmes, damit die Ellipse als Kreis gesehen wurde. Nach dem in dem
vorangehenden Kapitel Gesagten können wir auf eine eingehende Besprechung
dieses Ergebnisses verzichten, da es sich zwanglos unserer Gesamtauffassung
einordnen läßt. Es genügt der Hinweis darauf, daß auch hier zwei Ten-
denzen wirksam sind, nämlich den Eindruck entweder in den ursprünglich
gegebenen oder in den durch die Schirmdrehung veränderten Wahrnehmungs-
komplex einzuordnen und seiner Konstellation gemäß die Gestalt des Bildes
zu bestimmen. Je nachdem nun die eine oder andere dieser Tendenzen in-
folge des Gesamtverhaltens (Beachtung und Berücksichtigung der Schirm-
drehung) dominierte, blieb die eingeprägte Gestalt mehr oder weniger lange
erhalten.
Gößer modifiziert den Versuch dadurch, daß er den homogenen durch einen
inhomogenen Grund ersetzt, was eine Zunahme der Drehungswerte, d. h. eine
Annäherung an das VB-Verhalten zur Folge hat. Wir werden in einem späteren
Kapitel (S. 361 f.) zusammenfassend erörtern, wie dieser Einfluß der »Störung«
nach der hier vertretenen Anschauung zu erklären ist.
DieGrößenänderung der Bilder.
Wird ein NB auf einen Schirm projiziert und dieser dann
vom Beobachter weg- oder auf ihn zugerückt, so ändert sich
bekanntlich die Größe des NB proportional mit der Entfernung
1) Busse verlangte außerdem die Angabe darüber, wann die Ellipse
begann, sich zu runden, und wann der Kreis in eine liegende Ellipse überging.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 345
des Schirmes (Emmertsches Gesetz). — Den gleichen Ver-
such stellen die Marburger mit den NB und GB ihrer Vpn.
an. Dabei ergibt sich folgendes: Für die Größenänderung der
NB bei erwachsenen Nichteidetikern gilt das Emmertsche
Gesetz (2, 76). Die NB Jugendlicher dagegen und besonders
die der Eidetiker weichen von diesem Gesetze ab, indem sie
meist nicht die zu erwartenden Werte der Größenänderung er-
reichen (2, 77f.; 3, 92; 4, 123 Tab.; 5, 63). Was das AB
anbelangt, so ändert sich auch seine Größe mit der Entfernung:
aber die Abweichung vom Emmertschen Gesetz ist im all-
gemeinen viel größer, als sie beim NB beobachtet wurde, d.h.
das AB wird hinsichtlich seiner Größe weniger stark durch
die Entfernungsänderung beeinflußt (1, 27£.; 3, 93 ff.; 4, 123:
5, 63 u.a.). Noch geringer ist die Größenänderung des VB.
das bei Entfernung im allgemeinen nur wenig wächst, gleich
bleibt oder gar kleiner wird (1, 36; 2, 78ff.; 4, 123; 5, 63
u.a.). Es zeigt sich also eine Tendenz zur Größenkonstanz, die
bei Jugendlichen und besonders bei den Eidetikern weniger
stark ausgeprägt ist als bei Erwachsenen (2, 78 ff.).
Die Marburger fassen diese Ergebnisse in dem Gesetz zu-
sammen: Einer je höheren Gedächtnisstufe das GB angehört,
desto größer ist sein Invarianz-Grad (1, 65; 5, 60; 24, 19f.
u. &.). Wennschon darin die allgemeine Tendenz der Größen-
änderung. zum Ausdruck kommt, so muß doch berücksichtigt
werden, daß bei genauer Prüfung der Ergebnisse nicht wenig
Ausnahmen von dem Gesetz sich finden lassen (5, 63 Tab.,
siehe auch 33, 146ff.). Außerdem zeigen die GB sowohl
wie die NB nicht selten schon eine Größenänderung in der Aus-
gangsstellung, d.h. in der Entfernung, in der die Vorlage einge-
prägt wurde (1, 42 Tab.; 2, 77 u. 97£.; 4, 119; 4, 23; 16, 316£.).
An einigen Stellen geht die Größenänderung des AB noch über
die nach dem Emmertschen Gesetz zu erwartende hinaus
(1, 42 Tab.), und für das NB wird in mehreren Fällen eine der
Entfernungsänderung entgegengesetzte Größenänderung fest-
gestellt, d.h. das NB wird bei größerer Entfernung kleiner und
wächst bei Annäherung (5, 63).
Diese Tatsachen sind zu erklären. Dabei gehen wir von der
Größenänderung des NB aus. Wie uns scheint, läßt sich das Zu-
standekommen der NB-Größe als ein ähnlicher Vorgang auffassen,
wie er bei der Bildung der Sehgröße stattfindet. Den verschiedenen
Tatsachen der Sehgröße dürfte am ehesten die von Lind-
346 Franz Scala,
worsky in seiner »Experimentellen Psychologie« (Philosoph.
Handbibl. Bd. V3, 1923) ausgeführte Theorie gerecht werden:
Nach ihr ist für die Sehgröße oder »Mächtigkeit« eines Ein-
druckes nicht so sehr die faktische, in Metern angebbare Ent-
fernung des Gegenstandes vom Auge des Beobachters, als viel-
mehr der erlebte Raum oder die erlebte Entfernung, die
durchaus nicht mit der objektiven Entfernung des Gegen-
standes übereinstimmen muß, maßgebend. Diese Auffassung
macht einerseits die in mehr oder weniger ausgedehnten Be-
reichen herrschende Größenkonstanz der Dinge, andererseits
auch die eigenartigen Täuschungen über die Größe von Gegen-
ständen verständlich. So gewinnt z.B. die Fliege, die vor
meinen Augen vorbeihuscht, während ich gänzlich im »Straßen-
raum« befangen bin, die Mächtigkeit eines vor dem Fenster
vorbeifliegenden Vogels, und der Schornstein wird zum winzigen
Fleck auf der Fensterscheibe, wenn ich etwa durch langes Lesen
noch in der Einstellung des Nahraumes mich befinde. — Wir
fassen diese Tatsachen dadurch zusammen, daß wir sagen:
Die Mächtigkeit eines Eindruckes wächst mit der Entfernung,
in der er erlebt wird. Damit aber haben wir das Emmert-
sche Gesetz in eine Form gebracht, die es ermöglicht, sowohl
die exakt dem Gesetze folgenden Fälle als auch die Ab-
weichungen, wie überhaupt die Größenänderung der von den
Marburgern untersuchten Bilder ohne Hinzunahme einer neuen
Gesetzmäßigkeit einheitlich zu erklären. Denn einerseits ist
der Fall denkbar, daß die erlebte Entfernung mit der wirk-
lichen durch den Schirm repräsentierten übereinstimmt: Die
Größenänderung folgt dem Emmertschen Gesetz. Anderer-
seits kann aber auch infolge irgendwelcher Bedingungen eine
andere, mit der durch den Schirm faktisch gegebenen Ent-
fernung nicht korrespondierende Raumvorstellung auftauchen
und den Eindruck in seiner Mächtigkeit bestimmen: Die Größen-
änderung weicht vom Emmertschen Gesetze ab.
An dieser Stelle muß ein naheliegendes Mißverständnis beseitigt werden:
Es handelt sich bei dem Auftauchen der Raumvorstellung, durch die der Ein-
druck seine Mächtigkeit erhält, nicht einfach um die Lokalisation des Ein-
druckes, wennschon beide ursprünglich eng miteinander verbunden sein dürften.
Unter Lokalisation verstehen wir die Einordnung eines Inhaltes an eine be-
stimmte Stelle im Ganzen des gegebenen Wahrnehmungskomplexes, die durch
einzelne Teilinhalte dieses Komplexes mehr oder weniger genau festgelegt
ist. So sehe ich den Schornstein dort zwischen dem näherstehenden Hause
und der weiter entfernt befindlichen Baumgruppe. Dagegen sprechen wir im
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 347
folgenden von »Raumgebung«, wenn der Eindruck in eine jetzt auftauchende
Raumvorstellung eingeht. Diese Raumvorstellung aber ist nicht die Vor-
stellung einzelner, bestimmter, jetzt hier befindlicher Dinge, sondern sie ist
das charakteristische Schema der Gesamtsituation, in der ich mich diesem oder
jenem Raum gegenüber befinde. So können wir etwa vom Stubenraum sagen:
Er ist dicht um mich, ich kann ihn abtasten oder doch mit wenig Mühe ab-
schreiten, er engt mich momentan ein, zwingt meine Augen zu einer be-
stimmten, ständigen Konvergenz und Akkommodation, das gesprochene Wort
hat in ihm einen eigenen Klang usw.!). — Wir werden in einem späteren
Kapitel auf das Verhältnis von Lokalisation und Raumgebung noch einmal
eurückkommen.
Fragen wir uns nun, von welchen Faktoren das Auftauchen
einer bestimmten Raumvorstellung subjektiv erzeugten Ein-
drücken gegenüber abhängig ist, so werden wir diese teils in
der Eigenart des Objektes (ein Schornstein wird zu aller-
meist die Vorstellung des fernen Landschaftsraumes wachrufen),
teils in der beim Einprägen oder Erzeugen .des Bildes herr-
schenden Situation (ob ich das Objekt vor mir hatte und ob
ich in gleicher Stellung und Entfernung den Eindruck wieder-
erzeuge), teils in der jeweiligen Gesamtverhaltungsweise des
Subjektes (ob ich z.B. vorstellen oder wirklich sehen will)
zu suchen haben. Vor allem mit den letztgenannten Einflüssen
der herrschenden Situation, d.h. der äußeren Versuchsbeding-
ungen, und des subjektiven Gesamtverhaltens auf die Raum-
gebung haben wir uns im Rahmen unseres Themas zu be-
schäftigen. Die äußeren Versuchsbedingungen waren in den
Marburger Experimenten über Größenänderung durchweg die
gleichen: Die Vorlage wurde in 50 cm Entfernung auf einem
Schirme dargeboten. Die Vp. blieb bei Erzeugung des Bildes
(VB, AB oder NB) am gleichen Platz und in der gleichen
Stellung sitzen, während der Schirm von ihr weg oder auf
sie zu geschoben wurde. Diese einfachsten Versuchsbedingungen
beschränkten die möglicherweise auftauchende Raumvorstellung
auf jeden Fall auf den vor dem Auge des Beobachters liegen-
den Streifen des Stubenraumes?). Man wußte, daß der Schirm
innerhalb dieses Streifens vor und zurückbewegt werden sollte
und war deshalb auf diesen Streifen allein eingestellt. So ist
1) Die vorgenommene Scheidung von Lokalisation und Raumgebung dürfte
sich im gewissen Sinne mit der von G. E. Müller vorgenommenen zwischen
prelativer« und »egozentrischer« Lokalisation berühren (G.E.Müller, Anal.
d. Ged.-Tätigkeit usw. II S. 48 ff.).
2) Es kommen also die meisten der von G. E. Müller angeführten
Lokalisationstendenzen für unseren Fall nicht in Betracht.
848 Franz Scola,
es von den äußeren Versuchsbedingungen lediglich die Bewegung
des Schirmes, die auf die Raumgebung der Bilder Einfluß ge-
winnt, so daß wir nur ein Vor, Auf oder Hinter dem
Schirm zu erwarten haben. Wie sich nun dieses Verhältnis
von Raumvorstellung und Entfernung des Schirmes im einzelnen
gestaltet, wird von der jeweiligen und mit den Bildern
wechselnden Verhaltungsweise des Subjektes abhängig sein. Das
zu untersuchen gehen wir vom VB aus:
Vergegenwärtigen wir uns die eigenartige Verhaltungsweise,
die das Subjekt bei Erzeugung und Betrachtung eines VB ein-
nimmt. In dem Bestreben, die gemeinhin schwachen, unwirk-
lichen Eindrücke gegen die intensive Umwelt zu schützen,
läßt man diese Umwelt möglichst unberücksichtigt; man be-
achtet sie nicht, und zur Unterstützung dieses mehr inneren
Verhaltens wendet man auch äußerlich den Blick von ihr ab.
Hat man vorher im Zimmer frei umhergeschaut, so wird man
nun den Kopf senken und die Augen zusammendrücken; der
Blick trifft in typischer Situation auf die Platte des Tisches,
die den gesehenen Raum bedeutend einengt, da sie sich kaum
eine Elle weit vor den Augen befindet. Weil aber diese Ein-
engung des Raumes nicht eine bloß zufällige ist, sondern ge-
radezu im Bestreben des Subjektes liegt, so wird sie bewußt
auch als Einengung erlebt, was man etwa so charakterisieren
könnte: »Ich will jetzt in einem solch engen Raume sein, daß
nichts mehr zwischen mich und meine Vorstellungen: treten
kann.« Infolge der oftmaligen Wiederkehr dieser Situation
wird schließlich der dicht vor den Augen befindliche Raumteil
zu einem typischen Vorstellungsraum, der sich als Gesamt-
situationsschema mit der vorstelligen Verhaltungsweise mehr
_ und mehr verbindet und mit ihr zusammen immer dann auf-
taucht, wenn die Eigenart des Objektes oder die äußeren Be-
dingungen nicht ein anderes Raumerlebnis veranlassen. In ihn
werden die Vorstellungen mit Vorliebe hineingezogen und ge-
winnen durch ihn ihre Mächtigkeit, ihre »Vorstellungsgröße«.
Betrachten wir nun die Marburger Ergebnisse über die
Größenänderung des VB. Die äußeren Versuchsbedingungen
mußten das Auftauchen der von uns charakterisierten einge-
engten Raumvorstellung beim Einschlagen der vorstelligen Ver-
haltungsweise begünstigen. Durch den schon bei der Ein-
prägung etwa eine Elle weit vom Auge des Beobachters befind-
lichen Schirm war der Raum in typischer Weise begrenzt.
s
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 349
Man fühlte sich sogleich in der wohlbekannten »Schulbank-
oder Schreibtisch-Situation«, und als nach Wegnahme des Ob-
jektes der Schirm an seinem Orte stehen blieb, war durchaus
keine Veranlassung, die VB in einen anderen als den Schirm-
raum zu versetzen. Dort also erschienen sie in der Größe, in
der ursprünglich die Vorlage gesehen worden war. Selbstver-
ständlich ist dabei eine mathematisch strenge Gleichheit nicht
zu erwarten. Abgesehen von den möglicherweise im Meßver-
fahren gelegenen Fehlerquellen!) und von der etwaigen mangel-
haften Einprägung der Größe des Gegenstandes, wird der er-
lebte und durch die Schirmstellung veranlaßte Vorstellungs-
raum sowohl individuell als auch von Fall zu Fall verschieden
sein: Das Bild erscheint wenig größer oder kleiner als die
Vorlage (2, 78—80).
Nicht mehr so selbstverständlich aus den äußeren Versuchs-
bedingungen, verbunden mit der vorstelligen Verhaltungsweise,
erfolgt die Raumgebung und Mächtigkeitsbestimmung dann,
wenn diese Bedingungen durch Wegrücken des Schirmes bis
auf 100 oder 150 cm Entfernung variiert werden. Da, wo das
Auftauchen der eingeengten Raumvorstellung sich mit der vor-
stelligen Verhaltungsweise überhaupt schon fest assoziiert hat
und in die komplexe Erlebnisart des bloßen Vorstellens infolge
langer Gewohnheit fast unlösbar eingegangen ist, da, wo
man in stereotyper Weise die VB immer nur eine Elle weit
vor den Augen erscheinen läßt, und wo man, mit eigenen
Dingen beschäftigt, eine gewisse kühle Gleichgültigkeit allen
Umweltveränderungen gegenüber zu beweisen imstande ist, wird
allerdings die Vorstellung des eingeengten Nahraumes im Be-
wußtsein verharren, um auf die Mächtigkeit der Bilder weiter- .
hin ihren Einfluß auszuüben. Das ist bei Erwachsenen der
Fall, deren VB bei Veränderung der Schirmentfernung weit-
gehend konstant bleiben (2, 79).
Nicht so bei Jugendlichen. Wennschon auch dort infolge
der vorstelligen Verhaltungsweise selbst beim Wegrücken des
Schirmes das Nahraumschema im allgemeinen verharrt und dem-
nach die Größe des VB zumeist eine ähnliche Konstanz zeigt
wie bei Erwachsenen, so ist doch der Vorstellungsraum noch
nicht überall in der stereotypen Weise ausgebildet und mit
1) Siehe hierzu Koffka, Über die Messung der Größe von Nachbildern,
Psychol. Forsch. Bd. III, 1923.
350 Franz Scola,
dem vorstelligen Gesamtverhalten so fest assoziiert, daß das
jeweilige Raumerlebnis nicht durch die Bewegung des Schirmes
beeinflußt werden könnte (siehe unsere früheren Bemerkungen
über die Labilität der jugendlichen Psyche). Die Raumvor-
stellung erweitert sich hier und da beträchtlich, ohne doch im
allgemeinen der Entfernung des Schirmes auch nur annähernd
zu entsprechen. So entstehen die Werte der Größenänderung
von VB bei Jugendlichen, die vom Emmertschen Gesetze
bedeutend abweichen, und die doch nicht der bei Erwachsenen
beobachteten Konstanz der Größe gleich sind (2, 80; 5, 63).
Interessant ist auch das Kleinerwerden der VB beim Wegrücken des
Schirmes, das nicht selten beobachtet wurde (ebenda). Die Marburger er-
klären es durch den Einfluß der Erfahrung, daß Gegenstände in größerer
Entfernung kleiner erscheinen (2,79; 1,37). Eine solche Erfahrung aber gibt
es, wie schon Koffka bemerkt (33, 149) im Stubenraum sicher nicht. Ein-
facher läßt sich der Tatbestand unter Zugrundelegung unserer Auffassung
verständlich machen: Weil die Vp. nicht imstande ist, in der verlangten
größeren Entfernung vorzustellen, so fällt sie in die typische Verhaltungs-
weise zurück und zieht die Bilder in den Nahraum hinein. — Auf der anderen
Seite ist es wiederum die vorstellige Verhaltungsweise, die zu einer Ver-
größerung der Bilder bei Annäherung des Schirmes bis auf 25 cm führt
(ebenda). Indem sie die Isolierung der Eindrücke von der aufdringlichen
Umwelt anstrebt, erwirkt sie da, wo der Schirm in den Nahraum selber
hineinrückt, eine Erweiterung des Raumerlebnisses, die, vielleicht durch den
Gedanken an die ursprüngliche Entfernung des Objektes veranlaßt (50cm),
nicht selten noch über diese Ausgangsstellung hinausgeht. Damit sind wir
auf einen weiteren Faktor gestoßen, der sich gerade bei der Raumgebung und
Mächtigkeitsbestimmung des VB in zahlreichen Fällen auswirken wird. Mit
dem vorstelligen Verhalten verbindet sich oftmals eine Besinnung auf die
in der ursprünglichen Wahrnehmung gegebenen Verhältnisse, die in den Mar-
burger Experimenten durch die den VB gewidmete kurze Einprägungsdauer ge-
radezu provoziert wurde (siehe hierzu weiter oben S. 322). Wo also ein
` stereotyper Vorstellungsnahraum noch nicht entwickelt war und die Raum-
gebung durch die Schirmbewegung in Unsicherheit und Schwanken geriet,
mußte man sich bemühen, auf das ursprüngliche Raumschema und auf die
ihm entsprechende Mächtigkeit des Eindruckes zurückzugehen und gewisser-
maßen eine Korrektur der gegenwärtigen Verhältnisse vorzunehmen. Es ist
wohl verständlich, wenn bei einer solchen Korrektur durch das Wissen das
Ziel häufig übersprungen, wenn beispielsweise bei Annäherung des Schirmes
der Eindruck, in dem Bestreben, ihn an seinen ersten Ort zu verlegen, in
übertrieben weiter Entfernung erlebt wird und sich demgemäß vergrößert. —
Übrigens dürfte die Größe des VB nicht selten auch durch Verhältnis-
bestimmungen konstruiert worden sein.
Wir kommen zur Größenänderung des AB. Vergegen-
wärtigen wir uns auch hier die ihm gegenüber eingeschlagene
Verhaltungsweise des gewöhnlichen Sehens, wie es in der Wahr-
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 351
nehmung stattfindet. Frei und ungezwungen ist der Blick des
Subjektes in den typischen Gesamtraum gerichtet, in dem es
sich befindet, in dem es sich bewegt, auf den es durch die
herrschende Situation, durch die augenblickliche Beschäftigung
mit allen Sinnen eingestellt ist, sei es der Landschaftsraum
beim Spaziergang, der Hof- oder Straßenraum beim Spiel, der
Stuben- oder Tischraum bei der Arbeit, der Buchraum beim
Lesen oder der engste Fingerraum bei der Beschäftigung mit
kleinsten Dingen. Betrachten wir daraufhin die Marburger Ex-
perimente, die unter den oben geschilderten Bedingungen an-
gestellt wurden, so können wir sagen, daß hier im allgemeinen
der Tischraum als Gesamtsituation erlebt wurde, in dem nun
die genauere Raumgebung, die erlebte Entfernung durch die
wechselnde Stellung des Schirmes wohl angeregt, dennoch ihr
gegenüber mehr oder weniger frei und durch verschiedene
andere Motive im einzelnen beeinflußt werden konnte. So mag
nicht selten schon in der Ausgangsstellung der Schirm als zu
nahe befindlich erlebt werden. Man ist nicht gewöhnt, seine
Bilder in dieser Engigkeit zu sehen, und so kommt es, daß bei
bloßer Intention auf das AB, unbekümmert um die faktische
Entfernung der Projektionsfläche, allsogleich ein weiteres
Raumschema auftaucht und die Mächtigkeit des Bildes im
Sinne einer Vergrößerung beeinflußt (1, 42; 4, 119; 16, 316£.).
Die für diese Tatsache vorgebrachte Erklärung Jaenschs
durch schwach epileptoiide Anlage gewisser Eidetiker, mit
der im allgemeinen Makropsie verbunden sei (25), läßt sich
nicht auf die Fälle anwenden, wo das AB in der Ausgangs-
stellung kleiner gesehen wird (1, 42; 4, 119). Unsere Auf-
fassung von der Größenbestimmung durch das jeweils auf-
tauchende Raumschema macht beide Möglichkeiten verständlich.
Es ist nicht anders zu erwarten, als daß die Fortbewegung
des Schirmes in größere Entfernungen beim gesehenen AB die
Raumgebung ungleich stärker beeinflußt als beim VB. Während
dort infolge der vorstelligen Verhaltungsweise bei Nichtbeach-
tung der Umweltänderungen ein Nahraum bevorzugt ist und
im Bewußtsein zu verharren strebt, ist hier, beim AB, der Blick
frei in die Umwelt hineingerichtet; man sieht, wie sich der
Raum eröffnet und daß man den ganzen Tisch nun vor sich
hat. Dadurch angeregt, taucht ein weiteres Raumschema auf.
das jedoch, nach dem oben Gesagten, keineswegs durch die
meßbare Entfernung des Schirmes notwendig begrenzt sein
352 Franz Scola,
muß. Erinnern wir uns, daß primär nicht der Schirm, sondern
das Bild gesehen wird; mag also die Fortbewegung des Schirmes
immerhin eine starke Anregung sein für das Wachwerden
einer erweiterten Raumvorstellung, so ist doch seine faktische
Entfernung durchaus nicht immer maßgebend für die Größe
des AB. Andere Faktoren treten hinzu: Vielleicht gibt es eine
typische Weite, in der die Vp. ihre Bilder mit Vorliebe sieht,
wenn sie beispielsweise auf dem Sofa sitzt und dösend die
Tischplatte betrachtet. Vielleicht ist es die Eigenart des Ob-
jektes. Man will es eben dort in der Mitte des Tisches und
nicht wie an den Schirm geklebt erblicken. Übrigens lassen
sich nicht alle Dinge auch überall wiedersehen. Wir hörten
früher, daß die Meinung, der Gegenstand sei noch da, die Er-
zeugung eines AB begünstigt. In solchem Falle wird selbst-
verständlich auch das dem ursprünglichen Orte entsprechende
Raumschema im Bewußtsein bleiben. Schließlich mag bei
Jugendlichen nicht selten ein allgemeiner Zug in ‘die Weite
bestehen +), so daß die durch die Schirmbewegung veranlaßte,
erlebte Entfernung noch über die faktisch mit dem Schirm
gegebene hinausgeht. — Aus den genannten, die Raumgebung
beeinflussenden Faktoren sind nun die Größenverhältnisse des
AB zwanglos zu erklären: Auf der einen Seite nämlich die un-
verkennbare Tendenz, sich weit mehr als das VB dem
Emmertschen Gesetz zu nähern, auf der anderen Seite aber
die Tatsache, daß dieses Gesetz nur in wenigen Fällen exakt
verwirklicht ist, und daß schließlich beim AB jede Art der
Größenänderung beobachtet werden kann (1, 42; 3, 93f£f.;
4, 123; 5, 63). Im allgemeinen wird man sagen können: Die
die Mächtigkeit des AB bestimmende Raumvorstellung ent-
spricht um so weniger der faktischen Entfernung des Schirmes,
je mehr Interesse das gesehene Objekt beansprucht, je mehr
also der Schirm unbeachtet bleibt, so daß die von uns auf-
geführten oder ähnliche Motive für die Raumgebung wirksam
werden. Dem entspricht es, wenn nach den Krellenberg-
schen Befunden AB von interessanten Objekten. mehr, solche
von einfachen Farbenquadraten weniger vom Emmertschen
Gesetze abweichen (5, 63).
1) Wir erinnern hier an die gerade bei Jugendlichen häufige Erscheinung
des Wachträumens, wobei die Augen in eine unbestimmte Weite gerichtet und
eingestellt sind.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 353
Damit haben wir gleichzeitig eine allgemeine Formel für
die Größenänderung des NB gefunden. Bei Analyse des ihm
gegenüber eingeschlagenen Verhaltens kamen wir zu dem Er-
gebnis, daß das NB, weil es sich als bedeutungslose Erscheinung
herausstellt, mehr und mehr übersehen wird, und daß selbst
bei seiner willkürlichen Erzeugung primär der Hintergrund im
Blickpunkt steht, bei dessen Fixation das NB nur beiläufig er-
scheint, ohne als solches intendiert zu sein. Dieses Übersehen
des NB ist bei Erwachsenen, zumal, wenn sie sein Wesen
und seine Erzeugungsbedingungen kennen, zur ständigen Ge-
wohnheit geworden, und es wird nicht leicht eine Situation
geben, die diese Gewohnheit erschüttern könnte. Es paßt sich
also das mit der NB-Erzeugung verbundene Raumerlebnis der
jeweiligen Schirmstellung an und führt zu einer Größen-
änderung, die dem Emmertschen Gesetz entspricht!) (2,76).
Anders beim Jugendlichen. Wie wir fanden, kommt es
nicht selten vor, daß er NB mit AB verwechselt oder doch
seinen NB eine ähnliche Verhaltungsweise entgegenbringt wie
den gleicherweise gesehenen AB; d.h. er ist bei Erzeugung des
NB auf dieses selbst gerichtet; er will es sehen, will es be-
obachten, so daß ihm gegenüber ähnliche Faktoren für die
Raumgebung wirksam werden, wenn auch in schwächerem
Maße, wie wir sie beim AB kennen lernten. Das wird um so
mehr der Fall sein, je kürzer die Fixationsdauer bei der Ein-
prägung war, weil dann, infolge der Schwäche der Nach-
erregung, das Bestreben eintritt, das NB durch eigentliche
Reproduktion zu unterstützen, während umgekehrt die längere
Fixation den Schirm und seine faktische Entfernung viel
mehr in den Vordergrund treten läßt und das stumpfe
Fixieren jede Intention auf das NB selbst unterdrückt (1, 38:
2, 77; 24, 10). — Übrigens ist durchaus nicht einzusehen,
warum nur der Eidetiker ein solch interessiertes Verhalten
seinen NB gegenüber einschlagen sollte. Auch der nicht-
eidetische Jugendliche, in Verwunderung über das eigenartige
Phänomen, dessen Herkunft er nicht kennt, wird glauben, er
habe es hier mit einem Eindruck zu tun, der noch mehr als
seine gewöhnlich schwachen Vorstellungen Beachtung verdient.
1) Es wäre zu untersuchen, ob nicht auch etliche der von Koffka (Über
die Messung der Größe von Nachbildern) festgestellten, geringen Abweichungen
bei den verschiedenen Meßverfahren auf eine Beeinflussung der Raumvor-
stellung zurückzuführen sind.
Archiv für Psychologie. LII. 23
354 Franz Scola,
So können auch bei ihm andere Faktoren als nur die Schirm-
entfernung auf die Raumgebung der NB und dadurch auf ihre
Größe Einfluß gewinnen. Wir halten es nicht für zweckmäßig
und dem objektiven Tatbestand ganz entsprechend, wenn in
solchen Fällen von »rudimentären AB« gesprochen wird (Gott-
heil).
Unsere Auffassung, es sei die Größe der Bilder durch das jeweilig auf-
tauchende Raumschema bedingt, wird indes von einem Einwand bedroht:
Gewiß ändert sich auch in der Wahrnehmung die Mächtigkeit eines Gegen-
standes mit dem Raum, in dem er erlebt wird, aber trotz veränderter Mächtig-
keit bleibt die gemessene Projektionsgröße abhängig von der objektiven Ent-
fernung der Maßfläche. Wenn wir beispielsweise, um auf den oben ange-
führten Fall zurückzugreifen, die Fliege, die uns, da wir im Straßenraum
befangen sind, mit der Mächtigkeit eines Vogels gegeben ist, vor den Augen
messen, so wird die Zirkalweite doch wieder nur die Größe der Fliege
angeben. Ebenso müßten die subjektiv erzeugten Eindrücke, wennschon sie
unter anderem Raumschema erlebt werden, dennoch den geometrisch-op-
tischen Gesetzen der Größenänderung bei Schirmentfernung folgen, da die
Messung der Bilder auf dem Schirm geschieht. — Diesem Einwand jedoch liegt
eine falsche Voraussetzung zugrunde, und wir benutzen die Gelegenheit, unsere
Auffassung von der Größe subjektiver Eindrücke nochmals zu formulieren.
Dabei gehen wir von einem von Lindworsky des öfteren ausgesprochenen
Gedanken aus: Nicht fertige Gegenstände scheinen in unser Bewußtsein ge-
wissermaßen hinein, sondern wir bauen die Gegenstände, bildlich gesprochen.
in der Außenwelt auf, und die Bausteine dazu — um in dem Bilde zu bleiben —
sind teils peripher bedingte Empfindungen, teils zentral erregte Vorstellungen !).
Auf unsere Frage angewandt, läßt sich also sagen: Die Mächtigkeit eines
Wahrnehmungsgegenstandes ist ein Verschmelzungsprodukt von Empfindungen,
die im Netzhautbild mit zugehörigem Sehwinkel ihr physiologisches Korrelat
besitzen, und von hinzutretenden Vorstellungen, von denen ein gewisses Raum-
schema im Rahmen der uns beschäftigenden Fragen besondere Beachtung ver-
dient. Die so in die Außenwelt hineingebaute Mächtigkeit der Eindrücke ist
es, die uns in naiver Einstellung überall gegeben ist, eben weil wir beim
Aufbau der Wahrnehmungswelt die aus früherer Erfahrung stammenden Vor-
stellungen nie unberücksichtigt lassen. — Was geschieht aber, wenn wir die
Projektionsgröße der Gegenstände in bestimmter Entfernung mit dem Zirkel
messen, oder wenn wir, wie etwa der Maler, sie auf einem vors Auge ge-
haltenen Maßstab visieren? Dann werden eben infolge der erzwungenen
Projektion der Gegenstände auf eine Maßfläche die zu dem Empfindungs-
komplex hinzutretenden subjektiven Vorstellungen, also auch das in gewöhn-
licher Einstellung erlebte Raumschema, künstlich unterdrückt. Dann wird tat-
sächlich nicht mehr die Mächtigkeit, sondern die dem Netzhautbikl ent-
sprechende Sehwinkelweite in den Zirkel genommen. — Jeder, der einmal
1) Daß deshalb ein solcher Aufbau der Wahrnehmungswelt nicht schon
in der frühesten Entwicklungsphase stattfinden kann, sondern Erfahrungen
voraussetzt, die Vorstellungen zurücklassen, ist selbstverständlich.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 355
Gelegenheit hatte, Kinder das Visieren von Gegenständen mit einem Stäbchen
zu lehren, wird wissen, wie schwer diese künstliche Operation ist für einen,
der von Sehwinkelverhältnissen nichts weiß, und der deshalb nicht ohne
weiteres imstande ist, das rein empfindungsmäßig Gegebene zu beachten und
die mit dem Gegenstand auftauchende Raumvorstellung zu unterdrücken. Man
wird immer wieder feststellen können, daß Kinder die den entfernten Gegen-
ständen entsprechende Projektionsausdehnung viel zu groß auf dem Visier-
stäbchen abgreifen. Sie übertragen also nicht einfach die Netzhautbildgröße
oder besser die Sehwinkelweite, sondern die Mächtigkeit des Eindruckes in
die Maß- oder Projektionsfläche hinein. Mit anderen Worten: Gegenüber der
durch die Projektionsfläche gegebenen objektiven Entfernung setzt sich die
mit dem Gegenstand verbundene Raumvorstellung durch und macht sich bei
der Größenbestimmung des Eindruckes geltend. — Selbst wenn man als Er-
wachsener die geometrisch-optischen Projektionsverhältnisse der Dinge kennt
und einen bedeutenden Unterschied zwischen Sehgröße und Projektionsgröße
vor dem Experiment erwartet, ist man doch immer wieder erstaunt über die
frappante Kleinheit entfernt stehender Gegenstände, die monokular auf ein
Visierstäbchen projiziert werden. Und vergleicht man hernach in ungezwungener
Einstellung den Gegenstand selbst mit der abvisierten Ausdehnung, so will
man nicht glauben, daß dergestalt klein der Gegenstand erscheinen soll.
Übertragen wir nun den oben angeführten Gedanken vom Aufbau der
Dinge in der Außenwelt auf die subjektiv erzeugten Eindrücke, dann müssen
wir die ganz bedeutsame Einschränkung machen, daß hier nicht mehr eine
aktuelle Einwirkung des Gegenstandes auf das Sinnesorgan stattfindet, daß
demnach eine Reduktion der Erscheinungsgröße auf die Sehwinkelgröße (wie
in der Wahrnehmung) durch künstliche Projektion nicht vorgenommen werden
kann. Es wird also nicht Sehwinkelgröße eingeprägt und gemessen, sondern
Mächtigkeit wird unter Berücksichtigung des jeweils erlebten Raumes ge-
staltet. Diesen Tatbestand hatten wir im Sinne, als wir weiter oben sagten,
es handle sich beim Zustandekommen der NB-Größe um einen ähnlichen
Vorgang, wie er bei der Bildung der Sehgröße stattfindet. — Aber, könnte
man einwenden, beim NB besteht wie in der Wahrnehmung ein Netzhautbild ;
konstituiert sich doch der Begriff des NB gerade dadurch, daß die primäre
Erregung nachklingt. Also wird auch bei Messung des NB Sehwinkelgröße und
nicht Mächtigkeit gemessen. — Darauf erwidern wir folgendes: Auch wir
vertreten allerdings die Auffassung, daß beim NB die primäre Erregung in
der Netzhaut nachklingt, eine Auffassung, die in der Heringschen Theorie
von der Umstimmung der Netzhautelemente eine kräftige Stütze besitzt!).
Aber diese Auffassung ist doch immer nur Theorie, die auf Grund der Tat-
sachen gebildet bezw. umgebildet werden muß. Die Tatsachen nun lassen
sich dahin zusammenfassen: Das NB folgt nicht in allen Fällen den geometrisch-
optischen Gesetzen, es verhält sich also nicht immer 80, wie es von einem
1) Die Annahme einer Nacherregung der Netzhaut beim NB kann übrigens
auch den von Bocci untersuchten »zerebralen NB« gegenüber bestehen bleiben,
die im einen Auge eingeprägt und mit dem anderen gesehen werden. Denn
man kann sagen: Das Netzhautbild ist da und bedingt einen Eindruck, für
dessen Auftreten es prinzipiell gleichgültig ist, welches Auge geöffnet und
welches geschlossen wird.
Pr
356 Franz Scola,
größenkonstanten Netzhautbild zu erwarten wäre. Diesem Tatbestand muß
die Netzhautbildtheorie angepaßt werden, was auf Grund unserer allgemeinen
Anschauungen von der Größenänderung der Bilder sehr wohl möglich ist.
Denken wir uns, daß beim NB eine bestimmte Stelle der Netzhaut sich
in Erregung befindet. Auf die gleiche Stelle wirken nun aber auch bestimmte
Reize der Umwelt ein, die ständig bereit sind, das NB zu verdrängen. Die
Folge davon ist die Unbeständigkeit, die es für gewöhnlich besitzt und in-
folge derer schon die geringste Störung genügt, es zum Verschwinden zu
bringen. Mögen nun immerhin die NB der jugendlichen Eidetiker nach dem
Bericht der Marburger durch größere Intensität und Beständigkeit ausgezeichnet
sein (2, 77; 29, 12; 29, 106), so ist doch anzunehmen, daß zum mindesten
solche Teile des Bildes, die gänzlich unbeachtet bleiben, die infolge eines
gewissen Verhaltens völlig vernachlässigt werden, sich gegenüber den Wahr-
nehmungsinhalten nicht behaupten können. Daraus aber ergibt sich die Mög-
lichkeit einer Beeinflussung der Größe des Bildes durch die oben angegebenen
Faktoren: Die Randteile des NB, die der durch ein gewisses Raumerlebnis
bestimmten Mächtigkeit nicht entsprechen und über sie hinausgehen, werden
infolge ihrer gänzlichen Vernachlässigung von den eindringlichen Wahr-
nehmungsinhalten verdrängt, fallen gewissermaßen ab und bleiben ungesehen.
Damit stimmt die Beobachtung überein, daß die längere Einprägungsdauer die
Größenänderung im Sinne einer Annäherung an das Emmertsche Gesetz
. beeinflußt (2, 77; 24, 10), indem sie die Nacherregung festigt und dadurch
dem »Abfallen« der Ränder entgegenwirkt.
Die hier vertretene Ansicht, daß die Größe des NB nicht von der ob-
jektiven Entfernung der Projektionsfläche, sondern von der jeweils er-
lebten Entfernung des Bildes abhängt, finden wir übrigens bestätigt durch
die Ergebnisse der von H. Frank angestellten Versuche!), in denen als
Hintergrund die perspektivische Zeichnung eines möglichst langen Korridors
diente. Das NB erschien kleiner oder größer, je nachdem es auf eine Stelle
projiziert wurde, die als vorn oder hinten liegend gedacht war (a.a. 0. S. 33).
Mit der möglichen Annahme, es handle sich bei der durch Entfernungs-
änderung hervorgerufenen Größenänderung des VB um ein Verhalten, das
mit der Größenänderung des NB in eine Linie zu stellen sei, beschäftigt sich
G. E. Müller (Anal. d. Ged.-Tätigkeit 379) und weist sie zurück mit dem
Hinweis auf die auch von ihm beobachtete Tatsache, daß die Größe von Vor-
stellungen im allgemeinen sehr weit von der aus den geometrischen Ver-
hältnissen errechenbaren Größe abweicht. Selbstverständlich wendet sich
dieses Argument nicht gegen die hier vertretene Anschauung; denn es geht
von der Voraussetzung aus, daß eine Vorstellung stets in der Entfernung er-
lebt wird, in der sich die Projektionsfläche vom Auge des Beobachters be-
findet, eine Voraussetzung, die eben, wie wir zu zeigen versuchten, nicht für
alle Fälle Geltung besitzt. — Übrigens deutet Müller selbst gelegentlich
(a. a O. S. 370£.) auf die Möglichkeit einer Nichtübereinstimmung von
faktisch gegebener und vorstellungsmäßig erlebter Entfernung hin: »Fordert
man Z. B. die Vp. auf, sich bei geschlossenen Augen eine bestimmte Ziffer
zuerst in bequemer Lesedistanz und dann in der bedeutend größeren Ent-
1) H. Frank, Über die Beeinflussung von Nachbildern durch die Ge-
stalteigenschaften der Projektionsfläche, Psych. Forsch. IV, 32 ff.
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 357
fernung der gegenüber befindlichen Zimmertür vorzustellen, so kann es leicht
geschehen, daß die Vp. dem zweiten Teile dieser Aufgabe nicht in der Weise
nachkommt, daß sie sich die Ziffer von ihrem gegenwärtigen
Standpunkte aus an der Türe oder ungefähr in der Entfernung der
Türe vorstellt, sondern in der Weise, daß sie innerlich vor die Türe ver-
setzt ist und die Ziffer in Lesedistanz vor sich sieht ... Auch wenn man sich
zunächst die Türe mitsamt ihrer Entfernung möglichst deutlich vergegen-
wärtigt hat, besitzt sie doch, wie eine Vp. bemerkt, eine Tendenz, in der Nähe
zu erscheinen, sowie man die Aufmerksamkeit dem an der Türe vorzustellenden
Objekte zuwendet.« — Wie bei geschlossenen Augen, so kann diese Tendenz
aber auch bei geöffneten Augen sich durchsetzen, zumal dann, wenn infolge des
Gesamtverhaltens alles Gesehene geflissentlich aus dem Bewußtsein ver-
drängt wird.
G. E. Müller führt andere Faktoren an, die auf die Größe der Vor-
stellungen Einfluß gewinnen können (a. a O. S. 381ff.). So z. B. die all-
gemeine Erfahrung, daß ein Objekt in der Ferne kleiner erscheint als in
der Nähe. — Eine solche Erfahrung aber gibt es, wie wir schon weiter oben
sagten, im Stubenraum sicher nicht. — Nun sind wir jedoch keineswegs der
Meinung, es sei ausschließlich das Raumverhalten für die Größe subjektiv
erzeugter Bilder maßgebend. Die Tendenz, die gewußten Größenverhältnisse
der Dinge auch in der Vorstellung zu erhalten; das Bestreben, deutlich zu
sehen bezw. vorzustellen; der Einfluß der Projektionsfläche und anderes mehr
werden beim Zustandekommen der Bildgröße mit wirksam sein. Wir waren
berechtigt, alle derartigen Faktoren, sofern die Stärke ihres Einflusses nicht
von der Eigenart der Verhaltungsweise bei den einzelnen Bildern abhängig
ist, unberücksichtigt zu lassen. Denn nur auf die Erklärung der typischen
Unterschiede der Größenänderung von VB, AB und NB, nicht aber auf die der
Größenänderung subjektiv erzeugter Eindrücke überhaupt, waren wir bei
unsern Überlegungen gerichtet.
Die Lokalisation der Bilder.
Es entsteht hier die Frage: Wenn infolge des eigenartigen
Gesamtverhaltens, das den Bildern in verschiedener Weise ent-
gegengebracht wird, eine bestimmte Raumvorstellung aufzu-
tauchen pflegt, die der objektiven Entfernung des Schirmes
sehr häufig nicht entspricht, muß dann nicht von den Vpn.
eine Distanz zwischen Bild und Hintergrund beobachtet werden.
müssen die Bilder nicht mehr oder weniger weit vor bzw. hinter
dem Schirm lokalisiert erscheinen? In den Versuchen über
Größenänderung aber wird von einer Distanz zwischen Bild
und Schirm an keiner Stelle berichtet, und so scheint es, als
sei unsere Erklärung nicht aufrechtzuerhalten.
Zur Lösung dieser Schwierigkeit verweisen wir auf das
weiter oben Gesagte über das Verhältnis von Raumgebung und
Lokalisation. Folgendes fügen wir ergänzend hinzu: Die die
Raumgebung eines Eindruckes bewirkende Raumvorstellung ist
358 Franz Scola,
weitgehend unabhängig von einzelnen, bestimmten, jetzt hier
wahrgenommenen Dingen; sie stellt sich vielmehr dar als ein
sehr allgemeines Schema von der oftmals (übrigens nicht nur
optisch) erlebten Eigenart der Dinge in »diesem Raum«, von
ihren räumlichen Beziehungen zu mir und von dem Verhältnis
und von der Einstellung meines wahrnehmenden und handeln-
den Organismus zu ihnen, sowie von dem möglicherweise ihnen
gegenüber einzuschlagenden Verhalten. Es sind also z. B.
nicht bestimmte, ferne Gegenstände, sondern es ist gewisser-
maßen das Fernsein der Gegenstände selbst, das mir in einer
solchen Raumvorstellung, verbunden mit vielfältigem Sachver-
haltswissen, schematisch gegeben ist und sogar bei geschlossenen
Augen gegeben sein kann. Nun braucht das Vorhandensein und
die Wirksamkeit einer solchen schematischen Raumvorstellung
auf den gehabten Eindruck nicht immer klar bewußt zu sein.
Nehmen wir beispielsweise folgenden Fall: Wir betrachten ein
Reklameschild, das in einer gewissen Entfernung vor einer
Mauer aufgestellt ist. Seine Aufschrift interessiert uns der-
gestalt, daß wir völlig in die Betrachtung versunken sind.
Das dabei auftauchende Raumschema erhält durch das Schild
seine Begrenzung, und der mit ihm gegebene Raum ist es, den
wir ausschließlich erleben. Würden wir uns jetzt wegwenden
und hernach gefragt werden, in welchem räumlichen Verhältnis
Schild und Mauer zueinander stehen, wir würden antworten:
Nun, das Schild wird wohl an die Mauer angeheftet sein. —
Wird aber unsere intensive Betrachtung durch irgendeinen
Anlaß, etwa durch die soeben angeführte Frage, unterbrochen.
dann verteilt sich sogleich die Aufmerksamkeit auf ein größeres
Feld, die Mauer wird mitbeachtet, und plötzlich kommt es
uns zum Bewußtsein, daß der mit der Mauer gegebene Raum
weiter ist als der durch das Schild begrenzte; wir erleben eine
Distanz, die zwischen beiden Gegenständen besteht und können
nun angeben, daß das Schild nicht an die Mauer angeheftet
ist, sondern in einer gewissen Entfernung vor ihr sich be-
findet. — In der gleichen Lage mögen auch die Beobachter in
den Marburger Experimenten gewesen sein. Der Instruktion
gemäß wurden die Bilder etwa in bezug auf ihre Deutlichkeit,
Intensität und Größe betrachtet, während das räumliche Ver-
hältnis von Bild und Hintergrund durchaus keine Beachtung
fand. So war es auch nur das mit dem Bild auftauchende
Raumschema, das erlebt wurde und das, weil man in ihm
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 359
gänzlich befangen war, eine Lokalisation der Eindrücke im
Verhältnis zum Schirm oder zu anderen Umweltgegebenäeiten
nicht veranlassen konnte. Es ist also sehr wohl verständlich,
wenn die Vpn. über die Stellung der Bilder zum Hintergrund
spontan nichts aussagen. — Erst als Gößer die Instruktion
erteilte, den Hintergrund und das Verhältnis des Bildes zu
ihm zu beachten und zu beschreiben, und erst, als er an 'die
jugendlichen Eidetiker die direkte Frage stellte: Scheint das
Bild sich vor, auf oder hinter dem Hintergrund zu befinden?
(4, 100 und 102), treten die Vpn. gewissermaßen aus ihrer
Versunkenheit heraus, das Aufmerksamkeitsfeld erweitert sich,
und es wird ihnen ein Tatbestand bewußt, an den sie bis jetzt
noch gar nicht gedacht haben: daß nämlich der Schirm in
einem anderen Raume liegt als in dem, der durch das Bild
begrenzt ist. »In zahlreichen Fällen zeigt sich die Tendenz
der Loslösung, namentlich des AB und VB vom Hintergrund«
(4, 104). Damit aber bestätigt sich unsere Annahme, daß das mit
den Bildern auftauchende Raumschema mit der faktischen Ent-
fernung des Schirmes sehr häufig nicht übereinstimmt.
Wenden wir uns den genaueren Versuchsergebnissen zu.
Ganz allgemein sagt Gößer vom VB (4, 106): »Das VB war
bald an einem näheren, bald entfernteren Ort des Wahr-
nehmungsraumes oder in einem Vorstellungsraum, der zum
Wahrnehmungsraum keine Beziehung hat, oder im Kopf lokali-
siert.« Verstehen wir hier den Ausdruck »im Vorstellungsraum«
in dem früher (S. 335£.) besprochenen Sinne einer radikalen
Verdrängung der Umweltgegebenheiten zugunsten eines Raum-
teiles, der jetzt gar nicht gesehen werden kann, so finden wir
mit den übrigen Wendungen unsere Ansicht über das Raum-
verhalten beim VB bestätigt. Denn auch der Ausdruck »im
Kopfe« darf kaum wörtlich und in der Bedeutung gefaßt
werden, als ob es sich um die Vorstellung des Raumes unter
der Schädeldecke handele. Der Eindruck, das Bild sei im
Kopf lokalisiert, wird offenbar nur vorgetäuscht durch das Be-
mühen, es weitmöglichst von den Umweltgegebenheiten zu iso-
lieren, wodurch die Vorstellung eines Raumes auftaucht, der
so eng ist und so nahe vor meinen Augen liegt, daß dort in
der Regel nie etwas gesehen werden kann. — Die Lokalisation
des VB an einem entfernteren Ort entspricht der früher be-
sprochenen Tatsache (S. 349), daß der Vorstellungsnahraum
durchaus nicht für alle Individuen einen Radius von höchstens
360 Franz Scola,
50 cm besitzen muß, weshalb auch VB, wie wir fanden, schon
in der Ausgangsstellung den ursprünglich eingeprägten Gegen-
stand an Größe übertreffen können. — Weitere Untersuchungen
über die Lokalisation von VB liegen nicht vor.
