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Full text of "Archiv für die gesamte Psychologie 52.1925"

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ARCHIV 


FÜR DIE 


GESAMTE PSYCHOLOGIE 


BEGRÜNDET VON E. MEUMANN 


ORGAN DER GESELLSCHAFT FÜR EXPERIMENTELLE 
PSYCHOLOGIE 


UNTER MITWIRKUNG 
VON 


N. ACH, E. BECHER, H. HÖFFDING, F. KIESOW, 

A. KIRSCHMANN, 0. KLEMM, E. KRAEPELIN, 

F. KRUEGER, C. MARBE, G. MARTIUS, A. MESSER, 
R. SOMMER, G. STÖRRING, J. WITTMANN 


HERAUSGEGEBEN VON 
W. WIRTH 


LIL BAND 


MIT 25 TEXTFIGUREN 


LEIPZIG 
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT M.B.H. 
1925 


Es warden ausgegeben: 


Heft 1/2 (S. 1—296) am 12. Juli 1926 
Heft 3/4 (S. 297—476) am 18. August 1925 


„er 


Inhalt des zweiundfünfzigsten Bandes, 





Seite 
G. Störrıng, Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse und kausale 
Behandlung einfacher experimentell gewonnener Schlußprozesse . 1 
F. Kızsow, Über die Vergleichung linearer Strecken und ihre Beziehung 
zum Weberschen Gesetze . . » 2 2 2 2 2 nr nr ren. 61 
Jurıan Siemar, Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes 91 
Tueopor Nissen, Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der 
Düyssee 2.2 Bee ae 177 
Friepeich Nosske, Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Unter- 
scheidbarkeit sukzessiver Belastungen der nämlichen Hantstelle. 
(Auf Grund eines von Kraepelin gewonnenen Versuchsmateriales.) 


Mit 12 Figuren im Text .... 222 Er een „ 1% 
Franz Scora, Über das Verhältnis von Vorstellungsbild, Anschauungsbild 
und. Nachbild 297 
Auguste FLacH, Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 
Mit 13 Figuren im Text . . 2 222m nen 369 
CaRısTIıan Rocer, Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie 
WITH en ee he a he a Birne a e )e 441 
Literaturberichte: 
Pavor Häperuin, Der Charakter. (A. Römer) .. ...... .... 287 
Oskar Priister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. 
(A. Römer) e E E a E Be w ie ee a a a O 288 
James H. Leusa, Religions and other Ecstacies. (4. Römer). .... 289 
Kart Jaspers, Die Idee der Universität. (H. Jancke). ....... 289 


W. E. Perers, Die Auffassang der Sprachmelodie. (M. Gebhardt) . . 290 
Frorıan Znanieckı, The Laws of Social Psychology. (Bergfeld) . . . 291 
Dom Tuomas VERNER Moorx, Dynamic Psychology. (Bergfeld). . . . 292 
Ropert A. BROTEMARKLE, Some Memory Span Problems. (Bergfeld) . 298 
Henry SHERMAN ÜBERLY, The Range for Visnal Attention, Cognition 


and Apprehension. (Bergfeld) . . . .: 2:2: 22er. 293 
Leon Dupre Stratton, A Factor in the Etiology of a Sub-Breathing 

Stammerer. (Berofdd) 2:2 CN 294 
BuLLerin of the State University of Jowa. (Beroflldl ....... 294 
L. Vıvante, Note sopra la originalitä del pensiero, specialmente con- 

cernenti la psicoanalisi e la psicologia. (O. Klemm) ....... 294 
L. Vivante, Intelligence in expression. (O. Klemm). . ... 2... 294 
Sypxer Aururz, Neue Strahlen des menschlichen Organismus. (Triepel) 295 
Kur HıLoeBRanDt, Gedanken zur Rassenpsychologie. (Triepel) . . . 235 
GEBHARD SCHERK, Zur Psychologie der Eunuchoiden. (Triepe.). . . . 296 


39152 


“Frieveich Jon, Lehrbuch der Psychologie. iO. Sterzinger) . .. . . 469 


E. Marrınax, Meinong als Mensch und als Lehrer. (O. Sterzinger) . . 
G. E. MüLLer, Abriß der Psychologie. (Aloys Miller). ....... 
Dr. Max Orrnen, Das Gedächtnis. Die Ergebnisse der experimentellen 
Psychologie und ihre Anwendung in Unterricht und Erziehung. 
(Aloys Müller) a 2.222 2.2 2.0 we a Sa a aa En 
A. Hesaro, La Relativite de la Conscience de Soi. (Max Dessoir) 
Dr. Hueo Dinarer, Die Grundlagen der Physik. Synthetische Prin- 
zipien der mathematischen Naturphilosophie. (Aloys Müller)... . 
Dr. Joser SCHWERTSCHLAGER, Die Sinneserkenntnis. (Aloys Müller). . 
Kar Reınınger, Über soziale Verhaltungsweisen in der Vorpubertät. 
(AROMO 2: ee re ar ee ee ee ar ae S 
Eugen Rosenstock, Soziologie. I: Die Kräfte der Gemeinschaft. 
— ER) a zes a. ae ee Bee ee e A a we 
J. Sınger, Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. (A. Römer) 
Oskar DINGLINGER, Arbeit—Glaube—Liebe. Das Glaubensbekenntnis 
eines deutschen Christen. (A. Römer) . . .»... 22 2020. 
WILHELM Wonpr, Grundriß der Psychologie. (4. Römer). ..... 
A. Priser, Untersuchungen zur Psychologie der Blinden. (A. Busemann) 
M. SırEyKo, Apperzeption und sukzessive Attention als Grundbegriffe 
der Arbeitsschul-Didaktik. (A. Busemann) . . ». 2 2... 2.0. 
G. Bacher, Die Achsche Suchmethode in ihrer Verwendung zur Intelli- 
genzprüfung. (A. Busemann) . . 2: 2 2 2er... 
H. Kırek, Über die Bedeutung der sensoriellen Veranlagung für die 
Bildung von Objektvorstellangen, insbesondere auch bei Eidetikern. 
(A; Busemunn) u. sos e 8 2.0 er ee a a oa 
H. Düxer, Über das Gesetz der speziellen Determination. Ein experi- 
menteller Beitrag zur Lehre vom Willen. (4. Busemann) 


470 
470 





G. Störrına, Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse und kausale 


Behandlung einfacher experimentell gewonnener Schlußprozesse 


F. Kıesow, Über die Vergleichung linearer Strecken und ihre Beziehung 


zum Weberschen Gesetze . 2 2: 2 22 m mn Er Er a rer 0. 


Juan Sıcmar, Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes 
Tueovor Nissen, Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der 


— u a sn ee re AR š 


Frweprgica Nossge, Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Unter- 


scheidbarkeit sukzessiver Belastungen der nämlichen Hautstelle. 
(Auf Grund eines von Kraepelin gewonnenen Versuchsmateriales.) 


Mit 12 Eiguren im Text 
Literaturberichte: 
PauL Häiserum, Der Charakter. (A. Römer) . . . 2. 2 2 2 2 2 20. 
Oskar Prister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. 
(A: Omen ee ee ee 
James H. Leusa, Religions and other Eestacies. (4. Römer)... . . 
Karı Jasrers, Die Idee der Universität. (H. Jancke). ....... 


W. E. Peters, Die Auffassung der Sprachmelodie. (M. Gebhardt) 
FLorıan Znasteckı, The Laws of Social Psychology. (Bergfeld) . . . 
Dom Tuomas Verser Moore, Dynamic Paychology. (Bergfeld). ... . 
Rosert A. BROTEMARKLE, Some Memory Span Problems. (Beryfeld) 
Henry SHERMAN OserLy, The Range for Visual Attention, Cognition 
and Apprehension. (Berafeld) . . 2:2: 2 2 rn m nen 
Leon Dupre Sırarton, A Factor in the Etiology of a Sub-Breathing 
Stammerer. (Beryufld) . >: : 2 mern 
BuLterin of the State University of Jowa. (Bergfeld . ...... 
L. Vıvante, Note sopra la originalità del pensiero, specialmente con- 
cernenti la psicoanalisi e la psicologia. (O. Klemm) ....... 
L. Vıvante, Intelligence in expression. (0O. Klemm). . . . a. 


Seite 


1 


91 


177 


Er 


Sypney Aururz, Neue Strahlen des menschlichen Organismus. (Triepel) 295 


Kurt HıLdesranpt, Gedanken zur Rassenpsychologie. (Triepel) 
GERHARD SCHERK, Zur Psychologie der Eunuchoiden. (Triepel). . 


235 


. . 295 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse und 
kausale Behandlung einfacher experimentell ge- 
wonnener Schlussprozesse. 


Von 
G. Störring. 


A. Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse. 


Bei einer experimentellen Untersuchung der Schlußprozesse 
kann man sich auf eine beschreibende Charakteristik be- 
schränken, oder man kann auf die beschreibenden Feststellungen 
eine kausale Behandlung der in dem Schlußprozesse gegebenen 
Operationen gründen. Macht man sich zum letzten Zweck eine 
kausale Behandlung der Schlußprozesse, so ist es sehr zweck- 
mäßig, allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse dieser 
kausalen Betrachtung zugrunde zu legen, Bestimmungen, welche 
zum größten Teil auf Grund von pathologischen Fällen gemacht 
sind, zum Teil auch auf Grund von experimentellen Unter- 
suchungen über Denkprozesse. 

Ich werde zur Grundlegung jener Entwicklungen eine psy- 
chologische Charakteristik der Urteile geben, die verschiedenen 
Formen des Bewußtseins der Gültigkeit feststellen und die Ab- 
hängigkeitsbeziehungen des Bewußtseins der Gültigkeit auf- 
weisen. 


$ 1. Psychologische Charakteristik der Urteile. 


Ich beginne mit einer psychologischen Charakterisierung der 
Urteile. Bezüglich der Urteile streitet man gegenwärtig dar- 
über, ob zum Urteil im psychologischen Sinn ein Bewußtsein 
der Gültigkeit gehört oder nicht. Es läßt sich leicht begreifen, 
wie man zu der einen und wie man zu der andern Annahme 
kommt. Zur Annahme, daß die ‚Urteile sich mit dem Bewußt- 
sein der Gültigkeit verbinden, kommt man, indem man sich 
sagt, die Urteile sind elementare Schritte im Denken, und das 
Denken ist doch eine intellektuelle Operation, auf deren Gültig- 

Archiv für Psychologie. LH. 1 





gg a ’a . © psoe o e a^ G. Störring, 


keit man sich verläßt, es müssen also wohl alle Urteile sich 
mit dem Bewußtsein der Gültigkeit verbinden. Diese Annahme 
findet man in gewissen Urteilen, in denen wir unsere Auf- 
fassung Hemmungen gegenüber behaupten, deutlich bestätigt: 
Da sehen wir in unverkennbarer Weise ein Gültigkeitsbewußt- 
sein hervortreten. — Die Gegenpartei stützt sich auf die Tat- 
sache, daß man beim Rückblick auf die Lektüre einer Reihe 
von Sätzen einer Schrift, in deren Materie man zu Hause ist, 
den Eindruck hat, als ob nicht mit jedem Schritt im Denken 
das Bewußtsein der Gültigkeit aufgetreten sei. 

Gegen die letztere Betrachtungsweise läßt sich allerdings 
einwenden, daß die Verhältnisse zu komplex sind, als daß man 
bei einem solchen Verfahren. zu einem sicheren Urteil kommen 
könnte. 

In dieser Streitfrage habe ich auf experimentellem Wege 
eine Entscheidung herbeizuführen gesucht, und zwar nicht durch 
experimentelle Untersuchung von Urteilen für sich genommen, 
sondern durch Untersuchung von Urteilen in Schlußprozessen. 
Untersucht man die Urteile für sich genommen, wie das Marbe 
getan hat, und kommt etwa zu dem Resultat, daß sich nicht 
überall bei denselben das Bewußtsein der Gültigkeit findet, so 
wird der Gegner einen Beweis dafür verlangen, daß es sich 
auch wirklich um Urteilsprozesse gehandelt hat! 

Untersucht man aber die Urteile in Schlußprozessen, deren 
Resultat als gültig angesprochen wird, so kann niemand be- 
zweifeln, daß die in den Schlüssen gemachten einzelnen Schritte, 
welche dem Schlußsatz zugrunde liegen, als Urteile anzusprechen 
sind. 

Eine Untersuchung der Urteile in Schlußprozessen hat aber 
zu folgendem Resultat geführt: 

Meine Vpn. machen ganz übereinstimmend bei der Ent- 
wicklung von Schlüssen auf Grund der Darbietung von zwei 
Prämissen die bestimmte Angabe, daß sich nicht 
mit jedem Schritt im Denken ein Bewußtsein der 
Gültigkeit verbunden habe; aber ich kann bei jedem 
Schritt im Denken ein Äquivalent des Bewußt- 
seins der Gültigkeit aufweisen. 

Vp. E wurden akustisch die Prämissen dargeboten: 

Vorgang M später als Vorgang K 
Vorgang G später als Vorgang M 
Also: a 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 3 


Beim Auffassen der ersten Prämisse »Vorgang M später 
als Vorgang K« wurden die Buchstabengrößen M und K un- 
deutlich lokalisiert, und zwar M mehr nach oben rechts als K. 
Beim Anhören der zweiten Prämisse »Vorgang O später als 
Vorgang M« entstand sofort der Gedanke: es geht in der 
gleichen Richtung noch weiter, dabei war eine Tendenz zur 
Bewegung des rechten Arms vorhanden. Bei diesem Gedanken: 
»es geht in der gleichen Richtung weiter« war das Bewußt- 
sein der zeitlichen Beziehung nicht deutlich ausgeprägt. Es 
war die Vorstellung einer geraden Linie vorhanden. Auf Grund 
dieses. Gedankens wurde dem O ein bestimmter Platz an- 
gewiesen, ohne daß es sich an demselben visuell dargestellt 
hätte. Auf Grund dieses Gedankens »in der gleichen Richtung 
noch weiter« wurde dann auch der Schlußsatz entwickelt (in- 
dem Vorgang O als der späteste Vorgang aufgefaßt Wurde 
und deshalb auch später als Vorgang K); ein »Ablesen« des 
Schlußsatzes aus dem visuell und akustisch gegebenen Gesamt- 
tatbestande hat nicht stattgefunden. — Nach dem Hören der 
zweiten Prämisse trat in Vp. die Überzeugung auf, daß sie 
ein deutliches und ausreichendes Gesamtbild erhalten werde 
und Befriedigungsgefühl. In diesem Moment scheint der Schluß 
schon andeutungsweise antizipiert zu sein. Die später auf- 
getretenen Prozesse haben vielleicht eine schwache Bekannt- 
heitsqualität. — Ein Bewußtsein der Sicherheit hat 
sich mit den zum Schluß führenden Prozessen 
nicht entwickelt. Vp. sagt: »Aber es waren beim 
Aussprechen des Schlußsatzes die Bedingungen 
zur Entwicklung des Bewußtseins der Sicher- 
heit bis auf die Bedingung realisiert, daß ich 
darnach frage« 

In späteren Versuchen wurde nur die Richtigkeit — 
Bestimmung bestätigt. Vp. sagt ein anderes Mal, es seien die 
Bedingungen für die Entwicklung des Bewußtseins der Richtig- 
keit so ausgeprägt gewesen, daß ein kleiner Antrieb sofort 
das Bewußtsein der Richtigkeit hervorgerufen habe; noch ein 
anderes Mal: »Wenn ich zurückgeblickt hätte, würde 
ich sofort das Bewußtsein der Sicherheit bekommen haben.« 

Es drängt sich Vp. gelegentlich der Vergleich auf: der ganze; 
Tatbestand ist einem kleinen, fest konstruierten Turm ähnlich, 
das Feste daran sei die Hauptsache. Das Feste sei die Not- 
wendigkeit der Aneinandergliederung. 

1* 


4 G. Störring, 


Für eine Vp. K sind die Aussagen zu folgendem Schlusse 
charakteristisch. 

Es wurde exponiert: 

Alle K gehören zur Gattung J 
Manche K haben die Eigenschaft R 
AlO ur ur cl ar, ee de re 

Bei Auffassung der ersten Prämisse wurden K und J als 
eng verbunden aufgefaßt. Dabei war sich Vp. bewußt, daß 
nur das K an das J gebunden ist, nicht das J an das K. 
»Ich kann an das J denken, ohne K mitdenken zu müssen.« 
Der Inhalt der zweiten Prämisse erschien ihr als das Behaupten 
einer Tatsache. Dabei wurde das »Manche« nicht besonders 
beachtet. Dann trat der Gedanke auf: diese K, die zu J ge- 
hören, haben die Eigenschaft R. Darauf kam, ohne Hinein- 
legem eines Gesichtspunktes der frühere Gedanke: es gibt J, 
die auch ohne K gedacht werden können. Diese J haben nicht 
die Eigenschaft R. — Ein Bewußtsein der Gültigkeit trat 
während der Operationen nicht auf, auch nicht am Schluß. 
Diese Vp. gibt im Moment der Gewinnung des Schlußsatzes 
ein Klopfsignal, anstatt den Schlußsatz gleich auszusprechen, 
da sie etwas stottert. Sie sagt von diesem Signal: Ich gab 
das Signal zuversichtlich ohne Schwanken. Es war ein »zu- 
versichtliches Verhalten ohne Bewußtsein der Zuversicht«. 
Diese Zuversicht begleitet auch die einzelnen Schritte. Es 
handelt sich nicht um einen besonderen Gedanken, nicht um 
ein Bewußtsein der Gewißheit, aber es ist Etwas da, eine 
Verfassung (oder wie man es nennen will), in 
dem gewisse Empfindungen und ein Gefühl (wohl 
ein lustgefärbtes Gefühl) stecken, welches Etwas bei 
Fragestellung, ob die Sache stimmt, einen festen 
Anhaltspunkt gibt zur Bejahung.« Vp. hebt dann noch 
hervor, daß man leicht den Gedanken ohne Worte in dieses 
Phänomen hineintragex könne: »die Sache stimmt, es ist 
richtig«. 

Eine dritte Vp., Vp. Schl. bezeichnet das, was bei den 
Schlußoperationen beim Fehlen des Bewußtseins der Sicherheit 
vorhanden ist, als eine bestimmte Seite der Prozesse. 

Es wurden akustisch dargeboten die Prämissen: 

Alle K haben die Eigenschaft F 
Alle K gehören zur Gattung L 
Also: ee 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 5 


Bei Auffassung der ersten Prämisse stellen sich die Buch- 
staben K und F visuell dar. Vp. sagte sich, daß von dem K . 
etwas ausgesagt werde.. Bei Auffassung der zweiten Prämisse 
trat eine visuelle Darstellung der Buchstaben K und L auf. 
K wurde zu L in eine Beziehung gesetzt, die dazu benutzt 
wurde, um an die Stelle von K »einige L« in die erste Prämisse 
einzusetzen. Damit war der Schluß gegeben: einige L haben 
die Eigenschaft K. ` 


Sicherheit war bei den Schlußoperationen vorhanden, nicht 
als Bewußtsein der Sicherheit oder Gültigkeit, außer nach 
Entwicklung des Schlußsatzes, sondern als eine Seite der 
Prozesse, die ziemlich gleichmäßig auf die Prozesse verteilt 
war. Diese Seite war mit den Prozessen kontinuierlich vor- 
handen, außer da, wo ein neuer Gedanke einsetzte. Eine Unter- 
brechung hat stattgefunden nach Auffassung der ersten Prä- 
misse, dann nach Auffassung der zweiten Prämisse, dann blieb 
sie bis zur Entwicklung des Schlußsatzes. Nach Entwicklung 
des Schlußsatzes trat eine Art Schwanken auf. Vp. sagt, dies 
scheine wohl eine Frage gewesen zu sein, ob die Sache stimme. 
Diese Frage wurde bejahend beantwortet ohne 
W:orte: der Gedanke war da: es ist richtig. Diese Bestimmung 
fand statt, ohne daß die Prozesse wieder durchlaufen wurden 
— und zwar auf Grund des Vorhandenseins bzw. 
Erinnerung an jene Seite der Prozesse. 


Nachdem Vp. diese Charakterisierung einmal gegeben hat, 
behält sie dieselbe in den späteren Versuchen bei. Stets ent- 
wickelt sich erst auf Fragestellung, ob die Sache stimmt, aus 
dieser Seite der Prozesse das Bewußtsein der Gültigkeit, und 
zwar meist ohne Worte.“ 


Eine vierte Vp., Vp. Ln., spricht da, wo in den Schluß- 
prozessen kein Bewußtsein der Gültigkeit auftritt, von einem 
»Charakter der Sicherheit«. Es liegt kein Bewußtsein der 
Sicherheit vor, aber, »wenn ich etwas hätte sagen müssen, hätte 
ich gesagt, es ist richtig so«. Oder ein anderes Mal: »Wenn 
ich dieses Beziehungsetzen hätte charakterisieren müssen, 80 
hätte ich es mit Sicherheit als richtig charakterisiert, dasselbe 
wurde aber nicht so charakterisiert.« Oder: »Es bestehen 
Tendenzen, welche bei Fragestellung die Veran- 
lassung gaben zur Entwicklung des Gedankens 
der Sicherheit« u. ähnl. 


GS 


6 G. Stärring, 


Die letzte Vp., Vp. R, sagt, es handle sich um eine schwer 
. zu beschreibende Art von Empfindung, verbunden mit einem 
Befriedigungsgefühl. Auf dieses psychische Etwas gründe 
sich das Bewußtsein der Gültigkeit. 

Alle Vpn. stimmen also darin überein, daßin 
den Schlußprozessen ein Etwas eine dominie- 
rende Rolle spielt, welches sich deutlich unter- 
scheidet von dem Bewußtsein der Gültigkeit mit 
oderohne W.orte: ich muß so denken, es ist denknotwendig, 
jeder muß so denken, es kann nicht anders sein u. ähnl. 
Dieses in den Prozessen gegebene Etwas ist so 
beschaffen, daß auf Grund der Frage nach der 
Gültigkeit und beim Hinblick auf dieses Etwas 
Bejahung eintritt. 

Ich nenne dieses Etwas Äquivalent des Bewußt- 
seins der Gültigkeit. 

Damit ist die Streitfrage also entschieden, ob 
sich mit Urteilen ein Bewußtsein der Gültigkeit 
verbindet oder nicht. Wir haben es also in einem Urteil 
mit einem Bewußtseinsvorgang zu tun, der sich mit einem Be- 
wußtsein der Gültigkeit oder mit einem Äquivalent dieses Be- 
wußtseins verbindet. Dieser Bewußtseinsvorgang selbst ist jetzt 
noch näher zu charakterisieren. Wir haben es in allen Urteilen 
mit Beziehungsgedanken zu tun. So habe ich es mit einem 
Gedanken der räumlichen Beziehung zu tun, wenn ich 
von einem Körper sage, daß er in der und der Richtung von 
einem andern steht, mit einer zeitlichen Beziehung, 
wenn ich einen Vorgang als früher ablaufend bezeichne als 
einen andern, mit einer Inhärenzbeziehung, wenn ich 
von einem Ding sage, daß es die "und die Eigenschaft, die 
und die Tätigkeit aufweist. In einem Urteil stellt sich uns 
weiter etwa die Beziehung zwischen Teil und Ganzen dar. 
Sodann kommen in einem Urteil kausale und logische 
Abhängigkeitsbeziehungen zur Feststellung. Ich 
charakterisiere in einem Urteil Größen als gleich oder ver- 
schieden, als größer oder kleiner. Ich vollziehe in einem 
Urteil Kolligationsbeziehungen und man vollzieht 
Gattungsbeziehungen. 

Wir haben es also in einem Urteil jedenfalls zu tun mit 
einem Beziehungsgedanken, der sich mit dem Bewußt- 
sein der Gültigkeit oder mit einem Äquivalent dieses Bewußt- 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 7 


seins verbindet. Wir müssen das Urteil aber noch näher 
charakterisieren, um es abzuheben gegenüber einem reprodu- 
zierten Urteil, also gegenüber einem Beziehungsgedanken, an 
den sich ein nur reproduziertes Bewußtsein der Gültigkeit an- 
schließt, ein Bewußtsein der Gültigkeit, das sich nicht auf die 
unmittelbar vorher vollzogenen Operationen, sondern auf weiter 
zurückliegenden Operationen gründet. 

Wir können nun das Urteil im psychologischen 
Sinne endgültig definieren als einen Beziehungs- 
gedanken, der sich verbindet mit einem Bewußt- 
sein der Gültigkeit oder mit einem Äquivalent 
dieses Bewußtseins, wobei das Bewußtsein der 
Gültigkeit oder das Äquivalent dieses Bewußt- 
seins sich auf die unmittelbar vorangegangenen 
Prozesse gründet. 


§ 2. 
Abhängigkeitsbeziehungen des Bewußtseins der Gültigkeit. 


Ein Einblick in die Abhängigkeitsbeziehungen des Bewußt- 
seins der Gültigkeit ist natürlich von grundlegender Be- 
deutung für die Psychologie der Denkprozesse, 
weil die Denkprozesse durch ein Bewußtsein der Gültigkeit 
charakterisiert sind oder durch ein Äquivalent dieses Bewußt- 
seins. 

Im pathologischen Seelenleben tritt das Bewußtsein der 
Gültigkeit in abnormer Stärke auf bei den Erscheinungen, 
die man Wahnideen nennt. Bei ihnen ist das Bewußtsein der 
Gültigkeit so stark, daß der, abgesehen von bestimmten Wahn- 
ideen, für gedankliche Entwicklungen durchaus zugängliche 
Patient auch nicht durch die plausibelsten Ausführungen dazu 
bewogen werden kann, von einer bestimmten Beurteilungsweise 
eines gewissen Tatbestandes abzugehen. 

In solchen Fällen, wo das Bewußtsein der Gültigkeit ab- 
norme Stärke hat, treten auch die Abhängigkeitsbeziehungen 
deutlicher hervor als in der Norm. 

Ich habe die Abhängigkeitsbeziehungen des Bewußtseins 
der Gültigkeit zuerst in meinen »Vorlesungen über Psycho- 
pathologie in ihrer Bedeutung für die normale Psychologie« 
an der Hand von pathologischen Fällen aufgedeckt. 


8 G. Störring, 


Man muß bei solchen Untersuchungen darauf bedacht sein, 
mit sogen. »reinen Fällen« zu arbeiten, mit Fällen also, die 
keine Komplikationen durch anderweitige pathologische Er- 
scheinungen aufweisen. So sind Fälle, welche sich mit Hallu- 
zinationen oder Illusionen komplizieren, auszuschließen. Am 
geeignetsten für solche Feststellungen sind Fälle beginnenden 
Verfolgungswahns. Ich kann hier keine Beschreibung von 
solchen Fällen geben, das führt mich hier zu weit; ich ver- 
weise außer auf das oben zitierte Buch auf meine Psychologie). 

Die Verfolgungsideen entspringen aus einer mißtrau- 
ischen Verstimmung abnormer Intensität. 

Es fragt sich nun zunächst, wie die mißtrauische Ver- 
stimmung es fertig bringt, bei intakter Intelligenz die wahn- 
haften Urteile zu erzeugen, welche wir in den Wahnideen 
vorfinden. | 

Früher hat man sich den Einfluß von pathologischen Ver- 
stimmungen auf die Bildung falscher Urteile in Wahnideen 
durch Schlüsse zustande kommend gedacht. So sagt der be- 
kannte Wiener Psychiater Meynert bezüglich der Ent- 
stehung der Größenideen auf Grund krankhaft gehobener 
Stimmung: von der gewöhnlichen Auffassung werde dem 
Reichen, dem Herrschenden, dem Berühmten die Gemütsstimmung 
des Glücksgefühls zugeschrieben, und der Kranke schließe nun 
von seiner gehobenen Stimmung auf Reichtum, Macht, Be- 
rühmtheit usw. 

In Analogie mit dieser Betrachtungsweise Meynerts hat 
sich Sandberg die Wirkung der pathologischen mißtrauischen 
Verstimmung in intellektuellen Prozessen gedacht: »Während der 
Gesunde durch Beobachtet-, Verfolgtwerden mißtrauisch wird, 
schließt der Verrückte umgekehrt aus dem Mißtrauen, daß er 
beobachtet, verfolgt wird.« 

Ich wende gegen diese Auffassung ein, daß solche Schlüsse 
nicht nachzuweisen sind und daß es eine üble Sache ist, etwa 
unbewußte Schlüsse anzunehmen. Ich glaube gezeigt zu haben, 
daß sich auf Grund der mißtrauischen Verstimmung falsche 
Urteile ausbilden, indem der Gefühlszustand der mißtrauischen 
Verstimmung eine Beeinflussung der Aufmerksamkeitsprozesse, 
der Wahrnehmungen des Vorstellungs- und Gedankenverlaufs 
bedingt, und zwar nach den allgemeinen psychologischen Gesetz- 


1) Störring, Psychologie S. 259 ff. 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 9 


mäßigkeiten. So wird das Material für das Urteil 
einseitiggestaltetund verfälscht, so daß auf Grund 
dieses Materials ein Urteil zustande kommt, welches sich selbst 
wieder mit einem mißtrauischen Gefühlszustand verbindet. 

Auf diese Weise kommen infolge der krankhaft-miß- 
trauischen Verstimmung mißtrauische Deutungen ge- 
gebener Tatbestände zustande. 

Wir haben uns nun aber vor allem Sen wie 
es kommt, daß eine mißtrauische Deutung mitab- 
normer Zähigkeit festgehalten wird. Es hat sich 
ergeben, daß von dem abnorm starken Sichauf- 
drängen der mißtrauischen Deutung eines ge- 
gebenen Tatbestandes gegenüber anderen Deutungen das abnorm 
starke Bewußtsein der Gültigkeit des in der Deutung Gedachten 
abhängt. 

Eine zweite Abhängigkeitsbeziehung des Bewußtseins der 
Gültigkeit ergibt sich aus Fällen beginnender Gehirnerweichung. 
In ihnen tritt die Abhängigkeit des Bewußtseins der Gültigkeit 
von der Aufmerksamkeitsbetätigung hervor. Diese 
beiden Abhängigkeiten habe ich in folgender Fassung vereinigt: 
Das Bewußtsein der Gültigkeit tritt dann auf, 
wenn unsere Aufmerksamkeit sich auf einen zu 
beurteilenden Tatbestand unterbestimmtem Ge- 
sichtspunkt richtet und wenn sich dabei ein ge- 
wisser Beziehungsgedanke aufdrängt, während 
die Aufmerksamkeit diese Einstellung hat. Wir 
nennen diese Einstellung die Einstellung zum Denken. 

Diese an der Hand von pathologischen Fällen gemachte 
Feststellung über die Abhängigkeitsbeziehungen des Bewußt- 
seins läßt sich in schöner Weise bestätigen. Es läßt sich 
nämlich zeigen, daß die hier aufgewiesenen Beding- 
ungen für die Entwicklung des Bewußtseins der 
Gültigkeit auch das Entstehen wirklich gültiger 
Beziehungsgedanken verständlich machen. Be- 
achten wir den kolossalen Gegensatz zwischen dem Vorstellungs- 
verlauf, der nicht von der beschränkenden Einstellung zum 
Denken abhängig ist, und dem Vorstellungs- und Gedanken- 
verlauf, der unter dieser Einstellung sich abspielt! Es ist 
bekannt, daß, während auf eine Vorstellung V.„ in Repro- 
duktionsversuchen bei einem bestimmten Menschen zu be- 
stimmter Zeit eine Vorstellung V,, zu einer anderen Zeit bei 


10 G. Störring, 


derselben Vp. die Vorstellung V, auftritt, und noch andere 
Vorstellungen bei anderen Vpn. Diese anscheinende Unregel- 
mäßigkeit ist bekanntlich auf die von Moment zu Moment, 
bei derselben Person wechselnde Konstellation des Bewußt- 
seins zurückzuführen. Angesichts dieser Tatsache fragt man 
sich: wie ist es dann überhaupt noch möglich, daß z.B. eine 
Rechenaufgabe von mir zu verschiedenen Zeiten und von ver- 
schiedenen Personen zu derselben Lösung führt, daß wir Be- 
ziehungsgedanken bei Lösung von Denkaufgaben entwickeln, 
die Gültigkeit haben für denselben Menschen zu verschiedenen 
Zeiten und verschiedenen Personen? Darauf antworten wir: 
solche Gedanken kommen zustande, wenn die 
Aufmerksamkeitsich in der oben beschriebenen 
Weise auf den zu beurteilenden Tatbestand 
richtet und dadurch Hemmungen für die Mit- 
wirkung variabler Faktoren gesetzt werden; so 
wird eine Konstanz der Bedingungen geschaffen, 
unter denen Beziehungsgedanken auftreten, 
eine Konstanz, welche die Entstehung gültiger 
Gedanken verständlich macht. 

So finden also unsere Feststellungen über die Abhängigkeits- 
beziehungen des Bewußtseins der Gültigkeit eine vorzügliche 
Verifikation. Sie bedürfen aber noch der Ergänzung, da das 
Bewußtsein der Gültigkeit nicht bloß auftritt, wenn sich ein 
Beziehungsgedanke bei Einstellung zum Denken an der Hand 
des zu beurteilenden Tatbestandes aufdrängt, also bei der 
erlebten Notwendigkeit des Denkens, sondern 
auch bei der unter dieser Einstellung erlebten 
Notwendigkeit des »Sotunmüssens«. 

Ich gebe zunächst einen einzelnen Fall. 

Es wurden Vp. E. mit der Anweisung, nur durch Lo- 
kalisation zu schließen (nicht unter Verwendung von Gedanken, 
der Gleichheit oder des Gegensatzes der in den Prämissen ge- 
dachten Beziehungen) die Prämissen exponiert 

O rechts von P 
F links von P 
Also: . ; 

Beim Auffassen der ersten Prämisse »O rechts von P« ent- 
steht ein leichtes Unlustgefühl, weil hier auf dem Papier die 
Buchstaben nicht in dieser Beziehung stehen. Dann wird O 
rechts von P lokalisiert, und zwar nahm Vp. ein Ver- 


Allgemeine Bestimmungen tiber Denkprozesse usw. 11 


schieben von O von der Stellevor, dieesauf dem 
exponierten Zettel einnimmt. Vp. hatte den Ein- 
druck, einer Vorschrift nachzukommen, wie wenn Experi- 
mentator gesagt hätte: ich gebe Ihnen zwei Kugeln von gleicher 
Farbe, legen Sie sie vor sich hin; legen Sie die so und so ge- 
färbte rechts von der anderen. 


Beim Auffassen der zweiten Prämisse »F links von P« trat 
das Bewußtsein auf, daß F hier sowieso links von P lokali- 
siert ist. Es war keine Lokalisation nötig. Die beiden P wurden 
nicht unmittelbar identifiziert, sondern gewissermaßen durch 
Einklammern identifiziert. 


Bei dem Lokalisieren des O der ersten Prämisse ist ein 
deutlichesNotwendigkeitsgefühl aufgetreten. Dieses 
gibt auf die Frage hin nicht Anlaß zu dem Be- 
wußtsein »ich muß so denken« oder »man muß so 
denken«, sondern zu dem Gedanken »so muß ich 
estun«. 


Ich will noch einige Angaben anderer Vpn. über diese Er- 
scheinung nebeneinanderstellen. Ähnlich wie Vp. E spricht Vp. 
K von einem »Tunmüssen«, einem Handelnmüssen im 
Gegensatz zum Denkenmüssen. So sagt sie in einem dieser 
Versuche bezüglich der Sicherheit beim Vorgang des Lokalisierens: 
»Es lag am nächsten nicht der Gedanke des So- 
denkenmüssens und nicht der Gedanke des So- 
seins, sondern der Gedanke des Sotunmüssens; 
die vorliegende Aktivität hindert, von einem Sosein zu 
sprechen — am fernsten liegt der Gedanke des Sodenken- 
müssens, näher noch der Gedanke des Soseins, am näch- 
sten der Gedanke von einer richtigen Handlung.« In einem 
anderen dieser Versuche sagte diese Vp. bezüglich der Not- 
wendigkeit des Tuns, daß dabei ganz das gleiche Ge- 
fühl vorhanden zu sein scheine, wie wenn sich 
ihrein Gedanke denknotwendig aufdrängt, nur 
seieshiereben nicht ein Gedanke, sondern ein 
Handeln. Die erlebte Notwendigkeit sei dieselbe. Wie beim 
Denken das Recht in Anspruch genommen werde, neue Ge- 
danken auf Grund eines denknotwendig sich aufdrängenden Ge- 
dankens zu entwickeln, so hier das Recht, aus der Handlung 
wieder Gedanken zu entwickeln. Das geschehe beim »Ablesen« 
des Schlußsatzes aus dem gewonnenen Resultat. Auch Vp. K 


12 G. Störring, 


sagt gelegentlich wie Vp. E, daß sie bei dieser Anweisung die 
Prämissen als eine Vorschrift auffasse. 

Ähnlich betrachtet Vp. R häufig die Prämissen als einen 
Befehl. Sie setzt die Notwendigkeit zu denken in 
Gegensatz zu der hier erlebten »Notwendigkeit, eine 
Handlung auszuführen«. Gelegentlich äußert sie be- 
züglich der Sicherheit, mit der diese Handlung ausgeführt wird: 
es ist die Sicherheit, die man hat, wenn man zwei Möbel an 
die richtige Stelle setzt. 

Vp. Sn. spricht von einem Gegensatz des Sodenkenmüssens 
zu dem »Soverschiebenmüssen«. Dabei unterscheidet sie zu- 
weilen die verschiedenen Phasen: Sie gibt an, im allerersten 
Moment der Befolgung der Anweisung liege der Gedanke nahe: 
»so muß ich denken«; wenn das Resultat da sei, liege der Ge- 
danke nahe: »so ist es«; zwischen beiden Momenten liege der 
Gedanke nahe: »so muß ich die Richtung nehmen, wenn ich 
lokalisieren will«e. Daß nach der Lokalisation der Gedanke nahe 
liegt, »so ist es«, geben auch die Vpn. E, K und R an. 

Eine meiner Vpn., Vp. Schl., spricht nie vom »Sotunmüssen«. 
Sie scheint auch nie ein »Verschieben« der Buchstaben vorzu- 
nehmen. Später komme ich hierauf noch zurück. 

Ich habe das »Sotunmüssen« auch auftreten 
sehen, wennich bei Schlüssen mit Subsumtions- 
beziehung die Anweisung gab, den Schluß durch 
Lokalisieren der Umfänge (Breviloquenz für 
Lokalisieren von Repräsentanten der Umfänge) 
zu ziehen. 

Auf Grund dieser Versuche muß ich von einem 
Operieren sprechen, welches den Gedanken der 
richtigen Handlung nahelegt, d.h. auf Frage 
nach der Richtigkeit hin auslöst. 

(Es wird sich später zeigen, daß das Bewußtsein »so ist 
es« sich auf die erlebte Denknotwendigkeit gründet.) 

Ich mache mir diese Erscheinung so verständlich, daß ich 
sage: Wiebeider Denknotwendigkeitein Gedanke 
vorliegt, welcher ineindeutiger Weise durch die 
Einstellung zum Denken und den zu beurteilen- 
den Tatbestand bestimmt ist, so liegt hier bei 
dem »Sotunmüssen« ein »Tun« vor, welches in 
eindeutiger Weise durch die Einstellung zum 
Denken bestimmt ist. 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 13 


Unter Berücksichtigung dieser Feststellung mache ich zu 
obiger Bestimmung über die Abhängigkeitsbeziehungen des Be- 
wußtseins der Gültigkeit einen Zusatz und sage: 


Das Bewußtsein der Gültigkeit tritt dann 
auf, wenn unsere Aufmerksamkeitsich aufeinen 
zu beurteilenden Tatbestand unter bestimmtem 
Gesichtspunkt richtet und wenn sich dabei ein 
gewisser Beziehungsgedanke uns aufdrängt — 
oder wenn sich dabei ein gewisses Tun uns auf- 
drängt und vollzogen wird —, während die Auf- 
merksamkeit diese Einstellung hat. 


$ 3. Verschiedene Formen des Bewußtseins der Gültigkeit. 


Wir können vier verschiedene Formen des Bewußtseins der 
Gültigkeit unterscheiden. 


1. Die einfachste Form des Bewußtseins der Gültigkeit ist 
gegeben im Bewußtsein der Denknotwendigkeit. 
Sie entsteht gewöhnlich auf Grund der erlebten Denknotwendig- 
keit, auf Grund des Denknotwendigkeitsgefühls. Die Vp. unter- 
scheiden scharf zwischen der erlebten Denknotwendigkeit, Denk- 
notwendigkeitsgefühl, und der Auffassung der erlebten 
Denknotwendigkeitalssolchen, dem Bewußtsein der 
Denknotwendigkeit. 


Ebenso unterscheiden die Vpn. scharf zwischen dem Er- 
leben der Notwendigkeit in Denkprozessen und 
dem assoziativ bedingten Zwangsgefühl! Aber 
hier ist eins zu beachten: die klare Erkennung eines 
bestimmten psychischen Phänomens und sein 
Unterscheiden von anderen psychischen Phäno- 
. menen kann stattfinden, ohne daß deshalb das 
Individuum in der Lage zu sein braucht, eine. 
psychologische Beschreibung des betreffenden 
psychischen Phänomens unter Angabe des Unter- 
schieds vonähnlichen Phänomenen zu geben. M. 
a. W.: In vielen Fällen wird von dem ein psychisches 
Phänomen erlebenden Individuum erkannt, daß 
es sich um das und das Phänomen handelt, und 
es wird deutlich von ähnlichen unterschieden, 
aber worin der Unterschied besteht, kann im ein- 


14 G. Störring, 


zelnen nicht angegeben werden oder ist wenig- 
stensschwerangebbar. 

Der Unterschied zwischen dem Notwendig- 
keitsgefühl in Denkprozessen und dem Gefühl 
des assoziativen Zwangs scheint darin zu be- 
stehen, daß das Notwendigkeitsgefühlin Denk- 
prozessen eben ein Notwendigkeitsgefühl ist, 
welches unter einer ganz bestimmten Einstel- 
lung, der Einstellung zum Denken, auftritt. 

Man könnte auch daran denken, daß das Not- 
wendigkeitsgefühl beim Denken sich weiter da- 
durch charakterisiere, daß es mit einem Identi- 
tätsgefühl verschmelze, welches von der Über- 
einstimmung des Gedachten Wit dem zu beur- 
tejlenden Tatbestand herstammt. Ein solches Zu- 
sammen von Denknotwendigkeitsgefühl und Identitätsgefühl ist 
nämlich in vielen Fällen mit Sicherheit nachzuweisen, aber 
ich muß behaupten, daß beide nicht immer zusammen gegeben 
sind. ge 

Ich unterscheide das Gleichheitsgefühl von einer Gleich- 
heitssetzung. Unter einer Gleichheitssetzung verstehe ich die 
Feststellung der Gleichheit von Größen in einem Urteil. Be- 
züglich des Gleichheitsgefühls geben die Vpn. an, daß ein 
Gleichheitsurteil nicht vorliege, sondern eine Art von Ge- 
fühl oder Empfindung, so beschaffen, daß sie bei leichtem An- 
stoß, etwa auf Frage hin, ein Gleichheitsurteil auslöst. Wir 
verstehen also unter Identitätsgefühl ein Et- 
was, welches so beschaffen ist, daßesauf Frage 
hir ein Gleichheitsurteil auslöst. 

In einzelnen Fällen scheint etwas vorzuliegen, was in der 
Mitte steht zwischen einem Gleichheitsgefühl und einer Gleich- 
heitssetzung, ein »Gleichheitsbewußtsein«, ich möchte das in- 
- der Mitte stehende Phänomen als reproduzierte Gleichheits- 
setzung ansprechen. 

Das Identitätsgefühl sehe ich z.B. da deutlich auftreten, 
wo in Schlüssen mit räumlichen Beziehungen der Schluß durch 
Zusammenfassen der Gedanken der Prämissen in einem an- 
schaulichen Gesamttatbestande vermittelt ist, ohne daß beim 
Zustandekommen des Schlusses der Gedanke der Gleichheit oder 
des Gegensatzes der gedachten Beziehungen eine Rolle spielt, 
und zwar tritt das Identitätsgefühl dort auf bei der Zusammen- 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 15 


fassung der Prämissen zu einem Gesamttatbestand, während bei 
der Auffassung der Prämissen und bei der analytischen Ent- 
wicklung des Schlußsatzes aus dem Gesamttatbestande, ‘dem 
sog. »Ablesen« des Schlußsatzes aus dem anschaulichen Gesamt- 
tatbestande oder Identitätsgefühl, mir nicht nachzuweisen ge- 
wesen ist. 

Man könnte nun geneigt sein, zu sagen: in manchen Fällen 
findet man deutlich neben dem Notwendigkeitsgefühl ein Identi- 
tätsgefühl; wenn das nicht überall deutlich ist, so beruht das 
vielleicht darauf, daß es nicht neben dem Notwendigkeitsgefühl 
bemerkt wird, und dies könnte dadurch bedingt sein, daß 
das Identitätsgefühl mit dem Notwendigkeitsgefühl eine Ver- 
schmelzung eingeht. 

Gegen diese Annahme muß ich nun aber folgendes geltend 
machen: in vielen Fällen sagen die Vpn., wo sie zum 
Operieren ansetzen, aber nicht sogleich einen 
Schrittzum Zieltun,esseidie Überzeugung vor- 
handen, daß das, wasetwa kommt, sicher richtig 
ist! Hier ist noch nichts gegeben, wodurch das Identitäts- 
gefühl hätte ausgelöst werden können! 

Soviel von der Charakterisierung des Denknotwendigkeits- 
gefühls und seiner Unterscheidung von dem Gefühl des asso- 
ziativ bedingten Zwangs. Das Denknotwendigkeitsgefühl unter- 
schieden wir sodann von dem Bewußtsein der Denknotwendig- 
keit, das wir als die einfachste Form des Bewußtseins der 
Gültigkeit auffassen und von dem wir feststellten, daß es sich 
aus dem Denknotwendigkeitsgefühl entwickeln kann. F 

Das Bewußtsein der Denknotwendigkeit braucht aber nicht 
so bedingt zu sein: In einzelnen Fällen gründet es sich auf die 
»Empfindung der Erleichterung« beim Vollzug des 
Schlußprozesses, auf das dabei auftretende »Beruhigungs- 
gefühl« oder auf das »Fehlen von Unruhe« in Schluß- 
prozessen. So besonders bei schnell sich abwickelnden Schluß- 
prozessen. Man muß beachten, daß diese Erscheinungen das 
Denknotwendigkeitsgefühl vertreten können, wenn sie bei Ein- 
stellung zum Denken auftreten! Tritt unter Einstellung 
zum Denken, bei von der Einstellung abhängigen 
Prozessen ein Gefühl der Beruhigung, eine Emp- 
findung der Erleichterung auf, so werden die 
Erscheinungen von den Vpn. als Zeichen dafür 
aufgefaßt, daß der Einstellung zum Denken ent- 


16 G. Störring, 


sprochen ist! Ähnlich steht es bei dem »Fehlen der Un- 
ruhe«, der »Abwesenheit von Störungen«. Die Vpn. sagen dann, 
daß das Vertrauen in die Prozesse sich darauf gründet, daß sie 
als abhängig von der Einstellung zum Denken aufgefaßt werden. 
Das Fehlen von Störungen wird dann gedeutet als ein Fehlen 
schwacher Stellen in den Entwicklungen. Damit hängt es zu- 
sammen, daß die Vpn., wie wir hörten, zuweilen schon da, wo 
sie zum Operieren ansetzen, aber nicht sogleich ein Schritt 
zum Ziel erfolgt, die Überzeugung haben, »daß das, was komnt, 
richtig ist«! 

2. Unter gewissen Bedingungen sehe ich bei Schlußprozessen 
an die Stelle des Bewußtseins der Denknotwendigkeit das Be- 
wußtsein der Tatsächlichkeit treten. Wir wollen 
hier von einer objektiven Modifikation des Bewußt- 
seins der Denknotwendigkeit sprechen. Das Bewußtsein der 
Tatsächlichkeit entwickelt sich in vielen Fällen aus dem Be- 
wußtsein der Denknotwendigkeit. Häufig sagen die Vpn., daß 
in den einzelnen, zum Schluß führenden Schritten im Denken 
und auch bei Entwicklung des Schlußsatzes das Bewußtsein 
der Denknotwendigkeit näher gelegen habe als das Bewußt- 
sein der Tatsächlichkeit, daß aber bei dem Aussprechen eine 
Modifikation vollzogen sei. Diese Modifikation ist 
offenbar durch das Interesse für die objektive 
Welt bedingt: wir wissen, daß es nicht so sehr darauf an- 
kommt, anderen zu sagen, was wir für denknotwendig halten, 
als was richtig ist. 

Das Bewußtsein der Tatsächlichkeit entsteht aber nicht nur 
aus dem Bewußtsein der Denknotwendigkeit, sondern es kann 
sich auch primär entwickeln, und zwar da, wo in Denk- 
bestimmungen in Schlußprozessen ein Identi- 
tätsgefühl oder Identitätsbewußtsein prävaliert 
übereinem Denknotwendigkeitsgefühl. 

3. Von dem Bewußtsein der Denknotwendigkeit finde ich 
in einigen Fällen eine negative Modifikation in dem 
Gedanken: »ein anderes Beziehungsetzen ist nicht möglich« 
u. ä& Diese negative Modifikation scheint sich aus erlebtem 
Deunknotwendigkeitsgefühl zu entwickeln, wenn die Frage auf- 
tritt, ob die Sache stimme oder nicht, unter Betonung der 
Negation. So kann dann eine negative Feststellung an Hand 
des Denknotwendigkeitsgefühls entstehen. 

4. Eine letzte Modifikation des Bewußtseins der Denknot- 


Allgemeine Bestimmungen tiber Denkprozesse usw. 17 


wendigkeit ist das Bewußtsein der Allgemeingültig- 
keit. Auf das Bewußtsein der Allgemeingültigkeit habe 
ich bis jetzt experimentell wenig geachtet. Ich habe nur 
das eine bei experimenteller Untersuchung der Schlußprozesse 
konstatiert, daß in manchen Fällen das Bewußtsein der All- 
gemeingültigkeit durch kausale Betrachtung des Denkenden 
bedingt ist. Vp. sagt sich dann, daß ein Beziehungsgedanke, 
der sich mit Denknotwendigkeit aufdrängt, durch die vorhandene 
Einstellung zum Denken und die gegebene Urteilsmaterie kausal 
bedingt sei und daß bei Anderen unter denselben Bedingungen 
wieder derselbe Gedanke auftreten müsse. 

Man kann aber das Denken nicht bloß kausal betrachten, 
sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Beziehung von 
Grund zu Folge. Eine Denkbestimmung kann sich 
auch als allgemeingültig darstellen, weil sie als 
aus gewissen Voraussetzungen folgend aufge- 
faßt wird. 

Damit sind zwei total differente Formen des Bewußtseins 
der Allgemeingültigkeit gegeben. 

Bezüglich der ersten Entwicklung des Bewußtseins der 
Allgemeingültigkeit nehme ich folgendes an: Das denknot- 
wendig Gedachte stellt sich dem Individuum zunächst als ihm 
aufgezwungen dar. Aus der Auffassung des so Gedachten als 
ihm aufgezwungen muß sich dem Individuum auf Grund 
von einer auf Ähnlichkeitsassoziation gegrün- 
deten Analogiebetrachtung die Auffassung ent- 
wickeln, daß das so Gedachte unter den ge- 
gebenen Verhältnissen sich auch Anderen auf- 
zwinge. 

Wir hätten dann also zu unterscheiden ein durch Ähn- 
lichkeitsassoziation, ein durch kausale Betrach- 
tung des Denkgeschehens und ein durch die Betrachtung von 
Denkbestimmungen unter dem Gesichtspunkt der Beziehung 
von Grund zu Folge bedingtes Bewußtsein der Allgemein- 
gültigkeit. 


B. Die kausale Behandlung einfacher, experimentell 
gewonnener Schlußprozesse. 

Die Unterscheidung der Denkprozesse von denjenigen Vor- 
stellungs- und Gedankenverbindungen, bei denen Vorstellungen 
und Beziehungsgedanken, die früher im Bewußtsein mitein- 

Archiv für Psychologie. LII. 2 


18 G. Störring, 


ander verknüpft waren, sich reproduktiv wieder aneinander 
angliedern, haben wir durch experimentell-psychologische Unter- 
suchungen vollzogen. Es zeigte sich mir, daß die Denkprozesse 
durch ein Bewußtsein der Gültigkeit oder ein Äquivalent des- 
selben charakterisiert sind, und es ergab sich mir sodann auf 
Grund pathologischer Tatbestände eine für die Psychologie 
der Denkprozesse grundlegende Erkenntnis der Abhängigkeits- 
beziehungen dieses Bewußtseins; es stellte sich dabei heraus, 
wie es möglich ist, trotz des Bestimmtseins unsers nicht unter 
Einstellung zum Denken stehenden Vorstellungs- und Gedanken- 
verlaufs durch die von Moment zu Moment variable Kon- 
stellation des Bewußtseins, Bestimmungen zu machen, die 
Gültigkeit haben. 

Um einen näheren Einblick in die Einzel-Gestaltung der 
Denkprozesse zu gewinnen, schlägt man am besten ein ex- 
perimentell-psychologisches Verfahren ein. 

Man untersucht die Denkprozesse gegenwärtig mit zwei 
verschiedenen Methoden. Die Külpesche Schule hat die 
Denkprozesse näher zu bestimmen gesucht, indem sie den Vpn. 
Arfgaben stellte, welche zu dem dargebotenen Wort für einen 
Begriff die Angabe des Wortes für den übergeordneten Begriff, 
für den nebengeordneten Begriff, für den untergeordneten Be- 
griff usw. forderten. Ich selbst habe eine Untersuchung der 
Denkprozesse vollzogen, indem ich den Vpn. Prämissen mit 
verschiedenen Beziehungsgedanken bei der Aufforderung dar- 
bot, aus den Prämissen einen gültigen Schluß zu ziehen. Bei 
dieser Untersuchung habe ich nicht mit bestimmten Begriffen 
gearbeitet, sondern mit Buchstabengrößen, weil so die Verhält- 
nisse sich einfacher gestalten. Die denkende Verarbeitung der 
schematisch durch die Buchstaben gegebenen Größen ist besser 
erkennbar, als wenn man mit bestimmten Größen arbeitet, wobei 
die Auffassung dieser bestimmten Begriffe einen großen Teil 
der disponiblen psychophysischen Energie in Anspruch nimmt 
und wobei außerdem die bei der denkenden Verarbeitung ge- 
setzten Beziehungen sich nicht so scharf abheben von dem zu 
beurteilenden Material als bei den Buchstabengrößen. Erst nach 
der Verarbeitung des ganzen Gebiets mit Buchstabengrößen 
halte ich es für angebracht, mit bestimmten Begriffen zu 
arbeiten. 

Die Untersuchung des Denkens in Schlußprozessen dürfte 
vor der Untersuchung nach der Methode der Külpeschen 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 19 


Schule jedenfalls den Vorteil bieten, daß man dabei einen 
klareren Einblick in die einzelnen Schritte gewinnt, die man 
bei Denkoperationen vollzieht: bei Verwendung von Buchstaben- 
größen kann ja mit Variation der Buchstabengrößen dieselbe 
Art des Prozesses beliebig häufig wiederholt werden, wobei 
das eine Mal die eine Partie, das andere Mal die andere Partie 
der Operationen und das eine Mal die eine Seite, das andere 
Mal die andere Seite eines komplexen psychischen Tatbestandes 
deutlicher hervortritt. . 

Bisher habe ich mich darauf beschränkt, eine beschreibende 
Charakterisierung des Vorgehens der Vp. zu vollziehen unter 
Berücksichtigung der Interessen der Logik!). Es ergaben sich 
dabei eine Reihe von Schlußweisen, die man bisher nicht kannte. 
Ich habe in letzter Zeit die beschreibende Charakteristik der 
Schlußprozesse vervollständigen lassen?) und gehe nun dazu 
über, die Schlußprozesse kausal zu behandeln. Den Logiker 
interessiert nur die Untersuchung gültiger Schlüsse unter dem 
Gesichtspunkt der Beziehung von Grund zu Folge. Ihn inter- 
essiert nicht, daß unsere Denkbestimmungen in Schlußprozessen 
auch in kausalen Beziehungen zueinander stehen. Diese Be- 
ziehungen suche ich psychologisch an der Hand der beschreiben- 
den Charakterisierung des Vorgehens der Vp. klarzulegen. 


€ 1. Die kausale Behandlung von Schlüssen auf räumliche 
Beziehungen ohne komplexeres Beziehungsetzen. 


In der herkömmlichen Logik sprach man nur von Schlüssen 
mit Gattungsbeziehungen. Das ist eine große Einseitigkeit. 
Soviel Beziehungsgedanken es gibt, soviel Arten von Schlüssen 
haben wir zu unterscheiden. Es gibt also Schlüsse mit räum- 
lichen Beziehungen, zeitlichen Beziehungen, den Beziehungen 
Teil und Ganzes, den Beziehungen größer—kleiner, Inhärenz- 
beziehungen, Kausalbeziehungen usw. 


Die der Vp. dargebotenen Prämissen lauten also: 
a rechts von b 
c rechts von a 
Also: . 


1) G. Störring, Exp. Untersuchungen über einfache Schlußprozesse, 
Archiv für die ges. Psychol. 11. 

2) Wilh. Störring, Exp. Untersuchungen über einfache und komplexe 
Schlußprozesse, Archiv 51, 1. u. 2. Heft. 


9% 


20 


G. Störring, 


Vorgang V später als Vorgang S 
Vorgang F rn als — V 
Also: 


a größer als b 
c größer als a 
Also:. 


K Teil von S 
P Ganzes zu S 
Also: . 


L gehört zur Gattung D 
T gehört zur — L 
Also: E 


Kein S gehört zur Gattung L 
Einige V gehören zur Gattung L 
Also: . 2.2.8. vi 


Wenn A ist, so ist B 
Nun ist.B nicht 
Also: 


Wenn C ist, so ist A 
Wenn A ist, so ist C 
Also: 


A Grund von B 
C Grund von A 
Also: 


A Grund von B 
BCD Grund von E 
Also: . 


R Mitursache von B 
BCD Ursache von C 
Also: 


A ist entweder P oder Q oder T 
A ist nicht Q und T 
Also: . KS 





Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 21 


a= b 
b=c 
Also: . . 
und ähnliche. 


Es wird sich zeigen, daß man die früher einseitig betonten 
Schlüsse mit Gattungsbeziehungen besser versteht, wenn man 
vorher die Schlüsse mit räumlichen Beziehungen, zeitlichen Be- 
ziehungen, den Beziehungen größer—kleiner untersucht hat. 

Ich beginne mit Untersuchung der Schlüsse mit räumlichen 
Beziehungen, bei denen der Schluß ohne komplexeres Be- 
ziehungsetzen, auf die einfachste Weise, zustande kommt. Ich 
lasse dann zunächst die Behandlung von solchen Schlüssen mit 
den Beziehungen größer—kleiner folgen, die psychologisch sich 
ganz ähnlich gestalten wie die Schlüsse mit zeitlichen Be- 
ziehungen, mit den Beziehungen Teil—Ganzes, den Beziehungen 
Grund—Folge, den Beziehungen Mitursache— Wirkung und wie 
ein Teil der Schlüsse mit Gattungsbeziehungen. 

Bei Schlüssen mit diesen Beziehungen ist die einfachste 
Operationsweise die, bei welcher der Schluß zustande gebracht 
wird, ohne daß die Beziehungen oder Prämissen wieder in 
Beziehung gesetzt werden, wo also der Schluß sich nicht 
gründet auf Feststellung der Gleichheit oder des Gegensatzes 
der in den Prämissen gedachten Beziehungen, sondern wo die 
Beziehungen der Prämissen in einem anschaulichen Ge- 
samttatbestand vereinigt werden, aus dem dann analytisch der 
Schlußsatz entwickelt wird, indem diejenigen Buchstabengrößen, 
die in den Prämissen noch nicht in Beziehung zueinander ge- 
setzt waren, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Vpn. 
nennen diese analytische Entwicklung des Schlußsatzes aus 
einem solchen Gesamttatbestand unter dem angegebenen Ge- 
sichtspunkt ein »Ablesen« des Schlußsatzes aus dem Gesamt- 
tatbestand. 

Nehmen wir nun an, daß die Prämissen exponiert werden: 

a rechts von b 

c rechts von a 

Also: ... 
so läßt sich die Behandlung dieser Prämissen von seiten 
der Vp., wenn man die gesamten Protokolle zusammennimmt, 
in der nachfolgend angegebenen Weise charakterisieren. Zu be- 
merken ist dabei, daß in den einzelnen Referaten das eine 


292 G. Störring, 


Mal die eine Seite, das andere Mal die andere Seite deutlicher 
heraustrat. 

In der Vorperiode ist der: Wille vorhanden, aus den darzu- 
bietenden Prämissen eine neue Bestimmung zu entwickeln. 
Dieser Wille tritt im Laufe der Operationen in den Hinter- 
grund des Bewußtseins zurück, so, wo die Vpn. eine klare Auf- 
fassung der Prämissen zustande bringen, und macht sich später 
wieder mehr im Bewußtsein geltend. Wir wollen den so 
sich längere Zeit im Bewußtsein ——— 
Willen»Einstellung« nennen. 

Wir haben es also zunächst zu tun mit ir Einstellung 
E, = Wille,ausden dargebotenen Prämissen eine 

neue Bestimmungzuentwickeln. 

Nach Exposition der Prämissen entwickelt sich auf Grund 
dieser Einstellung und eines Überblicks über die Prämissen in 
vielen Fällen der Wille, die Prämissen möglichst klar 
aufzufassen, wobei sich ein Mittel—Zweck-Gedanke ent- 
wickeln kann, aber sich nicht zu entwickeln braucht, jeden- 
falls sich meist nicht entwickelt. Es entsteht also so die Ein- 
stellung 
E,a= Wille, eine möglichst klare Auffassung 

der Prämissen zustande zu bringen. 

Diese Einstellung bedingt Lesen der 1. Prämisse »a größer 
als b« und Auffassung des a als in der Richtung nach rechts 
von b aus (dem b des exponierten Zettels aus) liegend. Eine 
Auffassung der Stelle des b als einer nur repräsentativen tritt 
nur in seltenen Fällen deutlich auf. Durch die Einstellung E,a 
ist sodann bedingt Lesen der 2. Prämisse »c rechts von a« und 
eine ähnliche Auffassung: das c wird als in der Richtung nach 
rechts liegend gedacht. Dabei erfolgt Identifikation der beiden 
a; in Fällen schnelleren Operierens in den folgenden Operationen 
nur Behandlung dieser Mittelbegriffsgrößen als identisch. 
Wo die Identifikation auftritt, kommt sie zustande ohne eine 
speziell auf diese Identifikation gerichtete Einstellung! Sie 
hängt dann offenbar, da sie auch auftritt, wo der Wille E,a 
nicht als Mittel zum Zweck der Realisierung der Einstellung 
E, aufgefaßt wird, von der Einstellung E, ab. 

Die Akhängigkeit dieses Identitätsurteils von einer auf die 
Verarbeitung der Prämissen im Sinne der Gewinnung einer 
neuen Bestimmung gerichteten Einstellung habe ich durch Ver- 
suche nachgewiesen, in welchen den Vpn. nicht die Anweisung 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 23 


gegeben war, einen Schluß zu ziehen, sondern die Anweisung, 
eine Auffassung der Prämissen zustande zu bringen — im Ver- 
gleich mit Versuchen, wo die Anweisung zum Schließen gegeben 
wurde. Bei ersterer Anweisung werden die Prämissen meist 
gar nicht zueinander in Beziehung gesetzt, ohne daß während 
des Ablaufs der betreffenden Prozesse an die Anweisung 
wieder gedacht wird, so daß die Vp. sich häufig nach Ablauf 
der Prozesse darüber wundert, daß sie keine Beziehung zwischen 
den Prämissen gesetzt hat. Bei der letzteren Anweisung werden 
die Prämissen stets zueinander in Beziehung gesetzt, wenn 
nicht besondere Störungen auftreten, obgleich nur in wenigen 
Fällen vor Auftreten solcher Beziehungen (Identitätsurteil usw.) 
die Absicht zu schließen wieder hervortritt. 

Ich gebe ein Beispiel solchen Verhaltens: 

Es wurde Vp. E die Anweisung gegeben, die Prämissen 
klar aufzufassen, aber nicht zu schließen. Exponiert wurde: 
U ist links von L 
F ist links von U. 

Bei Auffassung der ersten Prämisse wird die Lagebeziehung 
der Buchstaben U und L auf dem exponierten Zettel als Re- 
präsentant des Beziehungsgedankens behandelt. In ähnlicher 
Weise wird bei Auffassung der zweiten Prämisse verfahren. 
Beidc Prämissen wurden scharf für sich aufgefaßt, eine Identi- 
fikation der beiden U fand nicht statt, sie wurden auch nicht 


als eine Größe »behandelt«; es trat keine Synthese der Be- ' 


ziehungsgedanken auf. Es trat auch keine Neigung zu schließen 
auf, etwa die Neigung, die Größen L und F zueinander in 
Beziehung zu setzen. Während der Auffassung der Prämissen 
war der Gedanke an die Anweisung nicht wieder aufgetreten. 
An den Vollzug der Auffassung der zweiten Prämisse schloß 
sich ein Gefühl der Befriedigung an, und zwar unmittelbar, 
nicht auf Grund des Gedankens: »jetzt habe ich geleistet, was 
gefordet war«. — »Es trieb jedenfalls die Vp. nichts weier.« 
Vp. spricht beim Referat ihre Verwunderung darüber aus, daß 
sie keine weitere Verarbeitung der Prämissen vorgenommen hat, 
obgleich sie während des Operierens an die Anweisung nicht ge- 
dacht hat. 

Man sieht also hier — und ähnliches findet sich auch bei 
den anderen Vpn. —: Die Identifikation, die Be- 
handlung deridentischen Größen als eine Größe 
fehlt unter dieser Einstellung im allgemeinen, 


24 G. Störring, 


obgleich beiden ganzen Operationen an die An- 
weisung nicht mehr gedacht wurde, während 
die Identifikation oder wenigstens die »Be- 
handlung«deridentischen Größenalseine Größe 
beider Anweisung, zu schließen, auftritt, auch 
wenn während dieser Prozessean die Anweisung 
selbst nicht mehr gedacht wird. Wir müssen des- 
halb die Identifikation, dieauch ohne merkbare 
Identifikationauftretende Behandlung deriden- 
tischen Größen als eine, von der auf die Anwei- 
sung gesetzten Einstellung abhängig machen. 

Die Identifikation hängt also von der Nachwirkung der 
Einstellung E, ab, ohne daß diese wieder ins klare Bewußtsein 
tritt. Ich nehme deshalb an, daß diese Einstel- 
lung vom dunklen Bewußtseinaus diese Wirkung 
zustande bringt. Die Einstellung E, wirkt aber doch 
nicht gleichzeitig mit der Einstellung E,.a: meist tritt 
die Angabe auf, daß das lIdentitätsurteil zwischen der 
Auffassung der Prämissen stattfindet: Hier tritt dann also 
offenbar für einen Moment die Einstellung E,, in ihrer Wirk- 
samkeit zurück; eben dann, wenn sie schon partiell realisiert 
ist; in andern, selteneren Fällen, schließt sich die Identifikation 
an die Auffassung der beiden Prämissen an. — 

Wir erwähnten oben das Auftreten des Identitätsurteils am 
Schlusse der Charakterisierung der Wirkung der Einstellung 
Ea, welche auf möglichst klare Auffassung der Prämissen 
abzielt. Die durch diese Einstellung verursachte Auffassung 
der Prämissen wollen wir Feststellung Fial) bezw. 
Fiag nennen. Das Identitätsurteil wollen wir als Fon be- 
zeichnen: Durch die Zahl 1 des Index wollen wir anzeigen, 
daß dieses Urteil von der Einstellung E, abhängig ist, durch 
die O des Index, daß für dieses Urteil keine spezielle, auf dieses 
Urteil zugeschnittene Einstellung, also die Einstellung zum 
Vergleich der Mittelbegriffsgrößen, vorlag. 

Nach völliger Realisierung der Einstellung E,, macht sich 
die Einstellung E, wieder stärker geltend. 

Dadurch ist bedingt eine nochmalige Konzentration 
der Aufmerksamkeit auf die aufgefaßten Prämissen. In- 
folgedessen erfolgt jetzt unter gleichzeitiger Nachwirkung von 
Fiai) und Fiag) eine schärfere Lokalisation des a rechts von 
b (natürlich nur vorstellungsmäßig) und eine Lokalisation des 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 25 


c von diesem a nach rechts, unter Nachwirkung der voll- 
zogcnen Identifikation. | 

Ich sagte, daß nach völliger Realisierung der Einstellung 
E,. sich die Einstellung E, wieder stärker geltend gemacht 
hake. Daß aber die Einstellung E, nach völliger Realisierung 
der Einstellung E, sich wieder stärker geltend macht, fasse 
ich dadurch bedingt auf, daß die Realisierung der Einstellung 
Eia, die sich in Fia) und Fiss, vollzieht, einen relativ großen 
Teil der vorhandenen psychophysischen Energie in Anspruch 
nahm, so daß also für die Einstellung E, bei dieser Realisierung 
das vorlag, was ich als derivative Hemmung!) bezeichne: 
Nach Realisierung der Einstellung E}, fällt diese Hemmung für 
die Einstellung E, weg. Ich will diese Gesetzmäßigkeit das 
»Gesetz von der Wirkung derivativer Hemmung 
auf den Wechsel der Einstellungen zum Schließen« 
nennen. 

So sind nun die Beziehungsgedanken der Prämissen in 
einem Gesamttatbestand zur Darstellung gebracht; ich will 
denselben symbolisch durch (Fiaa) + Fiag ) bezeichnen. 

Jetzt wirkt die Einstellung E, und der Gesamttatbestand 
reproduzierend auf den Gedanken einer Verfahrungsweise (auf 
Grund früherer Erfahrungen beim Vollzug solcher Schlüsse), 
einer Verfahrungsweise, welche zur Auffindung der in den 
Prämissen noch nicht aufeinander bezogenen Größen führt: 
unter Elimination der Mittelbegriffsgrößen faßt Vp. b und 
c als die noch zu beziehenden Größen auf (Fo). 

Vp. sucht jetzt endgültig unter Wirkung der Einstellung 
E,, des Gesamttatbestandes und der Feststellung (Fo) die Be- 
ziehung von b zu c festzustellen an der Hand des Gesamttat- 
bestandes; es entwickelt sich also die Einstellung 
E, = Wille, die Beziehung zwischen b und c zu 

bestimmen. 
Diese Einstellung wirkt mit dem Gesamttatbestand (Fiaa) 
+ Fiap) zusammen in der Entwicklung der Feststellung 
F, »c rechts von b«. Die Entwicklung dieses Beziehungsge- 
dankens ist von zwei Seiten eingeengt: durch die 
Einstellung E, und durch den Gesamttatbestand. Hier liegt 
zudem im Gegensatz zur Entwicklung des früheren Identitäts- 
urteils eine speziell auf die Entwicklung dieses Beziehungs- 


1) Störring, Psychologie S. 138. 


26 G. Störring, 


gedankens gerichtete Einstellung vor. Ich spreche hier von 
einer maximal einengenden Einstellung zur Ent- 
wicklung eines Beziehungsgedankens an der Hand des zu be- 
urteilenden Tatbestandes. 

Bei der früheren Entwicklung des Identitätsurteils (Fo) 
lag auch einc doppelte Einengung der Entwicklung eines Be- 
ziehungsgedankens vor: durch die Einstellung E, und den zu 
- beurteilenden Tatbestand. Aber die Einstellung E, war, wie 
sich zeigte, nicht auf die Entwicklung gerade dieses Beziehungs- 
gedankens zugeschnitten, d. h. nicht maximal einengend. 
Aber die allgemeine Einstellung E, genügte doch zur Ent- 
wicklung eines als gültig aufgefaßten Urteils, indem die 
allgemeine Einstellung schon Hemmungen setzte für die 
Mitwirkung variabler Faktoren bei Entwicklung des Beziehungs- 
gedankens an der Hand des gegebenen Tatbestandes! 


Ergebnisse. 


I. Es zeigt sich bei dieser kausalen Analyse, daß der Schluß- 
prozeß bei den einfachen Schlüssen mit räumlichen Beziehungen 
nach der ersten Operationsweise schon eine mehrfache 
Änderung der Einstellung aufweist. 

II. Es ergibt sich hier — und deutlicher noch bei etwas 
komplexeren Schlußprozessen, wie sich zeigen wird —, daß 
die Operationen in Schlußprozessen in zwei 
Gruppen zerfallen: 

l. in eine Gruppe von urteilsmäßigen Fest- 
stellungen, welche von den verschiedenen Einstellungen 
zum Denken und zugleich von der jedesmal gegebenen 
Denkmaterie abhängen; 

2.in eine Gruppe von Operationen, welche 
auf die Änderung der Einstellungen herbei- 
führend wirkt. Hierbei spielen einfache Repro- 
duktionen von Vorstellungen und von Beziehungsgedanken 
eine Hauptrolle. Näheres wird sich uns später ergeben. 

IH. Die einzelnen urteilsmäßigen Feststel- 
lungen stehen in verschiedenen Beziehungen zu 
den entsprechenden Einstellungen. Entweder 
enthalten die betreffenden Einstellungen den 
Gesichtspunkt der Betrachtung für die Entwick- 
lung des Urteils, wie wenn die Einstellung hier 
sich am Schluß darauf richtet, die Größen c 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 27 


und b an Hand des Gesamttatbestandes zuein- 
ander in Beziehung zu setzen. 


Oder die Einstellung bestimmt den Gesichts- 
punkt, unter dem das Urteil gefällt wird, nicht 
völlig, so daß eine allgemeinere Einstellung vor- 
liegt und diese auch schon eine Hemmung für 
Mitwirkung variabler Faktoren bedingt. Das 
ist z. B. der Fall bei dem Identitätsurteil der 
Mittelbegriffsgrößen, für das keine Einstellung 
auf Vergleichung vorhanden war. Wir werden 
später noch auf viele ähnliche Fälle stoßen. Ich unter- 
scheide deshalb zwischen 


urteilsmäßigen Feststellungen mit maximal 
einengenden Einstellungen und 

urteilsmäßigen Feststellungen mit nicht 
maximal einengenden Einstellungen. 


IV. Die Einengung der urteilsmäßigen Fest- 
stellungen vollzieht sich von zwei Seiten her: 


1. durch eine maximal oder nicht maximal 
einengende Einstellung; 


2. durch den zu beurteilenden jeweiligen Tat- 
bestand. 


V. Durch den Prozeß der Realisierung einer später auf- 
tretenden Einstellung wird eine frühere Einstellung, welche 
noch nicht zur Realisierung oder nicht zur vollen Realisierung 
gekommen ist, bei der wir also von einem noch unbefrie- 
digten Willen zu einem Denken sprechen können, in 
den Hintergrund des Bewußtseins gedrängt, weil dieser Prozeß 
der Realisierung der späteren Einstellung die in dem betreffen- 
den Moment disponible psychophysische Energie stark in An- 
spruch nimmt (derivative Hemmung). Ist aber der Prozeß 
der Realisierung der in Rede stehenden späteren Einstellung 
vollzogen, so macht sich auch ohne Reproduktion die frühere 
Einstellung wieder stärker geltend auf Grund der durch die 
Realisierung der Einstellung vollzogenen Aufhebung der ge- 
setzten Hemmung. Ich will hier sprechen von einem 


»Gesetz von der Wirkung derivativer Hem- 


mung auf den Wechsel der Einstellungen zum 
Schließen«. 


28 G. Störring, 


82. Schlüsse mit den Beziehungen größer —kleiner mit zeit- 
lichen Beziehungen, Gattungsbeziehungen usw. in beiden 
” Prämissen nach der ersten Operationsweise. 


Prämissen mit den Beziehungen größer—kleiner werden nach 
denselben ÖOperationsweisen beim Schließen verarbeitet wie 
Prämissen mit räumlichen Beziehungen, zeitlichen Beziehungen, 
den Beziehungen Teil und Ganzes, den Beziehungen Grund und 
Folge und den Beziehungen Mitursache— Wirkung. 


Das Schließen kommt bei dieser Art von Prämissen zu- 
stande auf vier verschiedene Weisen. Ich bezeichne sie als 
Op. I, Op. II, Op. II und Op.IV:). Arbeitet man mit mehr 
als zwei Prämissen, so kommt noch eine 5. Operationsweise 
hinzu, wie kürzlich Wilh. Störring gefunden hat. 


Es wird sich zeigen, daß nach Op. I und Op. IV auch bei 
Schlüssen mit Gattungsbeziehungen in beiden Prämissen ge- 
schlossen wird. 

Beiden Schlüssen miträumlichen Beziehungen 
stellt sich die erste Operationsweise einfacher dar 
als bei Schlüssen mit den Beziehungen größer — 
kleiner usw. Wie das zusammenhängt, wird sogleich klar 
werden. 


Gegeben seien die Prämissen 
a größer als b 
c größer als a 
Also: 


Ich gebe zunächst eine kurze allgemeine Beschreibung der 
Protokolle der Vp. beim Schließen auf Grund dieser Prämissen 
nach Op. I und trete erst nach dieser nn! in die 
kausale Behandlung ein. 


In der Vorperiode haben die Vpn. im allgemeinen die Ab- 
sicht, die Anweisung des Versuchsleiters zu befolgen, d. h. aus 
den darzubietenden Prämissen einen Schluß zu ziehen, d. h. eine 
neue Bestimmung zu machen. 

Nach Exposition der Prämissen konzentriert sich Vp. zu- 
nächst auf die Prämissen, indem sie eine klare Auffassung 
derselben zustande zu bringen sucht. Ein Mittel—Zweck-Urteil 


1) G. Störring, Exp. Untersuchungen einfacher Schlüsse, Archiv für 
Psychol. Bd. XI. 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 29 


tritt dabei meist nicht auf. Häufig stellt sich nun eine Re- 
präsentation des Beziehungsgedankens »größer« in grob umrissenen 
Figuren verschiedener Größe oder in Linien verschiedener Größe 
dar, wobei die eine deutlich größer als die andere ist. Vp. weiß 
bei Betrachtung dieser Repräsentation angeblich, was mit dem 
»größer« gemeint ist, ohne eine scharfe begriffliche Be- 
stimmung zu vollziehen. Nur in einzelnen Fällen wird die 
Auffassung durch begriffliche Angabe der Bedeutung voll- 
zogen, indem etwa gesagt wird bei der Auffassung von 
»a größer als b«: »a wird aufgefaßt als die gleiche Größe wie b 
enthaltend und noch mehr« oder »beim Übergang von b auf a 
kommt an Größe etwas hinzu«. Mit Auffassung der Prä- 
missen vollzieht sich meist auch eine Identifikation der Mittel- 
begriffsgrößen. | 


Dann nimmt sich Vp. etwa vor, eine räumliche Repräsen- 
tation der Beziehungsgedanken der Prämissen zustande zu 
bringen, um so zum Schluß zu kommen. Daraufhin wählt nun 
Vp. eine bestimmte Art der Repräsentation aus, etwa die Re- 
präsentation der Größer-Beziehung durch die Links-Beziehung. 
Es erfolgt dann eine Einsetzung des »links« für das »größer« 
bei den Prämissen und eine Lokalisierung der bezogenen Größen, 
so daß auf Grund der ersten Prämisse »a größer als b« a links 
von b lokalisiert wird und auf Grund der zweiten Prämisse 
»c größer als a« c links von a, wobei die beiden a gleichzeitig 
als identisch behandelt werden. Nachdem diese repräsentative 
Lokalisierung der in den Prämissen gegebenen Beziehungen voll- 
zogen ist, sucht Vp. diejenigen Größen in dem Gesamttatbestand 
auf, welche in den Prämissen noch nicht zueinander in Be- 
ziehung gesetzt sind, um sie in Beziehung zu setzen und so 
den Schluß zu gewinnen. Als diese Größen erweisen sich c 
und b (auf Grund der Nachwirkung früherer Schlüsse). Unter 
Wiederaufhebung der Repräsentation, Zurückübersetzen der 
Links-Beziehung in die Größer-Beziehung, ergibt sich aus dem 
Gesamttatbestand gewissermaßen durch »Ablesen« »c größer 
als b«. 

Wir treten nun in die kausale Behandlung dieser Schluß- 
weise ein. 

In der Vorperiode hat Vp. also die Absicht, aus den dar- 


gebotenen Prämissen eine neue Bestimmung zu gewinnen. Wir 
können also sprechen von einer Einstellung 


30 G. Störring, 


E, = Wille, aus den dargebotenen Pr. einen Schluß 
zu ziehen. 

Diese Einstellung E, löst beim Überblick über die dar- 
gebotenen Prämissen in vielen Fällen den Willen aus, eine mög- 
lichst klare Auffassung der Prämissen zustande zu bringen, meist 
ohne daß dabei eine Mittel—Zweck-Auffassung nachweisbar ist. 

Es entsteht also so die Einstellung 
Eia = Wille, eine möglichst klare Auffassung der 

Pr. zustande zu bringen. 

Dieser Wille löst aus eine Konzentration der Aufmerksam- 
keit auf die Prämissen, und zwar ohne Vermittlung 
einer Reproduktion. Durch solche Konzentration der 
Aufmerksamkeit auf die Prämissen ergibt sich die Auffassung 
der Bedeutung der Prämissen. Man denke hier an die Be- 
ziehung der Wortvorstellung zu der Bedeutungsvorstellung oder 
der Gegenstandsvorstellung, wie sie sich bei der Untersuchung 
der Aphasiefälle ergeben hat!). In den meisten Fällen stellt 
sich diese Bedeutungsvorstellung oder besser dieser Begriff, 
welcher die Bedeutung ausmacht, nicht klar dar: bei den Vpn. 
tritt meist eine Repräsentation des Beziehungsgedankens größer 
in Linien verschiedener Größe oder in grob umrissenen Figuren 
usw. auf. Es handelt sich dabei um anschauliche Tatbestände, 
auf welche der Beziehungsgedanke größer mit Recht angewandt 
wird und welche als bloße Repräsentanten dieser Beziehung 
aufgefaßt werden, ohne daß es zu einer abstrakten Heraus- 
hebung dieser Beziehung kommt. Wo die seltene Bestimmung 
auftritt, daß »a größer als b« bedeutet, beim Übergang von 
b zu a komme etwas an Größe hinzu, fasse ich dieses Urteil 
als durch die naheliegende Vergleichung der Größer-Beziehung 
mit der Gleich-Beziehung zustande kommend auf. Wir haben 
es hier also mit Feststellungen zu tun, die unter der Einwirkung 
der Einstellung E,, vollzogen sind, den Feststellungen Fa (a 
und Fiag- Mit ihnen verbindet sich meist eine Auffassung 
der Identität der Mittelbegriffsgröße, über die ich im Fall 
des zuerst diskutierten Schlusses mit räumlichen Beziehungen 
näher gesprochen habe, die ich als von der Einstellung E, 
abhängig charakterisiert habe, und zwar als Fə. 

Ist die Auffassung der Prämissen zugleich mit etwaiger 
Identifikation vollzogen, so nimmt sich, wie die Protokolle 


1) Störring, Vorl. über Psychopathol. S. 147. 





Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 31 


sagen, da, wo keine stärkeren Abkürzungen der Prozesse auf- 
treten, die Vp. vor, eine räumliche Repräsentation der Be- 
ziehungsgedanken zustande zu bringen, um so zum Schluß zu 
kommen. Es entsteht also die Einstellung - 
E,=Wille,durchirgendeineräumlicheRepräsen- 
tation einen Gesamttatbestand zustande zu 
bringen, um so zum Schluß zu kommen. 

Die Entstehung dieser Einstellung E, mache ich mir in folgen- 
der Weise verständlich. Einmal hängt die Entstehung dieser 
Einstellung davon ab, daß sich nach der Realisierung der 
Einstellung E,, auf Grund Aufhebung derivativer Hemmung 
der noch unbefriedigte Wille, aus den gegebenen Tatbeständen 
einen Schluß zu ziehen, die Eihstellung E, wieder stärker 
geltend macht. Die Einstellung E, wirkt zusammen mit den 
durch die Einstellung E ,, bedingten Feststellungen Fi...) und 
Fiam : sie rufen die Erinnerung an frühere Verfahrungsweisen 
zur Entwicklung von Schlußprozessen unter ähnlichen .Be- 
dingungen wach, und mit dieser eine naheliegende Mittel-Zweck- 
Beziehung einschließenden Erinnerung zusammen bedingen sie 
die Entstehung des Willens, durch irgendeine räumliche Re- 
präsentation einen Gesamttatbestand der Prämissenbeziehungen 
zustande zu bringen, um so den Schluß zu entwickeln. 

Nach den Protokollen wählt nun Vp. eine bestimmte Art 
der Repräsentation aus, etwa die Repräsentation der Größer- 
Beziehung durch die Links-Beziehung. Es entwickelt sich also 
die Einstellung 
El = Wille, eine bestimmte, aber beliebige Re- 

präsentation zu wählen. 

Diese Einstellung Ee ist verständlich zu machen aus der 
Einstellung E, — Wille, durch irgendeine (d.h. eine bestimmte 
äber beliebige) Repräsentation einen Gesamttatbestand der betr. 
Beziehungen zustande zu bringen, um zum Schluß zu 
kommen. Die Einstellung E, enthält drei Zweckgedanken, 
die zweifach durch Mittel—Zweck - Beziehung verknüpft 
sind: 1. Wahl irgendeiner Art räumlicher Repräsentation (M,), 
2. Herstellung eines Gesamttatbestandes (M,), 3. Gewinnung 
des Schlußsatzes (Z): Aus der Einstellung E, kann sich nun 
die Einstellung E3so entwickeln, daß das Urteil gefällt wird, 
die Realisierung des Zwecks M, sei conditio sine qua non der 
Realisierung der beiden anderen Zwecke (Fæ), und daß darauf- 
hin der Wille entsteht, M, zu realisieren. - 


32 G. Störring, 


AberdieVpn.lassen bei Gestaltungderneuen 
Einstellung nicht immer die gesamten möglichen 
und auch nicht einmal die gedachten Mittel— 
Zweck-Beziehungen zur Geltung kommen! Der 
Prozeß gestaltet sich meist mechanischer, so daß die Wahl der 
Realisierung des Zwecks M, auf das Konto einer Nachwirkung 
früherer ähnlicher Operationen zu setzen ist (so besonders bei 
abgekürzten Prozessen). Es wirkt hier sodann in vielen Fällen 
außerdem noch ein anderer Umstand mit: die Realisierung 
von M, stellt den allein zugänglichen Angriffs- 
punkt für weitere Operationen dar! Diese gesetz- 
mäßige Beziehung tritt auch in den tierpsychologischen Tat- 
beständen bedeutungsvoll hervor. 

So haben wir die Entstehung der Einstellung EZ verständ- 
lich gemacht. 

Durch die Einstellung E. wird nun etwa die Reproduktion 
der Vorstellung links ausgelöst. Diese bedingt zusammen mit 
der Einstellung E die Feststellung Fi: die Links-Be- 
ziehungisteinebestimmte, beliebige Repräsen- 
tation der Größer-Beziehung. Diese Feststellung er- 
folgt ohne Worte und macht deshalb den Eindruck einer ein- 
fachen Zustimmung zu der Reproduktion der Vorstellung links. 


Nach Realisierung der Einstellung E} macht sich nach dem 
»Gesetz von der Wirkung derivativer Hemmung auf den Wechsel 
der Einstellung zum Schließen« der unbefriedigte Wille der 
Einstellung E, geltend. Es wirkt jetzt die Einstellung E, zu- 
sammen mit der Feststellung F3 zur Entwicklung der Ein- 
stellung 
E» = Wille, die Beziehung größer durch die 
Links-Beziehungzurepräsentieren,umzueinem 

Schluß zu kommen. 

Nach den Protokollen erfolgt dann eine Einsetzung der 
Links-Beziehung für die Größer-Beziehung bei den einzelnen 
Prämissen und eine Lokalisierung der bezogenen Größen, so 
daß auf Grund der ersten Prämisse »a größer als b« a links 
von b lokalisiert wird, und auf Grund der zweiten Prämisse 
»c größer als a« c links von a, wobei die beiden a gleichzeitig 
als identisch »behandelt« werden. 

Die Einstellung E,, bedeutet den Willen, für die Größer- 
Beziehung die Links-Beziehung repräsentativ zu setzen und 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 33 


eine entsprechende Lokalisierung in einem Gesamttatbestand 
vorzunehmen. 


Der erste Teil der Einstellung E, E : Einsetzung der 
Links-Beziehung für die Größer-Beziehung, löst zusammen mit 
der durch diese Einstellung ausgelösten Wiedererneuerung der 
Auffassung der ersten Prämisse Fiaa die Feststellung aus: 
Fala: & ist nach links von b zu lokalisieren. 


Der zweite Teil der Einstellung E,, EX: Lokalisierung in 
einem Gesamttatbestande — löst sodann mit der Feststellung 
Faia zusammen die Lokalisierung im Vorstellungsbild a b 
(a links von b) aus. Diese Lokalisierung in einem Vorstellungs- 
bild stellt sich den Vpn. auf Grund des Wirkens der Einstellung 
E,, 2. Teil, also El, als ein gültiges »Sotunmüssen« 
oder als ein als gültig auffaßbares »Sotun- 
müssen« (Äquivalent des ersteren) dar. (Fu) 

Nachdem so die Einstellung F,, bezüglich der ersten Prä- 
misse realisiert ist, vollzieht sich ihre Realisierung bezüglich 
der zweiten Prämisse. 

Der erste Teil der Einstellung El: Einsetzung der Links- 
Beziehung für die Größer-Beziehung löst zusammen mit der 
wiedererneuerten Auffassung der zweiten Prämisse Fung die 
Feststellung aus: 

Fada: c ist nach links von b zu lokalisieren. 


Der zweite Teil der Einstellung Eœ, EX: Lokalisierung in 
einem Gesamttatbestande — löst sodann mit der Feststellung 
Fala zusammen die Lokalisierung c a (c links von a) in einem 
Vorstellungsbild aus unter »Behandlung« der beiden a als iden- 
tisch. Bei dieser Lokalisierung c links von a wird wieder ein 
als gültig aufgefaßtes oder ein als gültig auf- 
faßbares »Sotunmüssen« erlebt (Faig). 


So ist also jetzt eine anschaulich repräsen- 
tative Gesamtdarstellung der Beziehungsge- 
danken der Prämissen zustande gebracht. Wir 
nennen sie (Faso) + Fan). 

Nach den Protokollen sucht nun die Vp., nachdem die re- 
präsentative Lokalisation der in den Prämissen gegebenen Be- 
ziehungen zustande gebracht ist, diejenigen Größen in dem Ge- 
samttatbestande auf, welche in den Prämissen noch nicht auf- 
einander bezogen sind, um sie in Beziehung zu setzen und so 
den Schluß zu entwickeln. Als diese Größen erweisen sich c 

Archiv für Psychologie. LO. . 8 


34 G. Störring, 


undeb auf Grund der Nachwirkung früherer Schlüsse. Unter 
Wiederaufhebung der Repräsentation, d.h. Zurückübersetzung 
der Links-Beziehung in die Größer-Beziehung ergibt sich aus 
dem Gesamttatbestand durch »Ablesen« c größer als b. 


Nach Realisierung der Einstellung E,, macht sich der noch 
nicht befriedigte Wille in Einstellung E, auf Grund des »Ge- 
setzes von der Aufhebung der Wertung derivativer Hemmung auf 
den Wechsel der Einstellungen zum Schließen« wieder geltend. 
Nach derselben Richtung kann wirken eine Reproduktion 
des Gedankens an diese Einstellung, der ja mit dem Ge- 
danken an die repräsentative Gesamtdarstellung (E Zao) + FA) 
assoziativ verknüpft ist!). 


Die Einstellung E, wirkt nun zusammen mit den durch die 
Einstellung E» bedingten Feststellungen (Fajn Fa): sie 
erwecken die Erinnerung, daß der Schluß durch Auf- 
suchen und Inbeziehungsetzen der zwei Größen gewonnen wird, 
die in den Prämissen noch nicht zueinander in Beziehung ge- 
setzt sind. Die Vp. suche nun dementsprechend zu verfahren, 
d.h. es entwickelt sich auf Grund der Einstellung E, und 
(Font Ferm) und die bezeichnete Erinnerung die Einstellung 


E&E,=-Wille, diese Größe festzustellen (Mə) und zu- 
einander in Beziehung zu setzen (M,), um so den 
‚Schluß zu ziehen (Z). 

In der Einstellung E, liegen drei Zwecke und zwei Mittel— 
Zweck-Beziehungen vor. Die Aufeinanderfolge der Prozesse ist 
aber im allgemeinen nicht durch Mittel—Zweck-Verkettung, ja 
wohl meist nicht einmal durch das Gesetz von der Realisierung 
des als Mittel Auffaßbaren ohne Mitwirkung des Mittel—Zweck- 
Gedankens, bedingt, sondern einfach auf Grund der Erinnerung 
an diese Aufeinanderfolge oder — noch einfacher — auf Grund 
des reproduktiven Sichaneinanderschließens dieser Verfahrungs- 
weisen! 

Es erzeugt nun der erste Teil der Einstellung E,, El, also 
der Wille, die zu beziehenden Größen festzustellen (M,), zu- 
sammen mit dem Gesamttatbestande (Foin + Fax) die Fest- 
stellung 


1) Man vergleiche die Entwicklungen von G. E. Müller, Über das Ge- 
dächtnis, Teil II: Über die Nachwirkung von Zielvorstellungen, S. 425 ff. 





Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 35 


Fl: »x und b sind die in den Prämissen zu bezie- 
henden Größen«, 

unter gleichzeitiger Nachwirkung der Erfahrung, daß die in 
den Prämissen noch nicht bezogenen Größen durch Elimination 
der identifizierten Größen sich herausgreifen lassen. 

Sodann löst der zweite Teil der Einstellung E,, EH, der 
Wille, diese Größen in Beziehung zu setzen, zusammen mit 
dem Gesamttatbestande (F aia) + Fon) die Feststellung aus: 


FẸ : Zwischen c und b besteht räumliche Beziehung von re- 
präsentativer Bedeutung. 


Für diese Feststellung ist keine spezielle Einstellung, 
also keine Einstellung auf Feststellung allgemeiner Art der Be- 
ziehung, anzunehmen. 

(Das Zwischenglied FẸ findet sich in späteren, mehr aus- 
geschliffenen Fällen des Operierens nicht.) 

Der zweite Teil der Einstellung Es, ED, der Wille, die nicht 
bezogenen Größen in Beziehung zu setzen, löst nun zusammen mit 
der Feststellung (FẸ ) die Einstellung aus: 


E„,=-Wille, diese räumliche Beziehung von re- 
präsentativer Bedeutung zwischen c und b fest- 
zustellen und sie zurückzuübersetzen. 


Der erste Teil der Einstellung E, E% löst zusammen 
mit dem Gesamttatbestand die Feststellung aus: 


Fi: c ist links von b (mit dem Nebengedanken der re- 
präsentativen Bedeutung). 


Der zweite Teil von Ega, Eş, löst zusammen mit der Fest- 
stellung F$ : »c ist links von b« (mit dem Nebengedanken der 
repräsentativen Bedeutung) durch Einsetzung der Größer-Be- 
ziehung für die Links-Beziehung die Feststellung aus: 

Fl : c ist größer als b. — 

Daß diese Schlußweise sich auch bei Schlüssen mit 
zeitlichen Beziehungen findet, ist leicht zu begreifen. 

Sie tritt auch bei Schlüssen mit Gattungsbezie- 
hungen bei experimenteller Untersuchung hervor. Es wird 
dann sehr häufig eine Repräsentation der Gattungsbeziehungen 
durch konzentrische Kreise gewählt. Bei Vpn. mit visuellem 
Vorstellungstypus findet man eine Neigung zu dieser Schluß- 
weise bei Gattungsbeziehungen. 

Die Repräsentation der Prämissenbeziehungen in einem Ge- 
samttatbestande findet hier in ganz analoger Weise nur bei 

ge 


36 G. Störring, 


den Schlüssen mit den Beziehungen größer—kleiner statt, und 
auch die Entwicklung des Schlußsatzes aus diesem anschau- 
lich-repräsentativem Gesamttatbestand geschieht unter Zurück- 
übersetzung der repräsentierenden Beziehungen in die repräsen- 
tierten ganz in derselben Weise wie bei den soeben zur Exempli- 
fikation dieser Operationsweise gewählten Beziehungen. 


Ergebnisse. 


I. Die Scheidung der Operationen in Schlußprozessen in 
zwei Gruppen tritt hier deutlicher heraus als bei Schlüssen mit 
räumlichen Beziehungen nach Op.I. Die Operationen zerfallen: 

1.in eine Gruppe urteilsmäßiger Feststel- 
lungen, welche von den Einstellungen und den jedes- 
mal gegebenen Modifikationen abhängen; 

2. in eine Gruppe von Operationen, welche die 
Änderungder Einstellungen herbeiführen. Diese 
zweite Gruppe ist hier stärker differenziert wie früher. 
Es finden sich hier einfache Reproduktionen von 
Vorstellungen und von Beziehungsgedanken, die sich auf 
einfache Assoziation von Vorstellungskomplexen und Be- 
ziehungsgedanken gründen, sodann spielen dabei Erinne- 
rungen eine Rolle, und zuletzt mehroder weniger 
produktive Gestaltungen der Phantasie. 

Eine Betätigung der intellektuellen Phantasie ist z. B. in 
dem Gedanken gegeben, den Schluß durch Repräsentation der 
in den Prämissen gegebenen Beziehungen zustandezubringen, 
wenigstens da, wo dieser Gedanke zuerst auftritt. 

U. Wo die in den Einstellungen gesetzten 
Zwecke so gestaltet sind, daß sie eine Mittel— 
Zweck-Setzung zulassen, wird diese Beziehung 
häufig nicht beim Schließen festgestellt, oder, 
wenn sie festgestellt ist, so hat diese Setzung 
häufig keinen Einfluß auf die späteren Ent- 
wicklungen; es wird aber so operiert, als ob 
solche Beziehungsetzungen wirkten. Hier kann 
außer Erinnerungen an frühere Verfahrungs- 
weisen oder reproduktiver Aneinander-An- 
gliederung solcher Verfahrungsweisen auf die 
Aufeinanderfolge der Operationen der Umstand 
bestimmend einwirken, daß die jedesmal rea- 
lisierte Operation diejenige ist, welche den 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 37 


allein zugänglichen Angriffspunkt für weiteres 
Operieren darstellt. 


So finden wir in der Einstellung E, drei verschiedene 
Zwecke gesetzt, die zweifach durch Mittel—Zweck-Gedanken ver- 
bunden sind: 1. Wahl irgendeiner Art von räumlicher Repräsen- 
tation; 2. Herstellung eines Gesamttatbestandes; 3. Entwicklung 
des Schlusses an der Hand des Gesamttatbestandes. Nur der 
erste Zweck stellte den allein zugänglichen Angriffspunkt für 
weiteres Operieren dar, denn ein Ansetzen bei dem 
zweiten Zweck muß sich als unrealisierbar er- 
weisen ohne vorgängige Realisierung des ersten 
Zwecks, und die Realisierung des dritten Zwecks 
ist ebenso für sich genommen unrealisierbar, 
setzt Realisierung des zweiten Zwecks voraus 
und diese wieder die des ersten. 


Dieses Prinzip hat vor der Wirksamkeit der 
beiden soeben genannten, auf Reproduktion ge- 
gründeten, offenbar den Vorzug, daß es nicht 
frühere zweckmäßige Verfahrungsweisen vor- 
aussetzt. Wir können hier deshalb kurz von einer primären 
Realisierung von als Mittel auffaßbaren Ope- 
rationen reden. Wir bezeichnen deshalb dies Prinzip als 
»Gesetz von der primären Realisierung der als 
Mittel auffaßbaren Operation ohne Mittel— 
Zweck-Setzung«. 


Il. Es tritt hier sodann deutlich hervor der Unter- 
schied zwischen dem als gültig erlebten oder als 
gültig erlebbaren (Äquivalent) Sodenkenmüssen 
von einem als gültig erlebten oder als gültiger- 
lebbaren (Äquivalent) Sotunmüssen. Ich verweise 
auf die Herstellung eines repräsentativen Gesamttatbestandes, 
wobei a links von b in einem Vorstellungsbilde lokalisiert wurde 
und weiter die Lokalisation des c links von a vollzogen wurde. 
Früher trat uns schon ein so und so »Verschiebenmüssen« der 
Buchstabengrößen entgegen. 


IV. Die auf die erste Einstellung folgenden 
Einstellungen wirken mit den durch frühere 
Einstellungen bedingten Feststellungen und 
meist auch mit anderen Faktoren zusammen zur 
Entwicklung neuer Einstellungen. 


38 G. Störring, 


(Gesetz vonder Verkettung der Einstellungen 
mit den Feststellungen bei Bildung neuer Ein- 
stellungen.) 


§ 2. Schlüsse mit den Beziehungen größer—kleiner; zeit- 
lichen Beziehungen usw. in beiden Prämissen nach der 
Operationsweise III. 


Nachdem wir die Schlüsse mit den Beziehungen größer- 
kleiner nach der ersten Operationsweise im vorigen Paragraphen 
kausal untersucht haben — und damit zugleich die in gleicher 
Weise sich vollziehenden Schlüsse mit zeitlichen Beziehungen, 
einen Teil der Schlüsse mit Gattungsbeziehungen und sodann 
auch den Beziehungen Teil—Ganzes, den Beziehungen Grund— 
Folge und den Beziehungen Mitursache— Wirkung (wie sich das 
später deutlich herausstellen wird) — wenden wir uns jetzt der 
kausalen Behandlung der Schlüsse mit den Beziehungen größer— 
kleiner nach einer komplexeren Operationsweise zu. 

Während bei der besprochenen ersten Operationsweise der 
Schluß bei den Beziehungen größer—kleiner auf Grund von räum- 
licher Repräsentation der Beziehungsgedanken in einem Gesamt- 
tatbestand zustande kam, ohne daß dabei die Beziehungsgedanken 
der Prämissen aufeinander bezogen zu werden brauchten, 
gründen sich Op. II, III und IV darauf, daß die Beziehungs- 
gedanken der Prämissen zueinander in Beziehung gesetzt 
werden, auf die dabei entwickelte Feststellung der Gleichheit 
oder des Gegensatzes der Beziehungen der beiden Prämissen. 
Auf die Feststellung des Gegensatzes der Beziehungen gründet 
sich eine Operationsweise, die ich anderen Ortes Op. II ge- 
nannt habe, auf die Feststellung der Gleichheit der Bezie- 
hungen der Prämissen gründen sich zwei Operationsweisen, die 
ich als Op. III und Op. IV bezeichnet habe. 

Wir wollen zunächst dieselben Prämissen beibehalten und 
behandeln deshalb die dritte und vierte Operationsweise vor 
der zweiten. 

Wir haben es also wieder mit den Prämissen zu tun 

a größer als b 
c größer als a 
Also: 

Die Einstellung in der Vorperiode ist dieselbe wie früher, 

also 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 39 


E,=Wille, aus den aufgefaßten Prämissen eine 
neue Bestimmung zu entwickeln. 
Ebenso zieht diese Einstellung zusammen mit dem Überblick 
über die Prämissen in ähnlicher Weise wie früher eine klare 
Auffassung der Prämissen nach sich in Feststellungen 
Fiaa und Fiap. 

Mit den Prozessen der Auffassung der Prämissen vollzieht 
sich aber nicht nur zusammen eine Identifikation der 
als Mittelbegriff funktionierenden Größen, sondern es findet. 
auch nach der Auffassung der Prämissen oder zwischen der 
Auffassung der beiden Prämissen bei einem Blick auf das 
»größer« der zweiten Prämisse eine Beachtung der Gleich- 
heit der Beziehungen statt. In einzelnen Fällen tritt 
allerdings auch bei dem Operieren nach Op. I eine Beachtung 
der Gleichheit der Beziehungen statt, aber dann ist das für 
den weiteren Verlauf ohne Bedeutung. 

` Sodann laufen die Prozesse meist so ab, daß sich an die 
Identifikation der beiden a ein Hinüberspringen des Blickes 
von c nach b anschließt. Unter Nachwirkung früherer Schlüsse 
werden sie als die hier im Schlußsatz in Beziehung zu setzen- 
den Größen aufgefaßt. 

Vp. sucht dann weiter festzustellen, was sich über die 
Beziehung zwischen c und b sagen läßt. Sie liest die Prä- 
missen nochmals »a größer als b« »c größer als a«, betont 
meist noch nachträglich »a größer als b« und wirft die Frage 
auf: »was gilt von c, welches größer als a ist, im Vergleich 
mit a, welches größer als b ist?« Ein nochmaliges Überblicken 
der Prämissen ergibt die Bestimmung: »c ist noch größer als a«; 
»c ist erst recht größer als b«. 

Soweit die Protokolle. — 

Es stellt sich also in innigem Zusammenhang mit der Auf- 
fassung der Prämissen eine Beachtung der Gleichheit 
der Beziehungen ein. Wir bezeichnen diese Feststellung, 
da auf sie keine spezielle Einstellung gerichtet ist und für 
sie offenbar dieselbe Abhängigkeitsbeziehung gilt. wie die von 
uns früher für die Identifikation nachgewiesene mit Fo, die 
Identifikation selbst als Fø. Nach der Identifikation 
findet also eine Heraushebung von c und b statt und 
eine Auffassung derselben als die im Schlußsatz zu be- 
ziehenden Größen. Da wir, wie sich uns früher zeigte, 
für den lIdentifikationsprozeßB ein Wiedersichgeltendmachen 


49) G. Störring, 


der Einstellung E, annehmen mußten, so wird auch für 
das Herausheben der im Schlußsatz zu beziehenden Größen 
die Einstellung E, zusammen mit einem früheren Vollzug der- 
selben Verfahrungsweise verantwortlich zu machen sein. 

Die Auffassung der herausgehobenen Größen als im Schluß- 
satz in Beziehung zu setzen möchten wir nicht bloß auf Er- 
innerung gründen: die Feststellung, daßdiese Größen 
hier nicht in Beziehung gesetzt sind, liegt doch 
zu nahe. Jedenfalls macht sich hier für diese Feststellung 
keine maximal einengende Einstellung geltend. Wir charakteri- 
sieren sie deshalb als Fg. 

Nach völliger Realisierung der auf klare Erfassung der 
Prämissen ausgehenden Einstellung E,, macht sich die Ein- 
stellung E, nun weiter — nach völliger Aufhebung der deri- 
vativer Hemmung — in folgender Weise geltend: Die Einstellung 
E, wirkt jetzt zusammen mit der vollzogenen Auffassung der 
Prämissen Fisa) und Fin und mit der Feststellung Fg, 
der Feststellung, daß o und b die zu beziehenden Größen sind, 
auf die Entwicklung der Einstellung 
E, = Wille, festzustellen, was sich über die Be- 

ziehung von c zu b aussagen läßt. 
(Hier tritt übrigens das Gesetz von der Verkettung der Ein- 
stellungen mit Feststellungen bei Bildung neuer Einstellung 
wieder schön in die Erscheinung!) 

Diese Einstellung E, läßt zunächst das Bedürfnis wach 
werden, die Prämissen nochmals klarer sich zu vergegenwärtigen. 
Es werden deshalb die Prämissen nochmals gelesen »a größer als b« 
»c größer als a« und wieder aufgefaßt unter Nachwirkung 
der Feststellungen Fina) und Fiag- Dabei wird »a größer 
als b« nachträglich noch betont. Nun entsteht die Frage- 
stellung: »was gilt von c, welches größer als a ist, im Ver- 
gleich mit a, welches größer als c ist?« 

Diese Fragestellung ist als in folgender Weise bedingt zu 
denken: Vp. vollzieht eine nochmalige klare Auffassung der 
Prämissen unter der gleichzeitigen Einstellung, c und b zu- 
einander in Beziehung zu setzen; sie sucht das c, das sie 
nach der 2. Prämisse auffaßt als größer als a, zu b in Beziehung 
zu setzen und hält sich nun an die Beziehung des a zu b, zu 
dem c ja schon in bewußter Beziehung steht. a hat den Vor- 
zug, in direkter Beziehung zu b zu stehen, deshalb betont Vp. 
a größer als b und vergleicht nun das c, welches größer 
als a ist, mit dem a, welches größer als b ist. 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 41 


Die Frage löst eine entsprechende Einstellung aus: 


Es = den Willen, festzustellen, was von c, welches 
größer als a ist, im Vergleich mit a gilt, welches 
größer als b ist. 


Durch Wirkung dieser Einstellung auf den gegebenen Be- 
ziehungskomplex entsteht die Feststellung 
F: c ist nach größeralsa, welches größerals bist, 
d. h. beim Übergang von a auf c ist wieder etwas an Größe 
hinzugekommen, nachdem schon beim Übergang von b auf a 
etwas an Größe hinzugekommen war. Nach Realisierung der 
Einstellung E, in der Feststellung F, macht sich infolge Auf- 
hebung der derivativen Hemmung für die Einstellung E, diese 
wieder geltend, die Einstellung also, c auf b zu beziehen. Die 
Einstellung E, realisiert sich leicht an der Hand der Fest- 
stellung F, »beim Übergang von a auf c ist wieder etwas an 
Größe hinzugekommen, nachdem schon beim Übergang von b 
auf a etwas an Größe hinzugekommen war«, in der Feststellung 


F,: beim Übergang von b auf c ist etwas an Größe 
hinzugekommen, d. h. c größer als b. 


Ergebnisse. 


I. Am interessantesten ist hier die letzte Gedankenent- 
wicklung. Es wird hier zustande gebracht eine gedankliche 
Gesamtsynthese der Beziehungen der Prämissen 
in der Feststellung F,. Aus dieser gedanklichen Synthese wird 
der Schlußgedanke unter Anlegung des in der Einstellung E, 
gegebenen Gesichtspunktes, c und b aufeinander zu beziehen, 
analytisch entwickelt. 

Rein psychologisch gesprochen stellt sich diese analytische 
Entwicklung näher so dar, daß an die gedankliche Synthese 
F, in der Einstellung E, der Gesichtspunkt der Beziehung des 
c auf b herangetragen wird und sich nun an der Hand der 
Gesamtsynthese und der Einstellung der Gedanke: »beim Über- 
gang von b auf c kommt etwas an Größe hinzu« ev. mit 
Identitätsbewußtsein aufdrängt. Der Schlußgedanke ist also 
ein Beziehungsgedanke, der unter Wirkung der Einstellung, 
besonders des Gesichtspunkts der Einstellung aus dergedank- 
lichen Gesamtsynthese »hervorspringt«, eventuell (eben 
bei einigen Vpn.) mit dem Bewußtsein der Identität. Die Ent- 
wicklung dieses Gedankens ist nicht bloß von zwei Seiten ein- 


42 G. Störring, 


geengt, sondern auch noch von der Seite der Einstellung 
maximal. | 

II. Es tritt hier deutlich hervor — was übrigens auch in 
Übereinstimmung steht mit der Gewinnung des Schlußsatzes bei 
diesen Prämissen nach der ersten Operationsweise unter Bildung 
eines anschaulichen Gesamttatbestandes von repräsentativer Be- 
deutung — daß das Produktive in dieser Gedankenent- 
wicklung in der Bildung einer diegesamten Beziehungen 
vereinigenden Synthese liegt. Sie stellt den Höhe- 
punkt der ganzen Gedankenentwicklung dar. Nach dieser 
Synthese tritt nur noch eine analytische Entwicklung auf. 


8 3. Schlüsse mit den Beziehungen größer—kleiner, mit zeit- 
lichen Beziehungen, Gattungsbeziehungen usw. nach der 
Operationsweise IV. 


Wir untersuchen jetzt Schlüsse mit den Beziehungen 
größer—kleiner nach einer Operationsweise, die ich als Op. IV 
bezeichnet habe: es wird geschlossen wie bei Op. III auf Grund 
der Entwicklung des Bewußtseins der Gleichheit der Be- 
ziehungen in beiden Prämissen, aber hier wird diese Gleich- 
heitssetzung in einer anderen Weise verwertet. Es wird sich 
uns. zeigen, daß diese Schlußweise auch bei Prämissen mit 
Gattungsbeziehungen Anwendung finden kann, was bei Op. III 
nicht der Fall war. 

Wir nehmen wieder dieselben Prämissen 

a größer als b 
c größer als a 
Also: 


Die Prozesse der Auffassung vollziehen sich in der Haupt- 
sache in derselben Weise wie bei Op. IH, nur kommt die 
Verdeutlichung der Prämissen in der Weise, daß gesagt wird: 
»beim Übergang von b auf a kommt etwas an Größe hinzu«, 
»beim Übergang von a auf c kommt etwas an Größe hinzu« 
häufiger vor als bei Op. III. Mit der Auffassung (zwischen 
Auffassung der Prämissen oder gleich nach derselben) voll- 
zieht sich wie dort Identifikation der beiden Größen des Mittel- 
begriffs. Hier tritt die Gleichheitssetzung der Prämissen-Be- 
ziehungen in der Form der Auffassung des Fort- 
schreitens nach derselben Richtung auf. Am Ende des Fort- 
schreitens ankommend, sagt sich sodann Vp., daß cam größten ist. 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 43 


Dann sucht Vp. die Größen heraus, die im Schlußsatz auf- 
einander zu beziehen sind, und stellt als solche unter Nach- 
wirkung des Operierens bei ähnlichen Schlüssen c und b fest. 
Sie sagt sich zuletzt: wenn c die größte Größe ist, so ist sie 
auch größer als der Anfangspunkt des Beziehungsetzens b, 
also c größer als b. 


So weit die Protokolle. 


Bei Auffassung der Prämissen vollzieht sich also Bemerken 
der Identität (F,,) und Bemerken des Fortschreitens nach 
derselben Richtung, d.h. zu immer Größerem (F). Bei der 
letzten Beziehungsgröße, c, angekommen, findet eine Ver- 
gleichunng mit den vorangegangenen Größen 
statt an der Hand des Gedankens, daß beim Übergang von b zu 
a, zu c die Größen immer mehr an Größe zugenommen haben. 
So entsteht das Urteil c ist die größte, offenbar im allgemeinen 
ohne spezielle Einstellung auf dieses Urteil, in Abhängigkeits- 
beziehung von Einstellung E, (F). 

Nach Realisierung der Einstellung E,, (Auffassung) tritt 
E, stärker hervor. 

Die Einstellung E, zusammen mit Erfahrungen an früheren 
Fällen reproduziert den Gedanken, die noch nicht bezogenen 
Größen zueinander in Beziehung zu setzen; es entsteht so die 
Einstellung 


E, = Wille, die nicht aufeinander bezogenen 
Größen festzustellen und zu beziehen; im allge- 
meinen mit gleichzeitigem Mittel—Zweck-Gedanken. 

Eine Realisierung der Einstellung E, findet statt, wohl. fast 
immer ohne Mitwirkung des Mittel—Zweck-Gedankens: die re- 
produktive Wirkung auf die Aufeinanderfolge der Verfahrungs- 
weisen ist hier zu ausgeprägt. Ich verweise auf meine Ent- 

wicklungen über diesen Punkt in $2 Op. Il. 

Auf Grund des 1. Teils der Einstellung E, Ei, entsteht 
unter Mitwirkung von Erinnerung an früher vollzogenes Her- 
ausheben die Feststellung 


F!: c und b. 


Darnach macht sich der 2. Teil der Einstellung E, EY 
geltend. Die Einstellung EÏ erzeugt zusammen mit der Er- 
innerung an die frühere Feststellung F œ : c ist die größte 
der drei bezogenen Größen, die Feststellung 


44 G. Störring, 


F: »c ist auch größer als der Anfangspunkt des Beziehung- 

setzens — unter Mitwirkung der Erinnerung an die Auffassung 

der ersten Prämisse: »Beim Übergang von b auf a« zu 
Größerem — b.« 


Bemerkungen. 


I. Es ist leicht zu sehen, daß diese Operationsweise sich 
auch bei Gattungsschlüssen realisieren kann, indem bei Prä- 
missen wie 

Gattung A gehört zur Gattung B 
Gattung B gehört zur Gattung C 
Also: . 


es naheliegt, den Gedanken des Übergangs auf eine immer höhere 
Gattung zu entwickeln. 


II. Ich möchte auf die differente Art von Erinne- 
rungen hinweisen, welche hier in den urteilmäßigen Fest- 
stellungen eine Rolle spielen. Einmal handelt es sich um die aus 
mathematischen Deduktionen bekannte Mitwirkung der Erinne- 
rung beim Rekurrieren auf früher erwiesene Sätze, also hier 
ErinnerunganErfahrungen,dieVp.ausfrüheren 
Schlüssen abstrahiert hat. Sodann macht sich hier 
noch eine Erinnerung an Feststellungen geltend, 
die in diesem Schlußprozeß gemacht sind. 


Auf letztere Art der Erinnerung in Denkprozesse hat wohl 
zuerst Descartes aufmerksam gemacht. Er gründet darauf 
seine Unterscheidung zwischen Induktion und Deduktion: in 
seiner Deduktion wirken schon Erinnerungen an die in den eben 
vorangegangenen Operationen gemachten Feststellungen mit. 

Die erkenntnistheoretische Bedeutung solcher Erinnerung 
in der Frage der synthetischen Urteile a priori habe ich meiner 
Erkenntnistheorie untersucht. 


84. Schlüsse mit den Beziehungen größer— kleiner mit zeit- 
lichen Beziehungen usw. in einer Prämisse und einer Gleich- 
heitsbeziehung in der andern Prämisse. 


Wir wenden uns jetzt zur Untersuchung von Schlüssen, 
welche in der ersten Prämisse den Beziehungsgedanken größer 
oder kleiner aufweisen und in der zweiten Prämisse Gleich- 
heitsbeziehung. | 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 45 


Nehmen wir die Prämisse: 

a größer als b 
c-& 
Also: 

Die Prämissen werden hier am besten akustisch ge- 
geben, damit nicht zu mechanisch operiert wird. 

Die erste Prämisse wird in der früher angegebenen Weise 
aufgefaßt. Beim Lesen der zweiten Prämisse erfolgt Identi- 
fikation der Mittelbegriffsgrößen, sobald Vp. auf die identische 
Größe in der zweiten Prämisse stößt. 

Wo eine besondere Verdeutlichung der zweiten Prämisse 
stattfindet, vollzieht sie sich im allgemeinen so, daß Vp. sich 
gleiche Größen vorstellt, etwa gleiche Strecken mit dem gleich- 
zeitigen Bewußtsein: es kann auch anders vorgestellt werden. 
Nur selten tritt bei der Verdeutlichung der Gedanke auf: die 
Größen sind gleich heißt, sie können füreinander eingesetzt 
werden. 

Sind Schlüsse mit gleichen Beziehungen in beiden Prä-. 
missen vorangegangen, so wird meist die Differenz der Be- 
ziehungsgedanken der beiden Prämissen beachtet und es macht 
sich das Bestreben geltend, der bemerkten Differenz Herr zu 
werden, die beiden Prämissen zum Zweck des Schließens zu 
einer Einheit zu gestalten. 

Es werden dann etwa noch einmal die beiden schon identi- 
fizierten gleichen a beachtet und es tritt der Gedanke auf, daß 
sich für das a der ersten Prämisse das c einsetzen läßt. Diese 
Einsetzung wird dann mit oder ohne deutlich hervortretenden 
Willen zur Einsetzung vollzogen. Bei der Einsetzung wird zu- 
weilen angegeben, daß ein Notwendigkeitsgefühl, welches den 
Gedanken des »Soseinmüssens« nahelegt, dabei aufgetreten sei. 
Dann wird das Resultat der Einsetzung abgelesen: c größer 
als b. — 

Bei Auffassung der zweiten Prämisse werden die beiden a 
also identifiziert, sobald das zweite a gehört wird (F ). So- 
dann fällt etwa die Differenz der beiden Prämissen-Beziehungen 
auf (F). Die Auffassung der zweiten Prämisse vollzieht sich 
meist ohne besondere Verdeutlichung. Wo eine solche statt- 
findet, tritt sehr selten der Gedanke auf: »gleich« heißt »diese 
Größen lassen sich für einander einsetzen«. 

Bezüglich der weiteren Verarbeitung wollen wir den Fall 
ins Auge fassen, daß die Differenz der beiden Prämissen- 


46 G. Störring, 


Beziehungen beachtet wird, wodurch die Prozesse sich etwas 
in die Länge ziehen. Dieser Gedanke wirkt dann nach Reali- 
sierung der Einstellung E,, (Auffassung) zusammen mit der 
sich nach Aufhebung der derivativen Hemmung wieder geltend 
machenden Einstellung E, darauf hin, daß das Bestreben ent- 
steht, die beiden Prämissen zur Einheit zu gestalten. Es tritt 
also auf die Einstellung 


E,=Wille, eine Zusammenfassung der Prämissen 
zur Einheit zustande zu bringen, um den Schluß 
zu ziehen. 


Diese Einstellung zur Zusammenfassung der Prämissen zur 
Einheit ist aber zu wenig bestimmt, um unmittelbar eine 
Operation, welche eine urteilsmäßige Feststellung darstellt, aus- 
zulösen. Es wirkt deshalb die Einstellung zunächst in der Re- 
produktion des Gedankens an den gemeinsamen Mittelbegriff, 
welcher sich etwa mit einem Blick auf die beiden a ein Vor- 
stellungsbild verbindet. Von hier aus wird dann die Er- 
" innerung wach gerufen, daß c=a bedeutet, »a und c können 
füreinander gesetzt werden«. Mit dieser Erinnerung zusammen 
vollzieht sich das gleichsinnnige Urteil (F). 

Diese Feststellung (F&,) nun wirkt bei weniger abgekürztem 
Verlauf zusammen mit der Einstellung E, in der Erzeugung 
der Einstellung 


E,=- Wille, diese Einsetzung zu vollziehen. 


Dieser Wille realisiert sich in der Einsetzung des c für das 
a in die erste Prämisse im Vorstellungsbilde (F,). Die Einsetzung 
wird häufig charakterisiert als ein »Sotunmüssen«, also als ein 
als gültig aufgefaßtes oder meist nur auffaßbares intellektuelles 
Tu.n Dadurch ist aber ein neues Resultat gegeben, was nur 
»abgelesen« zu werden braucht, d.h. es bedarf nur noch der 
Auffassung des so gewonnenen Tatbestandes. 


Ergebnisse. 


I. Die Einstellung E,, der Wille also, die Einsetzung des c 
für das a auf Grund der zweiten Prämisse c=a stellt sich als 
eigenartig dar: Sie unterscheidet sich von anderen 
Einstellungen darin, daß sie als gültig aufge- 
faßt wird, während andere Einstellungen nur 
als wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich 
zweckmäßig erscheinen. 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 47 


II. Der Einsetzungsprozeß dieses Schlusses stellt sich bei 
manchen Vpn. als ein »Sotunmüssen« dar, genau als ein intel- 
lektuelles Tun, welches als gültig aufgefaßt wird oder als 
gültig auffaßbar (Äquivalent) sich darstellt. 

Dieses intellektuelle Tun unterscheidet sich 
von dem als gültig aufgefaßten oder als gültig 
auffaßbaren Denken dadurch, daß das letztere, 
die urteilsmäßigen Feststellungen, durch eine 
Einstellung zum Denken und außerdem durch 
einen zu beurteilenden Tatbestand, also von 
zwei Seiten, eingeengt sind, während das 
intellektuelle Tun durch die Einstellung allein 
eindeutig bestimmt ist! 

OI. Die Einstellung E, zeigt, daß es wertvolle 
Einstellungen gibt, die zu allgemein sind, als 
daß sie eindeutig bestimmte Prozesse auslösen 
könnten, die sich wenigstens zunächst nur in 
einfachen Reproduktionen von Beziehungsge- 
danken, in Erinnerungen, Fragestellungen gel- 
tend machen. 

Ähnlich verhält es sich. mit der Einstellung 
E, in 82 8.40, wo eine komplexe Fragestellung 
durch die Einstellung angeregt wird und sie 
nach Realisierung der durch sie bedingten Ein- 
stellung E,erstselbstzur Realisierung gebracht 
werden kann! 


8 4. Schlüsse mit den entgegengesetzten Beziehungen größer 
und kleiner, entgegengesetzten zeitlichen usw. Beziehungen 
nach Operationsweise II. 


Wir sind noch die Behandlung der Schlüsse schuldig nach 
Op. U. Bei ihnen liegen entgegengesetzte Beziehungen in den 
Prämissen vor oder es werden (in seltenen Fällen) bei gegebenen 
gleichen Prämissenbeziehungen durch Konversion einer Prä- 
misse entgegengesetzte Beziehungen zustande gebracht. Bei 
solch entgegengesetzten Beziehungen kann der Schluß zur Ent- 
wicklung kommen nach Op. I. Wir fassen den Fall ins Auge, 
daß die Entwicklung des Schlußsatzes sich gründet auf den 
Gedanken des Gegensatzes der in den Prämissen gesetzten Be- 
ziehungen. Nehmen wir als Beispiel: 


48 G. Störring, 


a kleiner als b 
c größer als b 
Also: ... 

Ich gebe zunächst eine Darstellung der Protokolle und trete 
dann in die kausale Behandlung ein. 

Die Auffassung der ersten Prämisse »a kleiner als b« voll- 
zieht sich so, daß zwei Strecken vorgestellt werden, von denen 
die eine kleiner als die andere ist, mit dem Bewußtsein, daß 
diese Strecken Repräsentanten sind, daß »es auch anders vor- 
gestellt werden könnte«. An die Stelle von zwei Strecken treten 
in anderen Fällen zwei Kreise differenter Größe u. dergl. In 
einigen Fällen tritt eine schärfere Verdeutlichung auf: »beim 
Übergang von b auf a wird etwas an Größe weggenommen, ver- 
mindert sich die Größe«. 

Die entsprechende Feststellung für die zweite Prämisse ist 
schon bekannt. 

Bei Auffassung der Prämissen oder in unmittelbarem An- 
schluß daran erfolgt Identifikation der Mittelbegriffsgrößen und 
Beachtung des Gegensatzes der Prämissen-Beziehungen. Vp. 
sucht nun die Prämissen zu einer Einheit zu gestalten, um so 
den Schluß vorzubereiten. Sie sagt sich: Von b aus geht es 
nach a und c in entgegengesetzten Richtungen. Dabei ist zu- 
weilen eine Lokalisation des c rechts von b auf dem exponierten 
Zettel angedeutet. 

Vp. hebt sodann die Größen heraus, die in den Prämissen 
noch nicht aufeinander bezogen waren, und stellt als solche a 
und c fest unter Nachwirkung von früherem ähnlichen Ver- 
fahren. Sie sucht nun a und c aufeinander zu beziehen, in- 
dem sie auf die früher vollzogene klare Auffassung der Prä- 
missen zurückgreift oder unter Nachwirkung dieser früheren 
Auffassung hier diese Auffassung erneuert. Sie sagt sich nun: 
was läßt sich von a sagen, welches kleiner als b ist, im Ver- 
gleich mit c, welches durch Vergrößerung von b entsteht? Es 
ergibt sich ihr: a ist auch kleiner als das durch Vergrößerung 
von b entstanden gedachte c. 

Diese Art des Schließens hebt sich der Vp. deutlich ab 
gegenüber einem Schließen bei diesen Prämissen, bei dem auch 
die Prämissenbeziehungen nicht einfach repräsentativ räumlich 
lokalisiert werden (ohne daß die in den Prämissen gegebenen 
Beziehungen aufeinander bezogen werden), sondern in dem auch 
der Gedanke des Gegensatzes der in den Prämissen gegebenen 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 49 


Beziehungen sich entwickelt, bei dem sich aber mit der Auf- 
Auffassung des Gegensatzes der Beziehungen eine repräsen- 
tative Lokalisation (die hier übrigens auch häufig angedeutet 
ist) verbindet und wo nun — im Unterschied von dem hier 
vorliegenden Operieren — die Entwicklung des Schlußsatzes 
sich auf Grund der repräsentativen räumlichen Beziehungen 
unter Zurückübersetzen der repräsentierenden Beziehungen in 
die repräsentierten vollzieht. 


Die Vpn. sagen, daß es viel befriedigender sei, den Schluß- 
satz zu entwickeln auf Grund des Gedankens des Gegensatzes 
der in den Prämissen gegebenen Beziehungen als auf Grund von 
Repräsentation und »Ablesen« des Schlußsatzes. 

So weit die Protokolle. — 

Die Auffassung der ersten Prämisse vollzieht sich ähnlich 
wie früher die Auffassung der Prämissen mit Größer-Be- 
ziehung: es erfolgt entweder Verdeutlichung durch Strecken 
verschiedener Größe, Kreise verschiedener Größe usw., an Hand 
derer das Urteil »kleiner« gefällt wird zugleich mit dem Be- 
wußtsein, daß diese Größen nur repräsentative Bedeutung haben 
oder abstrakte Verdeutlichung: »a kleiner als b« bedeutet: von 
b zu a übergehend wird etwas von der Größe weggenommen. 
Verdeutlichung der zweiten Prämisse wie früher (Fina) und 
(Fiag). Mit der Auffassung vollzieht sich wie früher Identi- 
fikation (F,,) und sodann Beachtung des Gegensatzes der in 
den Prämissen gesetzten Beziehungen (F; )- 

Vp. sucht nun nach den Protokollen die Prämissen zur Ein- 
heit zu gestalten, um so den Schluß vorzubereiten. Es ent- 
wickelt sich also nach Realisierung die Einstellung E ,, unter 
stärkerem Wiederhervortreten der Einstellung E,, sodann unter 
Mitwirkung der Feststellungen Fiaa und Fiag, Fo und Foi, 
und unter Nachwirkung früherer Erfahrung über Bedeutung 
der Zusammenfassung der Beziehungsgedanken, die Einstellung 
Ep» ~ Wille, die Prämissen zu einer Beziehungs- 
einheit zu gestalten, um so den Schluß vorzu- 

bereiten. 

Daraufhin erfolgt an der Hand der Feststellungen Faa und 
Fiag die Feststellung o 
F»: von b aus geht es nach a und c in entgegen- 

gesetzten Richtungen. 

Diese Feststellung nimmt auch häufig die Form an: »b 

Archiv für Psychologie. LII. 4 


50 G. Störring, 


liegt in der Mitte, von b aus geht es nach entgegengesetzten 
Richtungen«. 

In der letzten Fassung haben wir es offenbar nicht mit 
‘einer vollen Synthese der Beziehungsgedanken zu tun, es fehlt 
die nähere Bestimmung über zwei Beziehungsglieder. Es liegt 
hier also eine Synthese vor, die durch Abstraktion von Be- 
ziehungsgliedern nur partiell ist. 

Aber auch bei der ersteren Fassung liegt keine volle Syn- 
these vor. Wenn auch hier die beiden anderen Beziehungsglieder 
angegeben sind, so fehlt doch ihre Zuordnung zu einer be- 
stimmten Richtung. Diese Synthese ist also auch nur partiell. 

Nun sucht Vp. weiter die nicht in der Prämisse bezogenen 
Größen in Beziehung zu setzen. 

Nach Realisierung der Einstellungen E,, und E,}, macht sich 
infolge von Aufhebung derivativer Hemmung die Einstellung E, 
und die damit übereinstimmende Einhaltung E,, 2. Teil, also 
Ë Z geltend. Diese Einstellung zusammen mit der Feststellung 
F» löst unter Nachwirkung früheren Schließens den Gedanken 
aus, die noch nicht bezogenen Größen in der Feststellung Fi» 
aufeinander zu beziehen. Eine emotionelle Billigung dieses 
Gedankens läßt die Einstellung 
E,=W.ille, diese Größen aufeinander zu beziehen, 
entstehen. 

Diesem Willen ist nicht ohne weiteres zu entsprechen. Der 
Gedanke, diese Größen aufeinander zu beziehen, steht in inniger 
assoziativer Verbindung mit dem Gedanken, sie festzustellen, 
so daß die Frage, welches diese Größen sind, auch ohne Mittel— 
Zweck-Setzung auftreten kann. Es klingt dann nach dem Auf- 
treten jenes Gedankens leicht der Mittel—Zweck-Gedanke an, 
aber ohne den Verlauf zu bestimmen. 

Aus der Frage, welches diese Größen sind, kann sich ein 
entsprechender Wille entwickeln. Das geschieht aber meist 
nicht, sondern an die Frage schließt sich meist unter Nach- 
wirkung früherer Verhaltungsweisen die Heraushebung von 
aundcanmitnachträglicher Anerkennung (Fo,). 

Nach den Protokollen sucht nun Vp. a auf c zu beziehen. 

Unter Wirkung der Einstellung E, und unter Nachwirkung 
der Feststellung F modifiziert sich also die Einstellung E, in 
die Einstellung: 

E n= Wille, dieGrößenaundcaufeinander zu be- 
ziehen. 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 51 


Dieser Wille ruft die Erinnerung an die Feststellung Fi» 
wach. Das Bedürfnis nach einer maximal klaren Erfassung des 
Tatbestandes führt aber meist zum Wiedervollzug und Er- 
gänzung der gewonnenen Synthese: beim Übergang von b 
auf a vermindert sich die Größe, dagegen beim Über- 
gang von demselben bzuckommt etwas hinzu. 

Diese ergänzte Feststellung F,į wirkt dann mit der Ein- 
stellung E,,, die noch nicht unmittelbar realisiert werden kann, 
in der Entwicklung der Frage: 

Was läßt sich von a sagen, welches kleiner als b ist, in 
bezug auf c, welches dagegen durch Vergrößerung von b ent- 
steht? 

In dieser Frage ist eine Kombination der gedank- 
lichen Synthese Fý und der in der Einstellung 
E,, implizierten Frage nach den Beziehungen 
vonazucvollzogen! 

Es findet dann im allgemeinen eine Auswirkung der Frage 
zu einem entsprechenden Wollen statt, zu der Einstellung 

E», dem Willen, festzustellen... 

Daraus ergibt sich die Feststellung: 

F»: a, welches kleiner als b ist, ist auch kleiner 
als das durch Vergrößerung von b entstandene 
c; a größer als c. 

Diese Feststellung ist analytisch aus der gedanklichen Syn- 
these F} entwickelt, genauer gesagt: sie ergibt sich durch Ein- 
engung der Gedankenentwicklung durch die Einstellung E» 
und die zu beurteilende gedankliche Synthese Pih, und zwar 
durch maximale, 


Ergebnisse, 


Überblicken wir die gesamten Schritte, welche in dieser 
Schlußweise, die ich als Op. II der Schlüsse mit räumlichen Be- 
ziehungen, zeitlichen Beziehungen, den Beziehungen größer- 
kleiner bezeichnete, so finden wir viele Anklänge an Op.IIl 
und Op.IV. 

Ich möchte auf folgende Punkte hinweisen: 

I. Die Bedeutung der Frage in unseren Denk- 
operationen wird hier in eigenartige Beleuch- 
tung gerückt. 

Aristoteles bezeichnete das Urteil als Satz mit Behauptung, 
die Frage als Satz ohne Behauptung. Man könnte geneigt sein, 

4% 


52 G. Störring, 


die Fragen in solcher Weise zu den Urteilen in Gegensatz gu 
setzen, daß man ihre Entwicklung ganz auf das Konto der 
intellektuellen Phantasietätigkeit setzt. Das würde nicht der 
Erfahrung widerstreiten, daß die Frage im wissenschaftlichen 
Betrieb häufig von großer Bedeutung für die Weiterentwick- 
lung der Forschung ist, da ja die intellektuelle Phantasie doch 
sicherlich bei genialen Konzeptionen eine dominierende Rolle 
spielt. 

Wir können hier die Abhängigkeitsbeziehungen einer pro- 
duktiven Frage deutlich aufweisen. 

Die Frage, »Was läßt sich von a sagen, welches kleiner als 
b ist, in bezug zu c, welches dagegen durch Vergrößerung von 
b entsteht?« tritt uns hier entgegen als eine Kombination der 
gedanklichen Synthesis der Prämissen zu einem einheitlichen 
Ganzen, der Feststellung F,,: »beim Übergang von b zu a ver- 
mindert sich die Größe, dagegen beim Übergang von dem- 
selben b zu a kommt etwas an Größe hinzu« mit der Frage 
nach den Beziehungen von a zu c, welche in den Willen ein- 
geschlossen ist, die Größen a und c aufeinander zu beziehen. 

Die in Diskussion stehende Frage ist also 
offenbar kein psychisches Gebilde, welches mit 
Urteilen nichts zutun hat, sondern sie setztein 
Urteilvoraus, nämlich dasin dersynthetischen 
Feststellung Fẹ gegebene Urteil! 

Dazu schließt diese Frage auch noch ein Ur- 
teil ein, nämlich das Urteil, daß diese Frage 
zweckmäßig ist. | 

Und sieht man sich näher die Frage nach der Beziehung 
von a zu c an, So findet man, daß auch diese Frage wieder 
ein Urteil voraussetzt, nämlich das Urteil, daß a und c im 
Schlußsatz aufeinander zu beziehen sind. 

II. Ich möchte sodann hier darauf hinweisen, daß uns hier 
ein schöner Fall entgegentrat, wo eine ohne Zweifel geschickte 
Einstellung nicht unmittelbar zum Erfolg führte, ein Fall, an 
dem man sieht, wie solche Einstellungen Reproduktionsprozesse, 
Erinnerungen und Fragestellungen anregen, die dann wieder zu 
einer neuen Einstellung führen, welche unmittelbar realisierbar 
ist und die Bedingungen erfüllt zur Realisierung der ersteren 
Einstellung. 

III. Wenn man diejenigen Operationsweisen, bei denen sich 
die Entwicklung des Schlusses auf Grund des Setzens von 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 53 


Beziehungen zwischen den Beziehungen der Prämissen vollzieht, 
also Op. II, UI IV miteinander vergleicht, so ergibt sich 
folgendes: 

Bei Op. IV superponiert sich über der Feststellung des Fort- 
schreitens nach derselben Richtung ein Vergleichungs- 
prozeß: es wird das letzte Beziehungsglied, bei dem man an- 
gekommen ist, der termius minor, mit den vorangegan- 
genen auf Grund der Feststellung des Fort- 
schreitens nach derselben Richtung verglichen 
und als am weitesten in dieser Richtung liegend charakterisiert 
(als Größtes, als Kleinstes usw.). Aus dieser synthetischen 
Charakteristik der Beziehungen ergibt sich dann 
durch Feststellung des Anfangsgliedes des Beziehungsetzens die 
Beziehung des termius minor zum termius major. 

Bei Op. II superponiert sich über der Feststellung des Gegen- 
satzes der in den Prämissen gesetzten Beziehungen und einer 
Synthesis der entgegengesetzten Prämissenbeziehungen fol- 
gender Vergleichungsprozeß: Der terminus minor mit 
der Eigenschaft, daß von ihm die und die Beziehung zum 
terminus medius gilt (etwa die Kleiner-Beziehung), wird ver- 
glichen mit dem terminus major von der Eigenschaft, daß er 
in der entgegengesetzten Beziehung zum Mittelbegriff steht 
(Größer-Beziehung). Also in den Größer—Kleiner-Beziehungen 
ausgedrückt: der terminus minor, von dem gilt, daß er kleiner 
als der terminus medius ist, wird verglichen mit dem terminus 
major, von dem gilt, daß er größer als der terminus medius ist. 
Daraus ergibt sich, daß der terminus minor erst recht kleiner 
als der terminus major ist. Die Ausführung des Vergleichs- 
prozesses ergibt also unmittelbar den Schlußsatz. 

Bei Op. EI superponiert sich über der Beachtung der 
Gleichheit der in den Prämissen gesetzten Beziehungen ein 
Prozeß der Vergleichung derart, daß das, was vom 
terminus minor gilt, verglichen wird mit dem, was vom ter- 
minus medius gilt. Man kommt zu dem Resultat, daß das, was 
vom terminus medius gilt, auf Grund der Gleichheit der Be- 
ziehungen, auch vom terminus medius gilt. Aus dieser Syn- 
these der Beziehungen ergibt sich dann analytisch die Be- 
ziehung des terminus minor zum terminus major. 

In allen diesen Fällen ist das Gemeinsame enthalten, daß über 
einer Feststellung der Beziehungen zwischen den 
Prämissenbeziehungen (Gleichheits- oder Gegensatz- 


54 G. Störring, 


beziehung) sich superponiert eine Synthesis der Prä- 
missenbeziehungen und ein Vergleichungsprozeß, 
der sich auf die im Schlußsatz aufeinander zu beziehenden, in 
solchen und solchen Beziehungen stehenden Größen unmittel- 
bar oder mittelbar richtet. 


85. Schlüsse mit Gattungsböziehungen in beiden Prämissen 
und einfachem Einsetzungsverfahren. 


Wir wenden uns jetzt zur Untersuchung von Schlüssen mit 
einfachem Einsetzungsverfahren bei Schlüssen mit Gattungs- 
beziehung in beiden Prämissen. 


Nehmen wir die Prämissen: 
c gehört zur Gattung a 
a gehört zur Gattung b 
Also: S ae Roi 
Zunächst berichten wir über die Protokolle. 


Bei Auffassung der ersten Prämisse wird die Gattungs- 
beziehung durch Umfangsbeziehung verdeutlicht: »c gehört zur 
Gattung a« heißt: c, dem unbestimmt viele Exemplare zu- 
kommen, gehört in den Umfang des a hinein (Vorstellung kon- 
zentrischer Kreise angedeutet), ist ein Teil von a. Die zweite 
Prämisse »a gehört zur Gattung b« wird in ähnlicher Weise 
durch Umfangsbeziehung verdeutlicht unter Verwendung der 
sich ungewollt darbietenden Vorstellung konzentrischer Kreise. 


Nach Auffassung der Prämissen und Identifikation der 
Mittelbegriffsgrößen macht sich die Tendenz wieder deutlich 
geltend, einen Schluß zu ziehen. Vp. erinnert sich daran, daß 
sie früher bei Gattungsschlüssen mit Vorteil eine Zusammen- 
ziehung der Prämissenbeziehungen in einem Satz vollzogen 
hat und sucht auch hier so zum Ziel zu kommen. Es werden 
nun die Prämissen nochmals gelesen, in einzelnen Fällen bei 
nicht genügender Konzentration noch ein weiteres Mal. Vp. 
sagt sich bei Auffassung der zweiten Prämisse: »a gehört zur 
Gattung b«: a, diese a, zu denen als Teil c gehört, gehören zur 
Gattung b«. 


Dann sucht Vp. eine Beziehung zwischen den in den Prä- 
missen noch nicht aufeinander bezogenen Größen festzustellen. 
Als diese Größen ergeben sich c und b. Aus der sprachlich ver- 
mittelten Zusammenfassung der Beziehungsgedanken wird der 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 55 


Schlußsatz durch Abstraktion von einem Teil der Beziehungen 
unter Anlegung des gewonnenen Gesichtspunktes »abgelesen«. 

Betrachten wir jetzt diesen Schlußprozeß vom kausalen Ge- 
sichtspunkt aus. 

Die Auffassung der Prämissen vollzieht sich also, wie wir 
hörten, indem bei der Gattungsbeziehung an den Umfang ge- 
dacht wird. Die Feststellung 
F sie lautet: »c, dem unbestimmt viele Exemplare zu- 
kommen, gehört in den Umfang von a hinein, ist 

ein Teil von a«; 
die Feststellung 
Fum lautet: »a gehört in den Umfang von b hin- 
ein, ist ein Teil von b«. 

Mit der Auffassung vollzieht sich, wie gewöhnlich, Identi- 
fikation (Fo). Nach Realisierung der Einstellung E, macht 
sich infolge Aufhebung der derivativen Hemmung Einstellung 
E, wieder geltend. Die Einstellung E, wirkt nun zusammen mit 
der Erfahrung über Zweckmäßigkeit der Zusammenziehung der 
Prämissengedanken in einen Satz reproduzierend auf den Ge- 
danken an diese Zusammenziehung. Dieser Gedanke verbindet 
sich mit dem Bewußtsein der Zweckmäßigkeit (F). So ent- 
steht die Einstellung 
E, = Wille, die Beziehungen der beiden Prä- 

missen in einen Satz zusammenzufassen. 

Es erfolgt erneute Konzentration auf die Prämissen; sie 
werden nochmal gelesen und aufgefaßt unter Nachwirkung von 
Fiaa und Fiag- Zuweilen wird dieses Lesen und Auffassen 
der Prämissen nochmal wiederholt. Entweder bei der ersten oder 
zweiten Wiederholung vollzieht sich dann folgender Prozeß: 
erste Prämisse »c gehört zur Gattung a«, d.h. c gehört in den 
Umfang der a hinein, ist ein Teil der a. Zweite Prämisse »a 
gehört zur Gattung b«: a, diese a, zu denen als Teil 
c gehört, gehören zur Gattung b (F,). 

Nach Realisierung der Einstellung E, macht sich jetzt 
durch das Wirken uns bekannter Ursache die Einstellung E, 
wieder geltend. Durch die zusammenfassende Feststellung F, 
und die Einstellung E, wird die Erinnerung wachgerufen, daß 
die nicht bezogenen Größen aufeinander zu beziehen sind, und 
nun entsteht die Einstellung 
E,=- Wille, die nicht bezogenen Größen aufein- 

ander zu beziehen. 


56 G. Störring, 


Die Einstellung E, löst auf früher von uns näher bezeichnete 
Weise die Heraushebung voncundb aus mit nach- 
träglicher Anerkennung Fæ. Es tritt nun eine Modi- 
fikation der Einstellung Es durch die Feststellung Fos in die 
Einstellung 


E ein: Wille, die Beziehung der Größen c und b 
in F, festzustellen. 


Es erfolgt Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Fest- 
stellung F, unter dem Gesichtspunkt von Einstellung E,,. Es 
wird von beiden Seiten eingeengt der Gedanke entwickelt: »c 
gehört zur Gattung k«. F} 


Ergebnis. 


Dieser Schlußprozeß mit Einsetzung des terminus minor 
neben den terminus medius des Obersatzes bietet gegenüber 
den früheren Operationen das Eigentümliche dar, daß hier 
eine Synthesis der Beziehungsgedanken der Prä- 
missen durch eine bestimmte Art von sprach- 
licher Zusammenziehung in einen Satz ver- 
mittelt wird. 


Wir haben bisher 3 Arten der Synthesis in dem Schluß 
eine Rolle spielen sehen: 


l. eine mechanische Synthesis der Prämissen- 
beziehung in einen anschaulichen, meist räumlichen 
Gesamttatbestand, der außer bei Schlüssen mit räum- 
licher Beziehung als repräsentativ aufgefaßt wird, ohne 
daß dabei auf die Beziehung zwischen den Prämissen 
geachtet wird; Schluß durch sogenantes »Ablesen« 
auf Grund dieser Synthesis; 

die mechanische Synthesis kann sich mit Beachtung 
der Beziehungen zwischen den Beziehungen verbinden; 

2. eine gedankliche Synthese der Prämissenbezie- 
hungen auf Grund der Feststellung der Beziehungen 
zwischen den Beziehungen, wobei der Schluß aus 
dieser gedanklichen Synthesis und Ver- 
gleichung entwickelt wird; 

3. eine sprachlich vermittelte Synthesis der 
Prämissenbeziehungen, wobei der Schluß unter Ab- 
straktion durch »Ablesen« entwickelt wird, jedoch ohne 
Zurückübersetzung repräsentierender in repräsentierte 


Allgemeine Bestimmungen tiber Denkprozesse usw. 57 


Beziehungen. Die sprachliche Synthese verwertet primär 
ein Beziehungsetzen zwischen term. minor und term. 
medius (vgl. Op. III) und vermittelt sekundär eine ge- 
dankliche Synthese. 


86. Schlüsse mit Gattungsbeziehungen in beiden Prämissen 
und komplexerem Einsetzungsverfahren. 


Eine zweite Art des Einsetzungsverfahrens, die bei Schlüssen 
mit Gattungsbeziehungen in beiden Prämissen vollzogen wird. 
bespreche ich an der Hand des ersten Falles, in dem bei einer 
bestimmten Vp. diese Schlußweise auftrat. Es wurden Vp. F 
die Prämissen exponiert: 

Alle i gehören zur Gattung o 
Alle z gehören zur Gattung i 
— Alor 2. 5 0 y e 
Für die Auffassung der ersten Prämisse ist kein Repräsentant 
angebbar. Dann ging Vp. zur zweiten Prämisse über und las 
valle z«. Während des Weiterlesens von hier aus sprang der 
Biick nach dem zweiten i hinüber. »Um deutlich beobachten 
zu können«!) las Vp. die zweite Prämisse, ohne auf die erste 
zu blicken, dreimal. Innerlich sagte Vp. sich nun: was fängst 
du mit dieser Angabe an? Du mußt sie doch zur ersten Prä- 
misse in Beziehung setzen. Wie machst du das? Vp. fragte 
sich dann, wo in der ersten Prämisse von i die Rede sei (1). 
Dabei fand sie die Stelle »alle i«. Vp. ging nun weiter aus von 
der Erkenntnis, daß die z zu den i gehören, und sagte sich, 
daß also z für »alle i« »einzusetzen« sei. Während dieses Vor- 
gehens dachte Vp. nicht an Gattung o und sah auch nicht die 
Schriftzeichen »Gattung ox des exponierten Zettels. Als sich 
die Einsetzung vollzogen hatte, sah Vp. »Gattung o«, Bewußt- 
sein der Sicherheit. 

Über die Auffassung der ersten Prämisse ist in diesem 
einzelnen Falle nichts Näheres gesagt. Die zweite Prämisse 
wird dreimal gelesen. Sie wird isoliert von der ersten 
Prämisse betrachtet infolge der mehrfachen Wiederholung — 


1) Diese Absicht hat sich nicht auf Grund einer Anweisung des Ex- 
perimentators entwickelt, sondern weil Vp. wußte, daß sie ein genaues Referat 
zu geben hatte. Es wurde vom Experimentator wiederholt beim Referat über 
solches Vorgehen darauf hingewiesen, daß die Absicht zu beobachten während 
des Versuchs auf die Prozesse störend wirke. 


58 G. Störring, 


in scharfem Gegensatz zu dem Verfahren bei der im vorher- 
gehenden § 5 charakterisierten Art der Einsetzung. Eine Folge 
wieder dieser Isolierung der zweiten Prämisse gegenüber der 
ersten Prämisse ist, daß die Rolle des in in der ersten Prä- 
misse der Vp. nicht präsent bleibt. Nun entsteht Ratlosigkeit. 
Also mehrfache Wiederholung bedingt isolierte Auffassung, 
letztere Ratlosigkeit: »was fängst du nun mit dieser Angabe an? 
Du mußt sie doch zu der ersten in Beziehung setzen. Wie 
machst du das?« 

Die Äußerung »du mußt sie doch zu der ersten in Beziehung 
setzen« zeigt, daß sich die Einstellung E, wieder geltend macht 
und daß sich die Einstellung 
E, = Wille, die zweite Prämisse zur ersten Prä- 

misse in Beziehung zu setzen, 
entwickelt. 

Die Entstehung dieser Einstellung scheint hier-so bedingt 
zu sein, daß das Wiederauftreten der Einstellung E, und die 
eben vollzogene Auffassung der Prämissen auf Grund der Tat- 
sache, daß früher bei anderen Schlußprozessen in ähnlicher 
Situation Verfahrungsweisen realisiert wurden, die eine Zu- 
sammenfassung der Prämissenbeziehungen herbeiführten, der Ge- 
danke reproduziert wird, daß beide Prämissen aufeinander be- 
zogen werden müssen. 

Die Einstellung E, löst nun zunächst eine die Vergegen- 
wärtigung der ersten Prämisse begünstigende Erinnerung 
aus: »i kommt auch in der ersten Prämisse vor.« Durch die 
Einstellung E, und diese Erinnerung ist bedingt die Frage: 
»wo ist in der ersten Prämisse von i die Rede?« 

Diese Frage selbst bedingt bei dem von der Einstellung E, 
abhängigen Interesse für Beantwortung dieser Frage die neue 
Einstellung 
E;= Wille, festzustellen, wo bei der ersten Prä- 

misse von idie Rede ist. 
Dieser Wille löst-eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf 
die erste Prämisse aus — natürlich nicht auf assoziativer 
Grundlage, sondern unmittelbar! Vp. fand dann die Stelle 
»alle i« und macht daraufhin die Feststellung 
Fog: von i wird dort etwas ausgesagt (das liegt im 
Beachten der Stelle von »alle i«!). 

Diese Feststellung F œ aber, daß von i etwas ausgesagt 

wird, bedingt, da ja die Beziehung von z zu i im Vordergrund 


Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse usw. 59 


des Bewußtseins steht und da z und i durch Auffassung der 
zweiten Prämisse als in inniger Beziehung zuein- 
ander stehend aufgefaßt werden, das Aufwerfen der 
Frage, ob sich auch von z aussagen lasse, was 
von i ausgesagt wird. 


Von dieser Frage ist nun, da ein Interesse für die Beant- 
wortung vorliegt, anzunehmen, daß sich auf sie ein Streben, 
sie zu beantworten, gründet. 

Wir würden es dann zu tun haben mit der Einstellung 


E,=- Wille, festzustellen, ob auch von z gilt, was 
voni gilt. 

Diese Einstellung löst an der Hand der Auffassung der 
zweiten Prämisse »i ist ein Teil von z« die Feststellung F, aus: 
»was von allen i gilt, gilt auch von einem Teil 
derselben«. 


Nach Realisierung der Einstellung E, macht sich der mit 
der Verarbeitung dieser Materie assoziativ verbundene Gedanke 
an die Einstellung E, wieder geltend. Sie löst zusammen mit 
der Feststellung F, den Einsetzungsprozeß der z für 
die i aus. Nach seinem Vollzug bedingt die Einstellung E, 
die Feststellung | 

F,: z gehört zu Gattung o. 


Bemerkungen. 


I. In interessanter Weise stellen sich in diesem Schluß- 
prozeß die Fragen dar. 


Die Frage: »wo ist in der ersten Prämisse von i die Rede ?%« 
dient zur Bestätigung des früher über Fragen Festgestellten! 
Sie setzt ein Urteil voraus: nämlich das Urteil: i kommt 
auch in der ersten Prämisse vor. Sie schließt sodann ein Urteil 
ein: das Urteil, daß die Beantwortung der Frage für die 
Gedankenentwicklung wahrscheinlich von Bedeutung ist. 


Neues gegenüber dem früher über Fragen Festgestellten er- 
gibt die Frage: »Läßt sich auch von z aussagen, was sich von i 
aussagen läßt?« Sie gründet sich auf die Urteile, daß über i 
etwas ausgesagt wird und daß z und i in inniger Beziehung 
stehen. Worauf es uns aber ankommt, ist dies, daß diese Frage 
eine Analogiebetrachtung darstellt, indem in der Frage 
die Vermutung ausgesprochen, daß das, was von i gilt, auch 
von dem ihm ähnlichen z gilt! 


60 G. Störring, Allgemeine Bestimmungen über Denkprozesse. 


II. Bei der hier vollzogenen Einsetzung ist im Protokoll 
nicht von einer Notwendigkeit des intellektuellen Tuns die 
Rede; über die Art der Notwendigkeit ist überhaupt nichts 
ausgesagt. In anderen ähnlichen Fällen spricht diese Vp. von 
einer Notwendigkeit des »Sotunmüssens«. Unter meinen Vpn. 
ist eine, bei der ich nie diese Art der Notwendigkeit habe 
konstatieren können; bei dieser Vp. finde ich am häufigsten 
eine objektive Wendung des Notwendigkeitsgedankens, Fest- 
stellung der Tatsächlichkeit, und dabei ein häufiges Auftreten 
von Identitätsgefühlen und Identitätsurteilen, welche sich auf 
die Behauptung der Übereinstimmung des Festgestellten mit 
dem gegebenen Tatbestand beziehen. Vielleicht faßt diese Vp. 
in Fällen wie diesem nicht so sehr die Betätigung als den durch 
dieses Tun zustandegebrachten Tatbestand ins Auge. 

III. Während die einfachere Einsetzung die in einer Prämisse 
vollzogene Feststellung der Beziehung zwischen term. minor und 
term. medius zu einer sprachlich vermittelten Synthese verwertet 
(»alle i mitsamt den z gehören zur Gattung o«), superponiert 
sich hier über dieser Feststellung eine Vergleichung von 
term. minor mit term. medius in bezug auf das, 
was vom term. medius gilt. 

Die Verwandtschaft mit Op. III ist hier noch größer. Hier 
wie in Op. III führt eine Vergleichung zu dem Urteil: »was vom 
term. medius gilt, gilt auch vom term. minor«, also hier gründet 
sich das Resultat nicht auf Gleichheitssetzung der Beziehungen 
der Prämissen. 


(Eingegangen am 17. Februar 1925.) 


Über die Vergleichung linearer Strecken und ihre 
Beziehung zum Weberschen (Gesetze. 


Von 
F. Kiesow. 





Erste Mitteilung. 


Die vorliegende Untersuchung ist dem Wunsche entsprungen, 
angesichts der Einwände, die neuerdings gegen die Gültigkeit 
des W-eb er schen Gesetzes erhoben wurden, zu weiteren eigenen 
Überzeugungen zu gelangen. Die Untersuchung zerfällt in zwei 
Teile. Während der erste die Gesetzmäßigkeiten zum Gegen- 
stande hat, welche bei der Gleicheinstellung von Raumstrecken 
zutage treten, ist im zweiten versucht worden, für die gleichen 
Strecken die Unterschiedsempfindlichkeit zu bestimmen, sowie 
die Beziehung, in welcher die letztere zu den Vorgängen der 
Gleicheinstellung steht. In dieser ersten Mitteilung wird über 
die Prüfungsergebnisse des ersten Teiles der Untersuchung 
berichtet. 


Bei diesen Prüfungen hat mir ausschließlich meine Frau 
als Versuchsperson gedient. Die Beobachterin ist eine geschickte 
Zeichnerin, die zu ihrem eigenen Vergnügen viel kopiert hat. Sie 
verfügt somit über ein geübtes Auge. Doch ward das Interesse 
an dieser wertvollen Mitarbeit bei mir noch dadurch gesteigert, 
daß die Versuchsperson dem negativen Typus angehört, d. h. 
daß bei ihr eine ausgesprochene Neigung vorherrscht, den zu 
beurteilenden Gegenstand um ein Geringes zu unterschätzen. 
Ich selbst sehe in dieser Neigung eine persönliche Veranlagung, 
die wie die entgegengesetzte, der man bei anderen Personen 
begegnet, noch der näheren Aufklärung bedarf. 


62 F. Kiesow, 


Dem Vorstehenden ist hinzuzufügen, daß die Beobachterin 
den eigentlichen Zweck der Untersuchung nicht kannte, und 
daß ihr auch die Einzelheiten der in Frage stehenden Gesetz- 
mäßigkeit sowie die Kontroversen, um welche sich die Dis- 
kussion in der Gegenwart dreht, fremd sind. Sie hat sich in 
jedem einzelnen Falle der Beurteilung der vorgelegten Gegen- 
stände mit Aufmerksamkeit hingegeben, ohne dabei an irgend- 
welchen Nebenzweck zu denken. Auch ist an sie niemals eine 
Frage gerichtet worden, die irgendwie suggestiv hätte wirken 
können. Wenn der Versuchsperson während der Beobachtungen 
etwas Besonderes aufgefallen war, so fügte sie dies dem ab- 
gegebenen Urteil spontan hinzu. 

Die Versuche sind während der letzten Monate durchgeführt 
worden. Es sei aber hervorgehoben, daß die Beobachtungen von 
Anfang bis zu Ende zu immer gleichen Tageszeiten angestellt 
wurden. Es waren freie Halbestunden, in denen die Beobachterin 
keine Anzeichen von Ermüdung an sich bemerken konnte. Wir 
arbeiteten regelmäßig gegen 3 Uhr nachmittags bei gutem Tages- 
licht und an den Abenden gegen 8 Uhr bei guter elektrischer Be- 
leuchtung. Es versteht sich von selbst, daß, wo an den Abenden 
zuweilen ein gewisser Grad von Ermüdung auftrat, die Reihen 
abgebrochen und nicht verwertet wurden. Die Beobachterin 
gab in solchen Fällen selbst an, daß ihr Zweifel an der Richtig- 
keit der Bestimmungen kämen und bat, die Versuche abzu- 
brechen. Sonst ist jedoch kein einziger der zahlreichen Werte, 
die gewonnen wurden, gestrichen worden. 

Ich bemerke ferner, daß den endgültigen Bestimmungen 
Übungsversuche voraufgingen, die so lange währten, bis die 
Ergebnisse eine relative Konstanz zeigten. Erst von diesem 
Zeitpunkte an sind sie verwertet worden. Man ersieht diese 
relative Konstanz aus den unten eingefügten Tabellen, in 
welche ich für jede der verwandten Normalstrecken die mittlere 
Fehldistanz aus je 20 Beobachtungen nebst anderen Be- 
stimmungen zusammengestellt habe. Die Einübung war not- 
wendig, weil die Versuchsperson Beobachtungen wie die vor- 
liegenden bisher niemals ausgeführt hatte. 

Schließlich sei noch erwähnt, daß die Augen der Versuchs- 
person normalsichtig sind. Sie trägt keine Brille. 

Das sind die allgemeinen Bedingungen, unter denen die 
Versuche angestellt wurden. Alles weitere ergibt sich aus dem 
folgenden. 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 63 


Zugrunde liegt dieser Arbeit die .Methode der mitt- 
leren Fehler, von Wundt in der neuesten Auflage seines 
individualpsychologischen Hauptwerkes zutreffend als »Me- 
thode der Gleicheinstellung« bezeichnet!). Die Me- 
thode ist mehrfach diskutiert worden?). Sie ist im vorliegenden 
Falle in einer von dem Fechnerschen Verfahren abweichen- 
den Form verwandt worden, insofern für die Berechnung nicht 
der mittlere variable Fehler, in dessen reziprokem 
Wert Fechner ein Maß für die Untersckhiedsempfindlichkeit 
sah, sondern der nach Eliminierung des Raumfehlers zurück- 
bleibende eigentliche oder »wahre konstante Fehler« benutzt 
ward. Wundt hat gezeigt, daß dieser Wert der Schätzungs- 
differenz entspricht, die man bei der Methode der Minimal- 
änderungen gewinnt, obwohl derselbe wegen der ungleichen 
Versuchsbedingungen etwas verschieden von der letzteren aus- 
fallen muß°®). In diesem Sinne ist die Methode derzeit auch von 
Oswald Külpe beschrieben worden +). 

‚ Die Aufgabe, welche ich mir in dem ersten Teile der gegen- 
wärtigen Untersuchung gestellt habe, besteht somit nicht darin, 
für bestimmte lineare Strecken den genauen Wert der Unter- 
schiedsempfindlichkeit zu ermitteln, sondern darin, zu erfahren, 
bis zu welchem Grade sich bei der Gleicheinstellung solcher 
Strecken eine Gesetzmäßigkeit bewahrheitet, welche der, die 
in dem umstrittenen Weberschen Gesetze zum Ausdruck kommt, 
analog ist. Die Aufgaben sind nicht identisch. Sie können es 
nicht sein, weil in beiden Fällen verschiedene seelische Funk- 
tionen in Frage kommen. Es ist ein anderes, ob ich mich auf 
die subjektive Gleichheit zweier Strecken konzentriere, oder ob 
ich die Aufmerksamkeit auf den ebenmerklichen Größenunter- 
schied einstelle. Dabei versteht sich von selbst, daß beide Ver- 
fahrungsweisen in einer gewissen Beziehung zueinander stehen 
müssen. Da wir auf diese Beziehungen im zweiten Teile dieser 
Arbeit zurückkommen, so mag es genügen, hier daran zu er- 


1) W.Wundt, Grundzüge der physiol. Psychologie I®, S. 595, 1908. 

2) G. Th. Fechner, Revision der Hauptpunkte der Psychophysik, S. 104, 
1882. — H. Higier, Philos. Stud. VIL S. 232, 1892. — J. Merkel, Philos. 
Stud. IX, S. 53, 176, 400, 1894. — G. E. Müller, Die Gesichtspunkte und 
die Tatsachen der psychophysischen Methodik, S. 190, 1904. — W. Wirth, 
Psychophysik, S. 264, 1912. 

3) W. Wundt, a a. O. S. 595. 

4) 0. Külpe, Grundriß der Psychologie, S. 78, 1893. 


64 F. Kiesow, ` 


innern, daß auch Müller mit Recht in der »nach den Vor- 
schriften Fechners gehandhabten Methode der mittleren 
Fehler nichts anderes als eine Benutzung der Herstellungs- 
methode zur Bestimmung äquivalent erscheinender Reize« er- 
blickt5). 


Manche Forscher sind der Ansicht, daß die Methode in 
zweckentsprechender Weise nur Verwendung finden kann, wenn 
Versuchsperson und Experimentator in einer Person vereinigt 
sind. So liest maß bei Külpe: »Bisher ist die Methode der 
m. F. nur auf die Reizvergleichung angewandt worden, man 
kann daher nicht einmal über ihre Verwendbarkeit für die 
Unterschiedsvergleichung mehr als die Möglichkeit einer solchen 
aussagen. Außer dieser Beschränkung, die die Methode der 
m. F. in bezug auf das mit ihr zu erreichende Ziel erleidet, 
ist sie ferner nur da zu benutzen, wo man mit genügender 
Sicherheit und Leichtigkeit Experimentator und Beobachter in 
einer Person sein kann®).« In dieser letzten Behauptung liegt 
aber ein Irrtum vor. Daß die Methode in derartigen Fällen 
unter gegebenen Bedingungen tatsächlich zu vorzüglichen Re- 
sultaten führen kann, unterliegt keinem Zweifel. Dies hat 
auch die unlängst von Dr. Gatti»über die Schätzung 
des Mittelpunktes in einigen ebenen geome- 
trischen Figuren« veröffentlichte Untersuchung aufs 
neue erwiesen?). Aber trotzdem ist es nicht richtig, wenn man 
meint, daß die Methode ausschließlich in solcher Anwendung 
zu brauchbaren Ergebnissen führen kann. Aus Erfahrungen, 
die ich in dem mir unterstellten Institut gewinnen konnte, 
kann sie so angewandt für den Enderfolg unter Umständen so- 
gar von nachteiliger Wirkung sein. Und das namentlich, wo 
es sich um eine große Anzahl von Einzelbestimmungen handelt. 
Ich hatte zwei Institutsmitglieder beauftragt, an sich selber 
Versuche ähnlicher Art anzustellen wie die, welche unten be- 
schrieben sind. Bei diesen Versuchen mußten sie demnach zu- 
gleich Experimentator und Beobachter sein. Aber beide Per- 
sonen haben mir nach einiger Zeit unabhängig voneinander mit- 
geteilt, wie sie an sich bemerkt hätten, daß die Bewegungen, 


5) G.E. Müller, a. a. O. S. 1%. 
6) 0. Külpe, a a. 0. S. 78. 
T) A. Gatti, Archivio Italiano di Psicologia III, 4, S. 227, 1924. 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 65 


durch welche die Gleicheinstellungen erfolgten, allmählich me- 
chanisiert würden, so daß die Schätzung dadurch beeinträchtigt 
ward und sie sich daher in der Ausführung der Versuche 
nicht mehr sicher fühlten. Nach diesen Erfahrungen konnte 
ich mich nicht entschließen, die Versuche von meiner Be- 
obachterin allein ausführen zu lassen. Ich hoffe zeigen zu 
können, daß die Untersuchung bei der Getrenntheit von Ver- 
suchsperson und Experimentator zu durchaus einwandfreien Er- 
gebnissen geführt hat. Dazu kommt ein anderes. In Fällen 
wie der gegenwärtige, wo eben eine sehr große Anzahl von 
Eınzelbestimmungen in Frage kommt, dürfte es schier un- 
möglich sein, die Messungen erst nach Beendigung sämtlicher 
Abschätzungen vorzunehmen. Kennt aber der Beobachter in 
jedem Falle genau die Länge der Normalstrecken und die be- 
gangenen Fehler, so dürfte es nach unserer ganzen seelischen 
Anlage und den Gesetzen, welche das Bewußtsein beherrschen, 
wiederum schier unmöglich sein, von den gewonnenen Daten 
gänzlich abzusehen. Wie sehr sich der Beobachter bemühen 
mag, dies zu tun, so dürfte es ihm kaum gelingen. Die ein- 
mal erkannten Fehldistanzen werden bei den nachfolgenden 
Bestimmungen ihren Einfluß geltend machen. Anders liegt die 
Sache natürlich, wenn die Anzahl der Beobachtungen eine ge- 
ringe ist und die Berechnungen erst nach Beendigung aller 
Versuchsreihen vorgenommen werden können. Meine Beob- 
achterin kannte weder die wirkliche Länge der dargebotenen 
Normalstrecken noch irgendeinen der numerisch bestimmten 
Werte. Sie kennt sie auch heute nicht. Da der zweite Teil 
dieser Prüfungen noch nicht beendet ist, so verstand sie ohne 
weiteres, daß es besser sei, sie vor dem Abschluß der ganzen 
Untersuchung über ihre Schätzungsfähigkeit nicht aufzuklären. 

Bezeichnen wir nach dem Dargelegten die mittlere Fehl- 
distanz mit Fm, die Normalstrecke mit N und den eigentlichen 
konstanten Fehler mit C, so würde sich ergeben: Fn—N=C, 
und es würde nach Analogie des W.eberschen Gesetzes zu 
fordern sein: © = konstant, Nach diesem Prinzip sind die aus 
den vorliegenden Prüfungen resultierenden Bestimmungen be- 
handelt worden. Für die Berechnung des wahrscheinlichen 
Fehlers habe ich, um das zeitraubende und leicht zu Rechen- 
fehlen Anlaß gebende Quadrieren der einzelnen Differenzen 
zu vermeiden, nicht die bekannte Gausssche, sondern die 

Archiv für Psychologie. LII. 5 


66 F. Kiesow, 


0,8453 24 

n pyn — 0,42921 
der einzelnen Fehldistanz von der mittleren Fehldistanz und 
n die Anzahl sämtlicher Beobachtungen bezeichnet 8). 


Man kann den konstanten Fehler C natürlich auch be- 
rechnen, indem man die Summe der positiven Fehldifferenzen 
von der der negatıven oder umgekehrt abzieht und den Rest 
durch die Anzahl der Einzelfälle dividiert. Fechner?) hat 
gezeigt, wie man dann zu der Z4 gelangen kann. Aber da 
auf Grund der hervorgehobenen Veranlagung der Beobachterin 
in der gegenwärtigen Untersuchung Überschätzungen erst von 
einer Normaldistanz von 60 mm an und dann auch nur in ver- 
hältnismäßig geringer Anzahl vorkamen, so würde eine solche 
Art der Berechnung hier kaum eine Zeitersparnis gewesen 
sein. Sie ist deswegen unterblieben. 


Formel w= benutzt, in der 4 die Differenz 


Als Normal- und Vergleichsstrecken dienten bei dieser Unter- 
suchung nicht, wie vielfach üblich, leere Raumstrecken, die 
auch Fechner benutzte, sondern, wie schon im Titel hervor- 
gehoben, Linien. Sie waren mit tiefschwarzer Tusche auf 
weißen Papierblättern von stets gleicher Qualität gezeichnet 
und hatten eine Breite von ungefähr !/, Millimeter. Diese 
Linien wurden in horizontaler Lage vorgelegt. Sie lagen nicht 
übereinander, sondern die eine befand sich rechts bzw. links 
neben der anderen. Der Abstand der Linien voneinander war 
dadurch gegeben, daß die Papierblätter, auf deren Mitte sie 
gezogen waren, mit den Rändern aneinander stießen. Die 
Breite dieser Blätter betrug konstant zirka 8 Zentimeter. 
Ihre Länge wechselte je nach der Länge der Linien. — 
Als Normalstrecken benutzte ich Linien, deren Länge von 
10 bis 100 Millimeter, und zwar in Abständen von 10 
Millimeter variieren, so daß im ganzen 10 Normalstrecken 
beurteilt wurden. Die Vergleichsstrecken waren entsprechend 
länger. Bei unseren Versuchen ist jedoch keine mechanische 
Vorrichtung irgendwelcher Art benutzt worden. Ich bedeckte 
die Vergleichsstrecke zweckentsprechend mit einem freien 
Papierblatt von gleicher Qualität und gleicher Breite und schob 
dieses, je nachdem es sich um allmähliche Vergrößerung oder 


8) Vgl. J. Merkel, a.2.0. S. 58. — G.E. Müller, 2.2.0. S. 19. 
9) G. Th. Fechner, a. a. O. S. 106. 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 67 


Verkleinerung dieser Strecke handelte, mit beiden Händen lang- 
sam und möglichst gleichmäßig vor- oder rückwärts, bis die 
Versuchsperson, welche der Bewegung mit den Augen folgte, 
dieselbe mit einem Finger anhielt, um die feinere Einstellung 
dann eventuell selbst zu bewerkstelligen. Es sind bei dieser Ver- 
suchsanordnung somit in gewissem Sinne die beiden Ver- 
fahrungsweisen vereinigt worden, welche W.undt früher als 
»mittelbares« und »unmittelbares«, in der letzten Auflage seines 
oben zitierten Werkes als »reguläres« und »irreguläres« Ver- 
fahren bezeichnet hat!‘). Dabei saß die Versuchsperson in 
normaler Haltung und in normaler Entfernung bequem vor dem 
Tische, auf welchem sich die zu vergleichenden Strecken be- 
fanden. Eine bestimmte und konstante Expositionsdauer ward 
bei diesen Versuchen nicht innegehalten. Ich ließ der Be- 
obachterin die Zeit, welche nötig war, um ihr Urteil zu bilden. 
Doch bedurfte es hierzu niemals einer langen Zeit. Diese Maß- 
regel erschien zweckentsprechend, weil mir alles daran lag. 
übereilte Urteile zu verhindern, und ich auch in der Seele der 
Beobachterin auf keine Weise irgendwelchen Zustand von Be- 
fangenheit erzeugen wollte. Durch die freie Wahl der Ex- 
positionsdauer ward beides vermieden. Hinzugefügt sei noch, 
daß den Blättern, welche die Zeichnungen tragen, ein weißer 
Papierbogen von gleicher Qualität als Unterlage diente. 

Unmittelbar nach Abgabe des Urteils wurde die geschätzte 
Vergleichsstrecke mittels eines Präzisionszirkels mit einge- 
schraubten runden Stahlspitzen (Richter) von mir genau 
gemessen und die so ermittelte Distanz an einem bereitliegenden 
Millimetermaßstab abgelesen. Mit Hilfe einer vergrößernden 
Linse konnte die Ablesung bis auf Fünfteile eines Millimeters 
vorgenommen werden. In Fällen, wo über die genaue Hälfte 
eines Millimeters kein Zweifel aufkommen konnte, sind auch 
solche Bruchteile mitverwertet worden. 

Bei dem beschriebenen Meßverfahren muß man sich jedoch 
hüten, die Zirkelspitzen direkt auf die Vergleichstrecke zu 
setzen, damit auf derselben kein punktueller Eindruck zurück- 
bleibt, der jede weitere Schätzung störend beeinflussen und so 
zu Fehlerquellen Anlaß geben würde. Die Vorversuche be- 
lehrten mich, daß es gelingt, die Messung exakt vorzunehmen, 
wenn man die Zirkelspitzen in schiefer Richtung seitlich an 


10) W.Wundt, a a. O. S. 5%. 
5* 


68 F. Kiesow, 


die Linien heranbringt, ohne auf dem Papier Eindrücke zu er- 
zeugen. Es bedarf also auch von seiten des Experimentators 
einer gewissen Einübung auf die Versuchseinrichtung, doch 
ist dieselbe bald erreicht. 


Um die aus der Raumlage resultierenden »scheinbaren kon- 
stanten Fehler« zu eliminieren, sind die Versuche abwechselnd 
bei Vergrößerung und Verkleinerung der Vergleichsstrecken 
durchgeführt worden, und ebenso befand sich die Normalstrecke 
während einer Versuchsreihe auf der linken, während der 
nächsten auf der rechten Seite. Da man beim Kopieren von 
zeichnerischen Darstellungen sowie beim Abschreiben von Manu- 
skripten oder Druckstellen gewohnt ist, die Vorlage auf der 
linken Seite zu haben, so ist ersichtlich, daß aus der ver- 
schiedenen Lage der Normalstrecke eine Verschiedenheit im 
Schätzungswert hervortreten kann. In den unten mitgeteilten 
Tabellen habe ich sowohl die bei Vergrößerung und Verkleine- 
rung der Vergleichsstrecke als auch die bei verschiedener Lage 
der beiden Strecken gewonnenen Fehldistanzen getrennt zu- 
sammengestellt. Schließlich sei noch bemerkt, daß ich die Be- 
obachtungen in einer Sitzung mit der kleinsten, in einer zweiten 
mit der größten und in einer dritten mit einer anderen Normal- 
strecke beginnen ließ. In letzterem Falle ist jedoch zu ver- 
meiden, daß auf eine sehr kleine Strecke unmittelbar eine große 
oder umgekehrt folgt. Geschieht dies, so kann durch die gegen- 
seitige Wirkung solcher Strecken aufeinander eine neue Fehler- 
quelle entstehen. Kurz, es ist jede Vorsichtsmaßregel be- 
obachtet worden, um den Raumfehler auszuschalten, so daß ich 
dafürhalte, daß aus der oben angegebenen Subtraktion der 
mittleren Fehldistanz von der Normaldistanz der wahre kon- 
stante Fehler hervorgehen dürfte. Da die Beobachtungen bei 
simultaner und nicht bei sukzessiver Darbietung der beiden 
linearen Strecken erfolgten, so kommt ein etwaiger Zeitfehler 
bei diesen Versuchen natürlich nicht in Frage. 


Das ist die einfache Versuchseinrichtung, die unserem Zu- 
sammenarbeiten zugrunde lag. Sie erfordert keine kostspieligen 
Hilfsmittel und kann von jedermann leicht nachgeprüft 
werden. Wie man ersehen wird, tritt bei dieser einfachen An- 
ordnung in den Prüfungsergebnissen eine Gesetzmäßigkeit her- 
vor, die den Forderungen des Weberschen Gesetzes durchaus 
analog ist. 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 69 


Hervorzuheben ist endlich noch, daß die Untersuchung in 
zwei Etappen verlief, insofern zu Anfang ausschließlich Normal- 
strecken von 10 bis 50 Millimetern und erst, als die Beobach- 
tungen für diese beendet waren, solche von 60 bis 100 Milli- 
metern beurteilt wurden. Da in jeder Sitzung stets 5 Normal- 
strecken verglichen und für jede einzelne 4 Bestimmungen aus- 
geführt wurden, von denen zwei durch die Vergrößerung und 
Verkleinerung der Vergleichsstrecke und die beiden anderen 
durch die wechselseitige Lage der Strecken veranlaßt waren, 
so erhellt, daß in jeder Sitzung im ganzen 20 Beobachtungen 
ausgeführt wurden, daß somit in jede der beiden Etappen 500, 
in beide zusammengenommen 1000 Einzelbestimmungen fallen. 
Dem sei hinzugefügt, daß nach Beendigung dieser Versuchs- 
reihen eine beträchtliche Anzahl von Kontrollversuchen unter- 
nommen ward, von denen weiter unten die Rede sein wird. 


Im Folgenden habe ich zunächst die mittleren Fehldistanzen 
.(Fm) nebst den zugehörigen mittleren Variationen (Vm) zu- 
sammengestellt, die sich für die Normalstrecken von 10 bis 
50 Millimetern ergaben. Da für jede Normaldistanz im ganzen 
100 Beobachtungen ausgeführt wurden, so umfaßt jedes Fünftel 
der Tabelle genau 20 Bestimmungen. Man mag daraus ersehen, 
is zu welchem Grade innerhalb der ersten Etappe die aus den 
Versuchen resultierenden Werte konstant blieben. Außerdem 
findet sich für jede dieser 5 Gruppen der höchste und der 
niedrigste Wert sowie deren Häufigkeit in der Tabelle an- 
gegeben. Die mittleren Variationen des Gesamtmittels beziehen 
sich sowohl auf die 100 Einzelwerte als auch auf die Mittel- 
werte der einzelnen Gruppen. Letztere ist in jedem Falle 
durch die Klammer besonders hervorgehoben. Ich bemerke noch- 
mals, daß kein einziger Wert gestrichen ward. 


Normalstrecke: 10 mm. 

1. Fünftel: Fm = 9,71 mm; Vm = 0,257; höchster Wert = 10 mm (7 mal); 
niedrigster Wert = 9,2 mm (2 mal). 

2. Fünftel: Fm = 9,83 mm; Vm = 0,1345; höchster Wert = 10 mm (8 mal); 
niedrigster Wert = 9,6 mm (5 mal). 

3. Fünftel: Fm = 9,69 mm; Vm = 0,219; höchster Wert = 10 mm (6 mal); 
niedrigster Wert = 9,4 mm (4mal). 

4. Fünftel: Fm = 9,615 mm; Vm = 0,285; höchster Wert = 10 mm (5 mal); 
niedrigster Wert = 9,0 mm (2 mal). 


70 | F. Kiesow, 


5. Fünftel: Fm = 9,695 mm; Vm = 0,2145; höchster Wert = 10 mm (6 mal) - 
niedrigster Wert = 9,2 mm (1 mal). 
Gesamtmittel: 9,708 mm; Vm = 0,23104; Vm (der Mittelwerte) = 0,049. 


Normalstrecke: 20 mm. 

1. Fünftel: Fm = 18,27 mm; Vm = 0,374; höchster Wert = 19,4 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 17,4 mm (l mal). 

2. Fünftel: Fm = 18,88 mm; Vm = 0,492; höchster Wert = 20,0 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 18,0 mm (2 mal). 

3. Fünftel: Fm = 18,885 mm; Vm = 0,268; höchster Wert = 19,4 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 18,0 mm (2 mal). 

4. Fünftel: Fm = 18,620 mm; Vm = 0,570; höchster Wert = 19,6 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 17,2 mm (1l mal). 

5. Fünftel: Fm = 18,575 mm; Vm = 0,5775; höchster Wert = 19,6 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 17,2 mm (1 mal). 

Gesamtmittel: 18,646 mm; Vm = 0,52432; Vm (der Mittelwerte) = 0,1892. 


Normalstrecke: 30 mm. 

l. Fünftel: Fm = 27,33 mm; Vm = 0,776; höchster Wert = 29,0 mm (3mal); 
niedrigster Wert = 26,0 mm (1 mal). 

2. Fünftel: Fm = 27,59 mm; Vm = 0,491; höchster Wert = 28,6 mm (2 mal); 
niedrigster Wert = 26,4 mm (l mal). 

3. Fünftel: Fm = 27,66 mm; Vm = 0,434; höchster Wert = 29,4 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 27,0 mm (4 mal). 

4. Fünftel: Fm = 27,29 mm; Vm = 0,542; höchster Wert = 28,0 mm (4mal); 
niedrigster Wert = 26,0 mm (l mal). 

5. Fünftel: Fm = 27,72 mm; Vm = 0,328; höchster Wert = 28,6 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 27,0 mm (1 mal). 

Gesamtmittel: 27,518 mm; Vm=0,52776; Vm (der Mittelwerte) = 0,1664. 


Normalstrecke: 40 mm. 

1. Fünftel: Fm = 37,81 mm; Vm = 0,93; höchster Wert = 39,8 mm (2 mal); 
niedrigster Wert = 35,6 mm (1 mal). 

2. Fünftel: Fm = 37,81 mm; Vm=0,59; höchster Wert = 39,2 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 36,4 mm (1 mal). 

3. Fünftel: Fm = 37,535 mm; Vm = 0,595; höchster Wert = 39,2 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 36,2 mm (l1 mal). 

4. Fünftel: Fm = 36,855 mm; Vm = 0,864; höchster Wert = 39,0 mm (2 mal); 
niedrigster Wert = 34,8 mm (1 mal). 

5. Fünftel: Fm = 36,440 mm; Vm = 0,538; höchster Wert = 38,0 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 35,4 mm (1l mal). 

Gesamtmittel: 37,29 mm; Vm = 0,8484; Vm (der Mittelwerte) = 0,514. 


Normalstrecke: 50 mm. 
1l. Fünftel: Fm = 45,995 mm; Vm = 0,9655; höchster Wert = 48,0 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 44,0 mm (l mal). 
2. Fünftel: Fm = 47,05 mm; Vm = 1,05; höchster Wert = 49,4 mm (1mal); 
niedrigster Wert = 45,0 mm (2 mal). 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 71 


3. Fünftel: Fm = 46,885 mm; Vm = 0,9635; höchster Wert = 48,8 mm (2 mal); 
niedrigster Wert = 45,0 mm (l mal). 

4. Fünftel: Fm = 46,465 mm; Vm = 0,905; höchster Wert = 48,0 mm (3 mal); 
niedrigster Wert = 45,0 mm (3 mal). 

5. Fünftel: Fm = 46,585 mm; Vm = 0,915; höchster Wert = 49,0 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 44,6 mm (1 mal). 

Gesamtmittel: 46,596 mm; Vm = 0,97 168; Vm (der Mittelwerte) = 0,2972. 


Wie man aus dieser Tabelle ersieht, tritt in den 500 Einzel- 
versuchen nicht ein einziges Mal eine Überschätzung auf. Darin 
offenbart sich die Veranlagung der Beobachterin in unzwei- 
deutiger Weise. Zwar ward der Wert der Normalstrecke bei 
10 Millimetern 32 mal, bei 20 Millimetern 1 mal erreicht, aber 
auch diese beiden Strecken wurden niemals überschätzt. Bei 
den übrigen Prüfungen dieser Etappe erreichten auch die 
höchsten Werte der Gleicheinstellung niemals die Länge der 
entsprechenden Normalstrecke. Sie betragen bei der Strecke von 
30 mm 29,4, bei der von 40 mm 39,8 und bei der von 50 mm 
49,4 Millimeter. 


Stellen wir nun für jede dieser 5 Normalstrecken die aus 
der Vergrößerung und Verkleinerung der Vergleichsstrecke re- 
sultierenden mittleren Fehldistanzen zusammen, welch letztere 
nach dem Vorgesagten aus je 50 Einzelwerten berechnet wurden, 
so ergibt sich die nachstehende Tabelle. Die mittleren Varia- 
tionen sind hier auf 4 Dezimalstellen reduziert worden. N 
heißt Normalstrecke. Das arithmetische Mittel aus beiden 
mittleren Fehldistanzen muß natürlich in jedem Falle das in 
der vorstehenden Tabelle angezeigte Gesamtmittel ergeben. 


Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 9,652 mm; Vm = 0,2920 

„ Verkleinerung „, F Fm= 9764 „; „ =0,1886 
N = 20 mm. 

Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 18,518 mm; Vm = 0,4926 

„ Verkleinerung „, x Fm = 18,774 „; „ = 0,5352 
N = 30 mm. 

Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 27,354 mm; Vm = 0,4758 

„ Verkleinerung „ 5 Fm = 27,682 „ ; „ = 0,5357 
N = 40 mm. 

Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 37,092 mm; Vm = 0,7554 

„ Verkleinerung , 5 Fm = 37,488 „p; » = 0,8920 
N = 50 mm. 


Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 46,424 mm; Vm = 0,9758 
» Verkleinerung , 5 Fm = 46,768 „; „ =0,9453 


12 F. Kiesow, 


Die Tabelle zeigt, daß die bei allmählicher Verringerung der 
Vergleichsstrecke sich ergebenden mittleren Fehldistanzen nume- 
risch größer sind, d.h. sich dem Normalwerte mehr nähern als 
im umgekehrten Falle. Aus den beiden vorstehenden Zusammen- 
stellungen ergibt sich außerdem, daß die mittleren Variationen 
mit zunehmender Verlängerung der Normalstrecke im allgemeinen 
gleichfalls stetig größer werden, woraus ohne weiteres auf ein 
größeres Schwanken der einzelnen Fehldistanzen und somit 
auf eine stetig zunehmende Schwierigkeit in der Beurteilung 
der vorgelegten Strecken zurückzuschließen ist. In den meisten 
Fällen fällt ferner der Wert der mittleren Variation bei Ver- 
ringerung der Vergleichsstrecke etwas größer aus, als bei all- 
mählicher Zunahme der letzteren. Da ich auf diese Erschei- 
nungen in meiner zweiten Mitteilung zurückkomme, so be- 
schränke ich mich hier auf die einfache Feststellung der Tat- 
sachen. Jedenfalls liegt auf der Hand, daß es sich dabei um 
Gesetzmäßigkeiten handelt, für die eine Erklärung nur auf 
seelischem Gebiete gesucht werden kann !!). 


In der nächsten Tabelle habe ich für jede Reizgröße die 
mittleren Fehldistanzen zusammengestellt, welche sich aus der 
verschiedenen Lage der zu vergleichenden Strecken ergaben. 
Die Mittelwerte sind auch hier aus je 50 Einzelwerten be- 
rechnet, so daß das arithmetische Mittel aus beiden Werten 
gleichfalls auf die oben angegebenen Gesamtmittel zurückführt. 
In der Tabelle bezeichnen die Ausdrücke »Links« und »Rechts« 
die jeweilige Lage der Normalstrecke. Die mittleren Variationen 
sind hier ebenfalls bis auf 4 Dezimalstellen abgerundet worden. 


N =10 mm. Links: Fm= 9,742 mm; Vm = 0,2339 
Rechts: Fm = 9,674 „; ,„ = 0,2300 


’ 
N =20 mm. Links: Fm = 18,632 „; ,„ = 0,5049 
Rechts: Fm = 18,66 „; „ = 0,5560 
N=30 mm. Links: Fm = 27,422 „; „ = 0,5020 
Rechts: Fm = 27,614 „; ,„ = 0,5471 
N = 40 mm. Links: Fm = 36,918 „; „ = 0,6911 
Rechts: Fm = 37,662 „; „ = 0,8530 
N = 50 mm. Links: Fm = 46,274 „; ,„ = 0,8218 
Rechts: Fm = 46,918 „; ,„ = 0,9832 


11) Vgl. dazu H. Higier, a.2.0. S. 241, 
S. 178£. 
12) Vgl. H. Higier a. a. 0. S. 269. 


D 
OD 
© 


J. Merkel, a.a. 0. 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 73 


Ein Blick auf die Tabelle läßt erkennen, daß mit Ausnahme 
der Bestimmungen für die Normalstrecke von 10 mm die mitt- 
leren Fehldistanzen bei rechtsseitiger Lage der ersteren dem 
Normalwerte näher liegen als bei linksseitiger. Der Unter- 
schied ist noch gering für die Strecke von 20 Millimetern, er 
nimmt aber von hier an bis zur Strecke von 50 Millimetern 
stetig zu 12). Hier liegt zweifellos wiederum eine Gesetzmäßig- 
keit vor. Die Tatsache hängt, wie schon oben angedeutet, mit 
dem Umstande zusammen, daß wir nicht gewohnt sind, eine 
Vorlage auf der rechten Seite zu haben, d.h. aus der größeren 
Schwierigkeit, die für die Schätzung mit dieser Lage ver- 
bunden ist, und die natürlich mit zunehmender Länge der zu 
beurteilenden Strecke stetig wachsen muß. Unsere ganze psycho- 
physische Organisation zwingt uns vom ersten Schreibunter- 
richt an, die Vorlagen auf die linke Seite zu legen. Sollte man 
hienach eigentlich ein entgegengesetztes Resultat erwarten, so 
ist andererseits zu bedenken, daß die vermehrte Schwierigkeit 
eine gewissenhafte Versuchsperson nötigt, ihre Aufmerksamkeit 
stärker anzuspannen. Aus diesem Umstande erklärt sich nach 
meinem Dafürhalten zureichend der nicht zu verkennende 
Unterschied in den Ergebnissen, die bei verschiedener Lage der 
normalen Reizgröße gewonnen wurden. 


Prüfen wir schließlich für eine erste Orientierung die aus 
der Subtraktion der oben mitgeteilten Gesamtmittel von der 
jeweiligen Länge der Normalstrecke sich ergebenden wahren 
konstanten Fehler (C) auf ihre Bedeutung für die Gültigkeit der 
in Frage stehenden Gresetzmäßigkeit, so gelangen wir unter 


Zugrundelegung des Quotienten = zu dem folgenden über- 
raschenden Resultate: 
N-10mm. Fm= 9708 mm; 0 = 0,292 mm; 2 0,0292 = 3; 


34 
N =20 mm. Fm=18646 „;C=1354 „ ; = 0,0677 - 
N =30 mm. Fm = 27,518 „;C=-2,482 „ = 0-2, 
N-40 mm. Fm=37,29 „;C=27 „;2—0,0677- ig 
N=50 mm. Fm=46,5% „;C=-344 „ ; Ç = 0,06808 = 15 


Niemand wird bestreiten, daß aus der vorstehenden kleinen 
Tabelle mit aller gewünschten Klarheit eine Regelmäßigkeit her- 


74 F. Kiesow, 


vortritt, die den Forderungen des Weberschen Gesetzes durch- 
aus analog ist. Was die Abweichung für die Strecke von 
10 mm betrifft, so liegt diese in der Natur der Sache. Die 
Strecke bietet für jeden Beobachter die geringsten Schwierig- 
keiten dar. Sie ward in den 100 Beobachtungen, welche aus- 
geführt wurden, wie schon oben hervorgehoben, 32 mal richtig 
geschätzt. Dementsprechend ist auch die Differenz der mitt- 
leren Fehldistanz von der Länge der Strecke sehr gering. Sie 
beträgt noch nicht 0,3 Millimeter. Zudem ist allgemein be- 
kannt, daß das Webersche Gesetz an den äußersten Enden 
einer Reizskala Abweichungen aufweist. Hinsichtlich der ge- 
ringen Abweichung, die für den Normalreiz von 30 Millimetern 
aus der Tabelle hervortritt (5 statt 2) , ist zu bemerken, daß 
auch diese seelisch bedingt ist. Wir kommen darauf unten so- 
gleich zurück. Hier sei nur daran erinnert, daß, um auf den 
genannten Wert von = zu kommen, den man erwarten würde. 
die mittlere Fehldistanz für die in Rede stehende Reizgröße 
28 Millimeter betragen müßte, daß es sich somit um den ge- 
ringen Unterschied von im Mittel noch nicht einem halben 
Millimeter handelt. 

Nach Beendigung sämtlicher Versuchsreihen der zweiten 
Etappe verlangte mich, zu erfahren, ob infolge der vermehrten 
Aufmerksamkeitsspannung, welche die Beurteilung größerer 
Strecken (60—100 mm) fordert (und deren Gewöhnung an die 
letzteren), in den Mittelwerten der Versuchsreihen der ersten 
Etappe (10—50 mm) irgendwelche Veränderung hervortreten 
würde, wenn dieselben eine Nachprüfung erführen. Ich habe 
daher für jede Reizstrecke von 10 bis 50 mm zunächst noch- 
mals 20 Beobachtungen anstellen lassen, deren Ergebnisse mit 
den Mittelwerten und den sonstigen Bestimmungen der oben 
mitgeteilten Fünftelgruppen verglichen werden konnten. Bei 
dieser Nachprüfung mußte sich zeigen, ob die dort angegebenen 
Mittelwerte relativ konstant blieben, oder ob durch die Ge- 
wöhnung an die längeren Strecken ein maßgebender Einfluß 
auf die Gleicheinstellung für kleinere Linien nachweisbar war. 
Die erhaltenen Resultate sind die folgenden: 

N=10 mm. Fm = 9,555 mm; Vm = 0,2515; höchst. Wert= 10 mm (6mal); 
niedr. Wert = 9,0 mm (4 mal) 

N = 20 mm. Fm = 18,715 mm; Vm = 0,3035; höchst. Wert = 19,8 mm (l mal); 
niedr. Wert = 17,2 mm (l mal) 


Über die Vergleichung linearSr etrecken usw. 75 


N = 30 mm. Fm = 28,105 mm; Vm = 0,305; höchst. Wert = 29,0 mm (2 mal); 
niedr. Wert = 27,0 mm (1 mal) 

N = 40 mm. Fm = 36,96 mm; Vm = 0,688; höchst, Wert=33,2mm (l mal); 
niedr. Wert = 36,0 mm (3 mal) 

N = 50 mm. Fm = 45,87 mm; Vm = 0,80; höchst. Wert=48,0 mm (lmal); 
niedr. Wert = 43,2 mm (1 mal) 


Wie sich aus dieser Zusammenstellung ergibt, stimmen die 
aus der Nachprüfung resultierenden Mittelwerte, wie auch die 
sonstigen Bestimmungen mit denen der oben zusammengestellten 
Fünftelgruppen gut übereinstimmt. Da mir aber dennoch daran 
lag, wenigstens für eine der erwähnten Reizgrößen eine voll- 
ständige Nachprüfung (von 100 Einzelbestimmungen) durch- 
zuführen, so habe ich dazu die Normalstrecke von 30 Milli- 
metern gewählt, für welche der in der vorstehenden Ta- 
belle angegebene Mittelwert sich der erwarteten Fehldistanz um 
ein Geringes mehr nähert, als dies bei den Mittelwerten der 
oben aufgeführten Fünftelgruppen der Fall ist. Die Ergebnisse 
dieser vollständigen Nachprüfung, die gleichfalls nach Fünftel- 
gruppen (20 Beobachtungen) geordnet sind, sind die folgenden: 


Normalstrecke: 30 mm. 

1l. Fünftel: Fm = 28,105 mm; Vm = 0,305; höchster Wert = 29,0 mm (2 mal); 
niedrigster Wert = 27,0 mm (l mal). 

2. Fünftel: Fm = 28,185 mm; Vm = 0,862; höchster Wert = 30,0 mm (3 mal); 
niedrigster Wert = 27,0 mm (4 mal). 

3. Fünftel: Fm = 28,31 mm; Vm = 0,413; höchster Wert = 29,6 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 27,4 mm (1 mal). 

4. Fünftel: Fm = 28,215 mm; Vm = 0,5195; höchster Wert = 29,5 mm (1 mal); 

. niedrigster Wert = 27,0 mm (l mal). 

6. Fünftel: Fm = 28,06 mm; Vm = 0,378; höchster Wert = 29,0 mm (2 mal); 
niedrigster Wert = 27,4 mm (1l mal). 

Gesamtmittel: 28,175 mm; Vm = 0,478; Vm (der Mittelwerte) = 0,074. 


Bei der Nachprüfung, die unter äußerlich gleichen Be- 
dingungen stattfand, ward der numerische Wert der Normal- 
strecke (wie aus der Tabelle hervorgeht) 3 mal erreicht. Es 
sei hinzugefügt, daß die Fehldistanz 37 mal 28 Millimeter be- 
trug. Setzen wir die mittlere Fehldistanz aus diesen Beobach- 
tungen (28,175 mm) für die oben angegebene von 27,518 mm 
ein, wozu wir, wie ich meine, nicht nur berechtigt, sondern 
verpflichtet sind, so ergibt sich für die Normalstrecken von 
10 bis 50 mm die nachstehende Übersicht, der ich auch den 
nach der obigen Angabe berechneten wahrscheinlichen Fehler 


76 F. Kiesow, 


(w) beigefügt habe. Derselbe ist auf 2 Dezimalstellen abgekürzt 
worden. 


N=10 mm. Fm= 9,708 mm; C= 0,292 mm; © = 0,0292 -z w = 0,02 


PN 


N=20 mm. Fm=18,646 „;C=134 „:-2=0077 =L}; w=-004 


„ ’N 15 ’ 
N=30 mm. Fm= 28,175 „ ;C=1,825 „ ; E = 0,06088 = ; w= 0,04 
N=40 mm. Fm=37,29 „;0=-271 „ ; Ç = 0,06775 = jg; w = 0,07 


N=50 mm. Fm=46,596 „ ;C=3,404 „ ; S = 0,06808 = z ; w = 0,08 


Eine größere Übereinstimmung von Versuchsergebnissen mit 
den Forderungen einer Gesetzmäßigkeit, die den des Weber- 
schen Gesetzes analog sein muß, dürfte für ein einzelnes nor- 
males Individuum kaum zu erzielen sein. Man wende nicht ein, 
daß die an einer einzelnen Versuchsperson festgestellte Regel- 
mäßigkeit noch keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. 
Was für ein einzelnes normales Individuum gilt, das gilt im 
allgemeinen für jedes andere. Es werden für das S bei ver- 
schiedenen Personen durch besondere Dispositionen bedingte 
Varianten hervortreten, sei es, daß die eine mehr über-, die 
andere mehr unterschätzt, oder daß die eine sich mehr, die 
andere sich weniger intensiv auf den zu beurteilenden Eindruck 
zu konzentrieren vermag, Dispositionen, die man als individu- 
elle Verschiedenheiten zu bezeichnen pflegt, d.h. für die nicht 
immer eine hinreichende Erklärung gefunden werden kann, so 
wird dennoch eine allgemeine Regelmäßigkeit unter sonst 
gleichen Bedingungen bei jeder einzelnen nachweisbar sein. 
Auf Grund der gewonnenen Ergebnisse gelange 
ich daher zu der Überzeugung, daßinnerhalb der 
in Betracht gezogenen Raumgrenzen eine Ge- 
setzmäßigkeitanzuerkennenist,diedem Weber- 
schen Gesetze in vollem Umfange analog ist. Ich 
bin -auch überzeugt, daß diese Gesetzmäßigkeit nicht etwa, 
wie man bei einer Nachprüfung des Weberschen Gesetzes 
unlängst gemeint hat, auf den Einfluß von »Nebenumständen« 
zurückgeführt werden kann 213), sondern daß sie in den, wie 


13) K. Hansen, Zeitschr. f. Biologie, 73, S. 167, 1921. 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 77 


unser Denken überhaupt, so auch die Vergleichungsakte be- 
herrschenden Apperzeptionsvorgängen begründet liegt. 

Was die vorerwähnten seelischen Bedingungen betrifft, 
durch welche die geringe Differenz veranlaßt ward, die für 
die Normalstrecke von 30 mm zwischen den aus den ersten Be- 
obachtungen resultierenden mittleren Fehldistanzen und deren 
Nachprüfung hervortritt, so ist auf folgendes hinzuweisen: 

Jede lineare Strecke übt auf die Versuchsperson eine ge- 
wisse suggestive Wirkung aus, insofern sie ihr gleich bei der 
ersten Darbietung als leichter oder schwerer zu beurteilen 
erscheint. Man kann sich hiervon leicht überzeugen, wenn man 
sich selbst mehrere Strecken vorlegt. So wird z.B. jedem eine 
Strecke von 10 Millimetern ziemlich leicht, eine solche von 50 
Millimetern schwieriger abzuschätzen erscheinen. Dazu kommt, 
daß durch die benutzten Linien ästhetische Elementargefühle 
in der Seele erzeugt werden, die für die einzelnen Strecken sehr 
verschieden sind. Die eine kann lusterregend, die andere mehr 
oder weniger unlusterregend sein. Beide Momente, die bis zu 
einem gewissen Grade zusammenwirken können, sind hier 
durchaus in Betracht zu ziehen. Wird bei der Gewissenhaftig- 
keit, mit der meine Beobachterin sich ihrer Aufgabe hingab, 
eine Strecke bei der Darbietung »schwer« empfunden, so kann 
es licht geschehen, daß die Aufmerksamkeit in übernormaler 
Weise gespannt wird, was dann zur Folge hat, daß die Fehler 
sich verkleinern. Dabei versteht sich von selbst, daß sich die 
Aufmerksamkeit nicht für sehr lange Zeit auf einer solchen 
Stufe der Überspannung zu halten vermag. Werden derartige 
Versuche zu lange nacheinander fortgesetzt, so kann daher 
nach einer gewissen Zeit der Überspannung leicht eine Er- 
schlaffung der Aufmerksamkeit eintreten, die dann zu gegen- 
teiligen oder wenigstens zu sehr unregelmäßigen Resultaten 
führt. Oben ist bemerkt worden, daß die einzelnen Raum- 
strecken beider Etappen in jeder Sitzung nur 4mal beurteilt 
wurden. Außerdem mußte zwischen einer Strecke und der 
nächstfolgenden naturgemäß immer eine kleine Pause eintreten, 
und ebenso wurden durch die vorgenommenen Messungen und 
das Notieren der erhaltenen Werte für die Versuchsperson 
regelmäßig kleine Ruhepausen gewonnen. 

Es liegt nun in der Natur der Sache, daß das Gegenteil 
eintreten muß, wenn eine Normalstrecke für die Gleichein- 
stellung keine besondere Schwierigkeit darbietet und wenn sie 


18 F. Kiesow, 


außerdem noch ein ausgesprochenes Wohlgefallen erweckt. Dann 
liegt keine Veranlassung vor, die Aufmerksamkeit zu über- 
spannen. So war es bei der Strecke von 30 mm. Die Be- 
obachterin gab nach der Gleichschätzung dieser Strecke häufig 
Urteile ab wie die folgenden: »Die Strecke ist nicht schwer«; 
»die Linie ist sympathisch« usw. Aus diesem Umstande er- 
klärt sich, wie ich glaube, der etwas größere Fehler für diese 
Strecke bei den Versuchen der ersten Etappe. Die Aufmerk- 
samkeit war in diesem Falle weder überspannt, noch hatte sie, 
wie ich vermute, genau die Höhe der Einstellung erreicht, die 
bei der Gleicheinstellung der Strecken von 20, 40 und 50 mm 
in Anwendung kam. 

Demgegenüber wurden die Normalstrecken der zweiten 
Etappe in bezug auf die Abschätzung sämtlich als schwieriger 
. empfunden, so daß die Beurteilung derselben eine längere Vor- 
übung erforderte. Die Strecke von 80 mm z.B., die als die 
schwierigste von allen beurteilt ward, war zugleich ausge- 
sprochen unlusterregend, vielleicht eben gerade, weil sie be- 
sondere Schwierigkeiten darbot. Die Beobachterin gewöhnte 
sich allmählich an die Versuche dieser Etappe, aber sie empfand 
sie bis zu Ende schwieriger als die der ersten. Es ist somit 
begreiflich, daß die Gleicheinstellung für alle diese Strecken 
(60—100 mm) unwillkürlich zu einer vermehrten Aufmerksam- 
keitsspannung Anlaß gab. Daraus folgt aber weiter, daß diese 
Tatsache, an welche ich die Beobachterin allmählich gewöhnt 
hatte, bei der Nachprüfung gerade auf die Beurteilung der 
Strecke von 30 mm zurückwirken mußte. So erklärt sich auch, 
wie ich meine, die obenerwähnte Anzahl der fehlerlosen Gleich- 
schätzungen bei der Nachprüfung dieser Distanz. Es dürfte 
schwer sein, alle diese Tatsachen, die bei der Würdigung der 
in Rede stehenden Gesetzmäßigkeit nicht außer acht gelassen 
werden dürfen, aus rein physiologischen Ursachen zu erklären. 