Jaensch untersucht die Lokalisation von AB in der Aus-
gangsstellung (7, 50£.) und findet, daß 41 von 50 Vpn. das
AB unmittelbar in der Ebene des Grundes sehen; 7 Vpn. er-
blicken es zwischen Auge und Hintergrund, während 2 Be-
obachter es hinter dem (dann durchsichtig erscheinenden)
Schirm lokalisieren. Nach dem Busseschen Ergebnis, nach
dem die AB durchweg schon in der Ausgangsstellung ver-
größert waren, müßten wohl mehr der letztgenannten Fälle
(Lokalisation hinter dem Schirm) erwartet werden. Aber das
Wissen von der Undurchsichtigkeit des Schirmes wird die meisten
Vpn., auch wenn die auftauchende Raumvorstellung einer
größeren Entfernung entsprach, daran gehindert haben, die dem-
gemäße Lokalisation der Bilder vorzunehmen. Durch den Hin-
weis auf das räumliche Verhältnis von Bild und Hintergrund
wird das sonst übliche Raumschema verdrängt worden sein und
das Raumerlebnis sich der objektiven Entfernung der Pro-
jektionsfläche angepaßt haben +).
Der Zusammenhang der Raumgebung und des Raumver-
haltens mit der Art der Bilder einerseits und mit der Ent-
fernung des Schirmes andererseits, den wir der Erklärung der
Größenänderung zugrunde legten, tritt nun ganz deutlich in den
von Gößer angestellten Loslösungsversuchen zutage (4, 106
—110), in denen der Schirm von 125 bis 275 cm vom Auge
des Beobachters weggerückt wurde. (Die Einprägung geschah
auch hier in 50 cm Entfernung.) Das VB wurde wegen der
1) Übrigens kann hier die Möglichkeit bestehen, die G. E. Müller für
die willkürliche Erzeugung oder Verdeutlichung von unbeachteten Vorstellungen
ansetzt. »Es ist allgemein gesprochen immer der Zweifel berechtigt, ob wir
die Beschaffenheit eines Vorstellungsbildes, das nur als unbeachtete Grund-
lage oder Mitgrundlage einer durch ihren Erfolg für uns wichtigen Repro-
duktionstendenz dient, dadurch wirklich näher aufklären können, daß wir uns
das Vorstellungsbild desselben Gegenstandes behufs näherer Charakterisierung
... willkürlich zu erzeugen oder zu verdeutlichen suchen. Im letzteren Falle
können sich mancherlei frühere Erfahrungen, Reflexionen, Suggestionen und
sonstige Nebeneinflüsse in fälschender Weise mit geltend machen, die nicht
wirksam sind, wenn das Vorstellungsbild in natürlicher Weise als Bestandteil
des betreffenden durch Willkür nicht beeinflußten Gesamtvorganges auftritt«
(G. E. Müller, Über das Aubertsche Phänomen, ZP. II, 49 S. 143 f.).
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 361
Unbestimmtheit seiner Lokalisation in diese Untersuchungen
nicht einbezogen. — Das Ergebnis entspricht durchaus unseren
Erwartungen: Das AB löst sich durchweg weiter vom Schirme
ab als das NB (4, 107f.), weil bei ihm, dank der AB-Ge-
samtverhaltungsweise, neben der objektiv gegebenen Schirm-
bewegung mannigfache andere Faktoren auf die Raumgebung
Einfluß gewinnen können, während beim NB viel mehr die
bloße Richtung auf den Schirm stattfindet und für das Auf-
tauchen eines besonderen Raumschemas nur wenig Anlaß be-
steht. — Da aber, wo die Tendenz vorhanden ist, den Eindruck
in einem Raum zu erleben, der mit der Entfernung der Pro-
jektionsfläche nicht übereinstimmt, wird sich diese Tendenz um
so mehr geltend machen und die Raumdifferenz um so be-
deutender. werden, je weiter der Schirm sich fortbewegt, wie
es denn faktisch im Gößerschen Versuch sich zeigt: Die
Loslösung der Bilder wächst im allgemeinen mit steigender
Entfernung (ebenda).
Der Loslösungsversuch wurde noch durch Einführung eines
Störungsreizes (Pfiff) modifiziert und bietet dadurch die Mög-
lichkeit, den Zusammenhang von Raumgebung und Größen-
änderung unmittelbar zu beobachten. Schon Busse hatte fest-
gestellt (1, 42), daß bei Störungsreiz eine Größenänderung der
Bilder eintritt. In dem Gößerschen Versuch geht nun bei
3 von 6 Vpn. mit dieser Größenänderung eine Änderung der
Lokalisation parallel, d.h. die Bilder rücken näher an den
Beobachter heran. Freilich könnte eine solche Parallelität der
beiden Erscheinungsreihen auf Zufall beruhen. Wir glauben
es jedoch wahrscheinlich gemacht zu haben, daß zwischen ihnen
ein realer Zusammenhang besteht, indem sowohl die Größen-
änderung als auch die Lokalisation von dem gleichen Faktor,
nämlich dem jeweiligen Raumverhalten, abhängig ist.
Wie der Einfluß des Störungsreizes auf Größenänderung
und Lokalisation gemäß der hier vertretenen Anschauung kon-
kret zu denken ist, wird im nachfolgenden Kapitel dargelegt.
Wir übergehen die von Gößer durchgeführten weiteren
Variationen des Loslösungsversuches, da sie im wesentlichen
dasselbe Ergebnis zeitigten.
Der Einflußvon Störungsreizen.
Verschiedentlich führen die Marburger während der Be-
trachtung der Bilder Störungsreize ein und lassen die dadurch
362 Franz Scola,
hervorgerufenen Veränderungen an den Bildern beobachten. Als
Störungsreize dienten: die Aufhellung des Grundes (1, 39), ein
Pfiff (1, 40; 4, 108), das leise Rezitieren eines Gedichtes
(1, 41) und die Ersetzung des homogenen durch einen inhomo-
genen Grund (2, 82f.; 4, 112); dadurch werden die GB in
bezug auf ihre Größe, Gestalt und Lokalisation in der durch
das VB-Verhalten im allgemeinen angedeuteten Richtung be-
einflußt. So wächst die Loslösung des AB und NB vom Hinter-
grund, und die Bilder werden kleiner bzw. größer, je nachdem
sich der Schirm in bezug auf die Ausgangsstellung in größerer
oder geringerer Entfernung befindet. Die Marburger geben
diesem Tatbestande folgenden Ausdruck: Wird während der
Beobachtung eines GB ein Störungsreiz auf die Beobachter aus-
geübt, so hat das GB die Tendenz, auf eine höhere Ge-
dächtnisstufe zu steigen (1, 43).
Wir übergehen die Schwierigkeiten, die dieser Auffassung
aus den Tatsachen heraus erwachsen, und die Koffka
eingehend bespricht (33, 154ff.). Sie lösen sich sogleich,
wenn wir bedenken, daß einerseits der Unterschied der Bilder
im wesentlichen ein Unterschied in dem subjektiven Verhalten
ist, und daß andererseits die in den Versuchen verursachte
Störung gerade dieses subjektive Verhalten beeinflussen mußte.
So werden beispielsweise die AB zumeist in einen Raum hin-
eingezogen, der enger ist als der durch den Schirm begrenzte.
Infolgedessen muß die Instruktion, die Eindrücke auf den
Schirm zu projizieren, gewissermaßen als Zwang empfunden
werden. Man bemüht sich, der Aufforderung wenigstens äußer-
lich durch das Hinschauen auf die Projektionsfläche nachzu-
kommen, wodurch die Bilder bis zu einem gewissen Grade
durch die Schirmstellung beeinflußt werden. Aber diese Lage
ist ungewohnt und unbequem; man fühlt sich nicht sicher; und
wenn nun der Störungsreiz erfolgt, so fällt man von selbst
und unwillkürlich in das leichtere und gewohnte Verhalten
zurück, d.h. man zieht die Bilder in den Raum hinein, in
dem sie, unbeeinflußt durch die Schirmstellung, im allgemeinen
erlebt werden!). Der Effekt dieser Tendenz besteht in einer
1) Köhler berichtet von einem Umwegversuch mit Chica, in dem diese
zuerst das zielgerechte, aber ungewohnte und schwierige Verhalten einschlägt,
plötzlich jedoch, durch ein Geräusch erschreckt, in das gewohnte, leichtere
Verhalten zurückfällt und infolgedessen die Lösung der Aufgabe verfehlt (W.
Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, 1921, S. 185).
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 363
Verkleinerung oder Vergrößerung der Eindrücke, je nachdem
der Schirmraum weiter oder enger ist als das mit der Er-
zeugung der Bilder gewohnheitsmäßig auftretende Raumschema,
was mit den Beobachtungen der Marburger übereinstimmt.
Die Größe des Sehbezirkes bei den einzelnen
Bildern.
Indem wir mit der jeweils verschiedenen Gesamtverhaltungs-
weise ein verschiedenes Raumerlebnis verbunden denken, finden
wir gleichzeitig die Möglichkeit einer Erklärung der Ergeb-
nisse, die sich in den Versuchen über die Weite des Seh-
bezirkes herausgestellt haben. Die von Busse (1, 24f.) ver-
wandte Versuchsanordnung war folgende: Von einem mit einem
Wort (Donaueschingen) beschriebenen Papierstreifen wird ein
VB, AB oder NB erzeugt; während der Betrachtung des Bildes
durch die Vp. schiebt der Vl. einen mit Marke und Skala ver-
sehenen Schieber von der oberen Peripherie her gegen die Mitte
des Bildes vor. Die Vp. hat anzugeben, wann sie die Marke
zuerst erblickt. Das Ergebnis ist: Im allgemeinen wird beim
VB ein größerer Umkreis des Feldes überschaut als beim AB
und bei diesem ein größerer als beim NB. Dabei sind die in-
dividuellen Unterschiede sehr bedeutend, und bei 3 von 9 Vpn.
ist der Gesichtsfeldumfang für alle Bilder gleich.
Einen ähnlichen Versuch stellt Krellenberg an, der
allerdings nur den Sehbezirk bei der Wahrnehmung und beim
AB vergleicht. Dennoch sind seine Überlegungen und Ergeb-
nisse hier heranzuziehen, weil sie für die Erklärung der Er-
scheinungen berücksichtigt werden müssen. — Krellenberg
geht von der Frage aus, ob und wie weit sich der »eidetische
Zustand«, d. i. der Zustand bei Betrachtung eines AB, von dem
gewöhnlichen Zustand bei der Wahrnehmung unterscheidet.
Diese Frage soll entschieden werden durch Prüfung der
Schwellen im eidetischen und gewöhnlichen Sehen. »Die Be-
stimmung der Schwelle erfolgt auf optischem Gebiet durch
Bestimmung der Gesichtsfeldgrenze« (5, 74). Da, wo das Ge-
sichtsfeld im eidetischen Sehen kleiner ist als bei unge-
zwungenem Verhalten in der Wahrnehmung, wird geschlossen,
»daß sich bei diesen Vpn. der eidetische Zustand von dem un-
gezwungenen Verhalten abhebt, ihm gegenüber etwas beson-
deres darstellt, also nicht mehr das ganz normale Verhalten
364 Franz Scola,
bildet« (5, 77). Das Ergebnis der Krellenbergschen Unter-
suchung ist folgendes: 7 von 15 Vpn. zeigen keinen oder doch
keinen wesentlichen Unterschied in der Weite des Sehbezirkes,
während bei den übrigen Vpn. ein solcher Unterschied in mehr
oder weniger hohem Grade besteht, indem der Gesichtsfeld-
umkreis in der Wahrnehmung größer ist als bei Betrachtung
des AB.
Gehen wir, den theoretischen Zweck unserer Arbeit ver-
folgend, zuerst auf die Überlegungen Krellenbergs ein.
Indem er für seine Untersuchungen den Begriff der Schwelle
heranzieht, weist er auf eine mögliche Erklärung des Phä-
nomens der Gesichtsfelderweiterung oder -verengung hin, die
sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist. Wir können
sagen: Je schwieriger einem Beobachter die Erzeugung eines
Bildes ist, um so mehr muß er sich konzentrieren und um so
mehr Energie muß auf das Bild verwandt werden. Diese
Energie wird dem Umfeld entzogen, so daß dort auftretende
Reize keine Empfindung auszulösen imstande sind. Ohne
Zweifel werden dadurch zum großen Teil die individuellen
Schwankungen sowohl bei Krellenberg als auch bei Busse
zu erklären sein, daß z.B. eine Vp. die Marke schon 63 cm,
eine andere erst 1 cm weit vom Fixationspunkte des NB sieht
(1, 26). Auch der von Koffka (33, 129) geäußerte Ge-
danke, der enge Sehbezirk beim NB sei eine Folge des durch
die vorherige Fixation des Objektes veranlaßten »Anstarrens«,
weist in diese Erklärungsrichtung. Ebenso wird manchem Be-
obachter die Erzeugung einer bloßen Vorstellung leichter sein
als die eines AB, das oft nur nach längerer, eingehenderer Be-
trachtung der Vorlage entsteht, in die man sich vertiefen,
mit der man sich innerlich beschäftigen muß. Das erfordert
eine stärkere Konzentration und führt dadurch zu einer Ver-
engung des Gesichtsfeldumkreises beim AB, wie sie, unseren
Anschauungen gemäß, gerade bei erwachsenen Eidetikern in
bedeutendem Maße beobachtet wurde (5, 89ff.).
Aber diese Erklärung kann nicht für alle Fälle als aus-
reichend gelten. Denn es gibt, wenigstens unter den Jugend-
lichen, nicht wenige, die ihre AB mit der gleichen Leichtig-
keit sehen, mit der sie ein Wahrnehmungsobjekt betrachten.
Das beweist die Krellenbergsche Untersuchung mit dem
Ergebnis, daß bei stark ausgeprägten Eidetikern Gesichtsfeld-
umfang und Tastunterschiedsschwelle im eidetischen Zustand
Über das Verhältnis von Vorstellangs-, Anschauungs- und Nachbild. 365
und in der Wahrnehmung gleich oder doch wenig verschieden
sind (5, 76). Es ist aber kaum anzunehmen, daß die Be-
trachtung eines so mühelos und schlicht gesehenen AB mehr
Konzentration verlangt als die Erzeugung eines VB. Da nun
auch Busse stark ausgeprägte Eidetiker verwendet (1, 12),
so muß zur Erklärung der von ihr festgestellten regelmäßig
gradweisen Verschiedenheit des Gesichtsfeldumfanges bei den
einzelnen Bilderarten ein anderer Faktor herangezogen werden.
— Wir glauben, daß dieser Faktor in der Raumgebung zu
suchen sei, die wir auch für die Größenänderung der Ein-
drücke und für ihre Lokalisation verantwortlich machten. Be-
trachten wir die Verhältnisse in der Wahrnehmung. Ange-
nommen, wir befinden uns im Zimmer. Der Zimmerraum mit
allen seinen Einzelheiten ist uns durchaus bekannt. Wir sind
mit den verschiedenen Gegenständen vertraut, wir kennen
ihren Standort und ihre räumlichen Verhältnisse zueinander
und zu unserem gegenwärtigen Platze. Wir wissen im all-
gemeinen, welche Veränderungen im Zimmer vor sich gehen
können, und diese Veränderungen interessieren uns, da sie nicht
nur dem Raume, sondern auch der Bedeutung nach uns nahe
sind, und sie sind uns um so näher und bedeutungsvoller, je
enger sich der Raumkreis um uns schließt. Alles das führt
dazu, daß unser ganzer Organismus im Nahraum ungleich mehr
auf die Breite eingestellt ist als im Fernraum; denn werfen
wir den Blick zum Fenster hinaus, dann ist es nicht der ganze,
möglicherweise wahrnehmbare Umkreis von Gegenständen, son-
dern es ist nur ein schmaler Ausschnitt aus der vor uns
liegenden Welt, häufig nur ein einziges Objekt, das wir ins
Auge fassen. Bedenken wir, wie klein dieses Objekt ist im
Verhältnis zur Weite des Horizontes, während im Nahraum
schon dieses vor mir liegende Blatt Papier einen nicht unbe-
deutenden Teil des Sehraumes darstellt. Auch bin ich in der
Ferne nicht so bewandert, um Dinge und Geschehnisse, die
seitwärts vom Interessenpunkt gelegen sind, schnell erfassen zu
können, was sich schließlich dadurch erübrigt, daß die Welt,
je weiter sie sich entfernt, an unmittelbarer Bedeutung für mich
und meinen Organismus verliert. Nicht unwesentlich scheint
für diese Tatsache auch die Verengung der Wahrnehmungsmög-
lichkeit mit zunehmender Entfernung in den anderen Sinnes-
gebieten (Gehör, Getast). So können wir sagen: Je näher
der Raum ist, den ich erlebe, um so mehr geht er relativ in
366 Franz Scola,
die Breite; je entfernter er ist, um so enger wird relativ der
Bezirk, der mir bei ruhendem Blick vom Sehraum gegeben ist.
Man könnte von einem Keil sprechen, den das Sehorgan in die
Welt hineintreibt und dessen Basis in der Fläche liegt, in der
ich mich befinde. Wir sind also, um es nochmals zu betonen.
der Auffassung, daß die mit steigender Entfernung zunehmende
Verengung des gleichzeitig gegebenen Sehbezirkes nicht aus
irgendwelchen physiologischen Tatbeständen (Akkommodation)
erklärt werden muß, sondern die Folge eines subjektiven Raum-
verhaltens ist, das sich im Laufe der Entwicklung als das
eben notwendige, zweckmäßige, als das bequemste und der
Gesamtsituation angemessenste herausgestellt hat (vergleiche
hierzu die nachfolgenden Ausführungen über das Aubert-
Förstersche Phänomen).
Es ist nicht anders zu erwarten, als daß dieses Raum-
verhalten wechselt mit dem Raumerlebnis, d.h. mit dem im
Bewußtsein auftauchenden Raumschema; daß also neben solchen
Eindrücken, die im Nahraum erlebt werden, ein relativ größerer
Bezirk überschaut wird als neben denen, die eine weitere Raum-
vorstellung auftauchen lassen. Und da die Raumvorstellung
wiederum in typischer Weise abhängig ist von dem Gesamt-
verhalten des bloßen Vorstellens und des Sehens von AB oder
NB, so kann daraus eine entsprechende typische Verschieden-
heit des gleichzeitig überschauten Sehbezirkes beim VB, AB
und NB erschlossen werden: Weil unter den obwaltenden Be-
dingungen das VB zumeist näher erlebt wurde als das AB
und dieses näher als das auf dem Schirm liegende NB, so
mußte der gleichzeitig überschaute Sehbezirk beim VB größer
sein als beim AB und bei letzterem größer als beim NB,
was mit dem Busseschen Ergebnis übereinstimmt.
Unsere Auffassung, es bestehe zwischen Größenänderung und Gesichts-
feldumfang ein Zusammenhang in dem Sinne, daß beide Erscheinungen gleicher-
weise durch den Faktor der Raumgebung bedingt werden, scheint sich in
den Versuchen zu bestätigen, die von Jaensch und Schönheinz mit den
Rollettschen Platten ausgeführt wurden (32). Dabei ging nämlich der durch
die Rollettschen Platten hervorgerufenen scheinbaren Verkleinerung (Mi-
kropsie) von Objekten eine Gesichtsfelderweiterung parallel, wie sie im
Aubert-Försterschen Versuch beobachtet wird. Die Parallelität beider
Erscheinungen zeigte sich vor allem darin, daß sie durch die gleichen Be-
dingungen, nämlich durch die mehr oder weniger große Kompliziertheit der
Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 367
Objekte vermindert bezw. verstärkt wurden. Eine kausale Abhängigkeit des
Gesichtsfeldumfanges von der Mikropsie oder umgekehrt konnte in eigens an-
gestellten Versuchen nicht konstatiert werden, denn es gab keinen noch so
geringen Grad von Verkleinerung bezw. Gesichtsfelderweiterung, der nicht
durch die Parallelerscheinung begleitet worden wäre (32, 49ff.). Dieses
Resultat legt den Gedanken an einen dritten Vorgang nahe, der sowohl die
Größenänderung als auch die Gesichtsfelderweiterung gleicherweise verur-
sacht. Ein solcher Faktor dürfte in dem jeweils verschiedenen Raumerlebnis
zu suchen sein, das ja, wie wir als wahrscheinlich dartun konnten, auch bei
den subjektiv erzeugten Bildern sowohl die Größe als auch die Weite des
Gesichtsfeldes beeinflußt. Darnach wäre die ganze Erscheinungsgruppe folgen-
dermaßen zu erklären: Die tatsächliche Entfernungsänderung im Aubert-
Försterschen Versuch und die Akkommodationsänderung bei Benutzung der
Rollettschen Platten verursachen eine Umstellung (Verengung oder
Erweiterung) des Raumverhaltens, die in der oben beschriebenen Weise
eine Größenänderung (Mikropsie oder Makropsie) und gleichzeitig eine Ge-
sichtsfelderweiterung bezw. -verengung nach sich zieht.
Für diese Erklärung besteht jedoch eine Schwierigkeit. Wenn nämlich
die Mikropsie und die Gesichtsfelderweiterung gemäß dem früher Ausgeführten
durch eine Verengung des Raumschemas bedingt sein soll, dann muß eine
etwa bemerkte Entfernungsänderung in einer Annäherung der Objekte be-
stehen!). Nun aber hören wir von Jaensch und Schönheinz: »Bald er-
scheint ein Gegenstand näher, bald ferner, und zwar unter ganz gleichen
Versuchsbedingungen. Sogar ein und dieselbe Vp. hat manchmal verschiedene
Eindrücke« (32,13).
Dennoch möchten wir selbst dieser Beobachtung gegenüber unsere Deutung
der Erscheinungen nicht ohne weiteres aufgeben. Denn wir müssen bedenken,
daß wir es bei dem die Größe beeinflussenden Raumschema mit einer Vor-
stellung zu tun haben, die unbewußt oder besser unbeachtet ihre Wirksam-
keit ausübt, und es besteht, wie G. E. Müller meint?), der berechtigte
Zweifel, ob wir die Beschaffenheit einer solchen Vorstellung dadurch wirklich
aufklären, daß wir sie willkürlich zu vergegenwärtigen und zu verdeutlichen
suchen. In solchen Fällen »können sich mancherlei frühere Erfahrungen, Re-
flexionen, Suggestionen und sonstige Nebeneinflüsse in fälschender Weise
mit geltend machen, die nicht wirksam sind, wenn das Vorstellungsbild in
natürlicher Weise als Bestandteil des betreffenden, durch Willkür nicht be-
einflußten Gesamtvorganges auftritt« (a. a. O. S. 144). Es liegt nahe, diesen
Gedanken auf die oben erwähnte Unsicherheit und Verkehrtheit der Lokali-
sation der Objekte anzuwenden, zumal wenn wir berücksichtigen, daß in den
von Jaensch und Schönheinz angestellten Versuchen irgendwelche An-
haltspunkte für die Lokalisation der Objekte nicht gegeben waren.
1) Daß die Entfernungsänderung erst nach dem ausdrücklichen Hinweis
auf sie bemerkt wurde, deckt sich mit unserer Auffassung, nach der die Raum-
gebung nicht in allen Fällen eine bestimmte Lokalisation zur Folge hat
S. 357 ff.). >
2) G. E. Müller, Über das Aubertsche Phänomen, ZP. II, 49 S. 143f.;
siehe auch die Fußnote auf S. 360 der vorliegenden Arbeit.
368 Fr. Scola, Über d. Verhältnis v. Vorstellungs-, Anschauungs- u. Nachbild.
Schluß.
Mit dem Vorliegenden dürften die bedeutsamsten Unter-
schiede zwischen VB, AB und NB besprochen sein und wir
kommen zum Schluß.
Gößer hat seine Ergebnisse sämtlich unter dem Begriff
der Kohärenz zusammengefaßt. Er formuliert das Gesetz: Der
Kohärenzgrad zwischen dem GB und den gleichzeitig ge-
gebenen Wahrnehmungsdaten nimmt mit steigender Gedächtnis-
stufe ab (4, 125f.). An anderen Stellen erfahren wir, daß nicht
nur die von Gößer gefundenen Tatsachen, sondern auch die
Größen -und Lageänderung der Bilder auf dieses Kohärenz-
gesetz zurückzuführen seien (5, 60; 29, 77), ohne daß aller-
dings eine genauere Bestimmung dieses Verhältnisses gegeben
würde.
Nun kann der Begriff der Kohärenz in gewissem Sinne
auch auf die von uns vertretenen Anschauungen über das Ver-
hältnis der drei Bilderarten angewandt werden. Aber wir
möchten es nicht unterlassen, auf die sehr bedeutende Ver-
schiedenartigkeit der beiderseitigen Auffassungen hinzuweisen.
Nach dem, was wir in den Schriften der Marburger diesbezüg-
lich angedeutet finden, soll es sich bei der Kohärenz offenbar
um eine Eigenschaft der Bilder selbst handeln, die mit ihrem
Wesen als anschaulicher Inhalte und mit ihrem funktionalen
Charakter irgendwie verbunden ist. — Demgegenüber ver-
suchten wir in der vorliegenden Arbeit darzutun, daß zwischen
den einzelnen Bildinhalten, dem anschaulichen Kern der Er-
lebnisse, kein wesentlicher Unterschied besteht, daß vielmehr
die von den Marburgern festgestellten Verschiedenheiten im
Verhalten der Bilder durch die Andersartigkeit der vom Subjekt
eingeschlagenen Verhaltungsweise herbeigeführt wird. Dadurch
gewannen wir die Möglichkeit, sowohl die zwischen den Bildern
bestehenden typischen Unterschiede als auch die Übergangs-
formen und die von der Eigenart des Individuums und von zu-
fälligen Faktoren abhängigen Schwankungen im Verhalten der
Erscheinungen verständlich zu machen, ohne daß wir genötigt
waren, neue Funktionen anzusetzen (1, 64; 26, 29 ff.), oder auf
die verschiedene psychophysische Bedingtheit der Inhalte zu-
rückzugreifen (29, 103£.).
(Eingegangen am 15. März 1925.)
(Aus dem Psychologischen Institut Wien.)
Über
symbolische Schemata im produktiven Denkprozess.
Von
Auguste Flach (Wien).
(Mit 13 Figuren im Text.)
Inhaltsverzeichnis.
1. Kinleitung. 4.5 2: dies ae "589
1. Die Entdeckung symbolischer Schemata durch Selbstbeobach-
ing ee ar Rz 869
2. Hinweise auf symbolische Schemata in der Literatur . . . . 874
U. Die Versuche =: 2. 2-4 a 2 We ee a 378
IIL Die Eigenart des symbolischen Schemas . . . . 2.2 2 2 2 2.0. 892
1. Der bloße Symbolcharakter. . . - . 2 2 2 2 2 2 2 2 22. 392
2. Der produktive Charakter . . . 2 2 2 2 2220200. 895
3. Der räumliche Charakter . e.. 2 2 2 2 a nen. 896
4. Der motorische Charakter . . 2 2 2200 0 een. .. 400
IV. Die aufbauenden Faktoren des symbolischen Schemas . . ... . 404
1. Der objektive Faktor: der abstrakte Gedankengehalt.. . . . 404
2. Der subjektive Faktor: die individuelle Vorbereitung. . . . 407
V. Die Abgrenzung des symbolischen Schemas gegen verwandte
Phänomene....... 412
1. Die Denkillustrierungg..... 412
2. Die »Diagramme« . ...... ee ae A ee re et 420
‚8. Die »autosymbolischen Phänomene«. .. 22.202... 429
VI. Das Entstehen des symbolischen Schemas aus dem »Sphärenbewußt-
BEINE: 2 5. Anett re ee ne ae I era ne 431
I. Einleitung.
1. Die Entdeckung symbolischer Schemata durch Selbst-
beobachtung.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit denjenigen Denk-
erlebnissen, in welchen ein abstrakter Gedankengehalt an sinn-
lichen Anschauungen erfaßt wird und durch diese eine sym-
bolische Darstellung erfährt.
Archiv für Psychologie. LII. 24
370 Auguste Flach,
Es ist mir aufgefallen, daß so und so oft, wenn ich mir
ein Problem klarmachen wollte, ja selbst beim Verstehen von
Sätzen, welche eine gewisse Anforderung an das Denken stellten,
Vorstellungen auftauchten, mehr oder minder lebhafte, aber
immer Vorstellungen, welche die Lösung des Problems, das
Verständnis des Satzes mit sich brachten. Es war mir dann
immer ein leichtes, an diesen Bildern das Resultat abzulesen.
Ich hatte nurmehr die Formulierung zu besorgen, das Resultat
als solches stand schon fertig vor mir, ich konnte es an dem
Bild ablesen. Es zeigte sich, daß diese Vorstellungen nur dann
auftraten, wenn ich mir eine Bedeutung, oder den Sinn eines
Satzes erst erarbeiten mußte. Niemals aber sind sie dann ent-
standen, wenn ich ber der Lösung einer Aufgabe bloß an mein
Gedächtnis zu appellieren brauchte. Dies ist ein Umstand, der
sich auch im Verlauf der Untersuchung bei den Erlebnissen
meiner Versuchspersonen immer wieder gezeigt hat.
Die Bilder selbst hatten den Charakter von Schemata.
Denken wir an das Schema, welches der Baumeister von seinem
Bauwerk entwirft. Es enthält die Grundzüge, alles was für
das Verständnis von Aufbau und Gliederung notwendig ist,
alles das, aber auch nur das. Und so waren diese Bilder trotz
ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit merkwürdig abstrakt. Von
außen gesehen hatten sie, wenn ich sie zeichnerisch festhielt
für jemand, der den abstrakten Sinn nicht kannte, für welchen
sie standen, etwas eigenartig Lückenhaftes, das so- weit gehen
konnte, daß der unbefangene Beschauer diesen ihren Sinn über-
haupt nicht hätte finden können und fragen mußte: »Was ist
das? Warum steht das da? Was soll das bedeuten’%« Diese
Frage drängt sich dem unbefangenen Beschauer auf und weist
in ihrer Naivität gerade auf dasjenige Moment hin, das diese
Erscheinungen vor allem charakterisiert. Sie sind nichts, aber
sie sollen etwas bedeuten, sie haben keine Eigenbedeutung,
sondern nur eine Symbolfunktion. Um zu verstehen, was hier
gemeint ist, genügt es, daß man beim Durchblättern der Pro-
tokolle die Zeichnungen allein ansieht, ohne den Text und die
von der Vp. gegebene Deutung hinzunehmen; doch werden wir
noch an anderer Stelle auf dieses Moment, welches die Schemata
in charakteristischer Weise von den Bildern der Denkillustrierung
unterscheidet, näher eingehen.
Ich will nun daran gehen, einige eigene, gelegentlich auf-
getretene symbolische Schemata als Beispiele hier anzuführen:
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 371
Nr.1. Ich will mir das Wesen der »Bedeutung« im
Husserlschen Sinn klarmachen: Da erscheint folgendes Bild,
welches ich gleich festhalte:
»Eine rhomboidale, perspektivische Fläche auf dunstigem
Hintergrund. Die Kontur der Fläche ist durch Linien ge-
geben. Die Linien sind schwarz. Sofort folgender Gedanke,
den ich gleichsam am Bild ablese: Die mir zugekehrte Fläche
eines Körpers sehen; mit dem Perspektivischen an der Fläche
ist das Wissen verbunden, daß sie einem Körper angehört,
der noch viele andere Flächen hat, die ich aber nicht sehen
kann. Die Bedeutung ist durch die Fläche symbolisiert. Der
durch die verschiedenen Flächen gebildete Körper ist der Gegen-
stand. Ich kann jeweils nur die mir zugekehrte Fläche des
Körpers, nur eine Bedeutung des Gegenstandes erfassen. Das
Bild war zuerst gegeben, dann der Gedanke.
An Nr.1 sehen wir deutlich, wie das Bild seinen Sinn und
Wert nur durch den Gedanken »Bedeutung« erhält, für den es
steht, wie aber andererseits dieses Bild bis ins Detail seiner
Struktur durch diesen Gedanken bestimmt und von ihm erfüllt
ist. Die Beziehung zwischen Fläche und Körper steht für die
abstrakte Beziehung von Bedeutung und Gegenstand. Das
Perspektivische der Fläche deutet an, daß es sich hier um eine
Fläche an einem Körper, eine Bedeutung, einen Aspekt des
Gegenstandes handelt, und daß es an diesem Körper noch
viele Flächen gibt, die ich nur nicht zugleich erfassen kann.
Gleichzeitig kann ich nur eine Fläche des Körpers, nur eine
der vielen möglichen Bedeutungen des Gegenstandes erfassen.
»Das Bild war zuerst gegeben, dann der Gedanke, den ich
gleichsam am Bild ablese.« Ein Hinweis darauf, daß an dem
Bilde gedacht worden war.
Nr.2. Ich lese eine Sentenz aus Wildes Aphorismen:
»Von alten Freunden zu scheiden erträgt man mit Gleichmut;
aber sehr schmerzhaft empfindet man den Abschied von solchen,
denen man eben erst vorgestellt wurde.«
Im Suchen nach dem Sinn taucht ein Schema auf: Eine
strahlenartig durchleuchtete Gestaltung des Raumes, selbst nur
Raum, aber durch eine mehr ins Graue gehende Tönung von
dem übrigen Raum verschieden; strahlenartig ist dieses Etwas,
das perspektivisch von mir weg, in horizontaler Richtung ver-
läuft. Dazu fallen mir die Worte ein, die ich auch ausspreche:
»Weg, Perspektive, Möglichkeiten«. Der perspektivische Ver-
24*
372 Auguste Flach,
lauf in die Tiefe, der perspektivische Blick, steht hier für un-
bekannte Möglichkeiten, welche das flüchtige Vorgestelltwerden
noch offengelassen hat. An diesem perspektivischen Etwas habe
ich den Sinn erfaßt, habe ich gedacht. Auch hier wird an dem
Bilde gedacht, der Sinn geht dem Erlebenden erst durch das Bild
auf. Schön ist die räumliche Darstellung der unbekannten Mög-
lichkeiten mit dem perspektivischen Verlauf und dem weiten
Blick nach der Tiefe gegeben. Das Bild selbst enthält kein über-
flüssiges Detail, das auf einen Eigenwert desselben hinzielen
würde; jedes Detail, das sich herausheben läßt, ist von dem
Gedankengehalt her bestimmt.
Nr.3. Der Begriff des Individuums in biologischer Hin-
sicht ist für mich immer in Form eines Schemas gegeben,
welches seinerzeit, als ich mir die Bedeutung klarmachte, ge-
bildet wurde, und welches seither immer auftaucht, so oft ich
den Begriff denke. Es sind unendlich viele gerade Linien, die
sich alle in einem Punkte schneiden. In diesem Schnittpunkt
liegt das Individudlle, es entsteht quasi dadurch, daß sich
alle diese Linien in einem Punkte schneiden. Das Bild soll
besagen: das Individuum ist der Schnittpunkt unendlich vieler
Gesetzmäßigkeiten. Die Linien sind leuchtend, ich habe sie
wie einen Stern, der auf horizontaler Unterlage vor mir liegt
auf dunklem Grund.
Nr.4. Das folgende Schema ist gelegentlich entstanden,
als ich aus Italien zurückkommend mich bemühte, einem
Freunde die Eigenart der Stadt Genua klarzumachen.
Ich sah plötzlich bei dem Gedanken an Genua zwei un-
geheuer mächtige Brückenpfeiler. Darüber ein leichter Brücken-
bogen, lächerlich fragil im Vergleich zu den beiden massigen
Pfeilern. Er ist nur wie ein flüchtiger leichter Überbau, der
nicht organisch mit den Pfeilern verbunden ist, über denen er
sich wölbt. Dieser fragile Bogen dient dazu, daß darauf un-
zählige Menschen, wie kleine schwarze Schattenrisse, von einem
Pfeiler zum anderen, hin- und herlaufen, wie um die Verbindung
zu besorgen. Das ist Genua; aber nicht eine Ansicht von Genua,
sondern das, was Genuas Besonderheit, sein Wesen für mich
ausmacht. Diese beiden aus Quadern aufgebauten Brücken-
pfeiler sind der Adel und das Volk. Das Volk, das dort am
Hafen in der Altstadt lebt. Das sind keine Proletarier, das
ist eine Kaste, die vielleicht ebenso alt ist wie dieser Adel, die
auch ihre Tradition, ihre Ahnen hat, die sie durch viele Gene-
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 373
ratıonen aufzeigen kann, stolz, stark mit dem Boden ver-
wachsen. Zwischen diesen beiden Kasten gibt es keinen Aus-
gleich, sie sind gleich stark, gleich mächtig und unbedingt von-
einander getrennt. Das, was über den fragilen Überbau, über
den Bogen hin- und herläuft, das sind die Clerks, die Beamten;
sie sind nicht bodenständig, sind nur die Mittelspersonen, die
die Verbindung besorgen.
Nr.5. Ich spreche über Georg Simmels Metaphysik
und habe folgendes Bild: Ein festes Netz von dicht hin- und
herlaufenden Schnüren, die einander gegenseitig stützen und
festigen. Dann ist es so, als würde das Netz von rechts und
links gleichzeitig gezogen, als wie um seine Festigkeit zu er-
proben. Das Netz vibriert bloß leise, das Geflecht hat sich
bewährt. Dieses Hin und Her von Schnüren, die einander
gegenseitig halten, ist das Sinnbild der Relativität, die mir
für das Weltbild Simmels vor allem charakteristisch er-
scheint. Die Kreuzungsstellen der Schnüre symbolisieren die
relativen Werte, welche das System dieser Weltanschauung auf-
bauen. Das fertige Netz aus dieser Relativität gewoben ist
das Absolute. Für Simmel ist die Relativität selbst zum
Absoluten geworden. Wichtig erscheint mir vor allem, daß
diese Relativität das Weltbild aufbaut, daß sie kein destruk-
tives Prinzip ist, daher das feste Netz.
Auch Nr.5 ist so recht ein Beispiel dafür, daß das Bild,
das wir im symbolischen Schema anschaulich vor uns haben,
keinen Eigenwert besitzt. Hier sehen wir kein Netz als solches
vor uns, sondern die Relativität alles Seienden dargestellt in
der Netzstruktur. So wie in diesem Weltbild Sein und Nicht-
sein a und non a einander gegenseitig bedingen, so sehen wir
im Bilde die Schnüre, die von entgegengesetzter Richtung
kommend einander gegenseitig stützen. Aus dieser gegen-
seitigen Bedingtheit aber ist das Absolute selbst aufgebaut als
festes Gebilde.
Das produktive Denken ist es, das in jedem dieser symbo-
lischen Schemata zum Ausdruck kommt. Auch wenn wir in
den Biographien großer Männer Nachschau halten, um zu sehen,
wie diese eigentlich zur Konzeption, ihrer Theorien gekommen
sind, werden wir vielfach auf solche Schemata stoßen, auf
Grund deren eine Idee erfaßt wurde und mit deren Hilfe Dichter,
Philosophen und Künstler ihre Gedanken dargestellt haben.
374 Auguste Flach,
2. Hinweise auf symbolische Schemata in der Literatur.
Ich erinnere an die originelle Art und Weise, in welcher
Stöhr seine Theorie von der Begriffsbildung anschaulich ge-
macht hat. Stöhr!) hat den Begriff einfachsten Baues durch
einen Kegel dargestellt:
Fig. 1.
Die Spitze des Kegels steht für den Begriffsbildner. Unter
dem Begriffsbildner versteht Stöhr die identische Reaktion,
welche das Begriffene zusammenhält. Die Punkte symbolisieren
die einzelnen Exemplare, welche in das Begriffsfeld (den Um-
fang) hineingehören.
»Soweit dieser Begriffsbildner eine Vorstellung ist, wird
er ebenfalls durch einen Punkt zu geben sein, weil er kein
Exemplar ist, weil er nicht in das Begriffsfeld hineingehört,
so muß er außerhalb des Kreises gesetzt werden.« »Der beste
Platz für den Begriffsbildner wird also, ein Punkt oberhalb
des Kreises sein. Dieser Punkt kann als eine Kegelspitze ge-
nommen . werden und das Begriffsfeld als die Grundfläche des
Kegels. Von der Kegelspitze geht zu jedem Punkte in der
Grundfläche eine gerade Linie, die die aktive Reproduktions-
fähigkeit ausdrückt. Um anzudeuten, daß diese Fähigkeit der
Spitze zukomme, von dort ausgehe und auf die Exemplare, also »
auf die Punkte in der Grundfläche gerichtet sei, kann man
Pfeile anbringen, die von der Spitze zur Grundfläche weisend
die Reproduktionsrichtung anzeigen.«
Dieses Schema ist deshalb so interessant, weil es von der
üblichen Auffassung der Logik abweicht und ganz deutlich
den Charakter des symbolischen Schemas zeigt. Man sieht,
daß es aus dem aktuellen -Denken hervorgegangen ist und die
Spuren der Denkarbeit an sich trägt. Daß Stöhr das Phä-
1) Adolf Stöhr, Lehrbuch der Logik 1910 S.15.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprezeß. 375
nomen, welches wir ein symbolisches Schema nennen, aus dem
Erleben gut gekannt hat, geht daraus hervor, daß er sich in
der Logik immer wieder mit diesem Problem der Schematisie-
rung eines Begriffes auseinandergesetzt, hat.
Von da aus kann man schließen, daß auch die bekannten
Schemata, vermittels deren die Logik die Begriffe darstellt,
ursprünglich derartige symbolische Schematisierungen waren,
welche nur konventionell und unpersönlich geworden sind, aber
psychologisch in derselben Weise entstanden sein mögen, wie
wir es bei Stöhr gesehen haben: Aus der unmittelbaren
Vergegenwärtigung der Begriffsbeziehungen. Die
Zeichnungen, an denen uns Stöhr sowohl seine Theorie der
metaphysischen Materie?) als auch die Idee von den gleitenden
Schnitten?) anschaulich gemacht hat, weisen darauf hin, daß
auch diese beiden Konzeptionen psychologisch auf dieselbe Art
entstanden sein mögen. Es ist charakteristisch und bestätigend
zugleich, daß Stöhr immer mit Zeichnungen gearbeitet hat.
Kekule, der Schöpfer der Benzoltheorie, hat selbst ein-
mal seine Erlebnisse geschildert, auf Grund deren er zur Kon-
zeption seiner Benzoltheorie gekommen ist. Ich entnehme diese
Schilderung einem Vortrag®), den Kekule& anläßlich einer
Festversammlung der Deutschen chemischen Gesellschaft zur
Feier des 25jährigen Jubiläums seiner Benzoltheorie gehalten
hat. Kekule sagt: »Vielleicht ist es für Sie von Interesse,
wenn ich durch höchst indiskrete Mitteilungen aus meinem
geistigen Leben darlege, wie ich zu einzelnen meiner Gedanken
gekommen bin: Während meines Aufenthaltes in London wohnte
ich längere Zeit in Clapham Road in der Nähe des Common.
Die Abende verbrachte ich vielfach bei meinem Freunde...
in Islington, dem entgegengesetzten Ende der Riesenstadt. Wir
sprachen da von mancherlei, am meisten aber von unserer lieben
Chemie. An einem schönen Sommertage fuhr ich wieder ein-
mal mit dem letzten Omnibus, wie immer. Ich versank in
Träumereien. Da gaukelten vor meinen Augen die Atome.
Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen, jene kleinen Wesen,
aber es war mir nie gelungen, die Art ihrer Bewegung zu er-
lauschen. Heute sah ich, wie vielfach zwei kleinere sich zu
Pärchen zusammenfügten, wie größere zwei kleinere umfaßten,
2) Stöhr, Wege des Glaubens S.11 Fig.1, 2, 3.
3) Stöhr, Wege des Glaubens S.45 Fig. 4.
38) Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft XXIII I S. 1306 f.
376 Auguste Flach,
noch größere drei und selbst vier der kleineren festhielten, und
wie sich alles im wirbelnden Reigen drehte. Ich sah, wie
größere eine Reihe bildeten und nur an den Enden der Kette
noch kleinere mitschleppten. Ich sah, was Altmeister Kopp...
in seiner »Molekularwelt« uns in so reizender Weise schildert,
aber ich sah es lange vor ihm. ... ich verbrachte einen Teil der
Nacht, um wenigstens Skizzen jener Traumgebilde zu Papier
zu bringen. So entstand die Strukturtheorie.
Ähnlich ging es mit der Benzoltheorie. Während meines
Aufenthaltes in Gent, in Belgien, bewohnte ich elegante Jung-
gesellenzimmer in der Hauptstraße. Mein Arbeitszimmer aber
lag nach einer engen Seitengasse und hatte während des Tages
kein Licht. Da saß ich und schrieb an meinem Lehrbuch;
aber es ging nicht recht, mein Geist war bei anderen Dingen.
Ich drehte den Stuhl gegen den Kamin und versank in Halb-
schlaf. Wieder gaukelten die Atome vor meinen Augen.
Kleinere Gruppen hielten sich diesmal bescheiden im Hinter-
grund. Mein geistiges Auge, durch wiederholte Gesichte ähn-
licher Art geschärft, unterschied jetzt größere Gebilde von
mannigfacher Gestaltung. Lange Reihen, vielfach dichter zu-
sammengefügt; alles in Bewegung, schlangenhaft sich wendend
und drehend. Und siehe, was war das? Eine der Schlangen
erfaßte den eigenen Schwanz und höhnisch wirbelte das Ge-
bilde vor meinen Augen. ... auch diesmal verbrachte ich den Rest
der Nacht, um die Konsequenzen der Hypothese auszuarbeiten.
Was Kekule& hier schildert, ist nichts anderes als das,
was wir ein symbolisches Schema genannt haben. Ein allge-
meiner Sachverhalt findet durch konkrete Ge-
gebenheiten in sinnlich anschaulicher Weise eine
symbolische Darstellung.
Einen weiteren Hinweis auf diese Phänomene finden wir
bei Binet“), welcher in seiner Arbeit »La pensée sans ima-
ges« Versuche gemacht hat, um festzustellen, welcher Anteil den
Vorstellungen am Zustandekommen der Gedanken zuzuschreiben
ist. Binet äußert sich über das häufige Vorkommen solcher
symbolischer Vorstellungen folgendermaßen:
»Ce genre d'imagerie est peut-être plus frequent, qu'on se
pense. Beauconp de personnes le possèdent, sans en avoir le
supçon, parcequ’elles n’en ont pas reconnu la véritable nature;
ce sont des évènements qui appartiennent à la vie intime et
—
4) Binet, La pensée sans images, Revue philosophique 28 année 1903.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 377
dont on n’a pas l'occasion de parler, parce qu'ils n’ont pas
d'intérêt pratique.«
Auch Karl Bühler) hat die große Bedeutung, die dem
symbolischen Schema sowohl im Geistesleben des Kindes, als
im wissenschaftlichen Denken Erwachsener bei der Erwerbung
neuer Begriffe zukommt, erkannt und wiederholt darauf auf-
merksam gemacht.
In besonders ausgeprägter Weise hat Wilhelm Betz
die Gabe besessen, abstrakte Gedanken in konkret anschau-
licher Weise zu erleben. In seinem Buch »Psychologie des
Denkens«, Kapitel 3 S.74, berichtet er:
»Ich mag denken, welchen Begriff ich will, immer steht er,
wenn ich Aussagen über ihn machen will, in einer Gegend im
Raum vor mir (etwa auf Armlänge und in Kopfhöhe, etwas
nach rechts von mir) wie ein Ding. Diese Gegend im Raum
steht in einem eigentümlich dynamisch elastischen Zustand,
manchmal mehr diffus, wie etwa, wenn ich über Philosophie
oder Logik aussagen will, manchmal bestimmter, fester m sich,
wie bei substantivierten Partikeln.«
Er beschreibt das Erlebnis, das er hat in einem Falle, wo
es sich darum handelt, Aussagen über den Hunger zu machen.
Er sagt: »Ich kann mir ziemlich leicht einbilden, daß ich
Hunger habe, so daß ich zweifelhaft werde, ob ich wirklich
hungrig bin oder es mir nur einbilde, aber es ist etwas ganz
anderes, wenn ich mir den Zustand des Hungers vorzustellen
suche. Hier achte ich nicht im geringsten auf eventuelle Ge-
fühle und Empfindungen in mir. Meine Aufmerksamkeit ist
durchaus nach außen gerichtet, auf eine Gegend im Vor-
stellungsraum, welche Gegend sich von dem übrigen Raum
durch eine Art »Verdichtung« auszeichnet, und ich betrachte
diese Raumgegend beim Nachdenken über den Hunger gerade
als ob der Hunger wie eine greifbare Sache in dieser Gegend
vorhanden wäre. Betz sagt ausdrücklich in unserem Sinn:
»Diese Projektionsformen sind Hilfen.« »Diese Inhalte sind
für das Denken äußerst wichtig, mit ihnen und an ihnen wird
gedacht.
Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß das Erleben eines
abstrakten Gedankengehaltes durch symbolische Schemata
5) Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1922,
S. 266, 269, 388.
378 Auguste Flach,
nicht als eine individuelle Eigentümlichkeit aufzufassen ist,
die vereinzelt dasteht, sondern eine, wenn auch weniger be-
achtete, so doch häufig vorkommende Form der Sinnerfassung
darstellt, bin ich darangegangen, dieses Phänomen von denk-
psychologischen Gesichtspunkten aus experimentell, methodisch
zu untersuchen.
Il. Die Versuche.
Es wurden Versuche unternommen, welche darin bestanden,
daß durch entsprechende Fragestellungen in der Versuchsperson
` Denkerlebnisse hervorgerufen wurden. Die Aufgabe bestand
in der Klärung geläufiger, aber nicht definierter Begriffe. Die
Instruktion ging dahin, den Sinn desjenigen, worum gefragt
wurde, möglichst kurz und prägnant herauszustellen, ihn wo-
möglich auf eine Formel zu bringen und weiter die Erlebnisse
zu Protokoll zu geben, welche die Vp. zu dem Resultat geführt
haben.
Es hat sich im Verlaufe unserer Versuche gezeigt, daß
der Art und Weise der Aufgabenstellung eine große Rolle zu-
fällt. Es wird wohl nicht anzunehmen sein, daß es für jeden
Gedanken eine bestimmte Fragestellung gibt, auf welche unter
allen Umständen alle Personen mit einem symbolischen Schema
reagieren werden, aber eines ist gewiß, es gibt bestimmte
Fragestellungen, welche von vornherein nicht
geeignet sind, derartige Phänomene auszulösen.
So haben wir keine Schemata bekommen, wenn die Aufgabe
zu leicht war, oder die Vp. sie rein gedächtnismäßig lösen
konnte. In solchen Fällen erfolgte entweder ein anschauungs-
loses wörtliches Reagieren, oder eine bloße Denkillu-
strierung, d.h. die Versinnlichung, welche oft sehr ins
Detail gehen kann, ist bloß eine inhaltliche Illustrierung des
Gegenstandes, ihre Beziehung zum Gedanken ist nur eine zu-
fällige, äußerliche, rein assoziative.
Ein Beispiel für ein derartiges Resultat gibt uns die Arbeit
von Binet: »La pensee sans images«, Revue philosophique
28 annee 1903. Binet wollte dasselbe Phänomen, welches wir
hier beschreiben, auf experimentellem Wege erfassen, doch ist
ihm dies infolge unzweckmäßiger Fragestellungen nicht gelungen.
Die Aufgaben, welche Binet seinen Vpn. stellte, waren keine
Denkaufgaben. Binet ruft seiner Vp. den Namen »Bouquin«
zu. Es ist der Name eines alten Fuhrmannes, den die Vp.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 379
kennt. Es erfolgt keine sinnliche Vorstellung. Einer anderen
Vp. ruft er das Wort »Clocher« zu; die Vp. hatte die sinnliche
Vorstellung eines ihr bekannten Glockenturmes einer Kirche.
Daß ebenso auf die Frage: »Haben Sie dieses Jahr große Fort-
schritte in der deutschen Sprache gemacht?« nichts anderes
vorgestellt wurde als Buchstabenbilder und das Bild der deut-
schen Lehrerin, nimmt uns nicht wunder. Binet konstatiert,
daß weder das Bild der Lehrerin noch das der Buchstaben den
Sinn des Satzes wiedergibt.
Die Versuche, welche Binet angestellt hat, kranken samt
und sonders daran, daß die Aufgaben, die gestellt wurden,
keine Denkaufgaben waren und sich leicht assoziativ erledigen
ließen. Produktiv gedacht wurde bei diesen Versuchen nicht
und darum konnten auch keine Schemata auftreten, nach denen
Binet gesucht hat. Wenn Bilder überhaupt gesehen wurden,
waren es nur begleitende Vorstellungen, das was wir als Denk-
illustrierung bezeichnet haben. Mit unserer Charakterisierung
der Denkillustrierung stimmt auch die Beschreibung überein,
die Binet seinen Bildern gibt: »L’image n’illustre qu’une toute
petite partie du phénomène et souvent d'ailleurs la visualisation
ne porte que sur le décor des choses.« Höchst charakteristisch
ist es auch, wenn Binet zu dem Resultat kommt, daß diese
Bilder beinahe immer nur die materiellen Gegenstände wider-
spiegelten und niemals eine Beziehung darstellten: »L’image
etait presque toujours visuelle et elle ne mirait presque tou-
jours que des objets materiels; Elle n’a jamais represente un
rapport.«
Dad es aber gerade die Beziehungen sind, auf welchen das
Schema sich aufbaut, und durch welche es den abstrakten Ge-
dankengehalt zur Darstellung bringt, hat Binet richtig gefühlt.
Wir haben bei unseren Versuchen ferner die folgende Be-
obachtung gemacht: Wenn der VI. bei der Formulierung der
Aufgabe ein Wort wählte, welches von vornherein mit einer
bildhaften Vorstellung fest assoziiert war, wie z.B. »Land-
schaft« oder »Labyrinth«, so ist die mit diesem Wort gewohn-
heitsmäßig verknüpfte illustrierende Vorstellung aufgetreten;
diese aber hat die Bildung eines Schemas erschwert oder ver-
hindert, wie überhaupt bilderreiches Material, wenn es geboten
wird, entweder nur Denkillustrierung auslöst oder dazu führt,
daß die im Text gebotenen Bilder gar nicht aktualisiert werden;
es wird vielmehr der abstrakte Sinn dazu gesucht.
380 Auguste Flach,
Diese Tatsache, daß auf bilderreiches Material meist in an-
schauungsloser, abstrakter Weise reagiert wird, hat sich auch
bei den Versuchen von Groos®) und Mayer?) gezeigt. So-
wohl Groos®) als auch Mayer haben gefunden, daß beim
Hören und Auffassen bilderreicher Gedichte das anschauliche
Material, das geboten wird, erfaßt wird, ohne daß die ent-
sprechenden optischen Vorstellungen aktualisiert werden.
Es hat sich weiter in unseren Versuchen immer wieder ge-
zeigt, daß man ein symbolisches Schema nicht willkürlich pro-
duzieren kann, daß dort wo eine Veranschaulichung direkt in-
tendiert worden war, immer nur eine Illustrierung, nie aber
eine Schematisierung des Gedankens aufgetreten ist. Wir haben
nur dann Schemata bekommen, wenn das ganze Bemühen der
Vp. auf die Klarstellung der abstrakten Bedeutung gerichtet
war.
Darin und in dem Umstand, daß die Versuchsperson über
den Unterschied zwischen symbolischem Schema und Denk-
illustrierung nicht unterrichtet war, liegt die Gewähr dafür,
daß diese Bilder, welche wir in den Protokollen veröffentlichen,
nicht willkürlich hervorgerufen sind.
Auf diese eigenartige Tatsache, daß das Auftreten dieser
Phänomene hinsichtlich ihrer Entstehung unserer Willkür ent-
zogen ist, ist auch Binet?) bei seinen Versuchen gestoßen:
Er äußert sich darüber folgendermaßen: »Le principal caractère
de ces représentations c'est qu’elles sont involontaires, qu’elles
se sont construites en dehors de notre volonté et que nous ne
pouvons pas les modifier.«
Wir haben uns bemüht, bei Aufstellung unserer Versuchs-
anordnung auf alle hier angeführten Momente zu achten und
unsere Aufgaben vor allem so zu stellen, daß die Vp. denken
mußte. Freilich mußte hier eine individuelle Differenz zur
Geltung kommen; während die eine Vp. z. B. eine Frage rein
gedächtnismäßig erledigen Konnte, mußte eine andere die
Antwort auf dieselbe Frage sich erst erarbeiten.
Sowohl bei der Eigenbeobachtung als auch im Experiment
6) Groos, Das innere Miterleben und die SDpendungen aus dem Körper-
innern, Zeitschrift f. Ästhetik.
7) Mayer, Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig 1901; Gött. Gel. Anz. 1906
(4) S. 298—321.
8) Groos, Der ästhetische Genuß, 1902.
9) Binet, La pensée sans images, Revue philosophique 28 année 1903.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 381
hat es sich herausgestellt, daß bei abstraktem Versuchsmaterial,
das geboten wurde, die Vp. genötigt war, sich irgendwie an an-
schauliche Hilfen festzuklammern. Aus diesem Grunde sind
wir in unseren Versuchen möglichst von einem abstrakten Ge-
dankengehalt ausgegangen, um zu dessen sinnlich symbolischer
Darstellung zu gelangen.
Symbolische Schemata sind immer nur dort aufgetreten,
wo ein Sinn mit besonderer Evidenz spontan erlebt wurde, und
nicht dort, wo er, als etwas Fertiges, bereits in bestimmter
Weise Gestaltetes aus dem Gedächtnis reproduziert worden war.
Trotzdem muß es auch in diesem Falle, natürlich nicht unbe-
dingt, zur Bildung eines Schemas kommen. Die Vp. kann den
Sinn in einer viel vageren Weise erleben oder ganz unanschau-
lich abstrakt nur mit einer Definition in Worten reagieren.
Vielleicht wird man einmal an Hand eines ganz großen stati-
stischen Materials der Frage näherkommen können, welche Be-
dingungen eigentlich für das Auftreten symbolischer Schemata
gegeben sein müßten. Es dürften hier viele Faktoren mit-
spielen, die wir jetzt noch gar nicht alle übersehen. Die in-
dividuelle Veranlagung wird in mancher Hinsicht entscheidend
sein; aber auch die momentane Disposition, die Aufmerksam-
keitseinstellung, die ganze große Menge an Faktoren, welche
mit in die Vorbereitung und Einstellung eingehen, sind von
Wichtigkeit. Wir konnten auf diese Frage in der vorliegenden
Arbeit nicht näher eingehen und mußten dieses Problem für
einen späteren Zeitpunkt zurückstellen.
Fragen wurden vom Vl. nur selten gestellt, gewöhnlich
sagte die Vp. selbst, was es mit dem Bild für die Klarstellung
des Gedankens für eine Bewandtnis hat. Dies war besonders
dort der Fall, wo das Bild ohne Beziehung auf diesen unver-
ständlich war und die Vp. das Bild allein nicht beschreiben
konnte, ohne sich immer wieder auf den abstrakten Gedanken-
gehalt zu beziehen. Zeitmessungen wurden unterlassen,
weil sie für unser Problem belanglos sind und es sich in der
Eigenbeobachtung wie auch in den Versuchen gezeigt hat,
daß die anschaulichen Bilder sofort da waren mit dem Ver-
ständnis gegeben, oder aber sie blieben überhaupt aus. Es
war natürlich für unsere Zwecke vollkommen gleichgültig, ob
die Vp. den aufgegebenen Gedanken objektiv völlig zutreffend
und einwandfrei erfaßt und symbolisch dargestellt hat. Es
konnte uns nur auf den psychischen Tatbestand des Denk-
382 Auguste Flach,
erlebnisses ankommen und nicht auf die objektive Richtigkeit
des Gedachten. Ebenso sind auch vielfach andere subjektive
Momente durch die besondere Art und Weise, wie der Vp. im
Augenblick ein abstrakter allgemeiner Gedankengehalt besonders
evident war, in die Darstellung mit eingegangen.
Eine zweite Versuchsanordnung bestand darin, der Vp.
Aphorismen zu bieten, welche vorgesprochen wurden. Sobald
die Vp. den Sinn erfaßt hatte, gab sie zu Protokoll, wie der
Prozeß des Verstehens zustandegekommen war. Nachdem auch
diese Versuchsreihe auf dasselbe Ziel gerichtet war und keine
andersartigen Resultate gefördert hat wie die ersten, haben wir
keine Veranlassung gesehen, sie gesondert zu behandeln.
Nachstehend veröffentlichen wir eine Reihe von Proto-
kollen, an welchen wir die Feststellungen über das Wesen der
symbolischen Schemata und ihre Abgrenzung gegenüber an-
deren Phänomenen demonstrieren wollen.
Versuchsprotokolle:
Nr.6 »Tausch«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Tausch sprechen ?«
Antwort: »Sofort nach dem Anhören ein wenig präzisiertes, ober trotzdem
seiner Bedeutung nach unzweideutiges optisches Symbol. Da ist ein Band,
da vollzieht sich etwas, da könnten Personen sein; ich sehe sie aber
nicht, ich brauche für das Band nur den Ansatz, aus dem Schema ist noch
etwas zu entnehmen: nämlich, daß keine der beiden Richtungen bevorzugt
ist. Das Bild war fertig. Daß hin- und hergegangen wird, lag in der
Bedeutung, nicht im Bild. Ich sagte, zwischen beiden geschieht etwas, es hätte
das Wechselverhältnis hineinkommen können, dadurch, daß Bewegung hinein-
gekommen wäre.«
Fig. 2.
Anmerkung: Alle hier reproduzierten Bilder wurden nach den von den
Vpn. im Augenblick entworfenen Zeichnungen angefertigt.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 383
Nr.7 »Tausch«.
Aufgabe: »Was ist es, das das Wesen des Tausches ausmacht ?«
Antwort: »Ich habe das was ich meine in Form einer Schleife gegeben:
Da ist eine Schleife, die den Kreisprozeß des Tausches darstellt. Da beim
Tausch unbedingt ein Zusammentreffen der beteiligten Personen an einem
Schnittpunkt erfolgen muß, so sollten diese Kurven die Tauschaktion darstellen.
Fig. 3.
Die Kurven stellen die beim Tausch auftretende Bewegung dar; daß die Be-
wegung spiralförmig sein muß, hat darin seinen Grund, daß der eine beim
Tausch verliert, während der andere gewinnt. Die Ungleichheit der Kurven
soll zum Ausdruck bringen: den mit dem Tausch verbundenen Vorteil oder
Nachteil des Einzelnen. Die Schleife ist im Augenblick entstanden.«
Nr.8 »Gewalt«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Gewalt sprechen ?«
Antwort: »Ich würde sagen überwältigende Kraft.«
»Es war zweierlei da: etwas was man sehen kann und etwas was man
spürt. Ich habe es ganz schwach gespürt, hätte dies aber weiter ausgestalten
können. Was ich sehe ist ein Ding, aber ich kann nicht sagen was für ein Ding,
es ist in der Natur draußen, in großer Entfernung, das Ding ist sehr groß
dimensioniert, vielleicht ist es ein Haus, links vorn, und darüber war es einen
Augenblick wie eine verdeckende gerade, mathematische Fläche, die sich an
das Ding an und über dieses darüberlegt. Nichts Dynamisches, von der
Fläche wird es zu einer Wolke, es wird dicker, bleibt nicht so flächenhaft;
unbegrenzt nach allen Seiten. In dem Verhältnis dieses Etwas, das ich erst
mathematische Fläche, dann Wolke nannte, zu dem Haus liegt beschlossen die
Bedeutung von Gewalt, ich suche dann ein Wort und es drängt sich mir ‚un-
berechenbar‘ auf, gleich darauf aber kam ‚überwältigen‘. Dieses Verhältnis,
von dem ich früher sprach, war Kraft; so kam ich zu überwältigender Kraft.
Ich könnte mir das Bild für einen gewissen Fall ausdenken: Über-
schwemmung, Feuersbrunst. Ich hätte es für alle möglichen konkreten Fälle
ausdenken können, wo Gewalt eine Rolle spielt. Dieses Bild ist sinnvoll, be-
deutungsvoll. Ich kann die einzelnen Stellen angeben, wo die Merkmale zu
holen sind: Aus dem Unbegrenzten ist herauszuholen das Merkmal des Un-
berechenbaren, dort müßte ich hinschauen, um das Merkmal des Unberechen-
baren herauszuholen. An dem Verhältnis zwischen Fläche und Ding da wäre
die Stelle, wo ich die zerstörende Wirkung, die vernichtende, die Größe der
Kraft herausholen müßte, dort liegt es, an dieser Stelle weitgehend sinn-
erfüllt. Diese Sinnerfüllung führt zur Merkmalfindung. Ich kann das Merkmal
bezeichnen, ich hole es heraus, wenn man so will.«
384 Auguste Flach,
Nr.9 »Bach«.
Aufgabe: »Wie würden Sie die Musik ‚Sebastian Bachs‘ charakterisieren ?«
Antwort: »Ich würde sagen Ornamentik; die kleine, detailreiche Or-
namentik.«
VL: »Wie sind Sie auf Ornamentik gekommen ?«
Vp.: »Es sind kleine Bogen, die ich sehe im Raum, dazu höre ich gleich-
zeitig Bachsche Musik. So sehen die Bogen aus:
(VNVVVN
Fig. 4.
Aber es könnte auch eine andere Ornamentik sein, z. B. bei den Fugen so«:
Fıg. 5.
Nr. 10 »Sollen«.
Aufgabe: »Wie könnten Sie das Wesen des Sollens charakterisieren ?«
Antwort: »Das was nicht ist, und doch ist, in gewissem Sinne, nämlich
als Norm. Es ist auch etwas anschaulich gegeben. Vor mir ist ein dunkler
Abgrund und jenseits des Abgrundes etwas Weißes, vielleicht ein lichtes
Gebäude, aber ungegliedert, ich sehe nur etwas Weißes, dort müßte man
hinüberkommen, es ist, als würde ich von meinem Standort im Bogen hinüber-
reichen; mich selbst sehe ich nicht, aber ich weiß dort, wo ich bin, da ist das
Sein lokalisiert; dort wo das Weiße ist, wo ein Gebäude errichtet sein muß,
dort ist das Sollen.
Zwischen dem Sein und Sollen ist ein Abgrund. Dieser Abgrund und das
Hinüberlangen ist mir das Wesentliche am Sollen. Das was sein soll, das ist
nicht. Es ist nur im Sinne der Norm. Man muß es erst realisieren, man
muß hinüberreichen über den Abgrund, der das Sein vom Sollen trennt, um
dahin zu gelangen.«
Nr. 11 »Begehren«.
Aufgabe: »Wodurch erscheint Ihnen alles Willensmäßige, alles Begehren
besonders charakterisiert zu sein ?«
Antwort: »,Ursachbewußtsem‘ im Sinne Messers.« »Dieses Wort
hat gar nichts zu tun mit dem Bild, das ich gehabt habe. Das
Bild ist ein Mensch, aber ich kann auch darüber hinausgehen, er stand
nicht nur als Mensch hier, sondern als Vertreter von etwas Anderem, das
Andere war nicht bestimmt, nicht abgegrenzt. Tiere wären auch mitein-
geschlossen, in dem, was es sein könnte. Für diesen Menschen könnte ich eine
Stelle im Vorstellungsraum angeben, wo er stehen müßte, zeichnen könnte
ich ihn nicht, es ist nur ein ausgefüllter Raumteilda; da ist
etwas, das ist Er. Wie wenn ich ihn herausgeschnitten hätte, als hätte er
etwas an, aber ich kann nicht sagen, daß das ein Kleid ist, dort steht er,
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 385
das ist so ein Raum und mit ihm ein zweites Schema, ganz organisch ver-
einigt. Es geschieht etwas, und zwar in der Richtung der Pfeile, es geht von
innen aus, es müssen Erlebnisse sein, die das Spezifische der Richtung haben.
Den Punkt sehe ich nicht, aber sie gehen von ihm aus; das Ich als Quellpunkt.
So eine Gerichtetheit, ein Streben, ich bin darin in diesen Bewegungen
der Pfeile. Ich denke durchaus mit diesem Schema.«
(Das gezeichnete Schema ist eine kreisartig abgeschlossene Fläche mit
einem Punkt in der Mitte, aus welchem nach links unten einige Pfeile heraus-
schießen.)
VL: »Ist es so, daß Sie die Bewegungen mitmachen? Sind es Mit-
bewegungen ?«
Vp.: »Nein, es ist im Raume rechts, es ist mir Objekt.«
Nr. 12 »Religiosität«.
Aufgabe: »Wie würden Sie Religiosität losgelöst vom Kirchlich-Tradi-
tionellen charakterisieren ?«
Antwort: »Von einer breiten Basis nach oben zu stark verjüngt, bewegt
sich rasch von unten nach oben eine hellgraue, eigenartig durchleuchtete
Nebelschwade. Die Bewegung hat folgende Richtung«:
Fig. 6.
Das Ganze ist im dunklen Raum und soll die Funktion des Religiösen in
einem eigenartig aufstrebenden Rhythmus, einer Gerichtetheit nach oben sym-
bolisiert darstellen.
Nr. 13 »Kompromiß«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Kompromiß sprechen ?«
Antwort: »Ich sah zwei Kreise, die sich nähern und sich schneiden,
Kompromiß war mir dargestellt inder gemeinsamen Fläche der
beiden Kreise, die Kreise waren gezeichnet, der eine Kreis rechts,
der andere Kreis links, wie das Begriffsschema von Begriffen, die sich teil-
weise schneiden.«
Fig. 7.
Archiv für Psychologie. LII. 25
386 Auguste Flach,
Anmerkung: Dieses Schema ist besonders interessant, weil es dem Schema
der einander schneidenden Begriffe, welches-wir aus der Logik kennen, äußer-
lich gleich ist, während es sich aber im Falle der Logik um eine formale
Relation handelt, drückt dieses Schema etwas Bestimmtes aus; die beiden
Kreisen gemeinsame Fläche ist das, was das Wesen des Kompromisses sym-
bolisiert.
Nr. 14 »Kompromiß«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Kompromiß sprechen ?«
Antwort: »Kompromiß ist die Verbindung von zwei Menschen. Ich hatte
die Vorstellung von zwei Körpern, die sich von der Seite zusammenschieben.
Sie haben irgendeine Form gehabt, die nicht bestimmt war, es waren aber
zwei Körper von rechts und links, die sich ineinandersaugen, mit Greifarmen,
der Körper war fest, hatte Auswüchse wie Darmzotten, die er ausstreckte
und die ineinander verschlungen wurden; und dann war es ein Körper, der
sich aber merkwürdigerweise nicht viel vergrößert hatte, er war etwas größer
als einer der Teile, aber nicht so groß wie beide zusammen; er war grau-
grün, hatte eine schmutzige graugrüne Farbe; die Bewegung habe ich mit den
Händen mitgemacht.
Nr. 15 »Hypothese Theorie«.
Aufgabe: »Es ist der übergeordnete Begriff zu suchen von Hypothese
und Theorie.«
Antwort: »Sofort eine Linie, welche sich von mir weg in schlangen-
förmigen Bewegungen, in gerader Richtung fortschlängelte, als müßte sie
sich durch etwas hindurch erst den Weg bahnen. Gleichzeitig das Wissen,
daß es sich hier um ein Symbol handelt, welches für die Bedeutung Hypothese,
Theorie steht und welches die Funktion der Wegbahnung durch Nichtgebahntes
ausdrücken soll. In dem Begriff ‚Wegbahnung‘ hatte ich den übergeordneten
Begriff.
Die Linie war visuell, motorisch gegeben, ich habe die Bewegung der
Linie mitgemacht. Die Achse der Linie ist wagrecht auf meine Körperachse
zu gerichtet. Ich habe den Begriff Wegbahnung am Bild bloß abgelesen.«'
Nr. 16 »Synthese«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Synthese sprechen ?«
Antwort: »Zusammenfassung. Es war so etwas wie ein Netz, das sich
pyramidenförmig zusammenzieht, die Mehrheit als Ausgang und die Einheit
als Ende sind darin als Basis und Spitze charakterisiert. Nichts Dynamisches,
nichts von Geschehen war darin, ich konnte dieses nicht ablesen daraus.«
Nr. 17 »Chaos«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von ‚Chaos‘ sprechen %«
Vp. macht eine wirbelnde Bewegung mit beiden Händen.
Antwort: »So etwas. Eine vollkommen ungeordnete Masse jeder Art.
Ich sehe ein Zusammenballen einer grauen Masse, wie wenn man Wolken
zusammenballen würde. Wie wenn Gedärme sich durcheinanderschieben, große
und kleine, dicke und dünne, das Ganze ist rund und kugelig, hat keine
Ecken, ein großer Knödel, durch den sich das Ganze durchwurlt, grau wer-
schieden belichtetes Grau, je nachdem die Teile dunkler oder heller, dicker
oder dünner waren, abschattiert.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 387
Nr. 18 »Chaos«.
Aufgabe: »Geben Sie mir eine kurze prägnante Charakterisierung dessen,
was mit Chaos gemeint ist.« f
Antwort: »Ich hatte sofort folgendes Bild: Durcheinanderfluten von Un-
geschaffenem, Ungeformtem, in Form einer leisen Bewegung, einer dick-
flüssigen, weißlich-grauen Masse im Raum. Die Bewegung ist eine Wellen-
bewegung, von links nach rechts und von rechts nach links, aber ohne sicht-
bare Wellen. Es ist ein Inneres, das ich sehe; die Oberfläche ist spiegelglatt,
das Wogen findet unter dieser statt. Die glatte Oberfläche macht die Be-
wegung nicht mit, darunter ist die Masse wie langsam kochend gegeben,
Nr. 19 »Kontinuität«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Kontinuität sprechen ?«
Antwort: »Fortsätzlichkeit. Ich sah etwas Langlaufendes, das sich per-
spektivisch verliert, vor mich hin, von mir weg, dunkler werdend nach rück-
wärts, ähnlich wie ein ganz langer Gang, der durch das Verschwinden in der
Unendlichkeit finster wird. Ein Sichverlieren durch das Unaufhörliche, aus
Mangel an Verfolgungsmöglichkeit. Zuerst kam so ein Gefühl des Nichtauf-
hörenden, an das sich das Bild geschlossen, dann erst kam die Formulierung.«
Nr. 20 »Kontinuität«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Kontinuität sprechen ?«
Antwort: »Sprunglosigkeit. Es war sofort eine gerade Linie da, von
links unten nach rechts oben. Ich gehe entlang der Linie und erfasse im
Entlanggehen, worauf es ankommt. Erfasse dabei, das müßte mathematisch
ausgedacht werden, Beziehung zur Mengenlehre; beschränke mich auf die
anschauliche Vergegenwärtigung, wie ich sie in der Linie hatte. Anwendung
auf entwicklungstheoretische Fragen, ob Sprung oder Nichtsprung, man müßte
nicht den Sprung um alles in der Welt vermeiden. Wenn ich an die Lücken
m der Kontinuität denke, genügt mir die Lücke nicht mehr. Dann sind es
Spalten, welche den Sprung symbolisieren.«
Nr. 21 »Beaudelaire«.
Instruktion: »Ich werde Ihnen irgend einen Namen aus der Weltgeschichte
oder Literaturgeschichte nennen und bitte um eine möglichst prägnante
Charakterisierung, nachher eine Beschreibung Ihrer Erlebnisse.«
Aufgabe: »Beaudelaire«.
Ich sah sofort im freien Raum auf ganz dunklem Hintergrund pinen
grün-blauen Farbfleck ausgesprochen in der Farbe des Vitriols, wie mit
einem einzigen breiten Pinselstrich hingeworfen. Der Streifen ist länger als
breit, vielleicht doppelt so lang als breit. Gleichzeitig ein Wissen, daß diese
Farbe das Morbide ausdrücken soll, die spezifische Dekadenz, die Beaudelaire
charakterisiert. Ich versuche, ob ich dieses Bild z. B. auch auf Wilde an-
wenden würde, oder auf Huysmans. Unmöglich. Solche Widerstände, als
ob mir etwas Unlogisches zugemutet werden würde. Dieses Bild steht nur
für Beaudelaire und wird mir von nun ab immer für ihn repräsentativ sein.
Es drückt mir Beaudelaires spezifische Einstellung zum Leben aus, wie er
immer den Genuß an den Farben und an allem sinnlich Gegebenen betont,
vielleicht gerade deshalb so betont, weil er ihn nicht so sehr hat, wie er ihn
haben möchte. Dieser impressionistische Zug, dieses bewußte und gewollte
25*
388 Auguste Flach,
Haften am flüchtigen, sinnlichen Eindruck, dieses Hohnlachende, noch über
dem eigenen Erleben Stehen, dies alleinige Bejahen des Genießens und die
aus Unvermögen zum Genuß hervorgehende Perversität. Das alles liegt für
mich beschlossen in diesem Bild.«
Nr. 22 »Expressionismus, Impressionismus«.
Aufgabe: »Wie würden Sie das Wesen des Expressionismus gegenüber
dem Impressionismus charakterisieren %«
Antwort: »Ausdruckskunst. Ich hatte mannigfaltige anschauliche Erleb-
nisse. Als erstes ein Schema, das ich häufig habe, wenn von Expressionismus
die Rede ist, ein optisches Gebilde, und zwar derart, daß zackige Linien
aus einem Menschen herauskommen, es soll bedeuten Erlebnisse, Vorstellungen,
aber nicht nur Vorstellungen, sondern viel Anderes. Die zackigen Linien
drücken die Erlebnisse aus, und zwar, daß diese Erlebnisse in eigenartiger
Weise aus diesem Menschen nicht wandern sondern strahlen, dazu das Be-
wußtsein, daß der Expressionismus das Ringen ist, um mit diesen Strahlungen
etwas zu machen. Für den Impressionismus hatte ich Linien nach einwärts,
zentripetal, und das Entscheidende stand außen, ich würde sagen, das ist
der Eindruck.
Das Expressionismusschema war das erste, aber ich kann nicht sagen,
ob es in Verbindung mit dem anderen war, es war ein Hinüber- und Herüber-
gehen.«
Nr. 23 »Expressionismus, Impressionismus«.
Aufgabe: »Wie würden Sie den Expressionismus charakterisieren gegen-
über dem Impressionismus ?«
Antwort: »Expressionismus ist die seelische Wiedergabe. Impressionismus
ist die technische Wiedergabe. Der Expressionismus ist mehr Erlebnis, der
Impressionismus mehr Beobachtung. Beide Wege führen zu der Wiedergabe.
Die Wiedergabe selbst ist hier in der Anschauung nicht malerisch wieder-
gegeben, sondern plastisch, eine Plastik auf einem grau behauenen Block.
Das was Expressionismus ist, ist in meiner Farbe gefärbt, persönlich
gefärbt, weiche, feine Pastellfarben, Regenbogenfarben, Nilgrün und Lachs-
farbe vorherrschend, in Streifen weich konturiert. Das was Impressionismus
ist, ist grau und stellt den Gegenstand so dar, wie er ist.
Beim Impressionismus ist es, wie wenn ich hinter einer Mauer stehen
würde und ganz kalt und förmlich das Ding taxiere und es wiedergebe, während
ich beim Expressionismus bemüht bin, meine ganze Persönlichkeit in die
Wiedergabe hineinzulegen. Das ist ausgedrückt durch die persönliche Färbung.
Meine Stellung war am Ausgang der Wege an der Basis, ich habe mich
selbst stehen gesehen, und zwar zweimal an beiden Ausgangspunkten, am
Ausgangspunkt des Expressionismus hell, in der Beleuchtung, die aber nicht
von außen gekommen wäre, sondern von innen, die Linien weich, im anderen
Falle schärfer konturiert, farblos, so daß man als Person nicht in Betracht
kommt und nur den Beobachter spielt und nichts von sich hergibt.«
Beide, sowohl Impressionismus als auch Expressionismus, werden erfaßt
als Wiedergabe, durch den übergeordneten Begriff, der aber der Vp. als
übergeordneter gar nicht zum Bewußtsein kommt. Auch jenes Schema der
zackigen Linie ist bis ins letzte Detail bedeutungserfüllt. Das Persönliche, das
in die Darstellung eingeht, wird durch die persönliche Färbung ausgedrückt.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 389
Die Versuchsperson sagt: »in meiner Farbe gefärbt«. Es hat eine symbolische
Bedeutung, wenn die Versuchsperson sagt, daß das Licht am Ausgang des Ex-
pressionismus nicht von außen kommt, sondern von innen. Das Unpersönliche
des Impressionismus wird durch das indifferente Grau ausgedrückt. Die
Mauer symbolisiert die Trennung zwischen Künstler und Gegenstand beim
Impressionismus, die Person des Künstlers verschwindet hier gleichsam
hinter einer Mauer. Wir können ihn durch sein Werk hindurch nicht erkennen.
Aber auch zwischen ihm und seinem Werke steht eine Mauer. Die Vp. sagt
noch ausdrücklich, daß man in der Kunst des Impressionismus als Person
nicht in Betracht kommt.
Nr. 24 »Demut«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Demut sprechen ?«
Antwort: »Ein Zug im Nacken war sofort da. Vp. neigt den Kopf nach
abwärts. Es ist ein Unterordnen, ohne sich das vorzuhalten, ob es berechtigt
ist oder nicht. Aus einem gewissen, vielleicht spezifisch-fraulichen Gefühl,
ohne daß man die Empfindung hätte, daß man sich dabei etwas vergibt.«
Die Versuchsperson macht die entsprechende Bewegung, die sie gleich
zu Anfang gemacht hat, und beschreibt sie: »Es ist ein Sichhinunterneigen
und Sichhinneigen zugleich. Denn wenn ich mich hinunterneige und mich
abdrehe, ist es nicht mehr Demut.«
Nr. 25 »Gotik«.
Aufgabe: »Können Sie mir das Wesen der Gotik als geistige Bewegung
kurz skizzieren ?<
Antwort: »Himmlischkeit.«
»Ich hatte ein Bild, es war wie ein Zusammenfassen von Gini en,
die steil, idealistisch aufwärtsstreben, zu einer Spitze nach
oben, die Linien bauen sich auf wie ein Zelt, von verschiedenen Seiten ein-
ander zustrebend zur Spitze. Die Linien habe ich entstehen sehen, im Raum,
in klarer Luft, es war wie ein Aufsteigen.«
Vl.: »Was sollen die Linien bedeuten %«
Vp.: »Streben nach dem Höchsten, wo alle Kulturtätigkeiten sich zu-
sammenraffen zu dieser Einheit des Idealismus. Weltanschauungssicherheit.«
Nr. 26 »Heterogenie der Zwecke«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir mit Wundt von der Heterogenie
der Zwecke sprechen ?«
Antwort: »Zur Hauptsache-Werden eines vorher als Nebenerfolg auf-
getretenen Zweckes.
Ich bin auf ein Gebiet der primitiven Kultur gerichtet, Entstehung der
Kunst, Verzierung an Gefäßen. Eines der geläufigen Beispiele war mir
gegenwärtig: Tongefäß mit Korbgeflecht herum. Das, worauf es an-
kommt, war mir optisch symbolisiert: Verzweigung einer
Linie. Dieses Schema schließt sich an das Gefäß mit dem Korbgeflecht an.
Es geht eine Linie auf das Gefäß zu, dann ein Seitenzweig nach rechts. Das
Korbgeflecht soll dazu nur ein Beispiel sein.«
Hier ist durch eine Vorstellung zuerst das Beispiel, der Anwendungsfall
gegeben, an ihn schließt sich ein Schema, das das an ihm zum Ausdruck ge-'
brachte Prinzip rein und abstrakt herausstellt.
390 Auguste Flach,
Fig. 8.
Nr. 27 »Proletarier«.
Aufgabe: »Geben Sie mir eine kurze prägnante Charakterisierung dessen,
was Sie unter ‚Proletarier‘ verstehen.«
Antwort: »Ich hatte ein merkwürdiges Bild, eine ebene schwarze Fläche
und unter dieser so ein dunkles wogendes Schwälen, ein unbestimmtes Wogen,
wie von einer dunklen, dicken schwerflüssigen Masse.«
Vl.: »Was soll die Masse bedeuten ?«
Vp.: »Die Ausgebreitetheit über die Welt und so etwa wie eine latente
Dynamik, ein latenter Auftrieb.«
Nr. 28 »Altruismus«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Altruismus sprechen ?«
Antwort: »Anschaulich ist mir folgendes gegeben: Richtung des Hinüber-
gehens zu einem Anderen, der nicht gegeben ist. Eine bogenmäßige Richtung
zu dem Anderen. Der Schwerpunkt des Wesens dieses Altruisten liegt nicht
in ihm selbst, sondern am Ende des Bogens, dort hat er seine Direktiven,
dort pflegt er. Das Wort pflegen drängt sich auf.«
Anmerkung: Hier ist das Prinzip des Altruismus durch den Bogen dar-
gestellt. Das Wort pflegen bringt den Anwendungsfall für das Prinzip zum
Ausdruck.
Nr. 29 »Zweck — Motiv«.
Aufgabe: »Wie würden Sie das Verhältnis von Zweck und Motiv charakte-
risieren ?«
Antwort: »Es sind Fäden, die sich vom Motiv über das Gehirn zur
Ausarbeitung ziehen. Ich sehe ein Bild, ein tieferstehendes und ein höher-
stehendes Gebilde. Es ziehen Fäden vom tieferstehenden zum höherstehenden
Gebilde. Die Fäden gehen ganz durcheinander, sind ineinander verschlungen
und verdicken sich am Ende. Das Ende ist oben. Das Motiv ist unten, der
Zweck ist oben. Die Fäden, die vom Motiv zum Zweck gehen, verschlingen
sich und gehen durch das Gehirn hindurch zum Zweck. Vom Zweck führen
-Wege zum Ziel Fäden führen zum Motiv, sie sind wie Kabeln, die Greif-
fäden, die sich nach oben verdicken, wie Ansätze,
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 391
Fig. 9.
Anmerkung: Sehr interessant ist dieses biologische Schema des Ent-
wicklungsgangs vom Motiv zum Zweck und darüber hinaus zum Ziel, ein
Schema, das ohne die Bedeutung, die von der Vp. jeweils bei jedem Detail
hinzugesagt werden muß, unverständlich ist. Solange man das Bild nicht
kennt, ist auch die Formulierung im ersten Satz unverständlich.
Nr. 30 »Volk — Staate.
Aufgabe: »Wie würden Sie die Beziehungen zwischen Volk und Staat
charakterisieren ?«
= Antwort: »Das Erste was da war: Da müssen Sie einen Staatslehrer
fragen; und dann war es wie eine Menschenmenge und darüber ein Be-
ziehungsnetz und das sollte sein: der Staat wirkt sich aus, an diesem Be-
ziehungsnetz, das doch zum Volk irgendwie gehört. Dieses Beziehungsnetz
ist auch anschaulich. Das ist wie etwas von mir Herausgehobenes und wie
über den Köpfen weg zu Schendes. Es sollte aber in Realität wirklich darin
sein. Der Staat hatte auch ein Zentrum, von dem die Beziehungen ausgehen.
Das Zentrum habe ich nicht gesehen, es ist mir nur bewußt, daß sie won
dem Zentrum ausgehen.
Das Volk ist etwas, des über das Land ausgebreitet ist: Ich sehe eine
weite Fläche und das Volk wächst irgendwie aus dem Land, ist innig ver-
bunden damit, und darüber wächst, wie aus diesem Organismus herausgehoben,
als Abstraktionsprodukt dieses Netz. Das sind Kraftlinien, in denen etwas
geschehen kann. Eines ihrer wichtigsten Merkmale ist dieses, daß sie von
dem einen Punkt her bedient werden, sozusagen.«
Nr. 31 »Anpassung«.
Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Anpassung sprechen !«
Antwort: »Zweckmäßige Veränderungen nach der Situation. Etwas
Räumliches, nicht leicht Festzustellendes gegenüber von mir in einer be-
stimmten Richtung, das ist das, was sich anpaßt. Ihm gegenüber steht das,
dem es sich anpassen muß, es ist kein Lebewesen da, kein körperliches Ding,
weder auf der einen noch auf der anderen Seite, das sich Anpassende ist
392 Auguste Flach,
etwas Plastisches, plastische Luft, etwas Gasförmiges, das Andere müßte
ein Relief enthalten, das Eine würde sich in das Andere hineinschieben und
sich ihm anschmiegen. Eigentümlich unbestimmt ist das. Letzten Endes das
Bild vom Wachs und Siegel, das von mir in die quallenhaft unbestimmte Kon-
sistenz hineingedacht wird. Das Bild hat schon alles enthalten, man mußte
nur lossprechen.«
Nr. 32 »Hegelk«.
Aufgabe: »Wie würden Sie das Weltbild Hegels charakterisieren ?«
Antwort: »Sofort so etwas wie in sich geschlossene Linien. Ich weiß
nicht, ob ich sagen kann Kreis. In sich geschlossene Linien, die aber nicht
fest auflagen, keinen festen Boden hatten, ein Gewusel von ge-
schlossenen Kurven, auch etwas darin, wie eine in eine Spitze auslaufende
Spirale. Das Spitzausgehende, in sich Zurückkehrende, das war das Symbol.«
Vl.: »Das Symbol wofür %«
Vp.: »Für den allgemeinen Eindruck, den mir Hegel jetzt macht, ohne
daß ich an etwas Einzelnes, Konkretes dachte. Es war auch der Gedanke
gegeben: aprioristisches Konstruieren, den Tatsachen Gewalt antun. Es war
ein Sichfreuen an einem geschlossenen System, und andererseits ein Be-
dauern über die aprioristische Denkweise, dem nicht auf den Tat-
sachen-Fußen«
Nr. 33 »Hegel«.
Aufgabe: »Wie würden Sie die Hegelsche Philosophie charakterisieren ?«
Antwort: »Es hat sich mir gleich durch den besonderen Dreitakt sym-
bolisiert. Ich hörte drei Schläge: Poch, poch, poch. Der letzte war be-
sonders betont. Ich zählte auch eins, zwei, drei. Ich habe mir die Worte
Thesis, Antithesis, Synthesis gar nicht gesagt, ihr Wesen war mir im Drei-
takt gegeben.«
Hier finden wir eine abstrakte Bedeutung, akustisch, motorisch durch
einen Rhythmus symbolisiert.
III. Die Eigenart des symbolischen Schemas.
1. Der bloße Symbolcharakter.
Das Phänomen, welches in allen diesen Protokollen immer
wieder auftritt, zeigt ganz bestimmte charakteristische Züge.
Zu diesen gehört vor allem der bloße Symbolcharakter des
Bildes. Alle diese anschaulichen Gegebenheiten,
welche die Vp. unmittelbar erlebt, weisen hin auf einen
über ihr sinnliches Sein hinausgehenden ab-
strakten Gedankengehalt. Mehr noch. Schon die zu-
erst angeführten, gelegentlich entstandenen Schemata haben ge-
zeigt, daß die sinnlichen Bilder allein besehen, für jedermann
unverständlich sind, solange er den Gedanken nicht kennt, für
den sie stehen. Diese Beobachtung hat sich im Verlauf der
Versuche bestätigt.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 393
Dort, wo sinnliche Bilder sonst illustrativ auftreten, wird
irgendein konkreter Gegenstand, oder eine Situation aus der
Wahrnehmung herangezogen und zu dem darzustellenden ab-
strakten Gedankengehalt in Beziehung gesetzt, um diesen
gleichnisweise zu verdeutlichen.
Nr. 40. Um das Charakteristische am Wesen der Fichteschen Philo-
sophie befragt, vergegenwärtigt sich die Vp. einen Mann, der mit einem
Hammer auf eine Mauer klopft. Vom VI. befragt, was dieses Bild zu be-
deuten habe, sagt die Vp. das soll heißen: »Das Ich hat sich das Nichtich
geschaffen, um Material für sein Handeln zu haben.«
Jeder, der dieses Bild irgendwo gemalt oder gezeichnet sieht,
wird auch ohne Beziehung zur Fichteschen Philosophie sagen
können: Das Bild hat einen Sinn, das ist ein Mann, der mit
einem Hammer auf eine Mauer klopft. Dieses Bild hat also un-
abhängig von dem abstrakten Gedankengehalt, zu dem es durch
die Vp. in symbolische Beziehung gesetzt wurde, seinen eigenen
guten Sinn, seine Eigenbedeutung, wie wir es genannt haben. In
solchen Fällen sind es eigentlich immer zwei Be-
deutungen, aus denen die symbolische Beziehung
sich aufbaut: Die Eigenbedeutung irgendeines
konkreten Gegenstandes und der Sinngehalt eines
abstrakten Gedankens. Diese Art der Symbolisierung hat
Kant!°) charakterisiert, indem er sagt: es sind indirekte Dar-
stellungen »vermittels einer Analogie, in welcher die Urteilskraft
ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den
Gegenstand einer sinnlichen Vorstellung und zweitens die bloße
Regel der Reflektion über jene Anschauung, auf einen ganz
anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist,
anzuwenden«.
Ganz anders liegen die Verhältnisse in unserem speziellen
Falle einer Symbolisierung, wo ein abstrakter Gedankengehalt
an einem symbolischen Schema erfaßt wird und durch dieses
eine adäquate Darstellung erfährt. Diese Bilder haben
keine Eigenbedeutung; sie haben Bedeutung nur durch ihre
Funktion als Darstellungsmittel des Gedankens!!).
Ich verweise ‘auf Nr.29 »Zweck und Motiv«, wo das Schema allein un-
verständlich ist und nur dadurch sinnvoll wird, daß die Vp. bei jedem an-
10) Kant, Kritik der Urteilskraft, § 59: Von der Schönheit als Symbol
der Sittlichkeit.
11) Unsere experimentellen Ergebnisse decken sich hier vollständig mit den
Ausführungen von Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen
1923 S. 42. :
394 Auguste Flach,
schaulichen Detail, das sie heraushebt, spontan hinzufügt, was es bedeutet.
Die Formulierung im ersten Satz ist unverständlich ohne das Bid. Die Vp.
hat an diesem Bilde gedacht, und darum können wir auch nur an Hand des Bildes
verstehen, was die Vp. mit der so seltsam anmutenden Formulierung Bagen
will Sie hat das Verhältnis von Zweck und Motiv in biologischer Hinsicht
als eine Entwicklung aufgefaßt, welche vom Motiv zum Zweck und von da
zur Konsequenz, zum Ziel geht.
In Nr. 6 »Tausch« erlebt die Vp. das Moment des Geschehens, welches
den »Tausch« charakterisiert. Sie sagt: »Da vollzieht sich etwas. Auch die
Zweiheit, welche der Tausch voraussetzt, ist durch die beiden Ansätze ge-
geben. Das Band symbolisiert den Akt des Tausches, der die Zweiheit wer-
bindet. Endlich gibt die Vp. noch ein letztes Charakteristikum des Tausches
an: »Aus dem Schema ist noch etwas zu entnehmen, nämlich, daß keine der
beiden Richtungen bevorzugt ist.«
Wir sehen hier deutlich, wie der abstrakte Gehalt an an-
schaulichen Gegebenheiten erlebt wird. Diese anschaulichen Ge-
gebenheiten sind von einer Knappheit und Prägnanz, die uns wie
eine Anschauung gewordene Formel anmutet. Das Bild selbst
ist restlos von dem abstrakten Gehalt her aufgebaut und enthält
keine bedeutungsfreien, selbständigen Details.
Ich lasse weitere Beispiele folgen:
Nr.11. Nach dem Wesen alles Willensmäßigen, alles Begehrens gefragt,
antwortet die Vp.: »Es müssen Erlebnisse sein, die das Spezifische der
Richtung haben, das Ich als Quellpunkt.« Erlebt wurde diese Definition an
einem Schema. Die Vp. selbst sagt uns: »So eine Gerichtetheit, ein Streben,
ich bin darin in diesen Bewegungen der Pfeile, ich denke durchaus mit diesem
Schema.« .
Nr. 16 »Synthese«. Ein Netz, das sich pyramidenförmig zusammenzieht.
Die Vp. selbst gibt die Deutung: »Die Mehrheit als Ausgang und die Einheit
als Ende sind mir darin durch Basis und Spitze charakterisiert.«
Nr.15. Nach dem übergeordneten Begriff von »Hypothese und Theorie«
gefragt, kommt die Vp. zu dem übergeordneten Begriff: »Wegbahnung durch
Nichtgebahntes« auf Grund eines Schemas. »Sofort eine Linie, welche sich von
mir weg in schlangenförmigen Bewegungen fortschlängelte, als müßte sie
sich durch etwas hindurch erst den Weg bahnen.«
In Beispiel Nr. 26 »Heterogenie der Zwecke« sagt die Vp. selbst: »Das,
worauf es ankommt, war mir optisch symbolisiert.«
Nr.31 »Anpassung«. Das Bild hatte schon alles enthalten. Man mußte
nur lossprechen.