Meine ursprüngliche Absicht war, die Untersuchung auf die 
Behandlung der genannten Reizgrößen zu beschränken. Nach- 
dem sie aber zu so überraschenden Ergebnissen geführt hatte. 
ward doch der Wunsch rege, auch längere Strecken in gleicher 
Weise einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Und da auch 
die Beobachterin ihre Zustimmung erklärte, so sind die Ver- 
suche in einer zweiten Etappe mit Normalstrecken von 60 bis 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 79 


100 mm fortgesetzt worden. Ich stelle die Ergebnisse dieser 
zweiten Etappe wie die der ersten gleichfalls zunächst nach 
Fünftelgruppen zusammen. Man mag auch aus dieser Zu- 
sammenstellung ersehen, wie weit die mittleren Fehldistanzen 
aus je 20 Beobachtungen relativ konstant blieben. Im übrigen 
gilt für diese Tabelle das oben Gesagte. Es ward auch von 
den Ergebnissen dieser zweiten Versuchsreihe kein einziger 
Wert gestrichen. 


Normalstrecke: 60 mm. 

1. Fünftel: Fm = 56,725 mm; Vm = 1,03; höchster Wert = 59,4 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 54,0 mm (l mal). 

2. Fünftel: Fm = 58,30 mm; Vm = 1,49; höchster Wert = 60,8 mm (2mal); 
niedrigster Wert = 56,0 mm (4 mal). 

3. Fünftel: Fm = 58,015 mm; Vm = 1,398; höchster Wert = 61,2 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 55,5 mm (1 mal). 

4. Fünftel: Fm = 57,245 mm; Vm = 1,1785 ; höchster Wert = 60,0 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 55,0 mm (1 mal). 

5. Fünftel: Fm = 56,570 mm; Vm = 1,224; höchster Wert == 59,4 mm (2 mal); 
niedrigster Wert = 54,0 mm (1 mal). 

Gesamtmittel: 57,371 mm; Vm = 1,4081; Vm (der Mittelwerte) = 0,6296. 


Normalstrecke: 70 mm. 

1. Fünftel: Fm = 66,655 mm; Vm = 1,7305; höchster Wert = 71,0 mm (2mal); 
niedrigster Wert = 61,5 mm (1 mal). 

2. Fünftel: Fm = 67,725 mm; Vm = 1,4925; höchster Wert = 70,0 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 65,0 mm (2 mal). 

3. Fünftel: Fm = 67,59 mm; Vm = 1,771; höchster Wert-71,0mm (l mal); 
niedrigster Wert = 62,2 mm (1 mal). 

4. Fünftel: Fm = 66,87 mm; Vm = 1,03; höchster Wert = 70,0 mm (lmal); 
niedrigster Wert = 64,0 mm (l mal). 

5. Fünftel: Fm = 66,755 mm; Vm = 1,2995 ; höchster Wert = 70,0 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 64,4 mm (1 mal). 

Gesamtmittel: 67,119 mm; Vm = 1,5113; Vm (der Mittelwerte) = 0,4284. 


Normalstrecke: 80 mm. 

l. Fünftel: Fm = 77,145mm; Vm = 2,295; höchster Wert = 81,0 mm (2 mal); 
niedrigster Wert = 72,8 mm (1l mal). 

2. Fünftel: Fm = 79,215 mm; Vm = 1,772; höchster Wert = 83,4 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 74,0 mm (l mal). 

3. Fünftel: Fm = 79,095 mm; Vm = 1,845; höchster Wert = 83,6 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 74,0 mm (1l mal). 

4. Fünftel: Fm = 77,95 mm; Vm = 1,605; höchster Wert = 82,2 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 73,5 mm (1 mal). 

5. Fünftel: Fm = 78,67 mm; Vm = 1,837; höchster Wert = 82,0 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 75,5 mm (1 mal). 

Gesamtmittel: 78,415 mm; Vm = 1,9656; Vm (der Mittelwerte) = 0,494. 


80 F. Kiesow, 


Normalstrecke: 90 mm. 

1l. Fünftel: Fm = 86,07 mm; Vm = 1,686; höchster Wert = 91,0 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 81,0 mm (1 mal). 

2. Fünftel: Fm = 86,46 mm; Vm=1,66; höchster Wert = 91,5 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 83,6 mm (1 mal). 

3. Fünftel: Fm = 89,44 mm; Vm = 1,548; höchster Wert = 93 mm (2mal); 
niedrigster Wert = 86,5 mm (1 mal). 

4. Fünftel: Fm = 87,545 mm; Vm = 2,305; höchster Wert = 92,0 mm (mal); 
niedrigster Wert = 83,0 mm (l mal). 

6. Fünftel: Fm = 87,145 mm; Vm = 1,695; höchster Wert = 91,5 mm (l mai); 
niedrigster Wert = 82,4 mm (l mal). 

Gesamtmittel: 87,332 mm; Vm = 1,97 392; Vm (der Mittelwerte) = 0,9284. 


Normalstrecke: 100 mm. 

1. Fünftel: Fm = 94,59 mm; Vm = 1,2; höchster Wert = 97,5 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 91,0 mm (1 mal). 

2. Fünftel: Fm = 95,475 mm; Vm = 1,905; höchster Wert = 100,0 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 92,0 mm (l mal). 

3. Fünftel: Fm = 98,415 mm; Vm = 1,4865; höchster Wert = 103,8 mm (1 mal); 
niedrigster Wert = 95,0 mm (l mal). 

4. Fünftel: Fm = 97,16 mm; Vm = 2,03; höchster Wert = 102,0 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 93,0 mm (2 mal). 

6. Fünftel: Fm = 95,745 mm; Vm = 1,476; höchster Wert = 99,2 mm (l mal); 
niedrigster Wert = 92,0 mm (2 mal). 

Gesamtmittel: 96,277 mm; Vm = 1,95 593; Vm (der Mittelwerte) = 1,2084. 


Die Tabelle zeigt, daß für die Strecken von 60 bis 100 mm 
gewisse Überschätzungen auftreten. Sie sind am häufigsten 
bei der Strecke von 80 mm. Das hängt mit der Tatsache zu- 
sammen, daß die Aufmerksamkeit bei der Beurteilung der ge- 
nannten Reizgrößen und namentlich bei den Normalstrecken 
von 80 und 90 mm oft überspannt ward. Wir gehen weiter 
unten näher auf diese Tatsache ein. 


Die nächste Tabelle umfaßt für die in Rede stehenden 
Normalstrecken die mittleren Fehldistanzen, welche sich bei 
allmählicher Vergrößerung und Verkleinerung der Vergleichs- 
strecken ergaben. Diese Mittelwerte wurden nach dem Dar- 
gelegten gleichfalls aus je 50 Einzelbestimmungen gewonnen. 
Die mittleren Variationen sind auf 4 Dezimalstellen reduziert 
worden. N = Normalstrecke. 


N = 60 mm. 
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm=57,14 mm; Vm = 1,3864 
„ Verkleinerung „, er Fm = 57,602 „; » =1,4142 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 81 


N =70 mm. 
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 67,152 mm; Vm = 1,5184 
» Verkleinerung , = Fm = 67,086 „; „ = 1,5923 
N = 80 mm. 
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 78,124 mm; Vm = 1,9140 
» Verkleinerung „, j Fm =78,706 „ ; „ =1,9778 
N = 90 mm. 
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 86,916 mm; Vm = 1,8526 
„ Verkleinerung , Ar Fm = 87,748 „; „ =2,03%8 
N = 100 mm. 
Bei Vergrößerung der Vergleichsstrecke: Fm = 95,938 mm; Vm = 1,9230 
» Verkleinerung „, F Fm = 96,616 „ ; „ =2,0173 


Auch aus dieser Zusammenstellung ersieht man, was sich 
bei der gleichen Behandlung der Bestimmungen der ersten 
Etappe ergeben hatte: Wenn die Vergleichsstrecke allmählich 
verringert wird, so nähern sich die mittleren Fehldistanzen 
dem Normalwerte in der Regel um ein Weniges mehr als wenn 
sie vergrößert wird. Eine Ausnahme scheint im vorliegenden 
Fall für die Normalstrecke von 70 mm vorzuliegen. Der Mittel- 
wert beträgt bei der Vergrößerung 67,152, bei der Verkleinerung 
67,086 mm. Aber da der Unterschied zwischen beiden Werten 
ein sehr geringer ist, so liegt die Vermutung .nahe, daß es 
sich hier um eine Zufälligkeit handelt, die sich der Kontrolle 
entzieht. Im allgemeinen zwingen auch die Versuchsergebnisse 
dieser Etappe in dieser Hinsicht zur Annahme einer Gesetz- 
mäßigkeit. Desgleichen erkennt man aus den letzten beiden 
Tabellen, daß die mittleren Variationen mit der Zunahme der 
Normaldistanz im allgemeinen stetig größer werden. Sie er- 
weisen sich außerdem im vorliegenden Falle bei der Verkleine- 
rung der Vergleichsstrecke stets größer als bei der Vergrößerung 
derselben. 


Die folgende Zusammenstellung enthält die mittleren Fehl- 
distanzen, welche für die in Frage stehenden Strecken aus 
der jeweiligen Lage derselben resultieren. Die Ausdrücke 
»Links« und »Rechts« beziehen sich auch hier auf die Lage 
der Normalstrecke. Die Mittelwerte wurden aus je 50 Ver- 
suchen gewonnen. Die mittleren Variationen sind auf 4 De- 
zimalstellen reduziert worden. 


Archiv für Psychologie. LII. 6 


Pr nn a er En — TR TE U Ta N fa € 


82 F. Kiesow, 


N = 60 mm. Links: Fm = 56,65 mm; Vm = 1,2720 
Rechts: Fm = 58,092 „; „ = 1,1737 
N=-70 mm. Links: Fm = 66,542 „; ,„ = 1,4643 


Rechts: Fm = 67,696 „; „ = 1,5477 

N-=80 mm. Links: Fm = 77,272 „; „ =1,7218 
- Rechts: Fm = 79,558 „; ,„ = 1,4984 
N = 90 mm. Links: Fm= 86,09 „; „ = 1,7578 
l Rechts: Fm = 88,574 „; » = 1,7959 

N = 100mm. Links: Fm = 95,286 „; ,„ = 1,8930 
Rechts: Fm = 97,268 „; ,„ = 1,7808 


Auch aus dieser Zusammenstellung geht hervor, daß die 
mittleren Fehldistanzen sich bei rechtsseitiger Lage der Normal- 
distanz dem Normalwerte regelmäßig mehr nähern als bei 
linksseitiger. Bedingt ist diese Tatsache, wie hervorgehoben, 
durch eine vermehrte Anspannung der Aufmerksamkeit. 

Für eine vorläufige Orientierung erhalten wir in bezug 
auf die Bedeutung der gewonnenen Ergebnisse für die Gültig- 
keit der in Frage stehenden Gesetzmäßigkeit die nachstehende 
Übersicht. 


N=60 mm. Fm = 57,371 mm; C= 2,629 mm; © = 0,04382 = I. 


N 23 
N-70mm. Fm=67,119 „ ;C=2881 „ ; g= 0,04116- 5 
N=80 mm. Fm=78,415 „ ;C=1,585 ,„ ; $= 0,01981 = 5, 
N-90 mm. Fm = 87,332 „ ;C=2,668 „ ; H= 0,0294 = zi 
N= 100mm. Fm=96,277 „ ; C=3,723 „ ; 2 = 0,03723 = 3 


Die Tabelle zeigt auf den ersten (oberflächlichen) Blick 
eine verblüffende Ähnlichkeit mit derejnigen, die Higier 
mitgeteilt hat, welch letzterer seinen Versuchen den mittleren 
variablen Fehler zugrunde legte!*). Indem dieser Forscher das 
Verhältnis der mittleren Fehler zu den von ihm benutzten 
Normaldistanzen (10, 20, 30, 50, 100, 150 und 250 mm) fest- 
stellte, glaubte er, aus seinen Ergebnissen schließen zu müssen, 
daß die Unterschiedsempfindlichkeit bei 50 mm ein Maximum 
erreiche und von dieser Distanz an nach beiden Seiten hin 
bedeutend abfalle. Mit anderen Worten, daß »das Webersche 
Gesetz für die Augenmaßversuche als nicht geltend angesehen 


14) H. Higier, a. a. 0. S. 237. 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 83 


werden« müsse!5). Die Schlußfolgerungen Higiers sind von 
Julius Merkel in seiner oben zitierten Abhandlung einer 
Kritik unterworfen worden. Auch ich gelange durch meine 
Untersuchungen zu einem andern Resultate. 

Abgesehen davon, daß den vorliegenden Versuchen nicht 
der mittlere variable Fehler zugrunde liegt, und daß es sich 
bei ihnen auch nicht um eine exakte Bestimmung der Unter- 
schiedsempfindlichkeit handelt, die sich eben durch die Methode 
der Gleicheinstellung nach meinem Dafürhalten nicht ermitteln 
läßt, sondern daß hier vielmehr nur ein dem W.eberschen 
Gesetze analoges Verhalten in Frage kommen kann, lassen sich 
unschwer die seelischen Motive aufdecken, welche zu den in der 
vorstehenden Tabelle namentlich. für die Reizgrößen von 80 
und 90 mm hervortretenden Abweichungen Veranlassung ge- 
geben haben. Die Quotienten E und 3 verdecken die Gesetz- 
mäßigkeit, welche wir durch die Versuche der ersten Etappe 
feststellen konnten, aber sie vernichten sie keineswegs. Es wäre 
in der Tat ein neues und schwer zu lösendes Rätsel, wenn 
für Reizgrößen von 10 bis 50 mm eine klar ausgesprochene 
allgemeine Gesetzmäßigkeit anerkannt werden müßte, die für 
solche von 60 bis 100 mm keine Gültigkeit- mehr haben sollte. 
Es liegt daher auf der Hand, daß sich in die Beobachtungen 
für die Strecken von 80 und 90 mm und bis zu einem ge- 
wissen Grade auch für die von 100 mm eine Besonderheit 
eingeschlichen hat, durch welche die Abweichungen veranlaßt 
wurden, und die wir versuchen müssen, so viel als möglich 
zu eliminieren. In der Tat! Wenn wir die oben mitgeteilten 
Mittelwerte der Fünftelgruppen für diese drei Strecken mit 
denjenigen der übrigen Fünftelgruppen vergleichen, so zeigt 
sich, daß bei der Strecke von 80 mm die mittleren Fehldistanzen 
des zweiten und dritten Fünftels und bei den Strecken von 
90 und 100 mm die des dritten Fünftels aus den betreffenden 
Reihen herausfallen. Die Mittelwerte nähern sich in diesen 
Fällen den entsprechenden Normaldistanzen mehr als die der 
anderen Versuchsreihen. Ebenso kommen gerade in diesen 
Fünftelgruppen die größten Überschätzungen vor, die, wie be- 
merkt, nicht in der Veranlagung der Beobachterin liegen. Das 
hängt mit der geschilderten Überspannung der Aufmerksamkeit 


15) Ebenda, S. 238. 
6* 


84 F. Kiesow, 


zusammen. In ihrem Bestreben, mit größter Gewissenhaftigkeit 
zu schätzen, überspannte die Versuchsperson die Aufmerksam- 
keit beim Vergleich von Strecken, die sie als besonders schwierig 
empfand und gelangte so zu Überschätzungen, die bei den 
leichteren Versuchen der ersten Etappe niemals vorkamen. Aus 
solchen Überschätzungen sind die in Frage stehenden Mittel- 
werte hauptsächlich hervorgegangen. 


Angesichts dieser Tatsachen ist bei der Beurteilung von 
Prüfungsergebnissen der vorliegenden Art daran zu erinnern. 
daß das psychophysische Individuum kein physikalischer Apparat, 
ist, der, wenn vorher ermittelte Konstanten (die Einflüsse der 
Temperatur, des Luftdrucks usw.) genau berücksichtigt werden. 
auch in immer gleicher Weise funktionieren muß, sondern daß 
es die Funktionen des Bewußtseins, die wir untersuchen wollen. 
selber sind, welche verändernd in den Ablauf des psychophysischen 
Geschehens eingreifen können. Bei physikalischen Unter- 
suchungen wundert sich niemand, wenn bei der Unmöglichkeit, 
bestimmte Konstanten innezuhalten, Unregelmäßigkeiten in den 
Resultaten hervortreten. Um so weniger darf man sich wundern. 
wenn bei psychophysischen Versuchen wie die vorliegenden Un- 
regelmäßigkeiten in den Endergebnissen zutage treten, die 
letzterdings in den verwickelten und schwer konstant zu halten- 
den Verhältnissen des seelischen Lebens begründet liegen. Das 
kann natürlich nicht heißen, daß das seelische Leben keiner 
Gesetzmäßigkeit unterworfen sei. 


Um die erwähnten Abweichungen tunlichst auszugleichen, 
sind die genannten Fünftelgruppen von je 20 Einzelbeobach- 
tungen nach Beendigung sämtlicher Versuchsreihen unter sonst 
gleichen Bedingungen einer Nachprüfung unterzogen worden. 
Dabei ist aber hervorzuheben, daß die Beobachterin nichts von 
jenen Abweichungen erfuhr. Es ward ihr nur gesagt, daß 
dieser Teil der Untersuchung zwar beendet sei, daß wir aber 
doch, wie üblich, noch einige Kontrollversuche anstellen würden. 
Aus diesen Nachprüfungen erhielt ich die folgenden Mittelwerte: 


N-=80 mm. (Zweites Fünftel.) Fm = 78,565 mm; Vm = 1,5545; 
h. W. = 82 mm (l mal); n. W. =74 mm (lmal) 


N =80 mm. (Drittes Fünftel.) Fm =78,185 mm; Vm = 1,9565; 
h. W. = 81,4 mm (l mal); n. W. = 73,8 mm (l mal) 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 85 


N = 90 mm. (Drittes Fünftel.) Fm = 8783 mm; Vm = 1,62; 
h. W. = 91,0 mm (l mal); n. W. = 85,0 mm (l mal) 

N = 100mm. (Drittes Fünftel) Fm = 96,065 mm; Vm = 1,4615; 
h. W. = 100,0 mm (lmal); n. W. = 93,4 mm (l mal) 


Setzen wir die Mittelwerte dieser Fünftelgruppen für die 
oben genannten ein, so erhalten wir für die Normalstrecken 
der zweiten Etappe die folgenden Gesamtmittel: 


N = 60 mm. Fm = 57,371 mm; Vm = 1,4081 
N=70 mm. Fm = 67,119 „; „ =1,5113 
N =80 mm. Fm =78,103 „; „ = 1,83812 
N = 90 mm. Fm = 87,010 „; „ = 1,7492 

N = 100 mm. Fm = 95,807 „; „ = 1,75 228 


Berechnen wir auf Grund dieser Gesamtmittel die Werte 
iür C und so ergibt sich uns die nachstehende Übersicht, 
in der w gleichfalls den auf 2 Dezimalstellen abgekürzten 
wahrscheinlichen Fehler bedeutet. 


c 
N =60 mm. C = 2,629 mm; S = 0,04382 = z5 ; W= 0,12 
N=70 mm. C=2881 „ ; Č = 0,04116 = | ; w=0,12 
N=80 mm. C=1,897 „; Č =0,02731= L 


N = 90 mm. C=2,990 „; 


———— 


N = 100mm. C- 4193 „; ; w=0,15 


Die neuen Berechnungen zeigen, daß für die Strecke von 
100 mm der Quotient von z erreicht wird, und daß sich auch 
auch für die von 80 und 90 mm die entsprechenden Werte 


dem von den wir unter den gegebenen Bedingungen für 


1 
94’ 
die vorliegende Reizskala als den normalen Wert annehmen 
dürfen, um ein Beträchtliches mehr nähern. Aber sie zeigen 
auch, daß namentlich der für die Strecke von 80 mm neu- 
gewonnene Wert immer noch um ein nicht Unerhebliches von 


86 F. Kiesow, 


dem ersteren abweicht. Die Verhältnisse liegen hier anders als 
bei der Nachprüfung der der ersten Etappe angehörigen Strecke 
von 30 mm. Dort handelte es sich um eine größere Annäherung 
des Mittelwertes an den Normalwert. Hier liegt das Umgekehrte 
vor. Die Abweichung hat jedoch für mich durchaus nichts 
Erstaunliches. Sie erklärt sich aus dem persönlichen Verhalten 
der Versuchsperson dieser Strecke gegenüber, d.h. aus der 
suggestiven Wirkung, welche die letztere auf sie ausübte. Die 
Beobachterin erkannte gerade in der Beurteilung dieser Normal- 
strecke ganz besondere Schwierigkeiten. Sie empfand ein Un- 
behagen, sobald die Strecke dargeboten ward und fühlte sich 
erleichtert, wenn die Gleicheinstellungen dafür beendet waren. 
Sie gab des öfteren an, daß sie sich bei dieser Strecke in ihrem 
Urteile niemals recht sicher fühle. In Anbetracht dieser Tat- 
sachen begreift man die außerordentliche Willensanstrengung 
und somit die Überspannung der Aufmerksamkeit, durch welche 
die einzelnen Werte in die Höhe getrieben wurden. In dem 
aufrichtigen Bemühen, gewissenhaft zu schätzen, war die Ein- 
stellung auf diese Strecke vielfach sicher übernormal. Daraus 
erklärt sich auch, daß Überschätzungen gerade hier am häu- 
figsten auftraten. Die. Strecke ward unter Berücksichtigung 
der Nachprüfungsergebnisse in hundert Beobachtungen 22 mal 
überschätzt, wobei die einzelnen Überschätzungen innerhalb der 
Grenzen von 80,2 und 32,2 mm lagen. Um bei dieser Reiz- 
größe auf den Quotienten von E zu gelangen, hätte die mittlere 
Fehldistanz aus 100 Einzelversuchen ungefähr 76,6 mm be- 
tragen müssen. Sie beträgt aber, wie angegeben, 78,103 mm, 
übersteigt somit den zu erwartenden Mittelwert um rund 
1,5 mm. Vielleicht hätte eine nochmalige vollständige Nach- 
prüfung dieser Strecke unter möglichst günstigen Bedingungen 
(z. B. ausschließlich während der festgesetzten Nachmittagszeit,) 
zu einer größeren Annäherung an den Mittelwert 76,6 mm ge- 
führt; denn die Versuchsperson hatte sich im Verlaufe der 
Beobachtungen: doch allmählich etwas mehr an diese Strecke 
gewöhnt. Ich habe auch an eine solche Nachprüfung gedacht. 
Aber da ich ihrer Hilfe bei den Bestimmungen der Unterschieds- 
empfindlichkeit noch für lange Zeit in Anspruch zu nehmen 
gezwungen bin und sie mir bereits seit Monaten ihre Mitarbeit 
in uneigennütziger Weise geliehen hatte, so mußte ich auf sie 
Rücksicht nehmen. Das wird auch jedermann verstehen. Um 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 87 


zusammenzufassen: Ich sehe in dem abweichenden Gesamtmittel 
von 78,103 mm keinen Verstoß gegen die in Frage stehende 
Gesetzmäßigkeit und bin der Meinung, diese Abweichung nach 
psychologischen Gesichtspunkten, die hierfür allein in Betracht 
kommen können, hinreichend erklärt zu haben. 

Ähnliches gilt für die bei weitem geringere Abweichung. 
die im Gesamtmittel für die Normalstrecke von 90 mm hervor- 
tritt, so daß es nicht nötig ist, auf die bereits dargelegten 
Einzelheiten nochmals einzugehen. Es sei daher nur im all- 
gemeinen erwähnt, daß die Beurteilung dieser Strecke nicht so 
schwer empfunden ward als die von 80 mm, wenngleich immer 
noch schwerer als die der übrigen Strecken dieser Etappe. Die 
Gleicheinstellung war für diese Strecke sogar schwieriger als 
für die von 100 mm. Die Anzahl der Überschätzungen betrug 
bei der Normalstrecke von 90 mm 8, sie lagen zwischen 90,2 
und 92 mm. 


Um auch der Überschätzungen kurz Erwähnung zu tun, die 
bei der Gleicheinstellung für die Normalstrecken von 60, 70 
und 100 mm hervortraten, habe ich sie samt ihrer Häufigkeit 
in der nachstehenden kleinen Tabelle zusammengestellt. 


N — 60 mm. Anzahl der Überschätzungen: 6; niedr. Überwert = 60,2 mm; 
höchster Überwert = 61,2 mm. 

N= 70 mm. Anzahl der Überschätzungen: 3; niedr. Überwert = 71,0 mm; 
höchster - Überwert = 71,0 mm. 

N = 100 mm. Anzahl der Überschätzungen: 2; niedr. Überwert = 101,2 mm; 
höchster Überwert = 102,0 mm. 


Eine fehlerlose Gleicheinstellung ward erreicht bei 60 mm: 
1 mal, bei 70 mm: 5mal, bei 80 mm: 6 mal, bei 90 mm: 2 mal, 
bei 100 m: 3 mal. 


Was die Neigung der Beobachterin betrifft, die darge- 
botenen Strecken zu unterschätzen, so ist in dieser Hinsicht 
eine Tatsache von Interesse, die ich gelegentlich von ihr er- 
fuhr. Sie teilte mir mit, wie sie schon in früheren Jahren 
zur Zeit ihres Zeichenunterrichts an sich selbst bemerkt habe. 
daß wenn sie gezwungen war, mit freiem Auge zu arbeiten, 
ihre Zeichnungen meistens um ein Geringes kleiner als die 
Vorlage oder der darzustellende Gegenstand ausgefallen seien, 
während sie bei einigen Mitschülerinnen das Gegenteil be- 


88 F. Kiesow, 


obachtet habe. Sie gab dabei weiter an, daß wenn sie sich 
in jener Zeit mit Anstrengung aller ihrer Kräfte bemüht habe, 
diese Neigung zu überwinden, ihre Zeichnungen zuweilen zu 
groß geworden seien. Da diese Mitteilung im vollsten Einklang 
mit den dargelegten Versuchsergebnissen steht, so erhellt, daß 
es sich bei meiner Versuchsperson um eine persönliche Ver- 
anlagung handelt. Diese Veranlagung kommt eben in den 
Prüfungsergebnissen zum Ausdruck. 

Aus der unabweisbaren Tatsache, daß es sich bei der Gleich- 
einstellung um eine spezifische seelische Funktion handelt, ist. 
wie ich meine, auch zu schließen, daß die sogenannte Methode 
der mittleren Fehler nicht geeignet sein kann, zu ge- 
nauen Angaben über die Unterschiedsempfindlichkeit zu führen. 
Die letztere muß sich natürlich bei der Gleicheinstellung geltend 
machen, aber zu einer sicheren Ermittelung ihrer Werte kann 
die Methode der mittleren Fehler keine Hilfe bieten. In dieser 
Hinsicht ist ihr die Methode der Minimaländerungen weit über- 
legen. Die letztere bleibt in der Tat die klassische Methode, 
welche unter Berücksichtigung aller hier in Betracht kommenden 
Einzelheiten sicher zum Ziele führt. Durch sie wird auch zu 
ermitteln sein, wie weit die Tatsachen der Unterschieds- 
empfindlichkeit bei der Gleicheinstellung in Mitleidenschaft ge- 
zogen werden. Das wird, wie bereits hervorgehoben, der Gegen- 
stand des zweiten Teiles dieser Untersuchung sein. 

Zusammenfassend komme ich auch für die 
Versuche dieser zweiten Etappe zu der Über- 
zeugung, daß dem Vorgang der Gleicheinstellung 
für die Reizgrößen von 60 bis 100 mm gleich- 
falls eine Gesetzmäßigkeit zugrunde liegt, die 
den Forderungen des Weberschen Gesetzesdurch- 
aus analog ist. Die Frage, warum der Quotient bei den 
Prüfungen der zweiten Etappe verschieden ist von dem, der 
bei den Versuchen der ersten gewonnen ward, wird sich end- 
gültig erst nach Abschluß des zweiten Teiles der ganzen Unter- 
suchung entscheiden lassen. Jedoch läßt sich mit Bestimmt- 
heit bereits so viel sagen, daß die Vorgänge der Aufmerksam- 
keitsspannung dabei eine hervorragende Rolle spielen. 


Aus dem Dargelegten ergibt sich, wie ich hoffe, daß die 
Gesetzmäßigkeit, welche in den Ergebnissen dieser Untersuchung 


Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 89 


zutage tritt, weder auf Nebenumstände noch auf physiologische 
Vorgänge als deren Erklärungsursachen zurückgeführt werden 
kann. — Nebenumstände! Es ist nicht recht einzusehen, worin 
diese im vorliegenden Falle bestehen sollten. Die einzige variable 
Größe, welche bei den beschriebenen Versuchen überhaupt in 
Betracht kommen kann, ist die Ausdehnung der verwendeten 
Linien. Und wenn man angesichts dieser Tatsache etwa an 
eine Verschiedenheit im Einfluß der Augenbewegungen oder 
des Irradiationsvorganges denken wollte, so ist doch andererseits 
daran festzuhalten, daß sowohl Muskelempfindungen als auch 
die aus den verschiedenen Graden der Irradiation hervor- 
gehenden Erscheinungen seelische Inhalte darstellen, die in 
jedem einzelnen Falle in den psychischen Gesamtkomplex ein- 
gehen. Kurz, es liegt an den Vertretern solcher Anschauungen, 
die Nebenumstände aufzuzeigen, welche zu einer so ausge- 
sprochenen Gesetzmäßigkeit Anlaß geben, wie sie hier vorliegt. 

Was endlich die Versuche betrifft, welche gemacht wurden, 
das Webersche Gesetz physiologisch zu begründen, welchen 
Versuchen naturgemäß auch die diesem Gesetze analogen Ver- 
haltungsweisen untergeordnet werden müßten, so ist bekannt, 
daß man bei den Erscheinungen der negativen Stromschwankung 
im Nerven. wie bei der isotonischen Muskelzuckung und anderen 
Vorgängen Regelmäßigkeiten ähnlicher Art erkannt hat, d.h. 
daß auch in solchen Fällen der arithmetischen Progression 
eine geometrische parallel gehen kann. Aber so hoch der Wert 
solcher Befunde einzuschätzen ist, so wäre es doch ein gewagter 
Schritt, aus solchen Ergebnissen auch nur auf die Möglichkeit 
einer physiologischen Begründung der in Frage stehenden Ge- 
setzmäßigkeiten zurückzuschließen. Was bei solchen Versuchen 
übersehen wird, ist, daß jeder seelische Vorgang in irgendeiner 
‚Weise zwar immer physiologisch bedingt ist, daß er aber nie- 
mals physiologisch erklärt werden kann, weil physiologische 
und seelische Vorgänge letzterdings unvergleichbar sind. Hier 
gähnt eine Kluft, die noch nicht überbrückt ist. Das W:eber- 
sche Gesetz bringt eine seelische Tatsache zum Ausdruck. Und 
dasselbe gilt für das gesetzmäßige Verhalten im vorliegenden 
Falle. Was wir vergleichen, sind weder die noch in tiefes 
Dunkel gehüllten nervösen Prozesse, noch sind es die Be- 
‚ wegungen der Augenmuskeln oder die Irradiationsvorgänge, 
sondern es sind seelische Inhalte, die sich in kein physiolo- 
gisches System zwingen lassen. Angesichts dieser unabweis- 


90 F. Kiesow, Über die Vergleichung linearer Strecken usw. 


baren Tatsache bleibt daher kein anderer Ausweg, als das 
W.ebersche Gesetz und die ihm analogen Verhaltungsweisen 
als das aufzufassen, was sie in Wirklichkeit sind und nur sein 
können: als Gesetze der Beziehungen, denen psychische Vor- 
gänge, und zwar die der aktiven Apperzeption zugrunde liegen. 

Meiner treuen Mitarbeiterin gestatte ich mir auch an dieser 
Stelle meinen wärmsten Dank auszusprechen. 


(Eingegangen am 30. März 1925.) 


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§ 13. 


(Aus dem Psychologischen Institut München.) 


Über Hemmungen bei der Realisation eines 
Willensaktes. 


Von 
Julian Sigmar. 





Inhaltsverzeichnis. 


Problemstellung . ; 
Versuchsanordnung . . . 2 2. 2... 


A. Analytische Resultate: 

I. Bedingungen eines erfolgreichen Willensaktes. 
Die Kontroll-Tendenz . ; 
Die »Praxis«. (Zum — führende Verhaltüngsweise) i 
Die »Hingabe« . . 

Ist die Aufmerksamkeit eine Bedingung 1 der richtigen Reaktion. 
Perseveration š ; > u 
Inertial-Tendenz . 

Reproduktions-Tendenz 

Der feste Vorsatz und sein Verhältnis” zur r ribtigeù Liane’. 


II. Ursachen der erfolglosen Reaktionen. 
Reproduzierende —— 
Ablenkungen . er 
Eilfertigkeits-Tendenz . 2 : 
Ermüdung, Konzentration, unverötanden. Aufgabe ; 


B. Synthetische Resultate: 


Über Ziel und Anlage der Prüfungsreihen . 3 
Fehlreaktionen auf Grund einer reproduzierenden Verhaltungsweise 
Versuche zum Nachweis, daß der starke Vorsatz i. F.R. und F.R. 
nicht verhindert . i E 
Richtige Reaktionen ohne feston Voris. 


C. Systematisches: 


Über das Assoziationsgesetz . . : 
Zur Theorie der i. F.R. und des Willens ; 


92 Julian Sigmar, 


&1. Problemstellung. 


Die Frage nach der Hemmung bei der Realisation eines 
Willensaktes hat Narziß Ach in seinen bekannten Ver- 
öffentlichungen!) zuerst?) aufgenommen und sie auf Grund seiner 
Untersuchungen dahin beantwortet, daß, abgesehen von einigen 
verschleiernden Nebenbefunden, mancher Willensakt an der 
Macht assoziativer und reproduktiver Tendenzen scheitere. Man 
könne geradezu von einem Kampf sprechen, der sich zwischen 
den reproduktiven Tendenzen einerseits und jenen »im Un- 
bewußten wirkenden, von der Zielvorstellung ausgehenden, auf 
die kommende Bezugsvorstellung gerichteten Einstellungen«, 
abspielt, »welche ein spontanes Auftreten der deteminierten 
Vorstellungen nach sich ziehen«, die Ach als determinierende 
Tendenzen bezeichnet?°). 

Der Kampf dieser zwei als Tendenzen an sich wesensgleichen 
psychischen Phänomene sei so einsichtig, daß Ach auf Grund 
der in Gedächtnisexperimenten unzählige Male angewandten 
These von der Verstärkung der Assoziationskraft durch zahlen- 
mäßig gesteigerte Wiederholungen den Gedanken aussprach, daß 
auch eine Messung der Willenskraft möglich wäre. Wenn näm- 
lich die reproduktive Stärke von gestifteten Assoziationen mit 
der Zahl der Wiederholungen steigt, so muß eine Steigerung 
der Wiederholungszahl an jenen Punkt führen, wo die deter- 
minierende Tendenz sich an der Assoziationsstärke bricht. Jene 
Zahl von Wiederholungen einer Silbenreihe, die eben über- 
schritten werden muß, damit die determinierende Tendenz nicht. 
mehr den Ablauf der Assoziation stört, nannte Ach das asso- 
ziative Äquivalent der Determination (W. u. T. S.43). Es er- 
übrigt sich angesichts von Lindworskys eingehender Dar- 
stellung der wichtigen Auseinandersetzungen über die Tat- 
sächlichkeit der determinierenden Tendenzen und der daraus 
gefolgerten Gesetzmäßigkeiten, weitere Erklärungen darüber zu 
geben“). Es war Lindworsky stets klar gewesen, daß diese 
Kontroverse nicht nur auf dem Wege der immanenten Kritik, 


1) Willenstätigkeit und Denken, Göttingen 1905 (zit. W. u. D.); Willens- 
akt und Temperament, Leipzig 1910 (zit. W. u. T.). 

2) Vgl. jedoch Wirth, Die exper. Analyse d. Bewußtseinsphänomene, 
Braunschweig 1908, S.389 ff., sowie die Leipziger Arbeiten in: Psychol. 
Studien, Bd. IX, u. Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 39. 

3) W. u. D. S. 228. 

4) Der Wille, 3. Aufl. 1923. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 03 


sondern unbedingt auch durch Kontrollversuche geklärt werden 
müsse; und so interessierte er mich schon 1919 für eine experi- 
mentelle Analyse des Achschen Gesetzes vom assoziativen 
Äquivalent, worüber ein Schüler von Ach, Curt Rux, eine 
Spezialuntersuchung veröffentlicht hat®). 

Wenn es gilt, die Resultate einer experimentellen Unter- 
suchung durch Kontrollversuche zu prüfen, so kann man zwei 
Wege einschlagen: entweder man hält sich genau an die Ver- 
suchsanordnung des Autors und legt den Nachdruck auf eine 
selbständige Analyse der Protokolle, oder man reduziert die 
Versuchsanordnung der vorliegenden zu prüfenden Arbeit auf 
ihre wesentlichen Grundzüge und stellt dann auf dem Boden 
dieser sachlichen Gleichheit neue Versuchsanordnungen her, 
die zum selben Resultat führen müssen, aber infolge des neuen 
Versuchsmaterials die Ergebnisse von einer anderen Seite sehen 
lassen. 

Beide Kontrollmethoden sind gegenüber der Achschen 
Lehre vom assoziativen Äquivalent der Determination ange- 
wandt worden. Während ich im Münchener Psychologischen 
Institut unter strenger Anlehnung an die Ruxsche Arbeit, 
selbst unter Benutzung desselben Silbenmaterials, das Herr Pro- 
fessor Ach gütigst dafür zur Verfügung gestellt hatte, das 
Hauptgewicht auf die Analyse gelegt habe, hat Kurt Lewin 
in Berlin die zweite Methode der Kontrolle angewandt. Beide 
Arbeiten gelangten unabhängig voneinander zum gleichen 
Hauptresultat, nämlich zur Ablehnung des Gesetzes vom asso- 
ziativen Äquivalent sowie zu der Überzeugung, daß das Grund- 
gesetz der Assoziation in seiner überlieferten Fassung unhalt- 
bar sei®). 

Da ungeachtet der beiden Hauptresultate im einzelnen 
zwischen Kurt Lewin und mir wichtige Unterschiede der 
Deutung der vorliegenden Phänomene bestehen, möchte ich 
durch einen nach Möglichkeit gekürzten Bericht Gelegenheit 
zur Stellungnahme geben. 

Die literarische Diskussion hatte sich in viele Teilprobleme 
differenziert, wodurch der Analyse Ziel und Richtung gewiesen 


5) Über das assoziative Äquivalent der Determination, Leipzig 1913. 

6) Die Lewinsche Arbeit, 1914 im wesentlichen abgeschlossen, erschien 
1922 im ersten und zweiten Band der »Psychologischen Forschung«, während 
ich über meine Resultate, die 1921 abgeschlossen waren, zwar im selben 
Jahre, aber nur auf dem Behelfswege einer Inhaltsangabe berichten konnte. 


94 Julian Sigmar, 


wurde. Zunächst versprachen Kontrollversuche wertvolle Ein- 
sicht in das Phänomen der Determination an sich. Ist es wirk- 
lich nur ein Streit zwischen zwei Tendenzen, der sich in den 
Ach-Ruxschen Versuchen abspielt? hatte schon Lindwor- 
sky gefragt. Ist ferner der »feste Vorsatz« eine maßgebliche 
oder auch nur einfließende Bedingung des Erfolges der Re- 
aktion, d.h. bei der Realisation eines Willensaktes? (Selz, 
Külpe, Lindworsky?’).. Kommt es nicht vielmehr nur 
auf die Konzentration der Aufmerksamkeit an? (Selz). Oder 
ist etwa Lindworskys Vermutung richtig, daß für das 
Vermeiden der Fehlreaktion entscheidend sei, ob man in der 
Hauptperiode auf irgendeiner Stufe das Aufgabebewußtsein 
präsent halte? 


S 2. Versuchsanordnung. 


In der Arbeit von Rux hat Ach manche Verfeinerungen der Versuchs- 
anordnung vorgeschlagen, die nicht ohne Einfluß auf den Ausfall der Re- 
sultate geblieben sind. Die Änderungen gegenüber den Achschen Versuchen 
von 1910 sind folgende: 

1. Einführung der fünfbuchstabigen Doppelsilben an Stelle der bisher 
gebrauchten dreibuchstabigen vom Schema »duk«. Sie ermöglichten ebenso 
ein Umstellen der Konsonanten (tibal—libat), wie der Vokale (tabil), während 
die dreibuchstabigen nur ein Umstellen der Konsonanten erlauben. Rux be- 
zeichnet die Silben, an denen das Umstellen der Konsonanten geübt wurde, 
u kx - Silben, jene, an denen das Umstellen der Vokale vorgenommen werden 
sollte, als u,-Silben. Ein u,-Silbenpaar wäre etwa: nodel-loden, ein u,- 
Silbenpaar: piras-paris. 

2. Einführung der »-Silben (neutrale Silbenpaare, deren zweite Silbe mit 
der ersten in keiner Umstellungsbeziehung steht; z. B. ligok-vogel). 

3. Die Verbindung von sinnlosen mit einer sinnvollen Silbe, so daß das 
sinnvolle Wort durch Umstellung aus einem sinnlosen entsteht: naser-rasen, 
gebal-gabel; der Zweck war die Stiftung einer stärkeren Assoziation inner- 
halb eines Silbenpaares. 

4. Eine v-Silbe dagegen kam nie mehr als einmal mit derselben Silbe 
zusammen vor, was durch Kombination derselben untereinander erreicht wurde; 
denn zwischen den neutralen Silben sollte keine Assoziation entstehen. 

Es gab also drei Arten von Silben, ux“, u, und »-Silben, und von jeder 
Art 3 Reihen zu je 4 Paaren, die durch Darbietung am Gedächtnisapparat 
gelernt werden mußten. Es waren aber auch 3 Tätigkeiten möglich, U x. 
(= Umstellen der Konsonanten), Uy. (= Umstellen der Vokale) und Rp. (= Be- 
produzieren des Gelernten) an jeder Silbe. 


7) Selz, Die experimentelle Untersuchung des Willensaktes, Z. Ps. 
Bd. 57 S.241 und: Willensakt und Temperament, Z. Ps. Bd.59 8.113; 
Külpes Besprechung von »Ach, Willenstätigkeit und Denken« in den Göt- 
tingischen Gelehrten Anzeigen 1907, 169. Jahrg. Heft 8 S. 595—608; 
Lindworsky, a.a. 0. S. 103-106. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 95 


Je nach dem Charakter der gelernten Silbe konnte von einer homogenen, 
heterogenen oder indifferenten Tätigkeit gesprochen werden. Beispiel: Ge- 
lernt sei: nodel-loden. Bei der Instruktion Uy. müßte aus nodel nedol ge- 
bildet werden, was der gelernten Assoziation widerstrebt (heterogen), 
bei Ux. dagegen wird aus nodel ganz im Einklang mit dem Gelernten loden 
(homogen), eine indifferente Tätigkeit kann nur an einer» -Silbe ge- 
übt werden, welche gegen jede Assoziation gleichgiltig ist. Die Werte der 
neutralen Silben wie die des Rp. sollten nur zu Vergleichszwecken gewonnen 
werden. 

Von den 6 Versuchsanordnungen der Ruxschen Arbeit wählte ich zwei 
aus, eine starke, weil bis zu 220 Lesungen gefordert wurden, und eine 
schwache, bei der schon nach 20 Lesungen Prüfungsreihen veranstaltet wurden. 
Die starke Anordnung führt im Verlauf der Arbeit die Bezeichnung I, die 
schwache die Bezeichnung II. 

Um die Stärke der Assoziation nicht bloß von der Häufigkeit der Dar- 
bietung abhängig zu machen, worauf die Versuchsanordnung AI bei Rux aus- 
schließlich gründet, sind die Silbenreihen meiner Anordnung I (wie bei Rux 
in BII) aus den zur Hälfte sinnvollen Assoziationspaaren gebildet, deren zweite 
Silbe durch Umstellung aus der ersten entstanden ist: nadef-faden usw... .®). 

Anordnung I war für 11 Versuchstage berechnet; jeden Tag fanden 20 Le- 
sungen statt, nach 60 Wiederholungen setzte die 1. Prüfungsreihe ein; am 
11. Tag waren also 220 Lesungen vorausgegangen. 

Die schwache Anordnung II heißt bei Rux »C«. Sie hat 9 Versuchstage, 
wobei aber täglich neue Silben dargeboten werden. Nach je 20 Lesungen 
beginnt die Prüfung. 

12 Versuchspersonen hatten sich gütigst zur Verfügung gestellt, die in 
der Darstellung fortlaufend mit A bis M bezeichnet werden. Sämtlichen ge- 
bührt in Anbetracht der viel Geduld fordernden Versuche der wärmste Dank 
des Verfassers. Die Vpn. A—D lieferten das Material zur Analyse der Rux- 
schen Versuche, mit den Vpn. E—K wurden synthetische Reihen angestellt, 
um das Ergebnis der Analyse zu verifizieren. 


Instruktionen. 


A. Vor der Darbietung zum Lernen: 


1. Es werden Silben erscheinen; es handelt sich nicht darum, daß die 
Reihe gelernt, sondern nur mit deutlicher Artikulation im jambischen Iktus 
gelesen wird. Sie lesen also einfach die Reihe, ohne den Ehrgeiz, sie mög- 
lichst rasch zu lernen. (Bei den Vpn. A—D angewandt.) 

2. In den synthetischen Reihen, mit Vpn. E—K, wurde folgende In- 
struktion angewandt, deren Verständnis leichter fiel: Es werden nachein- 
ander einzelne Silben erscheinen. Lesen Sie dieselben laut mit jambischem 
Iktus. Sie sollen die Silben im Gedächtnis zu behalten suchen, aber ohne 


8) Die uy- und uy-Silben-Paare wurden permutiert, so daß niemals das- 
selbe Paar auf ein anderes mehr als einmal folgte; die neutralen Silben 
dagegen blieben auch als Paare nicht zusammen, was durch Kombination 
derselben erreicht wurde, weil sich zwischen ihnen keine Assoziation bilden 
durfte (vgl. Rux). 


96 Julian Sigmar, 


daß Sie mnemotechnische Hilfsmittel gebrauchen. Lesen Sie vielmehr, und 
suchen Sie die Silben dabei in sich aufzunehmen! 


B. Vor den Reaktionen 
(bei den Vpn. A—K ohne Unterschied angewandt): 


l. Reproduzieren (Rp.): Es werden Silben erscheinen; nachdem Sie die 
erscheinende Silbe gelesen und erkannt haben, wollen Sie eine andere Silbe 
aussprechen. Nehmen Sie sich aber vorher keine bestimmte Silbe vor; nehmen 
Sie sich aber auch nicht vor, einen Reim auszusprechen oder Buchstaben um- 
zustellen, sondern sprechen Sie die von selbst zuerst auftauchende Silbe aus! 

2. Umstellen der Konsonanten (Ux): Es werden Silben erscheinen. Nach- 
dem Sie die erscheinende Silbe gelesen und erkannt haben, stellen Sie die 
An- und Auslaute der Silbe um! . | 

3. Umstellen der Vokale (U),: Es werden Silben erscheinen. Nachdem 
Sie die erscheinende Silbe gelesen und erkannt haben, stellen Sie die beiden 
Vokale um! 

Wenn die Übung zum erstenmal gemacht werden sollte, wurde die In- 
struktion zweimal vorgelesen, dann nur einmal. Zur Ausführung der Unter- 
suchungen standen die Apparate des Psychologischen Instituts München zur 
Verfügung, der Lipmannsche Gedächtnisapparat, das Hippsche Chrono- 
skop, der Achsche Kartenwechsler und der Römersche Schallschlüssel, 
welche alle an Präzision nichts zu wünschen übrig ließen. Die Uhrzeiten 
wurden am elektrischen Pendel kontrolliert. 


A. Analytische Resultate. 
I. Bedingungen eines erfolgreichen Willensaktes. 


Unter den 432 Versuchen, die mit den vier Versuchs- 
personen A—D angestellt wurden, befanden sich 144 Re- 
aktionen, in denen bloßes Reproduzieren geübt wurde. Diese 
können zunächst außer Betracht bleiben. Von Interesse sind 
die 288 Reaktionen, an denen homogene, indifferente und 
hetcrogene Tätigkeit geübt wurde. Auf diese 288 Reaktionen 
fallen 58 Fehlreaktionen (F. R.) und 7 Versager, mithin 
223 richtige Reaktionen (r. R.). 

Nach der Überzeugung von Ach müßten diese r. R. aus- 
schließlich der determinierenden Tendenz (det. Td.) zuge- 
schrieben werden. Er sagt: »durch den gleichen Reiz werden 
verschiedene Vorstellungen reproduziert, und zwar wird im 
einzelnen Falle jene Vorstellung überwertig, welche dem Sinne 
der Absicht entspricht« (W. u. D. S.192/93). Die Frage ist 
aber damit noch immer nicht entschieden, warum gerade diese 
und nicht jene Vorstellungen überwertig werden. Die Antwort 
darauf sollen die Protokolle ergeben; wir werden hier dem 
Grundsatz folgen, daß nur jene Ursache als sicher angenommen 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 97 


wird, die sich aus dem Protokoll und der Gesamtlage deutlich 
ergibt. ne 

Ach hat mit der Annahme von Tendenzen, welche ge- 
legentlich auch unbewußt auftreten und die psychischen Pro- 
zesse lenken,der Forschung einen fruchtbaren Weg gewiesen. 
Die Vermutung lag nahe, daß die determinierenden und re- 
produktiven Tendenzen nicht die einzigen sein. werden, die 
bei der Realisation eines Willensaktes eine maßgebende Rolle 
spielen. Die Analyse bestätigte diese Vermutung. Wenn wir 
die Protokolle sprechen lassen, so würden als Bedingungen der 
erfolgreichen Reaktion in Frage kommen: | 

1. die Kontrolltendenz, 2. die Praxis und Hingabe, 3. die 
Perseveration, 4. die Innertialtendenz, 5. die Reproduktions- 
tendenz. | 


$ 3. Die Kontrolltendenz (Ko.Td.). 


Den Namen »Kontrolle« haben wir von den Vpn. genommen, 
denen dieser Ausdruck sehr geläufig war. 

Die Ko. Td. kennzeichnet sich als ein Streben, die Re- 
aktionssilbe an der Zielvorstellung zu prüfen, ehe die um- 
gestellten Silben ausgesprochen werden. 


a) Bedingungen ihres Entstehens. 


1. Sie entsteht, wie schon in den Vorversuchen erkannt 
wurde, oft nach wenigen, gelegentlich sogar nach einem ein- 
zigen Mißerfolg; es stellt sich ein Mißtrauen ein, daß schon 
in der Vorperiode beobachtbar ist. Das ist aber nicht bei 
jeder Vp. so früh der Fall. 

Vp. B hat schon im zweiten Versuch falsch reagiert; aber 
statt mißtrauisch zu werden, wollte sie die Schwierigkeiten 
durch »starken Vorsatz« hinwegräumen, was durch die ersten 
fünf Versuche so bleibt. Dann erst trat die Ko. Td. auf. 

2. Sie entsteht aber auch ohne vorangegangenen Fehler 
wie von selbst, wenn nach einigen heterogenen und indiffe- 
renten Silben, zu deren Umstellung immer Mühe notwendig 
ist, auf einmal eine homogene Silbe dargeboten wird. Die 
ungewohnte Leichtigkeit der Arbeit ruft dann Mißtrauen wach, 
so daß die Reaktionssilbe vor dem Aussprechen erst kontrolliert, 
wird. 

Archiv für Psychologie. LI. 7 


98 Julian Sigmar, 


Dasselbe ist natürlich der Fall, wenn nach mehreren homo- 
genen Aufgaben plötzlich Schwierigkeiten in Gestalt einer 
heterogenen Silbe auftreten. 

Beispiele: 3.U,.-Tag, Vp.B. 6. Aufgabe; (nebal) nabel. 

V.P. Gewöhnliche Aufmerksamkeit. H.P. nebal-nabel sogleich von allein, 
zurückgehalten und kontrolliert, dann erst ausgesprochen. N.P. Zufrieden. 

3. Uy.-Tag. Vp. C. 6. Aufgabe. Nach einer neutralen und homogenen 
Silbe erscheint die heterogene Silbe ledon. 

V.P. Sehr konzentriert, um es schnell zu machen. H.P. nedol kam mir 
fremd vor, aber noch während der Wortbildung kontrolliert. N.P. Nochmals 
kontrolliert. 


b) Erscheinungs- und Wirkungsweisen. 


1. Ihrem zeitlichen Auftreten nach könnte man die Ko. Td. 
unterscheiden als solche, die sich vor der Reaktion geltend 
macht und solche, die nachher auftritt. Daraus wird ihre Be- 
deutung als regulatives Prinzip erkennbar. Sie veranlaßt eine 
Prüfung mit dem Gelernten oder mit der Aufgabe, verwirft 
Lösungsvorschläge und veranlaßt neue Willensantriebe : zur 
Lösung. Manchmal tritt sie vor und nach der Reaktion auf. 
Der Fall, daß die Kontrolle zuerst nach der Reaktion auftritt 
und dann allmählich in die Haupt- und Vorperiode zurück- 
weicht, wie Lewin sagt, konnte nicht beobachtet werden (vgl. 
unten). 

2. In beachtenswerter Regelmäßigkeit setzt die Ko.Td. 
gegen Ende eines Versuchstages ein. Das geschieht aber nicht, 
wie man mit Ach annehmen könnte?), als Reaktion gegen 
die mechanisierende Wirkung der sukzessiven determinierenden 
Abstraktion, sondern weil die Vp. gegen Schluß des Versuchs- 
tages den dauernden Wechsel der leichten und schweren Auf- 
gaben herausgemerkt hat und dann keiner Silbe mehr traut. 

3. Die Ko. Td. lehnt auch solche Assoziationen ab, die 
überhaupt nicht gelernt worden sind. Sie macht sich dann 
noch im letzten Augenblick, eine F. R. verhindernd, geltend. 

4. Die eine Lösung der Aufgabe ermöglichende Aus- 
führungstätigkeit wird im Laufe der Übung mechanisiert und 
von den Vpn. als »Praxis« bezeichnet. Über diese wird noch 
eigens zu reden sein. An dieser Stelle soll nur betont werdeh, 
daß die Ko. Td. auch gegen eine mechanisierte Praxis auftritt. 


Beispiel: Dritter U,.-Tag. Vp. B. Die neutrale Silbe ludep wird ziemlich 
schnell, in 1234 o zu pudel umgestellt. 


9) W. u. T. S. 246/47. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 99 


V.P. Aufmerksam, ohne starken Vorsatz. H.P. ludep entfernt bekannt. 
Umgestellt, gestört, weil pudel kam; daher nochmals kontrolliert. N.P. Ge- 
fühl der langen Dauer währt nach. 

5. Es gibt auch eine Art intuitiver Kontrolle, auf Grund 
derer die Vp. das Resultat im Bewußtsein seiner Richtigkeit 
sagt, ohne das Bedürfnis, sich darüber Rechenschaft geben 
zu müssen. Sich aufdrängende Fehlassoziationen werden ohne 
bewußte Kontrolle abgelehnt, die passende Silbe mit großer 
Sicherheit gesagt. 

Beispiel: 1. Ux.-Tag. Vp. B. Die homogene Silbe lügez wird in 1454 
o zu zügel umgestellt. 

V.P. Wie immer gespannt. H.P. lügez bekannt, zügel bildete sich recht 
schnell, ein Umstellungsversuch kam gar nicht in Betracht. N.P. Richtigkeits- 
bewußtsein. 


6. Die Ko. Td. überdauert gelegentlich einen ganzen da- 


zwischenliegenden Tag und tritt noch zu Beginn des folgenden 


Versuchstages in Erscheinung, wo sie dann manchmal nur 
hemmend wirkt. 

Beispiel: 3. U.,.-Tag. Vp. A. Die neutrale Silbe ribeb wird zu bibel 
umgestellt. Es ist die erste Reaktion des Tages. 

VP. Erinnerung an die Aufgabe, keine Beherrschung derselben. H.P. Biber, 
dann eine Falle vermutet, dann rasch bibel gesagt. Ich habe reproduziert 
und nicht umgestellt. N.P. Wissen um die F.R. (Bemerkung: Der voran- 


gegangene Tag war ein Rp.-Tag.) 


c) Ko. Td. und vermiedene intendierte Fehl- 
reaktion. 


An jedem Versuchstag, in dem eine Umstellungstätigkeit 
gefordert wurde, waren unter den 12 Reaktionen stets 4 hetero- 
gene Silben eingestreut, wodurch eine Fehlreaktion nahegelegt 
werden sollte; daher intendierte Fehlreaktion (i. F. R.). Bei 
den vier Vpn. war also 96 mal Gelegenheit zu diesem Fehler 
gegeben. Ein Vergleich der heterogenen Aufgaben ergibt, daß 
auch ihre Lösung sehr stark von der Mitwirkung der Ko. Td. 
abhängig gewesen ist. 13 i.F.R. erfolgen offensichtlich, weil 
die Ko. Td. nicht vorhanden war, 40 i.F.R. werden infolge 
der Ko. Td. vermieden. In 33 heterogenen Aufgaben ist die 
intendierte Fehlreaktion vermieden worden, obwohl eine Ko. Td. 
nicht erkennbar ist; diese Aufgaben gelangen infolge einer 
Verhaltungsweise, die von den Vpn. als »Hingabe« bezeichnet 
wird, in der aber latent ebenfalls eine kontrollierende Ein- 
stellung vorherrscht. Die Beschreibung dieser Verhaltungsweise 
wird weiter unten erfolgen. Zwei intendierte Fehlreaktionen 

7, 


100 Julian Sigmar, 


haben zwar Ko.Td., aber nur unvollkommen; für den Miß- 
erfolg muß in einem Fall ein ablenkendes starkes Gefühl, im 
andern Fall Eilfertigkeit verantwortlich gemacht werden. 

Es ist uns in diesem Rahmen unmöglich, die Protokolle 
der heterogenen Aufgaben anzuführen und deren Resultat sta- 
tistisch wiederzugeben. Wir dürfen aber sagen, daß der Ko. Td. 
eine ganz erhebliche, wenn nicht ausschlaggebende Bedeutung 
für die richtige Lösung zukommt. 


d) Die Selbständigkeit der Ko. Td. 


Sie ist nicht zu verwechseln mit der sukzessiven Attention 
Ach’s, ist auch etwas anderes als die determinierende Tendenz. 

Ach beschreibt die sukzessive Attention als ein stärkeres 
Hervortreten der konkreten Bezugsvorstellung (W.u.D. S. 245), 
“ein vollständiges Auffassen der qualitativen Bestimmtheit des 
Reizeindruckes (a.a.0. 8.246). Solche Erscheinungen finden 
wir aber auch bei anderen Faktoren. Wenn der sukzessiven 
Attention das besondere Verdienst zugeschrieben wird, F.R. 
zu verhindern, so werden wir später auch andere Verhaltungs- 
weisen aufzeigen, welche dieselbe Wirkung haben. Ach selbst 
unterscheidet zwischen sukzessiver Attention und jener »ur- 
teilenden Stellungnahme, die allerdings, sofern die Richtig- 
keit der Umstellung als Valenz erlebt wird, nicht in einem 
eigenen Akt erlebt wird. Sie stellt ein Urteil darüber dar, ob 
der auftretende Inhalt dem entspricht, was früher Gegenstand 
des Vorsatzes war« (W.u.T. S. 264). 

Damit gesteht ihr Ach Akt-Qualität zu. Seiner Ansicht, 
daß die Kontrolle eine Wirkung des geübten starken Wollens 
ist (W.u.T. 8.301f.), kann nicht zugestimmt werden, da sie 
auch schon vor dem geübten starken Wollen beobachtbar ist. 
Die Ko. Td., wie wir sie beschrieben haben, geht ihrer Qualität 
nach weit über die sukzessive Attention Ach’s hinaus. 

Die Ko.Td. ist aber auch nicht identisch mit der det. Td., 
denn die dieser zugeschriebenen Eigenschaften (vgl. W.u.D. 
S. 228) kommen der Ko.Td. nicht zu, wie ein Blick auf die 
dargestellten Erscheinungs- und Wirkungsweisen zeigt. Wenn 
der det. Td. kontrollierende Wirksamkeit ohne weiteres eigen 
wäre, wie ließe es sich dann erklären, daß die Ko. Td. in so 
vielen Fällen ganz fehlt, in anderen erst so spät erscheint? 
Die Ko.Td. stellt sich auch als eine den regelmäßigen Ablauf 
der determinierten Bewußtseinsvorgänge hemmende Er- 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. ` 107° >: 


scheinung dar. Eben diese Verzögerung spricht dafür, daß sie 
etwas von der det. Td. an sich Verschiedenes ist. Sie äußert 
sich in einem eigenen Vorsatz: ich will vorsichtig sein! Wenn 
Ach daraus folgert, daß damit ein neuer Inhalt in den Vor- 
satz eingegangen ist, so ist dieser Inhalt zwar eine Folge der 
Determination, aber an sich ein neuer Entschluß, von dem 
eine neue »determinierende Tendenz« ausgehen sollte. 


e) Die Ko. Td. in der Literatur. 


l1. Aus dem Achschen Kreise liegt über die sukzessive Attention eine 
Arbeit von Friderici vor!°), welche sich ganz in den Anschauungen Achs 
bewegt!1) und sich damit begnügt, quantitativ die Verzögerungen nachzu- 
weisen, welche als Folgen der sukzessiven Attention beobachtet werden 
(S. 79£.). Außer der schon erwähnten Verlängerungswirkung wird noch die 
sogenannte »Irradiation« festgestellt, d. i. ein Übergreifen der Wirkung 
der sukzessiven Attention von einem Übungstag auf den andern (vgl. oben 
S.99; 6). Merkt dann die Vp., daß ihre vorsichtige Zurückhaltung unnötig ist, 
so erfolgt allmählich eine zunehmende Verkürzung der Reaktion, die sogen. 
»Inversion«. 

Zu dem die Ko.Td. kennzeichnenden Prüfungs- und Vergleichsprozeß, der 
je nach der homogenen, heterogenen oder indifferenten Tätigkeit ein so ver- 
schiedenes Gepräge tragen kann, bringt F. keine Beiträge. 

Die sukzessive Attention hat nicht die Wirkung, i.F.R. zu vermeiden; 
solche Fehlreaktionen sind lediglich die Voraussetzung ihres Auftretens, 
und man kann deren Einfluß in den Hemmungserscheinungen messen und 
beobachten. Die Ko.Td. tritt, wie wir oben nachgewiesen haben, auch auf 
Grund anderer Bedingungen auf, äußert sich nicht bloß in mißtrauischer 
Vorsicht und Zurückhaltung, sondern in einem allgemeinen Prüfungsprozeß, 
der gelegentlich durch die ganze Versuchsreihe in Wirksamkeit bleibt und 
die Charakterzüge einer dauernden Verhaltungsweise annimmt. 

2. G. E. Müller unterscheidet drei Arten der Wirkungsweise einer kon- 
trollierenden Rolle und Wirksamkeit der Aufgabe1?): 

a) Die Aufmerksamkeit wird auf das Reizwort konzentriert, die dadurch 
direkt oder indirekt entstandenen oder vorhandenen oder auf Grund 
anderer Ursachen auftretenden Wörter werden vom Standpunkt der 
Aufgabe aus beurteilt und das erste passende Wort ausgesprochen. 

b) Während die Vp. im Begriffe ist, ein unrichtiges Wort auszusprechen, 
kontrolliert sie sich selbst und korrigiert sich. 

c) Die Aufgabe greift auch in der Weise ein, daß ein Wort zunächst 
ohne Mitwirkung der Aufgabe ausgesprochen wird, dann aber erst 
der entsprechende Sinn beigelegt wird. 


10) Über die Wirksamkeit der sukzess. Attention, Leipzig 1913. 

11) W. u. D., S. 245ff. und W. u. T., S. 491. 

12) Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit, III. Teil, Leipzig 1913, S. 470, 
471 und 473. 


-~ ` - œ . 


u Julian Sigmar, 


d) Gegen eine mechanisch gewordene Ausführungstätigkeit der Aufgabe 
macht sich ebenfalls die Ko.Td. geltend: »Es versteht sich von selbst, 
daß die kontrollierende Wirksamkeit der Aufgabe nicht bloß in solchen 
Fällen auftritt, wenn, wie oben angenommen, nur die mit Aufmerksam- 
keit erfaßte Reizsilbe und andere Faktoren von mehr zufälliger Art, 
die nach der Darbietung der Reizsilbe auftretenden Reproduktionen 
bestimmen, sondern auch in solchen, wo eine der dargebotenen Reiz- 
silbe sich anschließende zweckmäßige Verhaltungsweise reprodu- 
zierend wirkt« 12). 

3. Unsere Ansicht, daß die durch die Ko.Td. herbeigeführte Verzögerung 
der Lösung kein bloßes passives Gehemmtsein, sondern ein aktives Moment 
ist, vertritt O. Selz in den »Gesetzen des geordneten Denkverlaufa« 13). 
Selz kennzeichnet die Kontrollprozesse als die Wirkung einer Tendenz zur 
Aktualisierung vom gewissen allgemeinsten, intellektuellen Operationen (Lö- 
sungsmethoden), die jeder Determination reproduktiv zugeordnet sind. »Das 
Bewußtsein der Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit geht auf eine Abstraktion des 
zwischen der Reaktion und den Anforderungen der Gesamtaufgabe bestehenden 
Sachverhältnisses zurück. Diese Abstraktion geht wahrscheinlich auf ein 
Kontrollbedürfnis der Vp. und die aus ihm entspringende det.Td.« (Gesetze 
S. 257). »Durch die Annahme einer determinierten Lösungskontrolle wird 
die Tatsache sofort verständlich, daß bei der Aufgabelösung nicht wie bei 
einem rein assoziativen Ablauf jedes Erlebnis von dem folgenden abgelöst 
wird und damit aus dem Bewußtsein verschwindet, sondern daß der weitere 
Ablauf auf den Ausgangspunkt, die Gesamtaufgabe, zurückbezogen erscheint« 
(ebenda). 

Da diese allgemeinen Lösungsmethoden gewohnheitsmäßig angewendet 
werden, so braucht auch der Kontrollprozeß nicht im Bewußtsein hervor- 
zutreten, es gibt eine oft ganz unbewußte Kontrolle Im Falle einer Nicht- 
übereinstimmung der tatsächlichen und der von der Aufgabe geforderten Vor- 
stellungen kommt es zu einer determinierten Abstraktion des Sachverhält- 
nisses. Dabei tritt als das eine Fundament des Verhältnisses der Nicht- 
übereinstimmung die Instruktion wieder ins Bewußtsein (Gesetze S. 279). 

Die Gesetzmäßigkeit, welche die geschilderten Gedankenabläufe zeigen, 
drückt Selz in dem »Gesetz der Berichtigung« aus: »Die in dem Lösungs- 
versuch einer Aufgabe liegende Sachverhaltsfeststellung zeigt die Td., die 
Aktualisierung eines mit ihr in Widerspruch stehenden Wissens, verbunden 
mit der Erkenntnis des bestehenden Widerspruches, herbeizuführen« (Gesetze 
S. 273). 

Als Ursprung der Kontrolle sieht Selz einen determinierten Prüfungs- 
prozeß, ein Kontrollbedürfnis der Vp. an. Der Prüfungsprozeß beginne ent- 
weder durch klares Ausdenken des in dem Lösungsversuch liegenden Sach- 
verhältnisses oder auf Grund einer den Prüfungsprozeß einleitenden Frage. 
Denn eine Erklärung des Bewußtwerdens der Sachverhaltswidersprüche oder 
Übereinstimmungen auf Grund der Gesetze der Gleichheits- oder Ähnlichkeits- 
reproduktion hält Selz nicht für ausreichend. »Die Td. zur Prüfung... 
bewirkt einen höheren Bewußtseinsgrad bzw. eine höhere Bereitschaft der 
zur Bedeutung des Reizwortes bzw. der Aufgabe gehörigen Bestandstücke ... 


13) Stuttgart 1913 und Bd. 83 der Z. Ps. S. 224—226. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 103 


Dabei bestehe eine det.Td. zur Abstraktion der Identität bzw. zur Abstraktion 
des Verhältnisses der Übereinstimmung der tatsächlich bestehenden mit der 
durch die Aufgabe geforderten Beziehung. »Wir haben uns diesen deter- 
minierten Abstraktionsprozeß in der Weise vor sich gehend zu denken, daß 
die allgemeine Operation der det. Abstraktion ihren Ausgang von einer 
schematischen Antizipation des festzustellenden Sachverhältnisses der Über- 
einstimmung mit dem Reizwortgegenstand bzw. der Aufgabebeziehung nimmt« 
(Gesetze S. 275). 

4. Eingehende Darstellungen finden die Korrekturvorgänge auch bei 
Lindworsky!t). L, findet das Selzsche Gesetz der Berichtigung in seinen 
Untersuchungen bestätigt, sieht sich aber mit Rücksicht auf die kompli- _ 
zierteren Denkvorgänge des Schlußverfahrens zu einer Erweiterung veranlaßt. 
Er bringt die von ihm beobachtete Gesetzmäßigkeit auf folgende Formel: 
»Die Einstellung zur Auffindung einer entsprechenden Lösung bedingt die Td. 
zu erneuter Beziehungserfassung, eventuell im Verein mit dem Lösungsvor- 
schlag zur Aktualisierung eines mit diesem im Widerspruch stehenden Wissens, 
verbunden mit der Einsicht in den betreffenden Widerspruch«. 

Die Fassung des Gesetzes wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Frage: 
welches ist die Ursache dieser Einstellung ? 

Auch L. denkt zunächst an reproduktive Tendenzen, die gus der Aufgabe 
bzw. dem Lösungsvorschlage entstehen und ein widerstreitendes Wissen her- 
vorrufen (a. a. O. S. 324), aber hiermit sieht L. noch nicht ein zweites wesent- 
liches Moment berücksichtigt: die Vpn. zeigen stets eine prüfende Haltung, 
die bereit ist zu fragen: Genügt der Lösungsvorschlag der Aufgabe? Es ist 
dieselbe Frage, von der aus Selz eine Voraussetzung für seine Erklärung 
konstruiert hat. L. beantwortet sie dahin: Eine neue Beziehungserkenntnis 
ist es, die auf die Frage antwortet, sobald der Lösungsversuch erfolgt ist. 
Wird die Frage verneint, dann setzt die unbefriedigte Tendenz zur Aufgabe- 
lösung, und zwar nicht ganz ohne Willensmomente ein. 

Wir hätten noch aus der Lindworskyschen Arbeit des Erfüllungs- 
bewußtseins Erwähnung zu tun, das zum Korrekturvorgang in ganz bestimmter 
Beziehung steht!°). Im Erfüllungsbewußtsein — bei Selz Verifikation (Ge- 
setze S.257) — sieht L. die Einsicht in die Berechtigung zur Reaktion oder 
überhaupt das Bewußtsein, die Aufgabe erfüllt zu haben. Es ist nicht dasselbe 
wie die Gewißheit von der Richtigkeit, kann sie aber in sich schließen. Es 
gibt ein schwankendes und ein unsicheres, erst werdendes Erfüllungbewußt- 
sein, das viel Ähnlichkeit mit den von uns geschilderten Kontrollprozessen 
hat; es macht sich als Zweifel bzw. als Mahnung zur Vorsicht geltend. Die 
Ursache des Erfüllungsbewußtseins dürfte in einer Beziehungserkenntnis liegen, 
die sich neben oder nach der Aufgabe entwickelt. 

Bei »sofort vollendeten Schlüssen« (a. a. O. S. 327) wird nun oft sofort 
beim ersten Versuch die richtige Folgerung gezogen; die Gewißheit braucht 
sich nicht erst durchzusetzen, sie tritt alsbald mit der Lösung selbst ein. Diese 
von L. geschilderte Erscheinung erinnert zu sehr an die von uns dargestellte 
»intuitive Kontrolle, als daß wir hier nicht besonders auf sie hinweisen 
sollten. 


14) Schlußfolgerndes Denken, Freiburg 1916, S. 323—332. 
15) a. a. 0. S. 139—154. 


104 Julian Sigmar, 


L. sieht in dieser Erscheinung den Fall einer mehrfachen simultanen 
Relationserfassung gegeben; denn die Vp. erfaßt nicht bloß die Sachverhalts- 
beziehungen zwischen der Aufgabe und dem Lösungsvorschlag, sondern zu- 
gleich auch das Wissen um deren Neuheit und Folgerichtigkeit. 

Also auch Selz und Lindworsky, weit entfernt, die Kontrolle als 
einen »Nebenbefund« zu betrachten, halten sie vielmehr für eine Einstellung, 
die in der Lage ist, neue determinierende Tendenzen hervorzurufen. 

5. Interessante Beleuchtung erfahren die Kontrollvorgänge durch die 
Mitteilungen Kurt Lewins aus seinen Untersuchungen über die psychische 
- Tätigkeit bei der Hemmung von Willensvorgängen!*). Lewin spricht da von 
einem »die Richtigkeit des Ergebnisses kontrollierenden Nebenprozeß der 
reproduzierenden Tätigkeit« (S. 234), welche er neben dem Hauptprozeß be- 
obachtet, der auf die Ausführung der Instruktion ausgeht. An anderer Stelle 
handelt er auch von dem »Nachlassen der Ausdehnung der Kontrollprozesse mit 
dem steigenden Sicherheitsgefühl« (S. 240). Im übrigen geht Lewin auf 
die Kontrollprozesse nicht genauer ein, weil sein Interesse vornehmlich auf 
die Identifikationsvorgänge gerichtet ist, in denen er die Hauptursache der 
beobachteten Hemmungen und Fehlreaktionen sieht. Immerhin vermerkt er 
das Auftreten der Kontrolle nach eingetretener i.F.R. (S.I, 224 u. 226). 
Während sich die Kontrolle der umgestellten Silbe anfangs nach, dann all- 
mählich vor der Ausführung der Tätigkeit einstellt, tritt nach einer Fehl- 
reaktion ein Rückbildungsprozeß ein, d. h. die allmählich vor Ausführung der 
Umstellung angestellte Kontrolle und Identifikation der Reizsilbe wird auf- 
gegeben und tritt wieder erst nach der Umstellung ein. Inwieweit zwischen 
Kontrollprozessen und Identifikationstendenzen Beziehungen bestehen, werden 
wir erst nach Besprechung der von uns festgestellten Inertialtendenz be- 
sprechen können. 


§ 4. Die Praxis. 
(Zum Erfolg führende Verhaltungsweise [Vw.]). 


Neben den Bezeichnungen: »meine Technik, Mechanik, Ein- 
stellungsmethode«, gebrauchen die Vpn. oft auch den Ausdruck 
»Praxis«. Damit meinen sie eine praktische Verhaltungsweise, 
die sie als etwas Technisches auffassen. Ohne diese glauben sie 
nicht zur günstigen Lösung kommen zu können. Manchmal 
schildern sie die Praxis als eine Art Gerüst oder Spalier, 
welches die Durchführung der übernommenen Aufgabe stützt. 
Die Bildung der Praxis erfolgt bei den einzelnen Vpn. mit 
individuellen Verschiedenheiten. Bei mancher Vp. steht sie 
geradezu im Mittelpunkt ihres Ringens um die rechte Lösung. 


16) Vgl. Z. Ps. 77, S. 212ff. und »Das Problem der Willensmessung und 
das Grundgesetz der Assoziation« in »Psychologische Forschung« Bd.I u.II. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 105 


a) Erscheinungsweisen der Praxis. 


Sie tritt in doppelter Form auf, entweder als bewußte in 
ihren einzelnen Phasen erarbeitete Umstellungstätigkeit oder 
als eine unbewußt wirksam gewordene Technik. Beide ver- 
fallen allmählich einer Mechanisierung. 


Die bewußt und aufmerksam geübte Praxis bei Vp. A. 


Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß A mit fast nervöser 
Anstrengung nach einer erfolgreichen Verhaltungsweise ringt. Am ersten 
U,.-Tag konzentriert sich A nach zwei F.R. auf die Vokale, ohne das Wort 
als Ganzes zu beachten; vergeblich. Im fünften Versuch scheint die rechte 
»Aufgabeeinstellung« gefunden zu sein: Stelle die Vokale um und laß das 
Wortgerüst so, wie es erscheint. Trotzdem Fehlversuch, weil die Konsonanten 
mit hinübergleiten. Endlich, im sechsten Versuch trifft man in der V.P. den 
Vorsatz: Erst den Konsonanten scharf beachten, auf den letzten Vokal über- 
springen | 

Diese Aufgabeeinstellung wird nun in den folgenden Versuchen 7, 8, 9, 
11 und 12 erfolgreich und bewußt beobachtet. Der 10. Versuch mißglückt; 
der 9. und 11. zeigen die in der H.P. von entscheidenden Einfluß für die 
richtige Reaktion werdende Kontrolle störender Assoziationen. Die für U y. 
gefundene Vw. wird am 2. U,.-Tag einfach reproduziert. Dafür sprechen der 
erste, fünfte und achte Versuch. Der vierte Versuch enthält die Bemerkung: 
Operativ umstellen! Für »Lösung« werden Bezeichnungen gebraucht wie: 
»eigene Technik« (1. Versuch), »Ausführungstechnik« (12. Versuch). 

In jeder V.P. erscheint ein Vorsatz, dieses Verhalten beizubehalten. Wo 
natürlich der Inhalt der Vw. im Bewußtsein zurücktritt, weil Vp. A sich 
einbildet, es werde auch so gehen, kann es zur F.R. kommen (5. Versuch des 
8. U,.-Tages). Der dritte U,.-Tag ist auf die Erfahrung des ersten und 
zweiten begründet. 

Dem bisher geschilderten Bild entsprechen die Ergebnisse der U „.-Tage. 

Der erste Tag setzt sogleich mit einem Gefühl der Unsicherheit ein, 
weil Vp. »keine Technik der Ausführung hatte« (1. Versuch). In der Tat er- 
folgt ein Fehlversuch, worauf dann die Instruktion als »etwas Räumliches« 
erscheint. Aber schon im 3. Versuch desselben Tages fällt das »praktische 
Verhalten« wieder aus. Dann tritt ein Streben auf, durch tastende Versuche 
zum Lerngut hin sich unnütze Mühe zu ersparen; endlich ist das »rein geo- 
metrische« Umstellen der Konsonanten gefunden (4. Versuch). Damit ist 
auch die »praktische Aufgabeeinstellung« gegeben (5. Versuch). Im 12. Ver- 
such tritt wiederum die Bezeichnung »geometrisches Umdrehen« auf. Die 
11. Reaktionssilbe war in »mechanisoher Weises behandelt worden. 

Der zweite U,.-Tag begann mit einem praktisch orientierten Vorsatz, 
die Buchstaben in ganz bestimmter Weise zu behandeln; ein kleiner Miß- 
erfolg im 2. Versuch ruft die Zusatzinstruktion hervor, die sich die Vp. selbst 
gibt: Nicht zu stark auf den Buchstaben konzentrieren! Trotz der wieder- 
holten Einprägung tritt eine F.R. ein, worauf eine Neueinstellung erfolgt: 
Nimm den letzten Konsonanten, setze ihn vor den ersten Vokal, nicht vor 
das Wort, lasse dann das andere ruhig ablaufen! (5. Versuch). Es gelingt 
zwar, i.F.R. zu. vermeiden, nicht aber F.R. Die für Upg.» gebildete Vw. 


106 Julian Sigmar, 


scheint also nicht ganz vollkommen zu sein. Die rein geometrische Einstellung 
des ersten Ux .-Tages, die nur zwei F.R. aufkommen ließ, darf also als eine 
bessere angesehen werden. 

Im 1. Versuch des 3. Uy.-Tages besteht noch kein »Beherrschen der 
Aufgabe«; im 2.Versuch ist das »Schema«s ausgebildet, welches dann im 
3., 4., 6. und 11. Versuch erfolgreich angewandt wird. Im 9. Versuch taucht 
eine neue »gabelige Einstellung« auf; Vp. A will sich aus Bequemlichkeits- 
rücksichten die Umstellungsarbeit ersparen, wofern eine homogene Silbe 
kommen sollte. Auch am 3. U,.-Tag läßt sich nicht jede F.R. vermeiden, 
wieder ein Zeichen, daß die gefundene praktische Vw. entweder nicht die er- 
folgreiche ist, oder daß noch andere Momente für die richtige Lösung maß- 
gebend werden können. 

Vp. A gibt am Schluß zu Protokoll: »Ich nehme mir vor, die Aufgabe 
schnell und richtig gemäß der Instruktion zu lösen. Es ist mir bewußt, daß 
dieser Vorsatz zur richtigen und zuverlässigen Lösung der Aufgabe nicht hin- 
reicht; denn es könnte gerade so gut vorkommen, daß ich trotz des Vorsatzes 
ausgleite, wenn ich nicht etwas dazwischen schiebe. Dieses Dazwischenge- 
schobene ist eine bestimmte, fixierte Ausführungstechnik, die mir wie in 
einem Schema gegeben ist und die ich durch eine erhöhte Aufmerksamkeits+ 
konzentration unmittelbar vor dem Erscheinen des Reaktionswortes festzu- 
halten bemüht bin. Gelingt es mir, so bin ich sicher, daß ohne erhebliches 
willentliches Dazutun die gewünschte Reaktion stets richtig erfolgen wird.« 

Bei Vp. B: Aus diesen Protokollen ist es nicht so leicht, die Praxis 
festzustellen, da Vp. in der Selbstbeobachtung weniger geübt war. Immerhin 
finden sich schon am 1. U,.-Tag Ausdrücke wie »mechanisch nach vorn 
stellen« (1. Versuch), »m vor das a gestellt« (6. Versuch). Im 1. Versuch 
des 2. U,-Tages findet sich schon die Angabe, Gegenstand ihrer Aufmerksam- 
keit sei das von ihr gebildete Verhalten. Die Bildung der Praxis richtet sich 
zunächst nur auf die erste Silbe, worauf wohl die 5 F.R. und die eine i.F.R. 
des 1. U,.-Tages zurückzuführen sein werden. Der 1. U,.-Tag ist ganz wie 
bei Vp. A ein Suchen und Ringen um die erfolgreiche Einstellung. B versucht 
zunächst vergeblich, durch besonders starken Vorsatz ans Ziel zu kommen; 
dann reflektierte sie im Lauf des Tages zu Hause über eine zu findende beste 
Lösungsweise, wie sie im 5. Versuch des 1. U,.-Tages gesteht. Welche 
»Praxis« aber gebildet wurde, kommt nicht zum Ausdruck; es heißt nur: In- 
struktion war durchdacht (1. Versuch). 

Der 2. und 3. U,. -Tag bestätigen obige Darstellung. Daß die »Praxis« eine 
ganz besondere Tätigkeit ist, erhellt aus dem 4. Versuch des 2. U,- Tages: 
»Dann Tätigkeit des Umstellens«. Daß sie ganz mechanisch werden kann, geht 
aus dem 7. Versuch hervor: »negar gelesen, dann mechanisch umgestellt, 
dann erst kam nager als gelernt ins Gedächtnis«. Im 10. Versuch findet sich 
eine ähnliche Ausdrucksweise; im 12. heißt es: Umstellung fiel leichter, weil 
sich keine assoziierte Silbe einstellte; mechanisch gehandelt. Fast ebenso 
lautet das Protokoll des 5. Versuches am 3. U ,.-Tag. 

Bei Vp. C: Die Angaben dieser Vp. sind infolge mangelhafter Gewandt- 
heit in der psychologischen Ausdrucksweise spärlich. Dennoch dürften gerade 
diese Protokolle sehr wichtig sein, weil es nicht gelungen ist, bei ihr auch 
nur eine i.F.R. herbeizuführen. Daß die »Praxis« auch bei ihr vorhanden ge- 
wesen ist, verrät schon die Bemerkung des 1. U„.-Tages (4. Versuch): »Auf- 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 107 


gabe schon etwas mechanisch bewußt«e. Ebenso der 8. Versuch: »e nach vorn 
geholt«. Am 2. U,.-Tag gibt C ausdrücklich an: »Ich ziehe den zweiten Vokal 
an die erste Stelle« (4. Versuch). Im 7. Versuch heißt es: »Nachdem das a 
hinübergezogen war«; im 8. gelingt die Umstellung schon durch mechanische 
»Technik«. : l 

Für eine individuelle Ausführungstätigkeit bei U x- sprechen der 3. Ver- 
such des 1. Tages: »Vorgenommen, die Aufmerksamkeit auf die End- und 
Anfangskonsonanten zu richten«, »Nachdem das g hinübergezogen war« — und 
insbesondere der 12. Versuch: »Umgestellt; Vorsicht, als wenn ich Stäbchen 
verschieben müßte, was man ja auch sehr vorsichtig tun muß«. 

Die Bemerkung der Vp. C: »keine Einstellung auf eine Handlungsweise« 
im 4. Versuch des 3. U,.-Tages und die zweifelnde Frage im 4. Versuch 
des 2. Ux.-Tages: »Ob meine Methode auch die einfachste ist?« zeigen in 
Anbetracht dessen, daß C keine i. F.R. gemacht hat, daß die »Praxis« nicht 
die einzige Bedingung einer richtigen Reaktion sein kann. Dafür spricht auch, 
daß Vp. A, die eine sehr gute Verhaltungsmethode zu haben glaubt, viel 
schlechter gearbeitet hat als Vp. C. 

Bei Vp. D: Hier müssen wir entscheiden zwischen der Methode bei 
der Uy.- und bei der U,.-Tätigkeit. Die U,.-Praxis ist schon am ersten Tag 
gefunden, und es kommt nur eine i.F.R. im 9. Versuch vor. Infolge ihrer 
besseren Übung in der Selbstbeobachtung beschreibt diese Vp. ihre Vw. ein- 
gehender. Sie gibt an, auf Grund einer »visuellen Lösung« zu reagieren, es 
komme ihr vor, als wenn die beiden Vokale um den Mittelkonsonanten der 
Reaktionssilbe wie mit einem Knipser umgedreht werden müßten«. D läßt 
also die Vokale um den Mittelkonsonanten kreisen. Im 3. Versuch des 3. U',.- 
Tages nennt D seine Vw. ganz wie Vp. A »Praxis«. Diese träte erst in der 
Hauptperiode auf, während in- der V.P. mehr die theoretische Einstellung, 
d. h. die Erinnerung an die Instruktion vorhanden sei. 

Bei der U,.-Tätigkeit aber »holt sie den hinteren Konsonanten und stellt 
ihn nach vorn hin. Der letzte Konsonant wird so während des Sprechens von 
allein ergänzt« (6. Versuch des 1. Uy.- Tages und 7. Versuch des 2. Up.. 
Tages). Die Vw. tritt oft erst ins Bewußtsein infolge einer Erinnerung an die 
Instruktion; das kennzeichnet eine Verschiedenheit von Instruktion und Praxis, 
gleichzeitig aber deren gegenseitige Abhängigkeit. 

Vp. D kennzeichnet die U,„.-Tätigkeit, die ihm leichter fällt, im 2. Ver- 
such des 1. U,.-Tages: »Rein mechanisch eingestellt... umgestellt, indem 
ich das o nach vorn schob«. 

Die Angaben über die schwierigere Ux .-Tätigkeit werden zahlreicher. 
Vp. D spricht von ihrem »Modus« (6. und 10. Versuch des 1. Uy.-Tages). 
Im 8. Versuch heißt es: »Visuell-mechanischer Umstellungsmodus«, im 11. Ver- 
such des 2. U,.-Tages führt sie das Wort »Umbau« ein. Wie ihre Vw. ent- 
steht, gibt D im 1. Versuch des 3. U,.-Tages an: durch Erwägung der In- 
struktion und Übung an einem fingierten Wort »Logik« wird die praktische 
Vw. gebildet. Im 9. Versuch desselben Tages finden sich Redewendungen wie: 
„visuelle Methode«, »an die praktische Vw. gedachte. 


b) Die mechanisierte Praxis. 


Gar nicht selten wird die Umstelltätigkeit vollzogen und 
die Aufgabe richtig gelöst, ohne daß es eigentlich der Vp. 


108 Julian Sigmar, 


bewußt wird. Man kann das beobachten, wenn infolge von 
Ablenkungen der Aufmerksamkeit die Umstellung fehlerfrei 
vor sich geht, obwohl ein Fehler oder ein Versager eingetreten 
sein müßte. ù 

Beispiele: 11. Versuch des 2. Ux.-Tages. Vp. C. V.P. Froh, daß es 
bald ist. H.P. unwillkürlich richtig gemacht. N.P. kontrolliert. 

5. Versuch desselben Tages. V.P. Nicht sehr aufmerksam. H.P. trotz- 
dem keine Schwierigkeiten beim Umstellen. N.P. ob Bügel wohl gelernt worden 
ist? Nein! 

Solche Beispiele legen die Deutung nahe, daß die Umstell- 
tätigkeit schon zu einer mechanischen Gewandtheit geworden 
ist, die ihren Weg auch ohne Leitung des Bewußtseins geht. 

Dafür spricht auch, daß diese Art von mechanisierter Aus- 
führungstätigkeit besonders zum Schluß der Versuchstage vor 
Fehlreaktionen schützt. 

Beispiel: 6. Versuch des 1. U,.-Tages. Vp. D. H.P. lugek. Die 
Spannung verstärkt sich. Das ist ja wieder eins, das nicht gelernt ist! Dann 
umgedreht zu leguk. Darauf berechtigte Zweifel an der Richtigkeit, dann um- 
gestellt. N.P. Gemerkt, daß der Zweifel unberechtigt war. Die Aufgabe ist 
mir in Fleisch und Blut übergegangen. Ich denke in der V.P. nicht mehr daran. 

Auch jene Protokolle sprechen für eine mechanisierte Aus- 
führungstätigkeit, welche angeben, daß die Umstellung ge- 
fühlsmäßig, ohne Präsentation der Aufgabe vorgenommen wird. 

Beispiel: 5. Versuch, 3. U,.Tag. Vp. C. V.P. Nur auf das Wort ge- 
spannt, nicht an die Aufgabe gedacht. H.P. lafet gelesen, Umstellung gar nicht 
schwer. N.P. Kontrolle. (Man beachte, daß es sich hier um eine heterogene 
Aufgabe gehandelt hat, bei der die Umstellung zu lefat hätte schwer fallen 
müssen.) 

Der Prozeß der Mechanisierung scheint durch akusto- 
motorische Vorstellungen unterstützt zu werden, die vom Lernen 
am Gedächtnisapparat her wirken. 

Beispiel: 9. Versuch, 1. U,.-Tag. Vp. C. Es ist die homogene Silbe 
danor umzustellen. V.P. Etwas abgelenkt, Aufmerksamkeit auf das Brett vom 
Kartenwechsler gerichtet. H.P. Das Wort kam, ich wußte, daß es als Um- 
stellung gelernt worden war. Die Lernsituation machte sich akustisch geltend. 


c) Die Verhaltungsweise in Konkurrenz mit 
anderen Tendenzen. 


Es ist natürlich, daß die Praxis bei allen homogenen Silben 
eine Unterstützung durch Rp.-Td. erfahren kann. Daß die 
Praxis auch an solchen Stellen angewandt wird, obgleich es 
nicht nötig wäre, ist ein Beweis für die Kraft dieser Ver- 
haltungsweise. Die Vpn. stellen lieber um, als daß sie sich der 
frei aufsteigenden Assoziationen bedienen. 





Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 109 . 


Beispiel: 8. Versuch des 1. U,.-Tages. Vp. D. Homogene Silbe lafet. 
V.P. Ich erwartete ein Wort, das mir Schwierigkeiten bereiten würde. H.P. 
lafet, darüber Freude: Das ist ja bekannt! Gelesen; tafel stellte sich teils 
als Ergebnis des akusto-motorischen, teils als Ergebnis meines visuell-mecha- 
nischen Umstellungsmodus ein. Glücklich über das Gefundene. 

Gegen die mechanisierte Tätigkeit tritt auch gelegentlich 
die Ko. Td. auf, ein Vorgang, den G. G. Müller geschildert 
hat (siehe oben S. 102). 

Beispiel: 6. Versuch, 1. U,.-Tag. Vp. D. Homogene Silbe libeb. V.P. 
festen Vorsatz gefaßt: jetzt läßt du dich nicht fangen! Dabei inklusive auch 
an die Praxis gedacht, aber nicht ausdrücklich. H.P. Arm an Erlebnissen, 
libeb — bibel drängte sich heran, abgelehnt. Du gehst nach deinem Modus 
vor! Ich hole den hinteren Konsonanten und stellte ihn nach vorn. Der letzte 
Konsonant wird dann während des Sprechens so von allein ergänzt. N.P. 
Gefreut. 


d) Beziehung der Praxis zur Determination. 


Bei der großen Bedeutung, welche die Vpn. auf die 
Bildung und Behauptung einer richtigen Ausführungstätigkeit 
— Praxis — legen, und in Berücksichtigung der Tatsache, 
daß jede Vp. ihre »Praxis« hat, wenn sie auch nicht immer be- 
wußt ist, drängt sich einem die Frage auf: Was führt nun zur 
erfolgreichen Reaktion, ist es die in der Aufgabe liegende 
det. Td., wie Ach sagt, oder ist es die erworbene ‚Praxis, 
wie die Vpn. behaupten. 

Vp. A versichert ja ausdrücklich, das Gelingen der Re- 
aktion hänge nicht von dem Vorsatz ab, die Aufgabe in- 
struktionsgemäß zu lösen, sondern von ihrer Konzentration 
auf die »Technik« (vgl. oben S. 106). Vp. B erklärt, Gegenstand, 
ihrer Aufmerksamkeit sei nicht die Instruktion als solche; 
sondern das von ihr gebildete Verhalten; ähnlich äußert sich 
Vp. D. 

Für diese Auffassung sprechen auch»einige Umstände, wie 
der, daß die Instruktion bald ganz aus dem Bewußtseinsprozeß 
der Vpn. tritt und nur die Erinnerung an die Vw. bleibt; daß 
die Erinnerung an die Instruktion nicht bloß als unnütz, sondern 
sogar als hinderlich empfunden werden kann, was allerdings 
immer erst dann konstatiert wird, wenn die Vp. schon einige 
Fertigkeit in der Lösungsweise erworben hat. Beispiele: 

Beispiele: Vp. D, 3. Rp.-Tag, 1. Reaktion. ... H.P. redul als bekannt 
festgestellt, dann an die Instruktion gedacht, sie innerlich wiederholt. Dann 


kam nabél, aber noch nicht ausgesprochen; dann kam die Instruktion wieder. 
Auf Grund des Erscheinens der Instruktion geprüft, weil ich fast das Ziel 


. 110 Julian Sigmar, 


vor lauter Instruktionen vergessen habe. Dann laut: Das ist doch 
sonderbar. N.P.... 

Vp. K, 1. U,.-Tag, 8. Reaktion. Die heterogene Silbe nodaw erscheint 
V.P. Ziemlich ausgeprägter Vorsatz, den Rekord zu leisten. H.P. Etwas über- 
rascht, ein Moment des Stutzens vorgekommen, als das Wort erschien. Die 
Umstellung ist vollzogen worden unter deutlicher Trennung der 1. und 2. Silbe, 
dabei ein Gefühl des Komischen über die Lautbildung (Nadow). N.P. Nichts 
Besonderes, wenn ich sagte: Ein Moment des Stutzens! so Bene ich, der 
Vorsatz hat mich gestört. 

Die Geringschätzung der Instruktion durch die Vpn. ist 
natürlich unberechtigt; sie würden niemals ihre »Praxis« haben 
bilden können ohne eine bestimmte Instruktion. 

Jedoch führt diese nicht allein zur Lösung, es kommt auf 
das »Wie« der Ausführung an. Die Instruktion gibt daher 
den Anstoß zur Bildung einer Vw. und bestimmt durch die in 
ihr liegende Zielrichtung den Ausbau derselben. 

Die »Praxis« ist eine optisch-motorische Vorstellung, nach 
der Erlebnisseite als eine wirkliche »Tätigkeit«, eine geleistete 
Arbeit zu bezeichnen. 

Nach Verlauf einer verschieden langen Zeit verfällt die 
»Praxis« einem Mechanisierungsprozeß infolge allmählichen Aus- 
falls von Teiltätigkeiten und -vorstellungen, wobei es zur 
Bildung eines Tätigkeits-Schemas kommt. Die Instruktion kann 
daher dem Bewußtseinsbereich entschwinden, ohne daß es zu 
F.Rn. führt. 

Da vorhin die Ko.Td. als Bedingung richtiger Reaktionen 
genannt wurde, hier aber dieser Anspruch von der »Praxis« 
erhoben wird, so müssen zunächst die weiteren Resultate er- 
örtert werden, ehe die Frage entschieden werden kann. 


e) Literatur. 


1. G. E. Müller widmet der »Verhaltungsweise« eingehende Darstellung, 
wobei ihr Entstehen, ihr Auftreten und deren Arten erörtert werden 17). Auch 
die »mechanisierte Praxis« wird erwähnt: Bei einer vielfach wiederholten 
Darbietung ein und derselben Aufgabe an verschiedenem Versuchsmaterial 
bildet sich zwischen der Vorstellung der Reaktionsgelegenheit und dem zweck- 
mäßigen Verhalten eine unmittelbare Assoziation, wodurch für die weiteren 
Versuche das nochmalige Auftreten der Aufgabevorstellung ausgeschaltet wird 
(vgl. das »Gesetz der Ausschaltung« a. a. O. S. 450). 

2. Eine deutliche Bestätigung der oben gegebenen Erscheinungsweisen der 
»Praxis« bringt die in vieler Hinsicht bedeutsame Arbeit von Kurt Lewin3®). 


17) Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit, III. Teil, Leipzig 1913, S. 440, 445. 
18) a. a O. Psychol. Forschung I, S. 200 ff. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 111 


Seine Versuche betrafen das Grundgesetz der Assoziation. Das Material, 
welches uns hier interessiert, enthalten die Versuchsanordnungen I und IV. 
In der ersteren wurden Silbenreihen gelernt, wozu bis 270 Wiederholungen 
angewandt wurden; das Lernen währte so lange, bis daß im freien Rezitieren 
eine Maximalgeschwindigkeit erreicht war. Gemäß dem Assoziationsgesetz 
mußte nun erwartet werden, daß im Fall der Darbietung einer der gelernten 
Silben eine starke Neigung entstehen würde, die darauffolgende gelernte Silbe 
auszusprechen; es war mit i.F.Bn. zu rechnen. 

In Prüfungsreihen wurden nun die ungeraden gelernten Silben vermischt 
mit neutralen Silben dargeboten, die zwar bekannt, jedoch nicht mit einer 
anderen Silbe assoziiert eingelernt waren. Trotzdem zahlreiche Prüfungs- 
reihen veranstaltet wurden, blieben die zu erwartenden Fehlreaktionen aus, 
eine einzige ausgenommen. Dieses Ergebnis widersprach den Voraussetzungen 
des 'Assoziationsgesetzes. 

In einer anderen Versuchsreihe, IV, wurden wiederum zunächst Silben- 
reihen von dem Muster »tel-del, kur-gur ... .« gelernt (Reimreihen) und Silben- 
paare von dem Muster »pon-nop, zar-raz .. . « (Umstellreihen). Als Prüfungs- 
reihen wurden zunächst 4 Reimsilben mit der Instruktion »Reimen« dargeboten, 
dann die gleichen Silben in anderer Reihenfolge nochmals bei derselben In- 
struktion, jedoch wurde diesmal als 3. Silbe eine Umstellsilbe eingeschoben. 
Trotzdem nur 8 Wiederholungen vorausgegangen waren, trat bei der ersten 
in die Reimsilben eingestreuten u-3ilbe eine Fehlreaktion auf. 

Die Erklärung dieser widersprechenden Resultate der Anordnungen II 
und IV gehört noch nicht hierher, wir haben sie nur bekanntgegeben, weil 
sie die Grundlage bildet, auf welcher Lewin zu der Erkenntnis zweier, 
ihrer Natur nach voneinander verschiedener Verhaltungsweisen kam, die er 
als konstruierende und reproduzierende Ausführungstätigkeit bezeichnete 19). 

Der »konstruierende« Habitus zeigt mehrere Erscheinungsarten. Es ent- 
steht beim Einüben der Reimtätigkeit aus der Reizsilbe ein »Diagramm«, aus 
dem die umzustellenden Buchstaben heruntergeholt werden; oder die gesuchte 
Silbe kommt wie von selbst, wobei aber der 1. Buchstabe von den andern 
irgendwie unterschieden ist, oder indem sich in der Silbe zwischen dem 1. 
und 2. Buchstaben ein Wendepunkt bemerkbar macht. Beim Umstellen wird 
die Reaktionssilbe von der Reizsilbe rückwärts abgelesen. In andern Fällen 
kann man von einer symmetrischen Neubildung sprechen, wobei die Buch- 
staben 1 und 6, 2 und 5, 3 und 4 in der Beziehung der Gleichheit stehen. Die 
beiden mittleren Konsonanten (3 und 4) bekommen dabei häufig den Charakter 
als Doppelkonsonanten, z. B. als nn oder rr. Jedenfalls ist die konstruierende 
Verhaltungsweise dadurch charakterisiert, daß die zweite Silbe stets wieder 
neu auf einem Wege gewonnen wird, der in direktem Zusammenhang mit der 
Aufgabe steht. 

Dem gegenüber steht eine andere Tätigkeits- oder Verhaltungsweise, die 
ebenfalls zum Ziel »Reimen« oder »Umstellen« führen kann, aber nicht durch 
stets wieder neu einsetzende Tätigkeit, sondern durch Reproduzieren; 
es wird gedächtnismäßig aufgesagt, ähnlich wie bei den Trefferversuchen. Die 
einzelnen Buchstaben der Reaktionssilbe stehen in keinem Erlebniszusammen- 
hang zur Reizsilbe. Es wird lediglich eine optisch oder akustisch von selbst 


19) Psych. Forschung, II. Bd. S. 71 ff. 


112 Julian Sigmar, 


auftretende Silbe genannt, während im konstruierenden Modus die Silbe »er- 
baut« wurde; oder die Reizsilbe wird nur Anlaß zum Wiedersehen und Aus- 
sprechen eines vorher erlebten Silbenpaares. 

Diesen Ausführungsarten ist gemeinsam, daß die zweite Silbe auf einem 
Wege gewonnen wird, der auf eine frühere Aufeinanderfolge beider Silben 
Bezug nimmt. 