Nr.20 »Kontinuität«. »Es war sofort eine gerade Linie da. Ich gehe
entlang der Linie und erfasse im Entlanggehen, worauf es ankommt.«
In Nr. 8 macht die Vp. über das eben gehabte Erlebnis spontan
folgende Aussage: »Dieses Bild ist sinnvoll, bedeutungsvoll, ich kann die
einzelnen Stellen angeben, wo die Merkmale zu holen sind. Aus dem Un-
begrenzten ist herauszuholen das Merkmal des Unberechenbaren, dort müßte
man hinschauen, um das Merkmal des Unberechenbaren herauszuholen; an
dem Verhältnis zwischen Fläche und Ding da wäre die Stelle, wo ich die
zerstörende Wirkung, die vernichtende, die Größe der Kraft herausholen
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 395
müßte, dort liegt es an dieser Stelle, weitgehend, sinnerfüllt. Diese Sinn-
erfüllung führt zur Merkmalfindung. Ich kann dann das Merk-
mal bezeichnen, ich hole es heraus, wenn man so will.«
Diese Sinnerfüllung führt zum Erfassen der für den Ge-
danken konstitutiven Momente. Die Vp. sagt ganz ausdrück-
lich, daß sie durch die sinnliche Anschauung zur »Merkmal-
findung«, eben zu dieser Erfassung des Sinnes gekommen ist.
Diese konstitutiven Momente sind für sie an ganz bestimmten
Stellen dieses anschaulichen Gebildes lokalisiert. Diese Stellen
sind von dem Sinngehalt her determiniert. Von ihm aus können
wir die Konstruktion des anschaulichen Gebildes auflösen.
Dieses anschauliche Gebilde stellt nichts an-
deres dar alsein System ideeller, begrifflicher
Beziehungen, die dadurch erfaßt wurden, daß
sie die Vp. als bestimmte Relationen anschau-
licher Gegebenheiten erlebte,
Dadurch daß die Vp. am sinnlichen Bilde die Besonderheit
des abstrakten Gedankens unmittelbar erlebt, kommt eine der-
derartige Identifizierung von Bild und Gedanke zustande, daß
es die Vp. gar nicht begreift, wie es möglich ist, daß ein anderer
dieses Bild anders auffassen könnte, als sie es tut. Nr. 21
»Beaudelaire«. »Dieses Bild steht nur für Beaudelaire und
wird von nun ab für ihn immer repräsentativ sein. Ich versuche,
ob ich das Bild z. B. auf Wilde anwenden würde oder auf
Huysmans. Solche Widerstände,‘ als ob mir etwas Un-
logisches zugemutet werden würde.«
Für alle diese Bilder ist es bezeichnend, daß sie von dem
darzustellenden Gedankengehalt her restlos bestimmt sind. Von
diesem Gesichtspunkte der Sinnerfüllung habe ich mich leiten
lassen, als ich unter die symbolischen Schemata auch jene auf-
genommen habe, welche von außen gesehen, von dem fremden
Beschauer, solange er den dazugehörigen Gedankengehalt nicht
kennt, leicht als Kegel oder Kugel oder irgendein geometrisches
Gebilde bezeichnet werden können. Diese scheinbare Eigen-
bedeutung wird vom Erlebenden entweder gar nicht beachtet,
oder sie hat Symbolfunktion so wie in Nr. 13 »Kompromiß«
oder Nr.4 »Genua«.
2. Der produktive Charakter.
An den vorhin angeführten Protokollen läßt sich auch be-
reits das zweite Merkmal erkennen, das für alle symbolischen
396 Anguste Flach,
Schemata wesentlich ist, nämlich, daß an diesen Bildern
gedacht wird. Sie gehen aus dem Denkverlauf unmittel-
bar hervor und sind eine Erscheinungsweise des produktiven
Denkens. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Wissens-
aktualisierung im engeren Sinn, um eine bloße Reproduktion
eines fertigen Wissens, das im Gedächtnis bereit läge, sondern
die Vp. kommt mit der Symbolisierung und durch diese erst
zum Sinnverständnis. Das Erfassen des Sinngehaltes kommt
in der Symbolisierung dadurch zustande, daß die die besondere
Sinnstruktur aufbauenden Beziehungen der Vp. zuerst in an-
schaulichen (räumlichen) Gegebenheiten klar werden. In einem
anschaulichen Bilde ergibt sich unmittelbar das Verstehen des
Sinnzusammenhangs, das vorher noch nicht vorhanden war.
Es ist darum ein produktives Denken, das sich hier im Be-
reiche des Anschaulichen vollzieht, nur daß dieser Prozeß gleich-
sam an einem anderen Material zur Auswirkung gelangt. Die
Klarstellung und Abgrenzung des abstrakten Gedankengehaltes
erfolgt nicht in der begrifflichen, sondern in der sinnlichen
Sphäre.
3. Der räumliche Charakter.
Außer den beiden hier beschriebenen wesentlichen Merk-
malen ist es das Moment der räumlichen Gegebenheit, welches
alle diese Phänomene durchwegs aufweisen. Im symbolischen
Schema wird ein abstrakter Gedankengehalt dadurch erfaßt,
daß die ihn konstituierenden, ideellen Beziehungen in anschau-
licher Weise erlebt werden, und zwar, soweit ich es gefunden
habe, immer als räumliche Gegebenheiten.
Während in denjenigen Fällen, wo es sich um eine illu-
strierende Vorstellung handelt, der Raum bloß als Matrix fun-
giert, als Hintergrund und Untergrund, gleichsam als Bühne, in
welche die illustrierenden und symbolisierenden, anschaulichen
Gestaltungen hineingestellt sind, hat er in jenen Fällen, wo ein
symbolisches Schema vorliegt, Darstellungsfunktion, das heißt:
die räumlicnen Bestimmungen und Gestaltungen sind nicht nur
vorhanden, sondern sie sind geradezu die Träger und wesent-
lichen Versinnlichungen der abstrakten Beziehungen. Durch
die Verräumlichung dieser Beziehungen wird der abstrakte Ge-
dankengehalt erfaßt.
Besonders prägnant kommt die Funktion des Raumes als
Darstellungsmittel dort zum Ausdruck, wo ein Schema sich
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 397
allein aus den Mitteln räumlicher Bestimmungen aufbaut. Durch
bloße Abgrenzung, Verdichtung, Richtungsbestimmtheit, oder
dadurch, daß ein bestimmter Rhythmus in eine Raumgegend
eingeht, findet ein abstrakter Gedankengehalt eine sinnliche
Darstellung.
So ist es z. B. in folgendem Fall, wo die Vp. gefragt wird: Wie würden,
Sie das charakterisieren, was man als »neu« bezeichnet? »Ich erfasse das als
neu, was mir nicht bekannt ist.« Indem ich dies sage, habe ich folgendes
Bild: Ich sehe einen poligonen weißen, gleichsam leeren Fleck, der dadurch
entsteht, daß in unregelmäßiger Weise ein anderes Terrain ihn begrenzt,
von dem ich weiß, daß es das Terrain des Bekannten, irgendwie Gestalteten
ist. Der Fleck symbolisiert mir das Neue. Die Grenzgestaltung des Be-
kannten bedingt die Gestaltung desjenigen, was wir das Neue nennen. Das
ist die symbolische Bedeutung dieser Grenzlinie. Das Neue ist gleichzeitig
auch das noch nicht Gestaltete, »gleichsam Leere«.
Fig. 10.
Die einzige Gestaltung, die es erfährt, ist die von der Grenze her, die
Gestaltung durch das Bekannte. Es entsteht charakteristischerweise da-
durch, daß das Bekannte (graue Terrain) aufhört. So erfährt das Neue
seine charakteristische erste Gestaltung durch die Grenze des Bekannten.
Die Grenze des Bekannten determiniert hier die Gestaltung des Unbekannten,
des Neuen.
Ebenso wird in Nr.34 von der Vp., die gefragt wird: »Was verstehen
wir unter Anthropomorphismus«, das Religiöse an einem Schema erlebt, das
nur aus räumlichen Bestimmungen allein sich aufbaut. »Das Weite ist ge-
geben, das Nach-Oben ist da, der Horizont, die Fläche mit Horizont, und
über den Horizont kann sich der Blick heben, um zu suchen; es tritt mir
nicht entgegen, ich habe nur die Gegenden, die ich ausnützen könnte für
meine Zwecke, sie werden aber nicht ausgenützt, sie werden nicht differen-
ziert. Es ist in erster Linie das Religiöse, aber es ist noch offen gelassen,
was da noch ist.«
Oder Versuch Nr.19. Hier wird der Vp. das Wesen der »Kontinuität«
an einem symbolischen Schema anschaulich. Sie beschreibt das, was sie sieht,
indem sie sagt: »Es ist etwas Langlaufendes, das sich perspektivisch ver-
398 Auguste Flach,
liert, vor mich hin, von mir weg, dunkler werdend nach rückwärts, ähnlich
wie ein ganz langer Gang, der durch das Verschwinden in der Unendlichkeit
finster wird. Ein Sich-Verlieren durch das Unaufhörliche aus Mangel an
Verfolgungsmöglichkeit.
Nr. 28: »Was verstehen wir unter Altruismus?« Die Vp. hat anschaulich
eine Richtung gegeben, das Hinübergehen zu einem anderen, der nicht ge-
geben ist. »Eine bogenmäßige Richtung ist das. Der Schwerpunkt des Altruisten
liegt nicht in ihm selbst, sondern am Ende des Bogens, dort hat er seine
Direktiven, dort pflegt er.« ;
In all diesen Beispielen ist das Schema aus räumlichen Be-
stimmungen, in die allenthalben noch Bewegung mit eingeht,
aufgebaut. Der Raum selbst wird zu einem plastischen Medium,
dessen sich der Gedanke zu seiner Gestaltung bedient.
Von diesen Fällen werden wir jene zu unterscheiden haben,
wo ein abstrakter Gedankengehalt an einer bestimmten Stelle
im Raum lokalisiert erscheint, ohne daß durch diese Lokali-
sation der Gedanke selbst näher charakterisiert werden würde.
Diese Lokalisationen sind går nichts anderes als Haftpunkte
für das Denken, das an diesen räumlichen Bestimmtheiten ein-
setzen und sich an ihnen wie an wirklichen Gegenständen be-
tätigen kann.
Zum Beispiel Versuch Nr. 86.
»Verstehen Sie und geben Sie zu Protokoll, wie sich dieses
Verstehen vollzogen hat.«
»Man muß die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele
heilen.« »Dieser Zwefheitskomplex, Sinne und Seele, und dann Gesundheit
dazu, das ist mir gegenwärtig und ich arbeite mit ihm. Ich sehe dabei, das
kann ich mit Bestimmtheit sagen, eine Ortsunterscheidung, Sinne rechts und
Seele links, Sinne mehr punktuell und die Seele das ist das Raumhaftere.
Eine Spaltung ist bei den Sinnen da. Die Seele ist wie eine einseitige runde
Grenzlinie, etwas weit Offenes. Das Heilen, das Gesundsein war nicht in der
Anschauung, ich hätte es aus einem anschaulichen Moment nicht nehmen
können. Die räumliche Differenzierung gibt mir eine Stütze
für das Denken; daß ich hin- und hergehen kann, das muß ich machen
bei diesem Denken.« Die Stütze, von der die Vp. spricht, besteht nur in
einer getrennten Lokalisation im Vorstellungsraum.
Nr. 37.
»Können Sie mir eine ganz kurze vergleichende Charakteristik
geben? Renaissance — Reformation.«
»Sofort ein Gefühl der Sympathie, dann inmitten vieler Anklänge pn
Wissen folgendes Bild: Ein horizontaler Strich. An einem Ende Reformation,
aber nicht anschaulich, nur ein Wissen davon, am anderen Ende Renaissance.
Die beiden Termini haben die Plätze gewechselt, ohne daß es störend auf-
gefallen wäre. Das Schema war mehr eine Begleiterscheinung, keine Hilfe
für die Lösung der Aufgabe.«x Vl.: »Glauben Sie, daß mit dem Strich etwas
gemeint war?« »Wenn es etwas bedeutete, so war es nur das Obwalten
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 399
einer Beziehung, die erst herausgearbeitet werden sollte, ein Aufgabe-
symbol«
Die Vp. nennt diesen Strich ein Aufgabesymbol und be-
zeichnei damit ganz richtig, daß die Symbolisierung sich hier
nur auf die Aufgabenstellung bezieht. Die Vp. betont auch,
daß diese Art der Veranschaulichung »mehr eine Begleiterschei-
nung, keine Hilfe für die Lösung der Aufgabe« sei.
Hierher gehören auch alle diejenigen Fälle, die Botju
Schanoff:?) beschrieben hat. Auch die Schemata, die dieser
bei seinen Vpn. beobachten konnte, dienten nur der Fixierung
von Aufgaben: »Die optischen Zahlen dienen als gewisse An-
haltspunkte beim Rechnen. So wird das Behalten
gewisser Zwischenzahlen durch das Schema erleichtert:
Soweit die Zahlen nicht durch Ziffern repräsentiert sind, ist
das Schema eine Höhe, eine Linie, eine Strecke, welcher eine
bestimmte Länge zukommt. Das Schema spielt während
des Ausrechnens entweder keine Rolle oder dient nur zur
Bestimmung der Größe der inzwischen gewonnenen
Zahlen, indem die Vp. weiß, wo ungefähr im Schema
die betreffende Zahl liegt.«
Ich möchte diese Fälle, wo die räumliche Lokalisation nichts
beiträgt zur Lösung der Aufgabe, nicht als symbolische
Schemata in unserem Sinn bezeichnen, sondern sie vielmehr zur
- Gruppe der Denkillustrierung rechnen. Wir werden diese Art
der Veranschaulichung im Kapitel über die Diagramme noch
ausführlich besprechen.
Um den Unterschied zwischen dem Schema und der bloßen
Lokalisation im Vorstellungsraum ganz klar werden zu lassen,
wollen wir noch ein Beispiel anführen, welches Messer in
seiner Arbeit »Experimentellpsychologische Untersuchungen über
das Denken« (Archiv für die gesamte Psychologie Bd.8) ver-
öffentlicht hat. Bei den Reizworten »Zweck—Motiv« »Bild
eines Schemas, wo Zweck rechts von einem Mittelpunkt ist
und Motiv links, und Bewußtsein: Motiv treibt nach
rechts, Zweck zielt nach rechts«. Das ist ein Fall,
den man bei flüchtiger Betrachtung leicht für eine bloße Lo-
kalisation halten könnte. Genauer besehen ist das ein richtiges
symbolisches Schema. Es kommt hier durch die Lokalisation
12) Botju Schanoff, Die Vorgänge des Rechnens, Monographien von
Meumann Bd.11, Jahrg. 1911.
400 Auguste Flach,
und die Bewegung, welche in sie eingeht, zur Darstellung des
Gedankengehaltes. Es wird an und mit dieser Lokalisation
gedacht. Durch die räumliche Getrenntheit und gleiche Ziel-
strebigkeit von Zweck und Motiv wird deren gegenseitige Be-
ziehung zum Ausdruck gebracht und damit ist die symbolische
Darstellung des Sinngehaltes gegeben.
Die Orientierung des Geistigen am Räumlichen entspricht
einer uralten Gepflogenheit unseres Geistes. »Noch in den
höchstentwickelten Sprachen begegnet uns die metaphorische
Wiedergabe geistiger Bestimmungen durch räumliche. Wie sich
im Deutschen dieser Zusammenhang in den Ausdrücken des
Vorstellens und Verstehens, des Begreifens, des Begründens,
‚des Erörterns usw., wirksam erweist!?).« Es ist interessant,
zu sehen, daß diese selbe Funktion, die in der Sprache ihren
Niederschlag gefunden hat, noch heute in uns lebendig ist und
dort zum Ausdrucke kommt, wo ein Gedanke in unmittelbar
anschaulicher Weise an einem symbolischen Schema erfaßt
wird.
4. Der motorische Charakter.
Ein weiteres Moment, dem am Zustandekommen der sym-
bolischen Schemata eine wichtige Rolle zuzufallen scheint, ist
das motorische. Während aber die räumliche Gegebenheit ein
wesentliches Merkmal ist, möchte ich die Frage, ob das '
Motorische als ein durchgängiges Merkmal zu bezeichnen
ist, noch offen lassen. Was meine eigenen Schemata anlangt,
so muß ich sagen, daß sie durchwegs motorische Elemente
enthalten, was aber darauf zurückgeführt werden könnte, daß
ich vielleicht stark motorisch veranlagt bin. Tatsächlich dürften
ja hier große individuelle Differenzen bestehen.
Die Angaben der Vpn. lassen den Tatbestand: War das
Vorliegende motorisch oder nicht gegeben, nicht
ıimmereindeutigerkennen. Ich zitiere zwei Protokolle
ein und derselben Vp., welche widersprechende Angaben zu
enthalten scheinen, wo wir aber durch die Angaben, welche die
Vp. im zweiten Protokoll macht, den scheinbaren Widerspruch
werden auflösen können.
»Es war so etwas wie ein Netz, das sich pyramidenförmig zusammen-
zieht.« »Die Mehrheit als Ausgang und die Einheit als Ende sind darin durch
13) Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1923.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 401
Basis und Spitze charakterisiert. In einem Nachsatz fügt die Vp. spontan
hinzu: »Nichts Dynamisches, nichts von Geschehen war darin, ich könnte
dieses nicht ablesen daraus.« (Nr, 16 »Synthese«.)'
»Da ist ein Band, da vollzieht sich etwas. Ich brauche für das
Band nur den Ansatz. Das Bild war fertig da. Daß hin- und her-
gegangen wird, lag in der Bedeutung, nicht im Bild. Ich sage
zwischen beiden geschieht etwas; es hätte das Wechselverhältnis hinein-
kommen können, dadurch, daß Bewegung hineingekommen wäre.«
(Nr. 6 »Tausch«,)
Die Vp. hat dieses Bild Nr.6 und wahrscheinlich auch
Nr. 16 als von vornherein fertiges statisch erlebt. Das Wechsel-
verhältnis dieses »da geschieht etwas« war nur gedacht und
nicht als Bewegung erlebt worden. Damit ist aber nicht aus-
geschlossen, daß doch Motorisches hier mitgespielt haben mag,
Augenbewegungen oder motorische Impulse, welche nicht aus-
geführt wurden und sich nur in dem Gedanken »da geschieht
etwas«, »da vollzieht sich etwas« ausgewirkt haben.
Vielleicht gibt es symbolische Schemata, wo jedes motorische
Moment fehlt. Andererseits ist die Annahme durchaus nicht
von der Hand zu weisen, daß selbst dort, wo die Vp. über mo-
torische Erlebnisse selbst keine Angaben machen kann, moto-
rische Impulse bei der Erfassung des Gedankens mitgewirkt
‘ haben mögen. Diese Annahme erscheint uns immerhin plausibel,
wenn wir uns vergegenwärtigen, daß das Denken zum Tun in
ganz naher Beziehung steht. Namhafte Forscher sind bei ihren
phylogenetischen und ontogenetischen Studien immer wieder
darauf gestoßen. Stöhr hat das Entstehen der Begriffe aus
der unmittelbaren Reaktion abgeleitet. »Das physisch Zerwerf-
bare«, so sagt er, »ist der Begriff des Vielen. Dem steht der
Begriff dessen gegenüber, was dem Zerwerfungsversuch einen
fühlbaren Widerstand entgegensetzt. Das physisch Kohärente
kann nicht zerworfen werden, es kann höchstens zerbrochen
werden. »In dieser Weise können wir alles, das kohärent
ist, einerseits unter seinen besonderen Begriff bringen, wie
Hut oder Haus oder Messer, und außerdem unter den Begriff
des Eins = des Unzerwerfbaren !*).« Paul Schilder!5) weist
in seiner »Medizinischen Psychologie wiederholt darauf hin,
daß es eigentlich kein interesseloses Denken gibt: »Begriffe sind
ideelle Haftpunkte für das Handeln. Man kann das Wesen
des Begriffes nicht verstehen, wenn man sich nicht klarmacht,
14) Stöhr, Lehrbuch der Logik S. 12.
15) Paul Schilder, Medizinische Psychologie, Berlin 1924, S. 197.
Archiv für Psychologie. LII. 26
402 Auguste Flach,
daß sie die Grundlage für mögliche Handlungen abgeben. Man
sieht aber sogleich, daß gerade das Bedeutungserlebnis zum
Handeln besonders enge Beziehungen haben muß.« Vielleicht
hat die sinnliche Gestaltung des abstrakten Gedankens im Raum
auch den biologischen Wert, daß so aus der Anschauung im
Raum heraus besser Angriffspunkte für unser Handeln ge-
wonnen werden können. Tatsächlich sehen wir, daß es sym-
bolische Schemata gibt, wo die Erfassung des Sinngehaltes
offensichtlich am Tun, am Handeln, an der Handhabung der
Dinge orientiert ist. Es sind die biologisch wichtigen Punkte,
welche in solch einem Schema festgehalten werden und welche
die Grundlage abgeben, den besonderen Gesichtspunkt, von .dem
aus der Aufbau des abstrakten Gedankens erfolgt ist...
Ich möchte in denjenigen Fällen, wo die abstrakte Be-
deutung durch unsere Reaktion auf den Gegenstand bestimmt
ist von einer pragmatischen Sinnerfassung sprechen.
In der pragmatischen Erfassung wird das motorische Element
direkt aufbauend für den abstrakten Gedankengehalt.
Wenn ich irgend jemand frage, »was ist das, eine Wendel-
treppe?«, so wird jeder rasch mit der Hand von unten nach
oben in der Luft eine Spirale beschreiben: »So etwas«, »das
ist eine Wendeltreppe.« In dieser spiralen, nach oben zu sich
verjüngenden Bewegung konstruiert er gleichsam die Wendel-
treppe, und zwar nicht abstrakt auf dem Wege der Gleichung,
sondern schaffend in der ausführenden Bewegung, im kon-
struierenden Akt wird das erfaßt, was das Wesen der Wendel-
treppe ausmacht.
Auch bei unseren Versuchen finden wir, wie im Beispiel
von der Wendeltreppe, daß die Vp. ganz unmittelbar mit einer
Bewegung reagiert, in welcher sie die Besonderheit irgendeines
Sachverhaltes zur Darstellung bringt.
Nr.17 »Chaos«. Vp. macht sofort eine wirbelnde Bewegung mit beiden
Händen. Antwort: »So etwas, eine vollkommen ungeordnete Masse jeder Art.«
Nr.24 »Demut«. »Sofort die motorische Tendenz den Kopf zu senken
und eine demütige Haltung einzunehmen.«
Nr. 14 »Kompromiß«. »Ich hatte die Vorstellung von zwei Körpern, die
sich von der Seite zusammenschieben und sich ineinandersaugen. Die Be-
wegung habe ich mit den Händen mitgemacht.«
Nr. 11 »Begehren«. »Ich hatte ein Gefühl im Nacken, ein Gefühl des
Hingezogenwerdens zum begehrten Gegenstand.«
Nr.12 »Religiosität«. Die Bewegung soll die Funktion des Religiösen
in einem eigenartig aufstrebenden Rhythmus einer Gerichtetheit nach oben
darstellen.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 403
Dieses Erfassen eines objektiven Soseins im Tun ist vor
allem dadurch charakterisiert, daß die Bewegung, die wir aus-
führen, die konstruktive Bewegung ist, die wir .mit-
machen, in der wir die diesem Sein immanente Gesetzmäßig-
keit miterleben. In der Zwangsläufigkeit der ausgeführten
Bewegung findet das Erleben der Eigenart einer Gestalt seinen
unmittelbaren, beinahe reflexhaften Ausdruck. Wir werden,
wenn wir eine Gestalt erfassen wollen, sie unwillkürlich nach-
machen, sie abtasten oder durchfahren. Dieses Abtasten oder
Durchfahren wird nur in einer der Besonderheit ‚dieser Gestalt
adäquaten Weise möglich sein. Es wird z.B. im Falle einer
antiken Plastik anders sein, als einer barocken. Es wird ein
ganz bestimmter Rhythmus sein, der einer bestimmten Gestalt
entspricht und allein ihr Wesen zur Darstellung bringen kann.
Indem wir diesen Rhythmus nachmachen, erleben wir die Eigen-
art der Gestalt ganz unmittelbar. »Zum Begreifen des Kreises«,
sagt Stöhr!®), »gehört es, daß zum gegebenen Kreise eine
wenn auch noch so primitive Art seiner Erzeugung hinzu vor-
gestellt wird.« Statt eines Zirkels tut es auch ein Pflock in
der Erde, woran eine Schnur gebunden ist. Schließlich genügt
ein ` Stock allein, mit dem im Lehm drehrunde Löcher gebohrt
werden können !?),
»Immer handelt es sich um die era
der Figur, diezur Figur hinzugedacht wird, wie
die Bewegung zur hinterlassenen Spur.«
Ergänzend ist hier noch hinzuzufügen, daß das Motorische
auch als Bildbestandteil in einen Bildzusammenhang eingehen
kann. Das kann sowohl bei Denkillustrierung als auch in einem
symbolischen Schema der Fall sein. Sehr häufig ist in beiden
Fällen Motorisches dadurch gegeben, daß das Bild im Augen-
blick entsteht und nicht auf einmal fertig da ist.
Wir wollen die Besprechung der charakteristischen Merk-
male nicht schließen, ohne zu erwähnen, daß unsere Vpn. auch
vielfach über Synästhesien berichten, über verschiedene Körper-
sensationen, welche sie gleichzeitig mit dem Erfassen eines ab-
16) Adolf Stöhr, Lehrbuch der Logik S. 9.
17) Ich verweise auf die Untersuchungen von K. Groos (Der ästhetische
Genuß 1902; derselbe, Das innere Miterleben und die Empfindungen aus dem
Körperinnern, Zeitschr. f. Ästhetik 4), der in diesem Nachmachen der kon-
struktiven Bewegung, welche er die »innere Nachahmung« nannte, einen für das
ästhetische Erfassen wesentlichen Faktor erkannt hat.
26*
404 Auguste Flach,
strakten Gedankens erleben. Z. B. sagt die Vp. einmal, »sie spüre
ordentlich die Weichheit des Materials«. (Sie hatte einen Teppich
vorgestellt, auf dem eine Flüssigkeit ausgegossen war.) In einem
anderen Falle: es werden Kugeln in die Luft geworfen, die Vp.
fühlt körperlich den Widerstand, welchen die Luft den auffliegen-
den Kugeln entgegensetzt, so daß diese nicht höher fliegen können.
Wir sind auf diese Synästhesien in unseren Ausführungen nicht
näher eingegangen, weil es sich gezeigt hat, daß diese Phäno-
mene dem anschaulichen Erleben überhaupt eigen sind und
kein Merkmal darstellen, welches für das symbolische Schema
als solches besonders charakteristisch wäre. Sie kommen ebenso
gut im Falle der Denkillustrierung bei bloßen Assoziationen vor 18).
Nachdem wir nun die Merkmale der symbolischen Schemata
besprochen haben, möchten wir noch darauf verweisen, daß die
symbolischen Schemata nicht immer bloß als flüchtige momen-
tane Produkte im Denkverlauf auftreten, sondern daß sie auch
dauernd einen Platz im Bewußtsein erlangen können. Das bei
dem ersten Erfassen eines Gedankens aufgetauchte Schema
kann konstant werden und sich immer wieder einstellen, wenn
der betreffende Gedanke auftritt. Beispiel Nr.3. Auch dieser
Konstantencharakter ist nicht nur dem Schema eigentümlich,
sondern kommt ebenso in Fällen von Denkillustrierung vor.
Beispiel Nr. 40.
IV. Die aufbauenden Faktoren des symbolischen
Schemas.
Es wird nun unsere Aufgabe sein, zu zeigen, welches eigent-
lich die Faktoren sind, auf Grund deren das symbolische Schema
selbst sich aufbaut.
1. Der objektive Faktor: der abstrakte Gedankengehalt.
Da ist vor allem der abstrakte Gedankengehalt, der in dem
symbolischen Schema eine sinnliche Darstellung findet. Er
wird erlebt, als der objektive Sinn, auf dessen Klarstellung
die Vp. gerichtet ist. Dieser Sinn kann begrifflich formuliert
gegeben sein, wie in den meisten Fragestellungen bei unseren
18) Vgl. Schwiete, Über die psychologische Repräsentation der Be-
griffe, Arch. f. d. ges. Psychologie Nr. 19.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 405
Versuchen, oder als Problemstellung, wie im Falle Kekule.
Er kann aber auch als ein reicher Gedankenkomplex auftreten,
um dessen Klarstellung und Präzisierung die Vp. bemüht ist.
. Wie kommt es, daß dieser objektive Sinn gerade in diesem
individuellen, anschaulichen Bilde seine adäquate Darstellung
erfährt? Das kommt daher, daß alle diese Linien und Kurven,
aus denen das individuelle, anschauliche Bild sich aufbaut,
nichts anderes sind, als die räumliche Darstellung derjenigen
ıdeellen Relationen, welche den abstrakten Gedankengehalt kon-
stituieren. Betrachten wir daraufhin einige Protokolle.
‚In Nr.6 erlebt die Vp. den abstrakten Sinn »Tausch« als ein Ge-
schehen, das zwischen zwei Ansatzstellen sich vollzieht. Die Beziehung selbst
wird durch ein Band symbolisiert. »Aus dem Schema ist noch etwas zu
entnehmen, nämlich daß keine der beiden Richtungen bevorzugt ist.«
In Nr.10 faßt die Vp. den Begriff des Sollens auf als eine Beziehung,
zwischen dem Sein und dem was nicht ist, und doch ist im gewissen Sinn,
nämlich als Norm. Die Beziehung stellt sich die Vp. als einen Abgrund dar,
»dieser Abgrund und das Hinüberlangen ist mir das Wesentliche am Sollen«.
Ebenso Nr. 11. Das Begehren wird hier durch Beziehungen Hargestellt,
die von einem Punkt ausgehen und das Spezifische der Richtung
haben. »Das Ich als Quellpunkt.«
In Nr. 16 wird der Begriff »Synthese«x durch ein pyramidenförmiges
Netz symbolisiert, das die Beziehungen darstellt, welche von einer Mehrheit
ausgehen und in einer Spitze vereinigt werden.
In Nr. 8 »Gewalt« heißt es: »In dem Verhältnis dieses Etwas, das ich
erst mathematische Fläche, dann Wolke nannte, zu dem Haus liegt be-
schlossen die Bedeutung von Gewalt. Ich suche dann ein Wort und es drängt
sich mir unberechenbar auf, gleich darauf aber kam überwältigen. Dieses
Verhältnis, von dem ich früher sprach, war Kraft, so kam ich zu über-
wältigender Kraft.
In Nr. 12 wird das Religiöse in einer von unten nach oben ;weisenden
Bewegung durch die Beziehung zu Gott symbolisiert.
Ich verweise ferner auf: Nr. 22, 13, 14, 17, 30 und 31.
Aus diesen Beispielen geht deutlich hervor, daß es immer
Beziehungen sind, die hier dargestellt werden. In diesen Be-
ziehungen wird der aufgegebene abstrakte Sinn gedacht. Der
Gedanke wird durch das Gerüst der ihn kon-
stituierenden Beziehungen gedacht, und diese
abstrakten, ideellen Relationen werden der Vp.
dadurch klar, daßsiesie zu sinnlich wahrnehnm-
baren Verhältnissen im Raum konkretisiert und
sie als räumliche Ordnung erfaßt.
Die anschaulichen Gestaltungen, in denen die Beziehungen
bewußt werden, sind wohl individuelle, aber darum doch nicht
406 Auguste Flach,
völlig freie und willkürliche. Inihnenkommen ob-
jektive, sachliche Verhältnisse zum Ausdruck.
Wir haben damit wohl eine Verräumlichung des Geistigen vor
uns, die aber darum doch einer Denkillustrierung nicht gleichzu-
setzen ist. Denn im Falle des Schemas sind nur die abstrakten
Beziehungen versinnlicht, während die Denkillustrierung die ab-
strakten Beziehungen in Konkretisierungen darstellt.
Das Erfassen des Gedankengehaltes im Falle eines symbo-
lischen Schemas geht nicht so vor sich wie in den Fällen von
Wissensaktualisierung — durch Einordnung in schon Bekanntes,
durch Subsumtion oder Folgerung, sondern es wird unmittelbar die
Zusammengehörigkeit von Beziehungen zu einem Sinnzusammen-
hang erfaßt.
Aus dieser hier beschriebenen Erlebnisweise heraus begreifen
wir nun die beiden Merkmale, welche wir als die für alle
symbolischen Schemata wesentlichen haben aufzeigen können.
1. Die Tatsache, daß es produktive Denkvorgänge sind, die
sich hier im Bereiche des Anschaulichen vollziehen, die Vp.
sagt selbst, daß sie an dem Schema gedacht hat, was auch
daraus hervorgeht, daß jedes einzelne räumliche Datum, welches
wir an diesem anschaulichen Gebilde herausheben können, von
dem Sinn her bestimmt ist. 2. Die Sinnerfülltheit des an-
schaulichen Bildes, welche so weit geht, daß das anschaulich
Gegebene nur Darstellungsfunktion hat und ohne den dazu-
gehörigen Gedankengehalt unverständlich ist.
Wenn wir auf diesen phänomenologischen Tatbestand eine
allgemeine Theorie des Denkens aufbauen wollten, so könnten
wir sagen: Wir können nicht isoliert, d.h. losgelöst aus
dem sachlichen Zusammenhang, in den jedes Sein naturnot-
wendig gestellt ist, denken. Wenn wir von einem einzelnen
isolierten Gegenstand sprechen, so ist das bereits das Resultat
einer Abstraktion. Wir können wohl isoliert vorstellen, wobei
ich unter Vorstellung die Reproduktion von irgend etwas wahr-
nehmungsmäßig Gegebenem verstehe, die dieses mit all den
unwesentlichen, zufälligen Details, die ihm anhaften, wiedergibt.
Dort aber, wo wir ein Sein im Denken gleichsam erst schaffen,
müssen wir es notwendig in Beziehung setzen zu anderem. Ein
Sein denkend erfassen, heißt Dieses in seiner Besonderheit
dadurch erkennen, daß wir es aus dem Zusammenhang heraus
bestimmt finden, in den es gestellt ist. Erlebnismäßig ist uns
auch, wenn wir einen abstrakten Gegenstand erfassen wollen,
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 407
dieses sachliche System von Beziehungen gegenwärtig, aus dem
heraus wir ihn begreifen müssen. Ja dieser Gegenstand ist
vielleicht gar nichts anderes als ein bestimmter Stellenwert in
einem solchen System von Beziehungen.
Wie der Punkt als einfache und einzelne Lage immer nur
im Raum, das heißt logisch gesprochen unter Voraussetzung
eines Systems von Lagebestimmungen möglich ist, — wie der
Gedanke des zeitlichen »Jetzt« nur in Rücksicht auf eine Reihe
von Momenten und auf die Ordnung und Folge des Nachein-
ander, die wir »Zeit« nennen, sich bestimmen läßt, so gilt das
gleiche auch für das Ding- und Eigenschaftsverhältnis. Jedes
Einzelne gehört hier schon einem Komplex an und bringt die
Regel dieses Komplexes in sich zum Ausdruck +°).
Wir können hier auf eine Diskussion dieser speziellen
Theorie vom Denkverlauf nicht näher eingehen und setzen
unsere Analyse des symbolischen Schemas fort.
2. Der subjektive Faktor: die individuelle Vorbereitung.
Es hat sich bei unseren Versuchen gezeigt, daß ein und
derselbe objektive Gedankengehalt von den verschiedenen Vpn.
eine verschiedene Auffassung und Darstellung erfahren hat.
So sieht das symbolische Schema, durch welches die Vp. im
Protokoll Nr.18 den Begriff »Chaos« charakterisiert, anders
aus als jenes von Nr.17, wo eine andere Vp. von demselben
gemeinten Denkgegenstand eine Darstellung entwirft. Nr.17
definiert das »Chaotische« als »eine ungeordnete Masse jeder
Art«, und dieses Ungeordnete wird der Vp. anschaulich durch
eine in sich geschlossene Bewegung, in der Wolken oder Ge-
därme sich verknäulen. Nr.18 faßt »Chaos« auf als das Un-
geformte, Ungeschaffene, das bewegt ist, aus dem noch alles
werden kann, gegenüber dem Geschaffenen, Geformten, das
durch eine glatte Fläche von diesem getrennt ist. Nr.23 sieht
das Wesen des »Expressionismus« von dem des Impressionismus
unterschieden durch die verschiedene Weise der Wiedergabe.
Nr. 22 hat den Expressionismus als Ausdruckskunst aufgefaßt.
Der Expressionismus ist für sie vor allem durch das Problem
charakterisiert, wie das, was seinem Wesen nach Kundgabe ist,
Darstellung werden soll. Für die Vp. in Nr.33 ist die»Hegel-
19) Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen S. 39.
408 Auguste Flach,
sche Philosophie« vor allem durch den Dreitakt, die Dreiteilung
von Thesis, Antithesis und Synthesis charakterisiert, während
eine andere Vp. in Nr.22 das Wesen der Hegelschen Philo-
sophie in dem aprioristischen Konstruieren, dem »nicht auf den
Tatsachen fußen« sieht.
Diese individuellen Differenzen in der Auffassung und Dar-
stellung des objektiven Gedankens gehen aus dem zweiten
Moment hervor, welches für die Konstruktion des symbolischen
Schemas von entscheidender Wichtigkeit ist: aus der mo-
mentanen Gesamthaltung des Individuums.
Wenn wir die Sachlage durch die Begriffsbildungen aus-
drücken wollen, in denen Husserl?) den einen abstrakten
Gegenstand von den verschiedenen Bedeutungen unterscheidet,
durch die er gemeint wird, so können wir sagen: durch die
seelische Situation, welche in dem Augenblick gegeben ist, in
welchem die Vp. auf die Erfassung des objektiven Sinnes ge-
richtet ist, wird unter den verschiedenen möglichen Bedeutungen
eines abstrakten Gegenstandes diejenige ausgewählt, für welche
die Vp. eine gewisse Vorbereitung besitzt. Die Vorbereitung
selbst setzt sich einerseits aus momentanen Eindrücken zu-
sammen, vielleicht daß auch kurz vorher Erlebtes manchmal
noch perseveriert, andererseits wird sie als dispositive Vor-
bereitung ihre Wurzeln tief in der Vergangenheit, in der Eigen-
art und dem Schicksal des Individuums haben. Die spezielle
Vorbildung des Einzelnen, seine intellektuellen und affektiven
Dispositionen, mit welchen er an den Gedanken herantritt,
werden für die besondere Erfassung maßgebend sein.
Ich kenne die Vp. des Protokolles Nr.10 genau und weiß,
dab das, was sie in diesem Protokoll ausspricht, der Ausdruck
eines jahrelangen Ringens um eine Lösung ist. Um das Wesen
des »Sollens« befragt, antwortet die Vp.: »Zwischen dem Sein
und Sollen ist ein Abgrund. Dieser Abgrund und das Hinüber-
langen ist mir das Wesentlichste am Sollen.«
Wenn für die Vp. des Protokolles Nr.14 dieses Etwas,
welches den Kompromiß symbolisiert, eine schmutzige, grau-
grüne Farbe hat, so ist das kein zufälliges, gleichgültiges
Detail, wie es überhaupt innerhalb des symbolischen Schemas
nichts Zufälliges und nichts Gleichgültiges gibt. Mit dieser
20) Edmund Husserl, Logische Untersuchungen 2. Teil.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 409
Farbe charakterisiert die Vp. das Wesen des Kompromisses,
und diese Farbe ist determiniert durch die Auffassung der
Vp., für die der Kompromiß etwas Schmutziges ist. Ich hatte
Gelegenheit, Einblick in das Seelenleben dieser Vp. zu ge-
winnen, und weiß, daß sie unter einem ständigen Seelenkonflikt
schwer leidet, weil sie gezwungen ist, mit Rücksicht auf ihre
Umgebung immer wieder einen Kompromiß einzugehen, den sie
verabscheut und als unwürdig empfindet.
Es wird vielleicht selten möglich sein, die tieferen Wurzeln
eines symbolischen Schemas aufzudecken, erstens setzt dies eine
genaue Kenntnis der Eigenart und des Schicksals der Vp. vor-
aus, und zweitens wird es nicht häufig vorkommen, daß wir
mit der Aufgabe um Klarstellung eines abstrakten Gedankens
gerade auf einen Komplex im Seelenleben dieses Individuums
auftreffen.
Trotzdem habe ich auf Grund meiner Untersuchungen die
Überzeugung gewonnen, daß das symbolische Schema seine in-
dividualgeschichtlichen Wurzeln hat. Namentlich von Kon-
stantenbildungen von denselben perennierenden, immer wieder-
kehrenden, gleichen Visualisationen bestimmter Gedanken lassen
sich für die Tiefenpsychologie wertvolle individualgeschichtliche
Aufschlüsse erwarten.
Die besondere individuelle Vorbereitung wirkt
determinierend auf das inhaltliche Erfassen des
Gedankens. Durch sie geht ein subjektives Moment ein in die
Darstellung des objektiven Sinngehaltes. Ich möchte hier noch
einmal auf die logisch-erkenntnistheoretische Grundlage solcher
Sinnerfassung zurückgreifen, die ich vorhin mit dem Hinweis
auf Husserls Begriffsbildungen formuliert habe2!). In der
Aufgabenstellung ist ein überindividuelles Moment dadurch ge-
geben, daß es ein objektiver Sachverhalt ist, um dessen Klar-
stellung gefragt wird. Darum habe ich, wenn ich die gleichen
Fragen einer größeren Anzahl von Vpn. vorlegte, immer wesent-
liche Übereinstimmungen in den Antworten bekommen. Die
Aufgabenstellung bezieht sich auf den einen abstrakten Gegen-
stand (im Sinne Husserls), z. B. das Verhältnis von Motiv
und Zweck. Diesen intendieren so und so viele Bedeutungen.
Die eine Vp. wird dieses Verhältnis psychologisch fassen, die
21) Edmund Husserl, Logische Untersuchungen 2. Teil.
410 Auguste Flach,
andere vielleicht juridisch., Daß überall dort, wo ein Begriff
gedacht wird, ein objektiver Sachverhalt intendiert wird, läßt
sich deutlich erkennen, wenn wir diese Fälle mit jenen Kon-
trastieren, wo etwas anderes als ein Begriff gemeint ist.
Wenn ich meiner Vp. einen Eigennamen zurufe, z. B.
»Marie«, so ist ein ganz anderer Tatbestand gegeben, als wenn
ich ihr aufgebe, »Tausch« zu definieren. Im ersten Falle des
Eigennamens wird die Reaktion bei den einzelnen Vpn. voll-
kommen verschieden sein. Jeder wird sich unter Marie etwas
anderes vorstellen, es wird hier überhaupt außer dem Reizwort
in all den Reaktionen nichts Identisches vorkommen. Anders
bei »Tausch«, ja anders selbst bei einem bestimmten Eigennamen,
der für uns einen bestimmten Komplex bezeichnet, z. B.
»Napoleon«. Man kann an den Sieger von Jena oder an den Be-
siegten von Waterloo usw. denken. In allen diesen Vorstellungen
wird es einen identischen Sinn geben, »Napoleon«. Schon darin,
daß sich alle verstehen, wenn von »Napoleon« die Rede ist
(was im Falle Eigennamen Marie nicht der Fall ist), ist das
Identische zu suchen. Dieses Identische des Sachverhaltes,
das in der Aufgabenstellung gemeint ist, wenn wir die Vp.
fragen: »Was ist Tausch? Was ist das Verhältnis von Motiv
und Zweck?« usw., das verstehen wir, wenn wir von dem das
Schema aufbauenden objektiven Faktor, dem abstrakten Ge-
dankengehalt sprechen.
Durch den besonderen Gesichtspunkt, von dem die Vp.
ausgeht, wenn sie im symbolischen Schema den objektiven Ge-
danken konstituiert, wird dieser objektive Sinn in individueller
Weise gefaßt und eventuell auch modifiziert. Diese Modi-
fikation kann eine derartige sein, daß der objektive Sinn von
einer bestimmten Seite her gewissermaßen in einer perspekti-
vischen Ansicht erfaßt wird, oder auch, daß er geradezu eine
Verschiebung in einen anderen Sinnbereich erfährt. Ich ver-
weise auf Protokoll Nr.29, wo die Vp. die Beziehung von
»Zweck und Motiv« charakterisiert, indem sie sagt: »Es sind
Fäden, die sich vom Motiv über das Gehirn zur Ausarbeitung
ziehen.« Diese Formulierung erscheint auf den ersten Blick
sinnlos. Da erfahren wir durch das Bild und die Deutung,
die die Vp. gibt, daß mit den Fäden die Beweggründe gemeint sind,
die zum Gehirn führen. Im Gehirn sind die Verbindungsfäden
zum Zweck zu suchen, von da aus gehen die Wege zum Ziel,
zur Konsequenz, wie die Vp. sagt.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 411
Diese Auffassung der Beziehung von Motiv und Zweck ist
einseitig und subjektiv. Dessen ungeachtet ist diese Darstellung
ein sinnvolles Ganzes, das einen einheitlichen Aufbau zeigt,
in dem ein Gedanke konsequent zu Ende gedacht wird.
Im Protokoll Nr.23 erfolgt die Erfassung der Bedeutung
»Impressionismus, Expressionismus« von der persönlichen Stel-
lungnahme und Wertungsweise her, welche die Vp. für jede
einzelne dieser Kunstrichtungen empfindet. Auch dieser Aus-
gangspunkt ist einseitig, er mag objektiv gesehen falsch sein,
aber er ist in diesem seinen Sinn konsequent durchgeführt.
Auf ihm baut sich ein vollkommen einheitlicher Gedanken-
komplex auf, eine Sinnstruktur, die von der zweifachen
Wertungsweise als ihrem teleologischen Prinzip getragen ist.
Diese Tatsache, die wir hier an zwei Beispielen demon-
striert haben, finden wir bei allen übrigen Protokollen vor.
Jede dieser sinnlich anschaulichen Gebilde ist ein einheitlicher
Komplex, der einen vollständig zweckbestimmten inneren Auf-
bau aufweist. Es ist ein objektiver Gedankengehalt, der eine
“individuelle, sinnlich anschauliche Darstellung erfährt. Der
Ansatzpunkt für die besondere Gestaltung des
Schemas ist durch das subjektive Moment derin-
dividuellen Vorbereitung mitbestimmt. In ihm ist
dann bereits die Art und Weise festgelegt, wiein
dem betreffenden Fallder Prozeß dersymbolischen
Gestaltung ablaufen muß. l
Wenn eine Vp. die Beziehung von Zweck und Motiv vom
biologischen Gesichtspunkt her auffaßt, wie z.B. Nr.29, so
ist die Vp. von vornherein für die Versinnlichung in eine ganz
andere Richtung gedrängt, als wie wenn sie diese Beziehung
z. B. vom juridischen Gesichtspunkt her aufgefaßt hätte. In
jedem Falle aber ist in der augenblicklichen Gesamthaltung
des Individuums in dieser seelischen Situation, welche von der
Gerichtetheit auf einen bestimmten Gedanken beherrscht wird,
ein teleologisches Moment gegeben, dessen de-
terminierende Wirksamkeit die Geschlossen-
heit und Einheitlichkeit, kurz das Gestalt-
moment des Gedankens garantiert.
Dieses teleologische Moment unterscheidet diese Darstel-
lungen als die normaler Menschen von denen, wie sie uns von
Geisteskranken gegeben werden. Beim Ideenflüchtigen kommt
es deshalb nicht zur Gestaltbildung, weil immer andere art-
412 Auguste Flach,
fremde, oft nur auf Klangassoziationen beruhende Erlebnisse
sich dazwischen schieben. In anderen pathologischen Fällen
(z. B. bei Schizophrenen) ist die sachliche Bedingtheit, welche
von der Struktur des objektiven Sinnes ausgeht, in ihrem Wir-
kungswert herabgesetzt. Die von starken Affekten dauernd be-
herrschte autistische Einstellung läßt Gestaltbildungen ent-
stehen, die Bildern gleichen, wie wir sie in einem Zerrspiegel
sehen.
Das symbolische Schema ist, so haben wir gesehen, doppelt
determiniert. Einerseits durch einen objektiven Faktor, den
abstrakten Gedankengehalt, und andererseits durch einen sub-
jektiven Faktor, das ist die momentane seelische Gesamthaltung
des Individuums, die wir als die periphere Auswirkung der
individuellen Vorbereitung erkannt haben.
V. Die Abgrenzung des symbolischen Schemas
gegen verwandte Phänomene.
1. Die Denkillustrierung.
Nachdem wir das symbolische Schema beschrieben haben,
soll dieses Phänomen noch dadurch klargestellt werden, daß
wir zeigen, wie es sich abgrenzt gegenüber denjenigen Phäno-
menen, mit denen es leicht verwechselt werden könnte und im
Verlauf der Begebenheiten auch vielfach verwechselt worden
ist. Es gibt eine große Anzahl von Fällen, in denen ebenfalls
ein abstrakter Gedanke durch eine bildhafte Vorstellung ver-
sinnlicht wird, welche sich aber in ihrem Charakter von dem
symbolischen Schema. wesentlich unterscheiden. Hierher ge-
hören z.B. alle jene Fälle, wo
a) an irgendeinem vorgestellten, konkreten Gegenstand oder
einer Situation, welche aus der Wahrnehmung reproduziert
ist, der abstrakte Gedankengehalt gleichnisweise veran-
schaulicht wird. Es liegt im Wesen des Gleichnisses, daß
bier Bild und Gedanke nur in indirekter Weise durch ein
tertium comparationis zueinander in Beziehung gebracht werden.
Eine unserer Vpn. weist in einem Gespräch darauf hin, daß die Denk-
weise des Dr. X durch besonders scharfe logische Folgerichtigkeit sich aus-
zeichne, daß ihr aber der große künstlerische Zug fehlt. Sofort, noch ehe
sie es so formulieren konnte, hatte sie folgendes Bild, welches sie festhielt:
»Im tagehellen Raum bewegt sich ein weißer Flügel in horizontaler Linie
rasch von links nach rechts und bleibt, als ob er nicht mehr weiter könnte,
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 413
weil hier der Raum begrenzt ist, in der äußersten rechten Ecke meines
Seefeldes stecken. Ein Zollstab hellbraun, eingeteilt so, wie ich ihn aus
der Wahrnehmung kenne, bewegt sich mit großer Geschwindigkeit, wie eine
Raupe eines um das andere seiner eingeknickten Glieder vorschiebend, auf
der Strecke, welcher der Flügel zurückgelegt hat, und mißt so die Strecke
und was das Komische ist, gleich auch den Flügel selbst ab in seinem Eifer.
Das Bild soll die mathematisierende pedantische Denkart glossieren.
Oder Nr. 40. A
»Wie würden Sie das Wesen der Fichteschen Philosophie
charakterisieren ?«
Antwort: Da tritt immer ein und dasselbe Bild auf: Ein Mann klopft
mit einem Hammer auf eine Mauer, vor welcher er steht.
V1.: Was soll das Bild bedeuten?
Vp.: Das Ich hat sich das Nicht-Ich geschaffen, um ein Material für
sein Handeln zu haben.
b) Die Versinnlichung des abstrakten Gedankengehaltes er-
folgt ddurch die bildhafte Vorstellung an irgendeinem kon-
kreten Beispiel, am Anwendungsfall.
Eine Vp. (Protokoll Nr.50) wird ersucht, den Begriff »Tausch« dar-
zulegen, und sie bringt folgendes Bild: »Ich sehe zwei Männer, die mitein-
ander streiten, jeder will sein Tauschmittel anbringen, die Männer waren
ausgeführt im polnischen Zuschnitt. Im Moment, wo ich es mir als Witz
vorgestellt habe, war ein anderes Bild da: Naturvölker, die noch kein Geld
haben, an einer sonnigen Küste, in einfachen Kitteln, ohne besondere Kleidung.
Vorwiegend Frauen, Muscheln, Bänder, in langen Ketten aufgefädelt wie
abwägend in den Händen. Eine Frau beugt sich vor und hält etwas in den
Händen. Sie hat glattes langes Haar. Ich habe das Ganze von der Küste
her gesehen, vom Meer, von einem Schiff aus, mich selbst habe ich nicht
gesehen.« Dieses Bild stellt nicht wie in No.6 oder Nr.7 das Wesen, den
Begriff des Tausches dar, sondern hier wird am Beispiel demonstriert, in
welchen konkreten Fällen wir von »Tausch« sprechen.
Oft finden wir beides, das symbolische Schema und die
bloße Illustrierung durch bildhafte Vorstellung, in einem und
demselben Erlebnis beisammen. Das eine oder das andere kann
zuerst auftreten; aber immer ist es so, daß das Prinzip durch
das symbolische Schema, das Beispiel durch die illustrierende
Vorstellung gegeben ist. |
Zum Beispiel Nr. 52.
»Wie würden Sie das Wesen des Humors abgrenzen gegen-
über dem Witz ?«
»Für Humor habe ich so etwas wie ein Gefühl oder schwach anschau-
lich von etwas Breitem, Behäbigem, Natürlichem, Gesundem, so etwas wie
eine Fläche, das lag rechts; links war etwas für Witz, das Gefühl von
etwas nicht so ganz die Persönlichkeit Durchsetzendem, sondern des Momen-
tanen, Spitzen. An Stelle der Fläche kommt ein Bild von einer Wirtsstube.
Eine sehr nette Stube mit Holz getäfelt mit Menschen darin. Das Ganze
414 Auguste Flach,
in der Richtung nach Köln. Kölnisch war mir der Typus des Humors. Witz
drängte mich in die Richtung von Esprit, dort wo die Spitze war entsteht
ein Sprühen, aber es ist kein Springbrunnen, sondern nur ein Liniengewusel.«
Die Fläche und die Spitze, das die Persönlichkeit Durchsetzende des
Humors gegenüber dem Momentanen des Witzes, so weit geht das symbolische
Schema. Dann setzt die Denkillustrierung mit dem Anwendungsfall ein; sie
zeigt humorvolle Menschen, in einer Kölner Wirtsstube. An Esprit schließt
sich vielleicht rein assoziativ das Sprühen der Spitze.
Im Protokoll Nr. 26 »Heterogenie der Zwecke« ist durch eine Vorstellung
zuerst das Beispiel, der Anwendungsfall gegeben. Daran schließt sich ein
Schema, das das an ihm zum Ausdruck gebrachte Prinzip rein und abstrakt
herausstellt.
c) Die Assoziation zwischen dem Gedanken und dem Bild
kann auch eine solche sein, welche keinen sachlichen Zusammen-
hang mit dem darzustellenden, abstrakten Sinn aufweist und
nur auf die Gleichzeitigkeit des Erlebens zurückzuführen ist.
Die Vp. im Protokoll Nr. 53 wird aufgefordert, eine kurze prägnante
Charakterisierung der Bedeutung »Zolas« zu geben, und reagiert mit der
Vorstellung von einem Wettrennen. Auf die Frage des VL, ob die Vp. viel-
leicht wisse, in welchem Zusammenhang diese Vorstellung zum gefragten
Sinn stehe, sagte sie, sie habe eine genaue Schilderung eines Wettrennens
einmal in Zolas »Nana« gelesen und seither tauche beim Nennen des Namens
Zola immer wieder dieselbe Vorstellung auf.
In diesem Falle besteht zwischen Bild und Gedanke eine rein
auf assoziativer Grundlage aufgebaute Beziehung ohne einen
tieferen sachlichen Zusammenhang. Durch einen willkürlichen,
bedeutungsverleihenden Akt wird die Vorstellung des Wett-
rennens repräsentativ für Zola. Kindheitserinnerungen bilden oft
das Material für solche Vorstellungen. Irgendeine Szene wird
festgehalten, verbunden mit dem Begriff und Svent in manchen
Fällen fortan für diesen Begriff.
d) Manchmal kommt es vor, daß irgendein Wort im Zu-
sammenhang eines Satzes eine Vorstellung auslöst, und diese
illustriert dann nicht den Sinn des ganzen Satzes, sondern
den Sinn dieses einen Wortes, das zufällig im Verlaufe der
Formulierung aufgetreten ist. Die Beziehung zum Satzsinn ist
auch hier nur eine indirekte. Mit diesem ist das Bild rein
assoziativ verknüpft, während es den speziellen Wortsinn
gieichnisweise veranschaulichen kann.
Nr. 54. Ich lese in der Zeitschrift für Individualpsychologie folgenden
Satz: »Es ist, glaube ich, eine verkehrte Konstruktion, wenn man dem
Prmmitiven wie dem Kinde als ursprüngliche Attitüde eine Neigung zur Al-
beseelung zuschreibt, die erst durch die erfahrungsgeborene Beschränkung
allmählich nur auf Lebewesen, schließlich nur auf Menschen beziehen lerne.«
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 415
Mit dem Verständnis des Satzes war gleichzeitig folgendes Bild gegeben,
das ich sofort festhielt: »Eine dickflüssige, kreisförmig ausgegossene Masse,
die sich allmählich gegen den Mittelpunkt zu zusammenzieht, ohne eine Spur
zu hinterlassen. Das Ganze geschieht auf einem Tisch, von dem ich jedoch
nur die Tischplatte sehe, die mit einem sehr alten dicken Tuch bedeckt ist,
ein Teppichgewebe, das einmal vielfarbig gewesen sein muß, dessen Farben
aber so vollkommen verblaßt sind, daß ich sie nicht mehr ausnehmen kann. Nur
fühle ich ordentlich die Weichheit des Materials, auf welchem die Substanz
aufliegt. Das Ganze geschieht im dreidimensionalen Raum, die Substanz
selbst ist farblos wie aufgelöstes Gelatine.« Diese Vorstellung soll die Be-
schränkung von der Allbeseelung allmählich auf Lebewesen und schließlich
auf den Menschen illustrieren. Das ganze Bild wird umständlich in Szene
gesetzt, nur um den Sinn des Wortes »allmähliche Beschränkung« zu
illustrieren. ` `
Nr. 55. Ich spreche mit einer meiner Vpn. über Denkpsychologie, wobei
sie sagt: »Jetzt nachdem die moderne Denkpsychologie eine Fülle von
Problemen und Anregungen aufgeworfen hat, ist es leicht weiterzu-
arbeiten.« Gleichzeitig hat die Vp. folgendes Bild: »Von unsichtbarer Hand
wird braune Erde wie aus einem Trichter aufgeworfen. Die Erde ist durch-
setzt mit vielen ovalen, braungefleckten Kieselsteinen, die nach allen Rich-
tungen fliegen. Es ist als höbe ich solch einen Kieselstein auf und drehte ihn
in der Hand herum. Ich denke dabei, den müßte man jetzt nurmehr schleifen,
bearbeiten.« Hier sehen wir deutlich, daß das Bild vor allem durch das Wort
»aufgeworfen« ausgelöst worden war.
Eine besonders lose Verbindung, welche zwischen der in der Aufgabe
geforderten Darstellung des Gedankens und dem sinnlichen Bild besteht,
zeigt Nr. 56.
»Wie würden Sie die Hegelsche Philosophie charakterisieren.«
»Erstens Entwicklung, gemeint ist die geistige Entwicklung. Dabei kommt
ganz flüchtig, aber nicht ohne Wert für das geistige Geschehen, ein optisches
Bild. Es sollte versinnlichen Ausgang und Ende dieses Entwicklungsprozesses,
und ich würde jetzt sagen, Ausgang vom Begriff, Begriff ist mir symbolisiert
durch eine Kugel. Das Ende ist durch das zweite Bild symbolisiert, und
zwar durch ein Feld, ein Ährenfeld. Das erste Bild geht von links nach rechts,
ich kann es nicht zeichnen, es ist ein sphärisches Gebilde, das in sich ab-
geschlossen, kugelhaft ist, von da aus geht es herunter, ich würde sagen
ein Raum, wo Fließen stattfinden kann, ein Raum, der von Energiestrahlen
durchfahren ist, es geschieht etwas in der Richtung 'von links oben nach
rechts unten. Und nun biegt sich die Sache um und ich sehe das Andere,
das rechts ist, das Andere ist wie eine Pflanze. Das erste Bild ist ein physi-
kalisches, das zweite stammt aus dem Gebiet des Biologischen. Das Ende
Religion, Kunst, Wissenschaft ist symbolisiert durch die Feldfrüchte. Das
Bild von den Feldfrüchten soll die Ergebnisse symbolisieren. Die Frucht geht
durch den Halm hinauf, das ist alles, was ich sagen kann. Die beiden Bilder
stoßen aneinander und gehen grobgeleimt zusammen. Es sind zwei Stücke
aus verschiedenen Stilen, das erste symbolisiert den Anfang, vom Begriff
geht es aus, das zweite Bild steht für Endergebnis, dies besteht in ob-
jektiven geistigen Gebilden, sie sind das Endziel, das Entwicklungsziel. Das
Ganze ist eine grobe Kontamination.«
416 Auguste Flach,
Hier war der Gedanke bloß der auslösende Anlaß zu einer Bildent-
stehung. Hegel hatte den Entwioklungsgedanken ausgelöst. Das Bild vom
Ährenfeld symbolisierte dann irgendeine Entwicklung. Wir sehen einen
Fall, wo assoziative Zusammenhänge immer mehr von dem ursprünglichen
Gedanken abführen. Das Bild vom Ährenfeld hat nur eine indirekte Beziehung
mehr zu Hegel, die über den Entwicklungsgedanken. Entwicklung ist im
weitesten Sinn des Wortes verstanden und von der Entwicklung her gesehen
ist das Bild vom Ährenfeld ein Gleichnis. Daß die Vp. von einer Kontamination
spricht, war richtig gesehen.
Die unter a) bis d) gegebene Aufzählung verschiedener Arten
von Fällen, in denen ein abstrakter Sinn veranschaulicht wird,
macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Immerhin lassen
sich an diesem Beispiele die tiefgehenden Unterschiede zeigen,
welche zwischen diesen illustrierenden Vorstellungen und dem
symbolischen Schema bestehen. In allen hier zitierten Fällen,
welche wir als Denkillustrierung bezeichnen wollen, geht
die Beziehung zwischen dem abstrakten Gedanken und der
ihn repräsentierenden Vorstellung auf irgendeine zufällige
Assoziation zurück. Dort wo eine symbolische Beziehung
zwischen Bild und Gedanken vorliegt, besteht sie darin, daß
an irgendeinem Gegenstand oder an einer Situation, welche in
passiver Wiedergabe aus der Wahrnehmung reproduziert ist,
der abstrakte Gedankengehalt demonstriert wird und so eine
Iilustration erfährt. Während wir das symbolische Schema als
ein aktives Gestalten und Neuschaffen des Gedankens, als
eine Erscheinungsweise des produktiven Denkens erkannt haben,
sind die Phänomene, welche wir als Denkillustrierung bezeich-
nen, durchwegs reproduktiver Natur. Aus der Wahrnehmungs-
welt wird irgendein konkreter Gegenstand oder eine Situation
als etwas Fertiges übernommen; durch teilweise Zuordnung zu
der Eigenbedeutung dieses konkreten Gegenstandes erfährt der
abstrakte Gedankengehalt eine Illustration. Diese Art der Ilu-
strierung unterscheidet sich auch noch darin von der Darstellung
des Gedankengehaltes im symbolischen Schema, daß es nicht
immer die wesentlichsten; für den Gedanken konstitutiven
Momente sind, welche hier dargestellt werden. Das sinnliche
Bild einer Denkillustrierung enthält viele Details, die dem
Wahrnehmungsgegenstand als solchem anhaften und aus seiner
Eigenbedeutung kommen. Diese werden in das Bild mit hin-
eingenommen, trotzdem sie für die Sinndarstellung bedeutungs-
los sind und keine Symbolfunktion haben. Daher kommt es,
daß das anschauliche Bild einer Denkillustrierung teilweise
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 417
inadäquat ist und teilweise überschüssige Details enthält. Es
zeigt nur eine partielle Sinnerfüllung und ist nur teilweise
von dem abstrakten Gedankengehalt her determiniert2®).
Wir haben unsere Unterscheidung zwischen dem symbo-
lischen Schema und der Denkillustrierung auf der Verschieden-
heit des Verhältnisses gegründet, in welchem in beiden Fällen
die Darstellung zum Sinngehalt, das Zeichen zum Bezeich-
neten steht. Die Beziehung der Darstellung zum Dar-
gestellten ist im Falle des symbolischen Schemas eine ganz un-
mittelbare. Ein und dieselben ideellen Beziehungen sind es,
welche den darzustellenden Gedankengehalt und auch das Bild
aufbauen. Ja das Bild bleibt, ohne daß wir es durch abstrakte
Bestimmungen immer wieder darauf beziehen, unverständlich.
Wir können in diesem Falle, wo zwischen dem Zeichen und
dem Bezeichneten wohl der unmittelbarste tiefste innere Zu-
sammenhang besteht, im Sinne Karl Bühlers*?) von An-
zeichen oder Zusammenhangszeichen sprechen.
Im Falle der Denkillustrierung ist diese Beziehung eine in
gewissem Sinne zufällige indirekte, keine unmittelbare, sondern
eine vermittelte. Es ist nicht der abstrakte Sinngehalt,
aus dem das sinnliche Bild unmittelbar erfließt. Das be-
grifflich Wesentliche z. B. des »Tausches« Nr. 50 wird nicht
als solches, sondern an einem individuellen, konkreten Fall er-
faßt. Sei es nun ein Gleichnis oder ein Beispiel, es ist immer
die Besonderung, an der und durch welche wir bei der Denk-
illustrierung zum Erfassen des Allgemeinen, der Idee gelangen.
22) Wir unterscheiden zwischen Schema und bildhafter Vorstellung in dem
prinzipiellen Sinn, wie Kant (»Kritik der reinen Vernunft«) Bild und Schema
einander gegenübergestellt hat: »Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen
Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne
ich das Schema zu einem Begriff. In der Tat liegen unseren reinen, sinn-
lichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemata zugrunde.
Das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Ein-
bildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume)
ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach
die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer
vermittels des Schemas, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen
und an sich demselben nicht völlig kongruieren.
23) Karl Bühler, Über den Begriff der sprachlichen Darstellung.
Psycholog. Forschg. Bd. III S. 282 ff.
Archiv für Psychologie. LII. 27
418 Auguste Flach,
Nicht zu verwechseln mit dem symbolischen Schema ist das
Phänomen, welches man bisher in der Literatur als schematische
Vorstellung beschrieben hat. Diese ist eine unbestimmte Vor-
stellung, welche dadurch, daß sie nicht alle konkreten Merk-
male aufweist, imstande ist, ebenso wie der Begriff die
Art, den Typus zu repräsentieren. Als Beispiel zitiere ich
die Angaben einer Vp. von Messer®): »Es war weder Löwe
noch Tiger, am meisten war das zottige Fell im Bewußtsein.«
Eine andere Vp. Messers »hatte die Gesichtsvorstellung
eines runden Tisches, eines unbestimmten bloß schematisch.
Wieviel Füße er hatte, davon habe ich keine Ahnung«. Um den
Begriffsgehalt darzustellen, orientiert sich die schematische
Vorstellung an den konkreten Exemplaren der Gattung. Der
Begriffsgehalt wird an den konkreten Exemplaren abgelesen,
die Methode, welche zur Anwendung kommt, ist die Abstraktion.
Ganz anders liegen die Verhältnisse für das symbolische
Schema. Dieses ist nicht das Abbild eines bestimmten Konkreten
Gegenstandes, in dessen Darstellung etwas fehlt. Das was hier
dargestellt wird, ist ein abstrakter Sachverhalt.
Beziehungen werden dargestellt, so wie sie von uns erlebt
werden, als dasjenige, was für uns einen abstrakten Gedanken-
gehalt konstituiert. Von diesem Gesichtspunkt allein ist dieses
anschaulich Gegebene zu verstehen, sind diese einander durch-
dringenden sinnlichen und begrifflichen Elemente aufzulösen.
Wenn wir von einer symbolischen Schematisierung eines Ge-
dankengehaltes sprechen, so meinen wir »Schematisch« nicht im
Sinne von verschwommen, schemenhaft, sondern schematisch
heißt für uns: die Grundzüge, den Grundriß der Sache ent-
haltend.. Darum kann das symbolische Schema niemals als
Abbild irgendeines individuellen Wahrnehmungsgegenstandes
aufgefaßt werden.
Der Sinn des Gegenstandes wird in diesem Schema dar-
gestellt, und dieser Sinn kann uns wahrnehmungs-
mäßig niemals gegeben sein; den können wir nur
denken, oder aber wir können wahrnehmungsmäßiges Material
heranziehen, um ihn gleichnisweise zu verdeutlichen. Darum
ist das symbolische Schema so viel ärmer an ausgeführtem
24) Messer, A., Experimentellpsycholog. Untersuchungen üb. das Denken
S. 54.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 419
Detail und steht für viel mehr als die schematische Vorstellung.
Diese ist an die konkrete Beschaffenheit des Wahrnelimungs-
objektes gebunden, während das symbolische Schema durch
einen intuitiven Akt schöpferischer Synthese den begrifflichen
Gehalt direkt veranschaulicht.
Fast jede bedeutendere Arbeit der modernen Denkpsychologie
in den letzten Jahren nimmt irgendwie zu der Frage Stellung:
»Welche Rolle spielt die Vorstellung im Denkverlauf?%« Wann
ist sie für das Denken notwendig? Wann fördert sie das
Denken? und Wann ist sie nur ein für den Prozeß als solchen
belangloses Begleitphänomen? Die meisten Forscher sind zu
dem Resultat gekommen, daß der Denkverlauf unabhängig ist
vom Auftreten sinnlicher Vorstellungen, ja daß diese, sofern
sie auftreten, den Prozeß stören oder verzögern 25). Man kann
sich immer wieder davon überzeugen, daß in allen Fällen, wo
diese Beobachtungen gemacht wurden, .nicht das produktive
Denken untersucht worden war. Es handelt sich da immer
nur um reproduktive Assoziationsverläufe, in deren Folge Denk-
illustrierungen aufgetreten sind.
So weist z.B. Messer auf die häufige »Insuffizienz« von
optischen Vorstellungen gegenüber dem gemeinten Gedanken
hin. Als Beispiel führt er an: »Wenn etwa beim Reizwort
‚Gehör‘ einer Vp. die Gesichtsvorstellung des eigenen Ohres,
bei ‚Lyrik‘ die Gesichtsvorstellung einer Buchseite mit vier-
zeiligen Strophen auftaucht.« Die von Messer zitierten Fälle
decken sich durchaus mit dem, was wir als Denkillustrierung
beschrieben haben. In allen solchen Fällen stimmen wir mit
Messer vollkommen überein, wenn er konstatiert, daß hier
die Gesichtsvorstellungen nur als bedeutungslose Nebenphäno-
mene auftauchten und ihnen bestenfalls die Aufgabe zufiel,
»Gegenständliches« zu repräsentieren, d. h. in unserer Termino-
logie, daß das, was dargestellt wurde, nicht das Wesen des ab-
strakten Gedankens oder ein Sachverhalt war, die be-
sondere innere Beziehung eines Gegenstandes zum anderen,
25) Henry Watt, Experimentelle Beiträge zu einer Psychologie des
Denkens, Arch. f. d. ges. Psychologie Bd.4. Watt kommt zu dem Resultat:
»Die Veranschaulichung bedeutet bei Denkversuchen immer eine Hemmung,
eine Verlangsamung« Ernst Dürr, Beiträge zur Erkenntnispsychologie,
Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. VI: »Das Denken ist ein vorstellungsloses
Verstehen.«
27*
420 Auguste Flach,
sondern es kam nur zur Sachvorstellung schlechthin,
das individuelle, konkrete Ding selbst wurde reproduziert.
Im Verlaufe unserer Untersuchungen sind wir zu der Über-
zeugung gekommen, daß es verschiedene Arten von Veranschau-
lichungen gibt, die nicht gleichartig und für den Denkverlauf
nicht gleichwertig sind. So haben wir das symbolische Schema
in seiner Eigenart erkannt und dieses von der bloßen Denk-
illustrierung unterschieden. Das was das symbolische Schema
als Denkvorgang charakterisiert, ist die Tatsache, daß’ hier
nicht wie in den Fällen von Denkillustrierung etwas wahr-
ne-mungsmäßig Gegebenes, von vornherein Fertiges einfach re-
produziert wird, sondern es werden Beziehungen erlebt, aus
deren simultaner Zusammenschau der Gedanke als das Zentrum
dieses Beziehungssystems mit Notwendigkeit sich ergibt.
2. Die »Diagramme«.,
Es gibt eine spezifische Art von Vorstellungen, welche einen
gedanklichen Sachverhalt veranschaulichen und vertreten, und
welche unter der Bezeichnung »Diagramme« in der Literatur
mehrfach beschrieben worden sind 28).
Das sind jene Fälle, wo zeitliche oder andere Anordnungs-
beziehungen, z. B. eine bestimmte Zahlenreihe oder die Tage
der Woche, die Monate des Jahres, Epochen der Geschichte
durch eine geometrische Figur eine graphische Darstellung er-
fahren.
Ich füge hier als Beispiele verschiedene Diagramme bei,
welche ich dem genannten Buch von Th. Flournoy entnommen
habe:
26) Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its deve-
lopement, London 1883; Th. Flournoy, Des phenomönes de Synopsie,
Genève 1893; G. E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des
Vorstellungsverlaufes, Leipzig, II. Teil; Botju Schanoff, Die Vorgänge
des Rechnens, Pädagogische Monographien, herausgegeben von Meumann,
Bd. 11 Jahrg. 1911; Hennig, »Über Diagramme«, Zeitschr. f. Psychologie
u. Physiologie der Sinnesorgane Bd. 10.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 421
Diese Beispiele legen die Frage nahe, ob das, was hier vor-
liegt ‚von derselben Art ist wie die symbolischen Schemata,
oder inwiefern es sich von diesen unterscheidet.
Was das Diagramm mit dem symbolischen Schema auf den
ersten Blick gemeinsam hat, ist die Tatsache, daß auch hier
ein abstrakter unräumlicher Gegenstand wie eine Zahlenreihe,
die zeitliche Aufeinanderfolge von Tagen der Woche, Monaten
des Jahres usw. entweder durch eine Punktkonstellation oder
durch gerade Linien oder Kurven eine sinnlich anschauliche
Darstellung erfährt. Dieselbe psychologische Funktion, welche
sich nach Flournoy im Diagramm manifestiert, wird wahr-
scheinlich auch das symbolische Schema aus sich hervorgehen
lassen: »Pour introduire de l’ordre et de la clarté dans des
matières non spaciales ?7).« Wenn wir den nackten Tatbestand
ins Auge fassen, der für den Erwachsenen gegeben ist, wenn
er eine Zahlenreihe oder die Monate des Jahres, die Tage der
Woche in einer bestimmten Anordnung als Diagramm gegen-
wärtig hat, so werden wir sagen: »Hier liegt gar nichts anderes
vor als eine bestimmte Lokalisation im Vorstellungsraum. Diese
Lokalisation dient als Haftpunkt, als Fixierung und Orien-
27) Flournoy, Des phénomènes de Synopsie S. 150.
422 Auguste Flach,
tierung für unser Gedächtnis, spielt aber weiter in unserem
Denken keine Rolle.
Es sind also ähnliche Fälle von Denkillustrierung, wie wir
sie im Kapitel über die räumliche Gegebenheit als Fixierung der
Aufgabenstellung beschrieben haben.
G. E. Müller?) stimmt mit Schanoff®#), der zahl-
reiche Versuche gemacht hat, um den Wert der Diagramme für
die Vorgänge des Rechnens festzustellen, darin überein, daß
die Lokalisationen nur »als Haftpunkte dienen, mit deren Hilfe
das Individuum sich Zahlen einpräg«. G.E.Müller sagt
ausdrücklich: »Für das Rechnen selbst scheine das Diagramm
nicht von wesentlichem Belang zu sein, da die betreffenden
Diagrammstellen immer erst nach vollbrachter Rechenoperation
auftauchen.« Diese Tatsache allein, daß an der geometrischen
Figur nicht produktiv gedacht wird, unterscheidet das Dia-
gramm wesentlich von dem symbolischen Schema.
Man hat sich vielfach die Frage vorgelegt, ob die Dia-
gramme durch eine physiologische oder psychologische Theorie
zu erklären seien. Man hat das Unbewußte zur Erklärung
herangezogen und die Frage erörtert, wann und wie sie ent-
standen sind. Flournoy ist (a.a. O.) auf Grund der Unter-
suchungen, die er an einer großen Fülle von Tatsachenmaterial
angestellt hat, zu der Überzeugung gekommen, daß wir die
Entstehung der Diagramme in die frühe Kindheit zurückver-
legen müssen: »tel fait l’audition colorée s’expliquera à peu
pres complètement par les aventures passées du moi Conscient.«
In dieser Zeit sollen sie sich durch Assoziation gebildet haben.
Nach Flournoy sind die Diagramme samt und sonders durch
Assoziation entstanden, und zwar hat er auf drei solcher Asso-
ziationsmöglichkeiten hingewiesen:
»Trois principes d’association me semble necessaire (sinom
suffisante) pour expliquer, soit par leur concours, soit par leur
interference, la diversit& des phenomenes synesthetiques. De-
signons les par les termes d’association habituelle, priviligiee
et affective.«
Wir wollen vor allem die beiden ersten Prinzipien, die
28) G. E. Müller a. a. O.
29) Botju Schanoff a. a. O.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 423
»Association habituelle et priviligiee« einer näheren Betrach-
tung unterziehen. Die Assoziationshabituelle beruht auf der
Wiederholung. Zwei Dinge, die man gewohnt war, gleichzeitig
wahrzunehmen, werden sich in unserem Bewußtsein verbinden
und ein unlösliches Ganzes bilden. »Bien des faits de Syn-
esthesie reconnaissent évidemment cette cause, telle que la ten-
dence de certaines personnes & se figurer les mois et les jours
en colonnes semblables à celles de l’almanach ou du calandrier.«
Die Association priviligiee ist diejenige, durch welche in un-
serem Gedächtnis gewisse Dinge eng verbunden sind, nur weil
uns vielleicht ein einziges Mal ihre Verbindung lebhaft ge-
troffen, und, wie Flournoy sagt, eine unzerstörbare Spur
in unserem Nervensystem zurückgelassen hat. Solch dauernde
Spuren entstehen oft durch die Leichtigkeit oder Schwierigkeit,
mit welcher der Erwerb von Kenntnissen für die kindliche In-
telligenz verbunden war. Eine bestimmte. Anordnung, in welcher
der Lernstoff seinerzeit geboten wurde, oder etwaige Gedächtnis-
hilfen, die das kindliche Denken herangezogen hat, bleiben oft
dauernd fixiert und kommen in bestimmten Diagrammformen
zum Ausdruck. Unter diesen hier angeführten Umständen ent-
stehen Diagramme auf rein assoziativer Grundlage dadurch, daß
unter Benützung konkreter Gegenstände zeitliche Beziehungen
oder andere Anordnungsbeziehungen veranschaulicht werden.
Solche Gegenstände können Stundenpläne sein, Kalender,
Ziffernblätter von Uhren, BRechenmaschinen, Multiplikations-
tabellen, mit Ziffern versehene Maßstäbe usw. In allen diesen
Fällen wird die spezielle räumliche Anordnung, welche sich
am konkreten Gegenstand vorfindet, übernommen, auf den
Vorstellungsraum übertragen und bildet die Grundlage für
die Gestaltung des Diagrammes, für die Reihenfolge,
in welcher die Zahlen, die Tage oder Monate usw. im Diagramm
ständig angeordnet werden.
Schon etwas komplizierter sind jene Fälle, wo ein Sach-
verhalt dadurch in einem Diagramm dargestellt wird, daß den
in Frage kommenden 'Wahrnehmungsgegenständen bestimmte
Stellen im Vorstellungsraum zugeordnet sind, und diese Stellen
entsprechend den räumlichen oder zeitlichen Beziehungen, in
denen die konkreten Gegenstände zueinander stehen, verbunden
werden, so daß das Ganze den Eindruck eines Systems macht,
das auf den ersten Blick dem symbolischen Schema täuschend
ähnlich sieht. Ich will hierfür ein Beispiel geben, welches
424 Auguste Flach,
G. E. Müller) aus »Lemaitre«, »L’adolescent« zitiert. Der
Anlaß zur Entstehung dieses Diagramms war folgender: »Der
betreffende Knabe sagte sich in einer Nacht, wo er von 10 Uhr
bis Mitternacht schlaflos im Bette gelegen hatte, beim Schlagen
der Mitternachtstunde: »Mitternacht schlägt und ich habe diese
beiden Stunden noch nicht geschlafen.« Hierbei erschien vor
seinem geistigen Auge eine im Zimmer seiner Mutter befind-
liche Uhr mit der Stellung der Zeiger auf Mitternacht und mit-
samt dem Kamin, auf welchem sie zu stehen pflegte, und er
erblickte zugleich (unter dem Einfluß der Tendenz zur räum-
lichen Symbolisierung) eine ein wenig gekrümmte Linie, die
als Repräsentartin der von 10 bis 12 Uhr verflossenen Zeit von
links her schräg nach jener Uhr emporstieg. Kurz darauf fügte
sich zu diesem Bruchstück eines Tagesdiagrammes éin zweites
hinzu, in dem die Vorstellung des Eßtisches der Familie in Ver-
bindung mit der Vorstellung einer diesem Tische anliegenden,
sich nach rechts unten senkenden Diagrammlinie auftrat,
welche die Zeit von 12 bis 2 Uhr darstellte. Später trat dann
noch ein drittes Bruchstück eines Diagrammes auf, indem der
Knabe das Fenster seines Zimmers in Verbindung mit einer
nach rechts unten absinkenden, die Morgenstunde 6—7 Uhr
(aie Zeit des Aufstehens) darstellenden Linie innerlich erblickte.
Im Laufe der Zeit wurden nun diese Bruchstücke eines Tages-
diagrammes mit gewissen Abständen nebeneinander nach vorn-
hin lokalisiert, durch verbindende Linien in Zusammenhang
zueinander gebracht, indem zugleich die Bilder noch weiterer
konkreter Gegenstände im Diagrammfelde und im Zusammen-
hang mit der Diagrammlinie auftraten, so daß schließlich ein
durch Bilder konkreter Objekte reichlich illustriertes
Tagesdiagramm vorlag, dessen rechtshin verlaufende Diagramm-
linie von der Stelle von 6 Uhr morgens ab (von der Höhe des,
Zimmerfensters) stark abfiel bis zur Stelle von 8 Uhr, dann
sich erhob bis zur Mittagsstelle (bis zur Höhe des weiter rechts
erscheinenden Eßtisches), hierauf wieder absank bis zur Stelle
von 6 Uhr abends und dann abermals anstieg bis zur Mitter-
nachtsstelle (bis zur Höhe jener auf einem Kamin stehenden
Uhr). In diesem Diagramm waren die Bilder der konkreten
Gegenstände, welche den näheren Verlauf der unter dem Ein-
30) G. E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vor-
stellungsverlaufes III. Teil S. 119.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 425
fluß der Tendenz zur räumlichen Symbolisierung sich ent-
wickelnden Diagrammlinie mitbestimmt hatten, zur Zeit der
Untersuchung im allgemeinen noch erkennbar.«
Dieser Fall zeigt, wie die Symbolisierung des Zeitverlaufes
dadurch erfolgt, daß der Knabe Gegenstände aus der Wahr-
nehmungswelt heranzieht, die er in seiner Vorstellung genau
in derselben Reihenfolge anordnet, in der er gewohnt war, sie
zu bestimmten Tageszeiten wahrzunehmen. So gelingt es ihm,
mit ihrer Hilfe den Gedanken an die verschiedenen Tageszeiten
zu illustrieren.
Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den historisch - geo-
graphischen Diagrammen, von denen G.E.Müller berichtet:
»Für die historischen Ereignisse der Altertums benützt Vp.
eine besondere Zeitlinie. Entsprechend der Tatsache, daß die
frühesten Ereignisse der alten Geschichte, die er seinerzeit ge-
lernt hat, sich hauptsächlich auf Ägypten bezogen, die folgen-
den Ereignisse dagegen vorzugsweise der griechischen Ge-
schichte und die späteren ausschließlich der römischen Ge-
schichte gehörten, ist diese Zeitlinie in der Weise auf der Land-
karte festgelegt, daß sie in Ägypten beginnt und nach links
oben gehend den Peloponnes und die Gegend von Rom durch-
schneidet. Der Nullpunkt (der Zeitpunkt der Geburt Christi)
liegt etwa bei Rom.«
Hier wird eine bestimmte Epoche der Geschichte dadurch
charakterisiert, daß die Vp. sich die Stellen im Vorstellungs-
raum lokalisiert, welche die betreffenden Länder auf der Land-
karte innehaben. Die einzelnen Stellen werden durch Linien
verbunden. Damit ist die Epoche nicht als solche in ihrer
sachlichen Bedeutung charakterisiert, sondern sie wird
nur indirekt bezeichnet durch die Stellen auf der Landkarte
durch ein für sie selbst äußerliches sachfremdes Merkmal.
Es hat sich somit gezeigt, daß sich das Diagramm von dem
symbolischen Schema wesentlich unterscheidet, und zwar da-
durch, daß es nicht im Verlauf und zur Unterstützung pro-
duktiven Denkens auftritt. Diese Phänomene sind vielmehr
reproduktiver Natur. Die anschauliche Darstellung wird aus
der Wahrnehmungswelt übernommen oder bildet sich in An-
lehnung an eine wahrgenommene Ordnung. Dieser ganze Prozeß
ist ein rein assoziativer. Dementsprechend besteht zwischen
dem Gedankengehalt und seiner Darstellung, wie in allen Fällen
426 Auguste Flach,
von Denkillustrierung, so auch hier das Verhältnis einer äußer-
lichen Zuordnung. Irgendeine räumliche oder zeitliche Aufein-
anderfolge abstrakter Gegenstände, wie Zahlen, Tage, Monate
usw., findet eine Entsprechung dadurch, daß ihr be-
stimmte Stellen im Vorstellungsraum zugeordnet werden. Diese
Zuordnung kann gelegentlich eine so feste sein, daß eines für
das andere eintreten kann; trotzdem wird es nie, wie im Falle
eines symbolischen Schemas, zu einer Identifizierung beider
kommen können, auch wenn z. B. bei einem Zahlendiagramm
»die Zahlen als Diagrammstrecken vorgestellt werden „und dem-
gemäß die Diagrammstrecke, welche die Stellen zweier Zahlen
trennt, als Repräsentantin der Differenz beider Zahlen nach
ihrer Größe und nach ihrem Zahlenwert aufgefaßt wird und
gelegentlich dazu übergegangen wird, das Verhältnis der Dia-
grammstrecken, die zwei gegebenen Zahlen oder Zahlendiffe-
renzen entsprechen, zu erfassen, um über dieses Verhältnis der
Zahlen oder Zahlendifferenzen selbst Auskunft zu erhalten«.
Immer bleibt das Bewußtsein bestehen, daß es sich
hier um eine Vertretung handelt, um ein »allgemeines
Mittel der Transformation von Zahlenvor-
stellungen in Vorstellungen räumlicher Stellen °!
zum Zwecke einer leichteren Orientierung.
Nachdem wir die Entstehung durch Assoziation zur Grund-
lage unseres Diagrammbegriffes gemacht haben, haben wir im
Diagrammbegriff und dem Begriff des symbolischen Schemas
zwei Grenzbegriffe, zwischen denen sich das ganze große Ma-
terial, welches bisher als »Diagramme« bezeichnet worden war,
einordnen läßt. Die richtige Einordnung unter die eine oder
andere Kategorie wird oft erst dann möglich sein, wenn wir
etwas Näheres über die Genese des speziellen Falles erfahren
haben. Das ist vor allem in jenen Fällen wichtig, wo das Dia-
gramm aus dem von Flournoy aufgestellten dritten Prinzip,
dem Prinzip der »assoziation affective« hervorgegangen ist.
Unter der Association affective versteht Flournoy die-
jenige Verbindung, welche zwischen zwei. Vorstellungen zu-
stande kommt, nicht auf Grund ihrer qualitativen, Ähnlichkeit
und auf Grund ihres regelmäßigen oder häufigen Zusammen-
31) G. E. Müller, Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vorstellungs-
verlaufes III. Teil Ä
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 427
treffens im Bewußtsein, sondern dadurch, daß ihnen ein ana-
logerGefühlswertanhaftet. Auf diese affektive Asso-
ziation ist es zurückzuführen, daß fast in allen Tages-
diagrammen der Sonntag immer ausgezeichnet erscheint, daß
er gewöhnlich licht oder weiß gedacht wird. Hierher gehört
die Sonderstellung, welche die Ferien in vielen Jahresdia-
grammen innehaben und alle diejenigen Fälle, wo Sympathie
oder Antipathie bei der Gestaltung eines Diagrammes eine
Rolle spielen. In diesen Fällen finden wir, daß individuelle,
affektiv betonte Erlebnisse eine bestimmte Auffassung des
Sinngehaltes: »der Sonntag«, »das Jahr« ausgelöst haben,
welche im Diagramm zum Ausdruck gekommen ist, und sich
auch so erhalten hat. Das sind die Phänomene, welche sich
nicht auf Assoziation zurückführen lassen, und welche die
Spuren des kindlichen Bedeutungserwerbes noch deutlich er-
kennen lassen. Ich möchte als Beispiel ein Jahresdiagramm
anführen, über dessen Entstehung die betreffende Person noch
nähere Angaben zu machen in der Lage ist.
Unsere Vp. im Protokoll Nr. 60 hat ein Jahresdiagramm und erlebt die
Monate des Jahres noch heute immer in folgender Anordnung im Raum
lokalisiert:
—
KA ⸗
Jur
En SOC p een u
Ma: Apri Marz Febr Jan. Der Nou Okt Sept
Fig. 12.
Der September liegt an der äußersten Ecke rechts, von wo aus die
folgenden Monate wie an einer geraden Linie von rechts nach links sich
anschließen. Der Jänner kommt ca. in der Mitte der Linie zu liegen, aber
ohne Cäsur mit einer helleren Beleuchtung wie die Monate vor ihm. Die
Helligkeit nimmt dann zu. Nach dem Mai hört die gerade Linie auf, der
Juni liegt etwas höher, der Juli noch mehr, ein leerer Bogen führt vom Juli
bis zum August. Der Bogen wird jedesmal ausgeführt, sobald an diesen Teil
des Jahres gedacht wird. Der August liegt am Ende des Bogens, viel höher
als der September, zu dem er wieder den Abschluß bildet.
428 Auguste Flach,
Nr.61. Ein weiteres Beispiel gibt uns eine andere Vp. Sie hat folgen-
des Jahresdiagramm:
Fig. 18.
. Auf die Frage, warum hier 3 Monate fehlen, sagt die Vp.: »Das war
für mich in meiner Jugend immer eine uninteressante Zeit. Jänner, Februar,
März, das war die Zeit, die überwunden werden mußte, die Zeit zwischen
Weihnachten und Ostern. Zu Weihnachten und zu Ostern da bin ich immer
zu den Eltern nach Hause gefahren, und vom April an konnte man sich
schon auf die Ferien freuen (die Kurve steigt an). Die Ferien Juli, August,
das war immer der Höhepunkt. Darauf freue ich mich noch jetzt immer.«
Es geht aus den Angaben der Vp. klar hervor, daß auch
dieses Diagramm, das in die frühe Kindheit zurückgreift, auf
affektiver Grundlage entstanden ist. Zum Unterschied von
unserem ersten Beispiel ist es das Jahr der Ferien und Fest-
tage. Von diesen Gesichtspunkten her wurde der Sinn: »Das
Jahr« vom Kinde aufgebaut, und von da aus ist das Diagramm
auch aufzulösen, ist der Höhepunkt und sind die beiden aus-
gezeichneten Punkte im Diagramm zu verstehen.
Über das Fehlen der drei Monate und den Bogen, der die
leere Verbindung herstellt, gibt die Vp. selbst Aufschluß. Auch
hier wird der Bogen jedesmal ausgeführt, so oft die Vp. an
das Diagramm denkt.
Ich bin überzeugt, daß viele solche Phänomene, die wir auf
den ersten Blick als Diagramme ansprechen würden, sich bei
näherer Betrachtung als symbolische Schemata herausstellen
werden. Viele werden noch die primitive Auffassung erkennen
lassen, die Art und Weise, wie sich das Kind diesen Gedanken
zurechtgelegt hat, und andere werden nur deshalb so unver-
ständlich sein, weil es uns nicht gelingt, die Spuren aufzu-
decken, die weit in die frühe Kindheit zurückreichen. Es
bleibt wie in unseren Beispielen dann nur das graphische Bild
zurück, welches für die betreffende Person als Diagramm
fungiert.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 429
Vielleicht wird es gelingen, durch systematische Unter-
suchungen vieler solcher Diagramme mehr Einblick in die Be-
deutungserlebnisse des Kindes zu gewinnen. Daß es aber Fälle
wie die oben zitierten gibt, hat mich bewogen, darauf hinzu-
weisen, daß man die Entstehungsgeschichte eines solchen Phä-
nomens wird kennen müssen, um entscheiden zu können, ob im
speziellen Fall ein Diagramm oder ein symbolisches Schema
vorliegt.
3. Die »autosymbolischen Phänomene«.
Herbert Silberer hat in seinem Buch »Der Traum«,
Stuttgart 1919, unter der Bezeichnung »Autosymbolische Phä-
nomene« eine Gruppe von bildhaften Vorstellungen beschrieben,
welche man bisher unter dem Titel »Hypnagogische Hallu-
zinationen« gekannt hat. Sie stimmen mit den von uns be-
schriebenen insofern überein, als auch sie einen abstrakten Ge-
dankengehalt in sinnlich anschaulicher Weise zur Darstellung
bringen. l
Diese Darstellung erfolgt im Halbschlaf und drückt das aus,
was man kurz vorher in schlaftrunkenem Zustand gedacht hat.
Silberer beschreibt diesen Zustand folgendermaßen: »Ich
liege schläfrig im Bette. Irgendein Gedanke beschäftigt mich,
die Schlaftrunkenheit nimmt nach und nach überhand, der
Geist trübt sich, der Gedankenfaden reißt ab. Statt des Ge-
dankens steht wie mit einem Zauberschlag ein Bild vor mir,
plastisch, zum Greifen wahr. Statt Bild würde ich für die
subjektive Empfindung vielleicht treffender sagen ‚eine Wirk-
lichkeit‘, eine Szene, die ich als Wirklichkeit erlebe. Die Leb-
haftigkeit des Gesichtes überrascht mich, rüttelt mich aus dem
schon beginnenden, aber noch nicht eingetretenen Schlaf wieder
auf. Ich falle in den Wachzustand zurück und erkenne, daß
das soeben Erlebte, also die hypnagogische Halluzination, ein
bildlicher Ausdruck eben jenes Gedankens gewesen ist, den ich
in der überwältigenden Schlaftrunkenheit verloren hatte« Wir
können unter diesen Erscheinungen eine Unterscheidung machen,
die Silberer nicht macht. Ich möchte zu diesem Zwecke vor-
‘erst zwei seiner autosymbolischen Protokolle zitieren und ver-
suchen, an diesen Beispielen das Unterscheidende herauszu-
stellen.
430 Auguste Flach,
Beispiel VIO. »Ich denke über das Wesen der trans-
subjektiv (für alle Menschen) gültigen Urteile nach. — Szene:
Ein mächtiger Kreis (oder eine durchsichtige Sphäre) schwebt
in der Luft; und die Menschen reichen mit ihren Köpfen in
diesen Kreis hinein. — Deutung: In diesem Symbol liegt so
ziemlich alles ausgedrückt, was ich mir dachte. Die Gültig-
keit des transsubjektiven Urteils betrifft alle Menschen ohne
Ausnahme: Der Kreis geht durch alle Köpfe. Diese Gültigkeit
muß ihren Grund in etwas Gemeinsamen haben: Die Köpfe ge-
hören alle derselben homogen aussehenden Sphäre an. Nicht
alle Urteile sind transsubjektiv, mit den Leibern und Glied-
maßen befinden sich die Menschen außerhalb (unterhalb der
Sphäre) und stehen als getrennte Individuen auf der Erde.
Beispiel IX. »Ich suche mir den Zweck gewisser meta-
physischer Studien, die ich eben zu betreiben gedenke, zu ver-
gegenwärtigen. Dieser Zweck besteht, so denke ich mir darin,
daß man sich auf der Suche nach den Daseinsgründen zu immer
höheren Bewußtseinsformen oder Daseinsschichten durch-
arbeitet. — Szene: Ich fahre mit einem langen Messer unter
eine Torte, wie um ein Stück davon zu nehmen. — Deutung:
»Die Torte des Symbols war eine Doboschtorte, also eine Torte,
bei welcher das schneidende Messer durch verschiedene
Schichten zu dringen hat (die Schichten des Bewußtseins und
Daseins).
In Beispiel 8 haben wir ein richtiges symbolisches Schema
vor uns. Hier handelt es sich um die ideelle Bewältigung, die
geistige Verarbeitung eines abstrakten Gedankens durch die
konkrete Darstellung. Es ist bezeichnend, wenn der Er-
wachende sagt: »In diesem Symbol liegt so ziemlich alles aus-
gedrückt, was ich mir dachte«, und wenn er in weiterer Deutung
des Bildes an jedem Bildbestandteil die symbolische Funktion
aufweist, die er hat, indem durch ihn ein konstitutives Merk-
mal des transsubjektiven Urteils dargestellt wird.
Hier liegt also ein Phänomen vom Typus des symbolischen
Schemas vor. Es ist für diesen Typus charakteristisch, daß
wir in dem konkreten Erlebnis eine sachgemäße Lösung des
Problems vor uns haben, gleichgültig, ob es sich um die Klar-
stellung eines abstrakten Sinnes handelt oder wie so oft in
diesen Fällen, um eine Situation, aus der man herausfinden will. `
Anders liegt der psychische Sachverhalt in Beispiel 9. Hier
wird das Bild rein assoziativ durch die Perseveration des
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 431
Wortes »Daseinsschichten« ausgelöst. Die Daseinsschichten
werden durch die Schichten der Doboschtorte symbolisiert. Da-
mit wird nichts zur Klärung oder gar zur Lösung des Problems
beigetragen. Es ist nichts als eine einfache Illustrierung des
Gedachten, welche infolge Ermüdung durch Perseveration ent-
standen sein mag, vielleicht dadurch, daß der Impuls von der
abstrakten, begrifflichen auf die konkret anschauliche Sphäre
irradiiert ist.