Wir können noch hinzufügen, daß Lewin auch die Mechanisierung der 
Ausführungstätigkeiten beobachtet hat. Das Wiederholen der bei einem 
früheren Mal genannten folgenden Silbe oder das Wiederholen einer früheren 
Tätigkeit als Ausführungstätigkeit wird noch dadurch begünstigt, daß die sub- 
jektiven Unterschiede zwischen dem Reimen und Umstellen mit steigender 
Mechanisierung sich dauernd zu verringern pflegen. Bei mittlerer Übung wird 
z. B. als Unterschied nur noch angegeben: »Beim U fahre ich nach dem Lesen 
nach rechts weiter fort, beim Reimen muß ich wieder nach vorn zurück- 
kehren< (Vp. G). Auch die Strukturverschiedenheiten können immer mehr 
schwinden. Vp. H gibt als Beschreibung der Tätigkeiten an: »Es ist schwer 
zu entscheiden, was ich tue; es geht sehr mechanisch.« 

Beim Lesen der Darstellungen Lewins fällt die Ähnlich- 
keit mit den in unseren Untersuchungen gemachten Beobach- 
tungen der Praxis leicht ins Auge. Wir haben bisher allerdings 
nur die konstruierende Verhaltungsweise feststellen können, weil 
zur Behandlung der reproduzierenden Tätigkeit an dieser Stelle 
noch keine Veranlassung (vgl. $11). Das Ruxsche Versuchs- 
material läßt aber auch solche Unterschiede zutage treten, 
welche innerhalb der konstruierenden Verhaltungsweise be- 
stehen können. Es kommt, wie unsere Vpn. gesagt haben, nicht 
bloß auf das Konstruieren, das Tätigsein und Arbeitsleisten an, 
sondern auch auf die rechte Ansatzstelle für die Tätigkeit, 
über die sie sich nicht so leicht klar werden wie die Lewin- 
schen Vpn. bei ihren dreibuchstabigen Silben. 


$ 5. Die Hingabe. 


Mit diesem Namen bezeichnen die Vpn. eine Verhaltungs- 
weise, in der sie ganz in der Lösung der Aufgabe aufzugehen 
pflegen. Sie brauchen auch den Ausdruck »Hinwendung«, »hohe 
Konzentration« dafür. Nachdem wir schon vorhin einige Be- 
dingungen der richtigen Reaktionen angeführt haben, ist es 
nötig, darauf hinzuweisen, daß die Vpn. glauben, im Zustande 
der Hingabe am sichersten einen Erfolg zu erzielen. 

1. Merkmale. a) Charakteristisch ist in der Hingabe 
das sofortige Ansetzen mit dem Umstellen. Sofort handeln! 
heißt da die Devise. Vergleiche 9. Vers. 3. Ux.-Tag, Vp.C. Es 
erscheint die neutrale Silbe ralem. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 113 


V.P. Ich habe mich sehr dicht an den Schalter gesetzt, aber nicht an 
die Aufgabe gedacht. H.P. ralem wird erkannt, und es beginnt sofort die 
Tätigkeit, ohne an die Aufgabe zu denken. Ich sehe schärfer die Vokale als 
die Konsonanten an. N.P. Befriedigung. 

11. Versuch, 1. Ux-Tag. Vp. D. Neutrale Silbe nagew. V.P. Kein be- 
sonderes Gefühl, auf das Kommende gespannt. H.P. nagew erkannt. Tendenz: 
Was war doch dazu gelernt?! Abgelehnt, gleich ans Umstellen gegangen... 
N.P. froh, der Gefahr entronnen zu sein. 


b) Die Aufmerksamkeit ist ganz absorbiert von der Auf- 
gabe und ihrer Lösung. 8. Versuch, 3. Uk-Tag, Vp. B. Hetero- 


gene Silbe mesol. 

V.P. starke Aufmerksamkeit; intensives Hinsehen, absichtliches Zurück- 
drängen aller störenden Gefühle und Gedanken. Zielbewußtsein. Leichtes 
Spannungsgefühl über den Augen. H.P. mesol, sogleich auf mosel gekommen, 
unterdrückt, umgestellt, nicht besonders schwer. N.P. zufrieden! 

c) Die Konzentration ist so hoch, daß die Umstellungs- 
tätigkeit auch an homogenen Silben ausgeübt wird, ohne daß 
die Rp.-Tendenz sich vor oder nach der Umstellung geltend 


macht. 

5. Versuch, 2. Uy-Tag. Vp. A. Homogene Silbe piras. V.P. Ich er- 
innerte mich an die Aufgabe: Dann sollst Du den ersten Buchstaben fest- 
halten und dann auf den zweiten Vokal überspringen. H.P. Es wurde so ge- 
macht, wie vorgenommen. Enttäuscht über die überflüssige geistige An- 
strengung. 

10. Versuch, 3. U- Tag. Vp. A. Homogene Silbe fesul. V.P. Wie ge- 
wöhnlich. H.P. Etwas enttäuscht über das lange f, aber es muß gehen! Um- 
gestellt, dabei neu konzentriert, aufgerafft. Nicht leicht gewesen. Fusel. 
N.P. Erfüllungsbewußisein. 

d) Selbstverständlich gehen mit der Hingabe Anstrengungs- 
und Spannungsempfindungen oft parallel. 

7. Versuch, 2. U,- Tag. Vp. A. Homogene Silbe gebal. V.P. Besonders 
starker Vorsatz, weil vorher falsch reagiert. H.P. entsprechend dem Vorsatz 
gehandelt; was hinter gabel kam, war gleichgültig. N.P. Erleichterung, Ent- 
spannung. 

e) Infolge der starken Konzentration auf die Umstellungs- 
arbeit werden Vorstellungen, die sich aufdrängen, zurück- 


gewiesen. 

Dies geschieht besonders gegenüber aufsteigenden freien 
Assoziationen und anderen Reaktionsmöglichkeiten. 

11. Versuch, 2. Uy-Tag. Vp. D. Heterogene Silbe selam. V.P. ziemlich 
aufmerksam: laß Dich nicht verleiten, ein Wort, das sich aufdrängt, aus- 
zusprechen .. . 

6. Versuch, 1. Ug-Tag. Vp. D. Homogene Silbe libeb. V.P. Festen 
Vorsatz gefaßt, jetzt läßt Du Dich nicht fangen! Dabei inklusive auch an die 
Praxis gedacht, aber nicht ausdrücklich. H.P. arm an Erlebnissen, libeb — bibel 
drängte sich heran, abgelehnt. Du gehst nach deinem Modus vor! Ich hole 


Archiv für Psychologie. LII. 8 


114 Julian Sigmar, 


den hinteren Konsonanten und stelle ihn nach vorn. Der letzte Konsonant 
wird dann während des Sprechens von allein ergänzt. N.P. gefreut. 


2. Über die Bedingungen des Auftretens der 
Hingabe. 


Wir können die Merkmale dieser Vw. kurz darin zusammen- 
fassen: Mißtrauisch bleiben, daher immer umstellen und 
sofort handeln! 

Woher kommt nun diese Einstellung? Ist sie nur eine 
Gradsteigerung der Aufmerksamkeit und Konzentration oder 
ist sic etwas von der Konzentration Verschiedenes. Die starke 
Einschränkung des Blickfeldes auf die für eine richtige Lösung 
maßgebenden Punkte sowie die Spannungsempfindungen dürften 
die Hingabe in eine Verwandtschaft zu Aufmerksamkeits- 
erscheinungen bringen. Andererseits waren unschwer Lösungen 
zu beobachten, die kein Anstrengungserlebnis aufwiesen. 

2. Versuch, 2. U,- Tag. Vp. C. Die heterogene Silbe rakif. V.P. Nicht 
sehr aufmerksam. Abgelenkt. H.P. Überlegt, daß ich Vokale umstellen soll. 
Umgestellt, Wort rakif als gelernt erkannt. N.P. An fakir gedacht. 

Vielleicht können die Bedingungen, unter denen die Hin- 
gabe entsteht, dazu beitragen, die obige Alternative zu ent- 
scheiden. 

Entweder kommt die Vp. nach mancherlei Irrwegen zu 
der Überzeugung, es sei am besten, sofort ans Umstellen zu 
gehen und alle sonstigen Vorstellungen abzulehnen, oder die 
Vp. gerät, ohne es zu wissen, infolge einer soeben gelösten, 
aber schwierigen Aufgabe in eine Anstrengungslage hinein. 
Wenn dann neutrale oder gar homogene Silben folgen, bei 
denen doch jede Anstrengung überflüssig wäre, so wird un- 
geachtet dessen gemäß der soeben eingetretenen Anstrengungs- 
lage weiterhin gearbeitet und die Nutzlosigkeit der Arbeit erst 
später eingesehen. Es ist dies ein Vorgang, den Hillgruber 
durch das sogenannte Schwierigkeitsgesetz der Motivation aus- 
gedrückt hat: »Die Schwierigkeit einer Tätigkeit ist das Motiv 
für eine stärkere Willensanspannung bzw. Aufmerksamkeits- 
konzentration in dem Sinne, daß mit der Schwierigkeits- 
steigerung triebartig die Willensanspannung zunimmt«?°). Dieser 
Bewußtseinszustand hat allerdings eine Achillesferse insofern, 
als er unbemerkt auftritt und, weil in seiner Bedeutung von 


20) Fortlaufende Arbeit und Willensbetätigung, Leipzig 1912, S. 46. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 115 


der Vp. nicht erkannt, bald wieder schwindet; daher kommt 
es zu neuen F.R. trotz vorher spontan aufgetretener Hingabe. 

Wenn die Vp. sich längere Zeit mit anhaltender, gleicher 
Anstrengung um die Lösung bemüht, ihren Vorsatz immer 
energisch durchzuführen versucht, gelangt sie schneller in die 
Vw. »Hingabe«. Sehr lehrreich ist hierfür der 2. Uv.-Tag der 
Vp. A. 

Ist damit auch zugegeben, daß in der Hingabe ein starkes 
determinatives Moment liegt, so kann doch nicht behauptet 
werden, daß die Determination ausschließlich an die Hingabe 
geknüpft ist. Ein Streben zum Ziel der Aufgabe ist ja, wie 
die Analyse ergibt, in fast allen Versuchen erkennbar; nur 
führte es nicht immer zum Ziel. Die Hingabe scheint, bildlich 
gesprochen, der Schlüssel zu sein, welcher der Determination 
die Tür zum Erfolg öffnet. 

Das Verhältnis der Hingabe zur Aufmerksamkeit und Kon- 
zentration kann übrigens nicht eher behandelt werden, bis daß 
über die Beziehungen der Aufmerksamkeit und ihren Anteil 
an erfolgreichen Reaktionen Klarheit geschaffen ist. 


8 6. Ist die Aufmerksamkeit eine Bedingung der richtigen 
Reaktion? 


Bekanntlich sprach O. Selz die Vermutung aus, das asso- 
ziative Äquivalent messe nicht so sehr die Willensstärke der 
Vp., sondern vielmehr ihre Fähigkeit zur Aufmerksamkeits- 
konzentration ?1). Man kann es verstehen, daß Selz unter 
dem Eindruck, den die Aufmerksamkeitserscheinungen auf den 
aralysierenden Psychologen machen müssen, zu dieser Ansicht 
kam. Jedoch hat schon Lindworsky zum Ausdruck ge- 
bracht, daß der Begriff »Aufmerksamkeits-Konzentration« zu 
allgemein und daher mißverständlich sei. Hier müsse wenigstens 
zwischen der Aufmerksamkeit in der Vorperiode und jener in 
der Hauptperiode unterschieden werden ??). In der Tat ist die 
Diskussion des Sachverhalts durch die Einführung des Auf- 
merksamkeits-Problems nicht erleichtert worden, und es ist 
Zeit, die Rolle zu prüfen, welche die Aufmerksamkeit bei der 
Lösung der Aufgaben spielt, und zu einer klaren Einsicht in 
ihr Wesen zu kommen. 


21) Z. Ps. Bd. 57, S. 253 ff. 
22) Wille, 1. Aufl. S. 121 f. 


116 Julian Sigmar, 


Der Begriff »Aufmerksamkeit« stammt wie mancher andere 
aus der Popularpsychologie, und es ist verständlich, wenn von 
maßgebender Seite auf seine Beseitigung oder gründliche Ana- 
lyse gedrängt wird 23). 

Bei einem in der lebenden Volkssprache gebildeten psycho- 
logischen Begriff ist für seine Bedeutung immer der Sinn des 
in ihm steckenden Tätigkeitswortes maßgebend; »Aufmerksam- 
keit« besagt also »aufmerken«. Wenn man den Worten ihre Be- 
deutung lassen will, so ist Aufmerksamkeit das Richten der 
für die Erfassung und Auffassung eines Gegenstandes oder 
Vorganges maßgebenden Sinne auf denselben. Ist das Ziel der 
Auffassung eine mögliche Veränderung an dem Gegenstand, so 


kann für Aufmerksamkeit auch »Erwartung« gesagt werden. 


Der Grad der biologisch oder intellektuell bedingten Erwartung 
macht sich in einem Spannungs- und Konzentrationsgefühl be- 
merkbar. Insofern man nach Belieben auf den oder jenen 
Gegenstand oder Vorgang aufmerken kann, spricht man von 
einer willkürlichen Aufmerksamkeit. Es gibt aber auch 
eine unwillkürliche Aufmerksamkeit, insofern als unsre Sinne 
auch gegen unsern Willen auf etwas gelenkt bzw. durch etwas 
abgelenkt werden können. Diese Anziehungskraft, welche ein 
Gegenstand auf unsere Aufmerksamkeit auszuüben vermag, ist 
nicht bloß durch seine Intensität bedingt, sondern auch durch den 
biologischen Wert, den er für ein Individuum hat. Wir werden 
im folgenden alle Erscheinungsweisen der Aufmerksamkeit, wie 
sie in den Reaktionen zum Ausdruck kommen, und ihre Be- 
ziehungen zur erfolgreichen Lösung in Betracht ziehen. 


1. Inhalt und Richtung der Aufmerksamkeit. 

a) in der Vorperiode: 

Die Aufmerksamkeit ist wesentlich auf das »Kommende« gerichtet; das 
»Kommende« sind nicht bloß die erscheinenden Silben, die oft geradezu mit 
Neugierde erwartet werden, sondern auch Teilqualitäten des Reizwortes, z.B. 
Schriftzüge, Länge der Buchstaben usw., ferner auch »das zweckmäßigste 
Verhalten« bei der Lösung der Aufgabe. Dementsprechend erscheint in der 
V.P. manchmal ein unbestimmtes Bild von einer Silbe, an der die Tätigkeit 
ausgeübt werden soll. 

Es ist natürlich, daß der Vorsatz ausdrücklich oder wenigstens als Be- 
wußtheit in den Blickpunkt tritt. Zur Befestigung in der rechten Aufmerksam- 


23) Vgl. Sanders Besprechung der Arbeit v. A. Moers, Untersuchung 
über das unmittelbare Behalten... und über das dabei auftretende totale 
und diskrete Verhalten der Aufmerksamkeit Z. f. Ps. Bd. 91, S. 307 ff. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 117 


keitslage treten dann subordinierte Kommandos auf wie: Laß Dich nicht 
verwirren! — Halt, paß auf! Auch Teilvorsätze wie: »Schnell reagierenl« — 
»In den Trichter sprechen!« beabsichtigen die Vermeidung von Ablenkungen. 
Damit hängt auch die Einstellung des Blickes auf den Schlitz im Karten- 
wechsler zusammen. Es finden sich auch Vorsätze, alles zu unterdrücken, 
was gegen die Vw. und die beabsichtigte Umstelltätigkeit sich richten könnte. 

Verschiedene V.P. sind ganz leer, die Vp. weiß nichts zu Protokoll zu 
geben; dennoch besteht eine zielbewußte Willensrichtung weiter, wenn auch 
nicht reflexiv. Im 9. Versuch des 3. Uy-Tages. Vp. C heißt es: V.P. Ich 
habe mich sehr dicht an den Schalter gesetzt, habe nicht an die Aufgabe 
gedacht. 


b) In der Hauptperiode: 

Inhalt der Aufmerksamkeit in der H.P. ist das Auffassen der er- 
scheinenden Reizsilbe, ferner ein Suchen nach dem rechten Umstellungsmodus 
bzw. der bequemsten Art, zum Ziel zu kommen; daran schließt sich oft ein 
Vergleich des umgestellten Wortes mit der Aufgabe. Die Schwierigkeiten, die 
besonders in heterogenen Aufgaben liegen, werden gefühlt, womit eine 
Steigerung der Aufmerksamkeit verbunden ist. 

Nach den Angaben der Vpn. verstehen sie also unter Auf- 


merksamkeit das Gerichtetsein der in Betracht kommenden 


Sinne auf die am Kartenwechsler zu erwartenden Verände- 


rungen, auf die Reizsilbe und die an dieser auszuübende 
Tätigkeit. Dabei besteht eine mehr oder weniger deutliche Vor- 
stellung von der Reizkarte und der Instruktion, die wenigstens 
als unanschauliche Bewußtheit gegeben ist. 


2. Erwartung und Spannung. 


Sehr bald haben die Vpn. den Eindruck gewonnen, daß sie durch die 
Vorgänge am Kartenwechsler eine Überraschung erleben können. Daher setzt 
in der V.P. bald eine bis zur Spannung getriebene Erwartung ein. Der Inhalt 
der Erwartung ist »das Kommende«: Reizsilbe, Schrift- und Druckab- 
weichungen, die manchmal in einer Art Überempfindlichkeit an allen möglichen 
Stellen gesehen werden. Unausgesprochen liegt auch die Erwartung irgendeiner 
Umstellungstätigkeit vor, was sich nach der Gefühlsseite als freudige Er- 
wartung bemerkbar macht, wenn die vorhergehenden Versuche glatt gegangen 


sind, als quälende und mißtrauische Erwartung, wenn die Vp. trotz besten 


Willens von den Schwierigkeiten überwältigt worden ist. Die Erwartung ist 
oft so gesteigert, daß die Vpn. Spannungsempfindungen melden, und zwar 
sprechen sie davon öfter als von der Erwartung. Die Spannungsempfindungen 
werden über den Augen, an der Stirn und in der Brust gefühlt. Nach der 
Reaktion erfolgt dann ein befreiendes, tiefes Aufatmen. 

Es ist nicht ohne Interesse festzustellen, auf Grund welcher 


Bedingungen die Spannung entsteht. 
1. Vp. C meldet am 3. U,- Tag sehr oft Spannung und lebhafte An- 
teilnahme an den Versuchen, weil die u,-Silben ihr so sympathisch seien. 
2. Aber nicht nur die Leichtigkeit einer Arbeit, sondern auch ihre 
Schwierigkeit kann höhere Spannung hervorrufen, z. B. jene Schwierigkeit, 


118 Julian Sigmar, 


die eine Umstellbarkeit an sich macht. Meist wird von den Vpn. die U x- 
Tätigkeit als schwieriger bezeichnet. Eine andere Art von Schwierigkeit bleibt 
oft bestehen nach einer vorausgegangenen heterogenen Tätigkeit und greift 
auf die nächstfolgende Silbe über, auch wenn sie leichter ist. Vorausgegangene 
Fehlresktionen erhöhen auch die Spannung in den folgenden Versuchen. Vor 
allem ist es der dauernde Wechsel von leichten homogenen, schwierigen 
heterogenen und mittelschweren indifferenten Aufgaben in einer Versuchs- 
reihe, der die Vpn. aus einer gemütlichen Stimmung zu mißtrauischer Span- 
nung aufrüttelt. 


3. Die Konzentration. 


Wir verweisen hier auf die gelegentlich der »Hingabe« an- 
geführten Beispiele auf S. 113f., woraus das Wesen der 
Konzentration unschwer zu erkennen ist. Sie besteht in einem 
Hinwenden und Einstellen der entsprechenden Sinne auf das 
gestellte Ziel und in einem Zurückdrängen aller störenden Ein- 
drücke, seien es unerwünschte assoziierte Silben oder ganze Ge- 
dankengänge, oder gar Gefühle. Die Vp. will das alles nicht 
beachten oder aufkommen lassen. Als Beispiele mögen hier 
angeführt werden: 

3. Versuch, 1. Rp.-Tag. Vp. C. V.P. fester Vorsatz, ich will alle fremden 
Gedanken ‚ausschalten! 

5. Versuch, 3. Ug- Tag. Vp. D. Homogene Silbe nodeb. V.P. gut ein- 
gestellt, besonders die Aufmerksamkeit war überschwellig. Schlitz fixiert, 
dabei die Befürchtung, der Schlüssel würde umfallen. Aber ich sagte: Gib 
nicht darauf acht! | 

10. Versuch, 1. Rp.-Tag. Vp. A. V.P. Eine Reihe Wörter tauchte auf, 
weil die vorige Reaktion mich doch enttäuscht hat. Es drängen sich Hilfs- 
silben auf. Abgelehnt, weil gegen die Instruktion. 

Mit der Konzentration geht auch eine Einengung des Blick- 
feldes einher, in dem Sinne, daß weder das Summen des Chromo- 
skops noch die Person und Hantierung des Versuchsleiters 
wahrgenommen wurde. Von der Stärke und Aufdringlichkeit 
. störender Reize und Vorstellungen scheint es auch abzuhängen, 
ob sich mit der Konzentration Spannungsempfindungen ein- 
stellen, die im allgemeinen als unangenehm empfunden werden: 

Beispiel: 8. Versuch, 1. U ,-Tag. Vp.C. Heterogene Silbe ludep. 
V.P. Was kommt jetzt? Diese kleinen Sachen sind doch aufregend! H.P. Ich 
machte die Umstellung, hatte dabei Schwierigkeiten. Große Konzentrationen, 
e nach vorn geholt, darauf geachtet, daß der Konsonant stehen blieb. N.P. 
Zufrieden! 

Während die Spannung als Begleiterscheinung einer hohen 
Erwartung auftritt, welche mehr aus den die Aufmerksamkeit, 
von selbst fesselnden Vorgängen und Tätigkeiten am Karten- 
wechsler entsteht, liegt im Wesen der Konzentration das Hin- 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 119 


wenden auf die Hauptsache der Tätigkeit, ein Zurückdrängen 
von Nebeneindrücken, eine Einschränkung des Blickfeldes. Die 
Konzentration ist daher willkürlich geleitete Aufmerksamkeit. 


4. Ablenkungen. 


Nicht alle Vpn. zeigten ununterbrochen währende, gleich- 
mäßige Aufmerksamkeit. Bei Vp. C fehlte die Aufmerksam- 
keit in der V.P. fast immer. Auch die übrigen Vpn. haben in 
vielen Fällen nicht sagen können, daß sie Aufmerksamkeit ge- 
übt hätten. Nichtsdestoweniger sind solche Versuche gelungen; 
bei Vp. C ist nicht eine einzige intendierte Fehlreaktion ein- 
getreten; der Mangel an Aufmerksamkeit in den V.P. macht 
sich nur in einer Verlängerung der Zeitwerte bemerkbar. 


Die Ablenkungen der Aufmerksamkeit werden durch ver- 
schiedene Ursachen veranlaßt: 


a) Zahlreich sind die Mitteilungen über ablenkende Schriftzüge. Vp. A 
meldet, daß die Schriftzüge von rüteg, besonders das g und ü abgelenkt 
hätten (11. Versuch, 3. U,-Tag). Im 3. Versuch desselben Tages 
soll das w abgelenkt haben. Vp. D teilt mit, daß das ü gefallen habe 
(4. Versuch, 2. U x- Tag). Die eigentümliche Schreibweise des »nodaw« 
erinnert die Vp. A an englische Buchstaben, dabei vergißt sie die 
Instruktion und reagiert falsch. 

b) Ablenkende Einflüsse können sich auch geltend machen, wenn die 
Reizsilbe wiederholt innerlich gelesen wird. Dabei drängt sich das 
hinzugelernte Wort in den Vordergrund und führt zur F.R. 

c) Natürlich können auch störende Geräusche, die in näherer oder ent- 
fernterer Umgebung von der Vp. entstehen, ablenken, z. B. ein Knistern 
am Apparat oder das Fallen eines Gegenstandes oder ein unerwarteter 
optischer Eindruck. 

d) Stark ablenkenden Einfluß vermögen Reizsilben auch auszuüben, deren 
Stamm an einen Ort oder einen Gegenstand erinnert, welcher wesent- 
licher Bestandteil einer Gesamtsituation ist. Beispielsweise fühlt sich 
Vp. D durch »losem« an »Mosel« erinnert. Das ist ja nichts Auf- 
fallendes, da »losem—mosel« gelernt worden war; aber Vp. ist 
aus Trier a. d. Mosel und sieht sofort den heimatlichen Strom vor 
sich, worauf eine i.F.R. eintritt. Ähnlich geht es derselben Vp. mit 
»ledon«, das an »London« erinnert. Vp. C wird durch die Reizsilbe 
telar an Talar erinnert und reagiert falsch. 

e) Wenn die Umstellung einiger Silben sinnvolle Worte ergeben hat, kann 
das ebenfalls ablenkend wirken, weil eine Neigung hervorgerufen wird, 
bei der folgenden heterogenen Silbe wiederum ein sinnvolles Wort zu 
bilden. 

z. B.: Die 1. Reaktion im 3. U,-Tag bei Vp. D ergab »losem« — 
»Mosel«; die 2., eine neutrale Silbe ribeb, ergab biber; die 3. hetero- 
gene Silbe »ledon« wurde instruktionswidrig zu »loden« umgestellt. 


120 Julian Sigmar, 


f) Zwischen der .Reizsilbe und der umgestellten Silbe bildet sich manch- 
. mal unvermerkt eine neue Assoziation, die ungelegene F.Rn. veran- 
lassen kann. Weil einmal nedal zu nadel umgestellt worden war, trat 
dieses sinnvolle Wort später störend auf. Besonders oft machte sich 
das von selbst entstandene Wort »luder« und »krokodil« geltend (aus 
redul bzw. rokil). 

Zusammenfassend können wir sagen: Ablenkungen werden 
verursacht durch Geräusche, durch innerliches Lesen, infolge 
ästhetischer Wirkung der Schriftzüge, aus der Tendenz nach 
sinnvoller Einheitlichkeit der Reaktionen. und wofern die Silben 


an Worte erinnern, die Bestandteile einer Situation) sind. 


5. Verhältnis der Aufmerksamkeit und Konzentration zu rich- 
tigen Reaktionen. 


Im 5. Versuch des 3. U, - Tages soll Vp. A die heterogene 
Silbe »gebal« umstellen. Es gelingt ihr nicht. Das Protokoll 
dazu besagt: 

V.P. ganz scharfe Konzentration auf meine Technik, aus Vor- 
sichtsgründen. H.P. »gebal« gelesen, umgestellt, darauf ein Versprechen. N.P. 
Bedauern, Gefühlsbewegung, resignierter Ärger, gelacht. 

Solche Fälle, die sich beliebig vermehren ließen, lassen von 
vornherein berechtigte Zweifel an der Bedeutung der Konzen- 
tration für eine richtige Lösung aufkommen. Diese Vermutung 
wird dadurch bestätigt, daß in 39 Fällen Fehlreaktionen 
trotz deutlich ausgesprochener Aufmerksamkeit einge- 
treten sind, während 33 richtige Reaktionen erfolgten trotz 
offenbarer Ablenkungen. (Immer in heterogenen Aufgaben.) 

Die Fälle haben ungefähr alle folgenden Charakter: 

V.P. gut eingestellt, gespannt, sonst leer. H.P. piras, sofort 
Paris. Diese Assoziation war so fest, daß ich hineinfiel und das Prüfen ver- 
gaß. Während des Aussprechens innerlich gesagt: Du bist ja wieder herein- 
gefallen! (Vp. D, 8. Versuch, 3. U x-Tag.) Dagegen: Vp. B, 2. U,-Tag 
9. Versuch, heterogene Silben libeb. V.P. Ich wurde durch eine private Auf- 
gabe abgelenkt. H.P. libeb, sofort Bibel. Abgelehnt, weil es nicht stimmte, 
dann umgedreht. N.P. Befriedigt. 

Auch der Einfluß der Spannung auf das Gelingen der Re- 


aktion entspricht nicht dem in ihr liegenden Aufwand an 
Kraft. Im seen wirkt die Spannung eher als ein Re- 


24) Situation fassen wir hier im Sinne Hans Hennings: Gesamt- 
situation ist die Erlebniseinheit aller Anteile eines oder mehrerer Sinnes- 
gebiete, in welcher der Unterschied zwischen gegenwärtiger Wahrnehmung 
und Erinnerung fehlt, in welcher auch das Ichgefühl und Ichbewußtsein in 
die Einheit einbezogen ist (vgl. weiter unten S. 167 £.). 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 121 


a 


produktionsmotiv, das alle möglichen verwandten Vorstellungen ` 
in Bereitschaft setzt, so daß sie unerwartet und störend zu un- 
gelegener Zeit auftreten. Manche richtige Reaktion würde un- ' 
geachtet der Spannung ein Fehlversuch geworden sein, wenn 
es sich nicht um eine homogene Aufgabe gehandelt hätte, an 
der eben ein Fehler nicht möglich ist. 


6. Ergebnisse. 


1. Der Inhalt der willkürlichen Aufmerksamkeit und Er- 
wartung ist durch die Instruktion bestimmt, also abhängig 
von der Determination. 

2. Der höchste Grad der willkürlichen Aufmerksamkeit, die 
Kenzentration, zeigt am deutlichsten deren Abhängigkeit von 
der Determination. Demgemäß ist die Bezeichnung »Aufmerk- 
samkeit« nur Ausdruck für den phänomenalen Tatbestand einer 
vorhandenen Determination. 

3. Aufmerksamkeit fehlt oft, ohne daß die richtige Re- 
aktion gefährdet ist; manchmal bestehen deutliche Ablenkungen 
in der V.P.; dennoch tritt eine richtige Reaktion ein. Daraus 
folgt, daß die Aufmerksamkeit keine maßgebende Bedingung 
für die richtige Lösung der Achschen Willensexperimente ist. 

4. Man wird allerdings auf die Übereinstimmung der Kon- 
zentration mit den Erscheinungsweisen der »Hingabe« hin- 
weisen und daraus eine maßgebliche Bedeutung der Aufmerk- 
samkeitskonzentration für die richtige Lösung ableiten wollen. 
Dagegen möchte ich nur auf einige Beispiele hinweisen, in 
denen trotz starker Konzentration Fehlreaktionen eingetreten 
sind: j 

Vp. C, 10. Versuch, 3. Ux- Tag, Heterogene Silbe futam. V.P. Sehr 
starke Konzentration, Erwartung. H.P. So schnell gearbeitet, daß ich zu 
keiner Überlegung kam. N.P. Überzeugt, daß ich richtig gehandelt habe. 

Vp. D, 5. Versuch, 2. Ux- Tag. Heterogene Silbe fesul. V.P. Sehr auf- 
merksam eingestellt. Die Aufmerksamkeit besser angepeitscht, indem ich auf 
den Schlitz achtete. H.P. fesul erkannt, visuell den Versuch des Umstellens 
gemacht, aber nicht zu Ende geführt. Ausgesprochen (i. F.R., weil fusel gesagt). 

Die Konzentration ist also nur in der H.P. von Wert, wenn 
sie auf den rechten Ansatzpunkt der Umstellbarkeit gerichtet 
ist (Praxis), wenn sofort gehandelt und mißtrauische Vorsicht 
angewandt wird. Dazu gehört aber Erfahrung in der Lösungs- 
weise. Die Konzentration an sich ist blind; erst nach einer 
Reihe günstiger und ungünstiger Erfahrungen entwickelt sich 


122 Julian Sigmar, 


aus ihr die »Hingabe«. Diese Vw. besteht nicht nur unter 
Spannungserscheinungen, sondern auch bei gleichmütiger Stim- 
` mung. 


S 7. Perseveration. 


In verschiedenen Fällen, die allerdings wenig zahlreich sind, 
gelang die Reaktion, weil die Vp. in einer Vw. sich befand, in 
der sie sicherheitshalber, wenn auch unbewußt, Umstellungen 
vornahm. Es handelte sich um homogene Silben, die richtig 
umgestellt wurden, weil infolge einer vorangegangenen, neu- 
tralen oder heterogenen Silbe die Vp. in die konstruierende Vw. 
gekommen war. Es lag nahe, diese glücklichen Reaktionen, die 
an Stellen vorgenommen wurden, an denen i.F.R. beabsichtigt 
waren, auf den Faktor der Perseveration zurückzuführen. Unter 
Perseveration ist nach Müller-Pilzecker die Tendenz der 
Vorstellungen zu- verstehen, frei ins Bewußtsein zu 
steigen 3). Diese Deutung stieß bekanntlich auf Widerspruch, 
der besonders aus dem Wundtschen Kreise durch Karl 
Jesinghaus geltend gemacht wurde, dem sich später auch 
W. Poppelreuter angeschlossen hat?®). G.E. Müllers 
Lehre bezieht sich auf Vorstellungen, hier aber handelt es sich, 
wie wir zeigen werden, um andere perseverierende Erschei- 
nungen, um die Perseveration von Tätigkeiten und Bewußt- 
seinslagen. Das veranlaßte Lewin, diese Erscheinung nicht 
als Perseveration, sondern als Persistenz von Tätigkeiten zu be- 
zeichnen ®). Da aber Ach diese Vorgänge auf Perseveration 
zurückführt 2), wollen wir in der beschreibenden Analyse zu- 
nächst an dieser Bezeichnung festhalten, bis wir sie nach der 
systematischen Erörterung “richtig benennen können. 


a) Erscheinungsweisen. 


l. Es machte sich natürlicherweise eine Perseveration von einzelnen 
Buchstaben bemerkbar, z. B. am 2. Rp.-Tag der Vp. D der Buchstabe a in 
den freien Reaktionen 1—3; daneben auch die Reaktion mit gewissen, immer 


25) Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis, Leipzig 1900, 
S. 58. 

26) Joesinghaus, Zur psychol. Theorie d. Gedächtnisses, Psych. Stud. 
VIL S. 35; W. Poppelreuter, Üb. d. Ordnung des Vorstellungsablaufes, 
Arch. Ps. XXV, S. 293. 

27) Lewin a. a. O. Psychol. Forsch. I, S. 236 und 268 f. 

28) W. u. T. S. 150, ferner S. 36, 55 f. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 123 


gleichbleibenden Worten. Wir möchten als solche vor allem Luder und Kro- 
kodil nennen. Da diese Reproduktionserscheinungen gerade an Rp.-Tagen auf- 
traten, in denen »die anderweiten das Bewußtsein bestürmenden Faktoren 
nicht von besonderer Stärke und Nachhaltigkeit sind«, so scheinen die ange- 
führten Tatsachen mit der Müllerschen Lehre im Einklang zu stehen. 

2. Man beobachtete aber auch die Perseveration in der Gestalt, daß die 
Vp. nicht in der Lage war, an Rp.-Tagen auf gewisse Silben eine andere Silbe 
zu finden, und dann in wiederholten Fällen unter unerklärbarer Verwirrung 
und Verlegenheit die Reizsilbe einfach wiederholte (7., 8., 9. Versuch, 3. Rp.- 
Tag, Vp. D). 

3. Zu den Perseverationserscheinungen müssen wir auch das Verharren 
der Vp. in gewissen Tätigkeiten und Bewußtseinslagen rechnen, und zwar be- 
obachten wir: 

a) ein Perseverieren in der Bewußtseinslage der Anstrengung, oder wie 

Lewin dafür sagt, in der konstruierenden Vw. 

Einen guten Beweis dafür lieferte der 11. Versuch des 1. U, -Tages bei 
Vp. B. Im 10. Versuch war an der uy- Silbe nachel die heterogene U,- 
Tätigkeit ausgeübt; sie sollte nun gleichfalls an der 11. Silbe vollzogen werden, 
der neutralen Silbe lafet. Nun hätte B beinahe die sich aufdrängende Asso- 
ziation tafel benutzt, aber »ich war gewohnt, eine Tätigkeit auszuüben: Als 
ich diese, d. h. das Umstellen begann, fiel mir sofort der Fehler, der im Wort 
Tafel liegt, ein.. .« Wenn der Bewußtseinszustand der Anstrengung ein- 
getreten ist, kommt die Vp. nicht leicht in Versuchung, das angelernte Asso- 
ziationswort auszusprechen, sondern sie stellt lieber um, in der Tätigkeit 
beharrend. 

Die Anstrengungslage kann schon durch eine neutrale Silbe eingeleitet 
werden, ganz besonders natürlich durch eine heterogene Silbe; denn beide 
setzen der Umstellung einen Widerstand entgegen. Die auf solche schwierigen 
Reaktionen folgenden homogenen Silben setzen daher die Vpn. weit weniger 
der Gefahr einer i.F.R. aus 29). 

b) Einen Beweis nach der entgegengesetzten Seite liefert der 3. Versuch 

im 2. U,-Tag, Vp. D. Da heißt es: »Ich habe nicht umgestellt, d. b. 
nicht nach der Praxis gehandelt ... weil ich gewöhnt bin, immer 
etwas Gelerntes zu sagen. Die Falschheit der Reaktion auch nicht 
in der N.P. gemerkt«. Ähnlich lautet der 4. Versuch: »rüteg« wieder 
nach dem Gelernten ausgesprochen. 

Man könnte hier ganze Reihen von aufeinander folgenden Versuchen 
anführen, weil nur aus dem Zusammenhang ersichtlich wird, wie nach einer 
heterogenen Silbe die Anstrengungslage eintritt, in den folgenden Reaktionen 
perseveriert und deren richtige Lösung sichert; während hingegen nach einer 
homogenen Silbe oder sinnvollen Reaktion die Vp. in die Rp.-Lage gerät, der 
Umstellungsarbeit ausweicht und dann in fehlerhafte Reaktionen fällt. 

4. Eine spezielle Art der Perseveration ist das Verharren in einer ganz 
bestimmten Tätigkeit. Das fällt besonders bei der Betrachtung der Re- 
produktionstage auf, wo die Vp. in der Wahl von U, oder U, frei ist. Je 
nachdem an einer Silbe U, oder U) geübt worden ist, wird an der darauf 
folgenden indifferenten Silbe sehr oft die gleiche Tätigkeit ausgeübt; ein Vor- 


29) Vgl. hierzu das Hillgrubersche Schwierigkeitsgesetz, oben S. 114. 


124 Julian Sigmar, 


gang, den auch Ach und Rux >30) gewürdigt haben. Zur Veranschaulichung 
dieser Regelmäßigkeiten mögen folgende Fälle angeführt werden; es handelt 
sich immer um Rp.-Tage. 


Voransgehende Tätigkeit Folgende Tätigkeit an der »-Silbe 
8/43 u y- Silbenpaar: kegul — kugel 9/43 v-Silbe peron zu poren 
Am2 „ m piras — paris 5/72 „ „ nedal zu. nadel 
5/88 „ y petar — pater 6/83 „ »„  nagew zu negaw 
7/83 „ w basim — bisam 8/83°), „ resan zu rasen 


5. Eine andere Wirkungsweise der Perseveration kennzeichnet sich in 

folgenden Versuchen: 

a) Vp. A, 2. Rp.-Tag. Vorangegangen war ein U,-Tag. Vp. A schwankt 
nun im ersten Versuch des Rp.-Tages, wie sie es machen soll. Sie 
ist ungewiß und stellt die Reizsilbe fesul zu lusem um. Das kann sie 
sich nun gar nicht erklären; H.P.: »Wie ich auf lusem kam, weiß ich 


nicht.« Ähnlich verläuft der erste Versuch des 3. Rp.-Tages der Vp. G 


und der erste Versuch des 2. Rp.-Tages derselben Vp. 

b) Vp. A, 3. Ux-Tag, 1. Versuch. Vorausgegangen war der 2. Rp.-Tag. 
Auf die Reizsilbe ribeb hin wagt Vp. es nicht, das sich aufdrängende 
biber auszusprechen, sondern sagt »Bibel«. »Ich habe reproduziert, 
nicht umgestellt« gesteht sie. Ähnlich verläuft der 1. Versuch bei der 
Vp. J am 1. U,.-Tag, der auf einen Ux -Tag folgt. Die Vp. sagt: 
»Es erschien das Wort, anstatt die Vokale umzustellen, stellte ich 
die anderen Auslaute um.« Der Versuchsleiter fragte darauf, ob sie 
sich das erklären könne. Vp.: »Das ist ein Verweilen in der gestrigen 
Tätigkeit.« 

Es dürfte sich hier um eine Irradiation der am Vortage geübten Tätig- 
keit handeln. Wollte man das auch auf Perseveration zurückführen, dann 
wäre hier der Fall gegeben, daß die Perseveration länger als 24 Stunden 
dauert. Dem widersprächen die Untersuchungen J. Quandts, der gefunden 
hat, daß die Perseveration fast immer nur 5—10 Sekunden, und nur bei be- 
sonders guten Bedingungen höchstens 20 Sekunden wirkt 32). 

6. Ursachen der Unterbrechung der Perserverationslage. 

Eine Unterbrechung der fortdauernden Anstrengungslage 
tritt ein, wenn die Vp. einsieht, daß die an einer homogenen 
Silbe geleistete Arbeit eigentlich überflüssig gewesen ist; sie 
hört dann .mit der Umstelltätigkeit auf, verläßt sich aufs Re- 
produzieren und begeht Fehlreaktionen. 

Umgekehrt wird eine Reproduktionslage dadurch unter- 
brochen, daß entweder eine neutrale Silbe allmählich wieder in 
die konstruierende Verhaltungsweise hinüberleitet, oder daß eine 
Fehlreaktion eingetreten ist, die das Motiv zu neuer An- 


strengung wird. 


30) a. a. O. S. 147 f. 

31) Die Ziffern geben die Bezeichnungen wieder, welche die Reaktionen 
in der Sammlung sämtlicher Protokolle erhalten haben. 

32) Wundts Psych. Stud. I, Tab. II, IX u. X, S. 146 f. und 167. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 15 


b) Zusammenfassung. 

Abgesehen von der Perseveration von einzelnen Buchstaben 
und Worten, deren assoziative Bindung und Entstehung so 
deutlich ist, daß man da von einer eigenen Perseverations- 
tendenz kaum wird sprechen können, dürfte es ganz sicher 
sein, daß bei den soeben geschilderten Erscheinungen etwas 
ganz anderes vorliegt, als was G.E.Müller und Pilzecker 
beschrieben haben. Hier werden nicht Vorstellungen beobachtet, 
welche frei wieder aufsteigen, sondern Tätigkeiten, und zwar 
ganz spezielle Tätigkeiten; es ist noch nicht der Beweis dafür 
erbracht, daß das Wiederauftauchen früherer Tätigkeiten und 
das Wiederauftauchen früherer Vorstellungen gleichartig sind, 
d.h. den gleichen Gesetzen unterliegen. Gegen die Annahme, 
daß es sich hier um die Perseverationstendenz handelt, spricht 
auch die längere Dauer der beobachteten Vorgänge. Man kann 
daher verstehen, daß Lewin den Terminus »Persistenz von 
Tätigkeiten« dafür eingeführt hat33). 

Darunter versteht er sowohl das Verharren in einer be- 
stimmten Tätigkeit, z.B. der Reimtätigkeit, wie auch die Er- 
scheinung, daß die Vpn. wiederholt mit demselben Vokal mittel- 
gereimt haben. Von letzterem lassen die Vpn. eigentlich nur 
ab, wenn ihnen zum Bewußtsein kommt, daß sie dadurch dem 
Sinn der Instruktion nicht gerecht zu werden scheinen 33). 

Zunächst darf angenommen werden, daß die unter »Irra- 
diation: angeführten Phänomene Reproduktionserscheinungen 
sind. Inwieweit solche auch bei den anderen Perseverations- 
phänomenen vorliegen, wäre noch zu untersuchen. Bedeutsam 
ist es aber, daß hiernach der Reproduktionsbegriff auch auf 
jene Tätigkeiten ausgedehnt werden müßte, die mit der Auf- 
nahme bloßer Vorstellungsreihen vereint gewesen sind. 


$ 8. Inertial-Tendenz. 


An Stelle der sofort in Angriff zu nehmenden Umstellung 
suchen alle Vpn. nach einer bequemeren Lösungsweise, die 
ihnen keine Anstrengung macht. Diese Neigung ist insofern 
verständlich, als die homogenen Aufgaben nur Reproduktions- 
leistungen fordern. Die Vpn. streben aber nicht nur danach, 
sich die Arbeit zu ersparen, sondern, wo immer nur möglich, 
auch jeden Vorteil der Lösung zu benutzen. Diese Tendenz, das 


33) Vgl. Lewin a.a.0. S.236 und 268—70. 


126 Julian Sigmar, 


Reproduktionsgut auszunutzen, weist darauf hin, daß auch das 
seelische Geschehen unter einem Trägheitsgesetz steht. Daher 
haben wir die angedeutete Neigung zur Bequemlichkeit als 
»Inertialtendenz« bezeichnet. Als klassische Beispiele dieser 
Tendenz mögen von Vp. A die Versuche 9, 10 und 11 des 
dritten U x- Tages angeführt werden: 

9. ritel (nx) V.P. Allgemeine Erinnerung. H.P. Wenn eine Silbe er- 
scheint, die in das Lerngut paßt, dann ruhig aussprechen; paßt sie nicht, dann 
umstellen. Das ist meine neue Einstellung. N.P. Erfüllungsbewußtsein. 

10. piras (u,). V.P. Umstellungstechnik ist als Bewußtheit gegeben. 
H.P. piras, kleinen Versuch gemacht; aber das Wort paris trat nicht über die 
Schwelle des Bewußtseins, es war eine Valenz. Deshalb sofort ans Umstellen 


gegangen. N.P. — 
11. losem (ux). V.P. Sohon jetzt die gabelige Einstellung vom vorigen 


Versuch. H.P. losem — das paßt! Also mosel! Bemühen wir uns nicht weiter. 
N.P. Richtigkeitsbewußtsein, Zufriedenheit mit meiner neuen Technik. 

Das Wesentliche der Inertial-Tendenz ist also ein Ver- 
gleichen der Reiz- und der dazu gelernten Silbe mit der ge- 
forderten Umstellung, als wenn die Vp. sich fragte: Paßt die 
dazu gelernte Silbe oder muß ich umstellen? Daher auch ein 
gewisses Suchen und Abwarten. Der Vergleich der memo- 
rierten Silbe mit der Zielvorstellung geschieht in vielen Fällen 
so blitzschnell, daß man mit dem Gegebensein der Zielvor- 
stellung als Schema rechnen muß. 

Man könnte versucht sein, die Inertial-Tendenz für eine 
Spielart der Ko. Td. zu halten. Findet doch auch hierbei eine 
Kontrolle statt, aber nicht eine solche der Richtigkeit der ge- 
leisteten Arbeit, sondern des vorhandenen Assoziationsmaterials 
zum Zwecke der Arbeitsersparung. Es gewinnt oft den An- 
schein, als ob die assoziierten Silben hervorgelockt würden, als 
ob ein Spielen mit den aus unbewußter Vorsicht zurückge- 
tretenen reproduktiven Tendenzen stattfände: 

11. Versuch, 1. U,-Tag, Vp. D. H.P. nagew erkannt. Td.: »Was war 
doch dazu gelernt... .« 

2. Versuch, 3. Ux- Tag, Vp. D. H.P. ribeb sofort als gelernt erkannt. 
»Wird wieder so etwas sein wie Mosel!« (im voraufgehenden Versuch war 
die homogene Silbe losem — mosel geboten worden). — »Ich wartete auf 
das Ergänzungswort. Dann ging ich von der intellektuellen Methode zur akusto- 
motorischen Methode über, dann unter Hemmungen gearbeitet.« 


Diese Art Kontrolle, wenn man die Inertial-Tendenz dafür 
ansehen wollte, ist schließlich nicht eine Sicherung des Han- 
delns, sondern Ursache mancher Fehlreaktionen. Sie hat nur 
wenige Zufallserfolge aufzuweisen (4 Fälle). 

Weiteres siehe S. 141. 


Über Hemmungen ber der Realisation eines Willensaktes. 127 


1. Entstehung der Inertial-Tendenz. 


Wenn wir eine Qualitätenreihe aufstellen wollten, so könnten 
wir drei Stadien beobachten: Zunächst merkt die Vp., daß sie 
bei einigen Silben überflüssige Umstellungen vorgenommen hat. 
Es hätte genügt, die dazu gelernte Silbe auszusprechen. Dieses 
Stadium läßt sich bei den Vpn. C und D sehr früh, schon am 
1. Umstellungstag beobachten, bei B und A erst am 3. Tag. 
Der 11. Versuch des 2. U,- Tages, Vp. A, der eine Reihe 
schwieriger Umstellungen abschließt, zeigt, daß auch eine länger 
dauernde Anstrengung Veranlassung zur Inertial-Td. werden 
kann. 

(Homogene Silbe ledon. H.P. Es entsteht eine Neigung, in das Lerngut 
zu kommen. lo — aha, endlich etwas, was bekannt ist!) 

In einem zweiten Stadium pflegt nach der Erkenntnis über- 
flüssig geleisteter Arbeit das deutliche Streben einzusetzen, 
sich Arbeit zu ersparen und das Lerngut zu benutzen. Diese 
Neigung wird schließlich bewußt. 

In einem dritten Stadium erkennt die Vp. dann die Gefähr- 
lichkeit der Inertial-Tendenz und wendet sich von ihr ab. Der 
Zeitpunkt, in dem es geschieht, liegt bei den einzelnen Vpn. 
verschieden; C merkt schon nach zwei, auf Inertial-Td. zu- 
rückzuführenden F.R., daß es Zeit ist, lieber sofort umzustellen. 
Die Ablehnung wird von den Vpn. deutlich ausgesprochen, z. B.: 

11. Versuch, 2. Uy-Tag, Vp. A. »Während der heutigen Versuche bin 
ich in der Überzeugung bestärkt worden, mich nicht an das Lerngut zu halten, 
weil es doch trügerisch ist.« 

11. Versuch, 1. Uy-Tag, Vp. D. nagew erkannt. Td.: Was war doch 


dazu gelernt? Abgelehnt, gleich ans Umstellen gegangen. 

Es muß auffallen, daß die Vpn. in die Inert.-Td. zurückfallen, 
nachdem sie doch ihre Gefährlichkeit erkannt hatten. Der 
Grund dafür liegt einerseits in der stets wechselnden Schwierig- 
keit einer Versuchsreihe, deren 12 Reaktionen Gelegenheit zu 
den verschiedensten Einstellungen geben, andererseits in dem 
Unvermögen der Vpn., sich über die wirklichen Ursachen ihrer 
Fehler klarzuwerden. Vp. D vermutet sie z.B. in Aufmerk- 
samkeitsfehlern. (3. Vers. 3. U,- Tag.) 


2. Inertial-Tendenz oder Identifikation? 


Die bei den Vpn. oft vorkommende Frage: »Gelernte oder 
ungelernte Silbe?r« — »Paßt die assoziierte Silbe für die Lösung 
dcr Aufgabe oder muß ich umstellen?« bringt diesen Prozeß 
in die Nähe der von Lewin als Ursache der i.F.R. seiner 


128 Julian Sigmar, 


Anordnung I angesehenen »Identifikations-Tendenz« *). Auch 
meine Vpn. haben in vielen Fällen erst nach der Reaktion die 
Frage nach der Bekanntheit der Silbe gestellt, in den der Inert.- 
Td. zugeschriebenen allerdings vor der Reaktion. Lewin be- 
trachtet die Identifikation nach und vor der Lösung der Auf- 
gabe als einen und denselben Prozeß, der sich nur unter dem 
Einfluß des Übungsfaktors nach vorn verschiebt. 

Dem dürfte aber nicht so sein. Nach der ganzen :Anlage 
der Versuchsanordnung I und U Lewins mit dem regel- 
mäßigen Wechsel von gelernten und ungelernten Silben ist zu 
erkennen, daß die Vpn. alle Aufgaben in der konstruierenden 
Vw., der Hingabe, lösen. Dieser Vw. ist es eigentümlich, daß 
vor der Umstellung gar nicht auf die Bekanntheit oder Un- 
bekanntheit der Silbe, die umgestellt werden soll, geachtet 
wird; die Vp. ist »ganz Instruktionsmensch«. Nach getaner 
Umstellung dagegen macht sich aus einer sehr natürlichen Ten- 
denz zur Einordnung aller Eindrücke das Bedürfnis zur Identi- 
fikation geltend. Einen andern Sinn wird man in der Identi- 
fikation schwer nachweisen können. Die Prägung des Begriffes 
der Identifikation durch Lewin hat in dieser Hinsicht eine 
wertvolle Klärung der Kontrollprozesse gebracht, die ich in 
der Analyse lediglich ihrem zeitlichen Auftreten nach in solche 
vor und solche nach der Umstellung unterschieden habe. Nur 
entspringt die Identifikation vor der Umstellung nicht mehr der 
Tendenz zur theoretischen Einordnung, sondern hat sich in eine 
andere Tendenz abgewandelt. Im Verlauf der sich immer gleich- 
bleibenden Umstellungen beginnt sich nämlich der Zustand der 
»Hingabe« in eine minder konzentrierte, weniger mißtrauische 
Vw. aufzulösen. Die Vp. bemerkt, daß manche Silben bekann- 
ter und daher angenehmer zu lösen sind als die unassoziierten. 
Die Bekanntheit macht ihr das Arbeiten angenehmer, und so 
beginnt sie nach solchen Silben Ausschau zu halten und sogar 
festzustellen, an welcher Stelle sie ursprünglich in der Lern- 
reihe gestanden haben. Diese »Identifikation« ist nicht 
mehr eine Folge der Tendenz zur theoretischen Einordnung, 
sondern wird getragen von einer gefühlsbetonten Tendenz, der 
Inertial-Td. Rief doch bei einer Vp. Lewins das Erscheinen 
der g-Silbe einen lebhaften Freudenausruf hervor. Die »Identi- 


34) Vgl. in »Psychol. Forschungs, Bd. I, S.211, 214 f., 226, 234, 253 f. 
und Bd. II, S.72. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 129 


fikation« ist nur ein Mittel zur Erreichung dieses Zieles ge- 
worden. (Vgl. unten S. 158, 4.) 

Wäre die Idt. vor der Umstellung dieselbe wie nach der- 
selben, so dürfte nach einer i. F.R. nicht bloß die von Lewin 
beobachtete »Rückbildung« 3%) der Kontrollprozesse, d. h. deren 
Verschiebung hinter die Umstellung, stattfinden, sondern es 
müßte vielmehr die Identifikation sowohl vor. wie nach dem 
Umstellen aufgegeben werden. Es fällt aber nur die eine ge- 
fährliche Tendenz aus, die Inertial-Td., nicht aber die unge- 
fährliche der Identifikation. Dieser Deutung dürfte auch die 
Beschreibung derselben durch Lewin gerecht werden, wie auch 
sein geäußerter Zweifel über ihre Natur: »Bei der Identifika; 
tions-Tendenz z.B. ist nicht ohne weiteres deutlich, ob es sich 
um eine Td. zum Wiedererkennen, oder um eine Td. zur hbe- 
grifflich genauen Einordnung, oder um ähnliche Tdn. handelt.« 
(U, S. 98/99.) : 

Begrifflich ist die Bezeichnung Lewins richtig; es handelt 
sich in jedem Fall um eine Identifikation. Sachlich bzw. psycho- 
logisch dagegen werden die Idt.-Prozesse zerlegt werden müssen 
als wurzelnd in Tdn. entweder zur theoretischen Orientierung, 
oder zur Bequemlichkeit, oder zur Kontrolle im Sinne der 
Determination. 


$ 9. Reproduktions-Tendenz. (Rp.-Td.) 


Unter den von den 4 Vpn. gelösten Aufgaben befanden sich 
96 homogene Aufgaben. Einer oberflächlichen Beobachtung 
dürfte es scheinen, als ob in diesen Fällen die Rp.-Td. aus- 
schließlich die Lösung herbeiführt; dem ist aber nicht so. Ein 
gutes Viertel der homogenen Aufgaben ist noch unter dem Ein- 
fluß der Hingabe bzw. der konstruierenden Tätigkeit gelungen, 
ein anderer großer Teil zeigt vor der Lösung Kontrolle (20). Einige 
wenige sind unter dem Einfluß der Inertial-Tendenz glücklich 
gelöst worden (4). Überall dort, wo die Vw. der Hingabe bestand, 
machte sich ein völliges Übersehen der Homogenität der 
Aufgabe bemerkbar, wie schon an anderer Stelle gesagt worden 
ist. Die Vp. wußte gar nicht, daß sie sich an diesen Stellen 
die Umstellarbeit hätte ersparen können, und hat erst nach 
vollendeter Umstellung, sei es aus dem Bestreben nach Kon- 


85) a. a. O. Bd. II, S. 226. 
Archiv für Psychologie. LII. 9 


130. Julian Sigmar, 


trollen oder infolge der Identifikations-Tendenz festgestellt, daß 
bier bloßes Reproduzieren auch zum Ziel geführt hätte. 

Eigenartig war das Verhalten fast aller Vpn. an den Rp.- 
Tagen. Statt der erwarteten größeren Geschwindigkeit der Re- 
aktionen gegenüber den U,- und U, - Tätigkeiten konnte bei 
verschiedenen Vpn. eine starke Verzögerung bei der Lösung der 
Aufgaben beobachtet werden. Ganz besonders war dies bei 
Vp. C der Fall. Die Zeitwerte waren im allgemeinen bei den 
ersten Reproduktionen so hoch, und das Verhalten der Vpn. 
zeigte eine so auffallende Ratlosigkeit, daß von seiten des Ver- 
suchsleiters den Vpn. gesagt werden mußte, sie dürften hier 
mit der dazu gelernten Silbe reagieren. Einige Mitteilungen aus 
den Protokollen mögen das veranschaulichen: 


e Die Vpn. A, C, D standen manchmal den Reproduktionsaufgaben ganz 
ratlos gegenüber; Vp. A sagt beim 1. Versuch: Mir fällt kein Wort ein! — 
Vp. C: »Mir wird kein Wort einfallen. H.P. Ratlosigkeit....« (1. Versuch). 
Im Verlauf desselben Versuchstages bleibt sie bestehen, die Reaktionszeiten 
werden infolgedessen so lang (7,4 u. 3,3 Sekd.), daß sie in der Berechnung 
der Mittelwerte nicht in Betracht gezogen werden konnten. Auch Vp. D, die 
am 1. Rp.-Tag glatt mit dem »Dazugelernten« reagiert hatte, wird am 2. und 
am 3. Rp.-Tag ganz hilflos, was um so mehr auffallen muß, als doch die 
Assoziationen durch tägliches Memorieren schließlich dreimal so stark ge- 
worden sein mußten als am 1. Rp.-Tag. Vp. D sagt im 9. Versuch des 3. Rp.- 
Tages, als die so oft schon gelernte und umgestellte Silbe nadef — faden er- 
schien: »In großer Verlegenheit! Ein ängstliches innerliches Hin- und Her- 
laufen«; Reaktion nach 1,43 Sekunden. 


Am besten hat Vp. B mit der dazugelernten Silbe reagiert, wohl deshalb, 
weil bei ihr die schwache Anordnung II erprobt wurde, die mit schwachen 
Assoziationen arbeitete. Auch bei Vp. D wurde am 1. Rp.-Tag, da die Asso- 
ziationen schwach waren, mit der dazugelernten Silbe reagiert. Dies Resultat 
widerspricht aber dem Grundgesetz der Assoziation, wonach mit steigenden 
Wiederholungen um so sicherer und leichter die assoziierte Silbe hätte gesagt 
werden müssen! Übrigens erfolgen die Reaktionen auch bei B mit großem 
Zeitaufwand. — | | 

Die Vpn. zeigen jedoch im Gegenteil eine gewisse Scheu vor dem Be- 
nutzen des Lerngutes. Vp. A, 1. Rp.-Tag: »Es war mir nicht sympathisch, 
mit dem dazugelernten Wort zu reagieren!k 8. Versuch: »Ich suche herum und 
reagiere endlich mit »donar«. 2. Rp.-Tag, 7. Versuch: »Nur nicht in der 
Richtung des Gelernten reagieren!« 3.Rp.-Tag, 1. Versuch: »Schwanken, da 
»kugel« Lerngut. — Als im 5. Versuch mit »wodan« auf »nodaw« geantwortet 
wird, hört man die Verwahrung: »Ich bezog mich mehr auf frühere Reaktionen 
als auf das Gelernte.« 

Vp. D verhält sich ebenso; am 2. Rp.-Tag, 2. Versuch sagt sie: »Keine 
Regung, auf libeb bibel zu sagen; dafür retil gebildet.« 

Statt mit der assoziierten Silbe zu antworten, nennen sie lieber nocb 

einmal das Wort im Kartenwechsler.. Vp. A: ligok — ligok, telar — telar, 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 131 


lügeb— lügem. Vp. D, 1. Rp.-Tag, 1. Versuch: ludep— ludep. Vp.A ist 
darüber erstaunt, daß sie immer mit »luder« antwortet. 

Da die zugelernte Silbe zu nennen entweder nicht angenehm ist, oder 
ihnen nichts einfällt, so bilden die Vpn. gern fremde Worte, oft unter Be- 
nutzung der erschienenen Reizsilbe, z. B. ligok — likör, räfek — refektorium, 
telar — ratel. Vpn. A und D helfen sich auch durch Rückwärtslesen aus der 
Verlegenheit. 

Am 2. Versuchstag merkt Vp. A, daß das Nennen des Zugelernten das 
Müheloseste ist. Vp.D beginnt später eifrig in der Richtung des Gelernten 
zu suchen, wendet sich aber wieder der Methode der Umstellungen und der 
Kontrolle zu. 

(Auch Vp. G hat nach Ausweis der Tabelle der Mittelwerte zur Repro- 
duktion der u,.-Silben mehr Zeit gebraucht (ca. 300 0), als in homogenen 
Aufgaben der U „ Tätigkeit.) 


& 10. Der feste Vorsatz und sein Verhältnis zur richtigen 
Lösung. | 

Nach den Ausführungen von Ach muß man den primären 
Willensakt, d.h. den festen Vorsatz, für die unbedingte Vor- 
aussetzung erfolgreicher Reaktionen ansehen. Er führt dazu 
die Aussage seiner Vpn. B und D an. »B war überzeugt, daß 
wenn sie sich dies nicht intensiv vornimmt, etwas anderes ge- 
schieht, und daß sie bei intensivem Vorsatz auch wirklich einen 
Reim bilden kann°®s).« Vp. D: »Wenn ich ernstlich will, kann 
ich doch ®®)« An einer anderen Stelle sagt Ach selbst: Ist 
der primäre Willensakt gegeben, so können, wie sich aus unseren 
Versuchen ergibt, erhebliche innere psychische Widerstände über- 
wunden werden ®). Durch das sekundäre Wollen werden nur 
zufällig, d.h. entweder infolge geringer Widerstände oder in- 
folge eines entsprechend hohen Übungsko£ffizienten intendierte 
Fehlreaktionen vermieden 3). 

Demgegenüber behauptet Lindworsky“), daß der feste 
Vorsatz keine maßgebende Bedingung des Erfolges ist. 

Es wäre infolgedessen die Frage zu prüfen: 

1. ob etwa der feste Vorsatz eine ausschließliche, maß- 

gebende "Bedingung richtiger Lösungen ist, und 
2. ob durch das sekundäre Wollen wirklich nur zufällig 
i.F.R. vermieden werden. Auf das Problem werfen 


36) W. u. T. S. 160. 
37) W. u. T. S. 102. 
33) W. u. T. S. 255. 
39) W. u. T. S. 279. 
40) Der Wille, S. 114ff. 1. Auflage. 
9+ 


132 Julian Sigmar, 


manche unserer Versuche ein sehr bezeichnendes Licht. 
Es seien daraus als Beispiele nur folgende zwei hetero- 
gene Aufgaben angeführt: 

1. Uy.-Tag, Vp. B. (reson) rosen. V.P. starker Vorsatz. H.P. 
Wort erschien, ganz unbewußt stellte sich rosen ein; im Aussprechen merkte 
ich, daß falsch reagiert war. N.P. unbefriedigt. 

3. U,.-Tag, Vp. A. (futam) mutaf. V.P. nichts. H.P. futam; dann 
traten futur und ähnliches mit dem Stamm fut Zusammenhängendes auf. 
Dann an meine Vw. erinnert und entsprechend gehandelt. N.P. Erfüllungs- 
bewußtsein. 

Diese Erscheinungen bedürfen also der Aufklärung. Um 
Ach in jeder Weise gerecht zu werden, haben wir uns bei der 
Beurteilung der Protokollangaben, was selbstverständlich ist, 
genau an die Terminologie und die Unterscheidungsmerkmale 
Achs gehalten, ferner nur die heterogenen Aufgaben ins Auge 
gefaßt, weil da ein fester Vorsatz nötig war, um richtig zu 
reagieren. Die Frage, wo ein fester Vorsatz gegeben war, ist 
nicht etwa bloß aus den Angaben der V.P., sondern auch aus 
denen der H.P. beantwortet worden. Natürlich ist es bei der 
Ungeübtheit der Vpn. manchmal sehr schwer, die unter- 
scheidenden Kennzeichen des primären Willensaktes von denen 
des abgekürzten, schwachen oder geübten Wollens herauszu- 
lesen, wie es auch Ach wiederholt hat zugeben müssen 4). 


Wir wollen uns zunächst vergegenwärtigen, was Ach unter dem pri- 
mären Willensakt versteht. »Der primäre Willensakt liegt im allgemeinen in 
dem vor, was wir schlechthin als einen Entschluß bezeichnen. Der energische 
Entschluß bildet demnach den Gegenstand der folgenden Betrachtungen #?).« 
Ach unterscheidet den energischen Entschluß von dem Vorsatz und der Ab- 
sicht. Der energische Entschluß enthält die Richtung auf etwas von dem 
Individuum selbst zu Tuendes und den Ausschluß jeder anderen Möglichkeit 
einer Änderung des Geschehens; wenn er nicht sofort ausgeführt wird, nimmt 
er den Charakter des Vorsatzes an. 

Entschluß und Vorsatz sind insofern gleichwertig, als in beiden das 
aktuelle Moment, d. h. das Bewußtsein liegt: Ich, der Handelnde, Träger des 
Bewußtseins, will wirklich, und zwar nichts Anderes als nur dieses! Das »ich 
will« allein gibt dem Erlebnis nicht den Willenscharakter, eg muß neben dem 
Ziel und der Bezugsvorstellung auch der Ausschluß jeder anderen Möglichkeit 
in der kommenden Änderung des Verhaltens erlebt werden. Das sind neben 
den zuständlichen und anschaulichen Momenten die wesentlichen Merkmale 
des primären Willensaktes. 

Etwas anderes ist die Absicht, bei der andere Möglichkeiten ges 
kommenden Verhaltens nicht so entschieden ausgeschlossen sind und die er- 


41) W. u. T. S. 279, 290. 
42) W. u. T. S. 238, Z. Ps. 58, S. 265. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 133 


wähnte ausschließliche Betonung des erlebten gegenständlichen Inhaltes in 
der Regel nicht besteht. 

Ein Entschluß kann ohne Vorsatz bestehen, wenn es sich um einen 
momentanen Entschluß handelt, der sofort in die Handlung übergeht; dagegen 
kann nie ein Vorsatz ohne Entschluß bestehen. Er ist dann gegeben, wenn 
der Entschluß längere Zeit besteht, also nicht unmittelbar eine Verwirklichung 
des antizipierten Inhalts eintritt. Die Absicht wird im allgemeinen in dem 
sogenannten sekundären Willensakt erlebt 43). 

Unter dem sekundären Willensakt versteht Ach alle Willensbetätigung, 
bei der das eindringliche, aktuelle Moment ganz fehlt, oder nur verkümmert 
oder teilweise gegeben ist 44). Er unterscheidet darin folgende Arten: 

a) Das abgekürzte Wollen: Es zeigt einen abgekürzten Verlauf 
des Willensaktes, so daß nicht alle seine phänomenologischen Momente 
hervortreten. Das aktuelle Moment pflegt zwar noch erlebt zu werden, 
wenn auch nicht so eindringlich wie beim energischen Entschluß. 
Charakteristisch sind Formen wie: »Ich will dies nicht.« — »Ich will 
mich nicht stören lassen.« Die Bewußtseinslage der Anstrengung ist 
wenig ausgebildet. 

b) Das schwache Wollen: Im Unterschied zum primären Willens- 
akt fehlen in ihm 
l. die Spannungszustände und die Bewußtseinslage der Anstrengung 

(»zuständliches Momente) ; 


2. die jede andere Möglichkeit ausschließende Festlegung des kommen- 
den Verhaltens; das aktuelle Moment ist nur rudimentär vorhanden 
in der Form: Es soll etwas Bestimmtes geschehen, und ich bin 
bereit dazu. ` 


Dagegen bestehen beim schwachen Wollen: 
l. die Zielvorstellung und das Bereitsein zu der kommenden Tätig- 
keit (die Zielvorstellung ist oft nur als Bewußtheit gegeben, das 
Bereitsein als Zustand der Erwartung) ; 


2. das rudimentär-aktuelle Moment in der Weise eines Verzichts auf 
jede mit dem Ich zusammenhängende Stellungnahme. Das schwache 
Wollen kann in seinen phänomenologischen Momenten so stark ab- 
flachen, daß die Empfindungsinhalte nur als automatisch gewordene 
Bewußtheit, als Valenz gegeben sind. Ach bringt wiederholt zum 
Ausdruck, daß das schwache Wollen nur in Fällen geringerer innerer 
Widerstände auftritt, daß es also in heterogenen Aufgaben un- 
möglich ist! Nur bei seiner Vp. D glaubt Ach das schwache 
Wollen bei der Überwindung stärkerer Widerstände beobachtet zu 
haben. 


c) Das geübte Wollen (»starkes geübtes Wollen« S. 296): Es ent- 
steht aus dem primären Willensakt; denn auch die Determination ist 
übungsfähig. Die Erscheinungsformen des geübten Wollens haben 
große Ähnlichkeit mit denen des schwachen Wollens (S. 297). Dagegen 
pflegt bei dauernd starken Widerständen ein völliges Verschwinden 


43) W. u. T. S. 24248. 
44) W. u. T. S. 277 ff. 


134 Julian Sigmar, 


des aktuellen Momentes mit den Spannungsempfindungen nicht ein- 
zutreten. Daß also das aktuelle Moment sich noch irgendwie be- 
hauptet, nicht zur Valenz werden kann, soll der kritische Unterschied 
zwischen dem schwachen und dem geübten Wollen sein. 


Weil Ach es für wünschenswert hält, den Begriff des 
Wollens auf das eigentliche Wollen, so wie es im aktuellen und 
dynamischen Moment des primären Willensaktes vorliegt, ein- 
zuschränken, kann es einen festen Vorsatz nur im primären 
Willensakt geben, nicht etwa auch im sekundären. Daher haben 
wir zur Untersuchung des Verhältnisses von festem Vorsatz 
zum Erfolg auch nur die heterogenen Aufgaben in Betracht ge- 
zogen. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß für die Ana- 
lyse nicht etwa bloß die V.P. maßgebend war; wir haben auch 
ausdrücklich die Angaben der H.P. für die Bestimmung des 
festen Vorsatzes herangezogen. Die von Ach gegebenen Ab- 
stufungen des sekundären Willensaktes wurden ebenfalls be- 
achtet und bei der Aufstellung der Tabellen berücksichtigt. 


Um jedes Mißtrauen in die Richtigkeit der Einordnung in 
die 'Willensstufen zu zerstreuen, müssen einige bezeichnende 
Protokollangaben angeführt werden: 


Primärer Willensakt. 
a) Erfolgreich. 


Vp. A. V.P. »Du wirst vom ersten Konsonanten ausgehen. Aufgabe- 
Einstellung. Noch besonders vorgenommen, nicht nur auf die Vokal-Punkte 
zu achten, sondern zu gleicher Zeit den ersten Konsonanten scharf zu be- 
achten und dann scharf auf den letzten Vokal überzuspringen.« (6. Versuch, 
1. U,.-Tag.) — V.P. Hingebung. (4. Versuch, 2. U „.-Tag.) — V.P. Hinwendung 
auf meine Technik. H.P. Das Wort erscheint mir ganz gewaltig sinnlos; weg 
damit! Aufgabe machen... (9. Versuch desselben Tages.) — V.P. Noch- 
maliger Vorsatz, die Ausführungstechnik zu bewahren... (12. Versuch des- 
selben Tages.) 

Vp. B. V.P. Gespannte Aufmerksamkeit: Richtig umstellen! (2. Versuch. 
2. U,.-Tag.) — V.P. Starke Aufmerksamkeit; intensives Hinsehen, absicht- 
liches Zurückdrängen aller störenden Gefühle und Gedanken, leichtes Spannungs- 
gefühl über den Augen... (8. Versuch, 3. Uy,.-Tag.) 

Vp.D. V.P. Sofort lesen, wenn du das Wort siehst! Nicht gedanklich 
auffassen! (4. Versuch, 1. Ux.-Tag.) — V.P. Sehr scharf eingestellt, sowohl 
nach der Seite der Aufmerksamkeit, wie der Praxis. Aufmerksamkeit war so 
stark, daß Spannungsempfindungen über den Augen eintraten. (7. Versuch, 
2. Uy.-Tag.) — Ähnlich lautet der 2. Versuch und 4. Versuch des 3. U ..- 
Tages: V.P. Scharf eingestellt, sowohl sehr aufmerksam, als auch der In- 
struktion genau bewußt. Leise innerlich gesprochen: Also die Vokale! 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 135 


b) Erfolglos. 

Vp. A. V.P. Du wirst es diesmal richtig machen. Instruktion weiß 
ich... (2. Versuch, 1. Uy.-Tag.) — V.P. Wie machst du die Sache? Re- 
flexion über die mögliche Ausführung. Vorsatz, die Buchstaben su umzu- 
stellen, daß ich zuerst den letzten Buchstaben ergreife und an den Anfang 
setze. H.P. reson, n ergreifen!... (1. Versuch, 2. Uy.-Tag.) — V.P. Ganz 
scharfe Konzentration auf meine Technik, aus Vorsichtsgründen. (5. Versuch, 
8. Uy.-Tag.) 

Vp. C. V. Sehr scharfe Konzentration, Erwartung; . (10. Versuch, 
8. Ux. -Tag.) 

Vp. D. V.P. Sehr aufmerksam einresteiie Die Aufmerksamkeit besser 
angepeitscht, indem ich auf den Schlitz achtete ... (5. Vers., 2. Ux.-Tag). 


Sekundärer Willensakt, jedoch erfolgreich. 


Vp. B. V.P. Etwas unruhig. H.P. Verwunderung... (1. Versuch, 
2. Ux.-Tag.) — V.P. Ich wurde durch eine private Aufgabe abgelenkt, dann 
wieder an die Aufgabe erinnert... (9. Versuch, 2. U,.-Tag.) — V.P. Auf- 
gabe bewußt, keine besondere Anstrengung. (1. Versuch, 3. U,. -Tag.) — V.. 
Aufmerksam, sonst nichts vorgenommen. H.P. pedul— pudel kam, lag auf 
der Zunge, kontrolliert und mit größter Anstrengung umgestellt... (3. Ver- 
such, 3. Ux.- Tag.) l 

Vp. C. V.P. Nicht sehr aufmerksam, abgelenkt. (2. Versuch, 2. U,.- 
Tag.) — Solcher ablenkenden Gedanken geschieht noch oft Erwähnung; der 
Versuch gelingt trotzdem. V p. B. (9. Versuch, 2. U,.-Tag, 1. Versuch, 2. Ux.- 
Tag) — Vp. D. (2. Versuch, 2. U,.-Tag.) — V.P. Aufgabe als bewußt... 
(4. Versuch, 2. U,.-Tag.) — V.P. Im Bann der letzten Erwägungen. (9. Ver- 
such desselben Tages.) — V.P. Ob meine Methode auch die einfachste ist? 
H.P. Umstellung glatt gebildet. (4. Versuch, 2. Ux.-Tag.) — V.P. Nur auf 
das Wort gespannt; nicht an die Aufgabe gedacht. (5. Versuch, 3. U,.-Tag.) 
VPp. D. Nicht gespannt, dafür Atem geholt. (3. Versuch, 1. U,.-Tag.) — 
V.P. Nichts Besonderes, allgemeine Erwartung. (9. Versuch, 3. U,.:Tag) und 
80 viele andere, 

Bei den vier Vpn. waren 96 i.F.R. möglich; zwei davon 
waren Fehlversuche, es kommen also 94 Reaktionen für die 
Analyse in Betracht. 

Dem primären Willensakt sind 12 Erfolge zuzuschreiben. 
Trotz des festen Vorsatzes sind 8 Reaktionen mißglückt. Pro- 
zentual umgerechnet ergeben sich also bei festem Vorsatz 60% 
Erfolge und 40% Mißerfolge. Ohne festen Vorsatz sind 84 
Reaktionen ausgeführt worden, und zwar 51 erfolgreiche Re- 
aktionen und 23 F.R. In Berücksichtigung der Abstufungen 
des sekundären Willensaktes verhielten sich Erfolge zu Miß- 
erfolgen: 

im abgekürzten Wollen = 7:4 
im geübten Wollen 212:2 
im schwachen Wollen =32:17. 


136 Julian Sigmar, 


Das ergibt ein Gesamtverhältnis von 51:23, prozentual umge- 
rechnet: Bei sekundärem Wollen 69°/, Erfolge und 31°/⁄ Mib- 
erfolge. Der Prozentsatz wäre vielleicht für die Wirkung des 
schwachen Wollens ein noch günstigerer. geworden, wenn wir 
nicht alles, was auch nur vermutungsweise »festen Vorsatz« 
‚verriet, dem primären ‚Willensakt zugeschrieben hätten. Es 
verhalten sich also Erfolge zu Mißerfolgen: Ä 


beim primären Willensakt wie = Quotient 1,5, 


beim sekundären Willensakt wie m 2 


I. Das Verhältnis der gelungenen zu den mißlungenen Re- 
aktionen ist also günstiger im Zustand des sekundären Wollens. 


II. In Anbetracht dessen, daß nur 12 Versuche mit pri- 
märem Wollen gelungen sind, 51 dagegen mit sekundärem 
Wollen, dürfen wir folgern, daß die Vpn. die Tendenz er- 
kennen lassen, das schwache Wollen dem starken vorzuziehen. 


Dieser Vorgang scheint sich unbewußt zu vollziehen, denn 
wofern der feste Vorsatz in einer indifferenten oder homogenen 
Aufgabe auftritt oder gar nach F.R., dann bleibt er nur in dem 
Fall konstant, daß sich die Anstrengung als richtig angebracht 
erweist. Trifft der feste Vorsatz. dagegen auf eine homogene 
Silbe, dahn gibt ihn die Vp. bald wieder auf, weil die An- 
strengung überflüssig war; und das kann leicht verhängnisvoll 
werden. 


II. Den vou Ach behaupteten Unterschied zwischen 
schwachem und geübtem Wollen wird man nicht aufrecht er- 
halten können, denn wir haben auch bei schwachem Wollen An- 
strengungszustände beobachtet. Ach macht aber das zuständ- 
liche Moment zum Kriterium des geübten starken Wollens. Dem 
Wortsinne entsprechend dürfte das starke geübte Wollen also 
nicht zu Beginn der Versuche auftreten, weil ja noch keine 
Übung vorhanden sein kann. Nach den vorliegenden Beobach- 
tungen erklärt sich das Auftreten der Anstrengungsempfin- 
dungen daraus, daß die Vp. sich an manche Lösung bloß mit 
einfacher Erinnerung an die Aufgabe heransetzt. Treten dann 
bei der leicht begonnenen Arbeit unerwartete Schwierigkeiten 
und Hemmungen beim Umstellen auf, so tritt unerwartet das 
»zuständliche« Moment von selbst auf. Demnach wären 
schwaches Wollen und sogenanntes starkes geübtes Wollen das- 


22. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes.. 137 


selbe, die Anstrengungszustande dagegen nur eine zufällige 
Folge unerwartet aufgetretener Schwierigkeiten, die mit hete- 
rogenen Aufgaben verbunden sind. 


Das sogenannte geübte Wollen tritt so früh auf, daß man 
noch gar nicht von einer Übung der Determination sprechen 
kann, nämlich schon in den ersten Versuchstagen der Vpn. 
Auch die Vp. D Achs hätte schon nach drei i. F.R. die be- 
zeichnete »Übung« erlangt haben müssen. Das spricht doch 
auch dafür, daß das Achsche schwache Wollen und das ge- 
übte Wollen an sich ein und derselbe Bewußtseinszustand sind, 
dessen wesentliches Merkmal die Einstellung der Vp. ist: »Ich 
erinnere mich bloß an das, was zu tun ist!« 


Nehmen wir aber an, daß es einen Unterschied zwischen 
schwachem ‚Wollen und geübtem Wollen gibt, dann ist es doch 
auffallend, daß ein so großer Prozentsatz aller Erfolge (ca. 72°/,) 
bei durchweg allen Vpn. auf das schwache Wollen zurückgeht, 
während Ach nur ausnahmslos bei seiner Vp. D einige dieser 
Fälle zugegeben hat“). Im Gegenteil hat sich in den vor- 
liegenden Versuchen das schwache Wollen als ein besserer 
Faktor für richtige Reaktionen erwiesen, als der feste Vorsatz. 


Zusammenfassend kann gesagt werden: 


1. Es ist nicht möglich, trotz eindringlicher Instruktion 
einen gleichmäßig anhaltenden starken Vorsatz herbeizuführen; 
in kaum einem Viertel der Fälle ist es gelungen. 

2. Die Vpn. neigen dazu, der Aufgabe mit bloß schwachem 
Wollen gerecht zu werden. 

3. Der feste Vorsatz schützt nicht vor F.R.; ihr Vermeiden 
muß auf einem andern Wege erreichbar sein. 

4. Das schwache Wollen und das starke geübte Wollen 
Achs sind identisch. 

5. Auch das schwache ‚Wollen führt schon zu Beginn der 
Versuche in recht erheblichem Umfang zur erfolgreichen Lösung 
der Aufgaben. 


IL Ursachen der erfolglosen Reaktionen. 
Nach den Voraussetzungen des Assoziationsgesetzes und den 
Grundanschauungen, auf welchen das Gesetz vom assoziativen 
Äquivalent ruht, müßte in allen den Fällen, in denen es zu 


45) W. u. T. S. 291. 


138 Julian Sigmar, 


F.R. oder gar zu i. F.R. kommt, Hemmungen und Verzögerungen 
der Reaktionen beobachtet werden können. Davon ist aber 
nichts zu merken; nach dem Ausweis der Zeittabellen erfolgen 
die F.R. ebenso leicht und schnell wie die erfolgreichen Re- 
aktionen. Im Gegenteil sieht man bei manchen erfolgreichen 
Reaktionen größere Anstrengung und in deren Gefolge Ver- 
zögerungen der Reaktion, so daß zweifellos dort eher ein Kampf 
der widerstreitenden Tendenzen angenommen werden könnte, 
als in den beabsichtigten Fehlreaktionen. 

Unsere Vpn. haben im ganzen 14 i.F.R. gemacht und 44 
F.R. Unter dem Gesichtspunkt der dazu gebrauchten Zeit ver- 
hielten sich die Zeiten der i.F.R zu denen der glücklichen 
Reaktionen eines und desselben Tages wie folgt (a.M.): 

Vp. A 10410 + :16100 
Vp. D 16860 4 :2314 0 
Vp. B 14560 + : 1021 o 
Vp.C — — 

Während also A und D zu den richtigen Reaktionen mehr 
Zeit brauchen als zu den erfolglosen, ist es bei B umgekehrt 
gewesen. 

Die Mittelwerte (a. M.) der F.R. verhalten sich zu den 
erfolgreichen Reaktionen desselben Tages dagegen wie folgt: 


Vp. A 16080 x :13440 
Vp. D 21310 x :2010 0 
Vp. B 1137 0 x :15020 
Vp. C 18410 x :2229 o 


Hier ist also das Verhältnis umgekehrt; die Ursache dürfte 
darin liegen, daß Vp. A und D in den Fällen der F.R. stärker 
mit kontrollierenden Tendenzen zu tun gehabt haben werden. 

Natürlich ist in den i.F.R. mit der dazu gelernten Silbe 
reagiert worden. Damit ist aber kein ursprünglicher Sieg der 
Rp.-Td. behauptet. Denn die übrigen heterogenen Aufgaben 
desselben Versuchstages hätten dann ebenfalls F.R. werden 
müssen, da sie doch dieselbe Zahl von Wiederholungen hinter 
sich hatten. Zum mindesten hätte man in diesen Reaktionen 
eine starke Hemmung oder Verzögerung beobachtet haben 
müssen, was nicht der Fall ist. Nach dem Grundsatz der Asso- 
ziation hätten auch die i. F.R. mit dem Grad der steigenden 
Wiederholungen immer schneller und zahlreicher erfolgen 
müssen. In Wirklichkeit erfolgte die i. F.R. bei den Vpn. an- 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 139 


fangs zahlreicher, dann trotz der gestiegenen Wiederholungs- 
zahl immer seltener. Das deutet klar auf andere Momente hin. 
denen die Schuld an den F.R. zugeschrieben werden müßte. 
Gemäß dem Assoziationsgesetz hätte ferner eine richtig ge- 
löste homogene Aufgabe infolge einer einzigen richtigen Lösung 
eine ganz besondere Stärkung erfahren haben müssen, weil 
die Rp.-Td. durch die det. Td. unterstützt worden ist. Wo 
immer dann eine solche Silbe später in einer heterogenen Auf- 
gabe geboten wird, müßte die Gefahr der i.F.R. gewisser- 
maßen unabwendbar sein. Eine solche Regelmäßigkeit kann 
aber gar nicht behauptet werden. Nur ausnahmsweise ist es 
bei einer solchen Silbe zur i.F.R. gekommen, und die Re- 
aktionszeiten weisen keinen maßgebenden Unterschied auf. Das 
alles führt von selbst zu der Vermutung, daß andere Faktoren 
die F.R. herbeiführen. Diesen könnten wir nur näherkommen, 
wenn wir uns die Frage beantworteten: Warum hat in diesen be- 
stimmten Fällen die Rp.-Td. siegen können und in anderen 
nicht? 

Ein großer Teil der F.R. ist auf das Vorherrschen der re- 
produzierenden Verhaltungsweise zurückzuführen, welche be- 
wußt oder unbewußt in der Vp. zur Geltung gekommen war. 
Andere Fehler sind durch verschiedenartige Ablenkungen mög- 
lich geworden; wieder andere zeigen deutlich eine Tendenz zur 
Eilfertigkeit. Natürlich gibt es auch F.R., die infolge von Er- 
müdung der Vp. oder unverstandener Aufgabe eingetreten sind. 


$ 11. Reproduzierende Verhaltungsweise. 
a) Unbewußt. 


Mit einer gewissen Regelmäßigkeit traten fehlerhafte Re- 
aktionen gern nach soeben vollzogenen homogenen Aufgaben 
auf; diese Fehler machten über ein Drittel aller F.R. überhaupt 
aus und. wiesen deutlich auf Einflüsse hin, die von einer bei 
der Lösung homogener Aufgaben entstandenen Verhaltungs- 
weise auszugehen schienen. Homogene Aufgaben könnten ja 
durch bloße Reproduktion der zugelernten Silbe gelöst werden; 
meist stellt die Vp. aber um und merkt nur an der Leichtig- 
keit der Tätigkeit, schon während des Umstellens, daB hier 
Reproduzieren auch zum Ziel führt. Das macht sich durch 
eine Bewußtseinslage der Erleichterung (W. u. T. S.269) be- 


140 Julian Sigmar, 


merkbar. Nun stellt aber die darauffolgende Silbe eine uner- 
wartete Schwierigkeit dar, weil hier nicht mehr reproduziert, 
sondern umgestellt, d.h. konstruiert werden soll. Daraus ent- 
stehen Hemmungen, ein Versprechen, halbe Lösungen oder gar 
entgegen der Instruktion eine i.F.R. 


Wir sehen hier die entgegengesetzte Seite einer Vw., die 
wir oben als »konstruierende« bezeichnet haben, und die sich 
hier als einfach »reproduzierende« manifestiert. So wie das 
»Arbeitenwollen«, das »Tätigsein« perseveriert, so perseveriert 
auch das Untätigsein, besser gesagt, die angenehmere Vw. des 
bloßen ‚Wiederaufsagens. 


Was wir früher über die Erscheinungsweisen der Perse- 
veration gesagt haben, gewinnt hier neue Dlustrierung. Wir 
sehen ein Perseverieren der am Vortage geübten Rp.-Tätigkeit, 
die bei Vp. A im ersten Versuch des folgenden 3. U,- Tages 
zur F.R. führt. (Irradition.) Es entsteht und perseveriert 
aber auch manchmal die Neigung, stets sinnvoll zu reagieren, 
was von der Vp. auch eingestanden wird. (Vgl. oben S. 119, e.) 


Demnach ist es eigentlich unklar, hier nur von einer »re- 
produzierenden Vw.« zu sprechen (Lewin); der Achsche Ge- 
danke von einer Bewußtseinslage der Erleichterung wird dem 
vorliegenden Phänomen gerechter. 


War also die konstruierende Vw. eine Sicherung gegen F.R., 
so zeigt sich die reproduzierende Vw. als eine Ursache von 
i. F.R. und F.R. Einige Beispiele mögen das veranschaulichen: 


Vp.A. 6. Versuch, 2.U,.-Tag. Der Reizsilbe ludep war die homogene 
Silbe piras— paris vorausgegangen. Die Neigung, mit dem Gelernten zu ant- 
worten, blieb bestehen. Nun ist zwar ludep als neutrale Silbe niemals mit 
einer Umstellung gelernt worden; aber sei es, daß die Vp. beim Memorieren 
ludep als aus pudel gebildet erkannt hat, sei es, daß die Neigung entstanden 
war, »sinnvoll« zu reagieren: Vp. reagiert mit pudel statt ledup. Dazu kommt, 
daß als ein den Fehler begünstigendes und vorbereitendes Moment ein 
Schwinden des festen Vorsatzes eingetreten war: 4. Versuch. V.P. Hingabe. 
5. Versuch. V.P. Erinnerung an die Aufgabe. 6. Versuch. V.P. Es wird 
schon gehen !« 

Im 6. Versuch des 3. U,.-Tages war basim zu bisam umgestellt, d. h. 
das Ziel der Aufgabe fiel mit der Reproduktion zusammen. Wirkung: Die Rp.- 
Lage perseveriert, der Vorsatz wird nicht erneuert. V.P. des 7. Versuches 
»Leer«. Es erscheint die heterogene ux. -Silbe libeb, auf die statt lebib mit 
dem dazu gelernten »bibel« geantwortet wird. Dabei Richtigkeitsbewußtsein. 

Vp. B. Im 3. Versuch des 1. U,.-Tages war B durch die homogene Auf- 
gabe ritel— liter in die Rp.-Lage gekommen. Im 4. Versuch reagiert sie, 
scheinbar gesichert durch ihren »starken Vorsatz«, auf reson mit »Tosen«. 


a L m — — — — — — © 
R * Be gu" t4 $ B — 4. 
“ — FE ae 2 az} = HE KL a ee DEE et- Ja? 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 141 


Die übrigen i.F.R. werden nun von selbst verständlich sein: & U g.= 
Tag, 4. Versuch: nuchöb, umgestellt zu buchen; 5. Versuch: legün, umgestellt 
zu lügen, statt negül. (In der V.P. des 5. Versuches hieß es schon: »Bißchen 
abgelenkt!«) 3. U,-Tag, 2. Versuch. V.P. Mehr aufmerksam als vorher. 
H.P. vulem — velum. 3. Versuch: räfek. Statt refäk, welches »falsch und 
fremd« erschien, wird »käfer« gesagt. (V.P. »Aufgabe durch Erinnerung be- 
wußt.«) 

Vp. D. 3. Uy.-Tag, 5. Versuch. nod&b— bod6n. (Rp.-Lage cha- 
rakterisiert durch jambische Betonung von bod&n.) Folgen: 4. Versuch. V.P. 
Etwas zertreut. H.P. gebal zu gabel, nicht legab, umgestellt. 

7. Versuch. V.P. Anspannung der Aufmerksamkeit. H.P. rakif wird vor- 
sichtig zu fakir umgestellt und kontrolliert. Da aber sinnvoll, wird im 8. Ver- 
such aus piras— paris statt sirap gebildet und zu spät als Fehler bemerkt. 


b) Bewußt. 
(Inertial-Td.) 


»Enttäuscht über die überflüssige geistige Anstrengung«, 
heißt es in der N.P. des 5. Vers., 2.U,.-Tag, Vp. A, nachdem 
eine homogene Silbe mühevoll umgestellt worden war; und 
dann folgt eine glatte i. F.R. | 

Die Inertial-Td. hatte nur Zufallserfolge; ihre maßgebende 
Wirkung zeigt sich in der Verursachung der F.R. »Was war 
doch dazu gelernt? Vielleicht geht es auch ohne Umstellung !« 
Das ist die charakteristische Einstellung der Vpn., die dann 
zu spät den Fehler merken. »Statt an die Aufgabe zu denkeny 
suchte ich das dazu gelernte Wort«, gesteht B beschämt nach 
nach einer F.R. (7. Vers. 2.U,.- Tag). »Aber es fiel das dazu 
gelernte Wort nicht ein.« 

Dieses Suchen nach dem dazugelernten Wort verlangsamte 
die Reaktion, so bei Vp. D im 2. Versuch des 3. U,.-Tages bis 
zu 5 Sekunden. Im Protokoll heißt es: »ribeb sofort als ge- 
lernt erkannt. Ich wartete auf das Ergänzungswort.« 


$ 12. Ablenkungen. 


Eine ähnliche Rolle wie die Einstellung zur bloß reprodu- 
zierenden Tätigkeit spielen ablenkende Reize, welche die Aus- 
führung der Aufgabe vergessen machen. Wir haben im $ 6, 
4. Abschnitt, S. 119 bereits ausgeführt, welche Faktoren Ver- 
anlassung zur Ablenkung werden können. Es sind neben phy- 
siologischen Reizen ästhetische Eindrücke, die von den Reiz- 
silber ausgehen, neu entstandene, unkontrollierbare Assozia- 
tionen, welche das Aufgabebewußtsein zurücktreten lassen; 


142 Julian Sigmar, 


ebenso kann das aus bester Absicht begonnene wiederholte 
»innerliche Lesen« unvermerkt in die reproduzierende Verhal- 
tungsweise überleiten. Es ist auch erwähnt worden, daß manche 
Reizsilben an Bestandteile einer andern Situation erinnern, 
welche auf die Vp. besondere Anziehungskraft ausübt und die 


Instruktion vergessen läßt. 

Beispiele: Störende Reize üben aus die umfangreiche Apparatur, an 
die sich manche Vp. schwer gewöhnt, gelegentliches Versagen des Karten- 
wechslers, Knistern am Apparat und vor allem der schlecht funktionierende 
Schallschlüssel. 

Vp. A begeht einen Fehler und behauptet, »am langen f hängen geblieben 
zu sein« (5. Versuch, 3. U,.-Tag); im 2. Versuch, 2. U,.-Tag ist sie am w 
hängen geblieben. In rüteg stört sie einmal das g und das ü. Vp.B ist 
»perplex« geworden infolge des »Gleichklanges«. Sie stellt sötuz zu zötuz, 
statt zu zötus um. Das in Rundschrift geschriebene »nodaw« fesselt die Vp., 
die sich an englische Laute und Buchstaben erinnert fühlt. Dabei vergißt sie 
die Instruktion und reagiert aus der Erinnerung mit »wodan« (10. Versuch, 
1. U,.-Tag). 

Im 5. Versuch des 1. U,.-Tages hat Vp. D die Reizsilbe resan umzu- 
stellen. resan ruft unmittelbar rosen wach. Vp. ist verblüfft und kann sich 
nicht Rechenschaft geben, warum rosen falsch sein soll. So wird D von der 
Aufgabe abgelenkt und stellt nicht die Konsonanten um, sondern die Vokale; 
rasen wird mit Richtigkeitsbewußtsein ausgesprochen. 

Im 9. Versuch des 2. U,.-Tages wird dieselbe Vp. durch logem sofort 
an mosel erinnert; diese Silbe erinnert an die Heimatstadt Trier, die Aufgabe 
ist vergessen, es entsteht eine i. F.R. Auch hier mit Richtigkeitsbewußtsein, 
Die Stadt Trier und der Moselstrom sowie die Fülle aller daran haftenden 
Jugenderinnerungen bildete hier eine so starke gefühlsbetonte Situation, daß 
ein Bestandteil derselben, Mosel, die Instruktion vergessen macht. — Dieselbe 
Rolle wie das oben erwähnte rosen spielt London, das auf das Reizwort ledon 
auftaucht. Auch hier i. F. R. 

Bekanntlich fordert die Instruktion von den Vpn.: »Nachdem Sie die 
erschienene Silbe gelesen und erkannt haben .. .« Dieses Lesen hat wieder- 
holt Anlaß zu F.R. gegeben. So ist es Vp. A gegangen. Im 4. Versuch des 
1. U,.-Tages soll sie lugek umstellen. Sie liest es und sagt dann: »Das Wort 
ist umgedreht, die Assoziation ist so stark, daß ich nicht anders konnte, als 
kugel sagen« (i. F.R.). Dasselbe passierte ihr noch im 11. Versuch des letzten 
Versuchstages. H.P. »rüteg, ich will ausführen, aber das g und ü haben mich 
gestört. Ich habe zweimal gelesen, durch das Lesen kam ich auf das Asso- 
ziationswort .. .« (i. F.R.). Es muß erwähnt werden, daß dieser Fehl-Reaktion 
eine homogene Aufgabe vorangegangen war: fesul— fusel. Das innerliche 
Lesen hat hier das Bestehen der reproduzierenden Verhaltungsweise ge- 
sichert. 


§ 13. Eilfertigkeits-Tendenz. 


Es ist eigentümlich, daß die Vpn. von dem Drang beseelt 
sind, die Aufgaben nicht nur instruktionsgemäß, sondern mög- 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 143 


lichst schnell zu lösen. Man könnte bei der Allgemeinheit dieser 
Erscheinung direkt von einer Tendenz zur größtmöglichen Eile 
in der Lösung sprechen. Vp. © sagt im 2. Versuch des 
3. U,.- Tages: »Antworte diesmal schnell« +46). Leider ent- 
stehen infolgedessen manche F.R. 

Beispiele: Vp. C, 10. Versuch des 3. Uy.-Tages: »So schnell geant- 
wortet, daß ich zu keiner Überlegung kam.« futam zu mutam umgestellt. 
»Überzeugt, richtig gehandelt zu haben.« 

Vp. D, 5. Versuch des 1. U, .-Tages: »Ich ließ mich verblüffen, die Zeit 
drängte, ich konnte die Falle nicht erkennen« (i.F.R. mit Richtigkeits- 
bewußtsein). 

Im 4. Versuch des 2. U,.-Tages hat D den Eindruck, er hätte schneller 
reagiert haben können. Er stellte die homogene Silbe rüteg zu güter in 2,3 Se- 
kunden um. Nun folgte aber die heterogene Silbe fesul. Unter dem Drang, 
schnell zu reagieren, blieb die reproduzierende Verhaltungsweise bestehen 
und es kam zur i.F.R. (1,1 Sekunden). 

Der 9. Versuch desselben Tages brachte wieder eine F.R. H.P. »lafet 
undeutlich aufgefaßt, um schneller zu machen«, 


§ 14. _ Ermüdung, Konzentration, unverstandene Aufgabe, 


Bei dem Grad der Anstrengung, die das lange Memoiren, 
Protokollieren und Aufmerken erfordert, muß man auch mit 
einem starken Ermüdungsfaktor rechnen, in dessen Gefolge 
F.R.eintraten. Die Ermüdung machte sich manchmal gerade 
am Anfang der Versuchsreihe als Wirkung der Memoriertätig- 
keit geltend: 

»Vom Lernen am Lipmann-Apparat noch ganz erschöpft; schwach kon- 
zentriert, mit Lippenbewegungen umgestellt, Infolge des Lesens am Gedächtnis- 
Apparat ist es mir, als ob ein Schleier über mein Denken gebreitet wäre. 
N.P. Reue über den Fehler, aber nicht stark, weil ich zu müde war.« (Vp.D, 
l. Versuch, 1. Uy.-Tag.) Desgleichen im 1. Versuch, 1. Rp.-Tag: »Vom Lernen 
siemlich müde.« 

Natürlich tritt am Ende des Versuchstages die Ermüdung 
um so regelmäßiger hervor. Anders lassen sich die sieben F.R., 
die auf den 11. und 12. Versuch fallen, schlecht erklären. 

In dem Bestreben, die richtige Verhaltungsweise zu finden, 
versuchen es die Vpn. oft mit dem Mittel eines größeren 
Kraftaufgebotes; sie spannen ihre Konzentration an und richten 
die Aufmerksamkeit auf bestimmte Reize, an denen die Um- 
stelltätigkeit einsetzen soll. Dadurch erhält die Aufmerksamkeit 
eine falsche Richtung und es entstehen F.R.; so z.B., wenn 


46) Vgl. Ach, W. u. T. S. 257, 270. 


144 Julian Sigmar, 


Vp. A sich »an den letzten Buchstaben klemmt« (5. Vers. 1. U „.- 
Tag und 1.Vers. 2.U,.-Tag), oder an die Vokale (5. Vers. 
1. U,.-Tag). Typisch ist die falsche Aufmerksamkeitsrichtung 
»auf den Schlitz« (1.Vers. 1.U,.- Tag Vp. C und 10. Vers. 
‘2. U.-Tag Vp. D). Erscheint das Reizwort dann zufällig an 
einer nicht fixierten Stelle, so tritt Verwirrung und in deren 
Gefolge F.R. ein. 

Daß zuviel Konzentration schadet, ist schon bei Behand- 
lung des Einflusses der Konzentration und Spannung auf die 
richtige Lösung gesagt worden (s. oben S.120f.). Es sind wieder- 
holt F.R. infolge falscher Konzentration eingetreten. 

Bei F.R., die am Anfang des Versuchstages eintraten, ist 
oft leicht zu sehen, daß es sich trotz der vorangegangenen for- 
malen Übung in Vorversuchen um unverstandene Aufgaben 
handelt. Angaben wie: »Gefühl der Unsicherheit, weil ich keine 
Technik der Ausführung hatte« (1.Vers. 1.U,.- Tag Vp. A), 
oder: »Etwas gestört, weil ich nicht sicher gewesen, ob die In- 
struktion weiterhin gilt« (2.Vers. 1.U,.- Tag Vp.B), lassen 
sich wohl kaum anders erklären *). 


Zusammenfassung. 


I. Es ist nicht so, als ob bei der Ausführung der Ach- 
schen Aufgaben etwa nur die Reproduktions-Tendenz gegen die 
determinierende Tendenz kämpften, als ob im Falle einer ge- 
lungenen Reaktion die determinierende Tendenz, im entgegen- 
gesetzten Falle die Reproduktions-Tendenz gesiegt hätte. 

Die Analyse der Protokolle ergibt vielmehr, wenn man sich 
einmal auf den’ Standpunkt einer Tendenzen-Theorie stellen 
will, daß Erfolg wie Mißerfolg auf verschiedene Tendenzen 
zurückgeführt werden kann. 

Als solche, den Erfolg sichernden Tendenzen haben sich 
herausgestellt: die Kontroll-Tendenz, die Tendenz zur Per- 
sistenz in bestimmten Verhaltungsweisen oder Ausführungs- 
tätigkeiten, die Inertial-Tendenz und die KReproduktions- 
Tendenz. 


47) Die Zahl der i. F. R. bleibt ziemlich dieselbe, ganz gleich, ob das 
Umstellen der Konsonanten oder das Umstellen der Vokale geübt wird. Die 
Zahl der F.R. ist dagegen bei der U,.-Tätigkeit 31/,mal so groß als bei 
der U„.-Tätigkeit. Ux. fällt also bedeutend schwerer, was mit den Protokoll- 
angaben übereinstimmt. | 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 145 


Jene Ausführungstätigkeit bzw. -technik, die am sichersten 
zur erfolgreichen Reaktion führt, nennen die Vpn. »Praxis« 
und »Hingabe«. In dieser populären Bezeichnung haben wir 
wohl die deutlich empfundenen Abstufungen ein und derselben 
Verhaltungsweise zu sehen, die als konstruierender Habitus ge- 
kennzeichnet werden kann. 


In dem Suchen nach der besten »Praxis« offenbaren sich 
einerseits Tendenzen zur möglichst zweckmäßigen, raschen und 
sicheren Lösung, andererseits die engen, unauflösbaren Be- 
ziehungen zwischen rein intellektualer Auffassung des Zieles 
und motorischer Innervation bei der Zielverwirklichung. 


In der »Hingabe« und ihrem Merkmal, dem sofortigen 
Ausführen der Instruktion, dem steten Tätigsein und dem 
latenten oder bewußten Mißtrauen gegen jede andere Aus- 
führungsmöglichkeit der Aufgabe scheint das verwirklicht zu 
sein, was Ach den »energischen Entschluß« nennt. Er ist ge- 
kennzeichnet durch die konstruierende Verhaltungsweise, die 
Neigung zu deren Persistenz und zur Kontrolle aller etwa 
störenden Tendenzen. 


Die Aufmerksamkeits-Konzentration kann als ausschlag- 
gebende Bedingung richtiger Reaktionen ebensowenig in Frage 
kommen, wie der sogenannte »feste Vorsatz«. Es handelt sich 
hier um Bezeichnungen aus der Popular-Psychologie, die für 
eine wissenschaftliche Verwendung als viel zu unbestimmt sich 
erwiesen. 


Ein Unterschied zwischen Willensanspannung und Auf- 
merksamkeits-Konzentration ist gegenstandslos, weil die Auf- 
merksamkeits- Phänomene nur das sichtbare Korrelat der 
Willensstärke sind. 


II. Ebensowenig wie determinierende Tendenzen — die 
übrigens als solche nicht festgestellt werden konnten — den 
Erfolg der Reaktionen herbeiführten, ebensowenig sind repro- 
duktive Tendenzen als direkte Ursache der Fehlreaktionen 
nachweisbar. 

Wo immer in den 14 intendierten Fehlreaktionen die Re- 
produktions-Tendenz siegte, geschah es nicht unmittelbar, son- 
dern auf Grund einer Verhaltungsweise, die der Reproduktions- 
Tendenz erst freie Bahn schuf. Auch Ablenkungen und die 
Tendenz zur schnellsten Ausführung (Eilfertigkeits-Tendenz) 
waren in der gleichen Weise wirksam. 

Archiv für Psychologie. LII. 10 


146 Julian Sigmar, 


Maßgeblichen Einfluß auf die Entstehung der Fehlreaktionen 
übte die bloß reproduzierende Verhaltungsweise aus, welche 
sich als unbewußte Verhaltungsweise in der Persistenz einer 
bestimmten Tätigkeit manifestierte.e. Die in homogenen Auf- 
gaben unbewußt entstandene Neigung zur bloßen Reproduktion 
muß in heterogenen Aufgaben zu intendierten Fehlreaktionen 
führen. 

Die reproduzierende Verhaltungsweise wird aber auch von 
den Versuchspersonen bewußt gesucht und angenommen, um 
sich etwaige überflüssige Arbeit zu ersparen. Auch diese Ten- 
denz (Inertial-Td.) führt Fehler herbei, ebenso wie die in jeder 
Versuchsperson liegende Tendenz zur möglichst schnellen 
Lösung (Eilfertigkeits-Td.). 

Die vielfachen Arten von Ablenkungen sind insofern ge- 
fährlich, als sie das Aufgabebewußtsein zurücktreten lassen 
und dann falsche Reaktionen bedingen. 

III. Das Achsche Gesetz vom assoziativen Äquivalent ist 
demnach unhaltbar, weil bei dem nachgewiesenen Neben- und 
Durcheinander der Tendenzen zunächst die Entstehungs- und 
Wirkungsbedingungen derselben aufgeklärt werden müßten; weil 
andererseits schon jetzt gesagt werden darf, daß die Wieder- 
holungszahl der Assoziationsreihen keine maßgebende Bedingung 
für die Wirkungskraft dieser oder jener Tendenzen zu sein 
scheint. 


B. Synthetischer Teil. 
Prüfungsreihen zur Kontrolle der analytischen Ergebnisse. 
8 15. Über Ziel und Anlage der Prüfungsreihen. 


Wenn der Erfolg wirklich von der Beobachtung jener Kenn- 
zeichen einer Verhaltungsweise abhängt, welche die Vpn. »Hin- 
gabe« nennen, das sind: »Sofort an die Arbeit gehen! Immer 
umstellen und sich nicht auf andere innere Anregungen ein- 
lassen!«, dann muß es möglich sein, richtige Reaktionen ohne 
die Kennzeichen des anschaulichen und des zuständlichen Mo- 
ments herbeizuführen, also auch bei sogenanntem »sschwachem 
Wollen«. Andererseits müßten unter Betonung derjenigen Ten- 
denzen bzw. der Herbeiführung einer bloß reproduzierenden 
Verhaltungsweise oder durch Ablenkungen i.F.R. trotz des 
sogenannten festen Vorsatzes herbeigeführt werden können. Die 
Ergebnisse solcher Versuche werden jedenfalls die Frage auf- 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes.. 147 


klären, welche fördernde oder hemmende Faktoren jene von 
uns angeführte Ko.-Td., Inertial-Td. und die zur Persistenz 
einer Tätigkeit sind. Daraus wird auch zu ersehen sein, ob 
der »feste Vorsatz« eine notwendige oder eine merklich för- 
dernde, oder überhaupt einfließende Bedingung richtiger Re- 
aktionen ist. 

Um i. F.R. zu vermeiden, sind zwei verschiedene Wege mög- 
lich: Entweder muß die Ko.-Td. auf instruktivem Wege oder 
durch eine entsprechende Anordnung der Versuche möglichst 
früh geweckt werden, oder es ist bei den Vpn. der Zustand der 
Hingabe hervorzurufen. Natürlich müßten die Instruktionen 
R ux’ an sich unverändert bleiben und die Bildung eines starken 
Vorsatzes vermieden werden. Wenngleich nun die Ko.-Td. nicht 
schwer zu wecken ist, so liegt doch die große Schwierigkeit 
darin, die Ko.-Td. zu einer dauernden Verhaltungsweise 
zu machen. Daher lag es viel näher, in der völlig unbefangenen 
Vp. die Verhaltungsweise der »Hingabe« wachzurufen. Zu der 
Instruktion Rux’, die unverändert blieb, wurde der Zusatz 
gemacht: »Machen Sie sich, ohne auf andere innere An- 
regungen einzugehen, immer sofort ans Umstellen, wie die In- 
struktion es fordert.« Unter »inneren Anregungen« waren stö- 
rende Tendenzen und Assoziationen zu verstehen, was aber den 
Vpn. von vornherein nicht gesagt wurde. Das »Sofqrt-Um- 
stellen« ist, wie oben dargelegt, den Vpn. selbst abgelauscht. 
Daß dieser Vorsatz trotz seiner Vorzüge nicht schon die Sicher- 
heit gegen Ermüdung, Eilfertigkeit und Unaufmerksamkeit bot, 
wurde von dem Versuchsleiter zunächst nicht beachtet. Er- 
probt sollte das Verfahren an zwei Vpn. — F und G — 
werden, von denen eine nach der »starken Anordnung I«, die 
andere nach der »schwachen Anordnung II« die Silben gelernt 
hatte. — 

Die Herbeiführung von F.R. und i.F.R. sollte geschehen 
trotz aller Anzeichen eines festen Vorsatzes.. Es wurde den 
Vpn. die feste Vornahme geradezu anempfohlen. Zugleich 
aber war die Versuchsanordnung so angelegt, daß jene Ten- 
denzen bzw. Verhaltungsweisen geweckt wurden, damit die Re- 
aktion im Sinne der Instruktion nicht gelänge. So ist mit 
Vp. E die Wirksamkeit der Persistenz der reproduzierenden 
Ausführungstätigkeit erprobt worden. Diese Bewußtseinslage 
wurde durch eine entsprechende Anordnung in der Reizsilben- 
folge hervorgerufen. 

10* 


148 Julian Sigmar, 


Die Herbeiführung von F.R. und i.F.R. dagegen sollte ge- 
schehen trotz aller Anzeichen eines festen Vorsatzes. Es wurde 
den Vpn. die feste Vornahme geradezu anempfohlen. Zugleich 
aber war die Versuchsanordnung so angelegt, daB jene Ten- 
denzen bzw. Verhaltungsweisen geweckt wurden, damit die Re- 
aktion im Sinne der Instruktion nicht gelänge So ist mit 
Vp. E die Wirksamkeit der Persistenz der reproduzierenden 
Ausführungstätigkeit erprobt worden. Diese Bewußtseinslage 
wurde durch eine entsprechende Anordnung in der Reizsilben- 
folge hervorgerufen. 

Ein anderer Weg der Versuchsanordnung konnte durch Her- 
beiführung von Ablenkungen eingeschlagen werden. War doch 
numerisch betrachtet die Zahl der F.R. infolge von Ablenkungen 
fast ebenso hoch wie die Zahl der auf andere Ursachen zurück- 
zuführenden Fehler. Störungen der Aufmerksamkeit in der Art, 
wie sie nach den analytischen Ergebnissen maßgebend geworden 
sind, waren nicht schwer herbeizuführen. Andererseits konnte 
eine falsche Richtung der Aufmerksamkeit und damit Fehl- 
reaktionen ermöglicht werden, indem man beispielsweise der 
Vp. sagte, sie solle sich nur kräftig vornehmen, richtig zu re- 
agieren und ihr Bestes zu leisten. Dadurch wären die Momente 
des Achschen primären Willensaktes sichergestellt, obgleich 
die Vp. bei dieser Einstellung den entscheidenden Ansatzpunkt 
der Arbeit ohne weiteres nicht finden konnte. Die Wirkung 
einer bloß reproduzierenden Verhaltungsweise haben wir bei 
Vp. E erprobt, Ablenkungen bei den Vpn. H und J. 


§ 16. Fehlreaktionen auf Grund einer reproduzierenden 
Verhaltungsweise. 


Es handelt sich um eine Versuchsanordnung, welche auf 
die Stärkung der gesamten Perseveration, oder, in Ach- 
scher Terminologie, auf die Weckung und Behauptung der 
Bewußtseinslage der Erleichterung berechnet ist. Sie tritt be- 
kanntlich ein, wenn eine homogene Silbe umgestellt worden 
ist. Dabei decken sich Umstelltätigkeit und Reproduktions- 
tätigkeit. Gewöhnlich verharrt dann unbewußt die Reproduk- 
tionslage, wie sie beim Lernen am Gedächtnisapparat ent- 
standen war, und die Vp. sucht dann auch eine etwa folgende 
heterogene Aufgabe durch bloße Reproduktion zu lösen, was 
zu einer i.F.R. führen muß. 


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Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes.. 149 


Das charakteristische Moment der Versuchsanordnung wird 
also darin liegen, daß eine bestimmte Umstelltätigkeit alle 12 
Versuche hindurch angewandt wird, aber stets an Silben aus- 
geübt werden muß, die infolge vorangegangener Übungen mehr 
oder weniger stark mit andern Silben gelernt worden waren 
(vgl. oben S. 95). 


Aus dem Achschen Kreis liegt über die Perseverationserscheinungen 
eine Arbeit von Wiedenberg vor, die aber das Problem von einer andern 
Seite anfaßt“). W. wechselt stets die Tätigkeit, die an den Silben ausgeübt 
werden muß; es sind Umstellen der Konsonanten und Reimen durch Ersatz 
des ersten Konsonanten. Er beobachtete zahlenmäßig die perseverierendd 
Wirkung der gegeneinander ausgespielten Tätigkeiten. Eine Untersuchung der 
perseverierenden Erscheinungen, wobei die Ruxsche Instruktion unverändert 
blieb, war daher am Platze. 

Anordnung der Versuche. Die starke Versuchs- 
anordnung Rux’ sieht 9 Umstelltage vor, denen 2 Memoriertage 
vorausgehen. Unter den 9 Tagen befinden sich 3 Rp.-Tage, auf 
welche wir verzichtet haben. Es kam uns auf die Gewinnung 
von allgemeinen Vergleichswerten hier nicht an. Außerdem 
machte die Reproduktionstätigkeit den Vpn. so viel Schwierig- 
keiten, daß wir ihnen die Verlegenheiten ersparen wollten (vgl. 
oben S. 129£.). 

Vp. E hat am 3. Versuchstage nach 60 Lesungen mit den 
Reaktionen begonnen. Am 3., 5. und 7. Tage wurde U,, am 
4., 6. und 8. Tage U, geübt. Die zur Reaktion verwandten 
Silben waren so angeordnet, daß die heterogene immer auf 
homogene Silben folgte. Um das Eintreten der Reproduktions- 
lage zu sichern, wurde der homogenen Silbe eine indifferente 
vorangestellt, also keine heterogene Silbe, weil dadurch die Be- 
wußtseinslage der Anstrengung (konstruierende Verhaltungs- 
weise) nahegelegt wird. Dieses Verfahren ist bis zum 4. Re- 
aktionstage einschließlich beobachtet worden mit der kleinen 
Veränderung, daß am 3. und 4. Tage jene Reihenfolge ein- 
gehalten wurde, die Rux für den 6., 7. und 8. Tag seiner Ver- 
suche benutzt hat; diese Anordnung versprach günstige Ge- 
legenheit zu F.Rn. Bezeichnen wir, wie schon oben, die neu- 
trale Silbe mit I, die u,-Silbe mit II, die u,-Silbe mit III, 
so ist in den ersten 4 Versuchstagen mit geringen Abände- 
rungen folgendes Schema angewandt worden (NB.! An der mit 
* bezeichneten Stelle waren F.Rn. intendiert): 


48) Die perseverierend-determinierende Hemmung bei fortlaufender Tätig- 
keit, Leipzig 1912. 


150 Julian Sigmar, 


An U,.-Tagen An U,..-Tagen 
HI I I UDl* OHI 0* I Il 
Io I U U* I II I 
I I I IM m D* I IN 


Bei der beschränkten Zahl der homogenen Silben gab die 
Anordnung immer nur wenig Gelegenheit zu Fehlern; es wurde 
daher das Silbenmaterial durch Hinzunahme von vier homo- 
genen Silben ergänzt, obgleich diese schon an anderen Tagen 
verwandt worden waren; vier indifferente Silben wurden dafür 
ausgeschaltet. (Die hinzugenommenen Silben werden im Schema 
durch Klammern bezeichnet.) Wir hofften, durch zwei- bis 
dreimalige Darbietung homogener Silben die Reproduktionslage 
zu verstärken und i. F.R. leichter zu erreichen. Daß wir diese 
Verstärkung erst am 8. und 9. Versuchstage anwandten, ge- 
schah als Gegengewicht gegen die Wirkung der im Lauf der 
Versuchstage immer stärker gewordenen Ko.-Td. Das Schema 
der letzten beiden Tage war daher folgendes: 

I I ID II 
II ID (I) II* 
II (ID) (ID) II®. 

Erfolg. An 17 Stellen waren i.F.Rn. beabsichtigt; es 
sind drei i. F.Rn. und zwei F.Rn. eingetreten, das macht 
29,4%. Im Laufe der Versuche waren noch sechs andere F.Rn. 
vorgekommen, wir ziehen sie aber nicht in Betracht, weil sie 
nicht an den intendierten Stellen erfolgt und infolgedessen 
keine Symptome der Reproduktionslage sind. 

Es entsteht natürlich die Frage, auf welche Umstände es 
zurückzuführen ist, daß die 12 übrigen Fehlergelegenheiten 
vermieden worden sind. Es geschah dies vornehmlich durch die 
Verhaltungsweisen der Kontrolle und der Hingabe. 

Die Ko.-Td. tritt in allen schon beschriebenen Modalitäten auf. Ganz 
auffallend ist bei dieser Vp. die intuitive Kontrolle (vgl. oben S.99). Vp. E 
sagte einmal, als sie sich über die Schnelligkeit und Gewißheit der aus- 
geführten Umstellung auslassen soll: »Es liegt mir so im Gefühl« (12. Versuch, 
3. U,.-Tag). Man wird beim Lesen der Protokolle unwillkürlich an die 
v. Kriessche Lehre von der konnektiven Einstellung erinnert. Vp. hat auch 
in den homogenen Aufgaben stets, wenn auch meist unbewußt, kontrollierende 
Vergleiche des Umgestellten mit der Aufgabevorstellung eintreten lassen. Da 
dies besonders deutlich am 3. U,.- und U,.-Tag zu beobachten ist, dürften 
hierbei auch Mechanisierungsfaktoren eine Rolle spielen. Versuchsleiter hat 
den Fehler gemacht, Vorversuche an denselben Silben anzustellen, die später 
als Reaktionssilben verwandt wurden. So hat sich bald eine mißtrauische 
Kontrolle herausgebildet, die von der Vp. an allen Versuchstagen beibehalten 


m- 
i B 


nun ne nn 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 151 


wurde. Vp. arbeitete schon nach den ersten Fehlern vorsichtig, zurückhaltend, 
gab das Protokoll sehr langsam ab, wodurch dié Momente des Kontrollvor- 
ganges von neuem stark angeregt wurden. 

Diese Beobachtung legt den Gedanken nahe, bei derartigen Prüfungen 
der Wirkung von Perseverationserscheinungen für die Zukunft Protokollab- 
gaben nicht zu fordern. 

Die Hingabe tritt bei der Vp. E schon im 4. Versuch des ersten Tages 
auf. Ihre Merkmale sind schon am 1. und 2. Versuchstage deutlich unter- 
scheidbar. Selten wird die umzustellende Silbe als gelernt erkannt, d. h. das 
hinzugelernte Wort meldet sich fast immer erst nach der erfolgten Lösung 


der Aufgabe. 
Im weiteren Verlauf der Übungstage mechanisiert sich die Lösungsmethode 


der Aufgaben, was die Vp. auch deutlich zu Protokoll gibt. Im 12. Versuch 
des 1. U,.-Tages stellt sie sich auf die Inertial-Tendenz ein: »Wieder der 
Gedanke, etwas mit dem Assoziationsmaterial zu arbeiten.« Als aber die 
Silbe erscheint, wird vorschriftsmäßig die Umstellungstätigkeit ausgeübt. »Zu- 
frieden, wenn auch der Vorsatz nicht gelungen ist«, sagte Vp. in der N.P. 

Kritik. Die eingetretenen i.F.R. und F.R. an den dafür 
berechneten Stellen wiesen deutlich die Existenz der andauern- 
den Reproduktionslage nach. Dadurch wurden unsere analy- 
tischen Feststellungen bestätigt. Immerhin haben sich bei dieser 
Versuchsanordnung Faktoren herausgestellt, welche den Befund 
ungünstig verschleiern. Es ist schon darauf hingewiesen 
worden, daß die Protokollabgabe ein die Versuchsbedingungen 
störendes Moment ist. Es dürfte auch nicht richtig gewesen 
sein, die drei Rp.-Tage auszulassen, weil sich an den Rp.- 
Tagen nach Achscher wohlberechtigter Anschauung »deter- 
minierte, fördernde Assoziationen« bilden können. 

Die erst am 3. U,- und U,.-Tag angewandte Aufein- 
anderfolge von mehreren homogenen Silben vor der heterogenen 
Aufgabe hat ihren Zweck nicht so durchschlagend erfüllt, wie 
es hätte geschehen müssen, wenn dieses Schema schon am 1. 
und 2. Versuchstage angewandt worden wäre. Die von der Vp. 
bereits erworbene Verhaltungsweise der Hingabe (konstruierende 
Vw.) war bereits so stark geworden, daß sie in den letzten Re- 
aktionstagen in vielen Fällen die Absicht der Versuchsanord- 
nung hinderte. Diese Feststellung dürfte beachtenswert sein 
gegenüber der Anordnung IV Lewins, bei dem an solchen Stellen 
die i. F.Rn. sicher eingetreten sind. Aber auch unsere Vp. E hat 
sich am letzten Reaktionstage diesem Einfluß nicht ganz ent- 
ziehen können; sie machte an den beabsichtigten Stellen eine 
i. F.R. und zwei F.Rn., schob aber die Ursache dieser Fehler 
regelmäßig ;auf »das Bestreben, möglichst schnell zu ant- 
worten«. 


152 Julian Sigmar, 


817. Versuche zum Nachweis, daß der starke Vorsatz in- 
tendierte Fehlreaktionen und Fehlreaktionen nicht verhindert. 


Vp. H in der starken Anordnung I, Vp. J in der schwachen 
Anordnung II. 

1. Zur gewöhnlichen Instruktion wurde der Zusatz gemacht: 
»Nehmen Sie sich in jeder V.P. recht kräftig vor: Ich will die 
Vokale bzw. die Konsonanten umstellen !« 

2. An den beabsichtigten Stellen wurden die heterogenen 
Reizsilben mit Ablenkungen geboten. Hierzu waren ge- 
wählt: 

a) heterogene Reizsilben in Antiqua-Schrift, während die 

übrigen Silben gewöhnlichen Druck zeigten; 

b) bunte kleine Flecke auf den Reizkarten; 

c) Reizsilben auf einem mit zartem Tapetenmuster über- 

zogenen Karton; 

d) Scherenschnitte und Köpfe links oben von der Reizsilbe. 
Die Reihenfolge a—d drückt auch die Steigerung aus, in der 
d:e Ablenkungen angewandt wurden. Am letzten Reaktionstag 
wurden an zwei Stellen auch die der heterogenen vorausgehende 
Silben mit Karikaturen geboten, um die Bewußtseinslage der 
Erleichterung zu befestigen. 

3. Am 5. Versuchstage wurde der Vp. der Rat gegeben, sich 
nach Möglichkeit die Umstellbarkeit zu ersparen und erst zu- 
zusehen, ob nicht die Reaktionssilbe gelernt worden war (In- 
ertial-Td.). 

4. Die Vorversuche wurden nur an solchen Silben ange- 
stellt, die überhaupt nicht gelernt worden waren, also an völlig 
neutralem Material, das aus anderen Versuchsreihen entnommen 
war. 

Ergebnisse: Beabsichtigt waren 20 i. F.Rn., von denen 
vier eingetreten sind; an drei Stellen wurde die Gefahr nicht 
ganz vermieden, so daß es zu F.Rn. kam; im zweiten Fall wird 
von der Vp. dem ablenkenden Bild einer Gans die Schuld daran 
zugeschoben. 

Mehr als ein Drittel der beabsichtigten F.Rn. ist also auch 
eingetroffen. (Die zwei weiteren F.Rn. sollen außer Betracht 
bleiben, weil sie auf neutrale Silben fielen; immerhin trotz 
ausdrücklich betonten starken Vorsatzes!) 

Daß die übrigen 13 heterogenen Aufgaben richtig gelöst wurden, ist 


vornehmlich der »Hingabe« zuzuschreiben. Sie trat erst deutlich am 1. U ,.- 
Tag (d. h. am zweiten Umstellungstag) auf. Wiederholt wird im Laufe der 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 153 


Reaktionstage ausdrücklich zu Protokoll gegeben: »Ich will umstellen und mich 
um nichts anderes kümmern.« Die Bezugsvorstellung ruft unter der Herrschaft 
dieser Verhaltungsweise kein merkbares Bekanntheitserlebnis wach, weil ja 
sofort ans Umstellen gegangen wird, erst in der N.P. wird es gemeldet. In 
manchen Fällen werden nicht passende Assoziationen erkannt und abgelehnt. 
(»Ich will nicht daran denken, wie es am Gedächtnisapparat gelautet hat.« 
9. Versuch, 1. U,.-Tag.) Die ziemlich bald herrschend gewordene konstru- 
ierende Verhaltungsweise (Hingabe) mechanisiert sich allmählich, so daß gegen 
Ende der Versuchstage die Aufgaben auch ohne große Aufmerksamkeit ge- 
löst werden. Darin spricht sich die graduelle Verwandtschaft von »Hingabe« 
und »Praxis« aus. Im ganzen sind 11 gelungene Reaktionen (85°/,) auf Hin- 
gabe zurückzuführen. 

Die Ko.-Td. tritt in manchen Protokollen als das wichtigste Erlebnis 
hervor; sie wird gegen Ende des ersten Versuchstages bewußt, als Folge des 
rückschauenden Berichts, der durch die Protokollabgabe bedingt ist. Die F.Rn. 
des ersten Versuchstages zeigen nämlich Richtigkeitsbewußtsein; im 10. Ver- 
such heißt es dann aber: »Ich weiß jetzt, daß ich nicht mehr sagen darf, was 
mir einfällt, sondern umstellen muß.« Die Ko.-Td. gründet sich also auf die 
Einsicht in die Diskrepanz zwischen Instruktionsziel und Umstellungsergebnis. 

Die mißtrauische Haltung wird von da ab gegenüber jeder Silbe be- 
obachtet, an jeder wird ohne viel Erwägungen das Umstellen besorgt, so daß 
die Zeiten regelmäßig werden. 

a M beider U,.-Tage betragen: 

u,-8:1478,8 o, neutrale S : 1456,5 o, u,-S : 1433,8 o. Am ersten U,.- 
Tag fallen die homogenen Silben am leichtesten, die heterogenen am schwersten ; 
a. M.: u,-S:1418,7 o, neutrale S:1639,7 o, u,-S: 1685,5 o. 

Kritik. Es bleibt die Frage zu klären, welche Umstände 
das Entstehen der konstruierenden Verhaltungsweise so stark be- 
fördert haben, wie sich die Ablenkungen bewährten und in 
welchem Verhältnis die aufgewandte Willensstärke zum Erfolg 
und Mißerfolg stand. 


Die als Ablenkung gedachte Antiqua-Schrift der hete- 
rogenen Silben hat am 1. Versuchstag ihren Zweck voll erfüllt; 
ohne Fehlerbewußtsein beging H zwei i. F.Rn. und eine 
F.R.; erst während der Protokollabgabe wurde das Richtig- 
keitsbewußtsein erschüttert, ohne daß jedoch die Ablenkungen 
als Ursache erkannt worden wären. Das geschah erst am 4. Re- 
aktionstag. (»Ich glaube, mich macht die Schrift stutzig.« — 
»Vielleicht war wieder die Schrift schuld.«) Nun setzte gegen- 
über den Ablenkungen eine mißtrauische Haltung ein, deren 
Wirkung um so stärker wurde, als die Instruktion ja durch 
die Aufforderung zu besonders kräftigem Vorsatz erweitert 
worden war und die Entwicklung der »Hingabe« fördern mußte. 
Durch die betonte Angabe: »Die Vokale, die Konsonanten um- 


154 Julian Sigmar, 


stellen!«wurde die Bildung einer konstruierenden Verhaltungs- 
weise und deren Mechanisierung besonders erleichert, was vom 
Versuchsleiter allerdings nicht vorausgesehen war. 

Die eingeführten Ablenkungen wirkten also von dem Zeit- 
punkt ab, da sie als Störungen erkannt wurden, nur fördernd 
auf die Entwicklung eines energischen Willensentschlusses. Da- 
her konnte deren Wirkung nur durch Steigerung und Häufung 
erreicht werden, was am 9. und 11. Versuchstage denn auch 
wieder zu zwei i.F.Rn. und zwar F.Rn. führte. 

Die Inertial-Td. ist erst am 5. Reaktionstage intendiert 
worden; viel zu spät. Die Vp. hatte schon am 1. Versuchstage 
von selbst die bequeme Lösungsweise gemerkt und bereits im 
9. Versuch als gefährlich abgewiesen. Als Vp. A der Belehrung 
zufolge am 5. Tag eine der Inertial-Td. entsprechende Ver- 
haltungsweise einnehmen wollte (1. Versuch), meldete sie so- 
fort: »Aber das geht ja nicht!« und kehrte zum konstruierenden 
Modus zurück. 

Der kräftige Vorsatz hat auch hier kein anderes Bild 
ergeben, als wie es schon in der Analyse gefunden worden war: 

Trotz betonten starken Vorsatzes sind miß- 
lungen: 7 heterogene und 2 indifferente Aufgaben. 

Ohne Vorsatz gelangen: 4 heterogene Aufgaben. 

Bei festem Vorsatz gelangen 9 heterogene Aufgaben. 

Wenn wir aber diese 13 gelungenen Reaktionen näher 
betrachten, so finden wir, daß sämtliche in der konstruierenden 
Verhaltungsweise ausgeführt worden sind, und zwar die 9 mit 
»festem Vorsatz« im Zustand der bewußten »Hingabe«, die 4 
»ohne Vorsatz« unter dem Einfluß der mechanisierten Hingabe 
(Praxis). Die Angaben »fester Vorsatz« und »kein Vorsatz« 
sind demnach belanglos; maßgebend für eine erfolgreiche 
Lösung ist die »konstruierende Verhaltungsweise«. 

Vp. J. (schwache Anordnung II; tgl. andere Silben, nach 
20 Lösungen Prüfungs-Reaktion). 

Anordnung: Unter Verwertung der bei Vp. H ge- 
machten Erfahrungen wurde die Weckung des »kräftigen Vor- 
satzes« durch folgenden Zusatz zu der Ruxschen Instruktion 
herbeigeführt: »Sie sollen sich in jeder V.P. vornehmen, ich 
will möglichst das Beste leisten'« Etwa in der Form: »Ich will, 
ich muß umstellen !« 

Am zweiten Tag“) wurden die heterogenen Silben mit 


49) Der 1., 6. und 8. Tag waren Reproduktionstage. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 155 


Antiqua-Schrift geboten und die Vp. dahin belehrt, daß sie 
sich nicht mit schematischer Auffassung der erscheinenden Silbe 
begügen darf, sondern sie zuerst innerlich lesen müsse. 

Am 3. Tag wurde Vp. hingewiesen auf die am Vortage 
hie und da geleistete überflüssige Mühe des Umstellens mancher 
Silben, die auch durch Reproduktion das richtige Ergebnis 
gebracht hätten (Inertial-Td.). 

Am 4. Tag erschien die heterogene Silbe nicht mehr in An- 
tiqua, sondern mit Scherenschnitten. Außerdem wurde der Vp. 
nahegelegt, möglichst schnell zu lösen (Eilfertigkeits-Td.). 

Am 5. Tag erschien die heterogene Silbe wieder in An- 
tiqua und Scherenschnitten. 

Am 7. und 9. Tag statt der Scherenschnitte Karikaturen; 
zur Befestigung der reproduzierenden Verhaltungsweise waren 
solche auch bei einigen homogenen Silben angebracht, die den 
heterogenen vorangingen. 

Ergebnisse: Unter 24 heterogenen Aufgaben gab es 
4 i.F.Rn. und 2 F.Rn.; jedesmal bei festem Vorsatz in 
der V.P. Außerdem traten F.Rn. trotz starken Vorsatzes 
in neun andern Fällen auf, und zwar bei zwei homogenen und 
sieben neutralen Silben. 

Obwohl Vp. J stets bemüht gewesen ist, den besten starken Vorsatz zu 
wecken, ist es ihr nicht gelungen, ihn immer auf derselben Höhe zu halten. 
Vp. spricht dabei von stärkerem und schwächerem Vorsatz, so daß der Ver- 
suchsleiter um nähere Aufklärung über diese Angaben bat. Darauf unterschied 
die Vp., welche bisher noch niemals Selbstbeobachtung geübt hatte, deutlich 
folgende drei Arten von »Vorsatz«: 

l. Wenn ich unwillkürlich im Sitze fester werde, wenn ich zwischen dem 
Beginn des Vorsatzes und dem Erscheinen des Wortes keinen anderen 
Gedanken, auch keine Abschweifung, keine Abschwächung der Energie 
fühle, dann ist das mein stärkster Vorsatz; 

2. mein schwächerer Vorsatz: Wenn zwischen dem Zeitpunkt des Er- 
scheinens der Silbe und meinem vorhin gefaßten Vorsatz die Energie 
nachläßt; 

3. noch schwächer ist mein Vorsatz, wenn zwischen dem Vorsatz und 
dem Erscheinen der Silbe ein anderer Gedanke eintritt. 

»In allen drei Fällen nehme ich mir fest vor, keinen Fehler zu machen. 

Ich weiß, was ich zu tun habe; ich will auch wirklich! Auch der -Gedanke, 
‚ich soll umstellen‘ ist in allen drei Fällen gegeben; aber beim dritten läßt 
diese Einstellung nach, die ganze Energie ist dann nach einem solchen Anlauf 
zam Teufel.« 

Mit der dauernden Anspannung der Energie ist bei J eine Einengung des 
Blickfeldes gegeben, so daß Vp. die Ablenkung selbst am 4. Übungstage noch 
nicht gesehen hat. Ganz wie bei Vp. H ist diese Erhöhung der Konzentration 
durch den Zusatz zur Instruktion herbeigeführt. Natürlich ist die Zielrichtung 


156 Julian Sigmar, 


auf eine erfolgbringende Praxis damit noch nicht gegeben. Aber dieser »naive« 
starke Vorsatz ist eine günstige Bedingung zur baldigen Entfaltung der Ver- 
haltungsweise »Hingabe«: Im ersten Versuch des 4. Übungstages ergänzt Vp. 
die Instruktion: »Ich will möglichst gut arbeiten l« durch den selbst gefundenen 
Zusatz: »Ich muß die An- und Auslaute umstellen!« Hiermit war die kon- 
struierende Verhaltungsweise durch die Vp. von selbst gefunden worden, der 
naive Vorsatz hat sich zur erfolgbringenden Determination entwickelt. 

Damit soll aber nicht gesagt sein, daß sich »Hingabe« etwa erst am 
5. Versuchstag gebildet habe. Schon im 2. und 3. Versuch des 1. U,.-Tages 
war die konstruierende Verhaltungsweise vorhanden, aber wieder aufgegeben 
worden, weil durch eine homogene Aufgabe die Bewußtseinslage der Er- 
leichterung eingetreten war. Es folgten 3 i F.Rn. an demselben Tage, ohne 
daß Vp. ein deutliches Fehlerbewußtsein erkennen ließ. Im Verlauf des 
2. Umstellungstages tritt wiederum die konstruierende Verhaltungsweise auf, 
ist aber noch stark gehemmt, und die Umstellung nimmt noch lange Zeit in 
Anspruch. Erst in der zweiten Hälfte des 4. Reaktionstages kann man von 
einer sich durchweg behauptenden »Hingabe« sprechen. Vom 5. Tage an 
kann sie als herrschend betrachtet werden und geht in den Zustand der 
Mechanisierung über, was durch richtige Lösung der Aufgaben trotz Ab- 
lenkungen und Störungen zum Ausdruck kommt. Vp. machte von da ab fast 
keine Fehler mehr; nur im 9. Reaktionstag wäre es beinahe zu einer i F.R. 
gekommen. 

Daß im übrigen die konstruierende Verhaltungsweise nicht so deutlich 
erkennbar ist wie bei andern Vpn., muß auf Rechnung der durch die In- 
struktionszusätze absichtlich ausgeschalteten Ko.-Td. gesetzt werden. Im un- 
beeinflußten Zustand offenbart sich die Kontrolle als eine Tendenz zur 
Prüfung der Richtigkeit der Umstellung. Sie geht darauf aus, die Überein- 
stimmung oder die Widersprüche zwischen Instruktion und Umstellungsergebnis 
festzustellen. Als typisches Merkmal der konstruierenden Verhaltungsweise 
kann die Formel angegeben werden: »Sich auf nichts einlassen!« Durch die 
Instruktionszusätze (»ich wil, ich muß umstellen«) und durch die 
Einführung der Vp. in das Wesen der Inertialtendenz war geradezu das 
Gegenteil der Kontrolle bewirkt worden. So zeigte daher die Vp. nur ein 
schwaches Anklingen der Ko.-Td. Die F.Rn. werden meist mit Richtigkeits- 
bewußtsein begangen, und Vp. gibt in den Nach-Perioden zu Protokoll, »es 
hätte noch besser gehen können!« statt »das nächste Mal muß richtig um- 
gestellt werden!« So ist es vornehmlich dem Fehlen der Ko.-Td. zuzuschreiben, 
daß das Bild der Hingabe bei Vp. J so unsicher und verschwommen ist. 

Eine besondere Erörterung fordern die zahlreichen F.Rn., die trotz 
starken Vorsatzes auf homogene und indifferente Silben fallen. 2 F.Rn. 
trafen auf homogene Silben am 3. U,.-Tag und sind Folgen beabsichtigter 
Ablenkungen. 


7 F.Rn. dagegen trafen auf indifferente Silben; 4 stehen aber hinter 
homogenen Aufgaben, welche bekanntlich durch bloße Reproduktion gelöst 
werden können. In dieser Bewußtseinslage zu verharren, lag der Vp. um so 
näher, als die dauernde Konzentration auf einen möglichst starken Vorsatz 
ohnehin stark ermüdend wirkte. Diese F.Rn. sind also Ausdruck der un- 
bewußt eingenommenen reproduzierenden Verhaltungsweise, die sich trotz des 
starken Vorsatzes der V.P. durchgesetzt hat. 3 solcher F.Rn. folgen dagegen 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 157 


auf heterogene Silben, welche zwar gelungen waren, deren Umstellung aber 
so schwierig gewesen war, daß eine Art Verwirrung zurückblieb, auf welche 
Vp. ihre Fehler zurückführen will. Eine F.R. ist Folge nervöser Eile. 

Kritik. Da Vp. J die 4 i. F.Rn. und 11 F.Rn. trotz ihres 
starken Vorsatzes nicht vermieden hat, so ist damit von neuem 
cer Nachweis erbracht, daß die sogenannte Stärke des Vor- 
satzes eine erfolgreiche Lösung nicht verbürgt. Beachten wir 
ferner, daß Vp. die Fehler gemacht hat, ohne ihre eigentliche 
Ursache, die eingeführten Ablenkungen, zu erkennen, so ist 
dadurch glaubhaft gemacht, daß für die F.Rn. nicht in erster 
Linie die Stärke der reproduzierenden Tendenzen maßgebend 
sein kann. 


Es wäre hier angebracht, ein Wort über die Wirkung der 
benutzten Ablenkungen zu sagen. Die Antiqua-Schrift hat sich 
durchweg bewährt; sowohl bei H wie bei J traten i.F.Rn. auf 
ohne Erkenntnis der Ursache. Vp. J stutzte nur, »weiß aber 
nicht warum«, dasselbe ereignet sich noch am nächsten Tage. 
Eine i. F.R. führt J auf das »Schnappen des Apparates« zu- 
rück, fügt aber hinzu, »Richtigkeitsbewußtsein habe ich immerc«. 
Noch am 4. Reaktionstage merkt sie noch nichts von Ab- 
lenkungen, am 5. Tag gibt sie zu Protokoll, sie merke wohl, 
daß Bilder neben manchen Silben stehen, es sei sei ihr aber 
nicht bewußt, welche. Am 7. Reaktionstag erkennt sie die Ab- 
lenkungen als Störungsursache; sie hilft sich aber dagegen (wie 
auch Vp. H), indem sie einfach die Bilder nicht mehr an- 
sieht. Was den Versuch anbetrifft, die Bewußtseinslage der 
Erleichterung zu befestigen, indem die den heterogenen Auf- 
gaben voraufgehenden zwei homogenen Silben mit Ablenkungen 
geboten wurden, so scheint dieser Versuch ein Irrweg gewesen 
zu sein, denn die Vp. machte bei zwei solchen homogenen Silben 
infolge der Ablenkungen Fehler, wurde vorsichtig und ver- 
mochte infolgedessen erst recht i. F.Rn. zu vermeiden. Bis zum 
letzten Versuchstage stoßen wir immer auf die Erkenntnis: 
»Das Bild habe ich nicht störend empfunden, aber durch das 
Lesen und starre Anschauen bin ich nicht zum Umstellen ge- 
kommen.« (8. Versuch 3. U,.-Tag.) 

Die Eilfertigkeits-Td. glaubte der Versuchsleiter erst am 
4. Reaktionstag betonen zu sollen; es war wieder zu spät. 
Schon im 6. Versuch des 1. Reaktionstages hat sich Vp. selbst 
die Instruktion gegeben: »Du stellst jetzt möglichst schnell 
um.« Die Inertial-Td. sollte am 2. Reaktionstag geweckt 


158 Julian Sigmar, 


werden; auch sie konnte bei der Vp. schon am 1. Tag be- 
obachtet werden, nur in einer charakteristisch abgedämpften 
Form. Sie konnte nicht ganz deutlich werden in Anbetracht 
des kräftigen Vorsatzes, der auf Ausführung der Instruktion 
drängte. 

Zusammenfassung. 

1. Der naive feste Vorsatz läßt sich trotz aller aufgewandten 
Mühe der Vp. nicht durchgehends auf derselben Intensitäts- 
stufe erhalten und sichert nicht die richtige Reaktion. 

2. Regelmäßig gesteigerte Ablenkungen sind das Motiv für 
regelmäßig sich ebenso steigernde Konzentration des Willens 
auf die Zielvorstellung. 

3. Der naive feste Vorsatz kann sich daher zu einer die 
richtige Reaktion sichernden Bedingung entwickeln, insofern 
er durch Betonung der Zielvorstellung deren Inhalt von der 
konkreten Bezugsvorstellung kräftiger abhebt und auf diesem 
Wege in die konstruierende Verhaltungsweise (Hingabe) über- 
leitet. 

4. Inertial- und Eilfertigkeits-Td. hemmen die Entwicklung 
der Ko.-Td., woraus die grundsätzliche Verschiedenheit deser 
beiden, äußerlich eine Identifikation anstrebenden Tendenzen 
hervorgeht. 


§ 18. Richtige Reaktionen ohne festen Vorsatz. 

Vp. F nach Anordnung I (vgl. oben S. 95). 

Zu der Instruktion Rux’ wurde der Zusatz gemacht: 
»Machen Sie sich, ohne auf andere innere Anregungen einzu- 
gehen, immer sofort ans Umstellen, wie die Instruktion es 
erfordert.« 

Ergebnisse: Es kam in der Tat zu keiner i. F.R. Sämt- 
liche 24 heterogene Aufgaben sind ohne sogenannten »starken 
Vorsatz« erfolgreich gelöst worden. Im Gegenteil war bei 
vielen Lösungen nicht einmal gute Aufmerksamkeit vor- 
handen, wodurch die Vermutungen aus der analytischen Er- 
örterung (S 6) bestätigt wurden. 11 heterogene Aufgaben ge- 
langen trotz Zerstreutheit, Ablenkungen und Störungen, die 
durch Geräusche, Straßenlärm bedingt sind. 5 heterogene Re- 
aktionen gelingen auf Grund bloßer »Erinnerung an die Auf- 
gabe«, die einmal nur »flüchtig wiederholt« wird; 8 andere 
haben überhaupt keinen Vorsatz. Erst in der H.P. fühlt Vp. F 
Veranlassung zur Konzentration, ein Verhalten, welches mit 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 159 


dem bei Vp. C übereinstimmt. Es spricht sicher nicht für 
einen »starken Vorsatz«, wenn Vp. (in 8 Fällen!) zu Protokoll 
gibt: »In der V.P. zerstreut . .. gestört, . . . etwas unaufmerk- 
sam ...« H.P. Ich mußte mich erst konzentrieren . . . 
optisch umgestellt... Die optische Umstellung ist das einzige 
Mittel für mich .. .« (9. Versuch 1. U,.- Tag). Ein beachtens- 
werter Vorsatz wäre höchstens im 7. Versuch des 1. U,. -Tages 
festzustellen: »V.P. Nichts besonderes; ich habe mir gesagt: 
Unbedingt 5,2 umstellen! .. .« 

2 F.Rn. ereigneten sich dennoch am 1. Uy.-Tag, nachdem der erste U,.- 
Tag nur fehlerfreie Reaktionen aufgewiesen hatte. Die 1. F.R. fiel auf die 
l. Aufgabe des Tages, die neutrale Silbe telar; sie wurde zu ralet um- 
gestellt, mit »Richtigkeitsbewußtsein«, wie es in der Nachperiode heißt. In 
der H.P. der zweiten Aufgabe gab dann die Vp. spontan noch die Erklärung 
ihres Fehlers: »Auf das Umstellen der Buchstaben verlegt: Ich hatte 
voriges Mal die Instruktion falsch aufgefaßt; ich wollte rück- 
wärts lesen.« 

Der 2. Fehler ist ein verwechselter Buchstabe, statt lesuf wurde lefus 
gesagt (12. Versuch). Nach dem 11. Versuch war der Strom ausgeblieben; 
ehe die Störung gefunden und abgestellt war, vergingen zehn Minuten. Vp.F 
gibt als Ursache des Fehlers selbst an: »Die Verzögerung infolge des Strom- 
ausfalls hat mich nervös gemacht; dazu kam, daß ich mich für 1000 mit 
jemand bestellt hatte und es war schon 102° beim letzten Versuch... Ich 
war ärgerlich, weil ich das Bewußtsein hatte, früher gesprochen zu haben, 
als ich umgestellt hatte. Eilfertigkeit und Unaufmerksamkeit als Ursache an- 
gesehen.« 

Die beiden F.Rn. dürften nach diesen befriedigenden Aufklärungen keine 
Instanz gegen das Beweisthema sein. 

Kritik. Bei Vp. F zeigen sich die Erscheinungsweisen 
der »Hingabe« in wünschenswerter Klarheit und Beständigkeit. 
»Sofort umstellen!« war durch den Zusatz in der Instruktion 
geboten; die Wirkung tritt uns in der Protokollangabe des 3. 
Reaktionstages entgegen: »Die optische Umstellung ist das ein- 
zige Mittel für mich. Während ich mich bemühe, das Wort 
optisch umzustellen, drängen sich die gelernten Worte 
ein.« (9. Versuch.) Die sofortige Inangriffnahme der Tätig- 
keit schützte also die Vp. vor den andrängenden Fehlassozia- 
tionen. Die regelmäßige wörtliche Ausführung der Instruktion 
führte aber auch viel schneller zur Befestigung der konstruk- 
tiven Verhaltungsweise und zur Mechanisierung derselben. Man 
beachte den Modus der Vp., die Buchstaben zu numerieren: 
bei U,. werden die Buchstaben in der Folge: 5. 2. 3. 4. 1. 
»optisch umgestellt« (3. Versuch 1. U,.-Tag), bei Uy: 1. 
4. 3. 2. 5. (vgl. 1. Versuch 1. U,-Tag. Schon am 2, Uņ.- 


160 Julian Sigmar, 


und U,„.-Tag ist eine größere Sicherheit im Umstellen zu be- 
achten, die voraussehen ließ, daß es wohl schwerlich zu F.Rn. 
kommen würde. Es ist auch eine Folge des Instruktionszusatzes, 
daß die Vp. deutlicher den MechanisierungsprozeB merkt; er 
wird ihr in einem Zustand der Ermüdung schon am 4. Tag 
bewußt, und hält den Rest des Tages an. Im 9. Versuch des 
5. Tages geschieht das Umstellen »noch mehr mechanisch«, wo- 
mit auch eine weitere Vereinfachung der »Technik« verbunden ist: 
»Beim letzten Buchstaben gleich geblieben und ihn zur neuen 
Bildung benutzt: nadefffaden.« Diese Methode wird dann ab- 
wechselnd mit der alten angewandt. Zuletzt erklärt Vp. F, die 
Methode sei so leicht, daß sie sich nicht mehr zu erinnern 
brauche (3. U,.-Tag). 

‘Ebenso deutlich wie das sofortige Umstellen tritt die andere 
Seite der konstruierenden Verhaltungsweise, das Mißtrauen, 
die Ko.-Td., zutage. F beobachtet allen erscheinenden Silben 
gegenüber dieselbe Zurückhaltung; zwischen den homogenen 
u, - Silben (1445,4 0) und den heterogenen u, - Silben 
(1513,6 o) besteht an U,.-Tagen eine Differenz von nur 68 o. 

Die U,.- Tätigkeit fällt der Vp. F nach eigener Aussage 
und den Ergebnissen der Zeitwerte schwerer; dem entspricht 
ein Mittelwert von ca. 2,2 Sek., der aber bei homogenen, hete- 
rogenen und indifferenten Silben fast gleich hoch bleibt. Hier- 
her gehört auch die wiederholt gemachte Beobachtung, daß 
homogene Silben, die auf heterogene folgen, ebensolange Zeit- 
werte haben wie ihre Vorgänger. Die Bewußtseinslage der 
Anstrengung, welche die konstruierende Verhaltungsweise kenn- 
zeichnet, perseveriert noch. 

Die Ko.-Td. tritt schon im 3. Versuch auf, »weil der Ver- 
dacht da war, es sei falsch«, ebenso aber auch nach Umstel- 
lungen, die mit dem Gelernten im Apparat übereinstimmen: 
»Hemmung, weil ich fürchtete, daß das Wort falsch gebildet 
sein könnte, weil es sinnvoll ist (lafet—tafel). Daher Fest- 
halten an meiner Methode« (10. Versuch 1. U,.- Tag). 

Konnten wir bei Vp. J feststellen, daß infolge Betonung der 
Inertial- und Eilfertigkeits-Td. die Ko.-Td. abgedämpft und 
sogar ausgeschaltet werden kann, so sehen wir hier bei un- 
eingeschränkter Entwicklung der Hingabe das Gegenteil: Bei 
der zielsicheren Bewußtseinslage, die auf sofortige Lösung ge- 
richtet ist, kann die Inertial-Td. gar nicht überschwellig 
werden; Vp. F hat sie nicht vermeldet. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 161 


Aber auch die weit stärkere Rp.-Td. kommt in zahlreichen 
homogenen Aufgaben gar nicht mehr zur Wirkung. Das umge- 
stellte Wort wird nicht mehr als gelernt erkannt. 


Diese Ausschaltung der Rp.-Td. wirft ein bezeichnendes 
Licht auf das Assoziationsgesetz, zumal sie gerade am letzten 
Reaktionstag (nach 220 Lesungen!) besonders oft vorkam. 


Nach einer Richtung brachte die Prüfungsreihe mit Vp. F 
eine Erweiterung unserer Anschauungen über die Erscheinungs- 
weisen der »Hingabe«. In den analytischen Reihen hatte es so 
ausgesehen, als ob die »Hingabe« ein Zustand höchster Auf- 
merksamkeits-Konzentration wäre. Zwar gab es auch Erfolgs- 
reaktionen ohne Vorsatz oder Aufmerksamkeit. Hier aber wird 
es zur Regel, daß die Vp. bei der Lösung sich gar nicht auf- 
regt und auch nicht besonders anspannt; zwar unterscheidet sie 
deutlich die Schwierigkeitsgrade der Aufgaben, begegnet ihnen 
aber erfolgreich durch Behutsamkeit in der Lösung. Die V.P. 
ist nicht mehr wie bei den analytischen Reihen (ausgenommen 
Vp. C) der Zeitpunkt der Willensbetätigung; im Gegenteil be- 
obachten wir da häufig Gleichgültigkeit, Zerstreutheit, mäßige 
neugierige Erwartung. 

Demnach sind die Spannungs- und Konzentrationserschei- 
nungen zwar ein Moment des energischen Entschlusses, 
nicht aber wesentliches Moment des erfolgreichen 
Wollens. 


Vp. G (schwache Anordnung II). 

Nachdem der Vp. F die Lösung der schwierigsten Aufgaben 
gelungen war, ohne daß sie sich besonders angestrengt oder auf- 
geregt hatte, sollte bei Vp. G einmal der Versuch gemacht 
werden, eine gleichgültige Verhaltungsweise einzunehmen 
und sich mit der bloßen Erinnerung an die Aufgabe zu be- 
gnügen. Da bei der schwachen Anordnung II ohnehin nicht 
mit starken Hemmungen zu rechnen war, mußten die Ergeb- 
nisse auch aus diesem zweiten Grunde neue Einsichten ver- 
sprechen. Zu der Ruxschen Instruktion wurden also die Zu- 
sätze gemacht: Ä 

»Machen Sie sich, ohne auf andere, innere Anregung 
einzugehen, immer sofort ans Umstellen, wie die Instruktion 
es erfordert.« 

»Erinnern Sie sich in jeder V.P. an die Instruktion, etwa 

Archiv für Psychologie. LI. 11 


162 Julian Sigmar, 


in der Form: Ich soll die Vokale, oder: ich soll die An- und 


Auslaute umstellen !« 

Ergebnisse: Der starke Vorsatz ist infolge der Instruktion mit be- 
friedigendem Erfolg zurückgedrängt worden; nach manchen unerwartet 
schwierigeren Umstellungen, sowie nach jeder der 3 F.Rn. trat er dennoch 
spontan für kürzere Zeit auf; besonders konnte das am 1. U x.- und 1. Uy.- 
Tag festgestellt werden. Vp. wurde daraufhin befragt, wie sie ihre Bezeich- 
nungen »Vorsatz« und »Erinnerung« unterscheide. Sie antwortete: »Ich ver- 
stehe unter Vorsatz, wenn ich selber zu mir sage: Wenn ein Wort erscheint, 
dann lies es sofort und stelle um!« Ich gebe mir selbst damit ein Kommando. 
Unter »Erinnerung« verstehe ich bloß das Erinnern an die Worte des Ver- 
suchsleiters: Sie sollen! — Beim Vorsatz fühle ich mich aktiv, bei der Er- 
innerung passiv I« 

Demnach wäre es also falsch gewesen, den Vorsatz der Vp. F und zu- 
gleich die Instruktion für das bloße »Erinnern« zu geben. Wenn aber 
auch die Versuchsbedingungen dadurch ungünstig beeinflußt sein dürften, so 
bestätigt die Versuchsreihe in ihren Grundlinien immer noch die Vermutungen 
und Ergebnisse der Vorreihen. 

Nur etwa 11% der Versuche haben einen stärkeren Vorsatz, der in den 
meisten Fälle auf neutrale und homogene Silben und nur einmal auf eine 
heterogene Silbe fällt. Die allergrößte Zahl der Reaktionen zeigt nur »Er- 
innerung an die Aufgabe« und nur etwa 4°/, der Aufgaben mißlingen. 

Kritik. Es sind 2 F.Rn. und 1 i. F.R. vorgekommen, und 
zwar alle drei in heterogenen Aufgaben. Das ist eine ungünstige 
Belastung dieser Versuchsanordnung; sieht es doch zunächst 
so aus, als ob die »bloße Erinnerung« an die Aufgabe eine gute 
Lösung nicht verbürge. Zwei F.Rn. ereigneten sich schon am 
1. U,.-Tag; ledon wurde zu nodel (statt nedol), redul zu luder 
(statt ledur) umgestellt, also scheinbar rückwärts gelesen. Be- 
fragen wir jedoch das Protokoll, so ergibt sich ein anderes 
Bild: 

9. Versuch ledon. V.P. Gedanken abschweifen lassen, nicht 
an die Instruktion erinnert. H.P. Gelesen, umgestellt. Nicht schwierig 
gewesen. N.P. Erkannt, daß es falsch war, daß auch Vokale umgestellt 
wurden. Ärger, daß es mißlungen ist und daß ich in der V.P. habe die 
Gedanken abschweifen lassen. 

12. Versuch redul. V.P. Instruktion. Und über das vorher ge- 
führte Gespräch nachgedacht. (Vp. war ermahnt worden, auch 
scheinbare »Kleinigkeiten« zu Protokoll zu geben. Versuchsleiter.) H.P. So- 
fort umgestellt, ohne mich anzustrengen. N.P. Richtigkeitsgefühl. 

Vom Versuchsleiter auf den Fehler aufmerksam gemacht, sagt Vp.: Ich 
habe das letzte Wort nicht etwa von rückwärts gelesen, wie es 
scheinen mag; es war auch nicht ein wissentliches Umstellen der Vokale 
damit verbunden. Ich glaube, schuld ist nervöse Eile und Hast .. .« 


Die Vp. hatte sich also instruktionswidrig nicht an die 
Aufgabe erinnert, daher die F.Rn. Die Reaktionszeiten 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 163 


waren immer kürzer geworden (von 20360 — 1304 o); die 
Leichtigkeit der ersten Lösungen, eine Folge des Instruktions- 
zusatzes, wiegte die Vp. in Sicherheit, so daß sie wohl die In- 
struktion nicht mehr beachtete. Daher erteilte ihr der Ver- 
suchsleiter auf die F.Rn. hin den Rat, sich die Instruktion 
vor jeder V.P. ins Gedächtnis zu rufen und sagte ihr: »So- 
fort umstellen, heißt aber nicht schnell und oberflächlich 
arbeiten!« Trotzdem ereignete sich am übernächsten Tag eine 
i. F.R. 


T. Versuch, 2. U,.-Tag: basim; in 1180 g zu bisam umgestellt. V.P. Ge- 
danken abschweifen lassen... Ich habe mich mit dem, was ich 
zum Schluß des vorigen Versuchs zu denken anfing, weiter beschäftigt. H.P. 
gelesen, basim — bisam als gelernt erkannt, umgestellt, ausgesprochen. N.P. 
Nichts. — »Ah, jetzt geht mir ein, daß ich, verleitet vom Gelernten, gar 
nicht umgestellt habe! Ich habe wider die Instruktion gehandelti« 

Diese Erklärung der i. F.R. ist plausibel; wir haben ja nie 
erwartet, daß die Reaktionen gelingen würden, wenn man über- 
haupt nicht aufmerke, sondern wenn man sich der Aufgabe er- 
innere. Der Instruktionszusatz bringt mit der »Hingabe« eine 
solch fühlbare Ersparnis an Schwierigkeiten mit sich, daß 
die unbefangene Vp. hat meinen dürfen, hier liege keine Ge- 
fahr mehr vor; die Leichtigkeit einer Arbeit ist ja immer das 
Mctiv zum Nachlassen der Konzentration. 


Der Versuchsleiter hat daher auf diese Erfahrung hin der 
Vp. vor jeder Reaktion die Frage gestellt: Sind Sie auch 
gesammelt? Von da ab ereignete sich kein Fehler mehr. 
Immerhin bleibt hier die Frage offen: Warum hat Vp. G im 
Gegensatz zu Vp. F die Aufgabe vergessen können? Jedenfalls 
deshalb, weil die schwache Versuchsanordnung keine stärkeren 
Assoziationen begründet. Auch bei einer anderen Vp. L, die 
ebenfalls an der Anordnung II erprobt wurde, ließ sich eine 
Neigung zu F.Rn. beobachten. Nur die Stiftung stärkerer 
Widerstände sowie die Nötigung zur konstruktiven Verhaltungs- 
weise scheint demnach die Wirkung jener Tendenzen einzu- 
schränken, die der determinierten Lösung entgegenarbeiten. 
Daher zeigt auch G nicht allen Arten der Aufgaben gegenüber 
die mißtrauische Haltung wie Vp. F, so daß die Zeitwerte 
verschieden sind je nach der Qualität der Silben. 

Was äußere Ablenkungen und Unaufmerksamkeiten betrifft, 
so sind solche zu unterscheiden, die zu F.Rn. und in Gefahr 
dazu geführt haben, und solche, die ungefährlich ge- 

11* 


164 Julian Sigmar, 


blieben sind. Wenn man sich nicht die Mühe verdrießen läßt, 
sie genau zu vergleichen, so findet man in den trotz Unauf- 
merksamkeit richtigen Reaktionen stets »Hingabe« vertreten 
(»gelesen, sofort umgestellt«). Im 6. Versuch des 3. U,.- Tages 
finden wir das typische Geständnis: »Gelesen, erkannt; an das 
zugelernte ‚nabel‘ erinnert. Dennoch umgestellt, als ob ich 
mir nicht glaubte.« 


Unsere Annahme, daß die »konstruierende Verhaltungs- 
weise« richtige Lösungen ohne die Begleiterscheinung der An- 
strengungserlebnisse gewährleiste, wurde jedoch restlos bestätigt. 
Ein über das andere Mal hören wir: »Ohne Schwierigkeiten« — 
»ohne Anstrengungserlebnis« — »nicht schwerer als voriges Mal« 
— »nichts, wie oben«. Durch die Instruktionszusätze sind Auf- 
regungen, Ungewißheit, Mißtrauen ausgeschaltet worden. 


Wie bei F. verdienen auch hier hervorgehoben zu werden: 


1. daß die Rp.-Td. bei homogenen Silben vom ersten Tag 
an sich erst nach der Umstellung bemerkbar machte, 
oft auch dann nicht einmal; 

2. daß auch für die Inertial-Td. kein Raum zur Betätigung 
blieb; 

3. daß eigentümlicherweise heterogene Aufgaben unter dem 
Einfluß der »Hingabe« kürzere Rp.-Zeiten haben als die 
vorangehenden oder folgenden homogenen Silben; es 
handelt sich dabei um Differenzen von 0,1—0,7 Sek. Er- 
wähnt sei, daß diese Beobachtung mit denen Lewins 
übereinstimmt (a. a. O. I, S. 217/18). 


Zusammenfassung. 


1. Die konstruierende Verhaltungsweise (Hingabe) schützt 
die Vpn. vor F.Rn.; sie kann durch eine entsprechende In- 
struktion hervorgerufen werden. 

2. Die Ausschaltung störender Tendenzen einer vorschrifts- 
mäßigen Lösung durch die Verhaltungsweise der »Hingabe« 
wird bedingt durch die wörtliche, getreue Ausführung der 
Umstelltätigkeit und durch deren sofortige Inangriffnahme. 
Ihre Wirkungen differenzieren sich 

3. nach drei verschiedenen Richtungen: 

a) die Rp.-Td. wird selbst in homogenen Aufgaben aus- 
geschaltet; desgleichen schwindet auch die Inertial- 
Tendenz; 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 165 


b) die Lösung heterogener Aufgaben erfolgt oft leichter 
und schneller als die der homogenen und indifferenten. 

c) Die konstruierende Tätigkeit geht müheloser und früh- 
zeitiger in den Zustand der Mechanisierung über. 


4. Konzentrations- und Spannungsempfindungen sind nur 
unwesentliche Begleiterscheinungen der konstruierenden Ver- 
haltungsweise bzw. des erfolgreichen Wollens. 


5. Erfolgreich ist auch das »schwache Wollen« (nach Ach- 
scher Terminologie), ja sogar die bloße »Erinnerung an die Auf- 
gabe«. Jedoch muß sich die Erinnerung auf alle Daten der In- 
struktion erstrecken und wird daher zweckmäßigerweise vor 
jedem Versuch wiederholt. i 


6. Die an Reproduktionstagen gemachten Erfahrungen sowie 
die Erscheinung, daß heterogene Silben leichter und schneller 
umgestellt werden als homogene, weisen darauf hin, daß das 
Assoziationsgesetz in seiner überlieferten Form und soweit 
die Assoziationsstärke nur von der Zahl der Wiederholungen 
abhängig gedacht wird, unhaltbar ist. Die Stärke der Rp.-Td. 
muß auf anderen Faktoren beruhen. 

Der erörterte Sachverhalt hat auch keinen Nachweis für 
die Existenz determinativer Tendenzen erbracht. Was zur er- 
folgreichen Lösung führte, war nicht der Stärkegrad des 
Wollens, sondern vielmehr Verhaltungsweisen, die durch einen 
Tätigkeitscharakter gekennzeichnet waren. 

Die Formulierung von Gesetzen eines assoziativen Äqui- 
valents der Determination oder von Gesetzen betreffend die 
determinative Hemmung und Bahnung ist daher nicht an- 


gängig. 


C. Systematisches. 
8 19. Über das Assoziationsgesetz. 


Nach der überlieferten Fassung des Assoziationsgesetzes 
ist für die Reproduktion maßgebend das häufige gleichzeitige 
Zusammensein oder die unmittelbare Aufeinanderfolge zweier 
psychischer Gebilde. Je öfter dies geschehen ist (je größer also 
die Wiederholungszahl), desto leichter und sicherer müßte die 
Reproduktion erfolgen. 

Gegen diese Auffassung des Assoziationsgesetzes sprechen 
die hier gemachten Erfahrungen an den Rp.-Tagen; es kam 


166 Julian Sigmar, 


keineswegs zu einer raschen und richtigen Reproduktion; da- 
gegen traten Rat- und Hilflosigkeit auf, und nur zufällig schien 
es auch zu richtigen Reproduktionen zu kommen. Die Wieder- 
holungszahl spielte hierbei keine entscheidende Rolle; es ist 
trotz 220 W: (bei Vp. F z.B.) zu keiner i.F.R. gekommen, 
während bei anderen Vpn. solche schon nach 20 W erzielt 
wurde. Beachtenswert ist ferner die Tatsache, daß entgegen 
der durch die vielen Wiederholungen herbeigeführten Asso- 
ziationsstärke die heterogenen Silben schneller und hemmungs- 
loser umgestellt worden sind als homogene und indifferente 
Silben.. Die genaue Analyse der vorliegenden Bewußtseins- 
erscheinungen hat übrigens auch bei i.F.Rn. niemals die Rp.- 
Td. als primäre Ursache der Fehler nachgewiesen, sondern sie 
wurde immer erst in Verfolg einer andern Ursache ausgelöst. 
Also ist das Assoziationsgesetz wenigstens in seiner über- 
lieferten Fassung der Kettenassoziation einer Berichtigung oder 
Erweiterung bedürftig. 

Die Bedenken gegen die Richtigkeit desselben sind übrigens nicht neu. 
Poppelreuter hatte schon 1912 den Nachweis erbracht, daß die Re- 
produktionen durch eine Tendenz zu der Wiederherstellung der »Totalität« 
der Wahrnehmungen charakterisiert seien; der wiedererlebte Teil hätte die 
Tendenz, das Ganze zu reproduzieren. Das Rp.-Motiv ist nķht irgendein 
beliebiges Glied der Totalvorstellung, sondern immer ein charakteristischer 
Teil derselben 50). 

Selz hat ebenfalls eingehend nachgewiesen, daß es Reproduktionen von 
Beziehungsganzen, Komplexen gibt, die sowohl das Reiz- und Reaktionswort, 
wie auch die ihren Bedeutungen entsprechenden Bewußtseinserlebnisse um- 
fassen. Das Wesen eines Vorstellungskomplexes sieht Selz in seiner raum- 
zeitlichen Anordnung begründet, die als solche aufgefaßt und als Ganzes asso- 
ziierend und reproduzierend wirkt. Daher entstehen auch gegenseitige Kom- 
plex-Assoziationen. Ein gegebenes Komplexstück hat die Tendenz, die Re- 
produktion des ganzen Komplexes herbeizuführen. Diese kann auch durch ein 
mit dem Bestand des Komplexes antizipierendes Schema erfolgen 51). 

Eine Bestätigung und Erweiterung erfuhren die Feststellungen Selz’ 
durch Jacob Segal52). Die Protokolle seiner Vpn. ergeben, daß das Seelen- 
leben sich nicht in eine Reihe von unabhängig nebeneinander bestehenden 
Elementen zerlegen läßt, sondern daß es ein Ineinanderfließen von Situationen 
ist, wobei eine jede durch die schon verflossene mitbestimmt wird. Wir haben 
nicht bloß Vorstellungen an sich, sondern diese sind stets mit Handlungen 


50) Über die Ordnung des Vorstellungsablaufs, Arch. f. d. ges. Ps. XXV 
S. 219 ff. 

51) Die Gesetze des geordneten Denkverlaufs, Stuttgart 1913, S. 90 ff. 

62) J. Segal, Über das Vorstellen von Objekten und Situationen, 
Stuttgart 1916. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 167 


und Handlungsimpulsen verknüpft. Auf Grund dieser motorischen Kom- 
ponenten treten die zu den Vorstellungen gehörigen Situationen auf, in denen 
die Vpn. folgerichtig zu leben und zu handeln vermeinen. Dabei weiß man 
stets, daß das Wahrgenommene nur den Ausschnitt eines größeren Ganzen 
bildet. 

Der Wechsel der Situationen vollzieht sich für die Vpn. oft unvermerkt. 
Als bewirkende Faktoren kommen dafür motorische Prozesse in Frage, durch 
die sich die Vp. von ihrem realen Ort ablöst; die Aufmerksamkeit wendet 
sich dem neuen Gegenstand zu, Empfindungen treten auf, die dem neuen 
Objekt entsprechen, und es macht sich, wenn nötig, am Vorgestellten eine 
Betätigung geltend. Besonders fördernd auf einen Situationswechsel wirkt 
das Wiedererkennen bzw. die Erinnerung, wenn die Vp. zufällig und uner- 
wartet auf ein bekanntes Objekt aus einer andern gleichen oder ähnlichen 
Situation stößt. Wiedererkennen und Erinnerung vermitteln momentan jenen 
unvermerkten Übergang aus einer Situation in die andere, so daß die neue 
Situation mit der früheren unbewußt identifiziert wird. 

Man könnte auf Grund der Selzschen und Segalschen 
Erkenntnisse die Vorgänge bei den stattgefundenen i.F.Rn. 
völlig erklären, wofern nur angegeben worden wäre, warum 
unsere Vpn. nicht jedesmal die Reizsilben »wiedererkannten«. 
Unsere Vpn. sind in der Tat im Fall der i. F.R. unbewußt aus 
der Situation am Kartenwechsler in die Situation am Ge- 
dächtnisapparat hinübergeglitten und haben, statt umzustellen 
wie am Gedächtnisapparat, einfachhin reproduziert. Das 
»Wiedererkennen« kann nicht ausschließlich der Grund des 
Situationswechsels sein, weil in den meisten Fällen die F.Rn. 
vermieden wurden, obwohl die Silbe als gelernt wiedererkannt 
war. Trotzdem hat das Segalsche Forschungsergebnis seine 
große Bedeutung, indem die Verknüpfung der Vorstellungen mit 
motorischen Leistungen nachgewiesen wird, so daß motorische 
Impulse auch die dazugehörigen Vorstellungen hervorzurufen 
vermögen und gegebenenfalls einen Wechsel der ganzen Situ- 
ation herbeiführen. Zwei Situationen ließen sich aus dem 
Verhalten der Vpn. am Kartenwechsler erkennen: eine Um- 
stellungssituation und eine Reproduktionssituation, letztere ver- 
wandt mit der Lernsituation am Gedächtnisapparat. 

Hans Hennings Untersuchungen über das Geruchsgedächtnis be- 
stätigen die Lehre von den Situations- bzw. Komplex-Reproduktionen $3). Ge- 
rüche verbinden sich assoziativ leichter mit Gefühlen, Stimmungen, Ein- 
drücken höherer Sinnesgebiete und bilden so Gesamtsituationen mit leichterer 
Reproduzierbarkeit. Unter gewissen Bedingungen zeigen manche Teilkomplexe 
bei der Reproduktion eine assozistive Bevorzugung. Henning definiert: 
»Unter Komplex (Gestalt) soll ... verstanden werden, daß alle Anteile 


68) Assoziationsgesetz und Geruchsgedächtnis, Z. f. Psych. 89, S. 38 ft. 


168 Julian Sigmar, 


eines oder mehrerer Sinnes- oder Vorstellungsgebiete als Einheit erlebt 
werden... Im Gegensatz dazu bezeichnet Gessamtsituastion die Er- 
lebniseinheit, in welcher auch das Ichgefühl und Ichbewußtsein in die Einheit 
einbezogen ist, in welcher der Unterschied zwischen gegenwärtiger (geruch- 
loser) Wahrnehmung und (optischer) Erinnerung fehlt, ebenso der bewußte 
Gegensatz zwischen Ich und Objekt, sowie zwischen Psychischem und Phy- 
sischem« (S. 49). 


Kurt Lewin hat in seiner schon wiederholt zitierten Arbeit dam Asso- 
ziationsgesetz besondere Untersuchungen gewidmet. Er will es durch Angabe 
jener weiteren Bedingungen berichtigen, die für das Eintreten und Ausbleiben 
der Reproduktionen maßgebend werden können. Als Hauptbedingung stellte 
er bei der Kontrolle der Achschen Willensexperimente bestimmt gerichtete 
Ausführungstätigkeiten fest. Je nachdem die Vpn. die Bereitschaft zu dieser 
oder jener Ausführungstätigkeit einnahmen, fiel die Reaktion instruktions- 
gemäß oder instruktionswidrig aus. Dabei handelt es sich nicht etwa nur 
um eine isolierte, ganz individuelle Tätigkeits-Bereitschaft, sondern die In- 
struktion löst einen ganzen Komplex von Ausführungstätigkeiten aus, in dem 
das Rp. nur eine Teiltätigkeit ist. Fehler können nun dadurch entstehen, daß 
innerhalb des Gesamtkomplexes die Bereitschaft zu einer Teiltätigkeit sich 
bildet, die ad hoc sehr unzweckmäßig, ja falsch wirken muß. 


Die Tätigkeits-Bereitschaft (TB.) spielt bei Lewin die Rolle eines bloß 
dynamisch erkennbaren Faktors als Erklärungsbegriff wie in der Assoziations- 
lehre das »Zusammen-Dagewesen-Sein«. L. hat daher auch die Pflicht, ihren 
Erlebnischarakter, ihre Ursachen und die Bedingungen ihrer Aktivierung näher 
anzugeben. Als Ursachen weist er Willensakte und deren Automatisierung, 
Kontrollprozesse, Ermüdungswirkungen, Neigung zum Beibehalten gewohnter 
Tätigkeiten nach. Aber auch latente TBn. können in den Lösungsprozeß ein- 
fließen, deren Ursachen in Erziehung, Gewohnheiten und Triebkomponenten 
zu suchen wären. Die Übung (Wiederholungen) befestigt also nicht so sehr 
Assoziationen als vielmehr die Ausführungstätigkeiten. Eine Wirkung der 
Übung ist dann die Mechanisierung der Tätigkeit. Jede TB. tritt infolge be- 
stimmter Aktivierungsreize auf, die im einzelnen nachweisbar sind. Akti- 
vierungsreize, Durchführungsprozesse und das Tätigkeitsergebnis bilden ein 
einheitliches reaktives System. | 


Mit dieser Formulierung, die allerdings weiter nicht aus- 
geführt wird, kommt Lewin an die Schwelle des Haupt- 
problems: Welcher Art sind diese reaktiven Systeme, unter 
welchen Gliedern besteht jener wesentliche Zusammenhang, daß 
beim Auftreten eines der ganze übrige Komplex reproduziert 
wird? Über die Frage, warum gerade diese, ad hoc unpassende 
Teil-TB. in den Gesamtkomplex der Ausführungstätigkeit ein- 
tritt und nicht eine andere, hat uns Lewin nichts gesagt. 
Wir werden diese Antwort nur geben können, wenn wir die 
Lösungsvorgänge als Ganzes betrachten und sie auch als Ganzes 
zu erfassen suchen, also nicht auf analytischem Wege. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 169 


Wenn Wertheimer in seinen »Untersuchungen zur Lehre 
von der Gestalt«5*) als gestaltbildende und gestalterhaltende 
Bedingungen den Faktor der Nähe, der Gleichheit, des gemein- 
samen Schicksals, der Formprägnanz, der Einstellung, der Ge- 
schlossenheit u. a. benennt, so gelten diese Faktoren nicht etwa 
bloß für Gestalten auf optischem bzw. sinnlichem Gebiete, 
sondern vielmehr für das gesamte psychische Geschehen. 
Ich möchte hier versuchen, sie auf Denkvorgänge anzuwenden. 
Es muß allerdings bemerkt werden, daß es sich vorerst nur um 
allgemeine Richtlinien der Erklärung handeln kann, da die 
exakte Untersuchung der Gestaltvorgänge auf dem Gebiete des 
Denkens und deren Beziehung zu den Elementarprozessen noch 
kaum begonnen hat. 

Die Silben im Gedächtnisapparat bilden mit der gesamten 
Umgebung, der Lerntätigkeit und allem, was zur Lerninstruk- 
tion in Beziehung steht, eine spezifische Gestalt (Lernsituation). 
Desgleichen ist auch die Reaktionsgelegenheit, der Karten- 
wechsler, die Reizsilbe, die Aufgabe und ihre Lösung, das Pro- 
tokollieren der Erlebnisse als ein Gestaltkomplex von bestimm- 
ter Struktur anzusehen. Nur ist letztere Gestalt durch den 
Aufgabecharakter ausgezeichnet, sie muß von der Vp. erst ge- 
bildet werden. In der neuen Gestalt sind einige »Gestaltteile« 
aus der früheren herübergenommen, die Umgebung, die Silben; 
bald merkt die Vp., daß gelegentlich auch das Repro- 
duzieren aus der alten Situation genommen werden darf. Andere 
Gestaltteile dagegen sind neu; das Ziel der Aufgabe, welches 
die Vollendung der psychischen Gestalt mit sich bringen ‚wird, 
soll von der Vp. erst gefunden werden. Davon schwebt ihr 
infolge der Vorversuche mehr oder minder deutlich nur ein 
Schema vor. Die neue Gestaltbildung kann sich nur auf dem 
Wege einer Ausführungstätigkeit vollziehen; daher spielt sie 
und die dazu gehörige Tätigkeitsbereitschaft jene große ent- 
scheidende Rolle für das Gelingen oder Mißlingen der Auf- 
gaben, d.h. für die Bildung der geforderten Gestalt. Von dieser 
Voraussetzung aus wird auch der Sinn der Ausdrücke »Ein- 
stellung«, »Verhaltungsweise« deutlich. Einstellung und Ver- 
haltungsweise bezeichnen die von der Vp. gefundene Gestalt 
des richtigen Verhaltens und der überschauten Beziehungen der 
Einzelprozesse, die zur Lösung führen müssen. 


64) Psychologische Forschung IV. Bd. 1923. 


170 Julian Sigmar, 


Unter dieser Voraussetzung erklären sich auch die Kon- 
trollprozesse, hervorgehend aus der Tendenz zur prägnanten 
und widerspruchsfreien Gestalt. Die schon getroffene oder noch 
nicht ausgesprochene Umstellung der Silbe gerät in Widerspruch 
mit dem Schema der instruktionsgemäß bedingten Gestalt; daher 
Stutzen, Verwirrung, gegebenenfalls »Kippe des Verhaltens« u. ä. 
(Wertheimer a.a.0. S.316) Selz und Lindworsky 
haben den Sachverhalt richtig gesehen, wenn sie eine re- 
produktive Erklärung des Kontrollprozesses ablehnten. Selz 
leitet sie von einem Kontrollbedürfnis der Vp. her; Lind- 
worsky weicht von dieser Deutungstendenz nicht weit ab, 
wenn er sie auf das »Relationsbewußtsein« als auf einen origi- 
nären psychischen Vorgang zurückführt. Weiter ist die Lösung 
des Kontrollproblems durch E.Jaensch geführt worden, der 
die Frage nach den Aktivierungsreizen dieses »BRelationsbe- 
wußtseins« dahin beantwortete, daß in jedem Vergleichsvor- 
gang besondere physiologisch begründete Übergangserleb- 
nisse beobachtbar sind, deren Stärke sowohl von dem Grade 
der Absicht, eine Aufgabe zu lösen, abhängt, wie auch von 
der Eindringlichkeit der sich gegenüberstehenden Reizfolgen *). 
Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß diese Auffassung 
nicht im geringsten einer Deutung durch Gestaltauffasungen 
widersprechen kann (Wertheimer a. a. O. S. 336). Das 
»Übergangserlebnis« erklärt auch den Vorgang der »intuitiven 
Kontrolle: Im Fall der Übereinstimmung des Schemas der 
Zielvorstellung mit der homogenen Reizsilbe bleibt eben jedes 
Übergangserlebnis und die rudimentäre Hemmung des Lösungs- 
prozesses aus, blitzschnell stellt sich das Richtigkeitsbewußt- 
sein ein. 


Vollzieht sich, wie eben angenommen, die Assoziierung nach 
Gestaltgesetzen, dann löst sich auch manches Rätsel der Re- 
produktionsvorgänge. Es reproduziert nicht ein Teil den andern 
Teil, sondern ein Gestaltsystem das andere. Die Reproduktion 
kann eingeleitet werden durch die Wiederkehr eines Bestand- 
stückes der Gestalt, deren sämtliche übrigen Teile dann folgen. 
Bei der Gestaltreproduktion ist nicht die mathematische Gleich- 
heit der Eindrücke, sind nicht die physiologischen Sinnes-Reiz- 


66) E. R. Jaensch, Einige allgemeinere Fragen zur Psychologie und 
Biologie des Denkens, erläutert an der Lehre vom Vergleich, Leipzig 1920, 
S. 21 ff. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 171 


punkte maßgebend, sondern die Symmetrie der Gestalt. So 
erklären sich einerseits die Erscheinungen der Ähnlichkeits- 
reproduktion, andererseits aber auch manche BReproduktions- 
fehler infolge »unkontrollierbar entstandener Assoziationen«, 
weil ein Gestaltunterteil, falls er zufällig auch in einer andern 
Gestalt vorkommt, (diese als Ganzes betrachtet) die fremde Ge- 
stalt statt der von der Aufgabe geforderten reproduzieren kann 
(vgl. das »Türklinkenbeispiel« Lewins; II, S.103f£.). Das ist 
eine der Hauptursachen der i. F.Rn. Achs. Diese Auffassung 
gründet sich auf die Feststellungen Segals und Lewins 
über die maßgebende motorische Komponente bei der Re- 
produktion von »Situationen«; auch eine Ausführungstätigkeit 
kann als Reproduktionsmotiv wirken und eine TB. aktivieren, 
die zu Fehlreproduktionen führen kann. Die motorische Kom- 
ponente in den Gestaltkomplexen, wie sie beispielsweise in den 
Achschen Versuchen bestehen, macht auch den Mechanisierungs- 
prozeß deutlich, dem die Umstelltätigkeit verfällt. Die moto- 
rischen Leistungen darin werden zu Trägern des ganzen 
Lösungsprozesses, so daß allmählich manche sie begleitenden 
Vorstellungsglieder ausfallen können, ohne die richtige Reaktion 
zu gefährden. 


Zusammenfassung. 


1. Assoziierungsprozesse verlaufen nach Gestaltprinzipien; 
diese erstrecken sich nicht bloß auf Vorstellungen, sondern auch 
„auf die dazugehörigen motorischen Tätigkeiten. Es gibt nicht 
bloß Assoziationen zwischen den Teilen einer Gestalt, sondern 
auch Gestalten bzw. Situationskomplexe schließen sich asso- 
ziativ aneinander. 


2. Das assoziierende Band wird durch Sinn- oder Wert- 
gesichtspunkte bestimmt (z. B. biologische, ökonomische, ästhe- 
tische, theoretische usw.). 


3. Dementsprechend erfolgt auch die Reproduktion nach 
Gestaltgesetzen. Charakteristische Glieder einer Gestalt zeigen 
Tendenzen zur Reproduktion des ganzen Komplexes; Glieder, 
die mehreren Gestalten gemeinsam sind, können daher, ihrer 
eigenen Wirksamkeit überlassen, zu Fehlreproduktionen führen. 

4. Die Identität einer Gestalt wird nicht durch mathe- 
matische Gleichheit ihrer Glieder, sondern durch Symmetrie 
derselben im Ganzen bedingt. 


172 Julian Sigmar, 


$ 20. Zur Theorie der intendierten Fehlreaktionen und 
des Willens. 


Der Willensprozeß wird in den vorliegenden Untersuchungen 
durch die Übernahme der Rolle als Vp. und in deren Verfolg 
durch die Übernahme der Instruktion eingeleitet. Nicht alle ge- 
eigneten Leute sind ja dazu bereit. Es liegt ein Wahl- und 
Entscheidungsakt vor, der durch das Bewußtsein der freien Ent- 
schließung, des »Auchanderskönnens« gekennzeichnet wird. Daran 
schließt sich die Überlegung, welche Ausführungsmöglichkeiten 
zur Erreichung des Zieles führen; ein Vergleichen der Bezugs- 
vorstellung (Reaktionssilbe) mit der Zielvorstellung setzt ein, 
Gedankenreihen werden angeknüpft, kontrolliert, gegebenenfalls 
verworfen oder abgebrochen. 

Intensiver gestalten sich die Vorgänge, sobald die Aus- 
führung der Aufgabe wirklich anhebt. Die Vp. weiß deutlich, 
‘daß sie nur auf dem Wege einer zweckmäßigen Umstellungs- 
tätigkeit zum Ziel kommen kann; es ist daher nicht ver- 
wunderlich, wenn die Mühe um die Bildung einer richtigen 
Ausführungstätigkeit greifbaren Ausdruck erhält und das 
Suchen nach der »Praxis« als nächstes Willensziel bezeichnet 
wird. Die Vp. möchte die Ausführungstätigkeit bis zur 
»Technik« und »Mechanik« ausgestalten. Durch unbewußt ein- 
setzende Kontrollprozesse, deren Natur und Ursprung schon 
oben angedeutet worden ist, wird die Vp. darüber belehrt, daß 
man in dieser Art Aufgaben auf verschiedenen Wegen zum Ziel 
gelangen kann. Unter dem Einfluß der Tendenz zur Arbeits- 
ersparnis hebt sich besonders der Weg durch Anwendung der 
Reproduktion hervor; daneben behauptet sich der Weg durch 
Anwendung der Konstruktion neuer Silben. Die Ausführungs- 
tätigkeiten hinterlassen eine Art Bereitschaft zur weiteren An- 
wendung derselben Tätigkeit, die in Anbetracht der Aufein- 
anderfolge der Silben gefährlich wirken muß und leicht zu Fehl- 
reaktionen führt. 

Dadurch belehrt, wird die Tendenz zur Gestaltreinheit 
stärker, die Vp. wendet sich ganz der konstruierenden Vw. zu 
(Hingabe). »Ich war ganz Instruktionsmensch«, sagt eine Vp. 
Lewins, »ich war in einem Zustand, in dem ich mich ganz 
der Instruktion hingab, ohne auf sonstige Nebenumstände zu 
achten« (a.2.0. II, S.113). Das Kennzeichen dieser »Hin- 
gabe« hat auch Lewin in dem »regelmäßigen Neubilden« er- 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 173 


kannt (II, S.77). Der Ärger über Fehlreaktionen, unerwartete 
Schwierigkeiten bringt Spannungs- und Anstrengungserleb- 
nisse mit sich, die aber nicht wesentlich zum Willensakt ge- 
hören, da es gelungen ist, Fehlreaktionen ohne Aufregung, in 
gleichgültiger Gemütslage zu vermeiden, durch einfache Er- 
innerung an die Aufgabe. Der Willensakt wird wesentlich durch 
das Bewußtsein charakterisiert: »Ich könnte zwar anders 
handeln, aber ich will dieses und nichts anderes !« 


Dieses Phänomen läßt sich nicht mit einer Erklärung von 
bloßen assoziativ bedingten »Vorstellungsabläufen« abtun. Ge- 
wiß hätte eine solche Erklärung den methodischen Vorzug der 
Einheitlichkeit für sich; leider sprechen die Tatsachen dagegen. 
So geht es nicht an, zu sagen, die Reaktionsgelegenheit erinnere 
die Vp. an die Zielvorstellung; die Reaktionsgelegenheit ist 
doch immer da, und nicht alle Zielvorstellungen reizen und be- 
wegen die Vp.; nur unter ganz bestimmten Bedingungen weiß 
die Vp.: Jetzt gilt es! Gewiß gibt es Zielvorstellungen, die eine 
Vp. von selbst zur Annahme nötigen; aber abgesehen davon, 
daß sie sich nicht gegen andere ablenkende Assoziationen zu be- 
haupten vermögen, ist die Zahl solcher aus innerer Kraft 
wirkenden Zielvorstellungen zu gering, um für den Bedarf 
eines Menschen in allen Lagen zu genügen. Der Hinweis auf 
»Motivations-Zusammenhänge« löst dieses Problem auch nicht, 
sondern schiebt es nur zurück. Denn die Entscheidung für ein 
Motiv ist wieder als freie Tat des Individuums, als ein Willensakt 
zu betrachten. Überdies zwingt einen die Ablehnung des Willens 
als psychologischen Faktums zur Konstruktion so vieler Hilfs- 
hypothesen, anderer bewegender Faktoren, wie z.B. »Aufmerk- 
samkeit«, deren Originalität nicht einmal auf dem Boden der 
geltenden psychologischen Theorie haltbar ist. 


Versuchen wir es nun, die Natur des Willens aus den Be- 
dingungen der vorgekommenen Fehlreaktionen zu erkennen. 
Nur sekundär wirkten dem Willensakt die gestifteten Asso- 
ziationen, primär die Persistenz in der Ausführungstätigkeit, 
die Inertial-Td., Ablenkungen aller Art und das »Vergessen« 
entgegen. Die schillernde Vielheit der Bedingungen läßt sich auf 
zwei große Hauptgesetzlichkeiten zurückführen, auf das Gesetz 
der Gestaltbildung und das Gesetz der Trägheit. 


Das Gesetz der Gestaltbildung ist maßgebend für 
die Assoziations- und Reproduktionsvorgänge. Ein Gestalt- 


174 Julian Sigmar, 


unterteil hat die Td., die ganze übrige Gestalt zu reprodu- 
zieren. Daraus erklärt sich die Wirkung der Ablenkungen durch 
latent und unkontrollierbar entstandene Assoziationen, ebenso 
der unbewußte Wechsel der Tätigkeitsbereitschaften. Wenn 
zufällig eine Vorstellung bzw. eine dazugehörige Ausführungs- 
tätigkeit zwei verschiedenen Gestaltkomplexen angehört, be- 
steht die Möglichkeit, daß der von der Aufgabe nicht intendierte 
Gestaltkomplex reproduziert wird. (Die Silbe mosel gehört 
z.B. in den Gestaltkomplex der Lernsituation, ist aber auch als 
Flußname Teil der Gestalt »Heimatstadt«. Vgl. oben S. 119 u. 
S. 141.) Ähnlich liegt der Fall, wenn die Vp. eine falsche Aus- 
führungstätigkeit, die zur bloßen Reproduktion, anwendet. Wir 
müssen uns dabei an die große Strukturähnlichkeit der Auf- 
gaben erinnern, die entweder durch die konstruierende oder re- 
produzierende Tätigkeit gelöst werden können. Das Gestalt- 
ganze bleibt unverändert, nur ein Gestaltunterteil, d. i. der 
Lösungsweg, muß gewechselt werden. Kommt nun ein fördern- 
des Moment in Form einer Ablenkung oder die aus dem Träg- 
heitsgesetz aller Masse resultierende Persistenz der Tätigkeiten 
hinzu, so kann die Gestalt der Aufgabelösung nach der un- 
richtigen Seite hin ergänzt werden. Das ergibt dann eine i.F.R. 
mit Richtigkeitsbewußtsein. Man muß schon starke Gegenmittel 
anwenden (bei uns das unausgesetzte »Neuumstellen«), um diese 
Möglichkeit zu verhindern. 
(Als Analogen auf optischem Gebiete sei an 
Fälle erinnert, in denen die »Kippe« vorkommt, 
wobei unter bestimmten Bedingungen eine Gestalt- 
form in die Kontraform umschlägt. So geht in der 
nebenstehenden Figur die Form des Eis. Kreuzes 
in die des Johannitersterns über, was man nur 
durch Verstärkung der Umrisse des Kreuzes ver- 
hindern kann. (Vgl. Wertheimer a.a. O. 
S. 344.) 

Das schon erwähnte Gesetz der Trägheit beherrscht 
die gesamte Natur, auch die psychischen Vorgänge. Daher die 
Inertial-Td., die Persistenz der Tätigkeiten, woraus die Bereit- 
schaft zur Beibehaltung desselben Lösungsweges sich ergibt; 
daher auch die Mechanisierung der »Praxis« mit dem Zweck, 
entbehrliche Mittelglieder der Konstruktion auszuschalten. Aus 
dem Trägheitsgesetz der Masse folgt auch jener Vergessens- 
vorgang, der auf dem Verfall der physiologischen Spuren des 
Gedächtnisses beruht. 


Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 175 


Wo aber die Vpn. im Fall von i. F.Rn. von einem »momen- 
tanen Vergessen« der Instruktion sprechen, beruht das Ver- 
gessen auf der Enge des Bewußtseins, weil zwei Gestalten, die 
instruktionsmäßige und die infolge falscher Anknüpfung sich 
bildende, nicht zugleich gegenwärtig sein können. Das »Ver- 
gessen« ist da eine Wirkung der Gestaltstörung durch solche 
Komplexstücke, die den Prozeß zu einer anderen Gestalt- 
ergänzung abdrängen wollen. Wo aber die störenden Reize nicht 
Glieder einer der Vp. geläufigen Reihe waren, vermochten sie 
die Gestaltergänzung im Sinne der Instruktion nicht zu hindern, 
wie aus unsern oft unwirksamen Ablenkungen hervorgeht. 

Die Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes 
lassen sich also auf psycho-physiologische Gesetzmäßigkeiten 
zurückführen. 

Betrachten wir nun noch die Faktoren, welchen die sieg- 
reichen Lösungen zuzuschreiben sind. Da war zunächst der 
motorische Faktor, das regelmäßige Neubilden der Silbe, der 
den Erfolg sicherte; daneben das stetige Erinnern an die Auf- 
gabe. In sekundärer Beziehung wirkten auch günstig das Kon- 
trollieren und die mechanisierte Praxis. Das andauernde Tätig- 
sein paralysierte die Wirkungen des Trägheitsgesetzes; es war 
jenes Gegengewicht, das die Störungen des Gestaltbildungs- 
prozesses durch ablenkende Reize verhinderte. Das Mechani- 
sieren der Praxis ist eine physiologische Folge der beharrlichen 
Umstellung und somit kein selbständiger Faktor. Man hat die 
motorische Komponente des Vorstellungslebens bisher nicht ge- 
nügend gewertet; hat Bergson nicht doch recht, wenn er als 
das assoziierende Prinzip die »Handlungsbezogenheit« der Vor- 
stellung ansah? 

Nach der intellektuellen Seite hin erwies sich die stete Er- 
innerung an die Instruktion als durchschlagendes Mittel zur 
Konservierung des Gestaltbildes. Dadurch wurde die aus dem 
Trägheitsgesetz resultierende Persistenz durch eine willentliche 
Persisttenz im Lösungsmodus überwunden. Die Kontroll- 
prozesse, als Wirkung der Tendenz zur Gestaltreinheit, leisteten 
dabei gute Hilfestellung. 

Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Wille nicht Trieb, 
nicht Tendenz neben Tendenzen, nicht assoziativ bedingter Ab- 
lauf von Vorstellungen ist. Er steht gänzlich außerhalb der 
intellektuell-motorischen Vorgänge, bestimmt aber nach dem 
Zeugnis des Selbstbewußtseins ihre Richtung. Der Terminus 


176 J. Sigmar, Über Hemmungen bei der Realisation eines Willensaktes. 


»Wille« stammt aus der Vermögenspsychologie; vielleicht ist 
das der Grund, warum er in das theoretische Gefüge der 
heutigen Psychologie nicht hineinpaßt. Muß er deshalb schon 
falsch sein? Ist er nicht eine Frage an die Psychologie, ob sie 
auch ihren Rahmen weit genug gesteckt hat, um alle psy- 
chischen Phänomene zu umfassen? Psychologie ist ihrer Wort- 
bedeutung gemäß Erforschung des Geistes, der Seele. Nur von 
der Seite der Geistigkeit, Geschlossenheit des Seelenlebens aus 
wird man daher dem Willensphänomen gerecht werden können. 


(Eingegangen am 27. Februar 1925.) 


Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der 
Odyssee, 


Von 
Theodor Nissen (Kiel). 





Die folgenden Ausführungen sind eine Fortsetzung meiner 
Abhandlung über die Physiologie und Psychologie der Furcht in 
der Dias, die im 46. Bande dieser Zeitschrift S. 70—97 erschienen 
ist (im folgenden mit J zitiert). Der Gang der dortigen Unter- 
suchungen wird im wesentlichen auch hier eingehalten, und es 
wird dabei versucht, die Unterschiede der Odyssee von der Ilias 
möglichst herauszuarbeiten. Daß in dieser Hinsicht von der 
Homerforschung noch manches versäumt worden ist, kann nicht 
bezweifelt werden; wie viel selbst auf sprachlichem Gebiet hier 
noch zu tun ist, hat K. Meister, Die homerische Kunstsprache 
(Lpz. 1921) S. 247f. ausgeführt. Über die Unterschiede der 
Menschendarstellung in beiden Epen finden sich feinsinnige Be- 
merkungen und Beobachtungen, die auch dieser Arbeit zugute 
gekommen sind, bei J. Geficken, Griechische Menschen (Lpz. 1919) 
S. 3, 26 ff., 40 (vgl. J S. 71). 


Begonnen werde mit einem Vergleich der Terminologie 
des Furchtbegriffs in der Odyssee mit der der Ilias. Während 
Öıyeiv »erschaudern« und das komparativische ö{/yıo» in beiden 
Epen vorkommt, fehlt in der Odyssee das Adjektiv dıyedards; 
dafür findet sich einmal (£ 226) <arapıynAöds und außerdem 
das Kompositum drogoy&w in der Form dreooiyacı, ß 52; 
beides der Dias fremd. Der Odyssee wiederum fehlt das seltsam 
bildhafte rzayvovodaı, das P 112 von der Angst eines Löwen 
gebraucht wird; gplooesıw wie poi kommen nur in eigentlicher 
Bedeutung vor (jenes z 446 vom Eber, vgl. N 473, dieses ô 402 
vom Meere). zo&uw als Bezeichnung für angstvolles Glieder- 
zittern findet sich in beiden Epen nur je ein einziges Mal (X 390 
ind Ö’frgeue yvia, A 527 ro&uov Fúnò yvia Exdorov), häufiger 
toópos (o 88 zgduos Maße yvia wie I'34, Z 506 und 2 170; mit 
Personenobjekt œw 49) und roou&w (o 80, v 215, medial x 446) 

Archiv für Psychologie. LII. 12 


178 Theodor Nissen, 


mit den der Dias fremden Komposita dugyıroou£w (ô 820) und 
neoırpoukonaı (o 77); dnorooutw und das Adjektiv ärpouos 
kommen nur in der Ilias vor, das Adverb äroeuas dagegen 
auch in der Odyssee (» 92, z 212). ro£&w erscheint in der Odyssee 
nur einmal im Aorist (¢ 138 ro&ooav Ö’ällvdıc Klin), Komposita 
davon überhaupt nicht und das Adjektiv ronow» wie in der 
Dias nur als Beiwort der Taube (n&lea, u 63 und v 243). Das 
Wort für die Abwehrbewegung des Duckens, ntóooow, finden wir 
in eigentlicher Bedeutung nur einmal (x 304) von Vögeln; in 
übertragener Bedeutung heißt es nicht wie in der Ilias »sich 
fürchten«, sondern »betteln« (o 227, o 363). Wie in der Dias 
einmal xaranındas vorkommt (X 191 vom sich duckenden Hirsch- 
kalb), so in der Odyssee einmal xara ÖEnrn&ar ( 190 von 
den Phaiaken, die sich unter der Wucht des von Odysseus ge- 
worfenen Steines ducken). Dreimal erscheint in der Odyssee das 
Partizip nentn@s »geduckt«: £ 354, 474 und x 362 (in der 
Dias nur önonentnds B 312). Nur die Odyssee kennt rroıu.w 
»scheuchen, in Schrecken setzen« (x 298 poéves Zmroinder) und 
dıanroı&w (o 340). Das xarmproas »niedergeschlagen, bestürzt« 
von X 293 begegnet x 342 in der Form xarnpnoa», daneben 
w 432 das Adjektiv xarnpncs (s. Bechtel, Lexilogus zu Homer 
S. 188 f.); xaranintreodaı und Zxnintteodaı fehlen in der Odyssee; 
dritw »scheuchen« endlich findet sich, wie in der Ilias meistens, 
nur in der Form des Part. Praes. ärv£öuevoc (å 606 und y 42). 

Sehr bemerkenswert ist die Tatsache, daß das Wort poßos 
in der Odyssee nur ein einziges Mal vorkommt, und zwar in 
der Bedeutung >Flucht« (w 57 oi ö’£oyovro Yößov neyadvuoı 
"Axacot, nachdem Nestor ihnen V. 54 zugerufen un peöyere). Auch 
poßeiodaı und p&ßeodaı »fliehen« erscheinen pur je ein- 
Mal, z 163 und x 299; peüyeı» dagegen ist in der Odyssee so 
häufig wie in der Ilias (Versschluß oùxére gvxra n&lovro bezw. 
-ovzaı und -wyraı Ê 299 und £489 wie I 128); von seinen 
Komposita haben beide Epen 2x-, noo-, Öno-, nex- und 
ÜNEXNEOPEUYW, napapevyw nur die Odyssee u 99). Das 
Substantiv pvyý, das die Ilias nicht kennt, kommt an zwei 
Stellen, x 117 und x 306, das komponierte Adjektiv gvyorro- 
Acenos einmal, £ 213, vor; púġıç und das Adjektiv pYEnds 
fehlen der Odyssee; € 359 steht das Neutrum pö£&ıuo» für 
»Zufluchtsort«e (69%: uot páro pöfıuov elvai). Das Wort für die 
sangstvolle Flucht«, pú¢ča, kennt auch die Odyssee (È 269, 
o 438), nicht dagegen die Ableitungen gvLaxırds und repvlos. 


Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 179 


Dem Begriff des Fliehens verwandt ist der des Meidens, den 
die in beiden Epen vorkommenden Verben d4eelvw, dA&ouaı 
und dAvoxw (dAvoxatw) mit dem Kompositum Önaivoxw 
(davon das Substantiv öndAv£ıs) enthalten; ünadlevouaı hat nur 
die Odyssee einmal, o 275; die Substantiva dA&n und diewen 
nur die Ilias. 

Das eigentliche Wort für das Furcht- oder Angstgefühl ist 
in der Odyssee wie in der Ilias d&os (Gegensatz ddpoos ¢ 140, 
vgl. auch ô 825 und ı 377; y 76 ist Ydooos Gegensatz zu aldus 
y 14 und 24). Das Adjektiv ddens steht in der Odyssee nur 
einmal in der Bedeutung »schamlos« (r91 xvov ddets — ® 481); 
öetua fehlt ihr wie deiuos, deıvds und deıAödc sind häufig, 
doch letzteres nur in der Bedeutung »unglücklich«e. dw ist der 
Odysee fremd; dieuaı »verjagen« erscheint o 317, 398, v 343 
und 9 370. Nur die Odyssee kennt dıegös, das ¢ 201 (dvno 
dıeoös Bodros) »zu fürchten« heißt (s. W. Schulze, Gött. Gel.. Anz. 
1897 S. 906), « 43 (dıeo@ nodi pevyéuer) dagegen »flüchtige« (s. 
Bechtels Lexilogus S.101). Das eigentliche Verbum für »fürchten« 
ist wie in der Ilias delöw (deldıa, deldorxa); von seinen Komposita 
kennt die Odyssee nur önodeiöw; die Ableitungen dediooouaı 
und deaönuw» sind ihr fremd. Dagegen hat sie das komponierte 
Adjektiv dJeovöns »gottesfürchtig« (pıåóčewor zal opw vdos Eorl 
deovöns viermal: £ 121, 9 576, ı 176 und » 202, außerdem r 109 
und 364), das in der Ilias nicht vorkommt. rd4oßos, in der Ilias nur 
2152= 181, hat die Odyssee nicht, wohl aber einmal raoßo- 
oövn (o 342) und öfter das Verbum ragߣw, dagegen nicht 
ätaoßns oder draoßntos. dxvos und ôxvréw hat ebenfalls nur die 
Dias, á ufos und dBaußeEw (tEdnna, tapyav) sowie yny hin- 
gegen beide Epen; zapos wiederum nur die Odyssee. Je einmal 
haben beide Epen xataotvyéw »erschaudern«, das P694 absolut 
gebraucht, x 113 mit Akkusativobjekt verbunden ist. 