Dort, wo das Bild, wie im Fall 9, nur die Illustrierung der
Aufgabenstellung oder der fatalen Situation bringt und nichts
zur Lösung beiträgt, möchte ich genau so wie im Wachen nur
von einer Denkillustrierung sprechen.
Wir sehen an diesen Beispielen, daß auch diese Bilder, wie
sie aus den hypnagogen Zuständen vor dem Einschlafen hervor-
gehen, sich scheiden lassen in solche, wo ein volles Erfassen und
Gestalten eines abstrakten Gedankens im produktiven Denken
gegeben ist, und solche, wo bloß eine assoziative, reproduktive
Wiedergabe aus der Wahrnehmungswelt in unserer Termino-
logie, eine Denkillustrierung vorliegt. Genau in derselben Weise
lassen sich die übrigen Beispiele des Silbererschen Buches
analysieren.
VI. Das Entstehen des symbolischen Schemas aus
dem „Sphärenbewußtsein“.
Es hat sich im Verlauf unserer Versuche gezeigt, daß es
einen ganz bestimmten seelischen Zustand gibt, welcher für
das Auftreten symbolischer Schemata besonders geeignet zu
sein scheint. Es ist eine ganz merkwürdige seelische Situation,
wo die Vp. etwas ganz Bestimmtes meint, dieses Gemeinte auch
im Erleben irgendwie gegenwärtig hat und wo doch die Präzi-
sierung und Formulierung dessen, was hier gegeben ist, nicht
gelingen wil. Messer war der erste, der für diesen Zu-
stand die Bezeichnung »Sphärenbewußtsein« eingesetzt hat und
welcher bestimmte Aussagen seiner Vp. veröffentlichte, die
auf ein solches Erlebnis hinweisen. Eine Vp. Messers (Vp.
II) beschreibt ihr Erlebnis folgendermaßen: Eigenartiger Zu-
stand, in welchem man genau weiß, in welchen Bereich von
Gedanken ein Wort gehört. Eine andere Vp. von Messer
432 Auguste Flach,
sagt etwas Ähnliches. Sie spricht von einem »Keim« einer
optischen Vorstellung: »Weiß nicht, was das werden sollte,
hätte ich gewartet, so "hätte sich das gezeigt.« Eine unserer
eigenen Vpn. spricht im Protokoll Nr.58 in einem analogen
Falle von einer »summarischen Vorstellung«, in der bereits
alles enthalten ist. »Ich habe hier so ein Wissen um eine An-
schauungsbild, das erst herausentwickelt werden müßte, da-
durch, daß sich die Aufmerksamkeit darauf richtet. Man
weiß, darin steckt alles, sieht es nicht, aber
trotzdem ist es eine Anschauung. Ich würde sagen
eine summarische Anschauung, es ist so, als wüßte
ich das Bild ganz an der Peripherie meines Sehfeldes, ganz
weit, je mehr ich mich nähere, je mehr Einzelheiten kann ich
herausholen.«
Die Vp. in Nr. 58 beschreibt mit diesen Worten das Sphären-
bewußtsein als solches, wie sie es erlebt, noch ehe es zu irgend-
einer bestimmten Sinnerfassung auf Grund dieses Erlebnisses
gekommen ist. Eine Fülle von Gegebenheiten, mehr oder we-
niger anschaulich, drängen sich der Vp. gleichzeitig auf, sie
weiß, darin steckt alles, Ess muß das Gesuchte daraus
hervorgehen.
Wenn wir uns einmal im Zustand einer solchen Erfassung
aus dem Sphärenbewußtsein heraus selbst beobachten, so werden
wir sagen, es ist fast unmöglich, das sprachlich auszudrücken,
was wir in diesem Augenblick erleben. So Verschiedenes ist
darin eingegangen; Gefühlsmäßiges, motorische Ansätze, ein
vages Wissen, wie sich dieses Etwas, das wir meinen, unter be-
stimmten Bedingungen verhalten würde, Urteilsmäßiges, ein
flüchtiges Vergleichen und Unterscheiden, das an schwach an-
schauliche Gegebenheiten sich. heftet, Lust, Unlust, Wert-
gesichtspunkte ... Und all das wird doch erlebt als Ganzes,
aus dem ein einzelnes Moment nicht herausgelöst werden kann,
denn sonst würde dieses Moment sich abheben gegenüber den
anderen und so das Ganze verfälschen, vergrößern, die Do-
minante verschieben. Alle diese Momente gehören in dieser
einzigartigen Potenzierung irgendwie zusammen als eines, eine
seelische Einheit 32).
32) Messer meint mit dem Sphärenbegriff nicht nur dieses unbestimmte
Gegenwärtighaben eines Gedankengehaltes, sondern auch jene Fälle, wo wir
im bloßen Verstehen eines Wortes hinweisen auf einen bestimmten Sach-
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 433
Das, worauf wir in diesem Erleben gerichtet sind, das, was
wir meinen, ist uns nicht als etwas von vornherein Bestimmtes
scharf umrissen gegeben, wie in einer Definition, oder als ein
bestimmt geformter Komplex, wie es die Wahrnehmungsrepro-
duktionen sind, auf die wir uns in unserem Gedächtnis stützen.
Eine ganze Fülle von Momenten klingt auf einmal an. In diesen
Momenten ist das Gesuchte dadurch gegenwärtig, daß wir
alle diese Momente alsirgendwie zusammenge-
hörig erleben. Diese Zusammengehörigkeit wird dadurch
erlebt, daß alle diese Momente eine bestimmte, seelische
Haltung in uns auslösen. In dieser seelischen Hal-
tung findet die Besonderheit dieses Momenten-
komplexes ihre Entsprechung. Wir können das
Wesen desjenigen, was von uns als zusammengehörig empfunden
wurde und damit gleichzeitig diesen Komplex nun näher be-
stimmen, indem wirunsere Haltung variieren. Das
geht innerhalb ziemlich enger Grenzen, ohne daß diese Ent-
verhalt. Wenn wir z. B. den Satz lesen, daß die Säugetiere, die Vögel und
Fische, rotes Blut haben, so werden wir die Begriffe Säugetiere, Vögel, Fische
nicht ausdrücklich im Bewußtsein realisieren, sondern nur in einem signitiven
Akt im Sinne Husserls (Husserl, Logische Untersuchungen) darauf hin-
weisen. Im Falle dieses hinweisenden Meinens sind wir auf einen bestimmten
Sachverhalt gerichtet; dieser wird an irgendeiner Stelle im Vorstellungsraum
lokalisiert, auf die wir im Sprechen bloß hinzielen. Wir wissen, dort liegt
das Gemeinte, wir könnten es realisieren, tun es aber nicht, sondern arbeiten
mit diesem Komplex oder mit der betreffenden Stalle, als wäre es die Sache
selbst. Dergleichen findet man oft in vollkommen automatisch verlaufendem
Denken oder dort, wo wir bloß an unser Gedächtnis zu appelieren brauchen,
um zu verstehen, was hier gemeint ist. Wir zitieren als Beispiel für solch
einen automatischen Verlauf Protokoli Nr. 59.
»Was meinen wir mit der Immanenz des Todes.«
Antwort: »Daß der Tod zum Leben gehört, daß er eben auch ein Lebens-
vorgang ist. Von mir eine Wendung nach links in den Raum ist etwas, als
als ob dort etwas Totes gefunden werden könnte. Das habe ich aber nicht
gesehen. Es liegt gleichsam parat dort, wennich os brauchen
würde, könnte ich mich hinwenden, um dort eine An-
schauung zu erhalten«
Die Vp. läßt sich an diesem Wissen genug sein, ohne es explizite zu
realisieren, ohne selbst hinzusehen, es genügt ihr, daß sie weiß, wenn sie
hinsehen wollte, könnte sie dieses Wissen realisieren.
In allen Fällen des signitiven Meinens handelt es sich im strengen Sinne
nicht um eine Sinnerfassung aus dem Sphärenbewußtsein heraus.
Wir haben darum in unseren Begriff vom Sphärenbewußtsein diese Fälle
nicht mit hineingenommen.
Archiv für Psychologie. LI. 28
434 Auguste Flach,
sprechung gestört werden würde. Sobald wir aber unsere ein-
fühlende Attitude über die gewisse Variationsbreite ihres
Geltungsbereiches hin aufrechtzuerhalten versuchen, werden wir
spüren, das geht nicht, hier besteht keine Entsprechung mehr,
hier beginnt bereits ein anderer objektiver Sinn, dem eine
andere Haltung wesensgemäß ist 33).
Auf diese Weise kommen wir dazu, durch diese Variationen,
durch dieses Suchen, Probieren, Ertasten, das jeder aus eigenem
Erleben kennt, die Grenzen festzustellen, welche der Variation
unserer Haltung durch den ihr entsprechenden objektiven Sinn
gezogen sind. Gleichzeitig ist uns dieser objektive Sinn auf
diese Weise erlebnismäßig durch die Grenze der Variationsbreite
möglicher Attituden gegeben. Ich möchte hier zwei unserer
Beispiele, Nr.9 »Bach«, Nr. 24 »Demut«, besprechen, bei denen
die Vp. aus dem Sphärenerlebnis durch Variation ihrer ein-
fühlenden Haltung zur Sinnerfassung gekommen ist.
Wir sehen an diesen beiden Beispielen: eine durch
die Aufgabenstellung ausgelöste Gerichtetheit auf den objek-
tiven Sinn »Demut« und »Bach«. Der objektive Sinn selbst
ist nicht als ein begrifflich bestimmter gegeben, sondern er
ist gegenwärtig als eine ganz komplexe Gegebenheit, in welche
die Vp. sich einfühlt; die Vp. erlebt eine bestimmte seelische
Attitude, welcher dieser von ihr zu erfassenden Eigenart ent-
spricht und diese zur Darstellung bringen soll. In Nr. 24 vari-
iert die Vp. ihre einfühlende Haltung und kommt im Erkennen
der Grenze, welche diesen Variationen gesetzt ist, dazu, den
Geltungsbereich dessen zu bestimmen, was wir »Demut« nennen.
In Nr. 9 zeichnet die Vp. ein bestimmtes Ornament als
Symbol für die Bachsche Musik. Dieses Ornament zeichnet
sie, während sie eine bestimmte Bachsche Musik akustisch
gegeben hat, in die sie sich offenbar einfühlt. Sobald ihr die
Fugen einfallen, sagt sie sofort, daß dieses Ornament für die
Fugen nicht mehr gilt. Die bestimmte Attitude, welche sich
im ersten Ornament ausprägt, und welche eine bestimmte Auf-
fassung der Bachschen Musik darstellt, läßt sich auf die
Fugen nicht ausdehnen. Die Fugen werden durch ein anderes
charakteristisches Ornament symbolisiert.
33) Vgl. auch Betz, Psychologie des Denkens S. 71.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 435
Dieses sphärische Erleben eines bestimmten Gedankengehalts
ist nicht vielleicht etwas, was vereinzelt vorkommt; jeder von
uns hat es schon erlebt, wenn man daran war, sich an einen
vergessenen Namen zu erinnern, oder wenn es einem so gar
nicht gelingen wollte, etwas zu sagen, was man »auf der Zunge«
hatte. William James) schildert das Suchen um einen
vergessenen Namen sehr treffend, indem er sagt: »Nimm an,
wir versuchten, auf einen vergessenen Namen zu kommen. Der
Zustand unseres Bewußtseins ist ein ganz besonderer. Es ist
eine Lücke darin, aber keine bloße Lücke. Diese Lücke ist stark
tätig. In derselben ist eine Art von Schemen des Namens. Er
zieht uns nach ganz bestimmter Richtung, gibt uns auf Augen-
blicke das prickelnde Gefühl der Nähe und läßt uns dann
zurücksinken ohne das ersehnte Wort. Wenn ein falscher Name
uns vorgeschlagen wird, beginnt die wunderlich bestimmte Lücke
unmittelbar in Aktion zu treten und weist den falschen Aus-
druck zurück. Er paßt nicht in ihre Form, und die Lücke für
ein Wort erscheint dem Bewußtsein gar nicht gleich der für
ein anderes, so leer von Inhalt sie beide scheinen mögen, wenn
man sie als Lücken beschreibt. Wenn ich vergebens versuche,
mir den Namen »Spalding« ins Gedächtnis zurückzurufen, so
ist mein Bewußtseinszustand ein ganz anderer, als wenn ich
mich umsonst bemühe, mich auf den Namen ‚Bowles‘ zu be-
sinnen.« r
Hier kommen wir auf den richtigen Namen dadurch, daß
wir verschiedene Namen probieren, von denen die falschen zu-
rückgewiesen werden, d.h. in unserem Sinn: Es werden die-
jenigen zurückgewiesen, welche in die gegenwärtige seelische
Haltung nicht passen. Diese seelische Haltung aber
wird durch das Gesuchte irgendwie determiniert.
Ähnlich beschreibt Müller-Freienfels35) die Situation,
in welcher wir uns befinden, wenn wir »einen Namen sagen
wollen, der uns auf der Zunge liegt und den wir doch nicht
aussprechen können. Es ist dann in der Seele eine ganz be-
stimmte Richtung, die sich negativ dadurch kennzeichnet, daß
jeder andere Namen, den ich heranbringe, sofort verworfen
34) William James, Text book of psychologie S. 163.
35) Müller-Freienfels, Das Denken uni die Phantasic, Leipzig
1916, S. 179.
28*
436 Auguste Flach,
wird«. Alle diese Aussagen stimmen darin überein, daß der
gesuchte Sinn in dieser sphärischen Gegebenheit irgendwie
gegenwärtig sei. Er erweist sich als wirksam, indem alles nicht
Passende verworfen wird, und kommt auch darin zum Aus-
druck, daß die Vp. das Gefühl hat, »in jedem Fall die Ein-
stellung realisieren zu können, sei es durch Visualisierung, sei
es durch Umschreibung mit Worten, sei es durch Aufsuchung
eines konkreten Falles«.
»Dieses Gefühl«, sagt Müller-Freienfels, »in jedem
Falle die Einstellung realisieren zu können, spricht dafür, daß
ich das, worauf ich in der Einstellung gerichtet bin, das, was
ich realisieren könnte, doch irgendwie habe.«
Aus diesen Erlebnistatsachen: 1. den Umstand, daß die
mannigfaltigen Gegebenheiten als in gewissem Sinne
zusammengehörig erlebt werden; 2. aus dem Be-
wußtsein, die seelische Haltung, die durch diese Ge-
gebenheiten in uns hervorgerufen wird, in jedem Falle reali-
sieren zu können; 3. aus dem WissenumdieGrenz-
bestimmung der Variationsbreite möglicher At-
tituden geht hervor, daß allen sphärischen Er-
leben das Wissen um einen objektiven Sinn die
Intention auf einen Gegenstand innewohnt.
Und damit stellen wir uns in Gegensatz zu allen jenen
Forschern, welche das Sphärenerlebnis als ein Gefühl auf-
gefaßt haben. »Das Gefühl kann noch alles mit allem ver-
binden«, sagt Cassirer. »Es enthält daher keine ausreichende
Erklärung dafür, daß bestimmte Inhalte sich zu bestimmten
Einheiten verknüpfen.« Wenn wir sagen, daß wir durch Varia-
tion der einfühlenden Haltung den objektiven Sinngehalt er-
fassen können, so ist es klar, daß sich die Einfühlung nur
auf die subjektive Weise des Erfassens bezieht, daß aber das,
was damit erfaßt wird, kein Gefühl ist. Das, was hier er-
kannt wird, ist das Wesen eines Sachverhaltes, etwas Gegen-
ständliches, Objektives, worauf wir gerichtet sind, das man
irgendwie gegenwärtig hat, dem aber jene extreme Ichbezogen-
heit fehlt, die jedes Gefühl vor allem charakterisiert. Karl
Bühler®°s) hat dieses Erleben eines Gedankens in der Sphäre
sehr treffend als »psychische Gegenstandsordnung« bezeichnet.
36) Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der
Denkvorgänge, Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. 9.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 437
Ich verweise auf unser Kapitel I, wo wir die von
W. Betz’) gegebene Darstellung der Hungergegend zitieren.
Aus dieser geht klar hervor, daß es etwas Gegenständliches
ist, das erlebt wird: »Hier achte ich nicht im geringsten auf
eventuelle Gefühle und Empfindungen in mir. Ich betrachte
diese Raumgegend beim Nachdenken über den Hunger gerade,
als ob der Hunger wie eine greifbare Sache in dieser Gegend
vorhanden wäre.«
Dieser objektive Sinn ist uns in der Sphäre nicht explizite
in begrifflich bestimmter Weise gegeben; es ist ein ganzer Sinn-
bereich, der anklingt, wo alle Gegebenheiten irgendwie auf den
gemeinten Sinn bezogen sind, und zwar meistens indirekt asso-
ziativ durch »Mitgegebenheiten« im Sinne Charlotte Büh-
lers®) oder als Konkretisierungsmöglichkeiten im Beispiel-
und Anwendungsfalle. Aus allen diesen kann der Gedanke sich
aufbauen, ohne noch in einem von ihnen klar zum Ausdruck
zu kommen. Durch Variation der einfühlenden Haltung wird
der allem sphärischen Erleben zugrunde liegende objektive Sinn,
der von uns als Zielstrebigkeit und Richtungsbewußtsein erlebt
worden war, vollständig präzisiert.
Dort, wo diese Präzisierung in sinnlich anschaulicher Weise
sich vollzieht, entsteht das, was wir ein symbolisches Schema
genannt haben. Das ist namentlich im Stadium der wortlosen
Gerichtetheit der Fall, wo wir uns bemühen, das Wesen eines
Sachverhaltes, das wir eben innerlich erleben, das wir mehr
oder weniger anschaulich doch irgendwie haben, darzustellen,
mit Worten zu charakterisieren. Da kommt es oft vor, daß
der Gedanke in seinen Grundzügen rein schematisch aus der
sphärischen Umhüllung hervortritt.
Z. B. in Nr. 19 schildert die Vp. die Art und Weise, in
der sich ihr im Augenblick das Wesen der Kontinuität dar-
stellt: »Ein sich Verlieren durch das Unaufhörliche, aus Mangel
an Verfolgungsmöglichkeit. Zuerst kam so ein Gefühl des Nicht-
aufhörenden, an das hat sich das Bild geschlossen, dann erst
kam die Formulierung. « Hier sehen wir sehr schön, wie sich
aus dem Sphärenbewußtsein das Bild herauskristallisiert, dann
erst folgt die Formulierung.
37) W. Betz, Psychologie des Denkens, Leipzig 1918.
38) Charlotte Bühler, Über Gedankenentstehung.
438 Auguste Flach,
Dort, wo diese Bilder aus »Ausdrucksnot« hervorgegangen
sind, wo inmitten dieser mannigfaltigen Gegebenheiten die Vp.
um die richtige Präzisierung ringt, finden wir oft merk-
würdige Wortneubildungen auftreten. Eine Vp. Messers rea-
giert auf »Uhr—Zeitweisend« und sagt: »Sofort das Bewußt-
sein dessen, was ich sagen wollte, aber ich hatte kein Wort
dafür; da mir keines einfiel, bildete ich eines« Die Vp. im
Protokoll Nr.19 »Kontinuität« charakterisiert das, was sie er-
lebt, durch das Wort »Fortsätzlichkeit«.
Ebenso Protokoll Nr. 25:
Wie würden Sie das Wesen der Gotik als geistiger
Bewegung charakterisieren?
»Himmlischkeit.«
Aus dem Bedürfnis, diese Fülle des sich andrängenden Er-
lebens möglichst in Worte zu fassen und adäquat zum Aus-
druck zu bringen, entstehen diese Wortneubildungen, welche
ein Versuch sind, die große Mannigfaltigkeit des aufgetauchten
Materials begrifflich und sprachlich zu bewältigen.
Sehr schön erkennen wir in denjenigen Fällen, wo das
Schema aus dem Sphärenbewußtsein hervorgeht, den produk-
tiven Charakter dieser Denkerlebnisse. Es ist gleichsam ein
Kristallisationsprozeß. Aus der Fülle an Gegebenheiten, welche
den Sinnbereich der Sphäre zusammensetzen, treten durch die
Schematisierung des Gedankengehaltes nur die für den Ge-
danken wesentlichen, ihn aufbauenden Momente in sinnlich an-
schaulicher Weise klar hervor.
- Die Bedeutung des dargestellten Phänomens des symbolischen
Schemas für das Verständnis der Denkvorgänge liegt darin,
daß sich hier ein Einblick in den Prozeß des produktiven
Denkens eröffnet. In bestimmten Fällen, wo es sich nicht um
einfache reproduktive Wissensaktualisierung handelt, stellt das
symbolische Schema eine besondere Art und Weise der Sinn-
erfassung dar. Diese Art und Weise ist dadurch charakte-
risiertt, daß der Sinngehalt als ein bestimmter
Komplex von Beziehungen spontan erfaßt wird.
Damit stellt sich das symbolische Schema neben die beiden
Fälle, welche Karl Bühler beschrieben hat, die indirekte
Erfassung und das Regelbewußtsein.
Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 439
Der Denktypus der indirekten Erfassung ist dann gegeben,
wenn das »Was« des Meinens durch Platzbestimmtheiten inner-
halb einer Ordnung ausgedrückt wird). Der Gegenstand ist
indirekt bestimmt nicht durch die ihm zukommenden Merk-
male oder Eigenschaften, sondern durch seine Beziehungen zu
anderen Gegenständen, die mit ihm in jene Ordnung hinein-
gehören.
»Eine Form der direkten Sinnerfassung hat Bühler“) be-
schrieben in dem, was er das ‚Regelbewußtsein‘ nennt. Auch
hier ist uns der Sinn als eine bestimmte Ordnung gegeben. Diese
Ordnung wird uns bewußt in der ‚Methode der Aufgaben-
lösung‘.«
Als eine spezielle Domäne des Regelbewußtseins hat Karl
Bühler das Gebiet der Gestaltqualitäten charakterisiert.
»Wenn ich auf den Linienkomplex einer kompliziereten mathe-
matischen Figur hinschaue, erst nichts mit ihnen anzufangen
weiß und mir dann plötzlich ‚aufgeht‘, was es mit ihnen für
eine Bewandtnis hat, was ist mir da ‚aufgegangen‘? Offenbar
der Sinn der Figur, und dieser Sinn ist in allen Fällen etwas
Gedankliches. In vielen nichts anderes als ihr Gesetz. Man
braucht dabei nicht gleich an ein exaktes und die Figur voll-
kommen wiedergebendes Gesetz denken, es wird oft nur ein
Teil dieses Gesetzes oder eine rohe Bildungsregel der Figur
sein, aber sie geht, was uns hier allein interessiert, in
einem Regelbewußtsein auf, das dann jene eigenartige Durch-
leuchtung des sinnlichen Bildes erzeugt, deretwegen man von
einem Aufgehen (eines Lichtes) spricht. Etwas Ähnliches liegt
vor, wenn ich plötzlich die Konstruktion einer Maschine oder
den Plan eines Bauwerks verstehe.«
Das von uns beschriebene symbolische Schema zeigt in be-
stimmtem Sinn das Spiegelbild zu dem Linienkomplex, an dem
plötzlich ein Gedankliches, eine Gesetzmäßigkeit erfaßt wird.
In unseren Fällen ist es so, daß aus dem Gedanken heraus das
anschauliche Schema hervorspringt.
Wenn wir in einer sinnlich gegebenen Mannigfaltigkeit, wie
sie z. B. in futuristischen Bildern vorliegt, plötzlich einen
39) Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der
Denkvorgänge, Arch. f. d. ges. Psychologie Bd.9 S. 127.
40) Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der
Denkvorgänge, Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. IX S. 341.
440 A.Flach, Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß.
gegenständlichen Sinn finden (man kann auch sagen .hinein-
sehen), so haben wir das Konkrete und Räumliche zu einem
abstrakten Gehalt in Beziehung gesetzt. Im Falle des sym-
bolischen Schemas ist es umgekehrt: Wir haben uns abstrakte
Beziehungen in der Form von räumlichen und konkreten Rela-
tionen zum Bewußtsein gebracht.
Beiden Fällen ist aber das gemeinsam, daß das Verständnis
eines Gedankens durch das unmittelbare Erfassen der Kon-
stellation von Beziehungen erfolgt, die ihn aufbauen.
(Eingegangen am 20. März 1925.)
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und
wie sie wirkt.
Das Grundkapitel in der Psychologie der Sprache,
Von
Christian Rogge (Neustettin).
Vorbemerkung. |
Die nachstehende Abhandlung war schon längere Zeit nieder-
geschrieben, da kam mir Harald Höffdings Buch: »Der Be-
griff der Analogie«, Leipzig 1824, zu Gesicht. Ich nahm es mit
der Erwartung in die Hand, auch als Sprachpsychologe Be-
lehrung zu finden, um so mehr als ich vor langen Jahren die
Psychologie des Verfassers mit großem Gewinn studiert hatte.
Leider muß ich sagen, daß mich die Lektüre nicht wenig ent-
täuschte: gewiß, dieselbe Schärfe und Weite des Blicks, wie
das weise abwägende Urteil, und ein großer Reichtum an Ideen,
wie man es bei Höffding gewohnt ist, aber was ich suchte,
fand ich so gut wie gar nicht.
Man mag sagen: Höffding hat eben für den Sprachforscher
nicht geschrieben; aber damit ist die Sache doch nicht abgetan.
Sein Werk hat, um es mit Friedrich Nietzsche zu sagen
(W. 2, 18ff.), den Fehler, daß es vom gegenwärtigen Menschen
ausgeht und durch eine Analyse desselben dem Ziele zustrebt,
als ob der Mensch der letzten vier ‘Jahrtausende, den wir un-
gefähr kennen, der Mensch von Ewigkeit her wäre, immerdar
derselbe, während er doch in langsamer Entwicklung geworden,
auch sein Erkenntnisvermögen geworden ist, und darum alles
Philosophieren historisch vorgehen muß.
Daß unsere Zeit diesem Zuge auch wirklich folgt, ersieht
man an der lebhaften Arbeit der prähistorischen Wissenschaft;
aber die geschichtlichen Dokumente der Paläontologie sind stumm
442 Christian Rogge,
und vermögen uns über Denken und Empfinden des Menschen der
Urzeit nichts zu sagen. Wenn wahr ist, was doch wohl niemand
bezweifelt, daß der Mensch zum Menschen erst wurde durch die
Sprache, daß Sprachwerdung Menschenwerdung ist, so kann hier
allein die Sprachwissenschaft helfen, insofern sie sich als Psycho-
logie des sprechenden Menschen ausweist und so die Sprache
als älteste Geschichtsquelle ausnutzt.
In diesem Sinne möchten die nachstehenden Ausführungen
verstanden werden.
Sie bilden eine Art Gegenstück zu dem Artikel: »Der wirk-
liche Wert der Lautphysiologie .. .c, Monatschrift f. Psychiatrie
u. Neurol. 1924, S. 307—319: dort die physiologische, hier die
psychologische Seite der Sprache. Der Psychologe wolle freund-
lichst bedenken, daß ein Sprachforscher zu Worte kommt, der
seine Aufstellungen naturgemäß sprachwissenschaftlich
ausreichend begründen muß.
Wem die sprachhistorischen Belege etwas unbequem er-
scheinen, der sei gebeten, zum Teil über sie hinwegzusehen und
sich an die Sache zu halten, die dargelegt werden soll: daß
die Analogie der Sprache ein Spiegel der Ideen-
Assoziation ist, daß der Wortangleichung immer
eine Sachangleichung vorausgeht.
Es liegt uns fern, dem Urteil des geneigten Lesers vor-
zugreifen und ihm zu sagen, was die nachfolgenden Erörterungen
an Psychologie zu bieten vermögen. Aber Einiges darf doch
wohl hervorgehoben werden. Die heutige Psychologie, vor allem
soweit sie physiologisch zu Werke geht, nimmt außer der Ähn-
lichkeits-Assoziation, der inneren, die man übrigens auf wenig
Fälle zu beschränken sucht (s. Th. Ziehen, Physiol. Psychol.
8. Aufl. S.187), eine äußere oder Kontiguitäts-Assoziation an; in
der Sprache, d.h. also im sprachlichen Denken — und Denken und
Sprechen läßt sich nicht trennen — gibt es nachweisbar nur
eine Assoziation der Ähnlichkeit. Alle Assoziationen aber am
Wort vollziehen sich biologisch, je nachdem das Sprachgeschehen
dem Auge des eigentlich sprachschaffenden oder dem Ohre
des aufnehmenden Menschen gehorcht, allgemein in doppelter
Weise: sie sind Sprachsprechvorgänge, indem sie erfolgen ent-
weder unmittelbar unter dem Eindrucke dessen, was das Auge
leiblich und auch geistig erschaut, oder Sprachhörvorgänge unter
dem Eindruck dessen, was das Ohr, den Wortklang verarbeitend,
tut, um zur Sachvorstellung des Sprechers zu gelangen und in
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 443
seiner Art Neues hervorzubringen. Diese Unterscheidung eines
doppelten Sprachschaffens, von ungemeiner Bedeutung für allen
Sprachwandel, aber bisher von der Wissenschaft ihrem Wesen
nach noch nicht erkannt, wird im folgenden kurz entwickelt
und muß u. E. auch für die Psychologie grundlegend sein; man
kann sich davon leicht überzeugen, wenn man den Wandlungen
einer zwanglos fortlaufenden Unterhaltung folgt, wo ein Wort
das andere gibt, je nachdem die Sachbemerkung eines Mit-
sprechers oder ein gehörtes Wort den springenden Faden fort-
leitet. Goethe hat das schon fein durchschaut; sagt er doch:
Wort und Bilder, Bild und Worte
Locken uns von Ort zu Orte,
Und die liebe Phantasei
Fühlt sich hundertfältig frei.
Was Ziehen S. 202 und 188 als Anzeichen der Ideenflucht
beibringt, ist vom sprachlichen Standpunkt aus krankhafte Hör-
angleichung. Daß die Sprachwissenschaft mehr als die physio-
logische Psychologie (Ziehen S. 176) berufen ist, über die Ent-
stehung und das Wesen des Begriffs mitzureden, wird unten
S. 467 gelegentlich gestreift, und über logisch und prälogisch
(Höffding S. 7ff.) mag man bei den Naturvölkern nachfragen,
wird aber nicht vergessen dürfen, daß die Hauptfingerzeichen
in der Sprache zu suchen sind. So und ähnlich kann die Psycho-
logie im Leben der Sprache die Ausbeute finden, die Wilhelm
Wundt dort suchte, aber doch eigentlich vermißte, weil er
nicht genug Sprachforscher, d. h. Sprachpsychologe war.
Was Analogiebildung ist, wird im allgemeinen wohl als eine
ausgemachte Sache betrachtet. Sieht man genauer zu, so er-
kennt man bald, daß weder der Begriff der Analogie ein fest
umschriebener ist, noch über die Auswirkung derselben all-
gemein geltende oder wissenschaftlich wie praktisch bewährte
Anschauungen bestehen. Wir möchten zuerst vom Wesen der
Analogie handeln, indem wir, soweit es hier der Raum gestattet,
der Entstehung des Begriffs und seiner Schicksale in der alten
Grammatik, d. h. der Griechen und Römer und der ausschließ-
lich in ihren Bahnen wandelnden Grammatik, und ebenso in
der modernen, durch die vergleichende Sprachforschung beein-
444 Christian Rogge,
Aubten Grammatik nachgehen ’). Ist so die Unterlage geschaffen,
zu erfassen, was die Analogie wirklich ist, so wird sich ebenso
in allgemeinen Zügen sagen lassen, wie sie im Sprachwandel
wirkt.
L Zur Geschichte der Analogie.
a) Entdeckung der Analogie und ihr Wandel in der alten Grammatik.
Man wird ausgehen von der Etymologie des Ausdrucks dva
Aöyov »auf den Sinn, das Gedachte hin, sinngemäß«; dvd zur
Bezeichnung des Grundes (Gerth-Kühner, Ausf. Gr., Synt.
"Bd. 1 S. 474), was sonst xará auszudrücken pflegt; daher in der
Grammatik dasselbe, was später xarà oúreoi, z. B.: tria capita
coniurationis . . . percussi sunt Liv., weil man im Sinne hat:
drei Menschen sind getötet, capita also — homines ist. Dies dya
iöyov gab dann nach dem Muster von oúuuctoos »gleichmäßig,
angemessen« ein Adjektiv dvdAoyos und ein Adverb dvaldyws
her. Plat. Phäd. 110 D las noch J. Bekker ävydioyov, während
man heute åvà Adyo» trennt. Als Synonyma aber verbindet Plat.
Tim. 69, B dvdioya xal ouuuerga, woraus wir, da oduuerpos die
ältere Bildung ist, den Schluß machen, daß dieses für dvdAoyos
als einheitliche Bildung aus dvd Adyov zum Muster gedient hat ?).
Doch von solchen Dingen später mehr! Aus dvdioyos entspringt
dann ävaloyla, wie aus oduueroos entstand ovuusrola; man vgl.
Pl. Tim. 69: ó deös v Exdorw te aùt® noös abrd xal nods Allnla
ovuuerpias Evenoinoev, Öoas te xal ny Övvaröv N» Gvdloya xal
oduueroa elvaı, d.h. kurz: »ein Gott schuf für jedes Ding in
sich ein angemessenes Verhältnis der Teile zueinander, schuf
solche Beziehung auch für das Verhältnis von Dingen zu ein-
ander«. So kommt es denn, daß dvakoyileodaı heißt: eine Schluß-
folgerung machen vom Einen auf ein Anderes, das irgendwie
wesensähnlich ist, wie wir ja logisch noch heute von einem
Analogie-Schluß, anthropologisch von Analogie-Zauber sprechen.
Bezeichnend ist es für das sachrichtige Denken der Griechen
1) Eine ausführliche Geschichte des Analogiebegrifis dürfte ein dringen-
des Bedürfnis der modernen Sprachforschung sein; hat doch der Begründer
derselben, W. v. Humboldt, gemeint, daß in einer Sprache alles auf Ana-
logie berahe; G. v. d.Gabelentz, Die Sprachw. 2. Aufl. S. 216 Anm.
2) Auch ovuusroos hat gleichen Ursprung: was où» uérow ist; auch hier
muß eine feste Wortform die Adjektivbildung bewirkt haben.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 445
und ihr scharfes Beobachten, daß sie dieses dvaloyllsodaı »Dinge
auf ihre Ähnlichkeit hin miteinander in Verbindung bringen«
auch auf die Tiere anwenden. So läßt Xenophon als erfahrener
Jäger Memor. 2, 1, 4 den Sokrates sagen, die Rebhühner ver-
lören im Augenblick der Begattung das Vermögen, die ihnen
drohende Gefahr zu erkennen (2£loraodaı tod ra dewa dvaloyl-
coa); die Erinnerung an ähnliche Fälle sei also ausgeschaltet.
— Damit wolle man vergleichen, was Fr. Nietzsche Bd.5
S.152 über »die Herkunft des Logischen« sagt: »Woher ist die
Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiß aus der Un-
logik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß.
Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir
jetzt schließen, gingen zu Grunde... Wer z.B. das Gleiche
nicht oft genug aufzufinden wußte, in Betreff der Nahrung oder
in Betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam sub-
sumierte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte geringere
Weahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem
Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang
aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang
— denn es gibt an sich nichts Gleiches — hat erst alle Grund-
lage der Logik geschaffen.<e So also Analogie ein biologisches
Grundgesetz. Die menschliche Denklogik aber entsteht durch
die Sprache (s. unten S. 467 ff.).
Begegnet so dvaloyia zunächst bei den Philosophen, bei
Aristoteles noch öfter als bei Plato, so ist es, da Sprach-
forschung ja philosophischen Ursprungs ist, besonders insofern
man früh nach dem Verhältnis von Name und Begriff zur Sache
fragte, gar nicht wunderbar, daß dvaloyia auch auf sprachliche
Untersuchungen übertragen wurde. Dies geschah durch die
Stoiker, voran durch Chrysipp; aber wohlgemerkt, es geschah
im philosophischen Sinne, nicht im eigentlich grammatischen.
Die Stoiker suchten von der Sprache her das Wesen der Dinge
zu ergründen, waren daher auf das Verhältnis des Wortes zur
bezeichneten Sache aus und unterschieden danach Fälle, wo der
Name der Sache entsprechend, — analog war, und solche,
wo nicht Analogie, sondern Anomalie herrscht. Man fand
z.B. eine Anomalie darin, daß ein Plural wie ’Adrvaı, Zvod-
xovoaı eine nöles bezeichnete, also für einen Singular eintrat,
oder das sprachlich ausgedrückte Geschlecht dem natürlichen
widersprach, z. B. ein Knabe oder auch ein Mann gihe téxvoyv
angeredet, ein weibliches Wesen neutral benannt wurde.
446 Christian Rogge,
Aber da solche Untersuchungen nur philosophischer Erkenntnis
dienten, so sind, genau genommen, die Stoiker nicht, wie man
gewöhnlich liest?), die Schöpfer des grammatischen Terminus der
Analogie. Sie sind es nur gewesen, welche die Veranlassung
dazu gaben, daß diese Fachbezeichnung von der Grammatik an-
genommen und für das Verhältnis auch von Wort zu Wort,
nicht wie bis dahin nur von Wort zur Sache gebraucht wurde.
Bezeichnend dafür ist, daß die alexandrinischen Grammatiker
die Analogie als Fachausdruck für ihre sprachlichen Untersuchungen
zunächst nicht anwendeten °. Wenn sie aber den Namen nicht
haben, so haben sie doch die Sache, wenden, wie K. Reisig,
Vorles. ü. lat. Sprachw. S.7 es als das Wesen der sprachl.
Analogie findet, das Analogieverfahren an als »den grammatischen
Weg zur Auffindung des Sprachgebrauchs«, bei Homer be-
sonders. Wir können uns auch eine Vorstellung davon machen,
wie sie dabei vorgingen, und es ist wichtig für eine Feststellung
dessen, was Analogie wirklich ist, sich zu vergegenwärtigen,
daß sie dabei nicht bloß die gleiche Flexionsweise der Wörter
im Auge hatten, das Verhältnis einer Wortform zur andern,
sondern zu allermeist an die Wortbedeutung dachten, welche
die analoge Form hervorruft, an die res quae verbis dicuntur
(Varro de ling. lat 10, 68). Aus diesem Grunde, so dürfen wir
nach Varro annehmen, sah Aristophanes v. Byz. dyadös
und xaxös, dyadol und xaxoi als gleichgebildet.an; wir könnten
in seinem Sinne xalös, aloyods, &o94ds mitanreihen. Den Spuren
seines Lehrers Aristophanes folgte Aristarch, an Schärfe
des Verstandes und Feinheit der Psychologie den Lehrmeister
überragend. Er sucht, wie wir sehen?), um den Wortgebrauch
bei Homer festzulegen, Wortformen von gleicher oder ähnlicher
Bedeutung und gleicher Art auf. So z. B. schreibt er Ilias
3, 270 xedov »sie gossen (das Wasser auf die Hände der Opfern-
den) nach dem Muster von zwioyo» »sie mischten Weine, — eben-
falls für die Opferhandlung, und M 159 verlangt er zum Plur.
1) So auch bei W. Kroll, Gesch. der klass. Philol. (Leipzig, Göschen 1909)
3.36, wo daher der Übergang von den Stoikern zu den Alexandrinern un-
vermittelt erscheint.
2) So nach Steinthal, Gesch. der Sprachw. bei d. Gr. u. Röm. 447 A
gegen Nauck, der dem Aristophanes ohne ausreichenden Beweis ein Buch
xeoi avaloylas zuschreibt, gleich Kroll a. a. O.
3) Die Beispiele bei K.Lehrs, De Aristarchi stud. Hom. u. bei H.
Steinthal, Gesch. der Sprachw. b. d. Gr. u. Römern S. 449 ff. u. sonst.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 447
des Neutr. ߣAea gegen den ihm gewohnten Sprachgebrauch auch
den Plur. des Verbs, d&ov; es geschieht, weil es 156 heißt
yıpdödes ds nintov Eoale, »gleich Schneeflocken fielen die Ge-
schosse«, d. h. weil es hier im Zusammenhange der Rede wirk-
lich auf den Ausdruck der Vielheit auch bei ߣ4ea ankommt.
Wer, was hier nicht geschehen kann, ins Einzelne den Gründen
nachgeht, auf welche hin Aristarch über eine Lesart die
Entscheidung trifft, der muß meist staunen über die geniale
Sicherheit des Forschers.
Das Verfahren aber, das Aristarch hier anwendet, ist das
der Analogie. Der Name für die Sache kommt in der Grammatik
wiederum von den Stoikern, von Krates aus Mallos, der, von
Hause aus stoischer Philosoph, sich ebenfalls mit Homer-Erklärung
abgab und als Vertreter der pergamenischen Schule den Alexan-
driner Aristarch mit seiner Entscheidung nach den Ähnlich-
keiten dvdloya bekämpfte, indem er hervorhob, wie im Sprach-
gebrauch die dvwualia herrsche.
So die Analogiebildung auf Grund der Sinnähnlichkeit.
Die Schüler und Nachfolger Aristarchs, zumeist Geister
geringen Maßes, suchten, was der Meister in sachsicherem Sprach-
gefühl von Fall zu Fall geübt hatte, auf feste Regeln und
Formeln zu bringen, genötigt durch die Gegnerschaft der Ano-
malisten. So stellten sie denn xa»öves in großer Zahl auf, womit
das entstand, was wir Paradigma nennen, und Analogie war
nunmehr, was entsprechend einem Paradigma gebildet war. Dies
der Weg, auf dem es zu der Grammatik kam, die bei allen
Kulturvölkern des Westens noch heute gilt, die Aristarch
als Lehrgebäude noch nicht kannte Analogie ist nun
grammatische Regel, die im Deklinieren, Konjugieren,
Komparieren usw. nach vorliegenden Mustern geübt wird. So
kann man es bei den lateinischen Grammatikern (hrsg. von H.
Keil) lesen; z.B. wenn es bei Charisius (4. Jahrh. n. Chr.)
heißt: analogia — regula sermonis (456) oder bei Servius
(5. Jahrh.) declinatio nominum inter se omni parte similium
(435) usw.
Und von Donat her hat dann die Grammatik der Neuzeit
für Latein und Griechisch die Methode, das Regelmäßige und
die Ausnahmen zu bestimmen, unbesehen übernommen. Wie bei
Donat selbst (um 350 n. Chr.) verschwindet der Name der
Sache zumeist wieder; in der viel gebrauchten Grammatik von
Zumpt z. B. findet sich, soviel ich sehe, die Analogie nicht
448 Christian Rogge,
beachtet. Bei Reisig, wie erwähnt (6), wird sie etwa mit dem
Sprachgebrauch gleichgestellt, und so auch sonst. Analogie be-
zeichnet, wie Curtius (Zur Krit. der neuesten Sprf. S. 38) sagt,
im Sinne der Alten und der ihnen folgenden Grammatik die
Regel, und wenn man dann zwar, weil Regel das war, was
vorher Analogie, nicht mehr von Analogie zu sprechen pflegte
so gebrauchte man doch für Abweichungen von der Regel, wo
ein Ausbiegen in eine andere Bildungsweise vorlag, gern den
Ausdruck »falsche Analogie«. Auf zweierlei kommt der Wandel
des Analogieprinzips, der mit der Ausbildung der Grammatik
eintrat, im wesentlichen hinaus: Aristarch, der eine Grammatik
nicht kannte, verglich, wenn er nach der Regel suchte, die
einzelne Form mit einer andern, bildete daher, wie erwähnt,
z. B. oiöv »der Schafe« nach dıy@v »der Ziegen<; die zünftigen
Grammatiker dagegen fragten, wie sich die Wortform dem
grammatischen Schema einreihte Und zweitens: Aristarch,
dem Sprachgefühl folgend, entschied über den Einzelfall, indem
er zusammenbrachte, was der Sachbedeutung nach ihm auf
Grund seiner Homerlektüre als zusammengehörig erschien; die
Grammatiker dagegen dachten, wo ihnen etwas Abweichendes
begegnete, an die Aufstellung eines neuen Schemas (Paradigma
xavöv). Aristarch betonte N. 103 dow» »der Schakale« auf
der Vorletzten, nach dem Muster von Avxw» »der Wölfe«, weil
für sein sprachliches Denken Wölfe und Schakale psychologisch
verknüpft waren, wie denn ja auch N. 103 3ow» mit Avxwr
vereint vorkommt; Grammatiker aber wie Pamphilus wollten
nach Yno@r, xvvcoy auch Ywar bilden, während andere mit dor
und sonstigen vokalstämmigen Substantiven ein neues Paradigma
ansetzten (Towes, duwes)}).
b) Die Analogie der modernen Grammatik.
Hier erscheinen die alten Gegensätze Analogie — Anomalie,
Regel-Ausnahme — in neuer Beleuchtung; leider nicht mit fort-
schreitender Klärung des Sprachvorganges. Die Römer gaben
das griechische dvaAoyla durch proportio wieder. Dadurch scheint
Steinthal(Gesch.S. 447,495) zu einer mathematischen Auffassung
geführt zu sein, indem er proportio im Sinne von Gleichung —
Proportion verstand; daß Varro, an den anschließend sich
Steinthal so äußert, auch gleicherweise dachte, ist schwer
1) Steinthal, Gesch. d. Sprachw. S. 479.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 449
zu glauben. Herm. Paul, der Schüler Steinthals, sieht in
der analogischen Neuschöpfung allen Ernstes die Auflösung einer
Proportionsgleichung (Princ. ® 106; 97). Wer diese Ausdrucks-
weise zurückübersetzt in die früher übliche, der erkennt, daß
es nichts anderes bedeutet als: ein Wort wird nach einem Para-
digma flektiert. Nicht viel Anderes will es besagen, wenn
Wundt (D. Spr. Bd. 1 S. 464) behauptet, wir trügen paradigma-
tische Vorstellungsreihen als latente Kräfte in uns, oder wenn
G. v. d. Gabelentz (D. Sprw. ꝰ S. 63) meint, die Formung
der Wörter geschehe als unbewußte Abstraktion aus vielfacher
Erfahrung und Übung, und die Wirkung dieser unbewußten
Abstraktion sei Analogie. — Man wird sagen müssen, daß hier
dasselbe Hindrängen auf Regel und Schema vorliegt wie bei
den alten Grammatikern mit ihrem Kanon; ja, wenn die Ana-
logie in der Art einer mathematischen Gleichung verstanden
wird, so geht das im Grunde abstraktionsweise noch über den
Schematismus der Alten hinaus.
Wie die Analogie als Regel und Norm des Sprachgebrauchs,
so erscheint auch die Durchbrechung desselben, die Anomalie,
wieder bei den modernen Sprachforschern junggrammatischer
Richtung, und zwar zunächst auch als falsche Analogie, um
dann den Zusatz der »falschen« zu verlieren. Bestimmender
Führer in der Sache war hier Wilh. Scherer, der (Zur Gesch.
d. dtsch. Spr. 1868 S. 177) die Anregung gab, man sollte doch
einmal die Formübertragung oder Wirkung der »falschen Ana-
logie«, wie sie bei Bildungen nach der Art von yéłaju pilnu
doxiuwuı, dem Muster der Verba auf ¿u folgend, eingetreten, im
allgemeinsten Zusammenhange erörtern und namentlich die Ein-
schränkungen feststellen, innerhalb deren dieser Vorgang sich
halten müsse. S. 473 ist dann nachtragsweise von der Art der
Formübertragung die Rede und ebenso von analogen Vorgängen
wie Umdeutung, Mißverständnis, falscher Folgerung, die aber
nach Scherer von der Formübertragung zu sondern wären.
Scherer selbst wandert da wie Schleicher in den Spuren
Darwins und läßt die Form a über b durch die tatsächliche
Übermacht siegen, die auf der Häufigkeit des Gebrauchs beruht,
wieder eine abstrakte Allgemeinheit, mit der sich im Einzelfalle
kaum etwas anfangen läßt. H. Hirt, der in Griech. Laut-
und Formlehre (S. 71) die beste Übersicht über das, was man,
Wundt eingeschlossen, in neuster Zeit über Analogie denkt,
kurz und knapp beibringt, ist der Meinung, man solle aus
Archiv für Psychologie. LII. 29
450 Christian Rogge,
praktischen Gründen den Ausdruck falsche Analogie beibehalten,
wenn er auch psychologisch nicht berechtigt sei; er versteht
sie zutreffend dahin, daß durch die Analogiebildung Formen
hervorgebracht werden, die vom Sprachgebrauch abweichen und
daher zunächst von manchen als falsch empfunden werden; also
eine regelrecht gehende Analogie und eine falsche, die doch
wieder keine ist. Dazu nehme man, was G. v.d. Gabelentz
(D. Sprw. °? S. 63) allgemein von der Analogie sagt, das
Analogiebedürfnis wirke oft störend, mißleitend; das Wort habe
fast einen revolutionären Klang, wie denn F. Brunot (Gramm.
hist. d. l. langue franç. * 62, 244) von einer action perturbatrice
de l'analogie spricht.