Wie die Verbindungen dewös aldoids te (® 22, £ 234) und 
aldeouaı xal Öeldıa (o 188) zeigen, ist der Begriff der Furcht 
auch schon im homerischen Griechisch dem der Ehrfurcht, Scham 
und Scheu nahe verwandt (s. auch oben döens). So tritt neben 
ö£os alöws (verbunden O 657.) mit dem Verbum alö£ouaı 
(aldöouaı) und den Adjektiven aldoios und dvaröns (wovon 
subst. dvaudein), sämtlich in beiden Epen vorkommend wie das 
nur auf Götter und heilige Dinge bezogene ddouaı und nét- 
Couaı (das Kompositum &rontlouaı hat nur die Odyssee ein- 
mal, € 146 Auös &nonileo uiv). Das mediale a foy óvo par: kennt 
nur die Odyssee (n 305 deloas aloyvvousrös te, o 12 und @ 323). 

12* 


180 Theodor Nissen, 


Was nun den Sitz der Furchtaffekte angeht, so treten, 
anders als in der Dias, die Organe »o&ves (ponjv), xgadin und 
ntop merklich vor dem Avuös zurück. Wo die po&ves erscheinen, 
ist die physiologische Grundbedeutung bereits verblaßt. Stellen 
von einer solchen Plastik, wie sie Z 352, X 10 und O 627 
erscheint (s. J S. 76), finden sich in der Odyssee nicht. Die 
Wendung d£doıxa xara poéva (A 555, [244 und K 538) kehrt 
w 353 wieder, und den beruhigenden Worten der Iris 2 171 
doosi, Aapdariön IIplaus, pocol unde ti rdoße entspricht ô 825 
dagosı, undE ti ndyyv perà posol Öelödı Ainv (vgl. hymn. in 
Vener. 193), Worte, mit denen Penelope vom Traumbild der 
Schwester beruhigt wird. ¢ 140 heißt es, daß Athene der Nau- 
sikaa Hdooos Evi pocol Üijxev xal &x Ö£os clero yviwv, so daß sie 
nicht wie ihre Gespielinnen vor Odysseus entflieht. Die Erholung 
von der Furcht wird als ein Aufatmen und Sammeln des uuös 
in der por» gekennzeichnet wie X 475 von der aus der Ohn- 
macht erwachenden Andromache so e 458 von dem auf Scheria 
geretteten Odysseus und w 345 von dem ohnmächtig in den 
Armen des Sohnes liegenden Laertes; zu ès poéra Bvuös åyéoðn 
ist zu vergleichen x 461 eis ő xev abus Bvuöv Evi anıjdeooı Adßnte 
(4 152 äyopoov ol Yvuös Evi orndeoow dy&odn). Mit der Wendung 
E88 xal uèv tois Önudos xoateoòyv ĝéos èr pocol inte läßt sich 
P 625 ĝéos Zuneoe dvu@ vergleichen, während das unanschauliche 
av è poeves Entolnderv (x 298) in der Ilias kein Seitenstück hat. 

Nur selten wird die xoaöin als Sitz der Furchtaffekte ge- 
nannt, und auch hier erscheint der Ilias gegenüber das Physio- 
logische verblaßt. Stellen wie N 282, X 461 und K94f. (J S. 77) 
fehlen ganz, kommt doch Herzklopfen als Furchtsymptom in 
der Odyssee überhaupt nicht vor. Die Wendung noAla ôé uoı 
xoaöin nöppvoe xiovı (ô 427, 572, x 309), die ein Gegenstück 
an Ø 551 noMa dE oi xo nöppvoe hat, bezeichnet nur allgemein 
eine innere Unruhe; das bestimmtere zoid ĝé ol xoadin nporıöcoer” 
öAedoov € 389, das in der Ilias keine Entsprechung hat, zeigt 
besonders deutlich, daß das Wort xoaöin seine physiologische 
Bedeutung fast ganz eingebüßt hat. x7o findet sich als Sitz der 
Furcht in der Odyssee überhaupt nicht; 7roo erscheint in der 
siebenmal vorkommenden Wendung Avro yovvara xal pilov ùtoo 
(ô 703, & 297, 406, x 68, 147, y 205 und w 345), die die Ilias 
nur © 114 und 425 hat, und ebenfalls siebenmal in der noch 
zu besprechenden Formel xarexidodn giov too (ô 481, 538, 
ı 256, x 198, 496, 566, u 277), die die Ilias nicht kennt; diese 
hat xarenAnyn @ilov roo T 31 (J S. 77). 


Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 181 


Häufiger als diese Organe wird der Wvuös als Sitz der 
Furcht genannt. Er erscheint wie in der Ilias bald mit xoaöin 
verbunden (Snan oe (ur) xoadin Vvuös te xeieveı o 339, z 81 und 
ꝙ 342 wie N 784) und wie diese in der Brusthöhle lokalisiert 
(ô 548f., A 152, P 68f., s. J S. 78), bald tritt er ohne merkbaren 
Bedeutungsunterschied für xgaöin ein, doch auch hier nur in 
verblaßter Bedeutung im Gegensatz etwa zu H 216 dvuös &rl 
orndeooı naraooes; dem oben erwähnten xpaöin nooridooer ÖAedoov 
€ 389 entspricht £ 219 od noré uoi Pávatov nootióoost ÖAedoov 
(vgl. xaxa (xaxöv) Öoosto Pvuós x 374 und o 154; Öooovro yag 
äiysa dou@ 2224). Wie in der Ilias bald deioe de Pvuæ (N 163, 
vgl. 623£., Q 778£.), bald deive d’5y’Ev Pvuæ (O 138) sich findet, 
so in der Odyssee deldıe Bvu® nz 306 neben deioao’ &ri Yvud 
z 331; auch die Wendung unde (oödd) te Yvuo rapßa (Tapßeis, 
taoßei) erscheint in beiden Epen: y 50 f., o 330 f. — 390 f., Ø 574. 
Verbindung von vuós mit dıyew findet sich nur y 215f., mit 
tednnevaı bezw. Yaußeiv ¢ 166, w 105, ô 638, x 63 und a 323. 

Während es bei der Darstellung der Furchtaffekte in der 
Dias notwendig und ergebnisreich war, die Tierpsychologie 
mit der Menschenpsychologie zusammen zu behandeln (s. J S. 78 
bis 82), liegt die Sache in der Odyssee wesentlich anders, schon 
weil hier die Zahl der Gleichnisse etwa nur ein Fünftel von 
der der Ilias beträgt. Gleichwohl mögen der Parallelität mit J 
zuliebe die wenigen Fälle der an Tieren geschilderten Angst 
schon hier behandelt werden. Die Besorgnis der schlaflosen 
Penelope um ihren Sohn wird ô 791f. mit der Besorgnis eines 
Löwen verglichen, der Angst bekommen hat (deioas), weil eine 
Schar von Männern ihn listig im Kreise umstellt hat. Die drei 
in der Dias vorkommenden Gleichnisse von einem in Furcht 
versetzten Löwen (A 548—555 — P 657—664, O 586—588 und 
P 109—112; s. J S. 81) sind völlig anderer Art und mit diesem 
schon deswegen unvergleichbar, weil es, wie Hermann Fränkel, 
Die hom. Gleichnisse (Göttingen 1921) S. 106 hervorhebt, das 
einzige homerische Gleichnis ist, das nur in einem Punkte 
— dem deioaa — mit der Erzählung zusammenhängt; ob wir 
deshalb freilich dem Gleichnis>zimmerer« mit Fränkel (S. 70) 
>völlige Verständnislosigkeit« vorwerfen dürfen, scheint mir 
fraglich. Die Angst eines Rehkalbes (&AAöc oder veßoös), von der 
in der Ilias mehrfach die Rede ist (X 189—192, A 243 = 929, 
X 1), ist auf der goldenen Spange des Odysseus dargestellt 
(t 228—231): ein Hund hält es gepackt, und es zappelt mit den 


182 Theodor Nissen, 


Füßen, begierig ihm zu entrinnen. Wie Rinder der Herde, die 
im Frühling die flatternde Bremse jagt, so flüchten die entsetzten 
Freier den Saal entlang, als Athene die Ägis erhebt (x 297—301); 
auch dieses ein im Homer alleinstehendes Gleichnis (H. Fränkel 
a. a. O. S. 84). Berühmt ist die Stelle x 162f,, wo Athene, die 
dem Telemach unsichtbar bleibt, von Odysseus und den Hunden 
gesehen wird; diese bellen nicht, sondern flüchten mit Gewinsel 
(xrulndun) auf die andere Seite des Gehöftes. Mit dem Schwirren 
von Vögeln, die nach allen Seiten gescheucht werden, wird in 
der orphischen Interpolation das Geräusch der Schatten ver- 
glichen, die das Eidolon des Herakles umgeben (4 605 f.), und 
die Flucht der Freier mit der der Vögel, wenn sich krumm- 
krallige und krummschnäblige Jagdfalken (alyvrıoi yauywrvyes 
üyxvioyeiioı x 302 — II 428) von den Bergen her auf sie stürzen; 
sie eilen angstvoll in die Wolken aus der Ebene, aber die Falken 
vernichten sie, ohne daß Abwehr oder Flucht möglich ist, und 
die Männer freuen sich über den Fang (x 302—306; vgl. II 582 f. 
und P 755—757, J S. 81).}) 

Indem wir nunmehr zu den physiologischen Begleit- 
erscheinungen der Furcht übergehen, beobachten wir zu- 
nächst, daß deren schwächste, der Kälteschauer (dıysiv), wie 
in der Ilias so in der Odyssee schon den bloßen Gedanken an 
ein bevorstehendes Ungemach oder Leid begleitet (J S. 82). Als 
Penelope den Gemahl nach der Wiedererkennung bittet, ihr 
nicht zu zürnen, daß sie ihn nicht beim ersten Anblick so be- 
grüßt habe, fügt sie zur Begründung hinzu, daß ihr immer der 
Övuös in der Brust geschaudert habe bei dem Gedanken, sie 
könne von einem Betrüger getäuscht werden, y 216. Höhnende 
Übertreibung ist es freilich, wenn Telemach in der Gemeinde- 
versammlung der Ithakesier sagt, die Freier schauderten davor 
(drreooiyaoı), in das Haus des Ikarios zu gehen, um um seine 
Tochter Penelope zu werben; daher kämen sie lieber in sein 
Haus, um zu schmausen und zu zechen, $ 52ff. Im fünften Ge- 
sang findet sich diynoev zweimal, um den Eindruck einer ent- 
setzenerregenden Kunde auf den Empfänger zu bezeichnen. Kalypso 
erschaudert, als sie durch Hermes den Auftrag des Zeus ver- 


1) Da J S.79 von der einzigen Stelle der Ilias geredet war, an der das 
von einem Naturlaut abgeleitete Verbum ivfer vorkommt (P66; s. auch J 
S. 90 u.), so sei hier auf das einzige Gegenstück in der Odyssee, o 162, hin- 
gewiesen: Männer und Weiber folgen ivforzes einem Adler, der in seinen 
Krallen eine weiße Gans trägt, die er aus dem Gehöft geranbt hat. 


Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 183 


nimmt, den Odysseus heimzusenden, € 116, und ebenso erschaudert 
Odysseus, als ihm Kalypso die Heimkehr in Aussicht stellt, weil 
er dahinter eine Tücke der Göttin wittert, e 171. Dagegen fehlt 
in der Odyssee die in der Ilias so häufige Verbindung von dıyeiw 
mit dem Anblick eines Geschehnisses, das ein unmittelbar gegen- 
wärtiges oder bald zu erwartendes Unheil anzeigt, ebenso xoveoös 
und xgvöes »eisig« als Beiwort der Flucht (ô 403 ist xoveoös 
Beiwort der Klage, ydos) und, wie schon oben S. 177 erwähnt, 
naxvododaı oder poiocew in übertragener Bedeutung. 

Wie in der Ilias die äußerlich sichtbare Wirkung des Kälte- 
schauers durch @xoos, fahle Blässe, bezeichnet wird (I 35, 
s. J 8.83), so verwendet die Odyssee einmal das davon ab- 
geleitete Verbum @yodw (å 529), wo Odysseus dem Schatten 
des Achilleus erzählt, daß beim Heraufklimmen in das hölzerne 
Pferd die andern Führer der Danaer geweint und gezittert 
hätten, daß er aber den Neoptolemos weder @yonoavra xoda 
xallıuov noch eine Träne von den Wangen habe wischen sehen. 
Wie in der Dias wird das Erblassen als Wechsel der Hautfarbe 
bezeichnet, und die Wendung xows Zrodnero, die P 733 von 
den Troern gebraucht wird, als die Aianten sich gegen sie 
wenden, kehrt » 412 an der eindrucksvollen Stelle wieder, wo 
es dem Odysseus gelingt, den Bogen zu spannen: urnorijgow 
Ôo’ yos yEvero u£ya, näcı Ö’äpa xows Zroanero. Auch yAwods, 
gelbgrün, findet sich als Beiwort der Furcht wie in der Ilias 
so in der Odyssee (4 43, 633, u 243, x 42, œ 450, 533), stets mit 
dem Prädikat jo. oder eldev. 

Wie in der Ilias wird auch in der Odyssee die Steigerung 
des Erschauerns, das Zittern, bisweilen als Gliederzittern 
spezialisiert (so A 527 und o 88); ein Zittern der go&ves dagegen 
(K 10, O 627; oben S. 180) kommt in der Odyssee nicht vor. Sehr 
drastisch heißt es von dem zum Kampf geführten Iros: odoxes 
ô? neoitoouéovto uéhecoiw, o 77. Schon von der Befürchtung be- 
vorstehenden Unheils wird der Ausdruck (dupıJ)zoousw gebraucht, 
von deidıa kaum verschieden und ô 820 mit ihm verbunden; hier 
sagt Penelope im Traum zu ihrer Schwester zoö ô’ (um Tele- 
mach) äugpırpousw xal deldıa, un ti nadmow!). Tröstend dagegen | 
spricht z 446 Eurymachos zur Penelope, Telemach sei ihm von 


1) Wenn Ed. Schwartz, Die Odyssee (München 1924) 8.310 die Stelle 
ô 820f. als »Dublette« zu 819 streicht, so zerstört er die schöne Steigerung 
von dövpouas zu dupırooudo xa ðslíðsa und übersieht, daß die Begründung 
V.822f. nur zu einem Verbum des Fürchtens paßt. 


184 Theodor Nissen, 


allen Männern der weitaus liebste, oùôé tí uw Dávatoyv zoou£eodaı 
ävywya čx ye uvņotńowv. Über die Freier klagt Philoitios v 215, 
daß sie nicht ödnıda Tpou£ovoı Yewv. Eine Drohung ist wie in 
Z137 Ursache des Zitterns o 88: den Iros ergreift Gliederzittern 
infolge der überaus rohen Drohworte des Antinoos. In den übrigen 
Fällen wird das Zittern durch Gesichtseindrücke veranlaßt, ent- 
weder durch den Anblick von etwas Wunderbarem wie 49, 
wo der Schatten Agamemnons dem Achilleus erzählt, wie alle 
Achaier ein Zittern ergriff, als Thetis mit den unsterblichen Meer- 
mädchen aus dem Meere stieg, ihren Sohn zu bestatten (vgl. 
T 14£f., J S. 84), oder häufiger der Anblick einer drohenden Ge- 
fahr. Beim Besteigen des hölzernen Pferdes zittern allen Danaern 
die Glieder außer dem Neoptolemos, A 527, und dem Iros zittert, 
wie vorhin erwähnt, das Fleisch an den Gliedern, als er die Stärke 
seines Gegners gewahr wird, o 77—81. Die gesteigerten Furcht- 
symptome des Zähneklapperns und Herzklopfens dagegen, für 
die sich in der Ilias fünf Beispiele finden (s. J S. 84 f.), kommen 
in der Odyssee nirgends vor. 

Häufiger hingegen als in der Ilias wird das Gefühl 
lähmender Erschlaffung mit der Formel Avro yovvara 
xal plov top bezeichnet, die die Ilias, wie schon gesagt, nur 
® 114 und 425 hat. Freilich wird nicht nur die Wirkung der 
Furcht, sondern auch die tiefster, freudiger Erregung auf diese 
Weise gekennzeichnet, und zwar bei der Wiedererkennung des 
Odysseus durch Penelope wie durch Laertes, y 205 f., œ 345f, 
Aber an den übrigen fünf Stellen handelt es sich wie in der 
Ilias um die lähmende Wirkung des Entsetzens. ô 703 ff. ist von 
dem Eindruck die Rede, den die Kunde von dem Plan der 
Freier, den Telemach bei seiner Rückkehr zu ermorden, auf 
Penelope macht; zu dem Lähmungsgefühl tritt langandauernde 
Sprachlosigkeit und das Aufsteigen der Tränen. Im fünften 
Buch wird das Entsetzen des Odysseus über den von Poseidon 
erregten Sturm und später über das Tosen der Brandung an 
der Steilküste von Scheria mit derselben Wendung gekennzeichnet, 
€ 297 und 406. x68 sind es die Drohworte des Odysseus, die 
. lähmend auf die Freier wirken, wie y 147 der Anblick der plötz- 
lich gewafineten Freier in gleicher Weise auf Odysseus. Auch 
die Stelle o 341 f. gehört hierher, wo von den Mägden, die die 
Drohung des Odysseus an die schamlose Melantho vernommen 
haben und vor ihm flüchten, gesagt wird Audev H’üno yvia Exdo- 
ins tapßoovrn. pàv yáo uw dAndEa uvdnoaodaı. Dagegen fehlen 


Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 185 


in der Odyssee die Vorstellungen des Fallens oder Geschlagen- 
werdens, mit denen die Ilias mehrfach das plötzlich eintretende 
Lähmungsgefühl bezeichnet (s. J S. 85); dafür ist ihr allein die 
Formel xarexłáoðņ ílov ijtoo eigentümlich, die in sechs von 
den sieben vorkommenden Fällen die Wirkung der Furcht vor 
bevorstehendem Unheil schildert: ô 481 »bricht das Herze dem 
Menelaos, als ihm Proteus die Fahrt nach Ägypten ankündigt, 
«256 dem Odysseus und seinen Gefährten, als der Kyklop sie 
anredet, x 198 den Gefährten, als Odysseus ihnen mitteilt, was 
er von der Warte aus auf der Insel der Kirke gesehen, x 496 
dem Odysseus, als er durch Kirke von der bevorstehenden Hades- 
fahrt hört, x 566 wiederum dem Gefährten, als ihnen Odysseus 
dieselbe Mitteilung macht, und „ 277, als sie Kirkes Warnung 
vor der Insel des Helios erfahren; nur ô 538—541 wird 
mit denselben Versen, die x 496—499 verzweifeltes Entsetzen 
malen, der schwere Kummer des Menelaos über die Nachricht 
von Agamemnons Ermordung geschildert. 

Während in der Ilias die Starrheit einer angsterfüllten 
Schar zweimal mit der Wendung zednndzes nÜte veßooi gemalt 
wird (4 243, P 29), bezeichnet in der Odyssee z&dnna entweder 
das rein bewundernde Staunen (£ 166, 168) oder die Befangen- 
heit eines Menschen, der an die Wirklichkeit dessen, was er 
sieht, nicht glauben kann (y 105 von Penelope angesichts des 
wiedererkannten Odysseus, œ 392 von Dolios und seinen Söhnen‘ 
in gleicher Veranlassung; z 12 springt Eumaios beim uner- 
warteten Anblick des Telemach zap&» von seinem Sitz auf). 
Hier wird man von einer Beimischung von Furcht kaum reden 
können; anders steht es um die Wörter Ydaußos und Yaußew, 
die je einmal ein von religiösem Furchtschauer begleitetes 
Staunen bezeichnen: y 372 ergreift alle, die es sehen, Ydußos, 
als sich Athene in Gestalt eines Seeadlers entfernt, und n 178f. 
daußnoe Telemach, als der von Athene verwandelte Odysseus 
wieder die Hütte betritt; angstvoll wendet er den Blick zur 
Seite (éréowoe BdAl’öuuara) aus Furcht, es möchte ein Gott ge- 
kommen sein. Hier finden wir also, wie mehrfach in der Ilias, 
die Unsicherheit und Scheuheit des Blicks als ein 
Symptom des Furchtgefühls (s. J S. 86). Freilich ist der Vers 
der Dias 2507 ndnınvev è Exaoros, Önn Yüyoı alniv Öledoov 
an der Stelle, wo er in der Odyssee wiederkehrt, x 43, inter- 
poliert; dagegen ist das scheue Umherblicken ein sehr charakte- 
ristischer Zug für Medon und Phemios, die, beim Freiermorde 


186 Theodor Nissen, 


von Odysseus verschont, sich am Zeusaltar niedersetzen ndrrooes 
nartaivovzz, póvov noudeyusvrw aici, y 380. Als eine noch ge- 
steigerte Äußerung der Unruhe eines Furchtsamen erscheint 
wie in der Ilias (X 15) so auch in der Odyssee das Haaraus- 
raufen: als Odysseus seinen Gefährten die bevorstehende Fahrt 
zum Hades ankündigt, bricht ihnen das Herz, sie klagen und 
raufen sich die Haare (tilAovı6 ze yaitas, x 567; vgl. auch X 77£.): 
Odysseus selber hatte, als Kirke ihm diese Eröffnung machte, 
sich weinend auf dem Lager gewälzt, x 499 (vgl. ô 541). 

Als Folge plötzlichen Schreckens wird bisweilen, wie in der 
Ilias (s. J S. 87), das Fallenlassen von Gegenständen 
genannt, die man in der Hand hält. Als die Gefährten des 
Odysseus den rauchenden Wirbel der Charybdis sehen und ihr 
Tosen hören, fallen den Geängsteten die Ruder aus den Händen 
(169 oa deiodavrrwv èx yeroðv črtať èoctuá), u 203. Derselbe 
Vers, nur mit dem Subjekt revyea statt ocruá, kehrt œ 534 
wieder, wo die Ithakesier auf den Ruf der Athene, die dem 
Kampfe Einhalt gebietet, von bleicher Furcht ergriffen werden, 
so daß die Waffen ihnen aus den Händen fallen )). 

Indem wir nunmehr zu den Abwehrbewegungen übergehen und 
zwar zunächst zu der des Duckens, stellen wir fest, daß sie wie 
in der Ilias (s. J S. 87) an dem Verhalten der Tiere ebensowohl 
beobachtet wird wie an dem der Menschen. Vor den hernieder- 
"stoßenden Jagdfalken enteilen die Vögel zzöooovoa: in die Wolken, 
x 304. Unwillkürlich ducken sich die Phaiaken, als Odysseus den 
Diskos wirft, unter der Wucht des sausenden Steines, 9 190. 
In seiner erdichteten Erzählung berichtet Odysseus, wie er, den 
Thesproten entflohen, geduckt (renınas) im Walde gelegen habe, 
€ 354; mag auch hier wie an der ähnlichen Stelle £ 474 sein 
Verhalten weniger durch Furcht als durch Vorsicht bestimmt 
sein, so ist sicher Angst die Veranlassung, wenn x 362 Medon 
geduckt unter dem Sessel liegt, oder wenn die Mägde während 
des Freiermordes drv£duera: in einem Winkel des Gemaches sitzen, 
y 4lf.. 

Daß für die stärkste unter den Ausdrucksbewegungen der 
Furcht, die Flucht, in der Odyssee soviel weniger Beispiele 
erscheinen als in der Ilias, ist in der Verschiedenheit des Stoffes 
begründet. Von der Terminologie des Fluchtbegriffes in der 


1) Nicht als Wirkung eines Angstgefühls ist es anzusehen, wenn der 
Bettler Odysseus sich vor den wilden Hunden des Eumaios hinsetzt xeodo- 
ovvn und der Stab seiner Hand entfällt, & 31. 


Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 187 


Odyssee ist oben S. 178 gesprochen. Unter den Beispielen fehlt 
die Tierwelt nicht: von der Flucht des Wildes vorm Hunde ist 
o 316 und z 231, von der Angst der Vögel vor Falken y 304 fi. 
die Rede. Unter den Beispielen aus der Menschenwelt sei die 
Flucht vor der Erscheinung einer Gottheit hervorgehoben (y 299 
Flucht der Freier vor Athene, » 57 der Achaier vor Thetis und 
den Nereiden, œw 536 der Ithakesier auf den Ruf der Athene). 
Viele Beispiele der Flucht vor Gefahren, die von Menschen oder 
von Naturgewalten drohen, finden sich natürlich in den Büchern IX 
bis XT (: 43 Kikonen, ı 236 Kyklop, x 117 Laistrygonen, x 131 
Felsen, x 269 Kirke, 4 383 Kampf, u 113, 120 Charybdis, vgl. 
auch 260); die Gefahren des Meeres werden außer A 107 auch 
noch ô 504, e 446, ¢ 170 und y 236 in Verbindung mit dem 
Begriff des Fliehens genannt. Nicht selten sind Stellen, an denen 
von Flucht aus der Heimat nach einem begangenen Totschlag 
die Rede ist (v 259, o 224, 228, 276, y 120; vgl. auch x 424); 
besonders häufig aber werden gedyw und seine Komposita mit 
Objekten allgemeinen Inhalts wie ddvarov, xñoals), xaxöınra, 
xaxóy, 5Aedoov, vnlets uao, neioao dılvos verbunden (die Stellen 
s. unten S.191 und 193). 

Häufiger als in der Ilias findet sich in der Odyssee der für 
den Furchtaffekt charakteristische Zug, daß der Geängstete den 
auf ihm lastenden Druck durch Seufzen, Schreien und 
Weinen zu erleichtern sucht (s. J S. 90), ja die Menschen der 
Odyssee sind sogar der Ilias gegenüber bisweilen geneigt, » um 
des Weinens willen zu weinen« (Geffcken a. a. O. S. 30). Stöhnend 
(otevatovıes) erwarten Odysseus und seine Gefährten in der 
Kyklopenhöhle den Morgen, ı 306; jammernd (dövgduevor) saßen 
derweile die übrigen Gefährten an den Schiffen in banger Er- 
wartung der Säumenden, : 545. Eurykleia schreit auf (xwxvoev), 
als sie von Telemachs Reiseplänen hört, und sucht ihn weh- 
klagend (dAopvpausvn) davon abzuhalten, $ 361f. Kirke schreit 
vor dem erhobenen Schwerte des Odysseus laut auf (uéya idyovoa, 
vgl. Z 468, Y 62), umfängt seine Kniee und fragt ihn, wer er 
sei, x 323f. Die von der Skylla gepackten Gefährten schreien 
IxexAnyarras) und strecken die Hände nach Odysseus aus in 
furchtbarer Todesnot, u 256ff. Weinend erheben Odysseus und 
seine Gefährten die Hände zum Zeus, als der Kyklop zwei von 
ihnen packt und verzehrt, ı 294. Als Odysseus den Gefährten 
auf der Insel der Kirke berichtet, was er von der Warte aus 
erspäht hat, weinen sie in der Erinnerung an ihre furchtbaren 


188 Theodor Nissen, 


Erlebnisse bei den Laistrygonen und den Kyklopen, x 201. 
Odysseus selber weint, als ihm von Kirke die Hadesfahrt an- 
gekündigt wird, x 496. Von den beim Besteigen des hölzernen 
Pferdes weinenden und zitternden Danaern (4 527) war schon 
öfter die Rede Nach der Landung des Telemach in Ithaka 
wird ein Herold zur Penelope vorausgesandt, damit sie nicht 
aus Angst Tränen vergieße, z 331f. 

Auch die gegenteilige, den Äußerungsdrang hemmende Wirkung 
der Furcht, das Verstummen, kommt in der Odyssee wenigstens 
einmal in gleicher Situation vor wie in der Ilias: wie die Achaier 
auf die Herausforderung Hektors, so verstummen die Phaiaken 
auf die des Odysseus ( 234 — H 92 ws paf, ol Ö’äpa náves 
dxnv Ey&vovro own). Wenn der gleiche formelhafte Vers v 320 
wiederkehrt, um die Wirkung der nachdrücklichen Rede des 
Telemach auf die Freier zu kennzeichnen, so braucht hier Furcht 
so wenig das ausschlaggebende Motiv zu sein wie z 393, wo 
die Freier auf den Vorschlag des Antinoos, man solle den Tele- 
mach in der Heimat umbringen oder es solle jeder vom eigenen 
Hause aus um Penelope werben, in Schweigen verharren. Formel- 
hafte Verse sind eben, wie sich schon öfter gezeigt hat, für die 
homerische Psychologie nur mit großer Vorsicht und unter sorg- 
fältiger Erwägung der Gesamtsituation zu verwenden. 


In der Ilias konnten wir beobachten, daß die Furcht ent- 
weder selbst als Dämon gefaßt wird oder von Göttern bewirkt 
scheint (J S. 92; vgl. auch Wilamowitz, Die Dias und Homer 
S. 107 Anm. 2). Auch in der Odyssee erscheinen ôéos und zoöuos 
durchweg als Subjektsbegriffe, als wirkende Mächte, die den 
Menschen ergreifen und festhalten; aber weit seltener als in der 
Dias erscheint eine Gottheit als Urheber der Furcht oder der 
Flucht (& d2 Zeus teonıxe&oavvos pöLav Zuois Erapoıcı xaxv Balev 
$ 268 f. — o 43T f., vgl. O 62 dvalxida pitav Evöpoas, sc. Apollon) )). 

Nicht spärlich dagegen sind Fälle, in denen unmittelbares 
Eingreifen einer Gottheit in die Geschicke der Menschen 
den Anlaß zur Furcht gibt, vor allen das der Athene. Staunen- 
des Entsetzen (áufos) ergreift den Nestor und alle Anwesen- 
den, als die Göttin, die eben noch als Mentor geredet hat, sich 
in der Gestalt eines Seeadlers entfernt, y 372, und noch in 
Nestors Gebet (V. 380—384) zittert die Furcht nach. Winselnd 


1) daooos wird erregt von Athene £ 140, vgl. v 357, von einem Dämon : 381. 


Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 189 


flüchten die Hunde des Eumaios vor ihrer Erscheinung, z 163. Als 
sie die Aigis im Saale des Odysseus erhebt, flüchten die Freier wie 
gescheuchte Rinder, y 297 f., und als sie den Ithakesiern gebietet, 
dem Kampfe Einhalt zu tun, packt diese bleiche Furcht; die Waffen 
entfallen ihren Händen und sie flüchten zur Stadt, w 533 ff. 
Die Achaier erzittern, als Thetis mit den Nereiden aufsteigt, 
den toten Achilleus zu beklagen, w 49. Ängstliches Mißtrauen 
vor der Unberechenbarkeit göttlicher Wesen finden wir zweimal 
im fünften Buch: als Kalypso dem Odysseus die Heimkehr ge- 
bietet, erschauert dieser (diynoev, e 171), weil er eine Arglist 
fürchtet, ebenso V.355, nachdem ihm Leukothea den Schleier 
überreicht hat. Oft dient die Furcht oder Scheu vor den Göttern 
als Vehikel sittlichen Verhaltens. Sie veranlaßte den Ilos von 
Ephyre, dem Odysseus kein Pfeilgift zu geben, a 263; mit dem 
Gebot Hewv ünodeloare unjvıw unterstützt Telemach seine Bitte 
an die Ithakesier, ihn gegen die Freier zu schützen, 8 66, und 
mit ähnlicher Warnung (iòs Ö’enonileo unvır) bestärkt Hermes 
die Kalypso in ihrem ungern gefaßten Entschlusse, dem Gebote 
des Zeus zu gehorchen, e 146. Durch die Mahnung di4’aiöeto, 
pepıore, coúc sucht Odysseus den Kyklopen an seine Pflicht 
gegen schutzflehende Fremdlinge zu erinnern, ı 269, wird aber 
mit trotzigem Hohn abgewiesen (V. 273ff.), was an die Antwort 
des Eurymachos an Halitherses ($ 199 ff.) erinnert. Die Freier, 
so klagt Eumaios dem Odysseus, denken an keine künftige Strafe 
(örıda, € 82, vgl. dazu v 214 où’ örıda toouéovoi deuv und p 28 
oùðè Dewv Önıv jjö&oaro von Herakles, der den Iphitos tötete, als 
er in seinem Hause zu Gast war), während doch selbst See- 
räubern starke Furcht vor ihr ins Herz fällt, 88. In seiner 
erdichteten Erzählung rühmt Odysseus an dem Ägypterkönig, 
daß er ihn gerettet habe aus Scheu vor dem Groll des Zeus 
Eeivios (E 283£.), auf den sich auch Eumaios für sein Verhalten 
gegen den Bettler beruft (Aia Eeivıov Ödeioas & 389). Als gottes- 
fürchtig (deovörs) werden der Vater der Penelope und der Seher 
Theoklymenos gerühmt (r 109, 364). 

Bei der durch Menschen gewirkten Furcht spielt die 
Angst um das eigene Leben in der Odyssee, der Ver- 
schiedenheit ihres Stoffes entsprechend, eine weit geringere Rolle 
als in der kämpfereichen Ilias; die meisten Beispiele finden sich 
in den Büchern ı, x und x. Odysseus rät den Gefährten, mit 
füchtigem Fuße vor den Kikonen zu fliehen, : 43; vor dem 
Kyklopen enteilen sie angstvoll in den Winkel der Höhle, ı 236; 


190 Theodor Nissen, 


bei seiner Anrede »bricht ihnen das Herz« aus Angst vor seiner 
tiefen Stimme und seiner Riesenhaftigkeit, ı256f. Vor der 
Laistrygonenkönigin, die so groß ist wie ein Berggipfel, er- 
schauern die Gefährten (xara ö’&orvyov» adııv), x 113. Angstvoll 
schreit Kirke vor dem gezückten Schwerte des Odysseus auf 
und umklammert flehend seine Kniee, x 323 (294 ff). Die Danaer 
zittern und weinen beim Besteigen des hölzernen Pferdes, A 526 ff. 
Furcht vor Blutrache ist das Motiv der Flucht aus der Heimat 
an den oben S. 187 angeführten Stellen; starke Furcht vor der 
Rache der Ithakesier äußert auch Laertes, œ 353f. Schlotternde 
Todesangst packt den Iros, als er zum Zweikampf mit Odysseus 
geführt wird, o 77. Bleiche Furcht ergreift die Freier, als 
Odysseus sich zu erkennen gibt, x 42, und seine drohenden 
Worte bringen alle zum Erzittern, y 61—67. Als Telemach den 
Antinoos getötet hat, springt er zurück und läßt den Speer in 
der Leiche stecken aus Besorgnis, daß ihn einer der Freier 
beim Bücken überfalle, x 95—98. Dem Odysseus selber beben 
Knie und Herz, als er die Freier gewaffnet sieht, y 147. Medon 
der Herold liegt geduckt unter einem Sessel, in eine Rindshaut 
eingewickelt, x 362, und als er mit Phemios — von dessen 
Todesangst die Verse y 330 ff. sprechen — von Odysseus in den 
Hof gewiesen ist, setzen sich beide an den Altar des Zeus und 
spähen nach allen Seiten, da sie immer noch den Tod erwarten, 
x 380. 

Auch von Tieren oder von Naturgewalten fühlen die 
Menschen der Odyssee ihr Leben bedroht (s. J S. 96). So hat 
Odysseus Angst, daß ein Dämon ein Ungeheuer aus dem Meere 
gegen ihn hetze, e 421, und als er schiffbrüchig in Scheria ge- 
landet ist, fürchtet er, wenn er im Gebüsch einschläft, die Beute 
wilder Tiere zu werden, e 473. Die Gefährten des Odysseus 
geraten in Angst, als sie die Wölfe und die Löwen der Kirke 
erblicken, und Eurylochos rät deshalb sogar zur Flucht, æ 219, 
268f. Unter den Naturgewalten spielen die Gefahren und 
Schrecken des Meeres, von denen in der Ilias nur in dem Ver- 
gleich O 624—628 die Rede ist, in der Odyssee eine Hauptrolle. 
Als die Winde aus allen vier Himmelsrichtungen die Wogen 
aufwühlen, erbeben dem Odysseus Knie und Herz, e 297 (vgl. 
auch : 72), ebenso als er die Brandung an den Klippen von 
Scheria tosen hört, e 406. (Dagegen wird von den Schiffen der 
Phaiaken gerühmt, daß sie keinerlei Gefahren des Meeres fürchten, 
ə 563). Unter den Schrecken, die den Odysseus und seine Ge- 


Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 191 


fährten auf ihren Seefahrten ängstigen, sind die Charybdis und 
die Skylla, 5» où no not åxýoror ävöges Alv£av, y 328, die größten. 
Wie sie jene tosen hören, entfallen den Händen der Geängsteten 
die Ruder, „u 203, und bei der Vorbeifahrt ergreift sie bleiche 
Furcht, u 243f. Die Skylla wagt Odysseus überhaupt nicht zu 
erwähnen, damit die Gefährten nicht aus Angst aufhören zu 
rudern, u 224, und das furchtbarste, was Odysseus auf seinen 
Fahrten hat schauen müssen, war der Anblick der von der 
Skylla gepackten Gefährten, die schreiend in schrecklicher Todes- 
not die Hände nach ihm ausstreckten, u 256 - 260. — Schließ- 
lich mag noch darauf hingewiesen werden, wie charakteristisch 
für die Rolle, die die Todesfurcht in der Odyssee spielt, die 
Häufigkeit von Wendungen ist wie dararov xal xjoas dAvEaı: 
ß 352 — e 387 (dAv£as), o 547 — t 558 (dAv£eı), x 66 (dAv£n), ähn- 
lich ô 512 (Expvye xnjoas ... nöündAvker), u 157 (N xev Alevduevoı 
davarov xal xjpa püyoıuer, vgl. o 275£.), m 447 (Beöder oùx Eor 
aitaodaı, Sc.dAvarov, cf.446 Favaror rooueeodaı), y 332 (xjoas hver) 
oder von Stellen, in denen Ydvarov und xñoa(s) als Objekte zu 
ꝓcoᷣyco und seinen Komposita erscheinen: ô 502 und o 235 (&xpvye 
xnoa), X 325 (ddvarov ... ngopöyoıoda), n 21 (èx Yavdroıo pvyóvta), 
ô 789 und o 300 (ddavarov pöyoı, vgl. ı 467), o 155 (púye xňoa). 

Nächst der Angst um das eigene Leben ruft schon die Be- 
sorgnis vor Verwundungen und Schlägen Furchtäußerungen 
hervor (s. J S. 95). Der Bettler Odysseus erklärt, er fürchte 
sich vor dem Übermut und der Gewalttätigkeit der Freier, 
o564f., und die Besorgnis, die er o 52—57 vor den Schlägen 
des Iros zu hegen vorgibt, veranlaßt den Telemach V. 62f. zu 
der Mahnung, keinen der Achaier zu fürchten, da jeder, der ihn 
schlüge, die Mehrheit gegen sich haben werde. Als später Eury- 
machos einen Schemel ergreift, um ihn nach dem Bettler zu 
werfen, setzt dieser sich zu den Knieen des Amphinomos, Eùoú- 
ayov Öeicas o 396. Auch bloße Bedrohung durch Scheltworte 


kann Ursache der Furcht sein. Eurylochos wagt nicht, bei den 


Schiffen zurückzubleiben, sondern folgt dem Odysseus zur Kirke 
aus Angst vor dessen entsetzlichem Schelten, x 447f. Vor der 
rohen Drohung des Antinoos erzittert der geängstigte Iros noch 
mehr, o 88. Die Drohworte, die Odysseus an die Melantho richtet, 
scheuchen die Mägde von dannen, o 340. Als die Freier den 
Enmaios schmähen, der den Bogen dem Odysseus bringen will, 
setzt er ihn wieder hin aus Angst vor dem Schelten der Vielen, 
p 366. 


192 Theodor Nissen, 


Von der Angst der Sklaven vor ihren Herren ist &£ 60 die 
Rede; wenn dagegen x 306 Odysseus dem Telemach vorschlägt, 
die Sklave zu prüfen, nov us võ. tlet xal deldıe Övu®, SO 
handelt es sich um Ehrfurcht (Gegensatz où» dA&yeı und druud 
V. 307). Das leitet uns zu der Beobachtung über, daß in der 
Odyssee die ethisch motivierte Furcht und Scheu eine 
viel größere Rolle spielt als in der Ilias. Besonders reich an 
Beispielen dafür ist die Nausikaadichtung des sechsten Buches. 
Die Königstochter scheut sich (aidero), dem Vater von ihrer 
Hochzeit zu sprechen, £ 68; ihre Gespielinnen, die beim Anblick 
des vor ihnen auftauchenden Odysseus entsetzt auseinanderge- 
fahren sind (¢ 138), scheuen sich trotz dem gemessenen Befehl 
ihrer Herrin näherzutreten und treiben sich gegenseitig an 
(¢ 211, vgl. Geffcken a. a. O. S. 32). Odysseus seinerseits, im An- 
staunen der Nausikaa befangen, erklärt ihr, er fürchte sich sehr 
(deidıa Ö’alvioc), ihre Knie flehend zu berühren, ¢ 168f., vor den 
Mädchen scheut er sich, sich zu waschen, vom Schmutze ent- 
stellt wie er ist, ¢ 221. Später eröffnet er, der von Athene er- 
mahnt werden mußte, ohne Furcht in den Königspalast ein- 
zutreten (n 50f.), dem Alkinoos, er habe der Nausikaa nicht 
folgen wollen aus angstvoller Scheu (deivas aloyvvóuevós te), 
daß der König darüber zürnen könne, n 305 (feine Bemerkungen 
über den aus diesen und ähnlichen Beispielen sprechenden, die 
Odyssee vor der Ilias auszeichnenden Herzenstakt bei Geficken 
a. a. O. S. 29). Nausikaa wiederum hatte erklärt, sie scheue die 
üble Nachrede der Phaiaken, wenn Odysseus ihr in die Stadt 
folge, ¢ 273 ff. —, wie anders die Scheu vor übler Nachrede, 
die dem Eurymachos zufolge die Freier zu befahren hätten, 
wenn sie weniger leicht den Bogen spannen könnten als der 
fremde Bettler (p 323 ff)! Beim Gesang des Demodokos verhüllt 
sich Odysseus aus Scheu, den Phaiaken seine Tränen sichtbar 
werden zu lassen, 9 86. Laertes hat die Eurykleia, die er wie 
eine Gattin achtete, nie berührt aus Scheu vor dem Groll seines 
Weibes, a 483. Auf die Scheu der Ithakesier vor den Umwohnen- 
den beruft sich Telemach bei seiner Bitte, ihn zu schützen, £ 65 ff. 
Bitterer Hohn dagegen ist es, wenn er dem Antinoos zuruft, er 
solle sich nur ja nicht vor Penelope oder einem der Diener scheuen 
(dZev), dem Bettler etwas zu geben (po 40O1f., vgl. auch £ 52, oben 
S. 182). Die wahre Gesinnung der Freier offenbart Eurymachos 
gegenüber dem Halitherses, wenn er sagt, die Freier fürchteten 
durchaus niemanden, auch nicht den wortreichen Telemachos, 


Dıe Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 193 


und kümmerten sich um keine Weissagung, p 199 ff. (vgl. ı 273 f£., 
oben S. 189). Der Respekt des Eumaios vor seinem Herrn ist so 
groß, daß er ihn auch in seiner Abwesenheit mit bloßem Namen 
zu nennen sich scheut, £ 145f.; Telemach anderseits erklärt, 
er scheue sich, seine Mutter gegen ihren Willen durch ein Macht- 
wort wegzuweisen, v 343. 
Auffallend häufig ist in der Odyssee, im Gegensatz zur Ilias, 
de unbestimmt oder allgemein ausgesprochene 
Ahnung von UnheiloderAngstvor Verderbenüber- 
haupt. So bricht dem Menelaos das Herz, als ihm Proteus ver- 
kündet, er müsse, ehe er die Heimat wiedersehen dürfe, nach 
Ägypten fahren, ô 481, ebenso dem Odysseus, als ihm Kalypso 
die Hadesfahrt verkündet (x 496—499 = ô 538—541, wo indes, 
wie gesagt, nicht Furcht, sondern Kummer die Ursache des 
Affektausbruches ist), und den Gefährten, als ihnen Odysseus 
diese Ankündigung mitteilt, x 566, und als sie erfahren, daß sie 
die Insel des Helios meiden sollen, u 277. Kalypso erschaudert 
vor dem Gedanken an die Zukunft, wo Odysseus nicht mehr bei 
ihr sein wird, e.116. Wie die unzähligen Scharen der Toten ihn 
umgeben, ergreift den Odysseus bleiche Furcht, Persephone 
könnte ihm das Gorgonenhaupt aus dem Hades emporsenden, 
1633 ff. Charakteristisch für diese Stimmung eines unbestimmten 
Grauens vor dem Kommenden ist die mehrfach wiederkehrende 
Wendung deloarres diedoov, so «72 (die Gefährten bergen im 
Sturm die Segel), x 130 (sie rudern von den Laistrygonen fort), 
u 244 (sie beobachten die Charybdis), oder die Verbindung des 
Verbums ödooouaı (npotiöooouaı) mit den Objekten xaxöv oder 
ölzdoov, so € 389: nachdem Odysseus zwei Nächte und zwei Tage 
auf den Wogen umhergeirrt, zolid ön ol xgadin nootdooer Öle- 
doov, oder x 374, wo Odysseus, von Kirke eingeladen, zu essen 
sich weigert, xaxa Öd’öccero Yvuös, oder besonders eindrucksvoll 
o 154, wo Odysseus nach seiner Warnung an Amphinomos diesem 
den Becher, nachdem er gespendet, zurückgibt, worauf Amphinomos 
durch den Saal zurückgeht, bekümmerten Herzens und das Haupt 
wiegend, 67 yao xaxd» Öcoero Bvuös; auch oloua, erscheint in 
dieser Bedeutung, z. B. £ 298 tæ Endunv gnl vnös, čıóuevós neo, 
åváyxņn und v 349 yóov Ö’@uLero Bvuös. Hingewiesen sei auch auf 
die Fülle der Stellen, an denen xaxdv, öAsdoov u. dgl. als Objekt 
zu divoxw, dlkouaı, peúyw und Kompp. erscheint (a 11, 18, y 175 
= ųı 489 — x 129, y 297, £ 289, 414, ı 17, 286, 455, u 216, 287, 
312, 0 47, v 368, x 67, y 238, 287). Gerade in den letzten 
Archiv für Psychologie. LII. 13 


O pe man 0a A u ab 


g pus a as aaa awa. 


= l N Enn g 


194 Th. Nissen, Die Physiologie und Psychologie der Furcht in der Odyssee. 


Büchern finden sich solche Stellen, an denen die bange Ahnung 
bevorstehenden Unheils in größerer oder geringerer Ausführlich- 
keit geschildert wird: so die bangen Erwägungen Telemachs in 
schlafloser Nacht in Lakedaimon, die der Dichter der dem Jüng- 
ling erscheinenden Athene in den Mund legt, o 10—42; so Tele- 
machs entsetztes Staunen (&yn) über die Vermessenheit des von 
Odysseus geplanten Freierkampfes, z 243ff. (vgl. y 227), so vor 
allem der Wahnsinnsanfall der Freier und die furchtbare Weis- 
sagung des Theoklymenos, v 345—357; weiter die angstvolle 
‚Erwartung der Freier, Odysseus möchte den Bogen spannen, 
py 286, und die Angst der Mägde, die während des Mordwerks 
eingeschlossen im Winkel des Gemaches saßen, wo sie nur das 
Stöhnen der Sterbenden vernahmen, y 40ff. 

An Beispielen der Furcht für andere endlich ist die 
Odyssee nicht ärmer als die Ilias (s. J S. 91), und bei der Pene- 
lope wenigstens nimmt die Äußerung gerade dieser Furcht auch 
besonders starke Formen an: als sie durch Medon von dem 
Mordplan der Freier hört, erbeben ihr die Kniee und das Herz; 
lange ist sie sprachlos, und ihre Augen füllen sich mit Tränen, 
ô 703—705. Vor der Traumerscheinung der Schwester wieder- 
holt sie ihre Besorgnis, ô 820—823; s. oben S. 183 Anm. 1. Auf 
diese Angst der Mutter um sein Leben nimmt Telemach Rück- 
sicht, indem er ihr gleich nach seiner Landung Botschaft sendet, 
z 328—332. Kirke äußert Besorgnis um Odysseus und die Seinen, 
wenn sie an der Skylla vorübermüssen, u 122f. Angst des 
Odysseus um Telemach spricht aus seiner vorwurfsvollen Frage 
an Athene, weshalb sie seine Reise nach Sparta nicht verhindert 
habe, » 417 ff., wie Telemach seinerseits ja diese Reise aus Be- 
sorgnis um den Vater unternommen hat und z 85ff. seine Be- 
fürchtung um das Schicksal des noch nicht wiedererkannten 
Bettlers, das diesem in seinem Hause widerfahren könnte, offen 
ausspricht. Erheuchelt ist die Befürchtung für das Wohlergehen 
der Freier, die Telemach zur Begründung der Waffenbergung 
äußert: damit sie nicht vom Weine erhitzt, im Streite einander 
verwundeten, t 11—13; aufrichtig aber ist das Bangen des 
Theoklymenos um das Leben der Freier, wie sie sich in seiner 
bereits erwähnten Weissagung v 351—357 kundgibt und V. 367 fi. 
als Erwiderung auf das Gelächter der Freier und den Hohn 
des Eurymachos ausdrücklich und nachdrücklich ausgesprochen 


wird. 
(Eingegangen am 4. März 1925.) 


(Aus dem psychophysischen Seminar der Universität Leipzig.) 


Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Unter- 
scheidbarkeit sukzessiver Belastungen der nämlichen 
Hautstelle. 

Auf Grund eines von E. Kraepelin 1885—1888 gewonnenen 
Versuchsmateriales 


geprüft von 
Friedrieh Noßke. 
(Mit 12 Figuren im Text.) 





Inhaltsübersicht. 


RN Seite 

Vorbemerkung ....... a e 197 

I. Der bisherige Stand des Problems . . ». 2.22 e 2.200000 197 
1. Die spezielle Versuchsbedingung des Vergleiches zweier Reizungen 

der nämlichen Hautstelle . . . 2 2 0 2 2 . 197 


2. Der Versuch, nur ein bestimmtes Endorgan des Drucksinnes 
unter den natürlichen Bedingungen zu reizen, und die tatsäch- 
liche räumliche Ausbreitung des Reizes . ». 2... 00... 201 

3. Zeitliche Änderungen des Reizes und die Nachreizung beim (plötz- 
lichen) Aufhören des Druckes sowie der Versuch ihrer Beseitigung 
durch >Ausschleichen« des Reizes . . . » 22020000. 205 

4. Die Bedeutung der anatomisch bedingten Komplikation der Reiz- 
wirkung für die Untersuchung der Gültigkeit des Weberschen 


Gesetzes bei Unterschiedsschwellen . . . - 2» 2220.20. 207 
5. Die Einfügung der Kraepelinschen Versuche in diese Problem- 
BLELUDREN: s 0.4: 216 
IL Die Maßmethodik im allgemeinen. 219 
1. Die Anlage der Versuchsreihen nach der Methode der Minimal- 
Enderungen:. s w 23 45 Si eier 219 
a) Der statistische Wert des Materialb.. soe 219 


b) Der vollständige Auf- und Abstieg in relativ gleichen Stufen 221 
c) Die systematische Variation von Einflüssen der Raum- und 
Zeitlage 5... 3 a 


196 


Friedrich Noßke, 


2. Hauptgesichtspunkte unserer rechnerischen Verarbeitung des 


Materials a 2. San eh 
a) Die Ersetzung der üblichen Verrechnung einzelner Elementar- 
reihen der Minimaländerungsmethode durch das allgemeine 
Verfahren der Konstanzmethode. 
b) Zur Frage der rechnerischen Elimination der Einflüsse der 
Raum- und Zeitlage. . » . 2 2 2 0 0 Er een. 
c) Die vorläufige Beibehaltung der gegebenen Gruppierung des 
Berechnungsmateriala . - . . s. 2 2 2 2 2 0. 
d) Der Aufbau der Kollektivgegenstände (Hauptgruppen) der 


von uns berechneten Repräsentanten . . . » 2. i 


e) Konkrete Beispiele zweier Hauptgruppen . . .* . 2... 


III. Graphische Darstellung (mit einer vorläufigen Prüfung des Weber- 
schen Gesetzes) . . . 220 0 0 0 nn 0 er een. 


IV. Die Resultate der Berechnung. . . » : 2» 2 22 ren. 


1. Die verschiedenen Berechnungsweisen von Repräsentanten der 


Urteilskurven nach der Konstanzmethode der 3 Hauptfälle 


2. Die Behandlung der Vollreihen nach dem Prinzip des arith- 


metischen Mittels . . 2 200 s s e s os eooo sooo 2 


a) Die Müllersche Schwelle 2S, die mittleren Fehler M,, M, 
und M und der Äquivalenzwert . . . s. 2 22200. 
b) Die mittlere Variation und die Prüfung des Gaußschen Ge- 
setzes für die Urteilshänfigkeiten g' und k’ . ....... 


. Anwendungen des Müller-Urbanschen Gewichtsverfahrens . . . 


a) Allgemeine Gesichtspunkte. . . . 2 2 220 2.0. 
b) Der Einfluß der Abrundung bei auftretender 5 als dritte 
Dezimalstelle . . . 2: 2 2 0 0 0 0 Er 0 er een 
c) Verstellung der Urbauschen Skala bei ansymmetrischem Aui- 
bau der Reihe 4. 5-0: au et: En er ale 3 
d) Kontrolle der Rechnung durch die Richsche »Checking-Tabelle« 
e) Durchführung der Rechnung nach dem Urbanschen Verfahren 
f) Vergleich der Werte des Gesamtstreunngsmaßes M nach den 
Wirthschen Formeln mit denen nach dem Müller-Urbanschen 
Gewichtsverfahren. . . . s.. s soe 0 vi wen 
g) Das Verhältnis von M, zu M, und von M zu M, und M, 


. Die Berechnung nach dem Prinzip des Zentralwertes. . . .. 


a) Die Müllersche Schwelle nach dem Zentralwertsprinzip und 
der dazugehörige Äquivalenzwert.. . . . 2 2 2220000 
b) Der empirische wahrscheinliche Fehler des Äquivalenzwertes 


V. Die Abschätzung der Einflüsse der Zeit- und Raumlage des pog 


und Vergleichsreizes und der Übung . . . . . 2 2.2.2.2. ° 


VI. Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die Unteredhiedi- 


schwelle, das Streuungsmaß und den Schätzungsfehler . . .... i 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 197 


Vorbemerkung. 


Herr Geheimrat Prof. Dr. Emil Kraepelin in München 
hat im April 1921 dem psychophysischen Seminar der Leipziger 
Universität ein sehr reiches und wertvolles Beobachtungsmaterial 
über die Unterschiedsschwelle für Druckreize anvertraut, das er 
schon vor nunmehr 36 Jahren abgeleitet, aber bisher noch nicht 
verwertet hatte. Herr Professor Wirth hat mir die Bearbeitung 
dieses Materials übertragen und von Herrn Geheimrat Kraepeliä 
die freundliche Erlaubnis erwirkt, daß ich das Ergebnis dieser 
Untersuchung selbst veröffentlichen darf, wofür ich auch an 
dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Da die große 
Menge der Einzelversuche in allen Untergruppen die Anwendung 
einer ganzen Anzahl statistischer Gesichtspunkte gestattete, 
meine berufliche Tätigkeit mir aber für diese wissenschaftliche 
Arbeit immer nur eine beschränkte Zeit frei ließ, so bin ich 
allerdings erst jetzt nach mehr als drei Jahren zu einem ge- 
wissen Abschluß gekommen und kann im folgenden einstweilen 
wenigstens die psychologisch wichtigsten Ergebnisse vorlegen, 
die sich auf die Unterschiedsempfindlichkeit und den Schätzungs- 
fehler und speziell auf die Frage ihrer Übereinstimmung mit 
dem Weberschen Gesetze beziehen.*) 


I. Der bisherige Stand des Problems. 


1. Die spezielle Versuchsbedingung des Vergleiches zweier 
Reizungen- der nämlichen Hautstelle. 


Wenn ein Beobachtungsmaterial so lange Zeit unbenützt 
blieb, so legt man sich bei der späteren Absicht zu seiner Ver- 
öffentlichung -vor allem die Frage vor, ob es nicht vielleicht in- 
zwischen durch neuere Arbeiten nach besseren Methoden über- 
holt worden sei. Für Kraepelins Untersuchung kann diese 
Frage mit gutem Gewissen verneint werden. Sie bildet eine 


*) Anm. des Herausgebers: Wie aus den Einlaufsdaten am Schlusse 
zu sehen ist, lag mir diese Bearbeitung des Kraepelinschen Materiales 
schon druckfertig vor, als die von mir baldmöglichst im vorigen Bande 
8.137 veröffentlichte neue Untersuchung von Herrn H. Schriever und die 
ebenda S.399 erschienene Abhandlung von Herrn R. Pauli und A. Wenzl 
über das Webersche Gesetz bei mir einging. Die Arbeit aus meinem Seminar 
ist also von jenen Beiträgen des Münchener Instituts völlig unabhängig. Sie 
bedarf aber auch nach jenen neuen Versuchen Schrievers keiner Revision, 
da sie sich in dem Streit zwischen Hansen und Gatti-Kiesow von 
Anfang an auf die Seite der letzteren stellte, deren Nachweis des Weberschen 
Gesetzes von Schriever und Pauli bestätigt wurde. W. Wirth. 


198 Friedrich Noßke, 


wertvolle Ergänzung unserer Kenntnis von der Gültigkeit des 
Weberschen Gesetzes für die Unterschiedsschwelle des Druck- 
sinnes, deren Diskussion nach längerer Pause gerade jetzt durch 
neue, teilweise einander widersprechende Beobachtungen der 
Schulen M. v. Freys und F. Kiesows (s. u.) wieder einmal 
aktuell geworden ist. Denn Kraepelin hat sehr umfangreiche 
und sorgfältig gruppierte Versuche mit denjenigen Versuchs- 
bedingungen angestellt, unter denen schon E. H.W eber 
bei seiner erstmaligen kurzen Überprüfung des 
Problems die besten Resultate erhalten hatte, 
d. h. Vergleichungen zweier sukzessiver Belastungen der näm- 
lichen, vorher und in einer Reizpause zwischen ihnen völlig un- 
belasteten Hautstelle. Erst jene neuesten Untersuchungen sind 
wenigstens im wesentlichen ebenfalls wieder zu diesen Versuchs- 
bedingungen zurückgekehrt, nachdem man sie in der Zwischen- 
zeit aus rein technischen Gründen verlassen hatte. Freilich hat 
Kraepelin die Gewichte noch mittelst einer unten noch näher 
erläuterten Tragvorrichtung freihändig auf die Haut auf- 
gesetzt*), die er inzwischen schon in seiner eigenen Veröffentlichung 
der ebenfalls hiermit ausgeführten Messungen der Reizschwelle 
des Drucksinnes!) beschrieben und abgebildet hat. Dagegen 
wurden in den späteren Untersuchungen von Stratton und 
Kobylecky (s. unten), auf welche sich die Angaben der Lehr- 
bücher über die Unterschiedsschwelle des Drucksinns heute vor 
allem beziehen, eine von Stratton eingeführte und von Wundt 
modifizierte »Druckwage« benützt, bei welcher ein vorher un- 
mittelbar über der Reizstelle ausbalanziertes Gewicht plötzlich 
sich selbst überlassen wird und nunmehr eine unter ihm an- 
gebrachte Holz- oder Beinpelotte ohne Anfangsgeschwindigkeit 
in die Haut eindrücken kann. — Indessen ist es bei dem einzigen 
Reizhebel dieser Modelle nicht möglich, der ersten Reizung nach 
einer völlig reizfreien Pause von wenigen Sekunden einen anderen 
Vergleichsdruck auf die nämliche Hautstelle nachzuschicken, 
sondern es wäre hierzu erst eine Auswechselung der Hebel- 


*) Anm. des Herausgebers: Bei der Führung durch die Kraepelins 
Leitung unterstehende »Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie« in 
München auf dem letzten Psychologenkongreß sahen wir seinen neuen 
Apparat zur exakten elektromagnetischen Aufsetzung solcher Gewichts- 
träger auf eine sehr genau variierbare Hautstelle. 

1) Emil Kraepelin, Zur Kenntnis des Drucksinnes der Haut. Psycho- 
logische Arbeiten 1922 Bd.7 Heft3 8.413. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 199 


belastungen einzuschieben. Aus diesem rein technischen Grunde 
haben sich aber eben Stratton und. später ebenso Kobylecky 
bei ihren Druckwageversuchen von jenen einfachsten Weberschen 
Bedingungen weg auf die Ableitung sogenannter Veränderungs- 
schwellen abdrängen lassen, da mit dem einzigen Reizhebel 
und je einem der beiden Balanzierungshebel Zunahme bezw. Ab- 
nahme des konstanten Anfangsdruckes in der Tat sehr bequem 


erreichbar sind. Man braucht aber nur an den zeitlichen Ab-. 


lauf der Erregung beim äußeren Tastsinn zu denken, die, zumal 
bei enger begrenzten Reizflächen, nach dem Maximum der Reiz- 


wirkung in einer von der Intensität abhängigen Kurve rasch ab- 


sinkt), und man wird die relative Schwelle für die Veränderung 
eines bis dahin stets mehrere Sekunden konstant einwirkenden 
Druckes nicht ohne weiteres auf die von Kraepelin fest- 
gehaltene Grundbedingung der Messung eigentlicher Unter- 


schiedsschwellen übertragen wollen, bei welcher die beiden. 


miteinander zu vergleichenden Empfindungen in ähnlicher Weise 
von dem Niveau der Reizlosigkeit oder von »Null« emporsteigen, 
soweit rasch aufeinanderfolgende Erregungen der nämlichen 
Reizstelle überhaupt in ihrem Ablauf übereinstimmen. 


will man zwei zeitlich getrennte Druckreize nach dem 
Prinzip der Druckwage darbieten, ohne die Pause durch hin- 
reichend sorgfältige Neueinstellungen des Apparates unregel- 
mäßig oder zu lang zu machen, so bleibt nur die Verwendung 
zweier Reizhebel übrig. Tatsächlich sind denn auch mit 
zwei Wagebalken, an denen die zunächst ausbalanzierten und 
dann einseitig ziehenden Gewichte elektromagnetisch festgehalten 
und dann nacheinander losgelassen wurden, von E. Weis am 
Wundtschen Institute 1912 eigentliche Unterschiedsschwellen 
nach der Methode der drei Hauptfälle abgeleitet und der mittlere 
Streuungsbereich (der mittlere Fehler der Urteilsschwankung) 
hierbei für ca. 80g etwa o der Reizstufe gleichbefunden 
worden. Aber diese Versuche sind fürs erste selbst noch nicht 


. 





1) Über den Einfluß der Intensität und der Reizfläche auf den Abfall 
der Erregung vergleiche auch M. v. Frey und Agnes Goldmann, 
Der zeitliche Verlauf der Einstellung bei den Druckempfindungen (Zeitschr. 
f. Biol. 1915 Bd.65 8.5). Der Nachteil schwacher Reizstufen gegenüber 
den stärkeren dürfte dadurch noch vermehrt werden, daß die Pelotte bei 
den ersteren weniger tief einsinkt. 


200 Friedrich Noßke, 


publiziert 3). Vor allem aber wich hier die Reizgebung eben- 
falls aus rein technischen Gründen wiederum in andrer Richtung 
nicht unwesentlich von den Kraepelinschen Vergleichs- 
bedingungen ab. Denn zwei mit festen Gewichten präparierte 
Reizhebel können nicht auf die nämliche, sondern höchstens auf 
nah benachbarte Hautstellen eingestellt werden, z. B. wie hier, 
der eine auf die erste Phalange des Mittelfingers, der andere 
auf die des Zeigefingers. Erst kürzlich hat aber Karl Hansen 
bei Vorversuchen mit der Vergleichung sukzessiver Reizung 
zweier verschiedener Hautstellen durch je einen v. Freyschen 
elektromagnetischen Reizhebel wieder gefunden), daß hierbei 
die Vergleichung »häufig durch den verschiedenartigen Empfin- 
dungscharakter« der gewählten Hautstellen erschwert ist, wie 
auch schon v. Frey früher hervorhob 3). 

Auch die Bestimmungen der Unterschiedsschwellen für zwei 
durch eine Pause getrennte, je von Null aufsteigende Druck- 
reize, die G. F. Arps bei seiner Arbeit über den Anstieg der 
Druckempfindung *) nebenbei für die konstanten Gewichte 134 g 
und 58 g ableitete, deren Dauer zwischen 0,013 Sek. und 
1,385 Sek. variierte, beziehen sich auf die Vergleichung dieses 
zeitlich variierten Druckes auf die erste Phalange des Fingers 
mit dem zeitlich konstanten Vergleichsdruck auf die entsprechende 
Stelle des Nachbarfingers, wobei die Raum- und Zeitlage des 
Vergleichsreizes systematisch abwechselte°). Die relative Unter- 
schiedsschwelle blieb bei Arps übrigens nicht nur im Mittel 
für die u Gruppen mit verschiedenen Hauptgewichten 


konstant ca. 2 sondern dieser Wert gilt in jeder Gruppe auch 


1) Die nämlichen Apparate sind inzwischen in der bereits veröffentlichten 
Untersuchung von W. Schulte über die >gegenseitige Beeinflussung von 
Druckempfindungen< (Wundt, Psychol. Studien 1917 Bd. 10 S.339 [347£.]) 
verwendet und dort sowie in dem Apparatenkatalog der zum E. Zimmer- 
mann kurz beschrieben worden. 

2) K. Hansen, Die Unterschiedsschwelle des Drucksinns bei möglichst 
verhinderter Reizausbreitung, Zeitschr. f. Biologie 1921 Bd.73 S. 167 (171). 
8) v. Frey, Ergebnisse der Physiologie 1913 Bd. 13 S. 104 (121). 

4) Wundt, Psychologische Studien 1909 Bd.4 S.431 (464). 

5) Nur der Hebel für den Vergleichsreiz gehörte hier zu der Wundt- 
schen Druckwage, welche zur zeitlichen Abgrenzung des Druckes mit einer 
pneumatischen Vorrichtung verbunden war; der konstante Druck von ver- 
schiedener Dauer erfolgte mittels des Wirthschen »Ventilreizhebels«, bei 
welchem der elektromagnetisch ausgelöste Druck von einer Feder herstammt 
(vgl. auch Schulte a. a. O. S. 342f.). 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 201 


für alle die sehr verschiedenen Vergleichsgewichte der einzelnen 
Reizzeiten jenes ganzen Variationsbereiches, also zwischen 25 g 
und 182 g, wobei außerdem auch noch die Dauer des zeitlich 
konstanten Reizes in der einen Hauptgruppe doppelt so lang 
war wie in der andern (1 Sek. und ?/, Sek.). 


2. Der Versuch, nur ein bestimmtes Endorgan des Druck- 
sinnes unter den natürlichen Bedingungen zu reizen, und 
die tatsächliche räumliche Ausbreitung des Reizes. 


Erst bei den neuesten Versuchen der Schulen v. Freys in 
Würzburg und Kiesows in Turin wurden, wie gesagt, wieder 
selbständig aufeinanderfolgende Empfindungen verglichen, die 
beide von der nämlichen Hautstelle herstammten. Dabei kam 
freilich zugleich der Fortschritt in der histologischen Kenntnis 
der Endapparate des Tastsinns seit den Zeiten E. H. Webers 
darin, zur Geltung, daß man beim zweiten Reiz nicht nur un- 
gefähr die nämliche mittlere Lage zu treffen suchte wie beim 
ersten, auch nicht nur einfach genau den nämlichen anatomischen 
Bereich überhaupt. Es sollten vielmehr beidemal die nämlichen 
Endorgane des Drucksinnes maximal gereizt werden. 

In dem haarfreien Bezirk kommen als solche Organe 
bekanntlich die Meißnerschen Tastkörperchen in den 
Papillen der Cutie in Betracht, für welche ein Druck auf 
die Epidermis natürlich dann am meisten zur Geltung kommt, 
wenn er unmittelbar über ihnen ausgeübt wird. 

Wenn die drückende Fläche starr und im Verhältnis zum 
Abstand zwischen jenen Endorganen relativ groß ist, so wird 
freilich jene maximale Wirkung beider Vergleichsreize auf die 
nämlichen Endorgane im wesentlichen schon dadurch garantiert 
sein, daß eine beliebige anatomische Lage überhaupt möglichst 
genau festgehalten wird, weil dann stets für den größten Teil 
der beteiligten Endorgane, abgesehen vom Grenzbezirk, die näm- 
lichen mechanischen Reizbedingungen erhalten bleiben. Dies 
gilt also z.B. für die Versuchsbedingungen bei Stratton mit 


Druck auf eine ca. 5 qcm große Fläche der Fingerbeere, an der 


von einem so großen Objekt ca. 300 Tastkörperchen zugleich 
getroffen werden. Nur wenn die Objektfläche im Verhältnis zur 
Dichte der Tastpunkte sehr klein ist, ist man zur Erreichung 
des Maximums der Reizwirkung auf einen sogenannten »Druck- 


= æ maon op a ~g — 


2 EYE q aa sen a 0... 


he A a 


~. qu Da 
FE 


202 Friedrich Noßke, 


punkt« festgelegt, welcher eben deshalb als Minimum der Reiz- 
schwelle für einen räumlich möglichst eng begrenzten Tastreiz 
(ein v. Freysches Reizhaar) definiert werden kann, wobei die 
absolute Empfindlichkeit der einzelnen Druckpunkte innerhalb 
ziemlicher Grenzen schwankt (nach v. Frey!) wie 1:8). 

Vom Druck überhaupt getroffen wird aber auch bei kleinster 
Objektfläche eine ganze Anzahl nächstbenachbarter Endorgane, 
auch wenn die Endorgane sehr weit auseinanderstehen, weil 
sich ein Teil des Drucks durch die Haut unter deren gleich- 
zeitiger Deformation auf die Umgebung fortpflanzt. 
Auf das Studium dieser Ausbreitung des Druckes in die Um- 
gebung haben v. Frey und seine Schüler bis auf den heutigen 
Tag besonders viel Sorgfalt verwendet, so daß keine Unter- 
suchung über die Druckempfindung an der Diskussion dieses 
Faktors vorbeigehen darf. Hierbei kommen Druck- und 
Zugkomponenten für die Hautorgane in der nämlichen 
Weise in Betracht, wie v. Frey und seine Schüler wiederholt 
festgestellt?) und neuerdings unter besonderen experimentellen 
Bedingungen bestätigt haben, indem »nur die Größe, nicht die 
Richtung der in ihr gesetzten Spannungsunterschiede für die Er- 
regung maßgebend ist«. Da sich aber die gleichzeitigen Er- 
regungen nahe benachbarter Endorgane in dem Intensitätsefiekt 
der resultierenden Druckempfindung summieren, so wird ein 
Druckreiz im allgemeinen eine größere Empfin- 
dungsstärke erzielen, als es beim Fehlen von End- 
organen in der deformierten Umgebung der Fall 
wäre. Zur Analyse dieser Verhältnisse hat man im Würz- 
burger physiologischen Institut namentlich auch den patho- 
logischen Ausfall?) benachbarter Endorgane beigezogen, ferner 
eine experimentelle Exstirpation mit der Glühnadel*) sowie die 
vorübergehende Anästhetisierung durch Vereisung’) und in 
neuester Zeit durch »Vertaubung« eines gewissen Ringbereiches 
der umgebenden Haut für einige Stunden mittelst eines daselbst 


1) Leipziger Abhandlungen 1896 S.235 (zit. nach Nagel, Physiologie 
des Menschen Bd. 3 S. 660). 

2) v. Frey, Bericht der Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften 1897, 
Bd.49 8.462, Zeitschrift für Biologie 1913 Bd.63 S.353 und ein am 
20. November 1924 gehaltener Vortrag über die neuesten Ergebnisse. 

3) Vgl. Hansen a. a. O. 

4) Ebenda. 

56) Hacker, Zeitschr. f. Biologie Bd. 61 S. 253. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 203 


von H. Rein!) ausgebildeten elektrosmotischen Verfahrens. Die 
Größe des Gebietes, von dessen Mitte aus trotz seiner eigenen 
völligen Anästhesie noch Druckempfindungen in der Nachbar- 
schaft ausgelöst werden können, zeigt die Weite der Reiz- 
ausbreitung. Die Erhöhung der Reizschwelle über die normale 
hinaus aber läßt ungefähr abschätzen, einen wie großen Bruch- 
teil die empfindlich gebliebene Randzone im Normalfalle zu der 
Totalwirkung beizutragen vermag. 

v. Frey berichtet in seinem Vortrage über die wichtige 


Frage: »Gibt es tiefe Druckempfindung ?« vom 20. November 
1924 in der Sitzung der physikalisch-medizinischen Gesell- 


schaft in Würzburg (dessen Fahnen er Herrn Prof. Wirth 
freundlichst überließ), daß eine derartige Vertaubung von 20 qem 
der Haut auf der Streckseite des Oberschenkels z. B. die 
Schwellen auf das hundertfache, eine solche von 60 bis 70 qem 
aufs tausendfache des Normalen emporsteigen ließ, wobei sich 
schließlich Empfindungen in weit entfernten Hautgebieten für 
die Ebenmerklichkeit eines auf die Mitte des vertaubten Ge- 
bietes ausgeübten Druckes als entscheidend erwiesen. 

Freilich hat sich dadurch die Ausbreitung der Reizung auf 
benachbarte Endorgane in der Richtung des Druckes 
selbst senkrecht zur Haut, also in die Tiefe, als weniger 
bedeutsam erwiesen, als man früher namentlich im Anschluß an 
die Beobachtungen und Versuche Heads angenommen hatte, 
welcher die bei pathologischem oder künstlichem Ausschluß der 
Hautempfindlichkeit verbliebenen Restwirkungen der »tieferen 
Sensibilität« zuschried. Wenigstens scheint es, daß die Reiz- 
schwellen für solche Empfindungen, die durch Druck auf un- 
empfindlich gewordene Haut bei normaler Erregbarkeit des 
unter ihr liegenden Gewebes ausgelöst werden, aus den gleich- 
zeitigen Haut empfindungen entfernter, funktionsfähig gebliebener 
Teile abgeleitet werden können. v. Frey nimmt aber an, daß 
auch bei einem stärkeren, normal weit übermerklichen Druck 
auf die Haut keine eigentlichen »tiefen Druckempfindungen« 
aus dem Muskelgewebe entstehen, sondern daß die Nerven- 
endigungen der Muskeln nur bei der Muskelspannung eine 
spezifische Empfindung, eben die Kraftempfindung, entstehen 
lassen, bei der aber nicht wie bei der Haut Druck und Zug 
zu verwechseln sind. Auch der Zeitverlauf ist ein andrer und 


1) H. Rein, Zeitschr. f. Biologie 1924 Bd.81 8.125, 141. 


204 Friedrich Noßke, 


vor allem die Unterschiedsschwelle viel feiner. Freilich drückt 
sich v. Frey in jenem Vortrage hinsichtlich der völligen Ab- 
leugnung der tieferen Sensibilität doch vorsichtig aus, weil alle 
Beobachtungen über sie sozusagen durch »den Schleier der 
Druckempfindung der Haut gesehen werden müßten«. 

Die Annahme, daß solche über weite Hautgebiete sich er- 
streckende Ausstrahlungen auf Grund der Erfahrung auf einen 
ganz anderen Ort, also eventuell auch auf tiefer liegende Ge- 
webe, bezogen werden können, enthält nach sonstigen psycho- 
logischen Analogien nicht die mindeste Schwierigkeit. Immerhin 
bleibt es nicht ausgeschlossen, daß bei hinreichend starken 
Reizen die von tieferen Geweben aus zweifellos erregbaren 
Empfindungen hinzutreten, also außer reflektorisch erzeugten 
Spannungsempfindungen und dumpfen gemeingefühlsartigen Kom- 
ponenten namentlich Schmerzempfindungen. Auch diese werden 
ja in der nämlichen Weise wie jene >sekundären« Haut- 
empfindungen aus entfernteren Hautregionen in der resultierenden 
Vorstellung auf bestimmte objektive Druckwerte bezogen 
werden können. Beteiligen sich doch auch schon an der in der 
Haut ausgelösten Erregung mit zunehmender Größe der »spezi- 
fischen« (d. h. auf die Flächeneinheit 1 gem in Atmosphären be- 
rechneten) Belastungen von einer gewissen Schmerzschwelle an 
immer deutlicher Schmerzempfindungen. Hierbei spielt aller- 
dings außer der Lage des Reizes zu dem spezifischen Schmerz- 
punkte namentlich auch die Form der Reize eine große Rolle, 
da eine scharfe Spitze eines harten Gegenstandes schon bei viel 
geringerer spezifischer Belastung von einem beliebigen Punkte 
aus zu tieferen Schmerznervenfasern vorzudringen vermag als 
ein breites und außen abgerundetes Objekt, das durch den Wider- 
stand der Haut von einer solchen Schmerzreizung abgehalten 
werden kann). Jedenfalls dürfen wir auch bei völlig passiver 
Druckwahrnehmung die Gesamtmasse der Empfindungen und 
assoziativ erzeugten Vorstellungen, welche einen bestimmten 
objektiven Druck vergegenwärtigen lassen, nicht einfach mit 
den aus der Haut stammenden Druckempfindungen identifizieren, 
die ohnedies nicht die feinsten Kriterien darstellen, nach denen 
wir uns über die Kräfte der Außenwelt orientieren. 


1) Nach Kiesow sind diese Ausstrahlungen auf andere Arten von 
Organen an Ort und Stelle zumal bei geringeren Intensitäten von der Druck- 
empfindung kaum zu unterscheiden. Vgl. Archiv f. d. gesamte Psychologie 
1924 Bd. 47 S. 11. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 205 


Sobald aber der Druck auf ein durch eine Unterlage ge- 
stütztes Glied dessen Trägheitsmoment im ganzen zu überwinden 
vermag, beginnen von den Auflagerungspunkten ?) aus neue Neben- 
empfindungen auszustrahlen. Bei gleichzeitiger Stützung z.B. 
durch Eingipsung setzen sie mit einer besonderen Breite ein, 
und bei Verwendung eines elastischen Polsters, das z. B. bei 
Kobyleckys Druck auf die Dorsalseite des ersten Finger- 
gliedes unter diesem lag, erweitern sich diese seitlichen Kom- 
ponenten mit dem tieferen Einsinken des Gliedes bei der Druck- 
zunahme. Dazu können aber dann auch bereits ähnliche Ge- 


lenkempfindungen angedeutet sein, wie sie in voller Stärke bei 
der freihändigen Haltung des Fingers in dieser Lage als Kom- 


ponente einer eigentlichen Hebungsschätzung des Gewichtes 
hervortreten. Ja, es können sogar schwache Kraftempfindungen 
aus den Muskeln hinzukommen, weil auch bei passiver Schätzung 
des Druckes durch die Forderung einer möglichst konstanten 
Lage gewisse Haltungsspannungen beteiligt sind, welche bei 
Überwindung des Trägheitsmomentes des Gliedes ganz von selbst 
eine ähnliche Modifikation erleiden wie bei einer minimalen 
Hebung, zumal der allgemeine Tonus der Muskulatur durch 
Druckreize namentlich von den Gelenken aus reflektorisch be- 
einflußt werden kann. Bei einem Druck auf den Finger, ins- 
besondere auf die äußerste. Phalange, wie in Kraepelins 
Versuchen, werden alle diese Nebenerscheinungen schon bei 
einer Belastung mit 50 g entscheidenden Einfluß gewinnen 
können. | 

Alle diese Verhältnisse sind natürlich so sehr von den 
speziellen anatomischen Verhältnissen der be- 
lasteten Gewebe abhängig, daß hinsichtlich der Unter- 
schiedsschwelle immer nur Belastungen der nämlichen und 
dabei gleichartig gestützten Körperstelle durch 
ein Objekt von gleicherForm und Ausdehnung mit- 
einander genau vergleichbar sind. 


3. Zeitliche Änderungen des Reizes und die Nachreizung 
beim (plötzlichen) Aufhören des Druckes sowie der Versuch 
ihrer Beseitigung durch „Ausschleichen“ des Reizes. 


Dabei ist die konkrete Empfindungsintensität auch ganz von 
den Zeitverhältnissen der Druckwirkung abhängig, wobei 


2) Vgl. auch Kiesow, Archiv f. d. ges. Psychologie 1924 Bd. 47 S. 11. 


206 Friedrich Noßke, 


außer der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Erregungsverlaufes 
unter konstanten Reizbedingungen hier noch rein mechanische 
Verschiebungen der Gewebe einschließlich der Gewebsflüssigkeit 
‚hinzukommen. Auch das letztere Moment hat v. Frey in dem 
genannten Vortrag neulich wieder ausdrücklich mit erwähnt. 
An der von Kraepelin benutzten Stelle mit ihrer feinen Haut 
ist z. B. die Änderung der Durchblutung mit dem tieferen Ein- 
sinken des drückenden Stiftes bei Zunahme der Belastung leicht 
an der sich immer weiter . ausbreitenden Eır'blassung der Haut 
zu verfolgen. 

Da ferner die mechanische Ausbreitung des Effektes nicht 
nur in der Kompression des Gewebes, sondern teilweise auch in 
seiner Abdrängung von der festeren Unterlage, also im Zug be- 
steht, der nach dem bereits Gesagten bei der Haut ganz ähnlich 
wie Druck wirkt (wie z.B. an den Seitenflächen des Fingers 
bei seiner Quetschung zwischen Gewichtsbelastung und Unter- 
lage), so kommt beim Aufhören des Objektdruckes umgekehrt 
ein Zug und teilweise auch ein positiver Druck des Gewebes 
zur Geltung, der besonders bei plötzlichem Nachlassen des 
Druckes deutlich empfunden wird. Wegen dieser positiven Be- 
standteile ist daher die Entlastung sogar bei isolierter Dar- 
bietung, als Veränderung eines bereits vorhandenen Druckes, 
von vornherein gar nicht so leicht von der Druckvermehrung 
zu unterscheiden und wird erst allmählich als solche erkannt, 
nachdem dieser charakteristische Empfindungskomplex erst durch 
die Erfahrung sozusagen geeicht worden ist!). 

Bei kurzdauernden Reizen aber, die von Null aufsteigen und 
nach etwa 1 Sek. dahin zurückkehren, wird die positive Emp- 
findung der Entlastung jedenfalls mit den früher einsetzenden 
Empfindungen beim Beginn des Druckes in ein Ganzes ver- 
schmelzen. Dessen komplexe Bedingtheit kommt jedoch für die 
Vergleichung zweier sukzessiver Reizungen der nämlichen Stelle 
oder anatomisch analoger Stellen wegen der Ähnlichkeit der 
beiderseitigen Struktur kaum störend in Betracht. Dagegen 
könnte der in der Schule von v. Frey übliche Versuch, den 
sekundären Prozeß durch allmähliches Ausschleichen des elektro- 
magnetisch erzeugten Druckes (mittels einer allmählichen Zu- 
nahme des Widerstandes) für die Empfindung möglichst aus- 


_ 1) Vgl. Kobylecky, Wundts psychol. Studien 1996 Bd. 1 9.219 (302): 
»Über die Wahrnehmbarkeit plötzlicher Druckänderungen.« 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 207 


zuschalten!), viel eher zu einer Unvergleichbarkeit der sukzessiven 
Erregungen führen, da die allmählich absinkende Empfindung 
in sich selbst viel kompliziertere Ablaufsbedingungen besitzt. 
Es kann daher auch das freihändige Abheben bei Kraepelin 
nicht als Nachteil betrachtet werden. 


-4. Die Bedeutung der anatomisch bedingten Komplikation 
der Reizwirkung für die Untersuchung der Gültigkeit des 
Weberschen Gesetzes bei Unterschiedsschwellen. 


Nach den allgemeinen Erfahrungen über das Webersche 
Gesetz für ebenmerkliche Reizunterschiede dürfte dasselbe gerade 
da am reinsten hervortreten, wo eine in sich einheitliche Emp- 
findung hinsichtlich ihrer Gesamtintensität dem äußeren Reiz 
möglichst proportional folgt, was direkt freilich nur durch 
die Vergleichung übermerklicher Unterschiede einigermaßen 
festgestellt werden kann. So gelingt es nach J. Merkel z.B. 
auf dem Gebiete der Schallintensität oder auch der Gewichts- 
vergleichung durch Hebung, diearithmetische Mitte zwischen 
zwei Reizen aus der unmittelbaren Abschätzung nach der Emp- 
findung einigermaßen richtig herauszufinden, wie es nur bei 
guter Proportionalität der Empfindungsintensität zum äußeren 
Reize möglich ist®). In beiden Empfindungsgebieten nimmt aber 
der ebenmerkliche Unterschied nach oben hin in einer gewissen 
Proportionalität zu dem bereits vorhandenen Reize in der Tat 
immer mehr zu. 


Die bereits vorhandene Empfindungsmasse stellt also gerade 
da, wo sie durch die Methode der übermerklichen Abstufungen 
als zum Reiz proportional erkannt wird, der Leistung, einen 
minimalen Unterschied überhaupt mit subjektiver Sicherheit 
zu erfassen, eine zu ihr selbst und hiermit auch zum Reiz pro- 
portionale psychologische Störung entgegen, die mindestens zum 
Teil in einer Angleichung zwischen beiden Vergleichsempfindungen 
bestehen kann?). Dies hindert nicht, daß der bei größeren Reiz- 
differenzen eben erkannte Unterschied auf den höheren Reizstufen 
srichtig« größer erscheint als bei den kleineren. Besonders klar 


1) Vgl. M.v. Frey u. R.Pauli, Zeitschr. f. Biologie 1912 Bd. 59 
S. 501, ferner ebenda M.v.Frey u. Agnes Goldmann Bd. 65 S. 185 und 
Hansen S. 170. 

2) Wundt, Grundzüge der physiol. Psychol. 1,6 S. 655 u. 677. 

3) Vgl. Wirth, Experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene 
1908 S. 155 und 202 ff. 


208 Friedrich Noßke, 


ergibt sich diese psychologische Bedeutung des Web er schen 
Gesetzes für Unterschiedsschwellen reizproportionaler Be- 
wußtseinsinhalte wohl bei der Wahrnehmung räumlicher 
Extensionen und zwar namentlich beim Augenmaß, bei dem 
die >richtige«, d. h. reizproportionale Auffassung der Strecken 
in weitem Umfange zweifellos feststeht. und doch bei einheit- 
licher Auffassung der Vergleichsstrecken die Unterschiedsschwelle 
proportional zum Reize anwächst. (Auch wechselseitige psycho- 
logische Assimilationen, wie sie vorhin als Komponente der 
Unterschiedsschwelle angenommen wurden, sind im Gebiete der 
optischen Raumauffassung besonders geläufig.) Diese im Wundt- 
schen Kreise entstandene psychologische Auffassung vom Weber- 
schen Gesetz läßt dessen Gültigkeit auch für die Unterschieds- 
schwelle des Drucksinnes unter den einfachsten Bedingungen 
gerade da am reinsten erwarten, wo die Reizwirkung zur ob- 
jektiven Belastung proportional zunimmt. Diese Erwartung ist 
denn auch in neuester Zeit wieder von Kiesow besonders klar 
zum Ausdruck gebracht worden !). Sobald also mit der Zunahme 
der Belastung infolge .einer immer weiteren Ausbreitung der 
Druckwirkung zu der ungefähr proportionalen Erregungssteigerung 
bestimmter Tastorgane neue Elemente aus anderen Nachbar- 
organen über die Schwelle treten und die Gesamtintensität der 
Empfindung infolge eines beliebig zentral lokalisiert anzunehmen- 
den Summationsprozesses noch mehr, d.h. überpropor- 
tional steigern, wird man eine relative Verfeinerung der Unter- 
schiedsschwelle erwarten dürfen, d.h. eine Verringerung des 
Bruchteiles, welchen die Unterschiedsschwelle nach dem Weber- 
schen Gesetze vom Vergleichsreiz ausmacht. Tatsächlich fand 
sich denn auch bei Kobylecky eine solche schon von Stratton 
beobachtete Verfeinerung der relativen Veränderungsschwelle 
nach oben hin, indem jener Bruchteil im unteren Gebiete bis 


200 g etwa im mittleren bis 500 g etwa und erst im 


1 
15 20 


obersten Gebiet zwischen 500 und 1000 g etwa = ausmachte. 


Die absoluten Maße der genannten Grenzen entsprechen wegen 

1 
der tachen Verbreiterung der Strattonschen, etwa gam 
großen Druckfläche spezifischen Belastungen von ca. 710 g/qcm, 


1) Zar Frage der Gültigkeit des Weberschen Gesetzes im Gebiete 
der Tastempfindungen. Archiv f. d. gesamte Psychologie 1924 Bd. 47 S. 9 ff. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 209 


1780 g/gem und 3690 g/qcm und decken hiermit ziemlich genau 
den Bereich, auf den sich auch die neueren unten genannten 
Versuche Hansens mit v. Frey an einem einzelnen Druck- 
punkte beziehen. 

Vor längerer Zeit hat A.H. Kinnaman auch für aktive 
Gewichtshebungen ein ganz ähnliches Sinken der relativen 
Unterschiedsschwelle (US.) nach oben hin auf eine solche Aus- 
breitung der Empfindungen zurückgeführt, da mit der Zunahme 
des zu hebenden Gewichtes Erregungen aus immer ferner liegen- 
den Körperteilen die Schwelle überschreiten. Bei Hebung mittelst 
eines um den Finger gelegten Bandes treten hierbei zu der ur- 
sprünglich allein entscheidenden Hautdruckempfindung der Hand 
zunächst innere Tastempfindungen der Hand, dann solche des 
Armes, weiterhin Empfindungen des Rumpfes, der Beine und 
zuletzt namentlich auch der Fußsohlen hinzu’). Allerdings be- 
tonte Kinnaman zugleich mit Recht, daß diese zunehmende 
Empfindungsmasse, ähnlich wie es oben von dem homogenen 
Quantum aus einer konstanten Organgruppe gesagt wurde, da- 
neben auch wieder Störungswirkungen hinzubringe. Namentlich 
läßt ihre Ausbreitung innerhalb eines größeren Raumgebietes 
die Beiträge aus dem einen Teil über denjenigen des anderen 
nach dem einfachen Konkurrenzprinzip der Ablenkung leichter 
zurücktreten. 

Mit der Annahme, daß das Webersche Gesetz auch beim 
Drucksinn gerade unter den einfachsten Bedingungen der Reiz- 
steigerung gelte, hielt nun Karl Hansen seine Beobachtungen 
über die Unterschiedsschwelle »unter möglichstem Ausschluß der 
extensiven Reizänderungen« unvereinbar. Seine Reduktion der 
gesamten Empfindungsmasse auf die von einem einzigen Druck- 
punkt herrührende Erregung gelang bei der Versuchsperson 
v. Frey inmitten eines zirka 440 qcm großen Bereiches der 
Haut des Oberschenkels, an welcher die Dichte der Druckpunkte 
an und für sich schon auf T des normalen Wertes reduziert 
war. Innerhalb eines kleinen Teiles dieses Feldes von 12 qcm 
wurden auch noch alle Tastorgane bis auf einen einzigen Druck- 


1) A.J.Kinnaman, A comparison of judgments for weights lifted 
with the hand and foot. Amer. Journ. of Psychol. XII, 1901, S. 240 (249 ff.) 
(ca. 9000 Einzelversuche unter Leitung von Bryan, Sanford und Hall). 
Vgl. Referat von Wirth, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane 
Bd. 27, 1902, S. 247. 

Archiv für Psychologie. LII. 14 


210 Friedrich Noßke, 


punkt vom Reizwert 1 g/mm mit einer glühenden Nadel zer- 
stört. Die vorübergehende Anästhesierung dieses einzigen Punktes 
durch subkutane Injektion von Novokain mit Adrenalin ergab 
zugleich, daß der elektromagnetische Reizhebel bis zu einem 
Druck von ca. 8,5 g auf 0,2 qmm für die nächstbenachbarten 
Druckpunkte in der Tat unwirksam blieb. Unter diesen Be- 
dingungen stieg nun die absolute US. für zwei sukzessive Reizungen 
dieses einzigen Druckpunktes mit 6 Sek. Zwischenzeit von ihrem 
Wert 1,98 g für 3,52 g Vergleichsreiz bis höchstens 2,35 g für 
8,07 g, während sie für 9,73 g sogar wieder auf 2,2 g zurück- 
ging. Die relative US. sank daher von 56 °/, auf 32 °/, bezw. 
zuletzt auf 23°/,, so daß an Stelle des Weberschen Gesetzes 
eher eine Annäherung an die Konstanz der absoluten Schwelle 
galt. Hansen führt nun S.188f. näher aus, wie er sich das 
Webersche Gesetz unter den von Stratton und Kobylecky 
eingehaltenen Bedingungen theoretisch ableitbar denkt. Die 
absolute US. sinkt nämlich bei gleicher spezifischer Belastung 
in dem Maße, als mit der räumlichen Ausbreitung der Reiz- 
wirkung immer neue Empfindungszuwüchse hinzukommen. Bei 
den niederen Stufen der (spezifischen) Belastung wächst jedoch 
das Ausbreitungsgebiet mit der Reizzunahme stärker an als bei 
den höheren, weil bei diesen die Haut bereits mehr auf die 
knöcherne Unterlage niedergedrückt ist. Dadurch bleibt also 
dann die absolute US. für die höheren Reizstufen der von ihm 
beobachteten Vergröberung bei völligem Ausschluß der Er- 
regungsausbreitung näher, d. h. die absolute US. bleibt nach 
oben hin nicht mehr konstant, sondern nimmt zu, was eine ge- 
wisse Ähnlichkeit mit der relativen Konstanz aufweisen kann. 

So gewiß sich aber auf diese Weise in der Tat eine ent- 
fernte Ähnlichkeit mit dem Weberschen Gesetz konstruieren 
läßt, so wenig braucht umgekehrt die Annahme, daß das Webersche 
Gesetz von einer hinreichend deutlichen Gesamtintensität an 
aufwärts auch ohne weitere Ausbreitung des Reizes auf andere 
Organe gelten würde, mit den von v. Frey und Hansen be- 
obachteten Tatsachen in Widerspruch zu stehen. Die »spe- 
zifische Belastung« ist überhaupt ein ganz abstrakter Begriff, 
aus dessen Betrag noch gar nichts für die Empfindungs- 
wirkung zu entnehmen ist, nachdem einmal die nächstbenach- 
barten Erregungen zur Gesamtintensität einer einheitlichen Druck- 


1) a. a. O. S. 179 ff. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 211 


empfindung zusammenwirken !,. Eben deshalb kann aber auch 
aus der Zuordnung eines absoluten Schwellenwertes zu einer 
bestimmten spezifischen Belastung noch gar nichts für oder 
wider das Webersche Gesetz abgeleitet werden, weil diesem 
Gesetze im untersten Gebiete der Empfindungs- 
intensität bekanntlich eine entgegengesetzte Ge- 
setzmäßigkeit entgegenwirkt, nämlich die Zu- 
nahme der Schwelle mit der Schwierigkeit der 
selbständigen Erfassung der Vergleichsreize im 
ganzen. Bei übermerklichen Reizen tritt diese Wirkung erst 
bei einer Ablenkung oder Verteilung der Aufmerksamkeit auf 
ein über den Reiz hinausgreifendes Gebiet ein. Bei schwachen, 
der Schwelle nahestehenden Empfindungen gilt jedoch die Zu- 
nahme der relativen Schwelle mit der Unklarheit der Vergleichs- 
reize auch schon bei größtmöglicher willkürlicher Konzentration 
der Aufmerksamkeit. Die von v. Frey und Hansen be- 
obachtete Haupterscheinung, daß die US. bei gleicher spezi- 
fischer Belastung mit der Einengung der Reiz- 
fläche außerordentlich stark zunahm und bei der 
untersten Stufe Hansens sogar 50°), ausmachte, zeigt 
uns mit Sicherheit also nur dies eine, daß die allgemeinen 
psychologischen Vergleichsbedingungen hier be- 
reits sehr ungünstige waren. Sie sanken offenbar tief 
unter das Optimum der sogenannten »Kardinalwertec nach 
Fechner im Gebiete der mittleren Intensitäten, die als Ganzes 
am besten zu erfassen und zu vergleichen sind. Gerade des- 
halb muß aber natürlich von diesen, nur das anderthalbfache 
der Reizschwelle betragenden Vergleichsreizen nach oben hin 
die relative Schwelle rasch sinken, weil der Reiz immer besser 
zu erfassen ist, wobei er sich der Schmerzgrenze nähert. Ja, 
man hätte wohl auch ohne die hier ausgeschaltete Reizausbreitung 
eine noch etwas stärkere Abnahme der relativen Schwelle nach 
oben hin erwarten dürfen, wenn die allgemeinen Vergleichs- 
bedingungen etwas günstiger gewesen wären. Abgesehen von 
der anormalen Gesamtverfassung der Reizstelle kann hieran auch 


i) Nach früheren Versuchen von Hansen über die subjektiv äquivalenten 
Druckgrößen bei verschiedener Reizfläche äußert sich diese Summations- 
wirkung darin, daß hierbei nicht die gleiche spezifische Belastung äquivalent 
erscheint. Die absolute Belastung wächst vielmehr viel langsamer als die 
Fläche, annähernd proportional dem Durchmesser. Zeitschr. f. 
Biol. 1913 Bd. 62 S. 536. 

14 * 


212 Friedrich Noßke, 


die lange Zwischenzeit zwischen Haupt- und Vergleichsreiz 
schuld gewesen sein, die sich auch in einem überaus großen und 
ebenfalls nach unten hin stark zunehmenden Vergleichsfehler 
äußerte. Es erschien nämlich 1,5 g dem darauffolgenden Reiz 
3,52 g gleich, während 7,5 g nur um 2,2g überschätzt wurde. 
Bei der letzten Verfeinerung der Schwelle von 32°/, auf 22%, 
für 9,7 g dürften aber nicht nur bereits tatsächliche Ausbreitungen 
der Reizwirkung schuld gewesen sein, da ja nach Hansens 
eigenen Angaben bei jenen Anästhesierungskontrollen 8,8 g be- 
reits sicher von den Nachbarorganen wahrgenommen wurden, 
sondern es dürfte auch die Ausbreitung auf andere Arten von 


Organen der nämlichen Hautpunkte, insbesondere die Annäherung 
an die Schmerzgrenze, eine Rolle gespielt haben. Denn Hansen 


gibt selbst an, daß bei 8,5 g schon zeitweilig »>juckende und 
stechende Empfindungen« auftraten. Für den Normalreiz 7,5 g 
gingen aber die subjektiv gleichen Vergleichsreize vereinzelt 
sogar bis 14 g empor. 

Diese relativ hohe spezifische Belastung von 14 x 500 g’cm 
— 7000 g/cm, die dort auf eine Fläche von nur 0,2 mm ein- 
wirkte, bleibt aber natürlich trotz ihrer Schmerzhaftigkeit hin- 
sichtlich des intensiven Quantums derDruckempfindung 
weit hinter der geringsten absoluten Belastung von 200 g 
zurück, für welche z.B. noch Kobylecky bei seiner 140 mal 


größeren Reizfläche von şs qcm die relative Unterschiedsschwelle 


2 
32 


: 1 ; i ' ; 
bereits nur noch also dreimal so fein wie bei Hansens 


15’ 
stärkstem Reiz, fand 1). Die von unserer Aufmerksamkeit leicht 
erfaßbaren Intensitäten der Druckempfindung, die uns als mittel 
oder stark erscheinen, sind also im allgemeinen erst die Resul- 
tanten der Erregung vieler benachbarter Organe, zumal bei der 
für unsere Auffassung besonders maßgebenden Betastung mittelst 
der Fingerbeeren. Nur dann also, wenn Hansen auch für eine 
solche nur durch größere Reizflächen erreichbare Gesamtinten- 


1) Es kommt ferner noch hinzu, daß sehr kleine Reizflächen gerade in 
der nächsten Nähe der Druckpunkte ihre zufälligen örtlichen Schwankungen 
in ziemlich große Intensitätsschwankungen der Empfindung umsetzen, die 
von dem Unsicherheitsgebiet der Urteile, also einer Hauptkomponente der 
US., nicht abgetrennt werden können. Die unwillkürlichen Bewegungen 
des Beobachters lassen auch bei mechanischer Reizauslösung und Ein- 
gipsung des gereizten Körperteils diese Ursache der Vergrößerung der 
Schwelle bei möglichst punktuellen Reizen kaum völlig verschwinden. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 213 


sität unter experimenteller Einschränkung der Erregung auf 
eine bestimmte Organgruppe eine ungefähre Konstanz der ab- 
soluten Schwelle gefunden hätte, wäre unter sonst 
gleichen psychologischen Bedingungen das Webersche 
Gesetz für den Drucksinn durch eine andere Regel zu ersetzen. 
Hier dürfte aber das Ergebnis eines solchen Experimentes ganz 
anders ausfallen. Jedenfalls haben wir nach Kiesow?) vor- 
läufig keinen Grund, die Beibehaltung des nämlichen Bruch- 
teils der relativen Veränderungsschwelle innerhalb eines zu- 
sammenhängenden Intensitätsbereiches bei Stratton und 
Kobylecky auf eine Änderung der Ausbreitungsbedingungen 
mit der Reizstärke zurückzuführen, sondern das Webersche Ge- 
setz ist bei gleicher Weite der zweifellosen Reiz- 
ausbreitung sogar am reinsten zu erwarten. 

Gerade die Tendenz der relativen US. bei den höheren 
Reizstufen zu sinken, spricht in Übereinstimmung mit der von 
v. Frey betonten fortgesetzten Zunahme der Reizausbreitung 
dafür, daß bei konstanter Ausbreitung mit proportional zu- 
nehmender Erregung aller bereits beteiligten Endorgane das 
Webersche Gesetz gilt. Der Versuch, aus der Beobachtung von 
Reizen minimaler Ausdehnung etwas über die Unterschieds- 
schwelle der subjektiven Gesamtwirkung bei gleicher spezifischer 
Belastung, aber wesentlich größerer Reizfläche entscheiden zu 
wollen, ohne die besonderen psychologischen Bedingungen in Be- 
tracht zu ziehen, bildet geradezu einen extremen Fall der 
»atomistischen<« Verallgemeinerung des psychischen Effektes ob- 
jektiver Reizelemente ohne Rücksicht auf das Ganze 
des psychophysischen Effektes, die in neuester Zeit 
insbesondere von F. Krueger?) als methodischer Fehler be- 
kämpft worden ist. 


Berücksichtigt man die tatsächlichen Werte der Unterschieds- 
schwellen bei den von Stratton und Kobylecky benützten 
größeren Reizflächen, so scheitert überhaupt der oben einstweilen 
als rein formal denkbar bezeichnete VersuchHansens vollständig, 
das Webersche Gesetz bei jenen Reizflächen mit der Annahme 
in Einklang zu bringen, daß die Reizzuwüchse, die zu ebenmerk- 
lichen Erregungszuwüchsen einzelner Tastorgane erforderlich 


1) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 47 S. 11. 

2) Krüger, Über Entwicklungspsychologie, ihre sachliche und ge- 
schichtliche Notwendigkeit (Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, 1. Heft), 
Leipzig 1915, S. 64. 


214 Friedrich Noßke, 


sind, für alle Reizstufen annähernd konstant bleiben. Bei der 
geringen Variation der Reizstufen, auf welche sich Hansens 
Versuche mit dem isoliertem Druckpunkt wegen der Schmerz- 
schwelle beschränken mußten (mittlerer Vergleichsreiz 3,5g bis 
9,7g), blieb ja die beobachtete Annäherung an die absolute 
Konstanz der US. der relativen Konstanz noch sehr nahe (50°|, 
bis 20°/,). Sobald aber die Schmerzschwelle bei größerer Reiz- 
fläche die Reizschwelle der Druckempfindung immer mehr über- 
steigt, bedeutet die dann tatsächlich beobachtete Annäherung 
an die relative Konstanz eine viel stärkere Abnahme der 
absoluten US. nach unten hin. Wo z. B. ein Bereich der 
absoluten Belastung von ca.10 bis 500g verwendbar bleibt, wird 
oben eine US. von ca 25g, unten aber nur ca. 1,5g zu finden sein. 
Bei einer absoluten Konstanz dürfte man dagegen ein Gewicht 
von 10g nicht schon von 11,5g, sondern erst von 35g unter- 
scheiden können. Da nun bei dem Druck auf die Dorsal- 
seite des Fingers die Ausbreitung des Reizes bei 
den höchsten Gewichten durch die Knochenunter- 
lage mit der weiteren Zunahme tatsächlich nicht 
mehr wesentlich gesteigert werden kann, so müßte 
nachHansendieserReizzuwachsvon2ögdemjenigen 
Zuwachs am nächsten kommen, der bei seiner An- 
nahme einer ungefähren absoluten Konstanz der 
US. ohne Änderung der beteiligten Tastorgane auch 
für die unteren Reizstufen nötig wäre, um ohne 
die hier sich tatsächlich erweiternde Ausbreitung 
desReizes merklich zu werden. Die ganze Verfeinerung 
der US. bei der Reizstufe 10g von 25g auf 1,5g müßte also 
dann von dieser Veränderung der Reizausbreitung mit der Be- 
lastungsänderung herrühren. Man mag aber den Einfluß der 
Miterregung der nicht direkt komprimierten Tastelemente mit 
v.Frey noch so hoch einschätzen, so wird man ihr doch kaum 
eine solche 15- bis 20fache Verfeinerung der US. für die Resul- 
tante der Summation zumuten wollen. 

Je mehr Zunahme der räumlichen Ausbreitung des Reizes 
man aber auch noch der obersten Reizstufe 500g als Effekt 
ihrer weiteren Steigerung zugestehen wollte, um so mehr würde 
der Reizzuwachs, derbeiKonstanzderbeteiligtenOrgan- 
gruppe bei 500g eben merklich wäre, den hier tatsächlich 
beobachteten übersteigen. Eine um so stärkere Verfeinerung müßte 
also dann umgekehrt in der unteren Region (bei 10g) von der 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 215 


hier ungestörten Veränderung des Ausbreitungsgebietes ge- 
leistet werden. Kurz, Hansen kommt nicht darum herum, der 
relativ stärkeren Verschiebung des Ausbreitungsgebietes bei 
Änderungen schwacher Belastungen die ganze Abnahme der 
überaus hohen absoluten Schwelle der obersten Region bis zu 
ihrem in den untersten Regionen beobachteten Minimalwert zur 
Last zu legen, wodurch sich diese Hypothese ganz von selbst 
widerlegt. Der Zuwachs, den die Empfindungsintensität bei einer 
eben merklichen Reizsteigerung infolge derkleinenErweiterung 
des Ausbreitungsgebietes nach dem nämlichen Summationsprinzip 
erlangt, das schon die Hauptmasse der Empfindung aus den direkt 
gedrückten Tastorganen einschließlich der bereits vorhandenen 
Miterregung der Nachbarschaft zustande kommen ließ, dürfte 
in Wirklichkeit nur sehr gering sein. Dieser minimale Zuwachs 
tritt aber hinter der Gesamtmasse so stark zurück, daß er auf 
die Schwelle überhaupt kaum einen wesentlichen Einfluß er- 
langen kann. 

Nun hat aber Kiesows Schüler Gatti in seinen schon 
oben genannten Versuchen mit sukzessiver Reizung der näm- 
lichen Hautstelle das Weber sche Gesetz sogar für die US. 
jener untersten Region der Belastungen feststellen können, 
die bei möglichster Einschränkung einer schmerzlosen Reizung 
auf einen einzigen Druckpunkt nicht überschritten wird. Nach 
einer ersten Prüfung!) im haarlosen Bezirk der Volarseite des 
linken Handgelenkes mit ca. 12—44 Druckpunkten auf 1qem 
hat Kiesow die Untersuchung noch einmal an einer and2ren 
Stelle mit wesentlich geringerer Dichte der Druckpunkte (2—14 
pro qem) wiederholen lassen °) (am linken Arm, unweit der Ellen- 
beuge nach der Beseitigung der Haare, wo die Druckpunkte fast 
durchweg Haarpunkte sind), nachdem ihm in der Zwischenzeit 
jene Versuche von Hansen mit v. Frey bekannt geworden 
waren. Das Ergebnis mit Reizhaaren von ca. 2 mm Radius 
bis zur spezifischen Belastung von 3 g/qmm und mit ca. : 


1) F. Kiesow, Über taktile Unterschiedsempfindlichkeit bei sukzessiver 
Reizung einzelner Empfindungsorgane. Archiv f. d. ges. Psychol. 1922 Bd. 48 
8. 11. 

2) F.Kiesow, Zur Frage nach der Gültigkeit des Weberschen Ge- 
setzes im Gebiete der Tastempfindungen. Archiv f. d. ges. Psychol. 47, 1 u.2, 
1924, S. 1 ff. 


216 Friedrich Noßke, 


und Smm Radius bis zu 8g/qmm blieb das nämliche, indem 


die US. annäherndkonstant ca. : des Reizes ausmachte. 


Offenbar sind also schon bei seinen oberen Stufen die Vergleichs- 
bedingungen etwas günstiger gewesen als bei Hansens oberster 
Stufe mit der relativen US. z 
Nähe der Schwelle ziemlich gleichartig. Dies mag freilich, ab- 
gesehen von der geringeren Zwischenzeit von 3 Sek., mit der 
vollständigeren Wissentlichkeit des Verfahrens 
zusammenhängen, da hier nämlich der Beobachter Gat ti selbst 
die Reizhaare mittelst einer Lupe auf die bequem erreichbare 
Stelle des linken Armes aufsetzte. Nur für die unterste Stufe 
1g/mm gelang es Gatti überhaupt nicht, zu einwandfreien 
Werten zu gelangen, so daß also wenigstens hier die US. die 
von Hansen durchweg beobachtete Erhöhung gezeigt haben 
dürfte. Aber selbst, wenn sich bei völlig unwissentlichem Ver- 
fahren und ohne gleichzeitige optische Konzentration auf die 
Reizstelle diese Konstanz der relativen US.nicht aufrechterhalten 
ließe, so wäre nach dem vorher Gesagten hieraus gar nichts gegen 
die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes bei direkter Reizung 
einer ganzen Gruppe von benachbarten Tastorganen mit ihrem 
voluminöseren Empfindungseffekt zu schließen, weil eben hierbei 
ganzanderepsychologische Auffassungs- und Vergleichsbedingungen 
vorliegen. | 

Dabei ist alles Bisherige mit der Voraussetzung im Einklang, 
daß die Empfindung einzelner Tastorgane etwa direkt proportional 
zum Druck zunimmt. Die Verhältnisse werden aber natürlich 
der Annahme der absoluten Konstanz der US. für die einzelnen 
Organe noch ungünstiger, wenn man schon für die physiologische 
Erregung selbst ein allmähliches Zurückbleiben hinter der vollen 
Proportionalität zum Reiz annimmt, wie es bei den stark adap- 
tationsfähigen Tastorganen zweifellos in einem gewissen Umfange 
der Fall sein wird. 


und sie blieben hier bis in der 


5. Die Einfügung der Kraepelinschen Versuche in diese 
Problemstellungen. 


Die Versuche Kraepelins passen auch insofern gut in den 
Rahmen dieser neueren Untersuchungen, als auch bei ihnen die 
Fläche der selbständig einander folgenden Vergleichsreize 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 217 


eng begrenzt war. Die beiden Vergleichsgewichte bestanden 
nämlich bei allen 5 Normalstufen 0,1 g, 0,5 g, 50 g und 500g 
injezweitrichterförmigen, untenspitzzulaufenden 
Gefäßen, welche mit teilweise zusammengegossenen Schrot- 
körnern auf die gewünschte Schwere aufgefüllt wurden. Herr 
Professor Kraepelin hatte die Güte, uns diese noch wohl er- 
haltenen Apparate zuzusenden, so daß wir sie genau beschreiben 
können. Die Gefäße standen nach Größe und Schwere zu 
dem Gesamtgewicht der einzelnen Stufen in einem gewissen Ver- 
hältnis und waren im allgemeinen genau 5 desselben. Die 
kleinsten waren flacher, die größeren schlanker, mit weniger als 
30° Öffnungswinkel. Bis zur 4. Stufe waren sie aus Pergament- 
papier geklebt, für 500 g bestanden sie aus zwei genau gedrehten 
Messingtrichtern. Die freihändige Aufsetzung auf die Mitte des 
Nagelgliedes des rechten Mittelfingers der Versuchsperson durch 
den Experimentator geschah mittelst eines mit Handgriff 
versehenen Metallrings von ebenfalls angepaßter Größe, 
der bei den drei leichtesten Trichterarten unmittelbar deren Mantel 
erfaßte, die schwersten Papiertrichter und die Messinggefäße aber 
an einem an ihnen befestigten bezw. angelöteten Ring aus 
Pappe bezw. Metall emporhob. Wie die ganze Bauart der 
Trichter war aber auch die kleine Angriffsfläche an 
ihrer unteren Spitze nicht absolut konstant, sondern 
entsprechend dem zu erwartenden Weberschen Gesetz etwas 
der relativen Konstanz angenähert, wenn auch die spezi- 
fische Belastung nicht entfernt konstant bleiben sollte, sondern 
insgesamt um das ca. 400-fache zunahm. Es sollte nur durch 
eine gewisse Verbreiterung der abgestumpften Trichterspitze 
mit der zunehmenden Reizstufe die Qualität der resultie- 
renden Totalempfindungen nicht allzu sehr ver- 
ändert, insbesondere bei den größeren Gewichten nicht zu 
schmerzhaft werden. In die Spitzen der Papierdüten waren 
Stücke von Stecknadeln senkrecht eingenäht, die an ihrem 
inneren, nach oben gekehrten Ende zu einem Ringe umgebogen 
waren und ihren Knopf der Haut zukehrten. Nur der kleinste 
Trichter von 6 mm Höhe für 0,1 g lief in einen glatten Quer- 
schnitt einer feinen Ndel von ca.0,3 mm Durchmesser aus. Die 
Stecknadelköpfe für 0,5 g bis 50 g waren Kugelabschnitte von 
etwas verschiedenem Krümmungsmaß und ca. 1,2, 1,5, 1,4 mm 
größter Breite. Bei beiden Vergleichstrichtern differierte diese 


218 Friedrich Noßke, 


um etwa 0,05 bis 0,1 mm. Die stärker abgeplatteten Messing- 
köpfe an dem unteren Ende der beiden Metalltrichter waren 
1,98 und 1,82 mm breit. Die kleinen Unterschiede zwischen 
Normal- und Vergleichsfläche mögen immerhin etwas zur allge- 
meinen Variation beigetragen haben. 

Da die Druckverhältnisse an den einzelnen Punkten der Haut- 
fläche, die nach dem vollen Einsinken der Trichter mit der Spitze 
in Berührung kamen, bei der verschiedenen Krümmung der Spitzen 
doch verschieden waren, so verzichten wir auf eine minutiöse 
Ermittlung der Berührungsfläche und geben nur die mit diesen 
Druckflächen ungefähr gleichen Kreisflächen bei den genannten 
Durchmessern an. Sie betrugen für die 5 Stufen der Reihen- 
folge nach ca. 0,1,*) 1,1, 1,8, 1,5 und 2,8 qmm und würden hieraus 
eine »spezifische Belastung« von 1g, 0,44 g, 2,8 g, 32,5 g und 
176 g pro 1 qmm berechnen lassen. Es ist wertvoll, daß wenigstens 
bei den untersten Stufen durch Umkehrung der Veränderungsrich- 
tung der spez. Belastung mit fünffacher Steigerung des absoluten 
Totalgewichtes das Webersche Gesetz von diesen Nebenmomenten 
relativ unabhängig erkannt werden konnte. In den höheren 
Stufen aber änderte sich die spezifische Belastung jedenfalls 
nicht wie bei Stratton und Kobylecky ungefähr so stark wie 
die absolute Gesamtbelastung, sondern blieb in ihrer Steigerung 
etwas hinter dem Gewicht zurück. 

Bei den schwächsten Reizen dürfte sich nun der eng begrenzte 
Reiz wenigstens in seiner in die Tiefe gerichteten Hauptkompo- 
nente tatsächlich auch hier auf ein einziges Endorgan gerichtet 
haben. Herr Dr. Strughold hat im Würburger physiologischen 
Institut schon vor einiger Zeit die Dichte der Druckpunkte für 
das Nagelglied des Zeigefingers als 30 pro 1 qem gefunden ?). 
Herr Geheimrat v. Frey hatte nunmehr auf die Bitte von Herrn 
Professor Wirth hin die Liebenswürdigkeit, Herrn Dr. Strug- 
hold auch zur Prüfung der nämlichen Stelle anzuregen, die in 
Kraepelins Versuchen benutzt würde. Er ermittelte hierbei 
in guter Übereinstimmang mit jenen ersten Messungen an der 
analogen Stelle 7 pro !/, qcm, also 28 pro 1 qcm. Den Herren 
sei auch an dieser Stelle für ihre freundliche umgehende Er- 
füllung unserer Bitte herzlichst gedankt. 

Die feinsten Spitzen mit 0,1 qmm fallen also hier nicht aus 


1) In der 8.198 Anm. genannten Abhandlung Kraepelins steht in- 
folge eines Druckfehlers »etwas über lqmm«. 
2) Zeitschr. f. Biologie 80, S. 871. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 219 


dem im Mittel mit einem Druckpunkte besetzten Gebiet von 
ca. 3 qmm heraus. Aber auch bei den mittleren Reizstufen 
bleibt die Fläche unter jenem durchschnittlichen Areal eines 
Druckpunktes dieser Stelle, und selbst bei dem stärksten Reiz 
von 500g war dieses eben erreicht. Die Deformation der Haut 
reichte natürlich nach dem früher Gesagten bei allen Reizen 
mehr oder weniger über dieses Areal hinaus. 

Dabei führen aber nun Kraepelins Versuche unter diesen 
speziellen Bedingungen wieder zu wesentlich höheren Belastungen 
hinauf als bei Hansen und Kiesow und lassen bei 50g und 
500 g eindrucksvolle Druckempfindungen unter günstigsten psycho- 
logischen Auffassungsbedingungen vergleichen. Auch die bei 
Schwellenversuchen sonst stets übliche Bedingung war erfüllt, daß 
die Reize der Vp. von einem Experimentator dargeboten wurden. 

Die technische Ausführung der Versuche geschah in der 
Weise, daß nach einem vorbereitenden Signale der Experimentator 
die beiden Trichter mit dem Normal- und Vergleichsgewicht im 
zeitlichen Abstand von 3 Sek. nacheinander in der Stärke auf- 
setzte, wie es das Reihenprogramm im einzelnen vorschrieb. 
Kraepelin selbst ist sich der Schwankungen in der Einwirkung 
des Gewichtes auf die Haut bei seinem Verfahren sehr wohl be- 
wußt, nimmt aber mit Recht an, daß sich die zufälligen Er- 
höhungen und Verminderungen der Anfangsgeschwindigkeit und 
der Reibungsverluste an den Tragringen im Mittel werden aus- 
geglichen haben, und daß jedenfalls bei dem freien Spielen der 
Düte in dem Ringe eine gewisse Zeit das beabsichtigte Gewicht 
voll zur Geltung gekommen sei. Eine ganz ähnliche Anordnung 
zum Aufsetzen leichter Gewichte von nagelartiger Form ist 
übrigens später von Pi&ron angegeben worden, wobei diese 
Stifte ebenfalls in dem Ausschnitt eines Halters frei spielen, 
aber wegen ihres breiteren Kopfes nicht hindurchfallen konnten. ?) 


II. Die Maßmethodik im allgemeinen. 


1. Die Anlage der Versuchsreihen nach der Methode der 
Minimaländerungen. 


a) Der statistische Wert des Materials. 


Die Methode war eine Variation der Wundtschen Minimal- 
änderung, welche von Kraepelin selbst in seiner späteren 


1) Toulouse, Vaschide et Pi&ron, Technique de psychologie ex- 
perimentelle 1904 S. 66. 


o aA Ur En u - en * 


BB Bun o wa eru 


Ay. - 


ag 


220 Friedrich Noßke, 


methodischen Untersuchung !) als „Grenzmethode“ bezeichnet 
wurde, ein Name, unter dem diese Methode auch von G. E. 
Müller in seinen „Gesichtspunkten und Tatsachen der psycho- 
physischen Methodik“ (S. 164 ff.) dargestellt worden ist. In der 
hier allein in Frage kommenden Urform dieses Verfahrens wurde 
der Vergleichsreiz wissentlich in einer bestimmten Rich- 
tung abgestuft. Kraepelins Anwendung dieser Form gestattet 
aber durch die überaus große Anzahl von insgesamt 16800 Einzel- 
versuchen, von ihren Zufälligkeiten in hohem Grade frei zu 
werden. Denn das gesamte Material kann bei diesem Umfang, 
wie ebenfalls von Kraepelin selbst a. a. O. vorgeschlagen 
wurde, auch nach dem Prinzip der „Konstanzmethode“ 
oder der „Urteilsstatistik* bei der Methode der so- 
genanntendreiHauptfälle rechnerisch verarbeitet werden. 
Sämtliche Vergleichsreizstufen jeder Reihe, außer den Grenz- 
stufen und der dem Hauptreiz gleichen Stufe, sind in der unten 
genauer angegebenen Weise stets gleich oft dargeboten worden, 
was die Rechnung nach den neueren Formeln für diese Methoden 
sehr erleichtert. Ein besonderer Vorzug der Arbeit ist auch 
die Gleichmäßigkeit, mit der sämtliche Versuchsreihen ganz in 
der nämlichen Weise passiv und aktiv von den beiden Versuchs- 
personen, Herm E. Kraepelin selbst und seiner Frau Ge- 
mahlin, Irene Kraepelin, durchgenommen wurden. In den 
Versuchen, in denen der eine der beiden Gatten der Beobachter 
war, funktionierte der andere als Experimentator. Als Vpn. 
werden sie weiterhin mit E und J bezeichnet. 

Herr Geheimrat Kraepelin beklagte allerdings selbst be- 
reits bei der Übergabe seiner Versuchslisten an uns, daß die 
Übung bei den verschiedenen Stufen des Normalreizes 0,1 g, 
0,5g, 5g, 50g und 500 g nicht überall die nämliche gewesen 
sei, insofern vor allem die Versuche mit 5g am Anfange ab- 
solviert wurden und daher viel höhere Schwellenwerte zeigten. 
Auch lag zwischen den Versuchen mit 5 g und 0,5 g einerseits 
und den übrigen Versuchen mit 0,1 g, 50 g und 500 g ein Zeit- 
raum von mehr als zwei Jahren (die genauere Verteilung der 
Reihen auf die einzelnen Versuchstage wird unten noch mitge- 
teilt). Indessen wurde wohl gerade durch die Häufung dieser 
Vorversuche mit 5g bereits ein hoher Grad von allgemeiner 


— — 


1) Zur Kenntnis der psychophysischen Methoden. Wundt, Phil. 
Studien 1891 Bd. 6 S. 493. 





Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 221 


Übung erreicht. Daher ist auch später bei dem Hauptreiz 
0,5g dieses ersten Zeitabschnittes kein merkliches Gefälle der 
Leistung zu erkennen, ja die beiden Gruppen der Vp. E von je 
40 Elementarreihen für diese Stufe zeigen sogar eine seltene 
Konstanz der mittleren Vergleichsleistung. Aber auch das letzte 
Fünftel der ersten Versuche mit 5 g fügt sich hinsichtlich des 
allgemeingültigsten Maßes der Vergleichsleistung bereits sehr 
gut in die späteren Resultate ein. Bei dem zweiten, wesentlich 
späteren Abschnitt wurden aber die Übungsbedingungen für je 
zwei der drei Hauptreize 0,1 g, 50 g und 500 g durch Unter- 
mischung der ihnen gewidmeten Sitzungen immer möglichst 
ähnlich gemacht, wobei für die Prüfung des Weberschen Gesetzes 
insbesondere die Koordination der niedersten Stufe mit der 
höchsten von Wert ist. Aber auch der Vergleich mit den zwei 
Jahre vorher gewonnenen Resultaten der Stufen 0,5 g und 5 g 
dürfte durchaus zulässig sein, wenn man das Fehlen eines wesent- 
lichen Fortschrittes der allgemeinen Übung in dieser zweiten 
Periode in Betracht zieht. 

Jedenfalls dürfte es gestattet sein, die gesamte auf je eine 
Stufe des Normalreizes verwendete Versuchsmasse als einen 
einzigen Kollektivgegenstand zu behandeln, bei dem 
alle weiteren Verschiebungen der Urteilsleistungen durch Übung, 
Ermüdung oder Tagesdisposition, wie sie bei keinem psycholo- 
gischen K.G. von solchem Umfange zu vermeiden sind, wenig- 
stensgleichmäßigaufsämtliche Stufen des variablen 
Vergleichsreizes verteilt sind. So dürfte das Kraepe- 
linsche Material geradezu ein klassisches Beispiel zur psycho- 
physischen Anwendung der statistischen Methoden nach dem 
Prinzip der großen Zahlen darstellen, dem höchstens noch das 
bisher am meisten zu Rechenbeispielen der Konstanzmethode 
verwandte Material H.Kellers über die Intensitäts-Unterschieds- 
schwelle der Schallempfindung !), auf dem Gebiete der Druck- 
empfindung aber überhaupt zunächst nichts Geichwertiges an 
die Seite gestellt werden kann. 


b) Der vollständige Auf- und Abstieg in relativ gleichen Stufen. 
Bei den 5 bereits genannten Stufen der Normalreize 
Kraepelins 0,1 g, 0,5 g, 5g, 50 g und 500 g war, von dem 


1) Die Methode der mehrfachen Fälle im Gebiete der Schallempfindungen 
und ihre Beziehung zur Methode der Minimaländerungen. Psychol. Stud. 
1907 Bd. 3 Heft 1 S. 49. 


222 Friedrich Noßke, 


ersten Intervall abgesehen, in der höheren Stufe der Normalreiz 
immer das Zehnfache der nächstkleineren. Zu jedem der 5 
Hauptreize wurden 4 Versuchsgruppen nach der Methode der 
Minimaländerungen ausgeführt, die untereinander symmetrisch 
aufgebaut sind. Unter 0,1 g konnte man wegen der Reizschwelle 
nicht herabgehen. 

In seiner bereits genannten eigenen Veröffentlichung über 
die Ergebnisse dieser Methodik bezüglich der Reizschwelle !) 
fand Kraepelin für sich selbst, Vp. E : 0,0886 g und für seine 
Frau, Vp. J:0,0975g. Es findet sich daher auch schon bei 
den Reihen, die mit 0,1 g als Normalreiz angestellt worden sind, 
manchmal die Bemerkung, daß überhaupt nichts gefühlt wurde. 
Diese Versuche mußten dann wiederholt werden. 

Was zunächst die minimale Abstufung des Vergleichsreizes 
anlangt, so wurde mit einer dem Hauptreize gleichen Stufe be- 
gonnen und diese dann in Intervallen von 2 des Hauptreizes 
verändert. Die Elementarreihen beschränken sich jedoch nicht 
auf die einseitige Ableitung einer »obererene oder einer 
>unteren« Schwelle, sondern an die Rückkehr des Vergleichs- 
reizes zum Hauptreiz nach der ersten Entfernung von ihm schloß 
sich unmittelbar, in stetiger Fortsetzung der nämlichen Ab- 
stufungsrichtung, die symmetrische Entfernung in der ent- 
gegengesetzten Richtung mit einer darauffolgenden 
zweiten Rückkehr zum Hauptreiz an. Wir haben es also in ge- 
wissen Sinne doch mit derjenigen Form der »Grenzmethode« zu 
tun, dieals »VerfahrendesvollenAb- und Aufstieges« 
bezeichnet werden kann, wie G. E. Müller (Gesichtspunkte 
S. 169) die von ihm selbst empfohlene Anwendung später ge- 
nannt hat. Nur kehrt Müller die hierbei führende Analogie 
zur Methode der vollständigen Reihen dadurch noch mehr her- 
vor, daß er die Abstufung des V mit einem der beiden Extreme 
in einer so großen Entfernung vom Hauptreiz beginnen läßt, 
daß das Urteil V sicher »größer als H« lautet, um dann ab- 
steigend oder aufsteigend bis zum entgegengesetzten Extrem 
fortzuschreiten, worauf die Reihe in umgekehrter Richtung durch- 
laufen wird. Für den vollständigen Hin- und Hergang bei 
Kraepelin ist es also charakteristisch, daß die Umkehr sich 


1) E.Kraepelin, Zur Kenntnis des Drucksinnes der Haut. Psycholo- 
gische Arbeiten Bd 7 Heft 3 S. 415. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 223 


nicht von der Abgabe des Urteils selbst leiten läßt, wie es bei 
Wundts und Müllers Anwendung der Grenzmethode einge- 
schlossen ist. Es wird vielmehr nach einem vorgegebenen Plane, 
bei dem aber natürlich durch Vorversuche schon die Extreme 
der sicheren Verschiedenheitsurteile ungefähr ausprobiert sein 
müssen, stets die nämliche, also eine »konstante« Stufenreihedurch- 
laufen. Dies ist also bereits ganz auf die Behandlung der Ergeb- 
nisse der Grenzmethode nach dem statistischen Gesichtspunkte der 
Konstanzmethode angelegt, welche den Grundgedanken der 
Kraepelinschen Behandlung der Grenzmethode überhaupt 
bildete, der sich in der Überleitung der Methode der Minimal- 
änderungen in die Methode der vollständigen Reihen so gut be- 
währt hat. Die Geschlossenheit der Doppelreihe aller Reizstufen 
des V in der Rückkehr zu V=H könnte geradezu die Darstellung 
der Urteilskurven, die sich aus der Zusammenfassung mehrerer 
Wiederholungen dieser Kraepelinschen Reihe ergeben, auf 
einer geschlossenen Zylinderfläche als beste Veranschaulichung 
nahelegen. Ohne diese Zusammenfassung getrennt abgeleiteter 
Versuche mit gleicher Abstufungsrichtung, also rein empirisch, 
könnte natürlich eine völlige zweimalige Absolvierung des für 
die »Vollreihen« der Konstanzmethode charakteristischen An- 
und Abstieges der Häufigkeitskurven g und k von O bis 1 nur 
bei der Einführung jenes Prinzipes von G. E. Müller erreicht 
werden, daß man von einer sicheren Verschiedenheit in 
der einen Richtung ausgeht und mit einer solchen abschließt. 

Kraepelin berücksichtigt aber auch sofort die beiden 
Möglichkeiten, die es hinsichtlich der Fortschrittsrichtung 
innerhalb dieses vollen Ab- und Aufstieges gibt, insofern er die 
eine Hälfte der Elementarreihen mit der Vergrößerung des 
Vergleichsreizes von H aus und die andere Hälfte mit der Ver- 
kleinerungbeginnenläßt. In beiden Gruppen von Elementar- 
reihen wird also der in sich bei der Größe V=H geschlossene 
Kreis aller Stufen des Vinentgegengesetzter Richtung 
zueinander vollständig durchlaufen. Wir bezeichnen daher diese 
beiden Arten von Elementarreihen als »ab- und aufsteigende« 
und als »auf- und absteigende« Reihen oder kurz als ab-auf- 
oder auf-ab-Reihen. Bei Kraepelin verband sich hiermit 
allerdings noch ein Einfluß der Zeitlage, da im allge- 
meinen — wie aus 2 d 8.234 zu ersehen ist, die auf-ab-Reihen 
nach den ab-auf-Reihen absolviert werden. Vgl. unten Abschn. V 
S. 275. 


224 Friedrich Noßke, 


Der Vergleichsreiz V entfernte sich überall vom Hauptreiz H 
beiderseits um je 5 Reizstufen. Bezeichnen wir den Hauptreiz 
relativ mit 10, so werden also die Darbietungen bei dem ab- 
und aufsteigenden Verfahren lauten: 

10, 9, 8, 7, 6, 5, 6, 7,8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 14, 13, 12, 11, 10 
und beim auf- und absteigenden: 
10, 11, 12, 13, 14, 15, 14, 13, 12, 11, 10, 9, 8, 7, 6, 5, 6, 7, 8, 9, 10. 

Die in der beschriebenen Reihenfolge dargebotenen Reize 
waren in ihren absoluten Werten, gemessen in Gramm: 











Hauptreize: 
0,5 g 5g 50 g 500 g 
0,25 2,5 25 250 
0,30 3,0 30 300 
0,85 8,5 85 350 
0,40 4,0 40 400 
0,45 4,5 45 450 
0,50 5,0 50 500 
0,55 5,5 55 550 
0,80 6,0 60 600 
0,65 6,5 65 650 
0,70 7,0 70 700 
0,75 Tb. 75 760 





bad 
-< 


Dieser in allen Stufen relativ gleiche Aufbau der Reihen 
ist bereits ganz darauf berechnet, im Falle der Gültigkeit des 
Weberschen Gesetzes für Druckempfindungen die Versuchs- 
bedingungen für alle Hauptreizstufen möglichst analog zu ge- 
stalten. Denn wie von G. E. Müller betont wurde (Gesichts- 
punkte S. 28), ist die Einstellung der Aufmerksamkeit von der 
Größe der Stufen abhängig, und bei einer proportional mit dem 
Reiz zunehmenden Schwelle ist nur bei einer gleichzeitig pro- 
portionalen Zunahme der Intervalle des Vergleichsreizes ein 
gleichmäßiges Aushalten der Aufmerksamkeit zu erzielen. Soweit 
aber freilich die US. vom Weberschen Gesetze abweicht, 
wird dann natürlich überall der Einfluß eines im Verhältnis zur 
Schwelle zu großen oder zu geringen Sprunges mit in Kauf ge- 
nommen. Für die Darstellung der Versuchsresultate hat die 
Wahl der relativen Stufen der Vergleichsreize als Rechnungs- 
grundlage den großen Vorteil, daß für sämtliche Hauptreiz- 
größen stets die nämlichen relativen Abszissenwerte erhalten 
werden, wie sie in der ersten Rubrik der obenstehenden Tabelle 
stehen. Auch die Berechnungen können ohne weiteres mit diesen 
relativ konstanten Abszissen durchgeführt werden, und würde 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 225 


das Webersche Gesetz dann an einer, Konstanz der ge- 
fundenen (relativen) Zahlenwerte zu erkennen sein. 

Die einzelnen Versuchsreihen umfassen nach 
dem vorhin Gesagten stets 21 Versuche. Dabei wurde 
die dem Hauptreiz gleiche Stufe dreimal als Vergleichsreiz dar- 
geboten, während die beiden äußersten Vergleichsreize nur je 
einmal und die vier Stufen oberhalb und die vier unterhalb des 
Hauptreizes je zweimal vorkamen. 


e) Die systematische Variation von Einflüssen der Raum- 
| und Zeitlage. 


Kraepelin suchte aber nun weiterhin auch die »Fehler« 
zu eliminieren, die aus der »Zeitlage« des Haupt- und Vergleichs- 
reizes entsprangen, sowie die »Fehler« der Raumlage, die aus 
dem Aufsetzen der Düten mit der rechten oder linken Hand 
des Experimentators folgten. Bezeichnet man, wie es inKraepe- 
lins eigenen Protokollen geschah, von den Einzelreihen der 
oben beschriebenen Struktur zu je 21 Einzelversuchen diejenigen 
mit A, bei denen der Hauptreiz zuerst dargeboten wurde, und 
mit B die umgekehrte Zeitlage, ferner mit r die Aufsetzung mit 
rechter Hand, mit J die mit linker Hand, so lassen sich die von 
Kraepelin durchgeführten Kombinationen dieser Elementarbe- 
dingungen zur Elimination jener Fehler der Raum- und Zeit- 
lage mit folgenden Symbolen des Reihencharakters bezeichnen: 
Ar, Br, Al, Bl. Diese wurden nun in Gruppen aus je 8 Reihen 
Ar, Br, Br, Ar, Al, Bl, Bl, Al durchgeführt, in denen auch noch 
die Fehler der Zeitlage dieser verschiedenen Kombinationen 
der Raum- und Zeitlage auszugleichen waren. Da nun diese 
Achtergruppen mit jeder Hauptreizstufe sowohl im »ab- und 
aufsteigenden« als auch im »auf- und absteigenden< Verfahren je 
fünfmal bei jeder Vp., insgesamt also 10 mal durchgenommen wurden, 
so ergeben sich für jede der 5 Hauptreizstufen 80 Elementarreihen 
zu je 21 Einzelversuchen, in deren Gesamtheit die Nebeneinflüsse 
hinreichend ausgeglichen erschienen. Bei allen 5 Hauptreizen mit- 
einander macht dies also bei jeder Vp. insgesamt 5-80-.21 = 8400 
Einzelversuche. Das gesamte Versuchsmaterial für beide Vpn. E 
und J erstreckt sich daher über 16800 Einzelversuche. 


Archiv für Psychologie. LII. 15 


-~-i — T a „Sn —- _ [an 


„Fi — 2 d = w” — so 


226 Friedrich Noßke, 


2. Hauptgesichtspunkte unserer rechnerischen Verarbeitung 
des Materials. 


a) Die Ersetzung der üblichen Verrechnung einzelner 
Elementarreihen der Minimaländerungsmethode durch das 
allgemeine Verfahren der Konstanzmethode. 


Für die Ableitung von Maßen der Unterschiedsempfindlich- 
keit, des konstanten Fehlers usw. aus diesem Material. ist es 
von entscheidender Bedeutung, in welcher Weise die einzelnen 
Elementarreihen zu je 21 Versuchen zu einem Kollektivgegen- 
stand zusammengefaßt werden. Wäre das nach dem Prinzip der 
sogenannten Minimaländerungs- oder Grenzmethode gesammelte 
Material auch in der gewöhnlich mit dieser Ableitung der Be- 
obachtung verbundenen Berechnungsweise verarbeitet worden, 
so hätte sich bereits zu jeder einzelnen Elementarreihe ein oberer 
und unterer Grenzreiz r, und rą sowie ein Äquivalenzwert 


(mittlerer Schätzungswert) A=5 (ro + ru) finden lassen. Sieht 


man aber genauer zu, was die 4 Werte, die von Kraepelins 
Schüler Higier?) bei einer sorgfältigen statistischen Bearbeitung 
eines solchen »vollständigen An- und Abstieges« sowohl beim 
Anstieg als auch beim Abstieg abgeleitet wurden, vom Stand- 
punkte der noch umfassenderen Urteilsstatistik der Konstanz- 
methode aus eigentlich bedeuten, so kommt man auf die im 
folgenden nach Wirth als E, und E,„ bezeichneten Extreme 
der sogenannten »Vollreihen< (G. E. Müller), bei denen alle 
Urteile eindeutig >größer« oder »kleiner« lauten, sowie auf E, 
und E., von denen an kein Urteil mehr »größer« oder »kleiner« 
lautet. (Die 3 Häufigkeitskurven der Konstanzmethode der drei 
Bauptfälle »größer«, >gleich« (unbestimmt) »kleiner< lassen keine 

iteren »Grenzen« dieser Art bestimmen, da von den 6 Grenzen 
.„r 3 Kurven g, u und k stets zwei mit anderen zusammenfallen, 
gewöhnlich der Anfang und das Ende der mittleren Gleichheits- 
oder Unentschiedenheitskurve mit E, und E,). Die Mittel r, 
und r, für eine bestimmte Fortschrittsrichtung sind also einfach 


die Mittel aus jenen Extremen r, =; (Eo + E'u) und ra = 
- (Eu + E'u), wobei dann wieder je ein endgültiges Universalmittel 


1) Experimentelle Prüfung d. psychophysischen Methoden im Bereiche 
des Raumsinnes des Netzhaut. Wundt, Phil. Stud. VII, 282.— Vgl. auch 
G. E. Müller S. 164 ff. u. besond. S. 176 ff. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 227 


aus der Vereinigung der beiden Fortschrittsrichtungen entsteht. 
Die prinzipielle statistische Unsicherheit, welche solchen Extremen 
anhaftet, kann aber natürlich durch die selbstverständliche Ein- 
deutigkeit bei nur einmaliger Ableitung einer Urteilsreihe am 
allerwenigsten aufgehoben werden. Wenn aber einmal mehrere 
Elementarreihen zur Verfügung stehen, hört jener Schein der 
Eindeutigkeit im allgemeinen auf. Zur Auswahl von Repräsentanten 
des Kollektives aus allen diesen Reihen miteinander liegen dann 
andere statistische Prinzipien viel näher als dieMittelwerte jener Ex- 
treme. Die Minimaländerungs- oder Grenzmethode hört daher über- 
haupt auf, ein eigenes Berechnungsprinzip zu sein, und man 
hat einfach die Konstanzmethode als Universalmethode der Urteils- 
statistik zu verwerten). 


b) Zur Frage der rechnerischen Elimination 
der Einflüsse der Raum- und Zeitlage. 

Eine besondere Aufmerksamkeit erfordert bei dieser stati- 
stischen Verarbeitung noch die Elimination der schon oben 
genannten Einflüsse der Raum- und Zeitlage in den mit Ar, 
Al usw. charakterisierten Kombinationen der Elementarreihen. 
Sie verändern die Maße der Unterschiedsschwelle, Streuungs-" 
mae und Äquivalenzwerte um eine bestimmte Fehlergröße f, 
die man bei nicht zu großem absoluten Betrage für entgegen- 
gesetzte »Lagen« entgegengesetzt gleich, also als +f und — f 
anzusetzen pflegt. Hinsichtlich der Elimination dieser Fehler durch 
eine rechnerische Verbindung des Beobachtungsmaterials aus ent- 
gegengesetzten »Lagen« ergibt sich aber nun ein prinzipieller 
Unterschied für zwei Hauptkategorien von Werten, für 
die »Hauptwerte« im engeren Sinne Fechners und für die + 
»Streuungsmaße«. Zu denHauptwerten in diesem Sinne gehören: ; 


Der Äquivalenzwert 5 (ro + Tu), aus dem der sogenannte >kon- ~ 
stante Fehler. c = H — (ro + ru) berechnet zu werden pflegt, 


sowie die Müllersche Unterschiedsschwelle > (ro — Tu), ins- 


besondere das halbe Idealgebiet der Gleichheitsfälle, das mit 
der nach dem Prinzip des arithmetischen Mittels berechneten 


US. S (A) = > (ro (A) — ra (W) identisch ist. Bei dieser fällt 


1) Wirth, Psychophysik S. 282. 
15* 


228 Friedrich Noßke, 


der Wert aus der Totalreihe mit dem Mittelwerte der 
gefundenen analogen Partialwerte zusammen, die aus den 
Partialreihen nach dem nämlichen Verfahren berechnet 
worden sind. Diese Gesetzmäßigkeit tritt allerdings nur bei 
der Berechnung nach dem sogenannten unmittelbaren Ver- 
fahren rein hervor, insbesondere bei der Berechnung nach 
dem Prinzip des arithmetischen Mittels. Denn sowohl 


A 2) = 5 (ro (M) + ra N) als auch S = 5 (ro N — ra (A)) sind 


Funktionen der beobachteten relativen Urteilshäufigkeit g, u, k, 
bei denen die Abweichungen der Grenzen roi, roz usw. sowie 
Tal, Tu2 USW. von den Universalmitteln r, und rą, in der ersten 
Potenz mit ihrem algebraischen Vorzeichen zur Geltung 
kommen. (Ähnliches gilt auch für den Zentralwert A (C), der 
analog aus den Grenzreizen r, (C) und r, (C) gefunden wird, bei 
denen g und k = 0,5 wird, und der linear interpoliert zu werden 
pflegt, sowie für die zu S (A) analoge Unterschiedswelle S (C). 
Dagegen ist diese einfache Gesetzmäßigkeit in dem » Verfahren 
mittelst Formel« dadurch verdeckt. daß sich hier zwischen die 
beobachteten g und k und die abgeleiteten Mittelwerte A und S 
ein (nur bei bloß zwei Reizstufen in eine eindeutige Berechnung 
übergehendes) Ausgleichungsverfahren einschiebt, bei dem 
eine mit den beobachteten relativen Häufigkeiten viel kom- 
plizierter zusammenhängende Funktion für ihre Totalkurve, die 
®-Funktion vorausgesetzt wird. Fechner kannte in der 
Methode der r- und f-Fälle nur dieses mittelbare Verfahren und 
glaubte daher ganz allgemein nur sein Verfahren der »voll- 
ständigen Kompensation« zur Elimination der Zeit- und Raum- 
lagefehler der einzelnen Partialreihen empfehlen zu müssen. 
Hierbei findet man das Totalmittel erst aus den einzelnen, unter 
Zugrundelegung der -Funktion berechneten Partialwerten. 
Dagegen verwarf er die Vereinigung aller Reihen zu einer 
Totalreihe mit direkter Berechnung eines einzigen Totalwertes 
A oder S als »Verfahren der unvollständigen Kompensation« 
als ungenau. G.E. Müller ist ihm hierin nachgefolgt 1). Wäre 
Müller bei seiner späteren Berechnung der US. aus dem 
»Idealgebiete der Gleichheitsfälle« auf diese Frage der Elimi- 
nation der systematischen Zeit- und Raumfehler zurückgekommen, 
so wäre schon dort die vollständige Kompensation von 


1) G. E. Müller a. a. O. S. 72. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 229 


Fehlern dieses Idealgebietes in dem Resultate der vereinigten 
Totalreihe, das er weiter oben so allgemein ablehnte, bereits 
deutlich hervorgetreten. 

Ganz anders liegt jedoch die Sache bezüglich 
der Streuungsmaße M,, Ma und des von Wirth emp- 
fohlenen Gesamtstreuungsmaßes M, das mit dem Fechner- 


1 
schen Streuungsmaß iya nach Halbierung der »Gleichheits- 


fälle« identisch ist.) Hier gehen nämlich in das Totalstreuungs- 
maß die Schwankungen der partiellen Äquivalenzwerte A,, A2 · · Am 
mit ein, auf welche die Partialstreuungen bezogen sind. Das 
nämliche gilt aber dann natürlich auch für die unten ebenfalls 
betrachtete mittlere Variation der Schwelle Du, Do bezw. A und 
bezüglich der gleichfalls beigezogenen wahrscheinlichen Fehler 
der Schwellen, d. h. dem halben Abstand zwischen den Punkten, 
wo g und k gleich 0,25 bezw. 0,75 wird. Je größer also die 
Schwankungen des Äquivalenzwertes innerhalb der einzelnen 
Partialreihen sind, um so mehr wird hier das aus der Total- 
reihe direkt berechnete Totalstreuungsmaß M die analogen 
Werte Mı, M2 --- M, übersteigen. Am einfachsten ist dies 
wieder bei dem unmittelbaren Verfahren, und zwar vor allem 
bei dem mittleren Fehler, also bei M, wobei das Totalmittel M 
aus den Partialmitteln M, M,-- und ihren einzelnen Ab- 
weichungen (A, — A), (A,—A)--- vom Totaläquivalenzwert A 
durch die Beziehung folgt: 
n M? = Z M; + Z (A, — A)”. [1] 
n ist die Anzahl der Partialgruppen und » der Index der ein- 
zelnen Gruppen !). | 
Auch die Beziehung des Gesamtstreuungsmaßes M zu den 


oberen und unteren Streuungen M, und M, der Grenzreiz- 


mittel r, und ru und den G. E. Müllerschen Schwellen 


*) Anm. des Herausgebers. Der Verf. hat im Manuskript nach 
meiner bisherigen Symbolik das Gesamtstreuungsmaß mit dem großen 
griechischen Buchstaben M bezeichnet. Ich schlage aber nunmehr vor, das 
vom Setzer oft hierfür gesetzte lateinische M ohne Index stehen zu 
lassen, da die einfachen Strenungsmaße der Grenzreize r, und r, mit ihren 
Indices M, und M, hiermit nicht zu verwechseln sind. Ebenso lassen wir 
unten für die mittlere Variation A bei Halbierung der Gleichheitsfälle das 
lateinische D eintreten. 

1) Wirth, Archiv f. d. ges. Psych. 24 S. 166 ff. und Spez. psychophys. 
Maßmeth. S. 160. 


230 Friedrich Noßke. 


I g (ro — ru) — Su befolgt diese Gesetzmäßigkeit, da eben 


2 M? = M? + Me? F S? H Su” (2] 
gilt. Wenn also z. B. aus zwei Partialreihen zunächst die 
Gesamtstreuungsmaße M, und M, und die Äquivalenzwerte A, 
und A, (s. u.) nach den Wirthschen Formeln berechnet werden, 
so sind die beiden Kurvensysteme g,,, k,, und g,,, K, um 
(A, — A,) gegen einander und um (A— A,), (A—A,, d i 


5 (A, —A,) gegen den Totaläquivalenzwert A = 5 (A, + A,) ver- 


schoben, und es muß daher für das Totalstreuungsmaß M der 
gemischten Kurve g und k die Beziehung gelten: 
2M—M+M+S (A, —A,) [3 
Sind also z. B. M, und M, unter sich annäherd gleich, so kann 
trotzdem das Totalmittel M beliebig weit über sie hinaussteigen, 
je weiter die Schwerpunkte A, und A, der beiden Kurvensysteme 
gegeneinander verschoben sind, während die Müllersche 
mittlere Totalschwelle 2 S bei beliebigen Schwankungen des 
Äquivalenzwertes A aus der Totalreihe direkt ebenso gefunden 
wird wie beim Umweg über die Partialschwellen 28,,28,...2 Sa. 

Für die Statistik der U.S. ist es daher von Bedeutung, ob 
man die Frage des Weberschen Gesetzes nur mit der 
Müllerschen Schwelle zu klären glaubt, oder ob man zugleich 
und vielleicht sogar in der Hauptsache zum Prinzip des 
Streuungsmaßes greift. Würde man nur die Abhängigkeit der 
Müllerschen Schwelle vom Normalreiz untersuchen, so könnte 
man sich ohne weiteres auf den aus der Totalreihe berechneten 
Wert beschränken, falls nur die Variationen innerhalb der Total- 
reihe, die von den verschiedenen Lagen Al usw. abhängen, wie 
zufällige Fehler entgegengesetzt gleich groß betrachtet werden 
dürfen. Das Mittel dieser Größen in den einzelnen Partialreihen 
würde hierbei nur von diesen systematischen Einflüssen gereinigt 
werden. 

Soweit dagegen das Streuungsmaß als mittlere Grenze 
für die eindeutige Unterscheidung interessiert, wird man auch 
dann, wenn man nur die Partialstreuungsmaße von systematischen 
oder zufälligen Fehlern reinigen will, erst das Verhalten der 
Partialäquivalente A,,A,..An in Betracht zu ziehen haben. 
Wären diese Werte zufällig konstant, dann würde natürlich 
das zweite Glied 2(A, — A)? der rechten Seite von Formel [1] 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 231 


verschwinden und die direkte Berechnung des Totalmaßes M 
würde wie bei S und A mit dem Mittel aus den Partialmaßen 
M, usw. zusammenfallen. Im allgemeinen aber wird dies nicht der 
Fall sein. Wenn nun in diesen Partialäquivalenten eine syste- 
matische Abhängigkeit von den speziellen Versuchsbedingungen 
der Partialreihen nach Raum- und Zeitlage usw. erkennbar 
wäre, so müßte diese von einem direkt aus der Totalreihe 
berechneten Maß M erst abgetrennt werden, um die unkon- 
trollierbaren Schwankungen des Urteils zu erlangen, die in 
jenem Streuungsmaß als Abgrenzung der eindeutigen Unter- 
scheidung bei gegebener Raum- und Zeitlage allein für sich 
zum Ausdruck kommen sollen. Zu dieser Abtrennung der Äqui- 
valenzschwankungen von dem Mittelwert der zufälligen 
Streuung braucht man aber freilich nicht die partiellen Streu- 
ungen selbst nach ihren immerhin schon etwas komplizierteren 
Formeln zu berechnen, sondern nur die Partialäquivalente, 


da ja die Größe 4.2 M,’ dann nach Gl. [1] leicht aus dem 


Totalstreuungsmaß M und dem Totaläquivalent A durch einfache 
Subtraktion zu finden ist. (Nur wenn in den Partialstreuungen 
eine irgendwie systematische Änderung, z. B. ein einseitiger 
Übungs- oder Ermüdungsfortschritt zu suchen ist, müssen sie 
natürlich auch im einzelnen berechnet werden.) 

Wenn aber die Partialäquivalente ohne systematische 
Beziehung zur Raum- und Zeitlage, also unkontrollierbar um 
den Totalwert herumschwanken, wird man diese ÖOszillationen 
der Größen (A,— A) von der Partialstreuung als dem Maß 


der Fähigkeit zur eindeutigen Unterscheidung ebensowenig ab- 
zulösen haben, wie die Schwankungen des einzelnen Urteils 
zwischen richtig und falsch in dem Unsicherheitsbereich in den 
einzelnen Partialreihen selbst. Die mittlere Partialstreuung 
> M,’ würde dann einen nur zufällig kleineren Wert der Un- 
sicherheit vortäuschen, der auf der empirischen Beschränkheit 
ihrer zu kleinen Partialkollektive beruht und durch die Er- 
fahrungen des vollständigeren Kollektivgegenstandes überholt 
wird. 

Freilich ist bei einer Fraktionierung des Materials in Partial- 
gruppen zur Berechnung von partiellen Repräsentanten zur Be- 
stimmung der Elimination systematischer Lageeinflüsse stets erst 
zu fragen, ob den Untergruppen überhaupt noch ein hinreichendes 


232 Friedrich Noßke, 


Gewicht verbleibt, andernfalls man sich doch im wesentlichen auf 
die Totalrepräsentanten beschränken und die Äquivalenzschwan- 
kungen einfach als theoretisch gleichwertig mit zufälligen Urteils- 
schwankungen auffassen wird. 


c) Die vorläufige Beibehaltung der gegebenen Gruppierung 
des Berechnungsmaterials. 


Kraepelin selbst hat uns nun sein Material bereits in 20 Gruppen 
geordnet übergeben, nämlich für beide Vpn. zu jeder der 5 
Hauptreizstufen je zwei Untergruppen. Von diesen enthält die 
eine 40 nur auf-ab-, die andere 40 nur ab-auf-Elementarreihen, 
die sich aus je fünfmaliger Absolvierung jener 8 Reihen ArBr.. 
Al ergeben. Wollte man nun bei der Anwendung der Konstanz- 
methode auf dieses Material völlig homogene Partialreihen ge- 
winnen, in denen nur noch unkontrollierbare (zufällige) Fehler 
(keine systematischen Zeit-, Raum- oder Richtungsfehler mehr) 
vorkommen, so müßte diese inDoppelreihen des vollständigen 
Auf- und Abstieges mit je n — 5 konstanten Darbietungen der 
Reizstufen in einer bestimmten Abstufungsrichtung bestehen. 
Dabei wären also zunächst auch die verschiedenen Abstufungs- 
richtungen bei Wiederholung der nämlichen Reizstufe im zweiten 
Teil der Elementarreihe noch gesondert gedacht. Es wären also 
16 verschiedene Unterschiedswellen S (halbes Idealgebiet der 
Gleichheitsfälle), Präzisionsmaße M und Äquivalenzwerte A zu 
bestimmen, die mit den paarweise als entgegengesetzt gleich 
groß angenommenen „Fehlern“ jener Lage und Richtungseinflüsse 
behaftet zu denken sind. Hierbei würde aber der Hauptvorteil 
der großen Versuchszahlen für eine möglichst allgemeingültige 
Bestimmung von S und M nicht zur Geltung gebracht. Nachdem 
wir oben erkannt haben, daß zur Elimination der Lagenfehler 
für Sund A eine separate Ableitung überhaupt unnötig ist, und 
daß auch bei M der Totalwert eine selbständige und vielleicht 
sogar universellere Bedeutung beanspruchen kann, so werden wir 
zunächst alle Elementarreihen der Kraepelinschen Gruppen, 
von einigen vorher angedeuteten Fraktionierungsbeispielen ab- 
gesehen, zu einem Ganzen vereinigen. Außerdem komprimieren 
wir aber innerhalb jeder Elementarreihe die Doppelreihe des 
vollständigen Ab- und Aufstieges in eine gewöhnliche Reihe der 
Konstanzmethode mit je einmaligem Vorkommen aller Stufen des 
Vergleichsreizes zwischen den Extremen 5 und l15ihrerrelativen 
Werte, wobei also nur diese Extreme je einmal, V=H dreimal, 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 233 


die übrigen Stufen je zweimal vorkommen. Das Fraktionierungs- 
beispiel wird diese Beschränkung auf die Totalrepräsentanten der 
Gruppe zu je 40 Elementarreihen auch im allgemeinen, außer 
etwa für den Normalreiz 5 g, gerechtfertigt erscheinen lassen. 
Insbesondere wird sich unsere Prüfung des Weberschen Gesetzes 
bereits im wesentlichen an der Hand der Totalreihen vornehmen 
lassen. 

Da die Konstanzmethode ganz besondere Verfahren nach dem 
Prinzip des arithmetischen Mittels gestattet, wenn sie sich auf 
sogenannte »vollständige Reihen« mit Einschluß der beiden Ex- 
treme des sicheren »größer«- und »kleiner«-Urteiles stützen kann, 
so werden wir die 20 Totalreihen, die Kraepelin unterschieden 
hat, vor allem auf diese Vollständigkeit zu betrachten haben. 
Dabei tritt übrigens auch die Ungleichmäßigkeit, daß die Grenzen 
der Abstufung mit den relativen Werten 5 und 15 nur je einmal 
vorkommen, zurück, insofern an diesen Grenzen ohnehin häufig 
bereits Eindeutigkeit der Beurteilung auf Grund des sonstigen 
Verlaufes der »psychometrischen« Kurven für die relative Häufig- 
keit g und k anzunehmen ist. Um die zwanzig Gruppen Kraepelins 
in Zukunft kurz bezeichnen zu können, halten wir weiterhin 
folgende Numerierung ein: 

Mit dem kleinsten Normalreiz beginnend, zählen wir zunächst 
jedesmal Vp. J, dann Vp. E, und bei jeder Vp. zuerst die »ab- 
aufsteigende«, dann die »auf-absteigende« Reihe. Wir erhalten 
somit folgendes Bild: 





N.R.:O1g| 05g bg 50 g 500 g 
Vp. J ab-auf 1 5 9 13 17 
J auf-ab 2 6 10 14 18 
E ab-auf 3 7 11 15 19 
E auf-ab 4 8 12 16 20 


d) Der Aufbau der Kollektivgegenstände (Hauptgruppen) 
der von uns berechneten Repräsentanten. 


Wenn wir von vereinzelt auftretenden Fehlentscheidungen 
in den Grenzgebieten absehen, befinden sich unter den genannten 
20 Hauptgruppen 11 Vollreihen in dem eben genannten Sinne 
G.E. Müllers. Nur bei dem kleinsten Hauptreiz 0,1 g, bei dem 
das Unsicherheitsgebiet unverhältnismäßig groß war, sind bei 
dem hier in Anwendung gekommenen Abstufungsbereiche zwischen 
0,05 g und 0,15 g keine Vollreihen erreicht worden. Ebensowenig 
gelang dies bei den zeitlich zuerst ausgeführten Reihen mit 5 g 


234 Friedrich Noßke, 


als Hauptreiz, da hier das Unsicherheitsgebiet infolge mangeln- 
der Übung ebenfalls noch sehr groß war. 

An jedem Tage machte jede Vp. zwei Elementarreihen durch, 
eine A- und eine B-Reihe (oder in umgekehrter Reihenfolge). 
In dem ersten Zeitabschnitt der Versuche, während der zweiten 
Hälfte des Jahres 1885, wurden die Versuche mit gleichem 
Normalreiz an aufeinanderfolgenden Tagen ausgeführt; später 
gehen zwei Reihen verschiedener Reize nebeneinander her, um 
die Unterschiedsschwellen für diese beiden Reizstufen nament- 
lich hinsichtlich der Einübung möglichst vergleichbar zu machen. 
Jener erste Abschnitt erstreckt sich auf die Reize 0,5 g und 
5 g, und diese Hauptreize sind auch später nicht mehr vor- 
gekommen. Auch liegt zwischen ihnen und der gleichmäßiger 
verteilten Fortsetzung der Versuche ein Zeitraum von über 
zwei Jahren. In dieser zweiten Hauptgruppe von Februar bis 
Mai 1888 kam außer den Reizen 50 g und 500 g auch noch 
der schwächere Reiz 0,1 g zur Untersuchung. Die zeitliche Ver- 
teilung der oben unterschiedenen Hauptgruppen ist aus der 
folgenden Tabelle zu ersehen. 


; Normal- |Versuchs-| Reihen- 
— | Naa [oeron | 

















j * absteigend 5g E 11 
8.—27. 7. 1885 | ; F 
* aufsteigend 5g E 12 
28. 7T.—10. 8. 1885 | € i io 
292, 11 18 12 1885 | absteigend | 0,5 g 5 7 I. Periode 
. . . . ` 0,5 g J 5 
* aufsteigend 0,5g E 8 
14.—22, 12. 1885 | i 058 > : 
10. 2.—8. 3. 1888 | absteigend | 0,1g E 3 abwechselnd 
l l ET 
v4 absteigen g od. auch jed. 
12. 2.—8. 3. 1888 | 08 r E AA 
— aufsteigend Olg E 4 
7, 8.—6. 4. 1888 | 01: E > 
2* absteigend 500 g E 19 
4. 8.—10. 5. 1888 | 500 & z i 
aufsteigend 50 g E 16 
T EER 1888 | RE - Ý 
w aufsteigend| 500 g E 20 
11. 4.—4. 5. 1888| ; 500 & z 2: 





Keine der gemachten Beobachtungen wurde fortgelassen oder 
wiederholt, selbst wenn das abgegebene Urteil von den Nachbar- 
urteilen abwich. Allerdings gab es bei dem Normalreiz 0,1 g 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 235 


und den Vergleichsreizen zwischen 0,05 g und 0,15 g, wie schon 
erwähnt, manchmal die Erscheinung, daß überhaupt nichts ge- 
fühlt wurde. Der Versuch wurde dann wiederholt, bisweilen 
mehrere Male, bis ein Urteil möglich war. Die Versuche, bei 
denen diese Wiederholungen stattfanden, sind in den Original- 
listen durch Unterstreichungen kenntlich gemacht. Sie betreffen 
ausnahmlos Versuche mit dem Hauptreiz 0,1 g und umfassen 
10—15°/, der Versuche. 


An einer Stelle findet sich die Bemerkung: >Nachmittag viel 
Aufenthalt im Freien, es wurde schlecht gefühlt.< Sonst sind 
keine Störungen verzeichnet, die die Urteilsabgabe beeinflussen 
könnten. Daß an einem Tage einmal zwei A-Reihen gemacht 
worden sind, wurde am nächsten Versuchstage durch zwei B- 
Reihen ausgeglichen. Bei der Einordnung in die Gruppen sind 
die Umstellungen berücksichtigt worden. 


e) Konkrete Beispiele zweier Hauptgruppen. 


Von den genannten zwanzig Gruppen Kraepelins zu je 
40 Elementarreihen füge ich von beiden Vpn. je eine Reihe in 
Abschrift bei, und zwar von J für den größten Hauptreiz 500g, 
von E für den kleinsten 0,1g; eine Sonderstellung nehmen die 
gewählten gegenüber den 18 anderen Gruppen nicht ein. (Tab. 1 
S. 236/237.) 

Die eingetragenen Zahlen geben ebenfalls, wieinKraepelins 
Protokoll, einen konkreten Versuchstatbestand wieder. Das Urteil 
wurde nämlich stets in der Weise abgegeben, daß die Versuchs- 
person angab, ob der zuerst oder an zweiter Stelle dargebotene 
Reiz der stärkere war. In unseren Tabellen bedeutet also 
die Ziffer »1«, daß der erstgebotene Reiz, gleichgültig ob er 
Hauptreiz oder Vergleichsreiz war, als größer empfunden wurde; 
im anderen Falle steht »2«. Daneben wurde noch das Urteil 
>—« abgegeben, d. h. beide Reize wurden als »gleich« empfunden. 
Das Urteil »Unentschiedene wurde nicht abgegeben. Bei den 
paarweise nebeneinanderstehenden A- und B-Reihen mit ihrer 
entgegengesetzten Zeitlage des Hauptreizes kommt also das 
nämliche Urteil durch ungleiche Zahlen zum Ausdruck, insofern 
bei H zuerst das Urteil V kleiner mit 1, bei V zuerst mit 2 zu 
bezeichnen ist. Eine solche Konstanz der Beurteilung in der 
auf- und absteigenden Reihe tritt bei den Reihen von J mit dem 
großen Normalreiz 500g deutlich zutage. 


236 Friedrich Noßke, 


| e — — — — — — ga a a N N Ka OAI N ON ON — 


Al e e OA AT ANI A A AT AI AN A A O d t d at a OT OI 





o | 


< 
a 
A 
| A m m e e e | ANNANN G 
mm mm m mm m mu aaa am Id 

m 


m A AN AN AN AN A A AN O - o e a a e o | 





| A ANAN AN AN AN AN e O o e e e a a a a mem Im 


e mi i i l a a a e a COI NICON AOINANNANNANNNANAN IT SG 





Versuchsperson J 


Tabelle la. 
Hauptreiz 500 g 


| A m m m m m me | amanaanananca G 
| ANNANN NANANNN mmm | | Im 
OA e m e e e a e | ANNANN NANNAN AN A 
|mmmmmmemmaannanunacanca | |< 


em LANA AN AT o e a o a a a a F O 





| ANANN AN N AN m ANN AN N e a o m e | 


r. 


A OI r e o p y A AT AT AT A ANA AN N 





mm mm a u aa cauc | 


l 


| NAANA ANN AN AN N AN A e e e e e e OT 


ab-auf-Reihe 


aauauaanana | e e e e e e e | 


NNmmmmmmmmmnaannaaauce | | 





ı INANA ANAN AN AN N m A e e e e e e e e 
| 


| ANNANN AN ANAN N AN A m e e e e e e e e 


r. 


N 


1 
—!! 


[mn |e e AN N AN m AN AN AN AN AN N AN N AN 





OA] i y e y p y a a a a CO OOG A AI AI N AN AN II 


BAJAB|IBA/JABIBAJ|AB 


| NNNNA | A m e A e e e e e e e 


NANNAN NNNANNNA | m m e e e e e N N 


— i e e e e e a a a a CI AITANA | 


r. 


BAJAB 


HANNAN ANNAN NA N e e — e e e e e | 








r. 


| m m e e e e AN ; ANNANN NANNAN 


März 1888 
| 


l 


BAJAB 


| 


|auuaauaunuanuan | mmmemmm 





l 


N m e e e e e e u EN EN EN ES EN N AN AN 


r. 


| A - AN AN AN N AN AN A AN N e e e e e e ee 


Reihe 17 


ANNANN NNNANA | e e e t e oe e e ee 


T. 


ABIBAJAB 


* 
| OI e e e e e e e e AN AN AN AN AN AN 


SOIDTT-SIOSOP-.D OS m AN ANA Am NO 
- innen 








Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 237 






























e 
— 


N AN ANI A AN OI nme na | dumm NI N 


nu AN ANI NI AI o a se OG a a OAI COI COI COI OI AT 





NI m OI a a N oa — — N O — — a INI ON ON I N a s 


N A o- AI AN OAI A ANT IA A t os 


Versuchsperson E 


A N N AN AN I N AN EN A NE 


AIAN Co - A ANT AN A ANT A A su O a aa GO a AT 








em t d t a O O a COI OAT I CNT OAI OAI AN Im CAI AIT ANI AI A 
— — ———— 
NANNAN NN m N Tee 
CI AI A m e um — OT AI COI OI OI OAI AT A Il AI AI AT 
-e N N AN I a A A A A NN o 
am N m NI IU AN | N — — — EN 
m N AN AN AN AN AN NN TEN AN TEN m 


Seele e OI OT O o o emd COI C 


auf-ab-Reihe 


Eu N AN AN ANI N AN AN m AN NEN I — 
NNNNA MANNA | A m a N e AN AN AN AN m m A 


OI o e CO OI e e e O O e a OAI NANTA | - 


Tabelle 1b. 


O] e e e A a o a a OAI O I AT I ANT ANI OAI NI N n — 
ANNAN N AN A AN AN A AN e N o e O e e | Ta 
m A N N I INTERN 
N N AN m o a m a CAI AT AI AT AI AN I OAI OI COI A mim 
COI e t a i e CO OT e t e GOIG a OI COI OI O n COI RN 
ne ANNE 


-m Nm AN e A o | Tann am 


März 1883 
26 | 21 | 22 | 23 | 24 25 26 27 29 80 


N A N o m A A I AT AT NT AT AT AN NA mt 


Hauptreiz 0,1 g 


| AIN e em e A e A e O t OAI AI N 


-A N AN m m N N I O o — — — N o 












NNNANNNNNNNANNA mAN | mr 





Pod i pi i y — i a a GO O a a COAN GOG O NI NI Ne N 


O] r d g o CN O a NI O N I AN ANI N ON I I a a AN 







NNNNA NNA = | NANN AN A m e I e e A 
N m AN AN N A N A I A N O e e e e o e | O 
OI CONI o OAI et y t a GOI t GI t a OI OI AT m COG COI COI O 


Pi — N CO a O ee a ON OON O a a OG a 






Reihe 4 


ra 17 | 18 


N N m N AN N N AN N m m e O | o e e ea e OAI 


be en N S m E SA E AERE, VOER E NEE nn E N Tg E E S E a ENE 
B= E e e a a a 
— gd — — — — — — — — — Run | 


238 Friedrich Noßke, 


Wir bilden nun gemäß der Zusammenfassung der Kraepelin- 
schen Protokolle aus jeder solchen Gruppe von 20 Elementar- 
reihen mit der A-Zeitlage und aus 20 mit der B-Zeitlage eine 
Kollektivreihe zur Behandlung nach dem Prinzip der Urteils- 
statistik der Konstanzmethode, in welcher die Urteile ohne 
Rücksicht auf die Zeitlage der Reize eindeutig auf bestimmte 
Stufen des variablen Reizes bezogen zu werden pflegen. 
Zu diesem Zwecke mußte ich also die Angaben 1 und 2 der 
Urlisten je nach der Zeitlage des Normalreizes entsprechend 
umdeuten. Führen wir dies wieder an den Reihen 17 und 4 
aus, so werden wir folgendes Bild der absoluten Häufigkeiten 
der Beurteilung jeder Reizstufe erhalten, wenn die Zahlen 1 und 
2 in die gewöhnliche Bezeichnung k,u,g, bezogen auf den variablen 
Vergleichsreiz, übergeführt werden (Tabelle 2). 


Tabelle 2. 
Reihe 17 A-Reihen B-Reihen 



















Bezeichnung — absolute 
der Werte ä b 
Beurteilg. des peia 


Vergl.- Reizes 












zE o w| 

16 39 1 0 40 40 

7 40 0 0 40 40 

8 36 3 2 82 40 

9 27 4 1 34 40 

10 16 17 6 22 60 

11 4 4 7 10 40 

12 1 0 1 5 40 

18 1 0 0 2 40 * 

14 0 0 0 0 40 

15 0 0 0 0 20 

Reihe 4 A-Reihen B-Reihen 

— absolute 
Urliste - Häufig- 

Urteil: u. keit 

Reizstufe: 5 12 0 8 0 20 

A 6 20 1 19 1 40 

7 29 2 9 0 40 

8 21 2 17 0 40 

9 21 1 18 2 40 

10 29 0 31 1 60 

11 15 1 24 1 40 

12 9 2 29 0 40 

13 7 0 33 0 40 

14 7 0 33 0 40 

15 7 0 13 0 20 





Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 239 


Ich habe nun im folgenden die Elementarreihen A und B 
zusammengelegt, so daß also auf jede der Stufen des Vergleichs- 
reizes, abgesehen von der dem Hauptreiz gleichen und den beiden 
Extremen, je 80 Einzelurteile entfallen. Wir numerieren die 
11 Stufen des Vergleichsreizes mit den Indizes r = 0 bis 10, 
wobei also r= 5 die dem Hauptreiz gleiche Stufe bedeutet, 
welche in den 40 Elementarreihen 120 mal beurteilt wurde. Die 
beiden Extreme r= 0 und r= 10 kamen nur je 40mal vor. Ist 
n diese absolute Zahl, so ist also: 


D =40 n,=120 no =40 n,=80 für x=1,2,3,4, 6,7,8,9. 


Wollen wir aber bei der Rechnung mit den relativen Häufig- 
keiten gemeine Brüche mit dem nämlichen Nenner und ganzzahligen 
Zählern benützen, so müssen wir den Generalnenner 240 = 2 . n, 
= -no (bezw. ô- n) =3-nx wählen. Bei ausschließlicher Ver- 
wendung der A- oder B-Reihen genügt natürlich die Hälfte 120 
als Generalnenner. Auf der beiliegenden Tabelle 3 sind wieder 
die Reihen 17 und 4 aufgeführt, und zwar: 
1. die relat. Häufigkeiten der A-Reihen 
(Nenner 120 ist zu ergänzen). 
2. die relat. Häufigkeiten der B-Reihen 
(Nenner 120 ist zu ergänzen). 
3. die relat. Häufigkeiten der Gesamtreihe 
(Nenner 240 ist zu ergänzen). 








Tabelle 3. 
Vp. J. H==500g. 
Reihe 17. À B Gesamt : 

V < = > < = > < = > 
5 120 — — 120 — — 240 — — 
6 117 8 — 120 — — 237 3 — 
7 120 — — 120 — — 240 — — 
8 108 9 8 96 6 18 204 16 21 
9 8&ı 12 27 12 — 18 183 12 45 

10 82 84 5 44 32 44 76 66 98 

11 12 12 8 80 21 69 42 83 165 

12 8 — 117 15 8 102 18 8 219 

18 8 — 11 6 — 114 9 — 281 

14 — — 120 — — 1% — — %40 

15 — — 120 — — 120 — — w0 


240 Friedrich Noßke, 


Vp. E. H=0,1g. 


Reihe 4. A B Gesamt: 
V — — — S A n a 
108 — 12 180 — © 
8&7 383 30 17 6 8 
738 — 4&2 165 6 69 
75 — 4 1388 6 % 
54 6 60 117 9 114 
72 2 46 180 2 108 
54 3 63 f 9 6&6 1 
72 — 48 99 6 135 
8 — 8 54 — 18 
36 — +84 57 — 18 
45 — 78 84 — 156 





II. Graphische Darstellung. 
(Mit einer vorläufigen Prüfung des Weberschen Gesetzes.) 


Wir vergegenwärtigen uns für die 20 Totalreihen, die wir 
aus den 20 Gruppen des Kraepelinschen Protokolls in der 
oben S. 237 genannten Weise abgeleitet haben, den Verlauf der 
drei Kurven für die relativen Häufigkeiten der 3 Urteilsfälle F; (x), 
F. (x) und F; (x), bei denen die Abszissen die Vergleichsreize sind. Auf 
jeden der beobachteten Normalreize 0,1 g, 0,5 g, 5 g, 50 g und 
500g trafen somit 4 Gruppen, je zwei für jede der beiden Vpr 
E und J, wobei die eine die Zeitlage der Abstufungsrichtung 
ab - auf, die andere auf-ab enthält. (Für diese Gruppen ist 
S. 233 die auch weiterhin benutzte Numerierung angegeben). 
Dabei ist wenigstens bei je einer Gruppe für jeden. Normalreiz, 
nämlich bei Gruppe 1, 5, 9, 13 und 17 der Vp. J zwischen den 
Zeitlagen A und B des Haupt- und Vergleichsreizes unterschieden 
worden. Im folgenden sind diese 3 Kurven wenigstens für die 
beiden Gruppen 5 und 17 wiedergegeben, also für die »auf-ab- 
Reihen< mit den Normalreizen 0,5 g und 500 g der Vp.J, bei 
denen auch noch zwischen Zeitlage A und B (vgl. S. 225) unter- 
schieden worden war. Für die Zeitlage A des Normalreizes (N 
voraus) ist die Kurve ausgezogen, für B gestrichelt, u. z. beide in der 
nämlichen Figur. Für die Kurven der u-Fälle gilt der nämliche 
Maßstab der relativen Urteilshäufigkeiten von O bis 1 wie für 
die vier übrigen Kurven der g-und u-Fälle. (Figur 1 bis 6.) 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 241 


Außerdem wurde für sämtliche Gruppen die Kurve k’ mit der 


Fechnerschen Halbierung der Gleichheitsfälle, also k’ = k -+ 5. 


entworfen, welche zu der Kurve g =g +5 in der eindeutigen 


Beziehung ’=1-—-Kk’ steht, also sie zur relativen Häufigkeit 1 
ergänzt, da hierbei nur die beiden Möglichkeiten »größer« 
oder »kleinere unterschieden werden. Hierfür sind die Kurven 
der 5 Gruppen 4, 8, 12, 16 und 20 der Vp. E als Beispiel ab- 
gebildet, also für die auf-ab -Reihen aller Normalreize 0,1 bis 
500 g (Figur 7 bis 11). | 

Aus dieser graphischen Darstellung läßt sich aber offenbar 
unsere Hauptfrage bezüglich der Gültigkeit des Weberschen Ge- 
setzes bereits bis zu einem gewissen Grade rein anschaulich lösen, 
daja die Abstufung der Vergleichsreize zum Hauptreize proportional 
war (vgl. S. 224) und die abgeleiteten Kurven sich stets über 
die nämliche Anzahl solcher relativ gleicher Stufen erstreckten. - 

Bei einer genauen Gültigkeit des Weberschen 
Gesetzes müßte sich also einfach für sämtliche 
Reizstufen das nämliche Kurvenbildin denvonuns 
gewählten Maßen der Reize und relativen Häufig- 
keitenergeben. In Wirklichkeit zeigen sich jedoch von diesem 
übereinstimmenden Verlaufe schon auf den ersten Blick Abweichun- 
gen. Ein Teil der Gruppen sind sogenannte vollständige Reihen, > Voll- 
reihen«, bei denen die Vergleichsreize bei ihrer Abstufung sich 
so weit vom Äquivalenzwert entfernt haben, bis sämtliche wieder- 
holten Darbietungen der extremen Reizstufe eindeutig das Urteil 
»kleiner« oder »größer« ergaben. Diese Extreme des Unsicher- 
heitsgebietes werden bei 5 Gruppen völlig erreicht; in 6 weiteren 
Gruppen fehlt bei nur einer von den beiden äußersten Reizstufen 
je ein einziger Urteilsausfall bis zu dieser Eindeutigkeit, was 
bei 80 Beurteilungen als i offenbar für das Gesamtbild und seine 
vorläufige Veranschaulichung des Weberschen Gesetzes nicht 
weiter in Betracht kommt. Man kann bei diesen Reihen als 
wahrscheinlich annehmen, daß die nächste Reizstufe völlig ein- 
deutig beurteilt worden wäre und somit die nur um eine Reiz- 
stufe erweiterten Reihen Vollreihen sein würden. Die Urteils- 
kurven der übrigen 9 Gruppen bleiben dagegen für beide Urteils- 
arten zum Teil noch wesentlich hinter der vollen Höhe der 


relativen Häufigkeit 1 zurück. Die Abweichung vom Weberschen 
Archiv für Psychologie. LII. 16 


242 Friedrich Noßke, 





a 
5 6 7 8 9I WM RN MW TS 


Fig. 1. Fig. 2. 
Reihe 5 Vp. J Kurve der k Reihe 5 Vp. J Kurve der u 





WEE EE RE ——— 4 BERN — 
56789 DM TR TR WISS 5 6 7 89 mn nn 13 m 
Fig. 4. Fig. 5. 

Reihe 17 Vp. J Kurve der k Reihe 17 Vp. J Kurve der u 


Gesetze zeigt sich nun darin, wie sich diese unvollständigen 
Reihenauf dieeinzelnen Reizstufen verteilen. Da- 
bei ist allerdings noch nichts darüber ausgemacht, ob bei einer 
solchen Unvollständigkeit der Reihe sowohl die extremen Urteils- 
arten »größer« und >kleiner« als auch die Gleichheitsfälle zahl- 
reicher und weiter ausgebreitet sind als bei den vollständigen 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 243 


7= 1729 


0,50} 
0.25 
0 : 0 
5 6 7 8 9 0 A23 





5 10 15 
Fig. 3. Fig. 7. 
Reihe 5 Vp. J Kurve der g . Reihe 4 Vp. E Kurve der x 





GTS i 
950 
0,25 
0 0 
5 6 7 8 9 O-N 23 MW NS 5 10 15 
Fig. 6. Fig. 8. 
Reihe 17 Vp. J Kurve der g Reihe 8 Vp. E Kurve der k' 
300 100 100 
0,75 015! 0,75, 


Q © D- 

8 8 

an S 

8 8 

rA 

D D N 
O 
8 S 


5 70 = 5 10 75 
Fig. 9. Fig. 10. Fig. 11. 
Reihe 12 Vn.E Kurved.k’ Reihe 16 Vn.E Kurved.k’ Reihe20 Vp.E Kurve d.k’ 


244 Friedrich Noßke, 


Reihen, wie es bei einer Übereinstimmung hinsichtlich des Gauß- 
schen Gesetzes der Fall sein müßte, oder ob nur eins dieser beiden 
Symptome der Unsicherheit deutlicher hervortritt. Die bloße Be- 
trachtung der allgemeinen Kurvenform im ganzen gestattet aber 
auch hierüber ein unmittelbares Urteil, da sich die Anzahl der 
Gleichheitsfälle an dem Flächeninhalt der mittleren Kurven ab- 
schätzen läßt. Denn bekanntlich ist bei relativ gleichem Abszissen- 
maß die relative G. E. Müllersche Unterschiedsschwelle diesem 
Flächeninhalte proportional. 

Bei den einzelnen Normalreizen erhielten wir folgendes Bild: 

Beim Normalreize 0,1 g finden wir keine Voll- 
reihe, was also darauf hinweist, daß der zu schwache Reiz 
nur mit einer größeren relativen US. verglichen werden kann, 
wie dies nach unserer historischen Betrachtung (S. 208) ‚mit der 
bisherigen Erfahrung übereinstimmt und als untere Abweichung 
des Weberschen Gesetzes unterhalb der Kardinalwerte bezeichnet 
zu werden pflegt. 

Beim Normalreiz 0,5 g ist ebenfalls noch keine 
Vollreihe vorhanden, doch fehlt bei zwei von den unvollständigen 
Reihen nur je ein Urteilsfall in der obengennanten Weise zur 
Eindeutigkeit der beiden Extreme (Gruppe 7 und 8). 

Normalreiz 5 g: Die Unsicherheit der Beurteilung ist in 
diesen Versuchen auffällig größer als für den kleineren Normal- 
reiz 0,5 g, da sie ja, wie schon S. 220 ausdrücklich erwähnt wurde, 
als die zeitlich frühesten am meisten unter der Ungeübtheit zu 
leiden hatten. Eine Gruppe gehört immerhin auch hier zu jenen 
beinahe vollständigen Reihen (Gruppe 12). Die Gruppen mit dem 
Hauptreize 50 g zeigen einen ähnlichen Typus wie die mit dem 
Hauptreiz 0,5 g, so daß in diesem Bereich das Webersche Gesetz 
sich in der Tat schon für eine oberflächliche Betrachtung als 
gültig erweist. 

Beim Normalreiz 500g haben wir überall eine sichere 
Erreichung der Vollreihen, zum Teil schon in einem kleineren 
Abseissengebiete. Die allgemeine Unsicherheit zeigt sich somit 
hier relativ kleiner als in den Gebieten 0,5 g bis 50 g, was zum 
Teil auch schon von Kraepelin selbst hervorgehoben worden 
ist und auf Übungsfortschritte und eine größere räumliche Reiz- 
fläche zurückzuführen sein wird. Auffällig ist ferner bei den 
Reizstufen 0,5 g und 5g ein wesentliches Übergewicht der 
Gleichheitsfälle, woraus sich schon nach dieser Methode insbe- 
sonders für die Müllersche U.S. des Idealgebietes der Gleich- 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 245 


heitsfälle eine stark relative Verkleinerung nach oben hin er- 
kennen läßt. 

Unsere graphische Methode läßt endlich noch den Unterschied 
zwischen den beiden Vpn. E und J hervortreten. Die absolut 
oder beinahe vollständigen Reihen verteilen sich auf die einzelnen 
Vpn. wie folgt: 

J : Totalreihe 13, 14, 17, 18. 

E: j 7, 8 12, 15, 16, 19, 20. 
Es treffen also von diesen 11 Reihen beinahe doppelt so viel 
(7) auf E als auf J (4). Da aber die Reizstufen für beide Per- 
sonen die nämlichen waren, so kann man daraus erkennen, daß 
das gesamte Unsicherheitsgebiet bei E wesentlich geringer war 
als bei J. Auch finden sich bei E weniger Verkehrtheiten 
erster und zweiter Ordnung; es findet bei E somit ein regel- 
mäßigerer Verlauf der Urteilskurven statt. Eine Ausnahme davon 
machen die Veruche mit 0,1 g. Dies ist um so auffälliger, als 
die Reizschwelle bei J etwas größer war als bei E. Die von 
Kraepelin selbst veröffentlichten Werte!) sind: E: 0,0886 g; 
J: 0,0975 g. Wie weit hierbei die Wissentlichkeit des Verfahrens 
mitgewirkt hat, läßt sich natürlich ohne Vergleichsversuche mit 
völlig zufälliger Untermischung der Reizstufen nicht näher be- 
urteilen. 

Was endlich die graphische Prüfung des Einflusses der systema- 
tischen Lage-und Richtungsunterschiedeanlangt,soläßtsichaufdiese 
Art keine unterschiedliche Wirkung der beiden Zeitlagen des 
auf und ab herausbekommen, die wir auch bei der Bildung der 
Hauptgruppen mit Kraepelin auseinandergehalten haben. 
Auch über den Einfluß der A- und B-Lage des Hauptreizes, auf 
deren Unterscheidung wir in unseren Totalreihen bei der Be- 
rechnung im allgemeiuen verzichtet haben, läßt sich aus den 5 
Reihen der Vp. J., in denen wir A und B graphisch trennten, 
nichts Abschließendes sagen. Bei Reihe 1 für 0,1 g sind die 
A-Kurven nach rechts, die B-Kurven etwas nach links verschoben, 
d.h. wenn der Normalreiz vorausgeht, so wird er im Vergleich 
zu V etwas überschätzt. Es liegt ein positiver Zeitfehler im 
Sinne Fechners vor. Das nämliche gilt bei Reihe 5 (vgl. 
Fig. 1 bis 3) und 9 für 0,5 g und für 5g. Dagegen verhalten 
. sich Reihe 13, 17 (vgl. Fig. 4 bis 6) und 19 für 50 g und 500g 
entgegengesetzt, indem die punktierten Kurven der B-Lage 


1) Vgl. S. 198 Anm. 1. 


246 Friedrich Noßke, 


etwas nach rechts rücken, also eine Unterschätzung des 
vorausgehenden Reizes ergeben. Es scheint also hier eine 
Abhängigkeit des spezifischen Lageinflusses von der Inten- 
sität der Reize vorzuliegen, der an die Mitwirkung der 
Schätzung nach dem absoluten Eindruck oder an Eigentümlich- 
keiten des Erregungsanstieges denken läßt. Doch wäre hierüber 
erst nach einer Prüfung sämtlicher Reihen in dieser Hinsicht 
zu entscheiden, die wir hier noch nicht vorgenommen haben. 
Die einzige Reihe 4 des Vp. E für 0,1 g, die wir oben S. 237 
und Tabelle 2 analysierten, wurde jedenfalls aus der soeben er- 
wähnten Regel bereits herausfallen, da bei ihr umgekehrt die 
k-Kurve bei B und die g-Kurve bei A überwiegt, also das 
A-System nach links, im Sinne einer Unterschätzung des N, ver- 
schoben erscheint. Auch die unten rechnerisch behandelte Reihe 
18 der Vp. J für Reiz 500 g zeigt die entgegengesetzte Tendenz 
wie Reihe 17 bei der nämlichen Reizstufe und scheint auf 
speziellere psychologische Ursachen des Einflusses der Lage A 
und B hinzuweisen, da die Reihe 18 nach der Reihe 17 unter 
sonst ähnlichen Bedingungen abgeleitet wurde (Vgl. Abschnitt V). 

Von dem allgemeinen graphischen Überblick über die Urteils- 
kurven gehen wir nun zu einer genauen Prüfung des Unsicher- 
heitsgebietesan derHanddereinzelnen Repräsentanten, 
d. h. der Hauptwerte und Streuungsmasse der hier abgeleiteten 
Kollektivgegenstände der Schwelle über, die sich aus diesen Be- 
obachtungswerten berechnen lassen. Dabei ergibt sich außer 
den Maßen für die Unterschiedsempfindlichkeit stets auch gleich- 
zeitig der Äquivalenzwert A des variablen Reizes im Vergleich 
mit dem Normalreiz N, aus welchem sich die sogenannte mittlere 
Schätzungsdifferenz 

f=V—N 

zwischen den mittleren Auffassungen des Vergleichs- und Nor- 
malreizes finden läßt. Zugrunde gelegt wurden die Formeln in 
der Form und Schreibweise, wie sie sich in Wirths »Psychophysik> 
und »Speziellen psychophysischen Maßmethoden« finden ?). 


1) »Psychophysik, Darstellung der Methoden der experimentellen Psycho- 
logie« von W. Wirth, Leipzig, Hirzel, 1912, ist augenblicklich vergriffen. 
Das darin enthaltene Formelmaterial findet man teilweise, und zwar er- 
weitert und fortgeführt, in den »Speziellen psvchophysischen Maßmethoden« 
von W.Wirth, erschienen im Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, 
herausgegeben von Abderhalden, in Abteil. VI A, Heft 1, Lieferung 4, 
Urban u. Schwarzenberg, 1920 (einzeln käuflich). 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 247 


IV. Die Resultate der Berechnung. 


Die verschiedenen Berechnungsweisen von Repräsentanten 
der Urteilskurven nach der Konstanzmethode der 3 Hauptfälle. 


Das Material zerfällt hinsichtlich der Voraussetzungen für 
die Anwendung bestimmter Methoden zur Berechnung der typischen 


Werte in zwei Hauptgruppen. Einerseits sind 11 völlig 
oder nahezu vollständige Reihen vorhanden, auf welche die 


Formeln des sogenannten »unmittelbaren Verfahrens« ohne Vor- 
aussetzung des Gaußschen Gesetzes auch insoweit anwendbar 
sind, als sie nach dem Prinzip des arithmetischen Mittels 
abgeleitet sind. Die übrigen 9 Reihen dagegen sind von diesem 
Idealfall mehr oder weniger entfernt, lassen aber trotzdem eine 
Reihe exakter Repräsentanten aus sich bestimmen. Eine völlig 
einheitliche Behandlung ist allerdings nur mit diesen letzteren 
Methoden möglich, die auf die unvollständigen Reihen ebenso 
angewandt werden können wie auf die vollständigen. Immerhin 
ist die Anzahl der Gruppen, die eine vollständige Reihe abzu- 
leiten gestatten, groß genug und vor allem gleichmäßig genug 
auf die einzelnen Reizstufen verteilt, um das Webersche 
Gesetz auch an der Hand jener Werte des sogenannten »un- 
mittelbaren Verfahrens« nach dem allgemeingültigsten Prinzip 
des arithmetischen Mittels erkennen zu lassen. 


1. Berechnung der Repräsentanten der Vollreihen 
mittelst des unmittelbaren Verfahrens nach dem Prinzip 
des arithmetischen Mittels. 


Wir bestimmen hierbei zunächst getrennt die Mittel der zu- 
fällig schwankenden oberen und unteren Grenzreize r, (X) und ra (W 


und die Müllersche Unterschiedsschwelle S (A) = > (ro (W) — ra (W) ) 
sowie den Äquivalenzwert A (A) = 5 (ro (W) + ra (W). 

Hierbei ist: 
nM=E ti (zx — 5) ana ro (0) = E, —i (28— 3) 1) [4 und 5] 


E. und E, sind dabei die Reize der Urteilskurven, von 
denen an das Urteil eindeutig abgegeben worden ist; i ist das 
Intervall zweier benachbarter Reizstufen. k und g sind die 


1) Wirth, Psychophysik $S. 188/192. 


948 Friedrich Noßke, 


Summen der relativen Häufigkeiten der kl.- bezw. gr.-Urteile 

zwischen E,„ und E,. Der Äquivalenzwert A ist gemäß seiner Be- 

rechnung die Mitte des Schwellenbereiches. Als Streuungsmaße für 

die Grenzreize werden die auf das arithmetische Mittel der beiden 

Grenzreize bezogenen mittleren Fehler M, und M, berechnet. 
Es ist!): 


8 





[2x 2) [6] 


1 2 
q ist die Anzahl der Reizstufen innerhalb des Gebietes der 
Änderung der k, wobei E, mitzuzählen ist; p bedeutet dasselbe 
für das Gebiet der g-Urteile. Die relativen Häufigkeiten werden 
durchnumeriert in der Richtung der Zunahme der Ordinaten. Die 
Abgabe von Gleichheitsurteilen oder Unsicherheitsurteilen ist 
von subjektiven Bedingungen, die außerhalb der Unterscheidungs- 
fähigkeit als solcher liegen, entscheidend mitbedingt. Man kann 
demnach 2S nicht allein als Repräsentanten der Reihe ansehen. 
Andrerseits darf man auch nicht, wie Müller gezeigt hat, die 
Reziproken der Streuungsmaße der Grenzreize, also die So- 


= 2la-n k, +(q-2) k+. 1 kyat 





1 
Mt- 2i lo- gı +P- 2) g+: le gaat g 


1 1 
genannten Präzisionsmaße h, = M VY hu — v allein als 
o u 


Maß der Unterscheidungsleistung betrachten. Das einheitliche 
Maß muß demnach eine Funktion der drei Größen M., Mu und 
S sein. Als diese Funktionen nehmen wir das Hauptstreuungs- 
maß M, welches nach Wirth?) als Funktion der genannten 
3 Größen der Beziehung genügt: 

2 M? = M? + 2 S2? + M.’ [8] 
und außerdem direkt nach den Formeln [6] und [7] nach Vor- 
nahme der Fechnerschen Halbierung der Gleichheitsfälle aus 
k’ und g’ berechnet werden kann. In mehreren psychophysischen 
Untersuchungen hat sich dieses Hauptstreuungsmaß M als zweck- 
mäßige Charakterisierung des Unsicherheitsgebietes bewährt. 
Von F.M. Urban und Wirth sind auch die wahrscheinlichen 
Fehler zu den wichtigsten Formeln für Unterschiedsschwelle, 


1) Wirth, Psychophysik S.188, 192 und Spez. psych.-phys. Maß- 
methoden S. 297. 

2) Wirth, Ein einheitliches Präzisionsmaß der Urteilsleistung bei der 
Methode der drei Hauptfälle und seine Beziehung zum mittleren Schätzungs- 
wert. Arch. f. d. gesamte Psychologie Bd. 24 S. 142 ff. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 249 


Streuungsmaße und Äquivalenzwerte nach dem unmittelbaren 
Verfahren bestimmt worden. Da unser Resultat bezüglich des 
Weberschen Gesetzes vor allem in dem einheitlichen Streuungs- 
maß M zu erblicken ist, so wollen wir wenigstens auch den 








wahrscheinlichen Fehler Wm angeben. Er beträgt*): [9] 
0,675 i? > 1 ) \ 
= — 2X — = — k) — g; —Kk,)’ 
M M.-2.Vn 9 d [(g,+ y) 8, ») ] j 
y=0,...10 





Dabei bedeutet i wiederum das Reizintervall, M das Haupt- 
streuungsmaß; 0,675 ist die Abkürzung von 0,67449 
(log 0,67449 = 0,82897 — 1). DerRadikand ist eine Summe von 
(10-1) allgemein (m -+ 1) Summanden. Der einzelne Summand ist 


2 
(2x3) [(g, + k, — — 
Dabei ist Zk’ die Summe der kleiner-Urteile, denen die Hälfte 
der gleich - Urteile zugeschlagen worden ist, » ist der Summa- 
tionsindex. Der noch auftretende Faktor n (im Nenner als V n 
vorkommend) ist die Anzahl, die angibt, wievielmal jeder Reiz 
in der ganzen Versuchsgruppe geboten worden ist. Unter 
der Voraussetzung, daß jeder Reiz gleich oft geboten worden 
ist, erscheint Vn als ein allen Summen gleicher Faktor. Nun 
ist diese Bedingung bei uns nicht erfüllt. Die Zahl n hat den 
Wert 80 für die Reizstufen (relativ gemessen) 6, 7, 8, 9, 11, 12, 
13,14 (vx = 1,2,3,4,6,7,8,9. Für die Extremreize ist n — 40 
=0 und »=10) und für den Hauptreiz 10 ist n = 120 
(x= 5). Auf diese Weise ist der Nenner n nicht bei allen 
Summanden der gleiche. >Wenn nun die einzelnen Stufen x, 
des Vergleichsreizes nicht gleich oft, sondern n, mal beurteilt 


1 
werden, kann natürlich Vn nicht als gemeinsamer Faktor vor- 


angestellt werden, sondern es bleibt in 


5 TE 
v n. (. .. ) 
y 
unter dem Wurzelzeichen.< Diese Abänderung von der oben 


gegebenen Formel für den wahrscheinlichen Fehler gilt für alle 
Formeln über wahrscheinliche Fehler. Daß die Extremreize 


1) Wirth, Spezielle psychophysische Maßmethoden S. 318 als Formel 
(191 ®), 
2) Wirth, Spezielle psychophysische Maßmethoden S. 313. 


250 Friedrich Noßke, 


n, = 40 statt n, = 80 haben, beeinflußt die Formeln nicht, da 
für diese Reizstufe in Anbetracht der zugrunde gelegten voll- 
ständigen Reihen entweder g, oder k, an diesen Stellen 0 
oder 1 ist und somit die Summanden für diese Reizstufe 0) 
sind. Dagegen ist die Abänderung der Summenformel zu be- 
rücksichtigen beim Hauptreiz 10, bei dem n,=120 ist. In 
unserem Rechenschema bekommen demnach alle auftretenden 
Summanden unter dem Wurzelzeichen den Nenner 80, nur der 
eine Summand den Nenner 120). 

Außer dem einheitlichen Streuungsmaß M nach dem Prinzip 
des mittleren Fehlers läßt sich aber auch A nach dem Prinzip 
der mittleren Variation, d. i. des Mittels aus den ersten Potenzen 
der absoluten zufälligen Abweichungen bestimmen. Da aber M 
und A unter Voraussetzung des Gaußschen Gesetzes für 
die Schwankung in einem bestimmten Verhältnis zueinander 
stehen müssen, so wird sich auch in dieser Bestimmung eine 
erste Kontrolle für die Gültigkeit des Gaußschen 
Gesetzes für die reduzierten Urteilskurven g’ 
und K’ ergeben. 

Die auf alle Gruppen gleichmäßig anwendbaren Methoden 
zerfallen in zwei Untergruppen. 

Fürs erste lassen sich die mittlere obere und untere Unter- 
schiedsschwelle r, und ru, ihre Streuungsmaße M, und M, und der 
Äquivalenzwertt A nach der Methode der kleinsten 
Quadrate berechnen, indem man das Gaußsche Exponential- 
gesetz für die Kollektivgegenstände zu r, und rą voraussetzt 
(Verfahren mittels Formel). Hierfür ist heute das so- 
genannte Müller-Urbansche Gewichtsverfahren als exaktestes 
Hilfsmittel anerkannt. F. M. Urban hat hierzu auch die Formeln 
für die in der Methode der kleinsten Quadrate übliche Genauigkeits- 
bestimmung, also die wahrscheinlichen Fehler der Schwelle usw. 
berechnet. Wir berechnen diese Werte wenigstens an einigen 
Beispielen, um die überall ungefähr relativ gleiche Dimension 
der Genauigkeit bei dieser Berechnungsmethode mit derjenigen 
nach der anderen Methode vergleichen zu können. 

Dabei läßt sich auch wieder das soeben schon beim unmittel- 
baren Verfahren benützte einheitliche Streuungsmaß M 


1) Man setzt trotzdem bei der Ausführung der Rechnung den Faktor 


gg vor die Hauptwurzel und erteilt sofort beim Summieren dem Gliede 5 


2 
das Gewicht 3. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 251 


zur Charakterisierung der mittleren Ausdehnung der Unsicherheits- 
region unter diesen nämlichen Voraussetzungen ableiten, an der 
Hand dessen das Webersche Gesetz eine besondere einheitliche, 
der Neigung zu mittleren Gleichheits- oder Unsicherheitsurteilen 
überhobene Prüfung gestattet. Man kann hierbei M entweder 
direkt als Funktion der nach Müller-Urban gewonnenen Werte 
2 S = (ro — ru), Mo und M, nach der Formel [8] für M berechnen, 
wobei kein neuer Äquivalenzwert resultiert, oder man kann 
zuerst die Gleichheitsfälle nach Fechner halbieren, was, wie 
schon gesagt, von Wirth als gleichwertig mit dieser Berechnung 
von M nachgewiesen wurde, und dann erst das Müller- 
Urbansche Ausgleichungsverfahren anwenden, das hierbei 
wegen der Einführung der Methode der kleinsten Quadrate in 
den verschiedenen Stadien der Berechnung natürlich nicht zu 
genau den nämlichen Werten führt. Es ergibt sich deshalb 


auch ein neuer Äquivalenzwert A’ = En +-ru). Es wird weiter 


unten zu prüfen sein, ob diese Differenzen groß genug sind, um 
bei ausschließlichem Interesse für die allgemeine Charakterisierung 
der Gesamtunsicherheiten bei den einzelnen Reizstufen und der 
Abweichung des mittleren Schätzungswertes A vom Hauptreiz H 
den Umweg über die gesonderte Berechnung einer oberen und 
unteren Schwelle und der Müllerschen Schwelle (r — ra) neben 
der direkten Berechnung nach der Fechnerschen Halbierung 
der Gleichheitsfälle überhaupt noch notwendig zu erachten. Es 
wird weiterhin von besonderem Interesse sein, den schon von 
Urban an dem Material von Keller geprüften Grad der Über- 
einstimmung dieser nach verschiedenen Verfahren gewonnenen 
Resultate zu untersuchen. 

Zweitens lassen sich aber auch ohne Voraussetzung des 
Gaußschen Gesetzes im sogenannten »unmittelbaren Verfahren« 
nach Müller dieZentralwerte der Schwelle r, (C) und ro (C) 
am einfachsten linear als die Werte —— bei denen die 


Kurve der größer- bezw. kleiner-Urteile den Wert 1 5 * °/,) erreicht. 


Damit ist auch ein neuer Äquivalenzwert A (C) = — (ro (C) + ra (C)) 


festgelegt. Als oberes und unteres Streuungsmaß nach dem 
nämlichen Prinzip des Zentralwertes würden hierzu die wahr- 
scheinlichen Fehler der Kollektivgegenstände für die Grenzreize 
Ta und ro gehören, wie sie ohne Voraussetzung des Gaußschen 


252 Friedrich Noßke, 


Gesetzes als der halbe mittlere Streuungsbereich dieser 
Grenzreize zu definieren sind. Sie entsprechen dem Abstande 
des Zentralwertes r (C) mit g = k = 50 °/, von den ebenfalls zu 
interpolierenden Stellen, an denen g und k darunter und darüber 
25°/, und 75°/, erreicht. Da aber nach dem nämlichen Prinzip 
des Zentralwertes auch ein Äquivalenzwert nach der Fechnerschen 
Halbierung der Gleichheitsfälle direkt ableitbar ist, so läßt sich 
ihm auch ein einheitliches Streuungsmaß nach diesem Prinzip 
des wahrscheinlichen Fehlers an die Seite stellen, das nach dieser 
Reduktion der Kurven auf g’ und k’ den halben Abstand 
zwischen den Vergleichsreizen bei 25°/, und 75°/, bedeutet. 


2. Die Behandlung der Vollreihen nach dem Prinzip des 
arithmetischen Mittels. 


a) Die Müllersche Schwelle 2 S, die mittleren Fehler M., Mu 
und M und der Äquivalenzwert. 


DieSpearman-Wirthschen Formeln sind auf die 11 Voll- 
reihen anwendbar. Da für die einheitlichen Streuungsmaße 
und Äquivalenzwerte die Halbierung der Gleichheitsfälle (u-Fälle) 
und die Reduktion der Kurven auf g’ und k’ entscheidend ist, 
so geben wir zunächst in einer Tabelle die Häufigkeitsordinaten 


dieser reduzierten Urteilskurve g’ = (z + z") mit der auch K' 


durch die Gleichung k’= 1 — g' eindeutig gegeben ist. Durch 
die Halbierung der Gleichheitsfälle müßten wir den gemeinsamen 
Nenner 480 benützen. Wir behalten aber den Nenner 240 bei. 
Dadurch können im Zähler Zahlen mit dem Nenner 2 auftreten. 
Ihre Bezeichnung ist: 207’ = 207!/,) (Tabelle 4). 


Tabelle 4. 





Gruppe: 





SODANN OD CS 


— 


60 | 15 | 65, 84 | 24 | 24 3 0 | 51 | 30 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 253 






Gruppe: 





222 |237 |240 |284 |234 |234 |240 |240 | 240 






0| —5 5 240 
1 — 4 6: {219 |238' |240 |234 |240 |222 | 238’ | 237 |240 | 240 
2| —3 7 210 238’ 
3| —2 8 i 229 
4| —1 9 207 
5 0 10 145 
6 1 11 69 
7 2 12 31’ 
8 3 13 9 
9 4 14 0 
10 5 15 0 


(Zu ergänzen: Nenner 240; 207' = 207 !/,.) 