Noch verwickelter wurde die Frage der Analogie, als die
Junggrammatiker mit ihren Lautgesetzen auftraten. Hirt fährt
a. a. O. etwas unvermittelt fort: »Die Analogiebildungen be-
wirken nun die meisten Ausnahmen von den Lautgesetzen.«
Sie bilden, wie Delbrück, Grundfr. S. 99 sagt, den störenden
Faktor gegenüber den Lautgesetzen; so auch F.Sommer (Lat.
Laut- u. Formlehre ? S. 33): »Vor allem ... beeinträchtigen
die gewaltigen Einflüsse der Analogie, die sich auf allen Ge-
bieten des Sprachlebens geltend machen, die Wirksamkeit der
Lautgesetze.< Folgerichtig war es da nur, wenn H. Osthoff
ein physiologisches und ein psychologisches Moment in der sprach-
lichen Formenbildung unterschied. (Virchow u. Holtzendorff,
Vorträge S. 327. H. Paul bemerkt nun dazu (s. Wechßler,
Gibt es Lautges. S.73 Anm. 2): »Die Grenze zwischen Laut-
wandel und Analogie ist so scharf zu ziehen wie nur irgendeine
in der Welt. Freilich Osthoffs Gegenüberstellung eines phy-
siologischen und eines psychologischen Moments geht im Aus-
druck fehl, insofern auch die physiologische Seite der Sprach-
tätigkeit psychologisch bedingt ist. Aber die Scheidung bleibt
darum doch bestehen«, und so wird denn geschieden zwischen
Veränderung der Laute ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung —
was man gemeinhin eben mechanischen Lautwandel nennt —
und Veränderung, veranlaßt durch deren Bedeutung. Hier also
Physiologie und doch Psychologie, worauf denn oft von psycho-
physischen Sprachvorgängen gesprochen wird. Eine wichtige
Rolle spielte die Analogie in dem Streit um die Lautgesetze,
den die Junggrammatiker hatten mit den Vertretern der alten
Richtung, besonders mit G. Curtius. Dieser, durch seine vor-
nehme, ruhige Art den Gegnern überlegen, zeigt sich doch etwas
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 451
stark im Alten befangen und hat so leider in bezug auf die
Anwendung des Analogieverfahrens den Fortschritt gehindert.
Das geschah, indem er einerseits (Zur Krit. S. 38) geltend machte,
die Analogie der neuen Herren sei die alte Sache der »falschen
Analogie«, die durchaus logisch gedacht wäre, und andererseits
(S. 41), es sei schwer, Analogiebildungen mit Sicherheit fest-
zustellen. Von verschiedenen Seiten her ließen sich Stimmen in
ähnlichem Sinne vernehmen, eindringlich zur Vorsicht mahnend
(so selbst Scherer u. Joh.Schmidt), da die Wirkung der
Analogie zufällig und unberechenbar sei. Sprach doch V. Henry
in seinem Buch Étude sur l’Analogie 1883 von ihr als von
einem chapitre intéressant de töratologie, was nichts Geringeres
besagte, als daß es sich da handle um eine Lehre von den Miß-
geburten der Sprache. Damit war man also wieder bei dem
Standpunkt angekommen, den früher im Sinne der Alten A.
Lobeck einnahm, wenn er de pathologia sermonis schrieb. Und
bezeichnend ist, daß der Amerikaner W.D. Withney, der, ob-
gleich in Deutschland sprachwissenschaftlich geschult, in seiner
»Sprachwissenschaft« (deutsch von J. Jolly 1874) die Forschung
gegenüber deutschem Wesen auf den Boden des gesunden
Menschenverstandes zurückbringen möchte, in seinen Vorlesungen
von der Analogie überhaupt nicht spricht‘). Kein Wunder unter
diesen Umständen, daß die Junggrammatiker, deren Haupt-
verdienst vermutlich einmal darin wird gesehen werden, auf das
alte Prinzip der Analogie die allgemeine Aufmerksamkeit wieder
hingelenkt zu haben, nach ihren schönen Siegeszügen in den
»Morphologischen Untersuchungen«< nach und nach selbst be-
denklich wurden und neue Eroberungen mit der Zeit hier so
gut wie ganz aufgaben. Eigentlich bläst in den Morphologischen
Untersuchungen Osthoff, neben Brugmann der Hauptkämpfer
für die neue Sache, schon 1879 in seinem bekannten Vortrage
über das psychologische und physiologische Moment zum Rück-
zuge, wenn es S.22 heißt: »Die Zufälligkeiten der Analogie-
bildungen sind schon einmal unlängst von einer Seite?) als
Moment geltend gemacht worden, um die Bestrebungen der mit
1) Man hätte das S. 65 erwartet, wo jede Neuerung in der Sprache auf
den Willensakt eines Einzelnen zurückgeführt wird, der sie erdachte und
durch seinen Vorgang in Umlauf brachte; wie man sieht, der Rationalismus
des 18. Jahrhunderts. Die Erscheinungen der Analogie ‚rechnet er nach
Curtius, Kritik S. 38 gelegentlich anderswo zu den blunders.
2) Gemeint: von Curtius in den >»Studien«.
29*
452 Christian Rogge,
dem Analogieprinzip operierenden Sprachforscher zu diskreditieren.
In der Tat herrscht gegenüber der unausweichlichen Gewalt,
mit der die physiologischen Gesetze der Sprache auftreten,
einige Freiheit der Bewegung bei der assoziierenden Sprech-
und Sprachumformungstätigkeit.«e Woher aber bei diesen jungen
naturwissenschaftlichen Forschern auf den Spuren Darwins
und Thomas Buckles gegenüber den Alten, die Wilh.
v. Humboldt folgend, dem Idealismus kantischer Richtung an-
hingen, diese Unsicherheit schon im Augenblick lebhaften An-
griffs? Sie kam daher, daß man über das Analogieprinzip, welches
man anwenden wollte, im Unklaren wart). Und es ist Paul
(Prinz. ® S. 96—107), Wheeler (Analogy and the scope 1887)
und W. Wundt (D. Sprache ! S. 424 ff., insbes. 447 ff.) nicht ge-
lungen, in der Sache Klarheit zu schaffen.
Der Fehler liegt, wie ein Rückblick auf die Entwick-
lung des Kampfes um die Analogie zeigt, darin, daß man
diese Erscheinung in alter wie in neuer Zeit zu sehr als
eine bloße Sache der sprachlichen Formgebung ansieht und
dabei aus dem Auge verliert, wie alle Sprachbezeichnung
doch alsSachbezeichnung muß genommen werden und alle
Sprachforschung zugestandenermaßen doch Sachforschung
sein soll. Bei den Alten mit ihren xayvóves, bei ihren Nachfolgern
mit der grammatischen Regel, wie bei den Modernen mit der
mathematischen Gleichung verschwindet der individuelle Einzel-
fall, wie ihn das Leben und die Erfahrung der Sprachschöpfer
mit sich bringt, ganz im dunkeln Nebel). Aus einer Sachlehre
ist mehr oder weniger eine bloße Wortlehre geworden. Wir
müssen also, um das Wesen der Analogie richtig zu erfassen,
zu den Philosophen, besonders Plato, zurücklenken, wo Ana-
logie als eine reine Sachbezeichnung, mit ovuuerogia
synonym, das Verhältnis ähnlicher Dinge und Vor-
gänge zueinander bezeichnete, wobei wir im Auge zu be-
1) Bei diesem Mangel an Zuversicht verschwindet denn auch mehr und
mehr die Analogie, und mag man auch die Wirkung derselben noch so
sehr betonen, so z. B. Sommer, Lat. Laut- u. Forml. ? S. 33, die An-
wendung des Prinzips geschieht nur gelegentlich.
2) Auch H. Sweet, der grundsätzlich auf das Greifbare aus ist, bleibt
doch bei Allgemeinheiten stehen, indem er New engl. Gramm. Bd. 1 S. 187
analogy als group influence versteht oder S. 189 als instrument of change
und von der »preponderance« und »the greatest number« spricht. — So
dringt man nicht zum individuellen Sprachleben vor.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 453
halten haben, daß Männer wie Aristarch, die das Verfahren
der Philosophen auf die Sprache übertrugen, zuerst an die Be-
deutung, also an die Sachvorstellung eines Wortes dachten,
wenn sie seine analogischen Beziehungen und damit den Sprach-
gebrauch feststellen wollten.
Was ist es aber eigentlich mit der Analogie der Philosophen ?
Man wird nicht fehl gehen, wenn man sagt: hier waren weit
und scharf sehende Männer dem Grundgesetz des menschlichen
Denkens und Empfindens auf der Spur. Wir bringen von Natur
in dem bunten Vielerlei der uns umgebenden Welt das, was uns
gleich oder ähnlich erscheint, denkend in Verbindung; die Philo-
sophie nennt diese psychologische Verknüpfung, durch welche
aus dem Chaos der Dinge erst ein überschau- und durchdenk-
barer Kosmos geschaffen wurde, Ideenassoziation. Solcher Asso-
ziation der Sachvorstellungen nun entspricht in der Welt der
Sprache eine Assoziation der Worte, jenes von den alexandrinischen
Grammatikern nach dem Vorgange der Philosophen ebenfalls
Analogie genannte Gesetz des Sprachwandels; Analogie also
Angleichung der Wörter und Ausdrücke, die auf
Grund verwandten Sachgehalts psychologisch mit-
einander verknüpft werden. So sind es also nicht die
einzelnen Wörter als solche, die sich attrahieren, wie Paul
sagt (Prinz. ® S. 96), sondern zuvörderst die Sachen und
demzufolge erst die Wörter. Der Mensch aber setzt je nach
seinem Erleben die Dinge und Vorgänge immer in neue Be-
ziehungen, weil er sie wieder und wieder anders und in ge-
wandeltem Lichte sieht, was dann ohne weiteres auch ein ver-
ändertes Verhältnis der Wörter zueinander mit sich bringt.
So erklärt sich auch, was bisher noch nicht erkannt wurde,
überhaupt erst, weshalb die Sprache sich ändert. Doch damit greifen
wir schon in unsern zweiten Hauptabschnitt hinüber, der in
Kürze aufzeigen soll:
II. Die Wirkung der Analogie.
1. Analogiebildungen, so stellte sich uns heraus, sind
Sprachvorgänge, bei denen auf Grund psycho-
logischer Verknüpfungein Wort an ein anderes an-
geglichen wird. Damit ist ausgesprochen, daß wir die Ein-
teilung in grammatische (grammatikalische) und begriffliche Ana-
logie, wie sie nach Wundts Vorgehen jetzt scheint üblich zu
sein, ablehnen müssen. Begrifflicher Art, wenn man darunter
454 Christian Rogge,
solche versteht, bei denen die Sachvorstellung entscheidet, sind
sämtliche Analogiebildungen; auch die stofflichen und formalen
bei Paul; all diese Unterscheidungen haben den Mangel, daß
sie nicht von der Sache selbst, dem wahren Wesen des Analogie-
vorganges, hergenommen sind.
Dahin dürfte es auch gehören, wenn man, wie Hirt?) und
andere Gelehrte, zwischen einer Art festen Bestandes einer
durch Überlieferung übernommenen Sprache und einer solchen,
die durch Assoziationsbildungen in Fluß gesetzt wird, eine scharfe
Grenzlinie zieht. Das Erlernen der Sprache beim Kinde ist
nicht, wie man es sich leicht nach der leider üblichen Aneignung
einer fremden Sprache in der Schule vorstellt, ein reines
Wortlernen, sondern in viel höherem Maße ein Sachlernen.
Und mit den Sachvorstellungen werden im allgemeinen auch
die Assoziationen übermittelt, welche für die Schaffung wie für
den Gebrauch eines Wortes bislang Geltung hatten, sodaß also
ein wesentlicher Unterschied zwischen Überliefertem und Neu-
gebildetem nicht besteht. Das wird nur bestätigt, wenn Kinder
beim Erlernen der Sprache bald eigene Assoziationen ausführen,
insbesondere, wie man sagt, starke Analogisten sind. Dies scheint
rein formaler Art zu sein, ist es jedoch nicht, sondern findet»
seine Erklärung immer erst aus dem Sachzusammenhange heraus;
den das Kind beherrscht. Wenn ein kleines Mädchen sagt: »Wir
lauften«?), so hält es sich ganz im Rahmen der Ausdrücke, die
es für Bewegung aufgenommen: er rennte (rannte), hopste, hüpfte,
tanzte usw.; die Bildungen laufe — lief, haue — hieb, stoße
— stieß sind ihm noch nicht überliefert. »Karl hat mich ge-
haut«, hört man in der Kinderstube, weil es für den Sachvor-
gang hieß — >er hat geprügelt, Prügel gekriegt, geklopft usw.«;
gehauen und geschlagen kommen für das Kind noch nicht vor.
»Die Sonne hat gescheint«, sagt das Kind, weil es hörte: »es
hat geblitzt, geleuchtet, geflimmert usf.« Wer, wie man oft lesen
kann, dialektisches scheinte mit weinte in Verbindung bringt
mißkennt den Sachzusammenhang der Analogiebildung.
Eine sprachliche Neubildung wird, genau genommen, erst voll
verstanden, sobald das Wort gefunden ist, an welches die An-
gleichung erfolgte. Wenn Paul (Prinz. ® S. 97) Proportionen
aufstellt wie diese: Tag : Tages : Tage = Arm : Armes : Arme
1) Laut- u. Forml. ° S. 74.
2) Lazarus, Leben der Seele II ? S. 175.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 455
= Fisch : Fisches : Fische, so setzt er psychologische Ver-
knüpfungen voraus, die keine Wirklichkeit haben; anders wenn
man reiht: Tages, Jahres, Monats usw.; Armes, Beines, Fußes;
Fisches, Frosches, Krebses. Zu einer Gleichung animus: animi
— senatus? (Paul S. 106) würde Varro, wenn er die mathe-
matische Form der proportio verstanden hätte, gewiß ein sehr
verdutztes Gesicht gezeigt haben. Den Sachzusammenhang für
senati erkennen wir bei Plaut., Cas. 536. Sed eccum egreditur
senati columen, praesidium popli: >sieh, da kommt die Säule des
Senats, die Schutzmacht des Volkes heraus<. Senat und Volk
als Gegensatz von Regierung und Regierten werden im Vor-
stellen verbunden, darum wird senati nach populi gebildet. Aber
ebenso oft verknüpfte das römische Denken senatüs, magistratüs,
consulatüs, auch wohl tribunatüs, und so kommt es, daß, wie
Quintil. 1, 6, 27 sagt, nicht zu entscheiden sei (incertum
sit), ob es richtiger senatus oder senati heiße. Ob senatüs un-
mittelbar mit magistratüs oder mit consulatüs zusammen gefühlt
wurde, mag immerhin dahingestellt bleiben; hier können wir
uns begnügen, wenn wir die Reihe festgestellt haben, zu der
die Wortbildung gehört. Und das darf wohl bei dieser Gelegenheit
gesagt werden: für unser Sprechen und Denken schließen
sichdieWörternachReihenundStreckenzusammen,
nicht nach Gruppen, wie man zu sagen pflegt. Nicht immer
erfolgt in der Richtung, die mit einem Beispiel eingeschlagen
wird, eine Fortsetzung in derselben Art; senati steht als Genitiv-
bildung allein und zieht magistratus, consulatus doch nicht nach
sich. Ebenso ist es mit tumulti zu tumultus !). Hier haben wir
Angleichung an belli, insofern es den Kriegslärm, den Aufruhr
bezeichnet; das erhellt aus Stellen wie Sall. Cat. 59, 5 quas (sc.
cohortes veteranas) tumulti causa conscripserat. Aber dieses
Ausbiegen aus der Regel bleibt nicht ganz allein: bei Enn.
Trag. 204/5: ... quid hoc tumulti est? ... quid in castris
strepiti est? wird mit strepiti ein zweiter Fall angereiht, auf
Grund der Sinnähnlichkeit zu tumultus. Eine lange Reihe hin-
gegen haben wir bei den Tätigkeitsbegriffen auf —tus, —sus;
sie nehmen vermutlich ihren Ausgangspunkt bei den Bildungen
auf —u, —um, die Supina heißen, wie man bei J. Wacker-
nagel, Vorles. über Synt. 1920 S. 280 ablesen kann: iussu >zu
1) Anders die Angleichung annis »der Alten« st. anus an matris, mulieris
Ter. Haut. 286; 270 u. 281.
456 Christian Rogge,
befehlen« und >auf Befehl«; dann exercitus, passus, usus, metus
usw. Scheint so eine Form wie senati vereinzelt, isoliert zu sein,
wie man sagt, in Wirklichkeit steht es doch damit anders; denn
senati ist ja verbunden mit populi, und als drittes könnte man
vulgi dahin rechnen. Volle Isolierung gibt es für eine
Wortform im Bestande einer Sprache überhaupt
nicht.
>Alle Analogiebildungen sachlich begründet«,
sagten wir; dem könnte man diejenigen Fälle entgegenhalten,
die, wie es wohl heißt, durch Systemzwang erfolgen, die para-
digmatischen oder stofflichen nach Pauls Benennung. Auch hier
entscheidet aber die Sachgrundlage..e Wenn im Ahd. aus gibis
ein gibist wird, so haben wir an die gegensätzliche Unterscheidung
du gibst — ihr gebt, gebet zu denken; so erbringt die 2. Pers.
Plur. das —t auch für die 2. Sing., und ebenso schwand das
auslautende t bei gebent »sie geben«, weil gebent zeitlich in
Gegensatz zu si gäben trat. Nicht anders ist es, wenn wir
heute sagen sie sangen für früheres sungen; der Zwang
dazu wird deutlich, wenn es etwa hieß: >er sang, bald sangen
alle«.
Überhaupt darf man sich im Sprachleben das Paradigma
nicht als das Ursprüngliche denken, wie es nach der Grammatik
naheliegt, wenn da in bezug auf Kasus und Numerus von
Defektiven gesprochen wird, oder wenn es überhaupt heißt, ein
Wort werde abgewandelt (flektiert, gebeugt, durchdekliniert oder
-konjugiert). In Wirklichkeit ist jede Kasusform ein selb-
ständiges Wort: der Nominativ gibt die Benennung her, die
»injoıs, wie Aristoteles erkannte, der Genitiv ist ursprünglich
attributiv oder adnominal, Dat. und Akkus. sind adverbal; so
gehört also jede Kasusform eines Wortes zu verschiedenen Wort-
klassen. Lateinisch risui esse »ausgelacht werden« war gewiß
früher vorhanden als risus »Gespött« (bei Horaz). Zu frugi,
sine fruge, ad frugem gab es doch wohl nie einen Nominativ!).
Wie der Wandel immer vom sinnverwandten Wort herkommt,
zeigt sich, wenn st. artüs »Gliederce nach ossa »die Knochen«
artua gebildet wird, dann aber auch ossua wieder umgekehrt
nach dem Muster von artua; ja selbst ossubus scheint nach
1) Das frux bei Ennius Anm. 319, 412 ist vermutlich als eine gewalt-
same Augenblicksschöpfung des Dichters anzusehen, die nie allgemeinere
Geltung hatte.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 457
artubus gewagt zu sein (Neue Forml. d. lat. Spr. Bd. 1 S. 378) 1).
Wir dürfen daher nicht mit Neue (S. 371) die Bildung auf
ibus bei den u-Stämmen als Abweichung von der Regel ansehen.
Die Bildung —ubus war immer selten; aber wir müssen das
—ibus zu verstehen suchen, z. B. passibus von passus »Schritt«
zu pedibus, dem Fußmaß, stellen, fructibus zu frugibus, artibus
von artus zu ossibus. Und wenn Cicero von portus »Hafen«
neben portubus auch portibus bildete, so wird ihm fluminibus
im Sinne gelegen haben, ebenso wie ihm, wenn er partus und
fontes paarte, gewiß partibus nach fontibus auf die Zunge kam;
eine Verwechslung mit partibus zu pars wird ja durch den Zu-
sammenhang der Rede verhindert. Im Griechischen wurde der
Genitiv auf ov bei den a-Stämmen kaum als eine Abweichung
vom Paradigma empfunden. Curtius (Gr. $ S. 38) erklärt
die Endung noch aus Zusammenziehung ’Aroeldöov (’Argelöao,
Hirt (Formi. ? S. 341) als Herübernahme des ov von der
zweiten Deklination. Ganz richtig, aber wie ist sie da zu denken ?
Erklärlich wird uns reaviov zu vearias erst, wenn wir an Wechsel-
formen wie vearioxov (veavioxos), ueıwpaxlov (ueiodxıov) Epnßov
(čpnßos) denken; ix&rov (ixerns) nach évov (EEvos); und ’Aro&ıdov
nach Meveildov, dem Atriden, wie Pıhoxtýrov nach Zloavriov
(Joıdvuos, wie der Held nach seinem Vater heißt); Z/&ooov (II&oons)
verstehen wir nach Mnödov (Mnjöos), daran anschließend Zxúðov
CCævonc). Und so lief die Bildung von Fall zu Fall fort, bis die
Regel da war, aber auch dann noch führt der Faden der Sinn-
verwandtschaft von Beispiel zu Beispiel weiter. Für den
rechten Grammatiker und Sprachforscher wird es zu einem wirk-
lichen Verständnis des Sprachgeschehens darauf ankommen, sich
möglichst vom Paradigma loszumachen und vielmehr seine
Aufmerksamkeit auf den individuellen Einzelfall und
seine psychologische Verflechtung zu richten.
Nun zur Einteilung der Analogievorgänge! Wenn wir
den Einzelfall aus seinem Zusammenhange mit andern Bildungen
zu erklären suchten, so zeigte sich, daß Neubildungen entweder
vereinzelt blieben oder kleinere und größere Nachfolge fanden,
kurze oder lange Reihen hinter sich herzogen. Gleichgültig, ob
das eine oder das andere eintrat: beide Male bildete die Neu-
1) Vgl. Plaut., Men. 855: ut ego huius membra atque ossa atque
artua comminuam für die Sachverknüpfung, die von Sommer, Lat. Laut-
u. Form]. * S. 405 nicht beachtet ist.
458 Christian Rogge,
schöpfung ein Abweichen vom Sprachgebrauch, erbrachte einen
neuen Typ, und was folgte, war Fortleitung oder Wahrung
desselben, also formell genommen, nichts Neues. So würden
wir scheiden in typenbildende undtypenwahrende oder
ursprüngliche und abgeleitete Analogie, was der sonstt
üblichen Bezeichnung primär und sekundär entsprechen würde.
Wir sagen zu Häupten und zu Füßen, während es der Regel
nach Häuptern oder Haupten heißen müßte; Häupten als
Gegensatzbildung zu Füßen steht als Kasusbildung allein
da. Wer in Berlin hört die Äster, wird es erklären nach
Biester; denn man hört dort neben »Du Biest!« ebenso >Du
Aasle Die Menscher nach die Weiber; das Mensch wie
das Weib. Zu vergl. lat. genetrix — meretrix !), gegen genitor,
conditor usw. Im 18. Jahrhundert kam das Simplex die Kebse
für Kebsweib wieder auf, und nach den Kebsen wurde dann
auch gesagt die Weibsen und später auch die Mannsen.
Wenn H. Paul (D. Gr. Bd.1 S. 240, Bd.2 S.65) die nasalis
sonans auf den Plan ruft, um Mannsen, Weibsen aus mhd.
mannes name, wibes name zu erklären, so ist das der Gipfel in
der abgewirtschafteten Lautmechanik. — Bei Homer finden
sich zu nodswnov die Formen rooswnara, roosanacı, sie sind
leicht deutbar nach öwuara, öuuaoı; bei Homer nur plur. ðu-
para, dies mehrfach — Antlitz, Blick. Ebendaher wird auch ver-
ständlich öveioara »Traumgesichter«; dy@voıs bei Späteren, weil
hois (ha), nolkuoıs (nöleuos), auch wohl, weil Bildungen der
Einzelbezeichnungen ’OAdunua, "Tod ua vıräav im Ohr mit anklangen.
Das Gefühl der Regel tritt immer erst ein, wenn
sichmehreregleichartige Bildungen zueinerReihe
zusammenschließen; es ist also dem Wesen nach nichts
Verschiedenes, ob dywvoıs St. dy@woı oder ob St. ’Arpeldao, veavia
durchgehend die Genitivform auf — ov — eintritt. Der Gram-
matiker fand in dem Heraustreten aus der Reihe das Unregel-
mäßige, ovvexdooun nannte er’s, weil für ihn trotz des Ausweichens
(&xdooun) die Form ein Mitläufer (vv = doouos) zu seinem Para-
digma war. Mit gleichem Rechte wurde der abseits der Regel
stehende Einzelfall als falsche Analogie bezeichnet. Hätten die
1) Auf dieser Spur und weil sie an generis (genus), generalis dachten,
kamen die späteren röm. Grammatiker, Pedanten ohne Sprachgefühl, zu der
Form Genetivus, die man trotz Lachmann zu Lukrez meiden sollte.
Für unser Sprachgefühl gehört Genitiv in die Reihe: ‘primitiv, sensitiv,
positiv, faktitiv, und zu Nominativ.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 459
Junggrammatiker das Wesen der Assoziationsbildung vollkommen
klar gemacht, so würde es ihnen nicht schwer geworden sein
zu begründen, weshalb sie das »falsch« wegließen, und zu ver-
stehen, weshalb darin doch etwas Richtiges liegt: die Unter-
scheidung der typschaffenden und typwahrenden
Analogie. Wer bei Frz.v. Kobell in den »Pälzischen Ge-
schichten« zuerst die Mädcher st. die Mädchen liest, wird
sich in seinem grammatischen Gefühl unangenehm berührt fühlen,
falls er nicht sofort, wie es in der Pfalz wirklich geschah, die
Form nach dem Muster von Töchter, Mütter versteht; findet er
weiter Perdcher, Täubcher und dann auch Briefcher —
was selbständig nach Bücher gebildet sein könnte, weiter
Blümcher, Bouquektcher, Gläscher, so werden ihm
die Bildungen als etwas ganz Natürliches erscheinen. — Ein
ungewohntes Ohr wird anstoßen, wenn es in der Volkssprache
vernimmt »meiner Fraus Bruder, meiner Mutters Bruder«, und
doch ist es nur die Fortsetzung des hochdeutschen Mutters
Bruder, Tantes Schirm, wo Vaters Bruder, Onkels
Schirm die Vorbilder hergaben. Und von dorther kam dann das
Genitiv-s bei den femininen Eigennamen wie Kunigundens, Mariens,
Klaras usw. (Bei Paul, Gr. Bd. 2 S. 156 fehlt die Erklärung.)
Immer ist bei einer neuen Wortform die Frage, ob sie, an
ein geschaffenes Muster angelehnt, innerhalb einer Reihe er-
scheint oder eine wirkliche Neuschöpfung ist und nach Um-
ständen andere gleichartige Bildungen hervorruft und eine Reihe
schafft. J. Grimm führt (Gr. Bd. 2 S. 179) als Adjektivbildungen
auf: eichen, tannen, golden, silbern, eisern, ehern,
kupfern..., in dem richtigen Gefühl, daß all diese Formen
gleicher Art sind, und fährt dann fort: »Mit paragogischem
Plural — er sind... geleitet: hölzern, dörnern, hörnern,
brettern, gläsern; und diese —ern sowohl als die in
silbern, kupfern usw. für —ern nehmend, hat man mißgegriffen
und ein unorganisches beinern, steinern, thönern ... eingeführt.«
Auch hier empfand Grimm richtig; er erkannte, daß es sich
um eine abweichende Formation handelt, aber er bezeichnet sie
als unorganisch, als einen Mißgriff; man versteht, er meint das-
selbe, als wenn man sonst von falscher Analogie (ovvexdoou:n)
spricht. In Wirklichkeit haben wir das stets zu beobachtende
Walten der Analogie, aber mit bleiern (Blei), blechern (Blech),
steinern, gläsern... setzt nach dem Vorbild von silbern,
kupfern ein neuer Typus ein, der besagte: aus Blei, Blech,
460 Christian Rogge,
Stein, Glas, Holz gemacht wie dort aus Silber, Kupfer, mit
andern Worten: wir haben nach W.Scherer eine Formüber-
tragung von kupfern, silbern zu bleiern, blechern,
steinern, hölzern hin’). Es ist derselbe Hergang, wenn
nach dem Muster von »mich hungert< = >»mich verlangt nach
Speise« entsteht »mich durstert, mich trinkert« = mich verlangt
nach Trank« und dann die Reihe (J. Grimm, Gr. Bd. 2 S. 137)
weiterläuft: mich schläfert, lächert, lüstert, pissert«, wozuausneuerer
Zeit noch: »mich rauchert«e. Auch hier sieht Grimm wieder
unorganische Bildungen; ebenso verkennt er die psychologische
Verknüpfung, wenn er hierher auch zieht >mich jammert«, das
wie das synonymische >mich dauert« keinen Trieb, kein Ver-
langen nach etwas ausdrückt; auch »mir wässertderMund«
ist anderer Art, wie die gleichwertige Sprechweise: mir läuft
das Wasser im Munde zusammen« zeigt. — Lateinisch sempi-
ternus findet sicher seine Erklärung, wenn man es der Reihe
aeviternus (aeternus), hesternus, hodiernus, modernus nach aevi-
ternus einordnet, das ihm, wie schon bei Lindsay-Nohl (D
lat. Spr. S. 646) °?) steht, als Muster gedient hat; modernus, wie
richtig Georges angibt, stammt von modo »eben«, unter An-
gleichung an hesternus: >was von ebenerst« — »was von gestern
herstammt«. — Ganz anderer Art ist, was die Grammatiker
damit zusammenwerfen, das Suffix -erna in der Reihe laterna,
lucerna, cisterna, caverna, taberna; lucerna nach laterna ge-
bildet, wie wenn der Berliner Lichterne nach Laterne riskiert.
Beim Pronomen, um auch dafür eine Probe zu bringen, führt
im Ngr., indem, wie Goethe sagt, die Einheit den Gegensinn
der Mehrheit hervorruft, der Weg von ué »mich< zu der Plur.-
Bildung ucis für ucis hinüber, und von Zuäs, dem Akkus., aus
entstand Zueis, der Nomin.; lat. enos Lases iuvate, Carm. Arv.
nach ego; Gegensatz: Kasus der Wirkung gegenüber dem Kasus
des Urhebers. So der neue Typus uud als nach yo ngr. 2ov
entstanden war, ergaben sich die Bildungen 2o&, &oeis, &oäs wie
von selbst 3).
1) Inwiefern dann edelsteinern, gipsern, diaelektisch goldern etwas anderes
besagen für das Bedeutungsgefühl als edelsteinen, gipsen, golden, habe ich
Ztschr. f. Dtschkunde 1923 S. 46 ff. ausgeführt unter »Wortkunde u. Laut-
symbolik«.
2) L. ist aber seiner Sache nicht sicher (ebenda A.**), weil er mit der
Analogie nicht umzugehen weiß.
3) Vgl. A. Thumb, Handb. d. ngr. Volksspr. § 116 Anm. 2 u. $ 117
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 461
Besonders wichtig ist es, bei Wortzusammensetzungen
den Platz ihrer psychologischen Verknüpfung zu suchen. Homer,
Dias 11, 114 heißt es vom Arzt, daß er sei molly ärıdkws
div »so viel wert als viele Andere<; aber dävrd£ıuos? Wir
haben eine Vermischung der beiden Wendungen: ävri noll@v
(åàvôoðr) »gilt statt vieler (Männer)« und noAlaw (nolld) ws
»viel wert«, wobei dv! und ddıos sich zu einer neuen Wort-
einheit zusammengeschlossen haben. — In weiterer Ausführung
habe ich so Philol. Wochenschr. 1921 S. 762 ff. gezeigt, daß quid
id tuā röfert entstand aus quid id tuā rë (opus est?) ~ quid id
tibi röfert? Dem Sprecher kommt, wie er eben die eine Wendung
herausbringen will, die sachverwandte in den Sinn, und so springt
er halbwegs auf die andere über und vermischt so beide. refert
und dvra&ws sind wirkliche Neubildungen, hingegen ist mhd.
sprichwort, auf das E.Schröder, Ztschr. f. d. A. u. d. Lit.
1922 S. 43 erneut die Aufmerksamkeit hinlenkt, eine Nach-
bildung; Schröder selbst möchte das Kompositum imperativisch
erklären, hegt aber selbst einigen Zweifel zu seiner Sache. Man
kann ihm zustimmen, wenn er die Herleitung von einem Subst.
spriche abweist, aber man wird es aus der Reihe der mhd.
Bildungen wie biwort, klagewort, scheltwort, wispelwort erklären
müssen, und zwar der Bedeutung nach im engsten Zusammen-
hang mit biwort, einem Wort, das bei bestimmter Gelegenheit
bedeutungsvoll gesprochen »wurde«, dann geradezu so viel
wie unser nhd. Sprüchwort; synonym zu mhd. bispel, das als
lehrhafte Erzählung auch = ein sprichwort ist. So nun auch
sprichwort ein Wort, das viele als den Ausdruck einer Erfahrungs-
wahrheit im Munde haben (sprechent). So heißt es im Mhd. oft,
wenn Lehren und Erfahrungen angeführt werden: man sprichet,
spricht (m. seit); diu schrift, daz buoch spr.; ez sprichet (in der
schrift) — »es heißt« Arm. Heinr. 91, und so wird sprichwort
doch zu deuten sein als das Wort, welches man häufig spricht,
auch anführt. Schröder meint, wolle man so erklären, so müßte
es sprechwort heißen nach scheltwort; müßte? scheltwort selbst
kommt m. E. gar nicht von schelten her, sondern von dem schon
ahd. nachweisbaren Subst. schelte, ist aber mit Umdeutung aller-
dings verbal verstanden, während sprichwort gleich anfangs
verbal gebildet wurde zum Präs. »man spricht«. Ein anderes
Anm. 2, wobei man leicht sehen wird, wie obige Erklärung psychologisch
über Th.s richtige Aufstellungen hinausgeht.
462 Christian Rogge,
Wort wurde »sprichwort«, als man es im 16. Jahrhundert an
Spruch anlehnte (Paul, Gr. Bd. 1 S. 204); die Schreibung
Sprichwort mit i hat heute keinen Sinn.
Die Gesamtwirkung der Analogie pflegt man wohl nach
Schleicher in möglichster Beseitigung der Unregelmäßigkeiten
zu sehen. Schleicher sieht in ihr ein Streben nach bequemer
Uniformierung, nach Behandlung möglichst vieler Worte auf
einerlei Art (D. dtsch. Spr. ® S. 61); Sweet (New engl.
Gramm. Bd. 1 S. 187) betrachtet sie als the main factor in getting
rid of irregularities, und H.Ziemer wollte daher für Angleichung
— der gewöhnliche Name für Analogie — Ausgleichung gesagt
wissen (Zeitschr. f. Gymnw. 1900 71, 86). Aber von einem Trieb
zur Gleichmacherei kann kaum die Rede sein, wenn anders
unsere Auffassung, daß der Analogie immer eine Sachangleichung
neue Ideenassoziation zugrunde liegt, richtig ist; denn je mehr
der sprachschaffende Mensch die Welt der Dinge durchdenkt
und denkbar macht, umso größer muß auch die Zahl der An-
gleichungen, sachlich wie sprachlich, sein. Deshalb sagt auch
F.Brunot, der den großen Entwicklungsprozeß des Franzö-
sischen vom Lateinischen her überschaut, gewiß mit Recht:
Enfin l’analogie simplifie et embrouille à la fois. (Gramm. hist.
de la langue fre.* 1899 S. 385) }).
Und auch eine andere Ansicht bedarf wohl hier einer Be-
richtigung: daß Angleichungen langsam und allmählich vor sich
gehen. — Als Assoziationen sind sie Einfälle, Appergüs, wie
Goethe sagen würde, und darum Kinder des Augenblicks.
Man nehme z. B. in Kobells Pfälzer Gesch. ein Wort wie
Parrer, das offenbar nach Paschtor umgeformt ist (S. 182);
ebenso dort Peife, doch wohl nach Posaune, peifen nach
piepen; Perdchernach Ponny;pälzisch nach bairisch,
wo dann wohl auch in mitteldeutscher Weise p zwischen b und p
gesprochen wird. Setzt sich so die Reihe fort, was ich nicht
kontrollieren kann, so könnte man von einer Lautverschiebung
pf zu p sprechen, wie J. Grimm eine solche von p zu f nach-
weist, und doch wird man nicht bezweifeln, daß bei den an-
geführten Beispielen der Lautwandel eintrat in dem Augenblick,
wo der Gedanke an das sinnverwandte Wort mit p auftauchte;
also Formübertragung von dorther. Ebenso Himbeere (hind-
1) Dagegen spricht nicht, wenn die sogen. Flexion in den Sprachen
mit der Zeit eingeschränkt und einförmiger gemacht wird.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 463
beere) nach Brombeere, empfangen aus entfangen nach
umfangen; nennen (got. namnjan nach kennen usw. Man
wird sich so künftig doch mehr noch, als bisher geschehen, ent-
schließen müssen, der Analogieforschung auch beim Lautwandel
Raum zu gewähren, bis man dann... ., doch das bleibt wohl
vorläufig cura posterior.
2. Die Erscheinungen des Sprachwandels, die uns bis hierher
beschäftigten, decken sich etwa mit dem, was man herkömm-
lich als Analogiebildungen ansieht. Es sind aber, wenn anders
man einen Überblick über das gesamte Sprachgeschehen haben
will, noch zwei andere Arten zu überdenken, was denn in aller
Kürze geschehen soll; zunächst indem wir der Sprechan-
gleichung, wie die bisher behandelte wird zu nennen sein,
die Hörangleichung gegenüberstellen; man wolle vernehmen,
wie! Der Sprachwandel, den wir kennen lernten, vollzieht sich,
indem der Sprecher auf Grund einer sachlichen Assoziation
auch die Namen der Dinge einander angleicht. Hier geht also
die Neuschöpfung den Weg von der Sache, die der Sprecher
leiblich oder geistig erschaut, zur Lautform der Neubildung
hin. Die Sache steht dem Redenden in festen Umrissen vor
Augen, und so stellt sich auch das Wort ein nach dem Satze,
den der alte Kato für alles gute Sprechen prägte: Rem tene;
verba sequentur; daher kommt es denn auch, daß der Hörer,
der mit dem Sprecher in gleicher Sachlage ist, die Neuschöpfung
ohne Widerstreben, ja als ob es seine eigene wäre, hinnimmt
und danach sich ein Bild des vom Sprecher Gedachten macht,
d. h. diesen auf das Gehörte hin versteht. Er geht aber, wie
sich zeigt, als Aufnehmender und Verstehender den umgekehrten
Weg wie der Sprechende, vom Lautklang zur vorgestellten Sache.
Es läßt sich denken, daß bei diesem an sich erstaunlichen Werk
des Verstehens leicht besondere Schwierigkeiten eintreten. Dieser
Fall findet sich, wenn das Ohr ein ungewohntes, irgendwie
fremdartig klingendes Wort aufzunehmen hat; der gemeine Mann
würde demgegenüber sagen: »Ich weiß nicht, wo ich das hin-
bringen soll.«e Es pflegt dann aber zu geschehen, was Goethe,
auch hier mit scharfem Blick, über Hör-, Schreib- und Druck-
fehler (Ausg. Hmp. Bd.29 S.256)!) sagt: »Niemand hört, als was
er weiß; Niemand vernimmt, als was er empfinden, imaginieren
und denken kann.«< Und die Folge ist, daß fremde, seltsam
klingende Worte in bekannte, sinngebende Ausdrücke verwandelt
1) In Kunst u. Altert. 1821 Bd. 2 S. 177 ff.
464 Christian Rogge,
werden. Damit haben wir das, was wir Hörangleichung
nennen im Unterschiede von der Sprechangleichung.
Man sieht: Goethe hat den Sprachvorgang, den 30 Jahre
später Förstemann für die Sprachwissenschaft sozusagen erst
entdeckte und Volksetymologienannte (Kuhns Ztschr. 1851
Bd. 1 S. 1f.) schon beobachtet und — richtig gedeutet,
während Förstemann ihn unzutreffend als ein Suchen nach
der Etymologie auffaßte; während auch H. Paul (Prinz. ®
S. 198 f.) und Wundt (D. Spr. Bd. 1 S. 479ff.), die der Sache
näher auf den Grund gingen, auch ihrerseits das Wesen der
Erscheinung nicht erkannten. Die Volksetymologie oder Hör-
angleichung bildet also einen Akt der Sprachverständigung für
den Fall, wo der Hörer bei einem fremdartigen Wort die fehlende
psychologische Verknüpfung sucht, und sobald er sie gefunden,
die entsprechende Wortangleichung vornimmt, die darin besteht,
daß dem Wort ein gewohnter Lautklang verliehen wird. Man
könnte den Vorgang daher auch Klangangleichung nennen;
nur muß man festhalten, daß es, wie bei aller Verständigung,
auch hier letzten Endes auf die Sachvorstellung ankommt, um
die es sich handelt. Dies führt 50 Jahre nach Förstemanns
Entdeckung in P.B. Beitr. 1901 Kjederquist überzeugend
aus. Er bringt dafür z.B. die volkstümliche Umformung von
lateinisch Stipendium in schwedisch stöpeng: dieses als Unter-
stützungsgeld gedacht, understödja »unterstützen«, peng.
pengar »Pfennig, Geld«. — Wer aus Rondehl ein Rundteil
machte, hörte rund und Teil, plattdeutsch Dehl aus dem
fremden Worte heraus.
Es mag nicht in jedem Fall gelingen, die Sachvorstellung
zu finden, die bei einer Hörangleichung gewirkt hat; immerhin
wird man sagen müssen, daß englische Bildungen wie sparrow-
gras »Sperlingsgras« und crowfish, wo der Krebs sogar zu den Fischen
gebracht wird, das Wort handlicher für den Gebrauch gemacht
haben; daß also für das fremd klingende Wort dasselbe erreicht
wird, was beim gewohnten naturgegeben ist. Muß ja doch am
menschlichen Sprechen nichts mehr in Verwunderung setzen, als
daß für jede Vorstellung, die dem Sprecher auftaucht, gleich
auch das Wort sich einstellt, ebenso sicher, als wenn ein ge-
wandter Klavierspieler?!) im Anschlagen der Tasten eine Welt
1) Besser noch läßt sich die Handhabung einer Schreibmaschine ver-
gleichen, wie das z.B. S. Stricker, Studien über die Sprachvorstellungen,
Wien 1880, tat.
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 465
von Tönen schafft, ja, daß für den Menschen, soweit Dinge
denkbar gemacht sind, Denken und Sprechen in Wirklichkeit
zusammenfallen und daher die bekannte Stelle im Faust 1922:
Zwar ist's mit der Gedankenfabrik
Wie mit einem Webermeisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber, hinüberschießen,
Die Fäden ungesehen fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.
ebenso wie vom Denken auch von der Sprache gilt. Es
bleibt sogar zu fragen, ob und wieweit oft die Sprache ihrer-
seits die Assoziation der Ideen befördert oder auch zuwege
bringt. Jedenfalls ist die wunderbare Verflechtung der Wörter,
die im Einzelfall die Ausdrucksbereitschaft hervorbringt und
verwandte Wörter und Wendungen mitanklingen läßt, eine Folge
der vielfachen Angleichung, die Worte und Wortstücke im Laufe
der Zeit erfahren haben, wenn sie oft und gewohnheitsmäßig
im Verein gebraucht wurden. Bei ungebräuchlichen und fremden
Wörtern tritt da, um für sie dasselbe zu erreichen, die Hör-
angleichung, vulgo Volksetymologie, ins Werk. Die alte Zeit,
die natürlicher fühlte, hat uns im Deutschen so die Lehnwörter
mit dem vollen heimischen Klange überliefert; sie schreckt selbst
nicht vor Bildungen wie Armbrust aus arcubalista zurück, während
die Neuzeit Umformungen wie Trittoar hochmütig belächelt.
Doch der Raum nötigt hier abzubrechen; wir wenden uns daher
noch der dritten Form der Analogiebildung zu, der Wort-
angleichung, die herkömmlich Bedeutungswandel genannt
wird, um davon aus gleichem Grunde hier nur in aller Kürze
zu handeln.
3. Angleichung als reiner Bedeutungswandel;
Umdeutung. Wörter sind Zeichen für Dinge — verba rerum
notae Cic. Top. 8, 35 — und können dieser ihrer Natur nach
auch in einem andern Sinne verwandt werden, als sie vorher
gedacht waren?!). So tritt dem Wortwandel, bei dem das Laut-
zeichen auf Grund des Sinnwandels umgeformt wird, einreiner
1) Man denke an die verschiedene Verwendung einer Fahne zum Winken
oder ẹls Treusymbol, oder an den wechselnden Gebrauch der Buchstaben: gr. ©
im Lat. als Zeichen der Zahl 100, später zu C geworden; phön.-hebr. ;ı als
Zeichen des Hauchlauts p im Griech. Hy == ë usw. — Vgl. Chr. Rogge,
»Wandel der Wortbedeutung als Assoziation«, Ztschr. f. Dtschk. 1924
S. 201—210.
Archiv für Psychologie. LII. 30
466 | Christian Rogge,
Bedeutungswandel zur Seite; bei dem das Wort seine alte Laut-
gestalt bewahrt und doch in Wirklichkeit ein anderes, neues
wird. Man könnte demgemäß geformten undungeformten
Bedeutungswandel unterscheiden oder formende und umnennende
Analogie. Die Angleichung aber geht hier der Hauptsache nach
in gleicher Weise vor sich, nämlich so, daß Sachvorgänge, die
ursprünglich ungleich waren und als solche durch verschiedene
Lautgebilde bezeichnet wurden, hinterher als gleich oder ähn-
lich angesehen und in diesem Sinne — trotz des unverändert
bleibenden Zeichens — umgenannt wurden. Ehedem wurde bei
Dunkelwerden ein brennender Kienspan in den Spalt an der
Wand gesteckt, um dem Zimmer Licht zu geben; hier war an-
stecken ein bloßes Befestigen des Lichtkörpers, aber im Wechsel
mit diesem Vorgang hieß es: »Licht anzünden, Licht machen,
anmachen«, und so ergab sich dasselbe, was wir oft beobachtet:
anstecken wurde mit anzünden gleichwertig, dies umsomehr,
weil das wirkliche Anstecken des Spans außer Brauch kam und
es auch von der Lampe, die auf dem Tische stand, nunmehr
hieß: >das Licht wird angesteckt«; weiter »ein Feuer wird
angesteckt«. »Holz, ja ein Dorf wird angesteckt«, sodaß der ur-
sprüngliche Wortsinn ganz vergessen war. — Wer denkt heute
noch daran, daß in der Wendung: >»sie hörten auf zu lärmen«
aufhören mit hören zusammenhängt! Wir verstehen es einfach
als Gegensatz zu anfangen, mit derselben Wirkung, wie wenn
es lateinisch incipere und desinere heißt. Luther sagt noch:
»sie hörten auf vom Lärmen« und läßt uns so erkennen, daß
>sie hörten auf«, was im Wortsinn = »sie horchten auf« war,
angeglichen wurde an die Wendung: sie ließen ab von Lärm
und Tumult«. — Wird uns Sonntags auf die Frage: »Wo ist
denn Vater?« geantwortet: »Er ist in der Kirche«, so nehmen
wir das nicht im Sinne einer Ortsbezeichnung, sondern = »er
ist im Gottesdienst, in der Messe«. Schon im Nibelungenliede
wechselt als gleichbedeutend zer kirchen gän und zer messe gän.
Wir müssen dem Leser hier überlassen, weitere Beispiele
aufzusuchen. Nur einen Fall möchten wir noch besonders her-
vorheben, weil hier die Sprachforschung wieder in die unmittel-
bare Nachbarschaft der Philosophie kommt, von der sie einstens
ausging: es handelt sich um die Begriffsbildung als einen Akt
des Bedeutungswandels. »Plato wußte, wie Th. Ziehen,
Physiol. Psychol. ® S. 143 sagt, die Allgemeinvorstellungen
nicht aus den Individualvorstellungen abzuleiten und griff daher
Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 467
zu dem Auskunftsmittel der Rückerinnerung an ein direktes
Schauen derselben vor der Geburt. Auch der Streit der Nomi-
nalisten und Realisten brachte keine endgültige Lösung der
Frage; ob sie von der physiologischen Psychologie gewonnen ist,
welche die Vorstellung Rose als eine Art arithmetisches Mittel
aller Rosen ansieht, die jemand zu Gesicht bekommen, bleibt
wohl ebenfalls zu bezweifeln. Die Antwort erhalten wir von
der Sprache her in dem Sinne der Nominalisten, die da sagten:
universalia sunt nomina. Alle Wörter sind ursprünglich Indi-
vidualnamen, wie wir noch heute leicht erkennen. Sagen wir:
»die Rose in der Veranda muß Wasser haben«, so ist das Wort
Rose Individualname, etwa im Unterschied von der Rose im
Eßzimmer. Anders ist es, wenn wir sagen: »Die Rose ist doch
schöner als die Lilie.« Hier wird Rose angeglichen an Lilie
als Blume, als Bezeichnung für den beliebigen Vertreter einer
ganzen Gattung. Das Wort als Zeichen ist gewissermaßen die
Aufforderung an den Hörer, sich irgendeine Rose, die er gesehen,
gleichgültig ob es eine rote, eine weiße oder gelbe gewesen,
vorzustellen; weil Rose in diesem Falle als Blume überhaupt
gedacht ist, so erhalten wir Rose als Gattungsname. Heißt es:
»Wir wollen heute zur Stadt fahren<, wo Neustettin gemeint ist,
also Stadt und Neustettin gleichwertig und im Wechsel gebraucht
werden, so haben wir Stadt als Individualname; als Name der
Gattung dagegen, wenn gesagt wird: »Die Stadt bietet mehr
Abwechslung als das Dorf<; hier ist Stadt angeglichen an Dorf,
und wir haben die Reihe Stadt, Dorf, Land (auf dem Lande
— in der Stadt). Also: universalia sunt nomina. Die Sprache,
die viele Gedankendinge benennt, denen ein wirkliches, schau-
bares Dasein nicht zukommt, täuscht uns auch hier vor, daß es
das in Wahrheit gebe, was wir Art oder Gattung nennen, während
es tatsächlich nur Einzelwesen gibt?).
Wir haben, wenn wir zurücksehen, eine zwiefache Analogie-
bildung zu unterscheiden: |
1. Sprechangleichung 2. Hörangleichung
a) mit a) mit
b) ohne b) ohne | Formwandel.
| Formwandel
1) Goethe, Sprüche in Prosa, H. Bd. 19 Nr. 910: »Das Allgemeine und
Besondere fallen zusammen; das Bes. ist das Allg., unter verschiedenen
Bedingungen erscheinend.« S. 899: »Was ist das Allgemeine? Der einzelne
Fall. Was ist das Besondere? Millionen Füälle.«
80*
468 Ch.Rogge, Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt.
Unsere Ausführungen über die Analogie gehen hin auf das,
was W.v. Humboldt in genialem Schauen aussprach: »Man
kann es als einen festen Grundsatz annehmen, daß alles in einer
Sprache auf Analogie beruht« (s. oben S. 444 Anm.). Gilt dieser
Grundsatz, wie die Sprachwissenschaft nachzuweisen hat, so
haben wir, worauf jede Sprachforschung bisher hindrängte, eine
Gesamtauffassung!) der Sprache, aus der heraus sich alle Neu-
und Umbildungen, auch Umnennungen bei den Lautzeichen ein-
heitlich erklären lassen, gewinnen so eine Psychologie des sprach-
schaffenden Menschen, des sprechenden wie des hörenden.
1) Eine solche fehlt, wie man sich leicht nach der Gliederung seines
Werkes überzeugen kann, bei Paul, Prinz. d. Sprachgesch., fehlt auch bei
Wundt, d. Spr. Mit seiner Definition: >die Sprache ist Ausdrucksbewegung«
läßt sich, da dies auch von der Sprache der Tiere gilt, nichts anfangen,
wozu auch Wundt garnicht den Versuch unternimmt.
(Eingegangen am 20. März 1925.)
Literaturberichte.
Friedrich Jodl, Lehrbuch der Psychologie. 2 Bde. 5.u. 6. Aufl. Im
Verein mit W. Börner, H. Henning, V.Kraft, K.Roretz, W. Schmied-
Kowarzik, H. Werner besorgt von Carl Siegel. Stuttgart und
Berlin, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger, 1924.
Es ist zu begrüßen, daß Lehrbücher mit etwas abweichenden Ein-
teilungsgrundsätzen und mit Bevorzugung anderer Fachgebiete wieder dem
Publikum zugänglich gemacht werden. Manches, was im Tagesgetriebe
iu den Hintergrund gedrängt wurde, kommt wieder stärker ins Bewußtsein
der Fachleute, und manche gute Anregung kann ihnen entnommen werden.
Dies gilt auch für Jodls Psychologie, die nach längerer Pause nunmehr in
neuer Auflage und in einer Form vorliegt, die durch den inzwischen an-
gewachsenen Wissensstand ziemlich verändert wurde. Die alte Einteilung
und Gruppierung des Stoffes aber ist erhalten und damit die eingehendere
Behandlung des Verhältnisses von Leib und Seele und der Frage nach der
Gliederung der Bewußtseinserscheinungen, anch steht den Gefühls- und
Willenserscheinungen derselbe reichliche Raum zur Verfügung, dessen Aus-
ınaß der Wichtigkeit dieser psychischen Phänomen im praktischen Leben
durchaus entsprechen dürfte. Die Unterscheidung von drei Entwicklungs-
stufen des Bewußtseins, die mit der Einteilung seiner Grundfunktionen ge-
kreuzt wird, verteilt Verschiedenes in so vortrefflicher Weise, daß sich das
Grundsätzliche dieser Einteilung, wenn auch vielleicht in einer etwas anderen
Form, sowohl wie auch allerhand Einzelgruppierungen dauernd erhalten
werden. Die ebenfalls von Jodl begonnene Zusammenstellung der Literatur
am Schlusse der Paragraphen wurde weitgehend ausgebaut. Dabei ist
namentlich die starke Berücksichtigung der ausländischen (vor allem der
französischen) Literatur etwas, was allgemein begrüßt werden wird. Eine
andere Seite dieses Werkes sei ohne wertende Begleitworte angeführt: das
Fehlen von Abbildungen und damit die Beschränkung der Darstellungs-
wittel auf die Sprache allein. Ebenso fehlen Formeln, und das Anführen
von Zahlen ist nach Möglichkeit eingeschränkt.
Einige kleine Ausstellungen am Schluß. In der sonst sehr gut ge-
brachten Empfindungslehre wird die Existenz der Kälte- und Wärmepunkte
nicht erwähnt (S. 271f.). Daß experimentelle Arbeiten vorliegen, die den
Zusammenhang der höheren Tonlage mit »dem betonten Teil des Rhythmus,
dem Iktus« (S.334) darlegen, scheint dem betreffenden Bearbeiter entgangen
zu sein. Die Gestaltpsychologie kommt nicht anf ihre Rechnung. Im
zweiten Band überwuchert die Erörterung vielfach die nur spärlich er-
forschten Tatbestände. Dagegen hätten die Untersuchungen der Brüder
Jaensch einen breiteren Raum verdient und auch denen Kretschmers
über schizothyme und zyklothyme Veranlagung hätte ich gern einen Platz
gegönnt. O. Sterzinger (Graz).
470 Literaturberichte.
E. Martinak, Meinong als Mensch und als Lehrer. Gedächtnisrede.
Graz 1925.
Die Schrift gibt ein abgerundetes Bild des Mannes, der durch fast
40 Jahre die Pflege der Philosophie an der Grazer Universität übernommen
und der dort das erste psychologische Laboratorium in Österreich gegründet
hatte, das Laboratorium, das die Geburtsstätte der Gestaltpsychologie wurde,
die heute einen Lehrstuhl nach dem andern erobert. Aber auch auf philo-
sophischem Gebiete war Meinong bahnbrechend. Die von ihm begründete
Gegenstandstheorie ist nahe verwandt mit der Phänomenologie, die in
deutschen Landen gleichfalls eine Anhängerschaft nach der anderen findet.
Die klare, ebenso objektive wie wohlwollende Darstellung des bedeutenden
Mannes ist jedem, der personalistisch interessiert ist oder auch nur gerne
Persönlichkeitsschilderungen liest, warm zu empfehlen.
O. Sterzinger (Graz).
G. E. Müller, Abriß der Psychologie. Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht,
1924. 124 S. 3,80 M., geb. 4,60 M.
G. E. Müller bietet eine kurze, sehr klar und geschickt geschriebene
Einführung in seine Psychologie. Typisch für sie ist neben der Auswahl
die Vorliebe für physiologische Deutungen. Diese Deutungen enthalten
jedenfalls manchen wertvollen Wink. Daß die Auswahl und vielfach auch
die Auffassung von neueren Gedanken der Psychologie nicht beeinflußt ist,
braucht wohl kaum betont zu werden. Trotzdem bietet die Schrift einige
Einsichten, die man in der rein experimentellen Richtung meist vergebens
sucht. Eine davon ist mir besonders aufgefallen. Über das Denken sagt
Müller: »Eine eingehende Erörterung der Verstandestätigkeit kann ohne
eine nähere Untersuchung darüber, was unter Wahrheit und unter Wirk-
lichkeit zu verstehen sei, und was das Wesen des Fürwahrhaltens und Er-
kennens sei, nicht gegeben werden und bleibt daher im wesentlichen der
Erkenntnistheorie überlassen« (S. 40). Eine Auseinandersetzung mit solch
kurzen, ein gewaltiges Gebiet umspannenden Abrissen hier zu geben, ist
unmöglich, weil sie einen größeren Raum als die Darstellung selbst er-
forderte. Es muß genügen, sie zu charakterisieren.
Aloys Müller (Bonn).
Dr. Max Offner, Oberstudiendirektor in Günzburg, Das Gedächtnis. Die
Ergebnisse der experimentellen Psychologie und ihre Anwendung
in Unterricht und Erziehung. 4. vermehrte und teilweise um-
gearbeitete Auflage. Berlin, Reuther u. Reichard, 1924. XXXI
und 200 S. 4,50 M., geb. 6 M.
Das Buch von O. hat sich praktisch als so brauchbar erwiesen, daß
zur Empfehlung der 4. Auflage kaum noch ein Wort nötig ist. Die Er-
gebnisse der Gedächtnisforschung der letzten 10 Jahre sind eingearbeitet.
Das Theoretische ist insofern erweitert, als die psychologische Grund-‘
auffassung des Verfsssers mehr als bisher in den Deutungen zu Worte
kommt. Der Versuch Offners, psychologisch zu erklären, berührt selbst
da sympathisch, wo Begriffe wie Energie u.a. gebraucht werden, die, auf
Literaturberichte. 471
das Psychische angewandt, doch reichlich unbestimmt sind. Ich glaube, die
Brauchbarkeit des Buches könnte dadurch noch erhöht werden, daß erstens
mehr über Assoziationsreaktionen und Aussagexperimente mitgeteilt würde,
und zweitens die in der phänomenologischen Literatur verstreuten Be-
obachtungen und Gedanken verwertert würden.
Aloys Müller (Bonn).
A. Hesnard, La Relativit& de la Conscience de Soi. Paris, F. Alcan, 1924.
A. Besnard, in Deutschland ebenso gut bekannt wie sein älterer
Bruder O. Hesnard, der Verfasser des großen Werkes über Friedrich
Theodor Vischer, zeigt sich in diesem Büchlein als ein selbständiger
Denker, obwohl der Einfluß Bergsons und Freuds nicht zu verkennen
ist. Für Hesnard stellt das bewußte seelische Leben lediglich einen
kleinen Teil des ganzen seelischen Lebens dar. Die Bedeutung des Un-
bewußten sieht er darin, daß es zwischen dem bewußten und dem nur
organischen Leben vermittelt. Er nennt daher das Selbstbewußtsein relativ.
Es ist relativ im Verhältnis zum gesamten Seelischen und relativ, weil es
mit unzulänglichen Mitteln die Wirklichkeit zu erfassen und zu beherrschen
versucht. Selbst von dem eigenen Körper weiß das Bewußtsein ja nur in
einer sehr unbestimmten Weise, namentlich durch affektbetonte Erlebnisse,
etwa des Wohlbefindens oder einer scheinbar unbegründeten Angst. Aber
gerade diese zuletzt erwähnten Tatsachen zeigen, daß es in der Persönlich-
keit eine Werkstatt von Bildern gibt, deren Entstehung unser Bewußtsein
weder zu verfolgen noch zu ändern vermag. Was in unserem Innersten
vorgeht, das erfahren wir im Grunde nur durch Symbole, deren wir uns
bewußt werden. Wir bilden um, was aus der Tiefe in unser Bewußtsein
aufsteigen will, und so entsteht sowohl in der normalen wie auch in der
pathologischen Psychologie eine Reihe von Irrtümern, die aufzudecken ein
Hauptgegenstand dieser Schrift ist. Max Dessoir (Berlin).
Dr. Hugo Dingler, a.o. Prof. an der Universität München, Die Grund-
lagen der Physik. Synthetische Prinzipien der mathematischen
Naturphilosophie. 2. völlig neubearbeitete Auflage. Berlin und
Leipzig, W. de Gruyter & Co., 1923. XIV und 336 Seiten. 8M.
Unter >Grundlagen der Physik« versteht D. das Problem, die Wege
zu bestimmen, auf den wir zu den Allgemeinaussagen (Gesetzen) der Physik
gelangen können. Die »Wege« sind logisch zu verstehen. Es wird gefragt,
woher die Allgemeinaussagen ihren Geltungsgrund nehmen. Das einzelne
an der Lösung dieses Problems wird den Psychologen nicht interessieren.
Ich gehe darum nur kurz auf den Grundgedanken ein. Die Allgemein-
aussagen könngn nach D. nicht auf die Weise begründet werden, wie es
bisher geschehen ist. Ihre Geltung kann überhaupt nicht bewiesen werden.
Sie sind Schöpfungen unseres Willens, der sie zuläßt und dadurch herbei-
führt. Nie zwingt uns etwas von außen zu einer Verallgemeinerung. Ähn-
lich ist es mit dem Standpunkte, von dem aus die Allgemeinaussagen er-
folgen: dem Standpunkte der Einzelaussagen (Aussagen über Einzeltat-
sachen). Jede solcher Einzelaussagen kann bezweifelt werden. Es liegt in
472 Literaturberichte.
dem Gegebenen kein Zwang, sie als geltend anzusehen. Einzig mein Wille
setzt sie als geltend fest.
D. hat das Verdienst, einmal den empiristischen Gedanken konsequent
zu Ende zu denken. Damit hat er erbarmungsloser als irgendein anderer
die ganze Armseligkeit des Empirismus enthüllt. D. hat ganz recht: auf
dem empirischen Standpunkte bleibt als einziger Rechtsgrund der Wille.
Leider will aber sein Buch mehr sein als eine Selbstwiderlegung des
Empirismus. Ich hoffe, daß es seinem unleugbaren Scharfsinn auf die Dauer
auch gelingt, zu sehen, daß außer den Empfindungen noch viel mehr un-
mittelbar gegeben ist. ; Aloys Müller (Bonn).
Dr. Josef Schwertschlager, Die Sinneserkenntnis. München, Jos. Kösel
u. Friedr. Pustet, 1924. IX und 300 Seiten. 6M. geb. 7,20 M.
Das Buch verfolgt eine philosophische Tendenz mit psychologischen
Mitteln. Der Verfasser bekennt sich zum kritischen Realismus, der also
das Dasein von Realitäten außerhalb unseres Bewußtseins behanptet. Durch
die Sinne erkennen wir diese Realitäten. Nun lehrt aber die Naturwissen-
schaft die Subjektivität der Sinnesempfindungen. Dazwischen sieht Sch.
einen Widerspruch. Er löst ihn durch zwei Gedanken. Zunächst gibt er
die Subjektivität der Sinnesempfindungen uneingeschränkt zu. Die Sinnes-
empfindung ist ihm »Bewußtheit des Reizzustandes eines Sinnesorganes«
(S. 68). Sie hat darum zwar auch wahre Erkenntnisse zu vermitteln, aber
ihr Hauptzweck ist biologischer Natur: das Zurechtfinden im sinnlichen
Leben (S. 42 ff.). Dann macht er zwischen Empfindung und Wahrnehmung
einen scharfen Schnitt. Die Wahrnehmung ist nicht nur ein Komplex von
Empfindungen, sondern noch in anderer Weise von der Einzelempfindung
verschieden. Die Empfindung reicht nicht über den subjektiven Bereich
hinaus. Die Wahrnehmung aber erfaßt mit Hilfe der Empfindung die ob-
jektiven Realitäten, indem die Seele sich in der Wahrnehmung der Wechsel-
wirkung mit einem fremden Gegenstande bewußt wird (S. 112ff.). Die
Wahrnehmung verläuft in verschiedenen Stufen. Die erste Stufe ist die
Objektivierung, bei der lediglich eine der Seele fremde Realität gesetzt
wird. Die zweite Stufe der Projizierung faßt die Gegenstände als räum-
lich außerhalb des reizaufnehmenden Apparates gelegen. Die dritte Stufe
der Individualisierung schreibt verschiedene Sinnesempfindungen einem
einzigen Gegenstande zu. Endlich ergänzt die vierte Stufe der Komplettierung
die bisherige Tätigkeit der Wahrnehmung, indem sie gewisse Eigentüm-
lichkeiten hervorhebt, die in den Ergebnissen der anderen Tätigkeiten nur
mitgegeben sind, so die Ausdehnung, die Beziehungen, die Zahlen. Irgend-
ein Verstandesakt liegt nicht in der Wahrnehmung.
Das ist der wesentliche Inhalt des ersten (wichtigsten) Hauptteiles.
Als Ergänzung und Verifizierung dient der zweite Hauptteil, der in mehr
populärer Form die einzelnen Sinne und ihre Tätigkeit behandelt.
Den Überlegungen des Buches fehlt die gegenstandstheoretische Klar-
heit über gewisse philosophische und psychologische Dinge. Ich stoße mich
schon an dem Titel. In ihm liegt die alte scholastische Auffassung der
Literaturberichte. 473
Erkenntnis. Sie nimmt zwei wesentlich verschiedene Dinge — das Bewußt-
haben und das Erfassen im Urteil — in einem Begriffe zusammen. Das ist
durchaus unstatthaft; man darf vom Erkennen lediglich beim Urteil sprechen.
Mit Wahrheit (8.45) hat die »reine Sinnlichkeit« aber auch gar nichts zu tun.
Empfindung und Wahrnehmung haben stets notwendig einen Gegen-
stand, der vom Subjekt verschieden ist. Das ist nicht bloß schlichte psycho-
logische Tatsache, sondern liegt im Sinne dieser Tätigkeiten als eines Er-
fassens. Zu Realismus oder Idealismus hat diese Feststellung schlechter-
dings keine Beziehung. Ob die Farbe vom Subjekt abhängig oder unab-
hängig ist, sie bleibt stets Gegenstand der Empfindung. Niemals wird
übrigens in der Empfindung der »Reizzustand eines Sinnesorganes« bewußt,
sondern es werden Farben, Töne usw. bewußt.
Gewiß ist die Wahrnehmung mehr als ein Komplex von Empfindungen.
Aber die Stufen der Wahrnehmung nach Sch. sind teils überflüssig, teils
ungenau bestimmt, teils unvollständig. Was an der Objektivierung richtig
ist, liegt im Sinne des Empfindens und Wahrnehmens. Wozu ist eine
Projektion nötig? Es wird doch nichts im reizempfangenden Apparate
wahrgenommen, und die Seele ist auch nichts Ränmliches. In der Indivi-
dualisierung und Komplettierung stecken Komplexbildung, Gestaltwahr-
nehmung u.a. Daß das Denken bei jeder Wahrnehmung beteiligt ist, kann
die einfachste Analyse zeigen. Beziehungen und Zahlen können unmöglich
durch die Sinne erfaßt werden. Denn Beziehungen und Zahlen sind weder
rot noch blau, weder dick noch dünn, weder warm noch kalt.
Wenn nun die Naturwissenschaft dazu übergeht, bei einigen Gegen-
ständen der Empfindung zu zeigen, daß sie vom Subjekt abhängig sind,
so ist das eine Abhängigkeit innerhalb der unmetaphysischen phänomeno-
logischen Sphäre und ist kein Realismus oder Idealismus. Würde die
Naturwissenschaft das Gegenteil beweisen, so müßte der metaphysische
Idealist dieses Resultat annehmen und könnte doch Idealist bleiben. Den-
noch hat jene Lehre der Naturwissenschaft Beziehungen zum Realismus.
Wenn nämlich der metaphysische Realismus durch andersartige Überlegungen
sichergestellt ist, dann kann der Bealist jene Abhängigkeit mitbenutzen,
um sich den kritischen Realismus zu erringen.
Die Einsicht in die angedeuteten Unterscheidungen ringt sich heute
durch. Es ist zu bedauern, daß das Buch darin wieder Unklarheit zu stiften
geeignet ist.
Im einzelnen wäre zu den psychologischen und physiologischen Aus-
führungen noch manches zu bemerken. Der Verfasser ist offenbar mit dem
heutigen Stande der psychologischen Forschung nicht vertraut. Alles, was
heute über Gestalten, Komplexe, Aufbau der Wahrnehmungswelt (besonders
des Sehraumes), Relationserfassung, Bewegungsauffassung u. a. gearbeitet
ist, besteht für ihn nicht. Nicht einmal das Literaturverzeichnis führt
irgendeine dieser Arbeiten an, dafür aber manche gänzlich veraltete psycho-
logische und philosophische Werke (E. L. Fischer, C. M. Gießler,
L Glahn, Kleutgen, H. E. Plaßmann, Reddingius, Ritter,
Schneid, Stöckl, Wolff). Aloys Müller (Bonn).
474 Literaturberichte.
Karl Reininger, Über soziale Verhaltungsweisen in der Vorpubertät.
Heft 2 der Wiener Arbeiten zur pädagogischen Psychologie von
Charl. Bühler und V. Fadrus. Wien, Burgring 9, Deutscher Ver-
lag für Jugend und Volk. O. J. (1926). 112 Seiten. Preis
brosch. B Schilling.
Reininger hat eine Klasse durchschnittlich elfjähriger Knaben,
auch unter Zuhilfenahme planmäßiger Eingriffe, studiert. Die Ergebnisse
seiner Beobachtungen hat R. in der vorliegenden Schrift unter den ver-
schiedensten Gesichtspunkten dargelegt, z. B. Führung, Massenbildung,
Übereinander und Untereinander, Miteinander, Gegeneinander. Daß die
Darbietung eben nur ein Bild jener Klasse gibt, weiß R., obwohl er glaubt
behaupten zu dürfen, daß es sich um eine Gemeinschaft gehandelt habe,
wie sie etwa im Durchschnitt vorkommt. In der Zusammenfassung
sagt R., daß innerhalb einer Gemeinschaft wie der vorliegenden eine Ord-
nung besteht, die jedem Mitglied mehr oder weniger bewußt ist, jedenfalls
aber von ihm beachtet wird. Diese Ordnung bestimmt im wesentlichen
die Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft, die Stellung und das Ver-
halten der einzelnen Mitglieder zueinander, die Stellung des einzelnen zur
Gemeinschaft, das Verhalten der Gemeinschaft zu einzelnen, die Stellung
des Führers in der Gemeinschaft, schließlich die wechselseitigen Beziehungen
von Führer und Geführten. ;Mit zurückhaltenden Andeutungen einer
pädagogischen Auswertung schließt R. seine mit viel Liebe und Mühe durch-
geführte Arbeit. — Ob Großdeutschland übrigens kein deutsches Wort für
Vorpubertät aufzubieten vermag ? A. Römer (Leipzig).
Eugen Rosenstock, Soziologie. I: Die Kräfte der Gemeinschaft.
264 Seiten. Berlin-Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1925.
Den philosophischen Soziologen wie Dunkmann, Vierkandt,
Wiese, die >geisteswissenschaftlich« und überwiegend »streng theoretisch«
eingestellt sind (S. 21), stehen nach R. die »allgemeinen« oder »inhaltlichen«
oder »universalistischen«e Soziologen gegenüber. Während jene eine
zwingende Anordnnng der zahllosen »Formen« durch ihre Gliederung in
wenige »Kräfte« aufzuzeigen bestrebt sind, wollen diese die Gesetze des
gegenwärtigen oder gar zukünftigen Geschehens ermitteln, ja sie wollen
reformieren, vor allem die Gesellschaft. Jene sind also die Kräftesoziologen,
diese die Gestaltungssoziologen (Auguste Comte, Franz Oppen-
heimer u.a.). — Beide Gegensätze arbeiten aber einander in die Hände:
»Beide verarbeiten zwischen ihrer Analyse und ihrer Synthese, zwischen
‚Philosophie‘ und ‚Geschichtsphilosophie‘ die Gebiete bisheriger Wissenschaft,
um hinter ihre Gestehungskosten zu dringen. Das Kostengesetz der
Wirklichkeit, wieviel Kraft, was für Kräfte sie kostet, ist das gemeinsame
Problem aller soziologischen Richtungen.«
Am Beispiel Saint Simons wird nun gezeigt, was nach R. ein echter
Soziologe ist, der dem Menschengeist eine neue Laufbahn, die »physiko-
politische«, eröffnen wollte, nämlich durch das eigene Experiment (an
Stelle der Bilder aus der Zoologie, >mit denen uns angebliche Soziologen
plagen« S.39!). Das Experiment Saint Simons aber war sein eigenes
Literaturberichte. 475
Leben. So bleibt die Soziologie als Ganzes gebundeu an den Leidensstand
der Menschheit. »Sie ist keine voraussetzungslose Wissenschaft. Sie weiß
alles, was sie weiß, aus der ersten Tatsache des Leides« (S. 41). Das Be-
weisverfahren der Soziologie wird nicht in dicken Büchern seine Triumphe
feiern können (»die Soziologie ist mithin keine Geisteswissenschaft im
Sinne aller Universitätsüberlieferung und erst recht keine Naturwissenschaft
im modernen Sinne« S. 63), sondern nur in gelebter Lückenausfüllung;
Wissenschaft aber ist sie insofern, als ihr Verlangen auf Vergegen-
wärtigung des wirklichen Menschen und der menschlichen Wirklichkeit
geht. Dabei sind vier verschiedene, »auf unvereinbaren Ebenen« liegende
Ansätze nötig, die >das Koordinatensystem der Wirklichkeit für das sozio-
logische Denken« bilden:
Rückwärts | Innen
Außen | Vorwärts
Verf. strebt also nach der Darstellung in einem anschaulichen Schema, wie
auf diesem Gebiet z.B. auch Hugo Lehmann, vgl. dieses Archiv Bd. 50
8.391, 1925). Das geschichtliche Leben muß dabei nach R. doppelt zer-
spalten werden, und der Raumbegriff gliedert sich noch einmal in Innen
und Außen, der Zeitbegriff in Vergangenheit und Zukunft. Für R. ist also
alle Soziologie nur als mehrstimmige Erkenntnis möglich (S. 58, 246);
und das Thema der Soziologie ist die Wirklichkeit nach der Definition
auf S.60: »Wirklich ist nur, was in mehr als einem Raum und in mehr
als einer Zeit bestimmt wird«. Die Soziologie soll versuchen, »die Noten-
sohrift zur Melodie des sozialen Lebens zu erfinden« (S. 61).
A. Römer (Leipzig).
J. Sadger, Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. 6. Heft der Schriften
zur angewandten Seelenkunde (Freud). Leipzig und Wien, Franz
Deuticke. 124 Seiten.
In zweiter Auflage liegt Sadgers Buch vor, erweitert durch einen
Nachtrag. Die Theorie der Psychanalytiker, daß die erste Liebe des kleinen
Mädchens dem Vater, die frühesten infantilen Begierden eines jeden Knaben
der eigenen Mutter gehören (S. 7), bildet die Grundlage der Untersuchung:
Sophie Löwenthal fand Befriedigung ihrer Wünsche, soweit sie nicht
als verpönt verdrängt wurden, durch den Vater, Lenau durch die Mutter,
die ihn sichtlich vor allen Geschwistern bevorzugte. Aus den kindlichen
Idealsetzungen, die infolge solcher Kindesliebe bei beiden eintraten (Vater-
Mutter), erklärt Sad ger das Liebesleben zwischen beiden. Bedeutsam ist
die Jenseitshoffnung der zwei Liebenden, die ihnen Erfüllung der Sehnsucht
bringt; etwa ähnlich der Zinzendorfschen Religiosität liegt hier eine indi-
viduell gefärbte Anschauung vor, die von normalen Jenseitshoffnungen ab-
weicht. — Mit der Sexualsymbolik (z.B. S. 100: Taschenuhr, Vogel-
Schießen usw.) konnte ich mich bis heute nicht befreunden.
A. Römer (Leipzig).
Oskar Dinglinger, Arbeit-Glaube—Liebe. Das Glaubensbekenntnis
eines deutschen Christen. 171 Seiten. 4°. Berlin, E. S. Mittler &
Sohn, 1925. Ganzleinen 10 M.
476 Literaturberichte.
Von der Dinglingerschen Schrift, deren Grundgedanken ans der
Titelformulierung leicht zu entnehmen sind, interessieren an dieser Stelle
besonders die Ausführungen über die Grundlagen des Glaubens. D.s Glaubens-
bekenntnis fußt auf den neuesten Ergebnissen der Wissenschaft; in An-
lehnung an die Welt der Energien (S. 9) nimmt Verf. die Seelenenergie
als Trägerin des Lebens an. Diese Seelenenergie wird nun gefunden: in
der unbewußten Tätigkeit des Gehirnverletzten, des Hypnotisierten (nicht:
Unterbewußtsein, das ja ans Gehirn gebunden ist S.21, 48), im »subjek-
tiven Ego« Thomson Jay Hudsons, der auf D. stark gewirkt hat.
Auch wird sie als Träger der ererbten Eigenschaften, der unbewußten
Empfindungen, Bewegungen und Selbstleistungen, des Instinkts, der Intuition
und des Gefühls angenommen. Der Glaube, der auf Selbstsuggestion
— vgl. Wilh. Wirth, Archiv Bd. 43 S.109£.! — oder Suggestion durch
andere beruht (S.27), hat allein keinen Wert, wenn nicht der Wille hinzu-
kommt, auf Grund des Glaubens zu handeln. Als Träger der Willens- und
Glaubensrichtung ergibt die Seelenenergie das Wesen des Menschen; und
die höchste Tat des vernunftbegabten Geistes ist der Glaube an das
ewige Leben, der unter Anlehnung an gewisse Vorgänge in der Hypnose
von D. als Vorbedingung für ein Weiterleben nachdrücklich
hingestellt wird (S. 50).
Das Buch, das nicht bloß ein glänzendes Literaturverzeichnis, sondern
tatsächlich innigste Fühlung mit der neuesten Literatur hat, darf im
ganzen wie in einzelnen Partien (z.B. Gehirn und Seele S.15, 46; Mensch
und Maschine S.32; unbewußt und unterbewußt S.15, 21, 47; die Er-
weiterung der Temperamente über Galenus hinaus zur Zwölfzahl S.38) als
fruchtbar bezeichnet werden; zugleich bietet es u.a. ein gedrängtes
Kompendium der Psychologie. Freilich ist erforderlich, daß der Leser ge-
wissen D.schen Eigenheiten gegenüber zurückhaltend bleibt; ich nenne
hier als Beispiel das Schematisieren. Zu D.s Sympathisieren mit den
Kotikschen Versuchen verweise ich auf Dessoirs Bedenken (Vom Jen-
seits ... 1920 4/5 Aufl. S.118). A. Römer (Leipzig).
Wilhelm Wundt, Grundriß der Psychologie. 15. Aufl. Leipzig,
A. Kröner.
M. Wundt hat das Werk seines Vaters unverändert neu heraus-
gegeben, hat aber für engste Fühlung mit der Gegenwart insofern gesorgt,
als er eine ausführliche Ergänzung der Literatur angefügt hat. Diese
in einem Nachtrag zusammengefaßten, aber auf die einzelnen Paragraphen
bezogenen Literaturangaben sind von W. Wirth dargeboten.
A. Römer (Leipzig).
A- Peiser, Untersuchungen zur Psychologie der Blinden. In Unter-
suchungen zur Psychologie, Philosophie und Pädagogik, heraus-
gegeben von Narziß Ach, Bd.4 Heft 1/2 S. 77- 111. Göttingen
1924.
Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der Blinden-
psychologie wendet sich die (1922 abgeschlossene) Arbeit ihrem Thema zu:
»Wie verhält sich der Blinde dort, wo dem Sehenden sein Distanzorgan,
Literaturberichte. 477
das Auge, als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zieles dient?« Dieses
Problem soll im experimentellen Verfahren unter Vergleichung von Blinden
und Sehenden gelöst werden, die Experimente sollen höhere, zusammen-
gesetztere Reaktionsweisen betreffen. Sie gliedern sich in zwei Reihen, in
»Gewichtsversuche< nach der Konstanzmethode und in Versuche nach der
Achschen Suchmethode.
1. Die Beurteilung vonGewichtsunterschieden bei Kasten
von gleicher Größe. Zwei sehende und drei blinde Versuchspersonen
wurden verglichen; die blinden Vpn. zeigten nicht die generelle Urteils-
tendenz, hatten eine größere Unterschiedsempfindlichkeit, aber geringere
Übungsfähigkeit hinsichtlich derselben und neigten stark dazu, die Auf-
merksamkeit besonders auf das zuerst zu hebende Gewicht zu richten, wo-
durch bei der zweiten Zeitlage der »absolute Eindruck« entscheidenden
Einfluß auf das Urteil gewinnt.
2. Versuche mit zwei andern Blinden ergaben, daß dieCharpentiersche
Täuschung (die blinden Vpn. mußten den kleinen und den großen Kasten
vor dem Versuch betasten) auch bei Blinden statthat, die Täuschung schien
beharrlicher zu sein als bei Sehenden.
8. Versuche mit der abgeänderten Achschen Suchmethode (Über
die Suachmethode vgl. N. Ach, Über die Begrifisbildung, Bamberg 1921).
Die Versuchskörper unterschieden sich durch Gestalt, Dimension, Farbe (für
halbblinde Vpn.), Rauhigkeit der Unterfläche (Sandpapier usw.) und die mit
Brailleschrift geschriebenen sinnlosen Aufschriften. Es stellte sich in den
verwickelten und mehrfach abgeänderten Versuchen heraus, daß die Blinden
im Vergleich za den Halbblinden (und Sehenden) »weniger mit dem der
sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Gegenstand als mit seinem Vorstellungs-
hild« arbeiteten, mehr als jene >»intellektuelle Kriterien« bei Lösung der
Suchanfgaben usw. anwandten und weniger leicht auf die >Anschauung«
rekurrierten. Diese Erscheinung wird als Kompensation verstanden.
Die Arbeit bietet einen zweifellos sehr wertvollen Beitrag zur Psycho-
logie des Blinden. A. Busemanz (Einbeck).
M. Sareyko, Apperzeption und sukzessive Attention als Grundbegriffe der
Arbeitsschul-Didaktik. (Eine psychologisch-pädagogische Unter-
suchung an Hand der Suchmethode) In Untersuchungen zur
Psychologie, Philosophie und Pädagogik, herausgegeben von N. Ach,
Bd. 4 S. 155—208. Göttingen 1925.
Der modernen Pädagogik eine psychologische Theorie zu geben, ist
schwierig: es fehlt beiden in Betracht kommenden Wissenschaften zurzeit
noch das feste Begriffsgerüst, von dem aus Gedankenbrücken zu schlagen
wären. Wo doch der Versuch solcher Verknüpfung gemacht wird, ist er
um so mehr zu begrüßen und mit um so mehr — Vorsicht aufzunehmen.
Sareyko sucht der genannten Schwierigkeit dadurch auszuweichen, daß
er einerseits das didaktische Prinzip der Arbeitsschule (Selbsttätigkeit) von
Gaudig, Kerschensteiner usw. als gegeben übernimmt, anderseits
eine bestimmte Theorie des Seelischen zugrunde legt, nämlich die Willens-
und Denktheorie von Narciß Ach. Damit vereinfacht sich seine Aufgabe
auf die Frage: läßt sich die »Arbeitsschule« durch die Achsche Theorie
478 Literaturberichte.
der Apperzeption rechtfertigen? Und wenn ja, welche Folgerungen, Korrek-
turen der Unterrichtsmethode usw. ergeben sich?
Die im 1. Teil der Untersuchung beschriebenen Experimente mit 7-, 8-
und 9jährigen Volksschülern nach der Suchmethode (N. Ach, Über die Be-
griffsbildung, Bamberg 1921) sollen die Vermutung prüfen, ob >durch die
sukzessive Attention der apperzeptive Prozeß eingeleitet und weitergeführt
wird, d.h. stets in dem Sinne fortschreitet, dessen Verwirklichung durch
die antizipierte Zielvorstellung verlangt wird«. Diese Frage, die übrigens
durch die Versuche bejaht wird, hat didaktische Bedeutung: Unterricht
durch Selbsttätigkeit setzt voraus, daß die Aufmerksamkeit der Schüler
von selbst (eben durch den ausgelösten Willensprozeß) auf das Wesentliche
gelenkt wird. Die in schwer lesbarer Form (besonders stört ein Übermaß
von Abkürzungen!) mitgeteilten Versuche schließen sich auch in den Er-
gebnissen an Achs Arbeit über die Begriffsbildung an und führen diese
weiter.
Der 2. (pädagogische) Teil der Untersuchung unterzieht die Herbart-
Zillersche Auffassung von den psychologischen Grundbegriffen der Didaktik
einer einlenchtenden Kritik vom Standpunkte der Achschen Willens- und
Denktheorie aus, ebenso die Zillerschen Formalstufen des Unterrichts.
Darauf wird von demselben Standpunkte aus eine psychologische Theorie
der »Unterrichtsmethode und der Lehrformen der Arbeitsschnle« versucht,
die unter der Annahme der gegebenen Voraussetzungen als wohlgelungen
bezeichnet werden kann. Die Berufung auf Autoritäten des pädagogischen
Lagers hätte sich Sareyko in diesem Zusammenhange wohl sparen können;
aus einer geschlossenen psychologischen Theorie und aus einem klaren
Bildungsbegriff müßte sich eine didaktische Theorie auch ohne Seitenblicke
ableiten lassen. Fehlt doch jenen Autoritäten eben das, was der Psychologe
aus Eigenem heranbringt: die psychologische Fundamentierung der Begriffe.
Im ganzen darf die Abhandlung als ein wertvoller Beitrag zu einer
neuen pädagogischen Psychologie bezeichnet werden.
A. Busemann (Einbeck).
G. Bacher, Die Achsche Suchmethode in ihrer Verwendung zur Intelligenz-
prüfung. In Untersuchungen zur Psychologie, Philosophie und
Pädagogik, herausgegeben von N. Ach, Bd.4 S.209—380. Göttingen
1925.
Die praktische Verwendung der Achschen Suchmethode für die Aus-
lese der Unternormalen wird in der Weise erprobt, daß 14 normale Volks-
schulkinder im Alter von 7—11 Jahren und 11 etwa gleichaltrige Hilfs-
schulkinder hinsichtlich ihrer Leistungen in der Suchmethode verglichen
werden. Die Versuche ergeben eine Korrelation von 0,84 für Altersordnung
und Leistungen im »Suchen«, nur 0,58 für Altersordnung und Leistungen
im »Begründen« (bezüglich normaler Kinder); das »Suchen« wird als Leistung
der praktischen, das »Begründen« als solche der theoretischen Intelligenz
gewertet. Mit neun Jahren scheint die praktische Intelligenz in diesem
Sinne besonders schnell zu wachsen, was von der theoretischen nicht gilt.
(Die geringe Zahl der Vpn. läßt dies »Ergebnis« vorläufig sehr unsicher
erscheinen.) Auch die Begrifisbildung soll in diesem Alter gute Fortschritte
Literaturberichte. 479
machen. — Die Hilfsschulkinder ähnelten in ihrem Verhalten in manchen
Punkten den 7—8jährigen normalen Kindern, zeigten in anderen (Leistungs-
konstanz geringer usw.) wesentliche Unterschiede, so daß die Debilität nicht
als Rückstand in der normalen Entwicklung angesehen werden darf.
Der Versuch veranschaulicht die Verwendbarkeit der Suchmethode für
die Zwecke der Analyse des kindlichen bezw. abnormen Denkens und ihre
Überlegenheit über einfachere Methoden der Intelligenzprüfung, was die
Unabhängigkeit vom Wissen der Vp. anbetrifft.
A. Busemann (Einbeck).
H. Kirek, Über die Bedeutung der sensoriellen Veranlagung für die
Bildung von Objektvorstellungen, insbesondere auch bei Eidetikern.
In: Untersuchungen zur Psychologie, Philosophie und Pädagogik,
herausgegeben von N. Ach, Bd.5 S. 1—86. Göttingen 1925.
Die Untersuchung soll feststellen, in welcher Weise der Prozeß der
Begriffsbildung durch den Gedächtnistypus beeinflußt wird.
1. Vergleichende Versuche mit visuell und akustisch veranlagten Er-
wachsenen. Der Vorstellungstyp wurde nach dem von G. E. Müller und
Pilzecker eingeführten Verfahren der Analyse von Teiltreffern und falschen
Fällen in der Trefferprüfung ermittelt. Der Prozeß der Begriffsbildung
wurde nach der erweiterten Suchmethode Achs untersucht. Es ergab sich
in den ersten Versuchen, daß die Visuellen nur schwer von den optischen
Merkmalen der Versuchskörper absehen und unter Abstraktion von solchen Merk-
malen Objektvorstellungen bilden (>sensoriell -determinierende Hemmung«);
ein Urteil im umgekehrten Falle (Zusammenfassung optisch verwandter Ver-
suchskörper) war nicht nachzuweisen, so daß die Visuellen im Vergleich zu
den Akustikern im ganzen schlecht abschnitten. Eine neue Versuchsreihe
verleiht den Versuchskörpern auch akustische Merkmale (Trommel- bezw.
Gongschlag). Diese Versuche bestätigten das Gesagte und ergaben außer-
dem eine Förderung der Begriffsbildung, wenn der sensorielle Typus dem
Empfindungsgebiet der positiv zu abstrahierenden Merkmale entspricht.
Ganz allgemein ließ sich die Regel aufstellen: Die positive (negative) Ab-
straktion geht um so schneller vor sich, je größer (je geringer) der Ein-
dringlichkeitsgrad der zu abstrahierenden Merkmale für die betreffende
Person ist. — Jedoch schienen die visuellen Vpn. mehr Schwierigkeit zu
haben, von optischen Merkmalen abzusehen, als die akustischen Vpn. im
Falle akustischer Merkmale (»visuelle Beobachtungstendenze).
2. Versuche mit nicht-eidetischen (wie wurde das festgestellt?) Kindern
mit vereinfachter Methode ergaben, daß sich die »sensorielle Veranlagung
bei Kindern stärker auswirkt als bei Erwachsenen«. Mit 9—10 Jahren
scheint die Farbe ihre Vorrangstellung vor der Form zu verlieren. Schon
Achtjährige bildeten »Objektvorstellangen« im Sinne der Sachmethode (vgl.
G. Bacher!).
3. Tattonierende Versuche mit eidetischen Jugendlichen. Die Eidetiker
zeigten sich in der Suchmethode >unselbständig, labil und kritiklos. Häufig
verzögerte sich die Bildung der Objektvorstellung beträchtlich«. »Die
untersuchten Eidetiker waren daher auch zum größten Teile schlechte
Denker«.
480 Literaturberichte.
4. Versuche mit eidetischen Volksschul- und Hilfsschulkindern mit einer
Methode, deren eine Konstellation die Erzeugung optischer Anschauungs-
bilder unterstützte, deren andere sie hemmte. Beiläufig wird erwähnt, >daß
die Zahl der Eidetiker in Hilfsschulen prozentual bedeutend größer« als in
Normalschulen gefunden wurde. Die Kidetiker erwiesen sich in der die
Anschauungsbilder begünstigenden Konstellation anderen Kindern beim
Lösen der Suchaufgaben gewachsen, in der anderen Konstellation dagegen
und in der Bildung von Objektvorstellungen unterlegen. Dieser Leistungs-
unterschied war besonders frappant beim Vergleich eidetischer und nicht-
eidetischer Hilfsschüler. Der Verf. kommt zu dem Schluß, daß die »An-
schauungsbilder« das abstrakte Denken erschweren, »in extremen Fällen
geradezu unmöglich« machen.
Bezüglich weiterer Einzelheiten sei auf die sehr beachtenswerte Unter-
suchung verwiesen. A. Busemann (Einbeck).
H. Düker, Über das Gesetz der speziellen Determination. Ein experi-
menteller Beitrag zur Lehre vom Willen. In Untersuchungen zur
Psychologie, Philosophie und Pädagogik, herausgegeben von N. Ach,
Bd. 5 S. 97—174. Göttingen 1925.
Das von N. Ach (Willensakt und Temperament, Leipzig, 1910) auf-
gestellte Gesetz: >Je spezieller eine Determination ist, desto rascher und
sicherer wird die Verwirklichung erreicht«, das von G. E. Müller,
O. Selz und anderen abgelehnt bezw. angefochten wurde, wird in eleganter
Versuchsmethodik als gültig erwiesen. Für die Beweisführung ist ent-
scheidend, daß eine spezielle Determination als nur da vorliegend erachtet
wird, wo ein und dieselbe Tätigkeitsart auf verschieden eng umschriebene
Ziele gerichtet ist, so daß die miteinander zu vergleichenden Tätigkeiten
in einer Ordnung zueinander stehen, welche genau einem begrifflichen
Ordnungssystem entspricht. (Beispiel: In einer gegebenen Silbe a) einen
Laut durch einen anderen ersetzen! b) einen Konsonanten durch einen
anderen Konsonanten! c) den anlautenden Konsonanten durch einen anderen
Konsonanten! usw.) A. Busemann (Einbeck).
Vor kurzem erschien:
Fichtes sämtliche Werke
Herausgegeben von J. H. Fichte
8 Bände
Nachgelassene Schriften
Herausgegeben von J. H. Fichte
3 Bände
Der Preis der 11 Bände in Ganzleinen gebunden G.M. 150.—
| Die Ausgabe wird nur vollständig abgegeben |)
Unter den Vertretern des deutschen Idealismus, den Folgern Immanuel
Kants, steht Johann Gottlieb Fichte an der ersten Stelle. Sein Denken
hat für unsere Zeit erneut hohe Bedeutung gewonnen: durch die
Wissenschaftslehre wird er zum Vorgänger der subjektivistischen
Richtungen der heutigen Philosophie; die Sittenlehre gilt jetzt noch als
Wegweiser einer Ethik, die von dem Postulat einer übersinnlichen
Weltordnung ausgeht; die Romantik fußt auf Fichte; seine Natur- und
Geschichtsphilosophie leuchtet Schelling und Hegel vor. Zumal durch
die Pädagogik und ihre hohe praktische Auswertung in den „Reden
an die deutsche Nation" wirkt er aufs stärkste ins Leben der Gegen-
wart hinein und gewinnt immer mehr die Stelle eines Führers und
Lehrers des deutschen Volkes.
Bisher ist nur eine einzige Ausgabe der Werke Fichtes vorhanden,
die von seinem Sohne in 11 Bänden veranstaltete (Berlin 1845—1846).
Allein hier findet man die Möglichkeit eines Gesamtüberblicks seines.
Schaffens, um so mehr, da eine Anzahl der Schriften in den Einzel-
drucken sehr selten geworden sind. Aber auch diese einzige Ausgabe
zählt jetzt zu den Seltenheiten.
Deshalb haben wir uns entschlossen, von dieser Ausgabe in einem
vorzüglichen photographischen Verfahren einen vollständigen, der
Vorlage buchstäblich gleichenden Neudruck herzustellen, der jetzt fertig
vorliegt. Er wird in vielen öffentlichen und privaten Bibliotheken
eine empfindliche Lücke ausfüllen und der Beschäftigung mit dem
„deutschesten‘ Denker verstärkte Anregung gewähren.
Mayer & Müller G. m. b. H., Leipzig
eaaa aa a aa aaa
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m.b.H. IN LEIPZIG
Die Dekadenz der Arbeit
Prof. Dr. Th. Svedberg
Nach der 2. Auflage aus dem Schwedischen übersetzt von
Dr. B. Finkelstein
Die aktuellen Probleme der Physik und Chemie — Umwandlung der
Energie, Moleküle und Atome, Kolloide, moderne Transmutationsversuche,
flüssige Kristalle usw. — werden in dem Werk in jener allgemeinverständ-
lichen und anziehenden Form dargestellt, für die die schwedischen Gelehrten
eine besondere Gabe besitzen.
Nicht nur der gebildete Laie, sondern auch der Fachmann findet in dem
Buch viele Angaben, die in der zugänglichen Fachliteratur fehlen.
Gebunden Goldmark 6.—, broschiert Goldmark 5.—
Besprechung: Das Buch hat seinen Titel nach dem Prinzip erhalten, das mehr als
alle anderen die Naturforschung der letzten Jahre beherrscht, von dem Gesetze der Degradation
der Energie, der Arbeitsdekadenz. In wahrhaft allgemeinverständlicher Form werden die im
Vordergrunde des wissenschaftlichen Interesses stehenden Probleme dargelegt. .
Das Werk gehört unbestreitbar zu den interessantesten und wertvollsten Erscheinungen.
Die Ausstattung ist hervorragend, die Übersetzung ausgezeichnet.
Prof. Gutbier, Jena, in Chemikerzeitung.
Literarische Wochenschrift.
Rritisches Zentralblatt für die gesamte gesamte Wissenschaft
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Begründet und herausgegeben von Prof. Dr. Ed. Zarnke, Leipzig
Schriftleitung: Dr. O. Lerche, Weimar, Marienstraße 14
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der Wissenschaft und des geistigen Lebens
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Buchdruckerei von Robert Noske in Borna-Leipzig.
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