Die Ergebnisse der Rechnungen nach den genannten Formeln 
(4), [5], [6], [7], [8] und [9] sind in Tabelle 5 geordnet. Diese 
Tabelle gestattet sofort die Prüfung des Weberschen Gesetzes, 
da bei der relativen Konstanz der Stufen der Vergleichsreize 
bei allen 5 Normalreizen auch die Berechnungsgrößen (Schwelle, 
Äquivalenzwert, Streuungsmaß) in relativen Werten erscheinen. 
Da hierbei N = 10 ist, so gibt die Abweichung des Wertes A (XW) 
von 10 die relative Schätzungsdifferenz. 


Tabelle 5. 





*7 | E| 085g | 9,325| 10,038 oma 9,681|1,942|2,150|2,079! + | 0,0690 
*8 | E|05«| 9,760! 10,508] 0,751 |10,129|2,114 1,921 |2/067| + | 0,0657 
“12 | E| 5g8| 9384| 10,917) 1,533 10,160|1,948| 1.792|2'001| + | 0,0562 
*13 | J | 50g| 9,613] 10,571| 0.958 | 10.092) 1,708 |1,732| 1,416! + | 0,0673 
*14 | J | 508 | 9,550|10,046| 0,496 | 9,798 2.068 |2,043|2.070| + | 0,0891 
*15 | E| 6508| 9,792|10.208| 0.417 |10,000 2,158|2,141|2,159| + | 0,0672 
"16 | E| 50g | 9.750|10,046| 0.296 | 9,898|2,261,2'339|2,305 | + | 0,0726 
17 | J |500 g| 9,717|10,254| 0,537 | 9,986|1,453) 1,466 1,479| + | 0,0576 
18 | J |500 g | 10,129) 10,579| 0,450 | 10,854] 1630| 1,428] 1549| + | 0,0677 
19 | E|500 g| 9858| 9.968|0,100 | 9,908|1,575|1,596|1,686| + | 0,0639 
20 | E | 500 g |10,254| 10,492| 0238 10,373] 1,463) 1,307 | 1,387| + | 0.0567 





Zur Betrachtung der Tabelle 5 sind noch folgende Bemer- 
kungen zu machen: 

*7 bedeutet: In den mit * versehenen Reihen fehlt noch ein 
Urteil (von 40) zur vollen Eindeutigkeit bei einem der extremen 
relativen Vergleichsreize 15 oder 5; bei **16 je eins bei beiden 
Extremen 5 und 15. Alle Rechnungen sind doppelt ausgeführt 
worden: 1. mit den relativen Häufigkeiten der Tabelle 4, so daß 
die Nenner 240 zu ergänzen sind; 2. mit den in Dezimalzahlen 


254 Friedrich Noßke, 


verwandelten relativen Häufigkeiten. (Grundlage der Rechnung 
3 Dezimalstellen) Außer diesen Kontrollen ergibt sich eine 
wesentliche Kontrolle in der mehrfachen Berechnung von M nach 
den 3 Formeln: 


— > Mt +284 M’) [8] 


M? =2|( Jors + 2% 5) j [10] 
M? = 2i|( Xe- v) g'» + 5) — (De — 5) i [11] 


wobei die beiden letztgenannten Formeln die Formeln 185* und 
186* aus Wirths »Speziellenpsychophysischen Maßmethoden « sind. 

Aus der letzten Spalte ersieht man, daß der Bestimmung von 
M theoretisch nach diesem Prinzip, bei dem nur das Bernoulli- 
sche Theorem für die beobachtete Urteilshäufigkeit vorausgesetzt 
zu werden braucht, ein außerordentlich hoher Genauigkeitsgrad 
zukommt, der aber auch schon in anderen Untersuchungen empi- 
risch kontrolliert worden ist, und auch hier wieder durch Frak- 
tionierung der großen Versuchsreihe geprüft werden könnte. 

Berechnen wir nun zu den in Tabelle (5) angegebenen rela- 
tiven Zahlen die absoluten Werte, so ergibt sich folgendes Bild 
(Tabelle 6). 


Tabelle 6. 
Gruppe | Normal | Ta (%) To Q) 2 S (W) A (U) M (A) 








7 05g 

8 0,5 g 
12 bg 
13 50 g 
14 50 g 
15 50 g 
16 50 g 
17 500 g 
18 500 g 
19 500 g 
20 500 g 


b) Die mittlere Variation und die Prüfung des Gaußschen 
Gesetzes für die Urteilshäufigkeiten g’ und K'. 


Eine erste einfache Prüfung der Annäherung der Verteilungs- 
funktionen f,(x) und fa(x) der Grenzreize r, und rą, an das Gauß- 
sche Gesetz bezw. der beobachteten Urteilskurve F,(x) und F.(x) 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 255 


an die ®-Funktion, d. h. die Summenfunktion zum Gaußschen 
Gesetz finden wir, wenn wir die mittlere Variation D der 
Schwellenwerte berechnen. Wir beschränken uns auf den Fall, 
wo die Gleichheitsfälle halbiert worden sind. Die beiden so 
erhaltenen Kurven f,(x) und f’,(x) sind zufolge ihrer Beziehung 
fx) + fo(x) = 1 spiegelbildlich zur Parallelen zur x-Achse im 
Abstande 5 

Bezeichnet E, die Vergleichsreizabszisse, bei der k’=1 wird, 
und E, die Abszisse für g’=1, ferner S den Schnittpunkt der 


gelegen. 


beiden Kurven g’ und k’, bei welchem g = k' = 5 sein muß, 


so ist die mittlere Variation A = D*) das von den Punkten En S E, 
begrenzte Flächenstück!), wobei die jeweiligen Abszissen im 
Teile E, S die Werte g’, sind, zwischen SE, die Werte Kl, Das 
Flächenstück zerfällt sinngemäß in zwei Teile, die durch die 
zur Abszisse r(><) gehörige Ordinate getrennt werden. Der Wert 
r(x) ist als Schnittpunkt der beiden Verteilungskurven wegen 
ihrer symmetrischen Struktur als der Zentralwert einer der beiden 
Kurven zu berechnen. Da dieser Wert im allgemeinen nicht 
auf eines der beobachteten Reizintervalle fallen wird, muß er 
durch lineare Interpolation gewonnen werden. Bei der Zählung 
der Intervalle von O bis 10 möge der Schnittpunkt zwischen 
x, und x,-+ı liegen, also 
X, <IX)<X,+1- 

Wir nennen die Restbestandteile a und £: 

r(>x<) — X, =a X„+1ı— r(x) = $, wobei a + f =1 
sein muß. 





Fig. 12. 


*) Vgl. die Anm. des Herausgebers S. 228. 
1) Vgl. Wirth, Archiv f. d. ges. Psychologie Bd.24, 1912, S. 143 u. 1631. 


256 Friedrich Noßke, 


Nach den Trapezformeln gemäß der linearen Integration er- 
gibt sich: 


Des +++ + Wut gultalgu+ 5) 
+E (3+ Kari) + gl +] 


da die Höhe der einzelnen Trapeze bezw. Dreiecke gemäß den 


äquidistanten Reizstufen jedesmal 1 ist. Bei den in der Nähe 
des Schnittpunktes liegenden Trapezen sind die Höhen a und $. 
Wir erhalten: 


1 
D=g' +g +, tgltagut+zga+R 
eE E kunt + kur 
D-Igıtzltagutz +5 (E Ap 2: 
0. 


u lu +2---10 
Die Rechnung sei an dem einen Beispiel der Gruppe 7 aus- 
geführt, deren Werte k 'und g’ in Tabelle 7 zusammengestellt sind. 
(Bei k’ und g’ zu ergänzen Nenner 240.) 


Der Schnittpunkt der k- und g-Kurven liegt bei: 


Tabelle 7. 24 
— + 46 

vK |g also ist: 4<r(x)<5 | 
EI P 

2 223 18 D= gol0 +13 +16+48 +t -96 + 60°) 
4 | 144 | 9% 1,43 

6 | 102 | 138 — 102 +63 +24+19+9+0). 
e | 63 | 177 

7 | 24 |216 

8 | 19 | 220 = zig (78 -4 75,36 + 60 + 72,93 + 115,5) 
10 | © |210 — 1,674. 


Die Berechnung liefert die Resultate, die in Tabelle 8 zugleich 
in Verknüpfung mit den Resultaten nach dem direkten Verfahren 
zusammengestellt sind: 


l) Wegen des Nenners 240 muß in der Rechnung er der Wert 60 an- 
gesetzt werden. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 257 





Tabelle 8 
— D 

7 eg 

8 1,738 
12 1,663 
13 1,363 
14 1,656 
15 1,220 
18 1,897 
17 1,192 
18 1,127 
19 1,268 
20 1,108 


Dabei bedeuten die Spalten: D die nach dem eben entwickelten 
Verfahren berechnete mittlere Variation der Schwelle; M das 
Hauptstreuungsmaß nach dem direkten Verfahren, entnommen 
aus Tabelled. D: M ist = Quotient dieser beiden Zahlen. 


Aus den Beziehungen h = —— und h = — ergibt sich das 


My2 
Verhältnis: y 


D : M = y2 : yx = 0,79788 (abgerundet 0,798). 
(Wirth, Psychophysik S. 108.) 
Der Mittelwert aller 11 Quotienten ist 0,803 und zeigt eine 
erstaunlich genaue Übereinstimmung mit dem idealen 
Wert 0,798. Die Schwankung um diesen Mittelwert 
ist offenbar sehr gering. Auch bei den einzelnen 
Reihen ist die Abweichung nie über 9!/,°/,, wobei dieses Maximum 
des Fehlers nach unten (M zu groß) bei Reihe 18 vorliegt, die 
auch nach anderen weiter unten betrachteten Kriterien vom 
Gaußschen Gesetz am meisten abweicht. Dies ist also zugleich 
der Beweis dafür, daß wir auf diesem Gebiete weiterhin auch 
da, wo dieses unmittelbare Verfahren nicht möglich ist, das 
Gaußsche Gesetz als Ausgleichungsfunktion nach der Methode 
der kleinsten Quadrate einführen dürfen, das wir im nächsten 
Paragraphen auf alle Reihen gemeinsam anwenden wollen. 


3. Anwendung des Müller-Urbanschen Gewichtsverfahrens. 
(Nach Wirth, Psychophysik S. 213ff. und F. M. Urban, Die 
Praxis der Konstanzmethode 1912.) 

a) Allgemeine Gesichtspunkte. 


Das Müller-Urbansche Gewichtsverfahren ist im An- 


schluß an das Rechenschema, das Wirth in seiner Psychophysik 
Archiv für Psychologie. LII. 17 


258 Friedrich Noßke, 


für äquidistante Reize gegeben hat (und solche Reizstufen liegen 
hier vor) durch Urbans vollständige Tabellierung aller in Be- 
tracht kommenden Ansatzmöglichkeiten überaus erleichtert worden. 
Dort findet sich eine Tabelle der Gewichtswerte P und der Pro- 
dukte und Quadratprodukte dieser Zahlen mit y, dem Argument 
des Wahrscheinlichkeitsintegrals. Man kann dann sofort alle 
auftretenden Reihen tabellieren und braucht nicht erst die ein- 
zelnen Summanden aus Produkttafeln zu gewinnen. Auf diese 
Weise kann die Bestimmung der Größen h und c aus einer 
Beobachtungsreihe in kurzer Zeit gewonnen werden. Aber auch 
beim ungünstigen Falle der Reihenanlage, d.i. bei nicht-äqui- 
distanten Reizen, kann man bei Benutzung moderner Rechen- 
maschinen die in früherer Literatur angegebene Zeit von zwei 
Stunden auf eine halbe Stunde herabdrücken. Kann man die 
Tabelle, wie sie sich bei Urban findet, in ihrem vollen Ausmaße 
benutzen, so werden 20 Minuten zu einer Bestimmung genügen. 
Ohne Zuhilfenahme mechanischer Apparate und demgemäß not- 
wendiger Kontrollen durch doppeltes Rechnen glaube ich, auf jede 
Reihe zwei Stunden verwendet zu haben. 

In der Bezeichnung richte ich mich nach der Form, wie sie 
Urban bei seiner Tabelle angegeben hat: 


a = Px? t PLH = [Px] = [ray] 

b, = P, + PR te = [Px] = [ra] 

b, = P, Pete = [P] = [T] [13] 
m, = 7, P, X, + ys Ps X, +. = [y Px] = [d Tt] 

m, = 7, P, F rPe tH = [yP] = [Tt] 


dabei entsprechen einander die Größen P, x,y und T, d, t. Die 
aufzulösenden Gleichungen für c und das Präzisionsmaß h lauten: 
a, h — b, c = m, 
b, h — b, ¢ = m, 
und liefern die Auflösung : 
— Mb, — b m — bım, — a m, ’) 
n= a, be — b,? = a,b, — b,” n4 
Man hat also die drei Ausdrücke zu berechnen: 
Zähler h: m, b, — b, m, = A = [Tt d]. [T] — [Tt . [ra] 
Zähler c: b, m, — a, m, = B = [Td]. (Tat) — [Td?]. [Tt] 
Nenner (für beide): a,b, — b° = N = [r4 [T] —[[Td} 
Wirth S. 212, 
Da die meisten Resultate relativ berechnet worden sind, kann 


1) In Urbans Arbeit finden sich bei den Auflösungsformeln zwei störende 
Fehler; ebenso steht in seinem Rechenbeispiel bei c das falsche Vorzeichen. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 259 


man hier für alle zwanzig Gruppen den gleichen Ansatz ver- 
wenden. Bei dem großen hier vorliegenden Kraepelinschen 
Beobachtungsmaterial können wir außerdem die Anwendungs- 
möglichkeit des Urbanschen Verfahrens nach vielen Richtungen 
auf ihre Genauigkeit und Vorzüge prüfen. 

Der Hauptreiz 10 wird stets der Nullpunkt der Rechnung; 
die relativen Reizintervalle sind je 1, so daß die Vergleichsreize 
heißen!) : 

— 5, — 4, — 3, — 2, — 1, 0, +1 + 2, +3, +4 +5. 
(Eine Reihe mit einer geraden Anzahl von Reizstufen haben wir 
nicht, doch wird auch dieser Fall einer Kontrollrechnung zu- 
grunde gelegt.) Die Rechnung würde sich noch weiter verein- 
fachen, wie Urban hervorhebt, falls mit den Vergleichsreizen 
gerade 25, 50 oder 100 Versuche gemacht worden sind (da er 
die relative Häufigkeit [p genannt) in zweistelligen Dezimalzahlen 
angibt), was hier allerdings nicht der Fall ist, da sich in jeder 
Reihe für die einzelnen Reizstufen 40, 80 oder 120 Beobachtungen 
finden. Wir müssen demnach die einzelnen relativen Häufigkeits- 
zahlen, die den Generalnenner 240 besitzen,®) in Prozentzahlen 
umrechnen. Bei der notwendigen Beschränkung auf zwei Dezimal- 
stellen werden Abrundungsfehler auftreten können, die nach den 
allgemeinen Rechenvorschriften von der Größe der dritten Dezimal- 
stelle abhängen. Sie können in allen Fällen als einander auf- 
hebend betrachtet werden, auch in weiteren Rechnungen, mit 
Ausnahme des Falles, wo die Zahl 5 an dritter Stelle auftritt. 
Ich habe deshalb ein Beispiel durchgeführt 

1. mit jedesmaliger Abrundung nach oben, 

2. unter Verzicht auf Erhöhung. 
Sind die erhaltenen Resultate wenig voneinander abweichend, 
so kann man ohne Bedenken die allgemeine Rechenvorschrift 
mit Aufrundung anwenden. Sind auf diese Weise alle Zweifel 
betreffs der Anwendungsmöglichkeit des Urbanschen Verfahrens 
geklärt, so können wir die Rechnungen folgen lassen. 


b) Einfluß der Abrundung bei auftretender 5 als dritte 
Dezimalstelle. 


Den Einfiuß der Abrundung will ich an den beiden Beispielen 
der®) A- und B-Reihe 18 prüfen, auf die wir in Abschnitt V 


1) Vgl. Tab. 4 S. 242, 2) Ebenda. 
3) anderweit auch als Muster dienenden 
17* 


260 Friedrich Noßke, 


nochmals zurückkommen. Rechnet man die gegebenen relativen 
Häufigkeiten, die den Generalnenner 120 haben, in die Prozent- 
zahlen p der Tabelle 9 um, so haben wir in Reihe A dreimal, 
in B viermal (bei 11 Spalten) an dritter Stelle 5. In I ist an 
dieser Stelle nicht erhöht worden, in II ist erhöht worden. 


Tabelle 9. 








I 
Alı 
gii 86 1, 
u 86 | 89 1,00 
Das Resultat zeigt Tabelle 10. 
Tabelle 10. 
Ba Zu Zo N | h | c M 
20,833 | 14,665 | 44,766 | 0,454 0,328 1,557 
19,674 | 18,575 | 42,458 | 0,463 0,320 1.526 
-B I 25,6% 0,305 59,943 0.429 0.051 1,65U 
u 25,758 | — 0,995 59,143 0,463 0,017 1,624 














Die Differenzen betragen in h 2°/, und 1?/,°/,, in M 2°, und 
1?/,°/,. Die prozentualen Abweichungen untereinander zeigen, 
daß die Werte gut, bis zur zweiten Dezimalstelle über- 
einstimmen. Bei Reihen, in denen die Abrundungsüberlegung an 
weniger Stellen auftrat, das ist bei den meisten Reihen der Fall, 
werden die Differenzen naturgemäß noch geringer. 


c) Verstellung der Urbanschen Skala bei unsymmetrischem 
Aufbau der Reihe. 


Bei symmetrischer Annahme des Aufbaues um den dem 
Hauptreize entsprechenden Vergleichsreiz ist anzunehmen, daß 
die Extremwerte O und 1 in gleichen Abszissenabständen vom 
Hauptreize erreicht werden. Ist dies nicht der Fall, wie im 
Beispiel 2 die Reihe A II von 18 (die Reihe erstreckt sich von 
— 2 bis 44), so können wir die Indizes um 1 verstellen. Es 
entsteht dann aus der Reihe: 

AII 18|—2 —-1 0 +1 +2 +3 4+4 
p=0,| 05 08 29 69 83 90 $8 ja 
die Reihe: | —3 —2 —1 0 +1 +2 +3ı 
p=0,| 05 08 29 69 83 90 98 J 
Man erhält Tabelle 11. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 261 


Tabelle 11. 


2 Z, N h 


AT 18 19,674 | 138,575| 42,458 | 0,468 1,526 
Verschoben | 19,674 |— 6098| 42,450 | 0,468 B 144 1'526 | $ 


Wir sehen in h uad M eine bis zur dritten Stelle reichende 
Übereinstimmung. Für ca und cs muß zufolge der Verschiebung 
um 1 die Beziehung gelten: 

Ca S. __ 


ETET. 


d) Kontrolle der Rechnung durch die Richsche »Checking- 
Tabelle«. 


In »The Essentials of Mental Measurement« von William 
Brown und Godfrey Thomson, Cambridge 1921, findet sich 
eine Tabelle von Rich, welche die nach der Urbanschen 
Methode ausgeführten Rechnungen kontrolliert (check). Sie ist 
nach folgendem Prinzip aufgestellt: 

Bei der Berechnung finden wir folgende vertikale Spalten: 

x p P yP xP x’P yxP 

—5 0,13 0,215 — 0,4950 — 3,1075 15,5375 2,4751 
und von den (im ganzen 11) horizontalen Reihen sind die verti- 
kalen Summen zu bilden unter Einhaltung der Vorzeichen. Das 
Ziel ist, wie in Formel [13] angegeben, die Summierung 

b, = ZP, m, =2yYP,b=2ıP, a, =2x'P, m =2yıP 
Schreibt man in eine anschließende Spalte jedesmal die Summe 
der in gleicher Horizontalen stehenden 

P+yP+xP+xr’P-+yxP) 
so bekommt jede Zeile eine Summenzahl (genannt »total«); diese 
Zahl hängt nur ab von x und p. Addiert man diese »total« s, 
so muß man die gleiche Zahl erhalten wie bei der Addition von 
b, -+ m, + b, + a, + m,. 

Auf diese Weise haben wir eine Kontrolle für die richtige An- 
wendung der Urbanschen Tabelle und eine Kontrolle für richtige 
Addition. Die Rich-Checking-Tabelle enthält zwei Eingänge: 
senkrecht p, gehend von 0,00 bis 1,00; wagrecht x von — 7 
bis +7. Sucht man den Schnittpunkt der beiden Eingänge x 
und p, so erhält man im Beispiel x = — 5, p = 0,13 die Zahl 
15,0316. Dies ist die ausgerechnete Summe von 

0,6215 — 0,4950 — 3,1075 + 15,5375 + 2,4751 = 15,0316. 
Die Summe dieser Zahlen ergibt die Kontrolle. 


262 Friedrich Noßke, 


Tabelle 12. 


Beispiel der Anwendung: g'-Urteile der Reihe 2 
x | p | Check-Tab. andrerseits 









5 | 089 20,1706 
4 | 024 12.0670 
3| 029 6.9567 A 
2 | 08 3,0314 a 

; AE 1: ZyP= 0,0207 
1 | 036 0.9542 m — 
0 | 04 8860 ie 

> Zxp= 87,1024 
1 | 064 3.2464 ee lan 
2 | 087 7.3915 vxP= 110087 
3 | 089 13/1642 106,3574 
4 | 08 16.9667 
5 | 08 21.4227 

106,3574 


Die Möglichkeit, diese Tabelle zu benutzen und eine Kontrolle 
für die Addition zu haben, empfindet man als angenehm; aller- 
dings darf nicht verschwiegen werden, daß sie die Hauptrechnung, 
die Berechnung von Z», Z. und N, nicht kontrolliert. Hätte 
man eine Kontrolle für diese Operation, die sich in eine nur 
wenige Seiten lange Tafel bringen ließe, so wäre diese ungleich 
wertvoller. Trotzdem würde ich es für angenehm halten, wenn 
diese Check-table, erstmalig erschienen in Amer. Journ. Psycho- 
logy 1918 XXXIX, denen, welche die Urbansche Tabelle be- 
nutzen, leicht zugänglich gemacht werden könnte. 


e) Durchführung der Rechnung nach dem Urbanschen 
Verfahren. 


Es wurde berechnet für alle 20 Gruppen. 

I. bu cu bo co Mu Mo 2S A und M. 

Dabei ergeben sich h, und Cu einerseits, họ und cC, andrer- 
seits durch je einmalige Anwendung des Urbanschen Rechen- 
schemas. Daraus wurden gefunden: 


€ o Co Cu Co Cu 
—— M=1:h,Y2, Be, T 2A=, +, 
[15] [16] 


und nach [8] 2 M? = M? + 2 S? -+ Ma’. 

Dabei ist in Formel [15] und [16] besonders das Vorzeichen 
der einzelnen Glieder zu beachten. 

II. Nach der Halbierung der Gleichheitsfälle genügt zur Be- 
rechnung ein Rechenschema. Dies ergibt c und h. Daraus er- 


hält man M = 7 


— 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 263 


Die Resultate der Rechnungen I finden sich in Tabelle 13; 
die aus II in Tabelle 14. 


Tabelle 13. 





ı | J | o1 | 0508 | 10,888 | 6,023 | 8,090 | 6,078 | +0,88 
2 | J | 01 ! 0806 | 9681 | 5227 | 5,058 | 5.183 | — 0,319 
3 | E | 01 | 0234 | 10180 | 8.080 | 5.952 | 6'057 | +0180 
4 | E | o1 |0175 | 9838 | 8222 | 7805 | 8'018 | — 0.182 
5 | J | 05 | 0501 | 9806 | 3318 | 3513 | 3435 | — 0,194 
e | J | 05 |0854 | 10375 | 3'818 | 3014 | 3.189 | -+0375 
7 | E | 05 |0346 | 9698 | 2035 | 2041 | 2108 | — 
8 | E | 05 |0348 | 10,112 | 2245 | 1,741 | 2038 | +0112 
9 |J 5 | 0925 | 9718 | 4541 | 5941 | 5.122 | — 0237 
10 | J 5 | 0.538 | 10,877 | 4304 | 8.606 | 3'369 | + 0.377 
1 | E 5 | 1,201 | 10.065 | 2845 | 2308 | 3183 | + 0,055 
2 | E 5 | 0,746 | 10,199 | 2081 | 1,770 | 2071 | +0,199 
8 | J | 50 |0469 | 10116 | 1810 | 1879 | 1.912 | +0116 
14 | J | 50 | 0207| 9768 | 2219 | 2184| 2218 | — 0.82 
15 | E | 50 | 0199| 9934 | 2377 | 2369 | 2381 | — 0'u66 
16 | E | 50 |0138 | 9862 | 2374 | 1524 | 2489 | — 0.188 
17 | J | 500 | 085 | 9977 |1 1512 | 1,582 | — 0,028 
ı8 | J | 500 | 0.188 | 10,332 | 1663 | 1,532 | 1587 | +0332 
19 | = | 500 | 0,100 | 9948 | 1.828 | 1.629 | 1.832 | — 0'052 
20 | E | 500 | 0,190 | 10,77 | 1,460 | 1,285 | 1,888 | +0,477 











Hauptreiz | M =h 1 


Gruppe V3 





< ç 


[0 Koi) 701 OUO a pt pad pand 


- 


eo0o000>0 


O OONO NED 


hamt 


Analog dem Rechenprogramm im unmittelbaren Verfahren 
hat hier die Behandlung des wahrscheinlichen Fehlers 
zu erfolgen. | 

Bei der Berechnung der mittleren oder auch wahrscheinlichen 
Fehler der Repräsentanten, die nach dem Müller-Urbanschen 
Verfahren berechnet worden sind, ist als Hauptrechnungsgröße 
der mittlere Fehler der Ausgleichung, M zu berechnen. 


2 Pv’? 
m— 2 





M = + 


264 Friedrich Noßke, 


wobei v, die einzelnen Beobachtungsfehler darstellen, die nach 
Einsetzung des berechneten h und c in die m einzelnen Be- 
obachtungsgleichungen t, = hx, — c übrig bleiben und wieder 
mit ihren Gewichten P, in den mittleren Fehler M einzurechnen 
sind!). Der Gang der Rechnung ist also folgender: 

Nach Berechnung von h und c ist zu bestimmen 

tv = h. xy — c, wobei in unserem Falle x, die Werte — 5, 
—4...—1 0,1... +5 annimmt. Da dies 11 Werte sind, 
ist (m — 2) = 9; diese Zahl verkleinert sich bei den Vollreihen. 
Aus den erhaltenen Werten t, ist, ausgedrückt durch die Fechner- 
schen Symbole, Z, zu bestimmen. Zu diesem Zwecke müssen 
wir aus der Fechnerschen »Fundamentaltabelle der Methode 
der richtigen und falschen Fälle<?®) zu den Werten ty die zu- 
gehörigen Werte Z, entnehmen. Dieser Wert Z, stellt die durch 
die Berechnung erhaltene relative Häufigkeit dar, ihre Differenz 
mit der beobachteten relativen Häufigkeit p, ergibt die Zahl v,. 

Wir erhalten also v, = p, — Z,, mit dem Gewichte P,. Der 
Zähler des Radikanden ist [Pv?] oder £P, v,?. 

Nach der Berechnung von M erhalten wir dann, wenn M, 
den mittleren Fehler bedeuten soll, We den wahrscheinlichen 


Fehler 3): 
= [P] 
Ma, =M M x 
Mn 


Mu = 1V2 h+ Ma) 


vn y/ER 
M 


Mn gP HPE) [20 


1 EEEE EN 
Ma = Ms= 5 yM Mi [21] 


entweder bei allen Größen der Index u oder o. 
Zu allen Werten erhalten wir das Entsprechende Wa nach 
dem Ausdruck: 
W. = 0,6745 Ma. (log 0,6745 = 0,82897 — 1) [22] 


1) Wirth, Spezielle psychophys. Maßmethoden S. 301. 
2) Wirth, Psychophysik S. 204. 
3) Formeln aus Wirth, Spezielle psychophysische Maßmethoden S. 301/302. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 265 


Urban selbst hat angegeben, daß die wahrscheinlichen 
Fehler der Grenzreize oder der Schwelle im mittelbaren Ver- 
fahren oft sehr groß ausfallen. | 

Ich ‚zeige dies an zwei Beispielen, und zwar: 

I. Reihe 17, für die einzige Verteilungskurve nach Hal- 
bierung der Gleichheitsfällee Es ist da nur Ma, Mu 
und M, zu berechnen. 

II. Reihe 4 getrennt für die Verteilungskurven der Größer- 
und Kleiner-Urteile. Dabei ist alles zu berechnen: [17] 
bis [21], und dazu die entsprechenden Wa. 


Zur Erläuterung füge ich eine Tabelle: Gruppe 4 (g-Urteile) 


zur Berechnung von 
3 
M= 2 (Pv?) 
l m— 2 


bei, die anderen Werte sind durch logarithmische Rechnung 
leicht, wenn auch mit viel Rechenarbeit, zu finden. 


Tabelle 15. 
Gruppe 4. Tabelle der „Größer-Urteile“. 
ho = 0,0906, co = — 0,0007, [P] = 10,527, N = 1016,9, 
[P x?] = 99,350. 









-5 

-4 

— 8 

-2 , 1—0,60 = 0,40 9768 

-1| -0090 |1—0,55=0,45 0,9991 
u| + 0,000 0,50 0,9943 
1| +0091 0,55 0,9918 
2| +0,182 0,60 0,9918 
3| +027 0,65 0,8025 
4!  +0,363 0,70 0,8590 
5| +0454 0,74 0,9470 


Aus den beiden letzten Spalten ergibt sich Pv’, und dann 
als Summe: 


D'Por — [Pv?] = 0,035(007) 
Mo = * — 0,0624. 


Alles weitere gemäß Formeln. 


266 Friedrich Noßke, 


I. Resultat bei Gruppe 17. (Halbierung der Gleichheitsfälle.) 
Normalreiz = 500 g. 


M = 0,0479 
Ma = 0,0166 W, = 0,0112 
Mu = 0,0703 Wu = 0,0474 
M.e = 0,0243 W. = 0,0164. 


h = 0,4508 + 0,0112 
49769 ones 1569 + 0,0475. 
II. Resultate der Gruppe 4. Normalreiz 0,1 g. 
Ma = 0,0479. M, = 0,0624. 
Mna — 0,00639 Wha = 0,00431 Mno — 0,00626 Who — 0,00425 
Mumu = 0,5678 Wyuu— 0,3830 My 0,5043 Wo 0,3401 
Mea = 0,0198 Weu = 0,0134 Mo—=00195 We = 0,0131 
Mru = 0,2303 Wu = 0,1554 Mr = 0,2151 Wo = 0,1451 
Ma — Ms = 0,1576 
W, = Ws = 0,1063. 
Deshalb ergibt sich: 


ha — 0,0860 + 0,0043 ho— 0,0906 -+ 0,0043 
Cu = 4,9694 + 0,0134 c—= 4,9999 + 0,0131 
ra = 0,3560 + 0,1554 re =— 0,0001 + 0,1451 


M. = 8,222 + 0,383 
M, = 7,805 + 0,340 
Zusammenfassung: Die einzelnen Werte für [Pv?] waren 
0,0364, 0,00919, 0,0350. Bei 7 Berechnungen Urbans schwankten 
sie zwischen 0,011 und 0,098. Wir haben hier dieselben Größen- 
ordnungen. Der wahrscheinliche Fehler der direkt ermittelten 
Konstanten h und c, bezw. hu, Cu und ho, Co fällt klein aus. Bei 
h gegen 5°/ und weniger; bei M sind es Werte kleiner als 3°/,. 
Der wahrscheinliche Fehler der Schwelle (bei Gruppe 17) ist 
relativ 0,106, während der (relative) Schwellenwert selbst nur 
0,175!) ist. Es bestätigt sich demnach, daß ihre Bestimmung 
wenig zuverlässige Resultate gibt. 


S = 0,175 + 0,106. 


f) Vergleich der Werte des Gesamtstreuungsmaßes nach den 
Wirthschen Formeln mit denen nach dem Müller-Urbanschen 
Gewichtsverfahren. 


Bei den 11 Vollreihen ist man in der Lage, die erhaltenen 
Resultate aus dem unmittelbaren Verfahren und aus der Müller- 


1) Bei Urban findet sich sogar ein Beispiel, wo der wahrscheiniiche 
Fehler größer ist als der mittlere Schwellenwert. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 267 


Urbanschen Methode zu vergleichen. Nachdem sich für A schon 
bei Urbans eigner Prüfung sehr gute Übereinstimmung ergeben 
hatte, richten wir unser Augenmerk hier vor allem auf M, weil 
es bereits dort ein klein wenig systematisch differiert. Wir er- 
halten Tabelle 16; sie enthält die Zusammenstellung der Resultate 
aus (5) und (14). Da bei Müller-Urban das Gaußsche Gesetz 
vorausgesetzt ist, so ist der Grad der Übereinstimmung des nach 
ihnen berechneten Wertes mit demjenigen der unmittelbaren 
Berechnung aus den gegebenen Kurven ein Kriterium dafür, wie- 
weit diese natürlichen Kurven mit dem Gaußschen Gesetz über- 


einstimmen. 
Tabelle 16. 





M, =M Vollreihen Ma = M Müll.-Urb. Ma Größer um 


7 2,079 2,186 4,1%, 
8 2.067 2,108 2.09, 
12 2.001 2.136 6.70), 
13 1.416 1,837 29 9), 
14 2.070 2'119 2,4 
15 2'159 2.337 8,3%), 
16 2'805 2'424 9, 
17 1,479 1,569 5.49), 
18 1,549 1,802 16 h 
19 1,586 1,626 2,5%, 
20 1,887 1,399 0,9), 


Ordnet man die Resultate der beiden verschieden gewonnenen 
Streuungsmaße M, und M, so ergibt sich ihr Korrelations- 
koeffizient o = 0,91. 

Wir sehen, daß M, in allen 11 Fällen der größereist, 
Sieht man von den beiden Gruppen 13 und 18 ab, die auch nach 
anderen Kriterien von dem Gaußschen Gesetz am weitesten ab- 
weichen, so beträgt die mittlere Abweichung der Müller-Urban- 
schen Werte nach oben hin nur ca. 4°/ Die Erklärung für die 
einseitige Verschiedenheit wird zum größten Teil im folgenden 
zu sehen sein: Beim direkten Verfahren wird die Integration 
über endliche Grenzen erstreckt, die Müll.-Urb.sche Methode um- 
faßt die Integration von — œ bis 4 œ. Auf diese Weise müssen 
die Werte M, etwas größer ausfallen als die anderen Streuungs- 
maße M,. Urban hat nachgewiesen, daß die mit M zusammen- 
hängenden h-Werte in einer Reihe von Versuchen um den gleichen 
Wert 0,013 kleiner waren. Um dies auch hier durchzuführen, 
vergleichen wir die M, und M, nach der direkten Vollreihen- 
methode und nach dem Urbanschen Konstanzverfahren (Archiv 
f. d. ges. Psychol. 32, 1914, S. 466). 


268 Friedrich Noßke, 


Tabelle 17. 







I My 
|Vollreih. |MIL.-Urb.| M.-U.— V. 


I. M, 
Vollreih. | Mll.-Urb. 





+ 0,097 2,041 — 0,109 

+ 0,131 1,742 — 0,180 
12 + 0,133 1,770 + 0,028 
13 + 0,187 1,879 + 0,147 
14 + 0,161 2,184 + 0141 
15 + 0,218 2,369 + 0,228 
16 + 0,118 2,524 + 0,185 
17 + 0,156 1,512 + 0,056 
18 + 0,030 1,532 + 0,103 
19 + 0,063 1,629 + 0,033 
20 | 1,453 | 1,460 + 0,007 1,285 — 0,022 

Bei M,: e = 0,9, M, : e = 0,93. 


Während wir in der Rangordnung der M, bei der Art voll- 
ständige Übereinstimmung sehen, wirkt sich bei den M,-Werten 
störend aus, daß nicht durchgehend M.-U. der größere Wert ist, 
sondern an 3 Stellen der V-Wert. Die prozentuale Abweichung 
geht in keinem Falle über 10°/, hinaus. 

Wenn wir die Zurückführang der M-Werte auf h gemäß 
der Formel 

h=1:My2 
machen, so werden bis auf die 3 entgegengesetzten Fälle die 
h-Werte der M.-Urb.schen Methode durchgehend kleiner werden 
als die h-Werte der Vollreinenmethode. Rechnen wir die h-Diffe- 
. renz bei den Reihen aus, bei denen die M„-Differenz (bezw. M,- 
Differenz) der mittleren Differenz aus allen 11 Reihen am nächsten 
kommt, so ist dies bei M, Reihe 16 (Differenz 0,113, Gesamt- 
differenz 0,111) und bei M, Reihe 17 (Differenz 0,056, Gesamt- 
differenz ebenso). (Daß die Gesamtdifferenz so klein ist, kommt aus 
den negativen Werten da, wo V größer als M.-U. ist.) Es ergibt sich: 


Ma Vollreihe: 2261 h:0313 | _. 
Reihe 16| mu. : 2874  h:0298 | Differenz 0,015 
M, Vollreihe: 1456 h:0,486  „. 
Reihe 17 [mu 1512 h:0,468 | Differenz 0,018. 


Bildet man die gleiche Umrechnung aus den Werten M, die 
als Mittel der je 11 gleichgearteten entstehen, so erhält man 
bei M, als h-Differenz 0,021 und bei M, 0,012, so daß auch 
hier die Werte nahe bei 0,013 liegen. Wir sehen also, wie gut 
die zugrunde liegenden Reihen sich für beide Rechenmethoden 
eignen. Bei einer Probe dieser Rechnung für M erhielten wir bei 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 269 


Reihe 16, deren M-Differenz dem Differenzmittel am nächsten 
kam, 0,015. Es ist noch hinzuzufügen, daß bei dem Streuungs- 
maß des unmittelbaren Verfahrens überhaupt der Grad der An- 
näherung der linearen Integration an die parabolische ge- 
ringer ist als bei den linearen Funktionen von g und k und 
nach Wirth 1 bis 2°/, zu betragen pflegt ?). 


g) Das Verhältnis von M, zu M, und von M 
zu M, und Mau. 


Die Übereinstimmung der einzelnen Werte h, und h,, die 
zu gleichen Versuchsreihen gehören, ist eine eindeutig gute. 
Dies ist bei der Methode der Minimaländerungen mit Wissent- 
lichkeit der Abstufungsrichtung von besonderer Bedeutung, da 
hier der oberen und unteren Abweichung vom Hauptreiz eine 
besondere psychologische Einstellung entspricht. Der Mittel- 
wert aus allen 20 Werten Ma ist 3,270, aus allen M, bis auf 
die erste Dezimale identisch 3,212. Dies zeigt also wieder, 
daß in dem Unterschied der oberen und unteren Unsicherheits- 
grenze nicht etwa das Webersche Gesetz zur Geltung zu kommen 
braucht, und daß man gegen die Verstärkung eines Reizes, 
an den man sich angepaßt hat, empfindlicher sein kann als 
gegen eine Verminderung von gleich großem Empfindungsmaße. 
Hieraus leitet sich die Berechtigung her, auch in solchen 
Empfindungsgebieten, bei denen für lauter obere oder für lauter 
untere US. das Webersche Gesetz gilt, den Äquivalenzwert A 
in der arithmetischen Mitte zwischen r, und r, anzusetzen 
oder auch die Abschnitte S, und S, der Müllerschen Doppel- 
schwelle 2 S = ro — Tu absolut gleich zu nehmen, also nicht 
etwa das geometrische Mittel y Tora als Äquivalent zu betrachten. 

Bis auf Reihe 8, bei der die Zahlen weit abweichen (Vp. E; 
0,5 g), sind die Zahlen nahe aneinanderliegend; bei Vergleichung 
der Rangordnungen ist keine Abweichung über 2. Sechs Paare 
bekommen den gleichen Rang, und es wird o= 0,98. Daß dies 
ebenso für M, und M, gilt, ergibt sich aus ihrer Berechnung 


1 1 
gemäß ha y2 und h y Die einzelnen erhaltenen Streuungs- 


maße sind ein deutliches Bild für die Verbesserung der Ver- 
suchsreihen mit wachsender Übung einerseits und mit der 


1) Psychophysik S. 126. 


270 Friedrich Noßke, 


Zunahme der Hauptreize andrerseits. Um zum Hauptstreuungs- 
maß M zu gelangen, müssen wir die Berechnung von 2 S vor- 
nehmen. Hier zeigen sich die mannigfaltigsten Schwankungen, 
teils bei den 4 Gruppen, die zum gleichen Normalreiz gehören, 
teils auch im Verfolg der einzelnen Hauptreize, sowie bei den 
zwei Vpn. Trotzdem vermögen sie den Charakter des Haupt- 
streuungmaßes nicht wesentlich zu beeinflussen gegenüber den 
Streuungsmaßen des oberen und unteren Grenzreizes. M liegt 
fast immer zwischen M, und M,, nur bei den Gruppen 9 
und 13 liegt M über dem größten der beiden, weil 2 S groß ist. 
Betrachten wir M als Hanptpräsentanten der Reihe, so ergibt 
sich, vom größten Werte beginnend: 
41 3 2 910 5 6 1116 1514 712 8 13 20 19 18 17 

Vp.EJEJIJIJIJIJEEEJ EEE JE E J J 
N.-Reiz 0,1 0,1 0,1 0,1 5 5 0,5 0,5 5 50 50 50 0,5 5 0,5 50 500 500 500 500 
Im Durchschnitt sind die Hauptstreuungsmaße bei E etwas 
geringer, denn J erscheint im ersten Teile der Liste öfter als 
im letzten. Die Eckgruppen bilden die extremen Reize mit 
0,1 g und 500g, dann erscheint 5g eher als 0,5 g; die Versuchs- 
reihen der Vp. E mit dem Normalreiz 0,5 g erscheinen sogar 
weit hinten, zeigen also eine relativ kleine Streuung. 

Vergleichen wir die Hauptstreuungsmaße M aus I und II 
Tabelle 13 und 14), die beide nach dem M.-Urb.schen Rechen- 
schema gewonnen sind, aber dort unter Berechnung des M aus 
den Ausgleichsresultaten Ma, M, und 2 S aus den Kurven g, u 
und k, hier direkt aus den Kurven g’ und k’, so zeigen sie 
eine sehr große Übereinstimmung (o = 0,99). Im ganzen ist 
M; 11 mal größer, 1 mal gleich und 8mal kleiner als Myr; die 
durchschnittliche Abweichung beträgt 3/, °/,. 


4. Die Berechnung nach dem Prinzip des Zentralwertes. 


a) Die Müllersche Schwelle nach dem Zentralwert- 
prinzip und der dazugehörige Äquivalenzwert. 


Das unmittelbare Verfahren gestattet für sämtliche Reihen 
die Berechnung der Zentralwerte C der Grenzreize ra (C) und 
To (C). Anschließend daran kann man, wie auch anderweit, 


bestimmen: 28 (C) = ro (0) — ra (C) und A (O) = Èr, (0) + ra (0). 


Der Zentralwert des hypothetischen Kollektivgegenstandes der 
Grenzabszisse ist diejenige Größe x, bei der die beobachtete 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 271 


Häufigkeitszahl des extremen Falls (g bezw. k) gerade die Hälfte 
aller auf eine Abszisse entfallenden Versuche erreicht (Wirth, 
Psychophysik S.184). Da diese relative Häufigkeit im allgemeinen 
nicht gerade beobachtet sein wird, ist zur Bestimmung der 
betreffenden Abszisse eine Interpolation erforderlich, sie erfolgte 
linear. Bei Gruppe 4 ist die »kleiner«-Kurve in der Nähe des 
50°/,-Wertes mit Verkehrtheiten durchsetzt, so daß die Or- 


dinate = dreimal angenommen wird. Der angegebene Wert 


(9,47) ist die Mittelabszisse aus diesen 3 Werten, er ist ein- 
geklammert und ebenso die daraus folgenden Werte. 





Tabelle 18. 
2 S (©) 
Ed | | — aus Tab. 
Gruppe reiz | Tu (C) | ro (C) |28 (C) us A(C) IN—A A (6) 
1 0,1 | 873 | 11,38 | 2,556 |’ 0,015 | 10,08 | 0,06 = 
2 0,1 | 10,09 | 10,48 | 0,89 | O, 10,29 | 0,29 ex 
3 0,1 | 9,19 | 10,33 | 114 | 001 9,76 | 0,24 = 
4 0,1 | (9,47)| 10,44 | (0,97) | (0,01) | (9,96)! 0,4 — 
5 0,5 | 9,24 | 1053 | 1.29 | 0,06 89 | 0,11 — 
6 05 | 954 | 10,866 | 112 | 00 10,10 | 0,10 = 
7 0,5 | 924 | 10,25 | 1,01 | 0,05 9,75 | 0,25 | 9,68 
8 0,5 | 9,33 | 10,72 | 1,39 | 0,07 10,03 | 0,03 | 10,13 
9 5 | 780 | 1186 | 3,55 | 1,78 9,53 | 0,42 — 
10 5 | 920 | 1070| 1,50 | 075 9,95 | 0,05 — 
11 5 852 | 11,57 | 2,75 | 1,38 10,20 | 0,20 = 
12 5 | 885 | 10,75 | 1,90 | 0,95 9,80 | 020 | 10,15 
13 | 50 | 9563 | 1060 | 1,07 | 5,35 10,07 | 0,07 | 10,09 
14 50 | 950 | 1033 | 0.83 | 4,16 9,92 | 0,08 9,80 
15 | 50 | 941 11043 | 102 | 5,10 992 | 0,08 | 10,00 
16 | 50 | 954 | 10,20 | 0,86 | 3,30 9,87 | 013 | 990 
17 | 500 | 9,59 | 10.33 | 0,74 | 37 9,96 | 0,04 ‚99 
18 |500 | 10,08 | 10,50 | 0,48 | 23 1027 | 027 | 10,35 
19 |500 | 993 | 1011 | 018| 9 10,02 | 0,02 9,91 
20 500 10,23 | 10,41 | 0,18 9 10,32 | 0,32 10,37 
In der letzten Spalte habe ich den Vergleich mit dem 


arithmetischen Mittel der Schwelle hinzugefügt, soweit Voll- 
reihen vorliegen. Es zeigt sich, daß manchmal A (XN) größer 
ist, manchmal kleiner als A (C) Die Abweichungen sind 
sehr gering, sie gehen einmal bis 3°), und bleiben fünf- 
mal unter 1 °/,, was wiederum auf die bereits S. 257 
aufgezeigte große Annäherung an das Gaußsche Gesetz hin- 
weist. Die US.S(W) nach dem Prinzip des arithmetischen Mittels 
ist im Mittel nur */, der hier gefundenen Werte nach dem 
Prinzip des Zentralwertes. Dies gilt sowohl bei einem Vergleich 


272 Friedrich Noßke, 


des Totalmittels S(C) = 0,61 mit dem Totalmittel der nach 
Müller-Urban berechneten Werte, also mit dem Totalmittel 
S— 0,396 nach Tabelle 13, als auch bezüglich der Gruppen 13 
bis 18, welche sich auch nach dem unmittelbaren Verfahren mittels 
der Spearman-Wirthschen Formeln S (WU) = 0,218 (nach 
Tab. 5, S. 253) finden lassen, fast genau übereinstimmend mit dem 
entsprechenden Mittel 0,217 nach Müller-Urban. Denn aus 
den Zentralwerten von r, und r, ergibt sich als Mittel für diese 
8 Gruppen der Normalreize 50 g und 500 g der ebenfalls um 
s/, größere Wert S (C) = 0,32. Diese Differenz zwischen S (C) 
und S(W) beruht offenbar auf einer mittleren Abweichung der 
Kurvenform vom Gaußschen Gesetz bezw. von der ®-Funktion, 
wonach die Zentralwerte der Grenzreize rą und ro weiter nach 
den Extremen E. und E, hingelegen sind als arithmetischen 
Mittelwerte. Insbesondere der untere Grenzreiz r,(C) ist bis 
auf Reihe 19 tiefer gelegen als r, (N) der entsprechenden Werte 
von Tabelle 5. 

Die Zentralwerte zeigen im übrigen die nämliche Verfeinerung 
der Müllerschen Schwelle S(C) nach oben hin wie die arith- 
metischen Mittel, da das Mittel der Reihen 1 bis 12 den Wert 
0,81 erreicht, gegenüber dem schon genannten Mittel 0,32 für 
die Normalreize 50 und 500 g. Im einzelnen zeigen die Werte 
S (C) nach dem Zentralwertprinzip jedoch ähnlich gestaltete 
Schwankungen wie das Idealgebiet der Gleichheitsfälle für Voll- 
reihen (S. 252). Auch der Zentralwert zeigt also, wie wenig diese 
Müllersche Schwelle allein für sich auch bei sehr sorgfältig 
abgeleiteten Versuchsreihen zur Charakterisierung der Unter- 
schiedsschwelle ausreichend ist. 


Betrachten wir die Werte der vorletzten Spalte (N —A), so 
können uns diese Zahlen die Frage beantworten, ob und wie 
weit auch hier eine Annäherung an das Webersche Gesetz 
gilt. Die Zahlen sind nicht durchgängig gleich, was bei der 
Relativität der Maße sein müßte, andrerseits geht aber ihre 
Abweichung nicht so weit, als es bei absoluter 
Konstanz der Dimensionen sein müßte. Man kann 
also auch hier von einer Art »Webersches Gesetz« für die 
Schätzungsfehler sprechen; das ist nicht zu verwundern, da 
ja in das Gesamtstreuungsmaß des Unsicherheitsgebietes stets 
zufällig schwankende Schätzungsfehler eingehen. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 273 


b) Der empirische wahrscheinliche Fehler 
des Aquivalenzwertes (die halbe Differenz zwischen 
den Argumenten für &'’=25°,, und 75°/,). 


Nach dem Prinzip des Zentralwertes läßt sich bekanntlich 
auch ein Streuungsmaß eines Kollektivgegenstandes be- 
stimmen, indem man die unteren und oberen Abweichungen in 
je zwei Hälften teilt. Der Teilungspunkt wird als sogenannter 
»wahrscheinlicher Fehler« bezeichnet. In dieser Weise 
läßt sich also zu den K.-G. r, (C) und r„(C) je ein Streuungs- 
maß bestimmen, indem man die Punkte bestimmt, bei denen 
die g- und k-Fälle 25°/, und 75°/, erreichen. Die Differenzen 
der Argamente mit diesen Prozentsätzen von den r(C) bezw. 
ihre eigene halbe Differenz ist der gesuchte wahrscheinliche 
Fehler. Doch würde sich hieraus gegenüber den M, und Ma 
kaum wesentlich Neues ergeben. Wir prüfen daher nur den 
analogen Wert, wie er nach Halbierung der Gleichheitsfälle zu 
dem Äquivalenzwert A (C) desZentralwertprinzips bei ’—k'’—0,05 
gehört, also die halbe Differenz der Argumente, bei denen 
g' = (1 — k’) 25°, bezw. 75°/, erreicht. Nennen wir diese 
dazugehörigen Argumente der Vergleichsreize in der Bezeichnung 
der Verfasser) Q und Q’, so haben wir in dem Ausdrucke 


ze — Q’) einen brauchbaren Repräsentanten. 


Im vorliegenden Material von Kraepelin können wir nicht 
in allen Reihen die Werte Q resp. Q’ bestimmen, da die relative 
Häufigkeit — oder manchmal außerhalb der beobachteten Inter- 
valle liegt. Eine Extrapolation ist wenig zuverlässig, Wir 
müssen aus diesem Grunde die Reihen 1—4 ausscheiden und 
können nur die Gruppen mit den Normalreizen 0,5 g, 5 g, 50 g 
und 500 g betrachten. Die Werte müssen, wenn die relativen 
Häufigkeiten 25°/, und 75°/, nicht beobachtet wurden, wieder 
durch lineare Interpolation gewonnen werden (Tabelle 19). 


Betrachten wir den Wert 5 (Q — Q’) als Repräsentanten 


der Versuchsgruppe, so sehen wir den auch bei den anderen 
statistischen Methoden erhaltenen Verlauf. Die Werte der 
Gruppen mit den Normalreizen 0,5 g und 50 g sind annähernd 
— — — 


1) Brown u. Thomson, The essentials of mental measurement. 


Cambridge. S. 75/76. 
Archiv für Psychologie. LII. 18 


274 Friedrich Noßke, 


gleich, die Werte der Gruppen mit dem Normalreiz 5g sind 
durchgehends größer, die zu 500 g gehörigen kleiner. Es liefert 


uns also auch der Ausdruck = (Q — Q’) ein gutes Abbild der 
Abhängigkeit der US vom Normalreiz. 


Tabelle 19. 









5 1 1,94 8,485 0,562 
6 0,5 8,10 240 | 8,189 0,758 
7 05 8.25 1,42 2.108 0,746 
8 05 | 858 1,52 2.088 0.746 
9 5 6,33 2.84 5,122 0, 

10 5 7,86 2,79 3.969 0,702 

11 5 8,00 2.08 8,133 0, 

12 5 8,54 1,55 2.071 0,748 

13 50 9,17 1,00 1,912 0,520 

14 50 7.94 1,46 2.218 0,860. 

15 50 8,44 1,56 2.381 0,855 

16 50 8.32 1,59 2.489 0. 

17 500 9,11 0,93 1.582 0,594 

18 500 954 0,75 1.587 0,473 

19 500 8'88 0,99 1.632 0, 

20 500 9,44 0,90 1,388 0,849 


Sind die Bedingungen des G außschen Gesetzes ideal erfüllt, 
so müssen die Werte > (Q — Q’) mit dem anderweit gewonnenen 


Hauptstreuungsmaße M in bestimmter Relation stehen. Es ist 
deshalb das Hauptstreuungsmaß aus Tabelle 13 beigefügt. Dies 


Gesetz lautet, daß der Quotient, (Q — Q): M den Wert 0,675 


oder ca. a annehmen muß. In der letzten Spalte sind diese Quo- 


tienten berechnet; ihre Annäherung andenidealen Wert 
ist eine gute; der Mittelwert aus den 16 Quotienten ist 0,637. 
Auch in ihrer gegenseitigen Rangordnung stimmen die Werte 


für 5 (Q — Q’) und M gut überein; ihr Korrelationskoeffi- 


zient ist 0,96. Wir haben somit in den beiden Zahlen Q und 
Q' eine weitere Bestätigung der Gültigkeit des G au ß schen Ge- 
setzes. Nachdem wir oben schon in der. ersten Kontrolle durch 
die Verhältnisse D:M, ferner in der Annäherung des Streuungs- 
maßes des unmittelbaren Verfahrens an das Müller - Urbansche 
und in der Annäherung des Zentralwertes A (C) an das arith- 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 275 


metische Mittel A (M) des Äquivalenzwertes eine sehr gute 
Übereinstimmung gefunden haben, kommt also diese neue Kontrolle 
hinzu. Dabei verdient noch Beachtung, daß die beiden Gruppen 
13 und 18 mit der geringsten Übereinstimmung der Werte des 
Müller-Urbanschen Verfahrens und der nach dem unmittelbaren 
Verfahren (vgl. S. 267) auch bei dieser Kontrolle am weitesten 
vom Gaußschen Gesetz abweichen, indem der mittlere Fehler 
M sich vom wahrscheinlichen Fehler beidemale zu weit nach 
oben entfernt, ähnlich wie nach S.257 von der mittleren Variation 
D, zumal bei Reihe 18. 

Im ganzen kann aber von dem Kraepelinschen Material eine 
große Annäherung an die »normale« Streuung des 
Gaußschen Gesetzes‘) und somit eine sehr gute Aus- 
geglichenheit aller zufälligen Nebeneinflüsse be- 
hauptet werden. 


V. Die Abschätzung der Einflüsse der Zeit- und 
Raumlage des Haupt- und Vergleichsreizes 
und der Übung. 


Nach den Ausführungen von S. 227 des II. Abschnittes über 
die Maßmethodik im allgemeinen sind in den Werten der Müller- 


schen Schwelle S =; (ro—ra) und des Äquivalenzwertes A der 


Totalreihen die sogenannten Zeit- und Raumlagefehler, die S. 225 
mit den Symbolen Ar, Al, Br, Bl bezeichnet wurden, bereits 
eliminiert. Das Streuungsmaß M muß dagegen nach Gleichung [1] 
eigentlich erst noch von den systematischen Verschiebungen des 
Äquivalenzwertes mit der Zeit- und Raumlage gereinigt werden. 
Wir ersehen jedoch an einer genaueren Analyse der zweiten 
Totalreihe 18 von Vp.J für Normalreiz 500, bei welchem 
infolge des hohen Übungsgrades und der günstigen 
Reizbedingungen größere Lagefehler besonders sicher zu er- 
mitteln wären, daß diese Verschiebungen der Partialäquivalente A 
der einseitig beeinflußten Partialgrößen zu je 8 Elentarreihen 
sehr gering sind, so daß eine Korrektur der mittleren M-Werte 
zumal nach dem Ausziehen der Quadratwurzel aus der so wenig 


1) Über weitere Kriterien der Gültigkeit dieses Gesetzes für psycho- 
physische Versuche vgl H. K eller (nach H. Bruns) auf S.36, A.1a.a.0 .S.55ff 
und Wirth, Spez. psych. Mathemat. S. 49 ff. 

18* 


276 Friedrich Noßke, 


reduzierten Summe kaum in Betracht kommt. Gleichzeitig läßt 
sich an diesem Beispiel auch die Größe der in den Mittelwerten 
bereits eliminierten Lageeinflüsse auf die Schwelle S direkt er- 
kennen, sowie die Abweichung der Partialstreuungsmasse M, 
von ihrem (reinen) Mittelwerte. Da die Werte, wie im nächsten 
Abschnitt noch besonders zu betrachten ist, überall zur Reiz- 
stufe hinreichend proportional sind, so ist kaum zu erwarten, 
daß eine Durchführung dieser Fraktionierung in allen übrigen 
19 Totalgruppen wesentlich Neues zutage fördern würde. 

Was zunächst die oben mit A und B bezeichneten Fehler 
der Zeitlage von H und V anlangt, so erscheinen diese in Reihe 18 
besonders groß. Da diese Reihe neben dem Müller-Urban- 
schen Gewichtsverfahren auch die Spearman-Wirthschen 
Vollreihenformeln ableiten läßt, so sind die üblichen Repräsen- 
tanten nach beiden Methoden berechnet. Bei der Vollreihen- 
methode läßt sich dabei auch jene auf S. 229 hervorgehobene Be- 
ziehung zwischen den Resultaten der Partial- und Totalreihen 
konkret veranschaulichen. Hier ergibt sich nämlich für die beiden 
Gruppen, deren Symbole einerseits nur A, andererseits nur B ent- 
halten: 

Tabelle 20a. 
Reihe 18. Normalreiz: 500g. Vp.J. 























Ta To | 2 S A Ma M, M 
10,500 | 10,891 | 0,391 | 10,698 | 1,628 | 1,325 | 1,97 
9,758 | 10,267 | 0,509 | 10018 | 1,547 | 1459 | 1,526 









10,129 | 10,579 | 0,450 | 10,855 | 1,880 | 1,428 | 1,549 


Die Gesetze betrefis der linear berechneten Werte sind er- 
füllt. Der Zusammenhang der drei M-Werte jeder Art ist ge- 
geben durch Gleichung [1], wobei n = 2 und (A—A,)=(A—A)) 
— 50,883 ist, 

Es muß also für dte Totalwerte gelten: 

2 Ma? = 1,628? 4 1,547? -+ 2 0,583? 


2 M. = 1,325° + 1,459° + 5. 0,583: 


2 M° — 1,497° 4 1,526° + 5- 0,583" 
und man erhält in der Tat M, = 1,624. M, = 1,434. M = 1,549. 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 277 


Nach Müller-Urban berechnen sich die entsprechenden 
Größen für die Kurve g’ der A- und B-Gruppen: 


Tabelle 20b. 


Z, Z% | N | hà o | A| m 


20,333 | 14,665 | 44,766 0328 | 1072 | 1,67 
25690 | 0,305 | 59,943 0051 | 1011 1,650 


Total | | 10,38 | 1,587 

Die Abweichung der A und M liegt also in der nämlichen 
Richtung und ist ähnlich wie bei der Berechnung nach Spear- 
man-Wirth. Bei der getrennten Ausgleichung für A und B 
kann natürlich Gleichung [1] nicht mehr wie bei der Vollreihen- 
methode genau gelten. 

Da der schon bei der graphischen Analyse S. 244 genannte 
„Zeitfehler* nach der ersten Methode beim Vorangehen von N 


(relativ) für den Äquivalenzwert A nur +0,84 = (10,696 — 10,013) 


beträgt, also nur 3,4°/, des Normalreizes (+ 0,30 nach Müller- 
Urban), so ist das aus der Totalreihe direkt gefundene Streu- 


ungsmaß 1,549 von dem quadratischen Mittel 5 (Ma? + Mg? nur 


































um 0,04, also nur ganz unwesentlich verschieden, ebensowenig 
von dem einfachen Mittel 5 (Ma + Mn) = 1,52. 


Was nun weiterhin den „Fehler der Raumlage“ der auf- 
setzenden rechten oder linken Hand des Experimentators anlangt, 
so ist hier in Reihe 18 sogar der auf S. 230 ebenfalls genannte 
Grenzfall vertreten, daß die Äquivalenzwerte A, und A,, nach 
der Vollreihenmethode berechnet, zufällig fast genau gleich und 
daher auch dem Totalwert A gleich sind, so daß auch M mit 
dem quadratischen Mittel von M, und M, zusammenfallen muß. 
Die Repräsentanten für beide Raumlagen sind nämlich: 


Tabelle 21. 
Io ra 28 A M 
rechts | 10,13 | 10,53 0,4 1033 | 1,482 
links 10,13 10,63 0,5 10,38 | 1,613 





Allerdings ist die Streuung M beim Aufsetzen mit der linken 
Hand etwas größer, ebenso die Schwelle S, was leicht von größeren 
Oszillationen der Reizgebung in diesem Falle herrühren könnte. 


278 Friedrich Noßke, 


Wollte man also nur die Aufsetzung mit der rechten Hand als 
das maßgebende Optimum verallgemeinern, so wäre von dem 
1 


quadratischen Mittel des Streuungsmaßes M erst noch etwa 30 


und von der mittleren Schwelle S etwa noch 2 in Abzug zu 


bringen. 

Der wichtigste Einfluß ist aber natürlich derjenige der Übung. 
In dieser Hinsicht ist freilich zunächst bei der Reihe 18 nach 
der großen Allgemeinübung kein wesentlicher Abfall mehr zu er- 
warten. Da dies aber überhaupt für die Güte des Kraepelinschen 
Materials, nach der ersten Einübungsgruppe mit 5g, charakter- 
istisch sein dürfte, so haben wir zur Kontrolle für 18 die Frak- 
tionierung in die zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgenden Partial- 
gruppen aus je 8 Elementarreihen A,, B, usw. wieder nach beiden 
Methoden vorgenommen. Die Vollreihenmethode ergab: 


Tabelle 22a. 


Teil Elementarr. 28 A M 





Total (Tab.5) | | 0,450 | 10,854 | 1,549 


Berechnet man zur Kontrolle das früher schon aus der 
Totalreihe gefundene Streuungsmaß M nach Gleichung [1] als 
5M’=M?+ Mr --- +(A—A)?+(A—Am?-+ ---,so erhält 
man 1,521 (statt 1,549). Die Abweichung wird darauf beruhen, 
daß die Annäherung der abgekürzten Formel für die Steuungs- 
maße diejenige bei rein linearen Funktionen (2 S, A) nicht er- 
reicht. Nach dem Müller-Urbanschen Verfahren erhalten wir: 


Tabelle 22b. 








Teil Elementarr. A | M 
I 1—8 10,8343 1,596 
II 9—16 10,918 1,842 
III 11—24 10,214 1,191 
IV 25—32 10,011 1,614 
V 33—40 10,191 2.074 


Total | | 10,332 | 1,587 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 279 


Wie man sieht, ist die bei genügender Versuchszahl besonders 
große Annäherung für A hier nicht in dem erwarteten Maße er- 
reicht, wodurch die schon oben S 231 empfohlene Vorsicht hin- 
sichtlich einer zu weit gehenden Fraktionierung der Totalgruppen 
zumal bei der Methode der kleinsten Quadrate begründet er- 
scheint. Jedenfalls läßt sich eine gewisse Verfeinerung des 
relativen Schätzungsfehlers (A —N) mit der Übung erkennen. Da- 
gegen ist weder in der nach der Vollreihen-Methode bestimmten 
Schwelle S noch gar im Streuungsmaß ein einseitiger Fortschritt 
zu erkennen, sondern das Streuungsmaß ist in den letzten Partial- 
gruppen sogar am größten, während die Doppelschwelle 2S nur 
wenig unter dem Totalmittel 0,450 gelegen ist. 

Deutlicher ist der schon von Kraepelin selbst hervorge- 
hobene Übungseinfluß bei den zeitlich ersten Totalgruppen mit 
dem Normalreiz 5g. Wir haben deshalb hier den Totalreihen- 
Repräsentanten der Gruppe 12 (Vp. E) diejenigen der letzten (5.) 
Achtergruppe (s. S. 225) dieser Reihe wenigstens nach der Voll- 
reihen-Methode an die Seite gestellt. Zur Prüfung des Weber- 
schen Gesetzes haben wir dann auch noch analoge Partialwerte 
für Vp. E aus Gruppe 8 und 16 für die Reizstufe 0,5 g und 
50 g abgeleitet und in Tab. 23 mit den in Klammern beigefügten 
Totalwerten der Tab. 5 (S.253) zusammengestellt. Das Streuungs- 
maß M 1,541 der letzten Partialgruppe für 5g weicht in der 
Tat von demjenigen der Totalreihe, 2,001 ab. Dagegen zeigt 
sich die größere Zufälligkeit in der Neigung zu Gleichheitsurteilen 
darin, daß die zur Summe Zu proportionale Doppelschwelle in 
der letzten Teilgruppe sogar etwas größer ist als im Mittel 
(1,63 statt 1,53). Auch der Schätzungsfehler ist in der letzten 
Fraktion wieder etwas größer als das Totalmittel. Jedenfalls 
dürften die Werte der Gruppe 5 nach der Reduktion des Streuungs- 
maßes durch die Übung aus denen für die übrigen Hauptreize 
dieser kleinen Vergleichungstabelle kaum mehr wesentlich 
herausfallen. 


Tabelle 23. 













0,90 (0,75) | 10,36 (10,13) | +0,86 (40,129) | 2,021 (2,067) 
12 |E| 5g| 188(1,53) | 10,22(10,15) | +0,22 (+0,160)| 1,641 (2,001) 
18 |E| 50g | 0,77(0,80) | 9,52 (9,90) | —0,48 (— 0,102) | 1,424 (2,305) 
13 |3|5008 | 0,42(0,45) | 10,18 (10,35) | +0,18 (40,354) | 1,925 (1,549) 


280 Friedrich Noßke, 


Am eindeutigsten aber ist der Einfluß der Übung in den 
Systemen der beiden Hauptgruppen, die wir oben zunächst durch 
den Unterschied der Anfangsrichtung der Abstufung des V 
als auf-ab- und ab-auf-Gruppen unterschieden, die aber sachlich, 
wie ebenfalls S. 224 schon erwähnt wurde, eine systematische 
Verschiedenheit der Zeitlage enthalten. Denn abgesehen von 
den beiden Gruppen der Vp. E mit 500g ist die auf-ab-Gruppe 
stets nach der Gruppe ab-auf, und zwar im unmittelbaren 
Anschluß daran abgeleitet, so daß sich hier der Einfluß der 
Übung besonders ideal zur Geltung bringen kann. 

Auch die oben genauer analysierte Reihe 18 der Vp. J hat 
als auf-ab-Gruppe bereits diese spezielle Einübung durch die 
ab-auf-Gruppe hinter sich. Diesen eindeutigen Einfluß hinsicht- 
lich aller drei Wertarten S, M und A können wir am genauesten 
verfolgen, da wir uns hier ja tatsächlich die beiden eindeutig 
beeinflußten Teilgruppen für. jede Normalreizstufe getrennt ge- 
halten haben. Daß die deutlichen Unterschiede der beiden Gruppen, 
die zunächst durch die beginnende Abstufungsrichtung charak- 
terisiert sind, nicht diesem Nebenmerkmal, sondern vor allem 
dem Übungsfortschritt durch die Zeitlage zu verdanken sind, 
erkennt man auch daraus, daß sich der Unterschied, wenigstens 
für die Schwelle S, bei den beiden einzigen Gruppen 19 und 20 
des Normalreizes 500 g mit Umkehrung der Zeitlage des ab-auf 
und auf-ab auch mit umkehrt. Wir haben demnach bei der 
folgenden Zusammenstellung der Mittelwerte beider Systeme 
bei der Vp. E in Klammern die für uns eigentlich entscheiden- 
den Mittelwerte beigefügt, die sich bei Umstellung der beiden 
mit dem Reiz 500 g arbeitenden Gruppen 19 und 20 ergeben. 
Es ist für Vp. J und Vp. E 









Tabelle 24. 
Vp.J Vp. E 
I (ab-auf) II (auf-ab) I (ab-auf) | I (auf-ab) 
8 0,416 (0,434) 0,322 (0,802) 
M 3.060 (8,012) 3202 (8,250) 
— 0,03 (+0,05) +01 (0,0) 






In dieser Tabelle 24 ist zugleich das Hauptresultat hinsicht- 
lich der mittleren Leistung der Versuchspersonen in den drei 
Richtungen S, M und A zusammengefaßt. 

Ein besonders wertvolles Ergebnis dieser Auseinanderhaltung 
der beiden Systeme mit verschiedener Einübung auf eine be- 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 281 


stimmte Hauptreizstufe besteht aber nun offenbar darin, daß 
sich in den späteren Gruppen, also 2, 6, 10... für J und 
48,12... für E dieindividuellen Unterschiede in hohem 
Maße ausgleichen und eine wirklich interindividuelle oder generelle 
Bedeutung gewinnen. Man wird sich daher auch bei der end- 
gültigen Beurteilung des Grades, in welchem sich das Webersche 
Gesetz bestätigt findet, im wesentlichen an dieses zweite, ge- 
übtere System halten können. 


VI. Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes für die 
Unterschiedsschwelle, das Streuungsmaß . und den 
Schätzungsfehler. 


1. Was zunächst die Müllersche US. = 5 (ro — ru) an- 


langt, der auch das Resultat nach der üblichen Berechnungs- 
methode der Methode der Minimaländerungen bei einer genügen- 
den Zahl von Elementarreihen am nächsten kommen soll 1), so 
schwankt sie bei beiden Vpn. innerhalb eines der beiden in 
Tabelle 24 unterschiedenen Systeme von Totalgruppen für die 
verschiedenen Reizstufen relativ nicht stärker als in den nach 
jenem älteren Modus der Minimaländerungsmethode berechneten 
Werten von Stratton und Kobylecky. Aber der absolute 
Betrag sinkt hier auf wesentlich geringere Werte 
als dort und in den älteren Versuchen E. H. Webers. 

Bei der nahen Übereinstimmung der Resultate in Tabelle 5 
und 13 können wir uns bei dieser Prüfung ganz an die voll- 
ständigere Tabelle 13 S. 263 halten. Wenn wir dort von den 
ungeübten Reihen für 5 g absehen, so ist in den auf-ab-Reihen S 
bei Vp. J nicht größer als 0,35 oder 5 bei 0,5 g, was bereits 
der feinsten Schwelle bei Weber und Kobylecky nahekommt?). 
Das Minimum der Schwelle aber, das wie bei Stratton und 
Kobylecky bei der oberen Stufe 500 g liegt, beträgt 0,18 
oder z Für die Vp. E. haben wir bei dem analogen zweiten 
System (von 0,75 für 5 g abgesehen) das nämliche Maximum 
0,35, und zwar ebenfalls für die Stufe 0,5 g. Das Minimum bei 


1) Vgl. auch G. E. Müller, Gesichtspunkte usw. S. 182. 
2) Die Dezimalbrüche 0,35 usw. sind der Tabelle entnommen, also auf 
den Wert 10 als Normalreiz bezogen. 


282 Friedrich Noßke, 


1 
100 
herab. Auch bei der niedrigsten Reizstufe 0,1 g, die der Schwelle 
sehr nahe liegt, steigen sogar die ungeübten Werte nur auf 0,51, 


500 g aber geht bei der späteren Reihe sogar auf 0,1 oder 


also etwa A und bleiben somit von dem Kiesowschen Wert 7 


oder gar dem Hansenschen Wert von 22°/, bis 50°/, der Reiz- 
stufe weit entfernt. Schon bei den Versuchen von H. Keller 
über die Vergleichung von Schallintensitäten hat sich aber ja 
gezeigt, daß die mittlere Schwelle S viel tiefer lag (4 bis z) 
als nach früheren Versuchen angenommen wurde, W daß sie 


bei einzelnen Vpn. sogar unter — ja bis auf 7 herunter- 


10 10 
ging‘). Es kann eben auch bei den gewissenhaftesten Vpn. die 
Neigung zur Abgabe von Gleichheitsurteilen, zumal mit der 
Übung, sehr abnehmen, womit aber dann auch die Doppelschwelle 
2S, die bei der Vollreihenmethode der mit dem (konstanten) 
Reizintervall multiplizierten Summe der Gleichheitsfälle gleich 
ist, entsprechend reduziert wird. Das Webersche Gesetz könnte 
also auch da, wo die sonstigen Voraussetzungen für seine Gültig- 
keit erfüllt sind, in S überhaupt nur insoweit zutage treten, als 
auch die Geneigtheit zur Abgabe von Gleichheitsurteilen an Stelle 
von teilweise sogar falschen größer- und kleiner-Urteilen relativ 
für alle Reizstufen konstant bleiben würde. Bei diesen relativ 
mäßigen AE des Gn in den geübteren 
Reihen 5 bis — = bei J und 5 bis Ea bei E bleibt der Wert S 
der U-Schwelle aber natürlich von einer absoluten Konstanz 
in dem großen Bereich einer 5000 fachen Steigerung der abso- 
luten und einer 400 fachen der spezifischen Belastung (S. 217) so 
deutlich entfernt, daß, wie bisher nach den Ergebnissen von 
Stratton und Kobylecky über die Veränderungsschwelle, 
ebenfalls eine annähernde Gültigkeit des Weberschen 
Gesetzes für S behauptet werden darf. 

Die Verfeinerung der Schwelle S nach oben hin, an der hier 
zugleich die Verbreiterung der Druckfläche beteiligt war, erkennt 
man am besten aus der Nebeneinanderstellung der Totalmittel 


1) Vgl. Wirth, Zur Methode der mehrfachen Fälle im Gebiete der 
Schallempfindungen, Wundts psychol. Studien Bd. 5, 1910, S. 412 (S. 41%). 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 283 


für die unteren Reizstufen von 0,1 bis 5 g einerseits und für 
50 g und 500 g andererseits. Diese betrugen nach Tabelle 13 
(S.263) S = 0,515 und S = 0,217. Dies bedeutet einen Rückgang 
von E auf * und übertrifft die Abnahme bei Kobyleckys 
Versuchen mit konstanter Druckfläche in der Tat ganz wesentlich. 

2. Bezüglich des Streuungsmaßes dürfen wir uns bei 
der Prüfung des Weberschen Gesetzes auf das Gesamt- 
streuungsmaßM (unter Halbierung der u-Fälle) beschränken, 
da es von dem quadratischen Mittel der oberen und unteren 
Streuungen M, und M, bei dem kleinen Betrag von S nur wenig 
abweicht und außerdem zu den sonst üblichen Streuungsmaßen 
der mittleren Variation D und des wahrscheinlichen Fehlers der 
Schwelle nach IV b,, S. 257, infolge der annähernden Gültigkeit 
der -Funktion für die Urteilskurven, in einem ziemlich festen 
Verhältnis steht. Da zeigt sich nun zunächst in dem Bereich 
der deutlichen Reize 0,5 bis 500g in dem zweiten System — 
bei Vp. E selbst unter Einschluß der ungeübten Versuche mit 
5g — ungefähr der nämliche Grad der Konstanz des Verhält- 
nisses zum Normalreiz wie bei dem Wert S. 


Denn M sinkt bei Vp. J von 3,19 oder zis des Normal- 
? 


reizes 0,5 g auf 1,59 oder = des Normalreizes 500 g, also ge- 


nau auf die Hälfte, und bei E für die analogen Gruppen von 
2,04 oder 5 auf 1,63 oder = also nur etwa wie 6:5, wobei 
? ? 

ähnlich wie in den gröbsten Werten von S hier in den feinsten 
von M eine fast völlige Übereinstimmung beider Vpn. zutage tritt. 

Auffällig ist nur der verhältnismäßig sehr hohe relative Betrag 
a ja bei E sogar k für die unterste, der 
Reizschwelle nahe Stufe 0,1 g, bei der also der halbe, ja fast 
der ganze Betrag des Normalreizas von der Unsicherheitsregion 
aufgezehrt wird. Bei dieser Erscheinung äussert sich also doch 
die bei S vermißte starke Zunahme der Unsicherheit bei diesen 
untersten Stufen, wie sie bei Kiesow und Hansen zutage 
trat. Die Steigerung von unten bis 500 g, wo nach den älteren 


Methoden für die US. der Wert * gilt, war bei Gattis 


Wert etwa die vierfache, bei Hansen mit bis sogar 


der Streuung von 


284 Friedrich Noßke, 


die sechs- bis fünfzehnfache. Somit stimmt also die Steigerung 
der Mittelwerte des Streuungsmaßes M für J und E, von 1,61 
auf 6,56, um das 4,1fache fast genau mit der von Gatti be- 
obachteten Steigerung der Schwelle nach der untersten Region 
hin überein. Die absoluten Beträge aber erinnern ganz an 
die Schwellen dieser Region dei Hansen, ja sie übersteigen bei 
Vp. E mit 8,02 die 50 Prozent bei Hansen noch ganz erheblich. 

Dies hängt aber offenbar damit zusammen, daß die absoluten 
Werte des Streuungsmaßes auch für die höhern Reizstufen bei 
unserem Material außerordentlich hohe sind und selbst in dem 
geringsten relativen Wert, der auffälligerweise bei der ersten 
Hauptgruppe der Vp. E. mit Reizstufe 500 g als 1,39 auftritt, 
noch etwa 2 des Reizes betragen, also soviel wie die relative 
US. Gattis in der untersten Region. Im Mittel aus sämt- 
lichen Reizstufen beträgt die Gesamtstreuung M 
(für das System der zweiten Hauptgruppen aller Reizstufen) 
ungefähr gerade das 10fache der Müllerschen US. (vgl. 
Tabelle 24, S. 280). 

Wieweit die von Kraepelin selbst bei der Übergabe des 
Materials betonte größere Variabilität der experimentellen Be- 
dingungen an dieser Größe des gesamten Variationsbereiches des 
Urteils mit beteiligt ist, werden erst neuere Versuche mit sonst 
gleich günstigen psychologischen Bedingungen und einer gleich 
großen Versuchszahl entscheiden können. Durch Berücksichtigung 
der im vorigen V. Kapitel betrachteten systematischen Einflüsse 


könnte der Minimalwert des M von 2 kaum auf 5 gebracht 


werden. Eine gewisse Verbreiterung des Unsicherheitsgebietes 
kann freilich gerade bei gewissenhaften Vpn. auch das hier fest- 
gehaltene wissentliche Verfahren mit sich bringen, insofern 
die von selbst sich aufdrängenden Erwartungen zusammen mit 
dem unmittelbaren subjektiven Eindruck einen komplizierten 
Zustand der Unsicherheit erzeugen können. Jedenfalls zeigt dies 
aber, daß das Streuungsmaß M als dasjenige Maß der Vergleichs- 
leistung, das von den subjektiven Zufälligkeiten der Neigung zur 
Abgabe von Gleichheitsurteilen relativ unabhängig ist, in allen 
Normalreizstufen sehr viel höhere Beträge erreichen kann, als 
man bisher angenommen hat. 

Das Streuungsmaß wächst offenbar nur durch die zufälligen 
Fehler in der Auffassung des Normalreizes über die US. im 


Die Gültigkeit d. Weberschen Gesetzes für die Unterscheidbarkeit usw. 285 


engeren Sinne hinaus, d. h. über denjenigen Bereich, in welchem 
überhaupt keine Verschiedenheit erfaßt wird und vielleicht eine 
tatsäche Angleichung zwischen den beiden Reizwirkungen statt- 
findet (vgl. S. 207). Daher ist es bei der annähernden Gültigkeit 
des Weberschen Gesetzes für dieses Streuungsmaß nicht ver- 
wunderlich, wenn auch für eine konstantere Tendenz in jenen 
Auffassungsfehlern, die sich als sogenannter >konstanter Fehler« 
in dem mittleren Äquivalenzwert A der Reihe zur Geltung 
bringt, das Webersche Gesetz mit einer gewissen Annäherung 
gilt. Da es sich bei diesem Gesetz überhaupt überall um die 
relative Konstanz eines Bereiches handelt, der durch psycho- 
logische Wechselwirkungen bei ungefährer Reizproportionalität 
der Empfindungswerte zustande kommt, so wird natürlich 
auch das analoge Webersche Gesetz für den Schätzungsfehler 
A—N, genau so wie bei S und M, nur bei einer gewissen 
Konstanz der für jenen »Fehler« verantwortlichen inhaltlichen 
Nebenvorstellungen zu erwarten sein. In dieser Hinsicht gibt 
es aber natürlich eine viel größere Variabilität, die auch von 
der Höhe der Reizstufe mit abhängt. Man wird also nur die 
Dimension in Betracht ziehen können, in der sich der Schätzungs- 
fehler auf den verschiedenen Reizstufen bewegt. Bei der Vp. 
J bleibt er in der Tat zwischen den Grenzen — 0,32 der 
untersten und + 0,38 der zweituntersten Stufe .Und auch bei 
Vp. E sind die Extreme — 0,16 und + 0,20 schon bei der 
untersten Stufe 0,1 g und der dritten 5 g erreicht, die auch bei 
500 g nicht überschritten werden. Im Mittel erhebt sich 
der Fehler bei beiden Vp. nicht über den relativen Wert 0,1 
oder I des jeweiligen Normalreizes, eine Objektivität der 
mittleren Auffassung, die teilweise wohl auf die Wissentlichkeit 
des Verfahrens zurückzuführen sein wird. 

Wer sich einmal daran gewöhnt hat, in dem relativen Maß 
aller dieser mittleren Repräsentanten der Urteilsstatistik, auf 
den Normalreiz bezogen, eines der psychologischen Symp- 
tome der Vergleichsleistung zu sehen, der wird bei der relativ 
großen Variabilität der psychologischen Nebenbedingungen, die 
bei einfachen Vergleichsversuchen stets übrig bleibt, überhaupt 
- keine größere Konstanz des Proportionalitätfaktors im Weberschen 
Gesetz erwarten, weder für ebenmerkliche Unterschiede und 
ihre Streuungsmaße, noch für die Schätzungsfehler, selbst wenn 





286 Fr. Noßke, Die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes usw. 


die Abhängigkeit der Empfindungswerte vom Reiz, die 
man früher zu Fechners Zeiten mit solchen Schwellenmessungen 
direkt fassen zu können glaubte, in allen Reizstufen konstant 
ganz einfach wäre, z. B. eine direkte Proportionalität bilden 
würde. 

Der psychologische Blick hierfür wird um so freier werden, 
je mehr auch recht vielen anderen Gebieten eine ähnliche Sorg- 
falt zuteil werden wird, wie sie die Druckempfindung in den 
hier bearbeiteten Versuchen Kraepelins erfahren hat. 


Zum Schlusse möchte ich mir gestatten, Herrn Professor 
Dr. W. Wirth meinen Dank für die Anregung und Förderung 
dieser Arbeit auszusprechen. 


(Eingegangen am 20. Januar 1925.) 


Literaturberichte. 


PanlHäberlin, Der Charakter. Basel, Kober C. F. Spittlers Nachfolger, 
1925. 341 Seiten Großoktav; geheftet Schweizer Frank 10.—, 
Reichsmark 8.—; gebunden Fr. 12.—, Mk. 9.60. 


Die von Häberlin dargebotene’ differentielle Individual- 
psychologie, die Charakterologie, bildet eine Fortführung seiner im 
gleichen Verlag erschienenen Elementarpsychologie, betitelt: »Der Geist und 
die Triebe«. Wie die Naturwissenschaft dadurch konsequent ist, daß sie 
alles Wirkliche prinzipiell dinghaft betrachtet, so schließt sich Häberlin 
der entsprechenden konsequenten Psychologie an, die nun die persönliche 
Betrachtungsweise konsequent durchführt (S. 32£.), Auf dieser Seite steht 
»jeder, der den Menschen als Person faßt, ihm also persönliche Seelen- 
haftigkeit zubilligt«. Person ist Wesen, insofern unergründlich, ein 
Geheimnis. Person kann aber als Wesen erlebt und festgeatellt 
werden (S. 8£.), nämlich im Selbst- und im Fremderlebnis, freilich nur unter 
den Kategorien des Bewußtseins; die Erhebung oder Umwandlung des Er- 
lebten in Gewußtes bedeutet also eine innere Arbeit, eine Gestaltung. — 
Was jeden Menschen als solchen zur Person macht, ist die Personalität 
im Sinne einer allgemein-menschlichen Eigenart. Die Personalität, welche 
Wesenhaftigkeit, also »Selbsttätigkeit, Subjekthaftigkeit« (S. 17, bes. S. 5) 
ist, ist Wesenhaftigkeit von besonderer Art. Dieser Unterschied aber 
liegt in der Funktionweise, d.h. in der Art ihrer Selbsttätigkeit, in 
ihren Qualitäten (S. 17). Zum Geheimnis der Existenz (d.i. Wesen- 
haftigkeit als solche) tritt die Individuation und damit die Einzel-Wesen- 
haftigkeit als Geheimnis des Lebens, der lebendigen Existenz. Indem 
man die Relation, die in allem Wesenserlebnis mit enthalten ist, meist 
übersieht, spricht man von den Einzelnen fälschlich als absoluten 
Trägern ihrer Funktionen; aber >diese stammen, als Wesensfunktionen, aus 
dem wesenhaften und Einen Urgrund aller Einzelexistenz«. Als Aufgabe 
ergibt sich, nicht differente Wesenhaftigkeit zu bestimmen, sondern 
eigentümliche Modifikationen der Wesenhaftigkeit überhaupt. 
Häberlin gewinnt den Begriff der Persönlichkeit: »Persönlichkeit ist 
seelisch verstandene, strukturell und genetisch komplexe Individualität von 
der Art, wie wir sie in der typisch menschlichen Verhaltensweise erfahren« 
(8. 37). 

»Charakter« gebraucht Häberlin unter Ablehnung der üb- 
lichen wertbetonten Bezeichnungen (S. 41) als allgemeinen Begriff der 
persönlichen Sonderart; er definiert ihn als >die geeinte Gesamtheit der 
Reaktionsmöglichkeiten oder also der Qualitäten einer Person« (S.47). Schließ- 
lich ist die Charakterologie die »Lehre von der Persönlichkeit ... 
in ihren individuellen Darstellungsmöglichkeiten« (S. 64). 


288 Literaturberichte. 


Die Untersuchung erfolgt unter den Gesichtspunkten der faktischen 
Stellung im Leben (Lebensrichtung, Lebensform = die Art des 
Zusammenhangs des Einzelwesens mit der übrigen Wirklichkeit, Form 
des Handelns) und der grundsätzlichen, d.h. für die Zukunft als maß- 
gebend erwählten — s. S.92 — Einstellung zum Leben (Lebensideal, Lebens- 
problem, Lebensgeschichte). So zeigt Häberlin die Besonderungsmöglich- 
keiten, wobei er sich mit den großen Zügen begnügt; denn er gibt keine 
spezielle Charakterologie, z. B. Psychopathologisches. Aber auch eine gene- 
ralisierende Charakterkunde weist er wegen gewisser Nachteile einer Typo- 
logie ab (S. 62 ff.). 

Unter dem Prinzipiengegensatz der Ganzheit und Besonderheit 
oder der Einheit und der Subjektivität oder der geistigen Energie und der 
Triebenergie steht das ganze Werk. Askese, Werkgerechtigkeit u. a. finden 
ihre Stelle in diesem groß angelegtem System ebenso wie die Konsequenzen 
für die Praxis in den Erziehungsfragen, die — wenn auch in Kürze zu- 
sammengedrängt — die Bücher von Sprangerund Hoffmann ergänzen. 
Es wird dieser Häberlinschen Charakterologie nicht leicht sein, wegen 
ihrer Begriffsverwendung neben Kerschensteiner, Förster u. a. zu 
treten; wegen der Anregung zur Besinnung möchte man ihr 
aber eine große Leserschaft wünschen. Besonders verweisen wir 
die religionspsychologisch Interessierten auf die Behandlung der Religiosität, 
bes. S. 151—154, 249, 291. (Religiosität ist eine prinzipielle Richtung des 
Lebens überhaupt, im sekundären Sinne der Einstellungsfrömmigkeit: die 
Urform der geistigen oder Gewissenseinstellung.) 

A. Römer (Leipzig). 


OskarPfister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf: 
8. Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben 
von S. Freud. Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1925. 2. ver- 
besserte Auflage. 132 Seiten, 5 Mk. 


Durch eine eingehende Berücksichtigung der Kritik, die die 
1. Auflage gefunden hatte, ist die Lektüre der vorliegenden Analyse gleich 
in die Bahnen gelenkt, von deren Beschreiten sich der Verfasser nunmehr 
den Erfolg verspricht, der ihm bei der 1. Auflage nur teilweise zufiel. Um 
seiner Schrift besonderen Nachdruck zu verleihen, hat sich Pf. entschlossen, 
alle Stellen, an deren Auslegung die Gegner Anstoß nahmen, preiszugeben, 
obwohl er damit nicht die Unrichtigkeit seiner früheren Exegese für alle 
diese Fälle zugeben will. Daß es ihm nicht leicht geworden ist, die Mängel 
Zinzendorfs ans Licht zu bringen, ersieht man immer wieder aus dem 
Bestreben, die guten Eigenschaften zu betonen, so seine Energie, seinen 
Arbeitsfleiß ‚seine Duldsamkeit usw. Für Z.s religiöse Entwicklung ist es 
nun von unheilvoller Bedeutung gewesen, »daß ihm nicht nur die aut- 
erotischen Betätigungen, sondern auch die Übertragungen auf Eltern und 
Geschwister oder ihre Surrogate unter schweren Qualen abgeschnitten 
_ waurden« (S. 104). »Die infantilen Liebesverdrängungen haben so schließlich 
dazu geführt, daß in Z.s Frömmigkeit diejenigen Vorstellungen wieder auf- 
tauchen, die in primitiven Religionen und Mysterienkulten die Vereinigung 
von Mensch und Gottheit ausdrücken« (S. 112). 


Literaturberichte. 289 


Die Differenzierungen zwischen Sadismus und Masochismus und die 
zwischen Homo- und Heterosexualität halten — von der frühen Kindheit 
ab — bis ins Alter an; im Laufe der Entwicklung ergab sich eine andere 
Differenzierung: »dem Kind ersetzte Jesus Eltern und Altersgenossen«, 
später wird Jesus vorzugsweise zur Geliebten. 

Gegen Hoffmanns Kritik erklärt Pf., daß er das Sexuelle nicht 
als die alles erklärende Ursache hinstellt, worauf wir schon früher bei 
einer ebenfalls beachtenswerten Schrift Pf.s hinwiesen. 

A. Römer (Leipzig). 


James H. Leuba, Religions and other Ecstacies. 


Im 1. Bd. (Nr. 4) von The Journal of Religion sucht L. die Beziehungen 
zwischen religiöser und nichtreligiöser Ekstase auf. Er beginnt mit der 
Verzückung des Epileptikers vor dem Anfall, indem er ärztliche Berichte 
oder Selbstzeugnisse verwertet. Beim Epileptiker sind in jenem Falle Reiz 
und Disposition nicht im normalen Verhältnis, sondern der Reiz ist nicht 
bewnßt. Die religiöse Ekstase tritt unter besonderen Bedingungen ein; 
nämlich bei einem vorausgehenden Glauben an den’ göttlichen Ursprung der 
Ekstase oder bei einem Glauben an Gott, der sich selbst in den Menschen 
offenbaren kann. | A.Römer (Leipzig). 


KarlJaspers, Die Idee der Universität. Berlin, Julius Springer, 1923. 
80 Seiten. 


Als Universitätsprofessor und Forscher sucht Jaspers sich Klarheit 
über den Sinn des eigenen Tuns, ein Bewußtsein seiner selbst zu schaffen 
and Kriterien zur Beurteilung der widerstreitenden neueren Meinungen über 
die Aufgaben der Universität zu entwickeln. Die Schrift, die selbst heikle 
Fragen, wie die der Verleihung des Dr. hon. caus., der Professorenberufung, 
der Stellung der Universität zu Staat und Nation usw. tapfer und mit feinem 
Takt entscheidet, wird ihm zu einem Appel an unser kulturelles Gewissen, 
die Idee des Geistes gegen alle mechanischen, persönlichen, nationalistischen 
usw. Interessen zu erkennen und rein zu halten. Es ist ihm nicht in über- 
lebter philosophischer Manier um letzte Grundsätze zu tun, sondern er 
sucht im Kampf gegen die Definition das Fließende, Faktische, in unserer 
Zeit wirklich und notwendig Gewordene der Universitätsidee faßbar zu 
machen. 

Die Ausführungen über die Idee der Universität an sich werden um- 
lagert von einer Untersuchung über die zentralen Kräfte und die allgemeinen 
Formen geistiger Existenz, die sich auf die Themen »Geist, Bildung, Wissen- 
schaft«, »Erziehung und Unterricht«, »Begabung und Auslese«, »Kommu- 
nikation« (der Geist ist seinem Wesen nach sozial) und »Persönliche und 
institutionelle Gestalt des Geistigen« erstrecken, sowie von praktischen 
Schiußfolgerungen über die >»Abhängigkeiten und Auswirkungen der Uni- 
versitätsidee in der Wirklichkeit«. Die Lebendigkeit der Idee der Universität 
charakterisiert sich in einer Einheit von voneinander unlöslichen Zwecken 
(Fachschulung zum Beruf, Bildungsschulung und Forschung), die auf dem 
Wege der Entfaltung der Organe zum wissenschaftlichen Denken in philo- 

Archiv für Psychologie. LU. 19 


290 Literaturberichte. 


sophischer und kommaunikativer Weise auf ein Ganzes hin zielstrebig sind, 
auf ein Ganzes sowohl was persönliche Berührung mit dem Erkenntnis- 
material, als auch was Bildung im Sinne der Humanität, Weltanschauung 
und freie autonome Gestaltung des Lebens betrifft. — So wenig die Uni- 
versität eine zufällige staatliche Institution ist, so wenig darf sie den An- 
spruch der führenden Institution an sich machen. »In ibr zu leben, gibt 
der Existenz Struktur und Farbe und nimmt sie auf in ein Ganzes.« 
H. Jancke (Heidelberg). 


Dr. W. E. Peters M. A., Die Auffassung der Sprachmelodie. Leipzig, Kom- 
missionsverlag vom Theosophischen Verlagshaus, 1924. 


Als auf dem Kongreß für allgemeine Ästhetik und Kunstwissenschaft 
in Berlin (7. bis 9. Oktober 1914) der Leipziger Germanist Sievers seinen 
Vortrag »Demonstrationen zur Lehre von den Klangkonstanten in Rede und 
Musik«< hielt, wurde ihm verscbiedenerseits, besonders von dem Würzburger 
Psychologen KarlMarbe!), entgegengehalten, daß seine Lehre von der 
»individuellen Klanggebung« sich vielfach auf subjektive Urteile gründe 
und einer Nachprüfung und Ergänzung durch die wissenschaftlich einwand- 
freien Methoden der Experimentalpsychologie dringend bedürfe. Die auf dem 
Kongreßvortrag von den Diskussionsrednern so stark betonte Notwendigkeit 
objektiv einwandfreier Untersuchungen haben Sievers veranlaßt, gemein- 
sam mit dem psychologischen Institut Leipzig solche Untersuchungen vor- 
zunehmen. Sievers selbst hat in einer Vorrede zu den Untersuchungen 
von W. E. Peters, »Der Einfluß der Sieversschen Signale und Bewegungen 
auf die Sprachmelodie« (Psychologische Studien 1918 Bd. 10), die von den 
Psychologen erhobene Forderung anerkannt und sich bereit erklärt, dem 
Verlangen nachzukommen, »das, was auf diesem Gebiete bisher nur durch 
subjektive Beobachtungen ermittelt worden war, einer experimentellen Prüfung 
' gu unterziehen, die festzustellen hätte, was von dem bisher Vorgetragenen 
als sichere Grundlage für den Weiterbau betrachtet werden dürfe«. 

Ein neuer Schritt zur kritischen Würdigung der Sieversschen Lehre 
von der Sprachmelodie ist die neue Publikation von W.E. Peters, die in 
einem stattlichen Bande von ca. 200 Druckseiten den Sieversschen Ent- 
deckungen zu einer experimental-psychologischen Basis verhelfen möchte. 
Wichtig ist vor allem die kritische Einstellung des Verfassers. Er beginnt 
seine Arbeit mit einer Klärung des so wichtigen Begriffes der Sprachmelodie, 
indem er im ersten Kapitel seines Buches eine historische Entwicklung des 
Problems gibt, die wichtigsten Namen und Lehrmeinungen anführt, Kritik 
an allen übt und eine Scheidung in den Anschauungen von der Sprach- 
melodie gibt, wobei er der älteren Auffassung von der »Musikalischen 
Melodie« die modernere von der »Reinen Sprachmelodie« entgegensetzt. 
Aus dieser historischen Kritik ergeben sich für ihn eine Reihe von Auf- 
gaben allgemeiner und spezieller Art für die experimentelle Prüfung. Ein- 
gehend wird das psychologische Untersuchungsverfahren beschrieben. Dem 


1) Vgl. hierzu die Arbeiten aus dem psychologischen Institut Würzburg, 
K. Marbe, Über den Rhythmus der Prosa, Gießen 1904; Eggert, Unter- 
suchungen über Sprachmelodie. Ztschr. f. Psych. Leipzig 1908. 


Literaturberichte. 291 


Verfasser ist es nach langen Versuchen gelungen, die Luftübertragung vom 
Grammophon und Phonographen auf das Rußpapier des Kymographions zu 
erfinden und dieses Verfahren durch direkte Verbindung von Kymographion 
und Grammophon so zu vervollkommnen, daß es den weitreichendsten An- 
sprüchen genügt. Es ist also die Möglichkeit gegeben, das subjektive Ab- 
hören einer sich gleichbleibenden Tonquelle (Grammophonplatten) durch die 
Versuchsperson an den objektiven Kurvenaufzeichnungen durch das Kymo- 
graphion in verschiedener Weise bis ins einzelste nachzuprüfen und die 
Sprachmelodie nach einer Reihe von Gesichtspunkten zu bestimmen, also 
das Wesen der Sprachmelodie und ihre Auffassung zu analysieren. 

Das gebotene Material ist sehr reich. Die zeitraubenden Versuche sind 
mit größter Gewissenhaftigkeit durchgeführt worden, und man sieht mit 
Erwartung weiteren in Aussicht gestellten Veröffentlichungen entgegen, 
durch welche die Erkenntnis der inneren Struktur der Sprachmelodie, die 
sich als sehr komplizierte Komplexe darbietet, noch weiter gefördert und 
vervollkommnet wird. Dr. M. Gebhardt. 


Florian Znaniecki. The Laws of Social Psychology. Warsaw, Cracow, 
Poznan, Gebethner & Wolff, 1925. 3208. 2 Dollar. 


Der Verfasser versucht den seit ungefähr 40 Jahren in unsere mathe- 
matisch - naturwissenschaftliche Gedankenwelt eindringenden Relativitäts- 
gedanken in die Sozialpsychologie einzuführen. Sie erforscht nach Znaniecki 
die sozialen Erfahrungen und die sozialen Akte. Soziale Erfahrungen sind 
die von Individuen oder von Gruppen gewonnenen Erfahrungen, daß andere 
Individuen oder Gruppen als beseelte Wesen handeln. Soziale Akte sind 
solche Handlungen, mittels deren Individuen oder Gruppen andere Individuen 
oder audere Gruppen in bestimmter Hinsicht beeinflussen wollen. Ein sozialer 
Akt und die durch ihn bei einer Person oder einer Gruppe hervorgerufene 
Reaktion, insofern sie für den jenen Akt Ausübenden eine soziale Erfahrung 
ausmacht, bilden zusammen eine soziale Aktion. Sie stellt, so kompliziert 
sie auch manchmal sein mag, immer ein relativ geschlossenes soziopsycho- 
logisches System dar, d. h. sie wird von dem, der den sozialen Akt ausübt, 
mehr oder weniger ganzbeitlich und als sich von seinen anderen Erfahrungen 
und Handlungen abhebend erlebt. Daß eine soziale Aktion, wenn sie ein- 
mal begonnen hat, früher oder später zu Ende geführt wird, ist »die letzte 
nnd unerklärliche Tatsache der Sozialpsychologie« (S. 63). Nur die Ab- 
weichungen von diesem »Vollendungsprinzip« sind kausal erklärbar. 

Als wesentliche Bestandteile jeder sozialen Aktion werden die soziale 
Tendenz und die soziale Situation unterschieden. Die soziale Tendenz, d.h. 
der zur sozialen Handlung drängende Impuls ist für jede soziale Aktion 
das grundlegende Element, das zwar nicht das Entstehen und Verlaufen 
der sozialen Aktion kausal zu erklären vermag, aber als ein dynamisches 
Element eines praktischen Systems aufgefaßt werden kann. Jede soziale 
Situation enthält immer drei Elemente, nämlich das soziale Objekt, das bee 
zweckte Resultat und den instrumentalen Prozeß, zuweilen auch noch als 
ein viertes Element das über sich nachdenkende Ich. Indem das handelnde 
Subjekt mittels eines instrumentalen Prozesses, beispielsweise mittels Worte 
oder mittels Körperbewegungen, ein soziales Objekt, d. h. eine zumeist 

19* 


292 Literaturberichte. 


wirkliche, manchmal auch nur imaginäre Person oder Gruppe, zu beeinflussen 
sucht, erwartet und bezweckt es eine Reaktion des sozialen Objektes. 
Sämtliche vier genannten Elemente der sozialen Situation bedeuten für das 
Subjekt Werte. Sobald sich Elemente einer sozialen Situation verändern, 
werden sie vom Subjekt neu bewertet, so daß dadurch eine Veränderung 
der sozialen Tendenz eintritt. Znaniecki formuliert für diese Änderungen 
Kausalgesetze, die, obgleich sie weder endgültig (S. 136) noch vollzählig 
(S. 288) sein wollen, doch geeignet sind, die mannigfachsten sozialen Hand- 
lungen unter gemeinsame, kausal erklärende Gesichtspunkte zusammen- 
zufassen. 

Wie das einen sozialen Akt vollführende Subjekt die einzelnen Elemente 
einer sozialen Situation bewertet, hängt mit davon ab, wie das soziale 
Objekt auf jenen sozialen Akt reagiert. Ob und wie aber das soziale Objekt 
reagiert, beruht wieder mit darauf, wie es das handelnde Subjekt und 
dessen soziale Handlung bewertet. Der Mensch als sozial handelndes Wesen 
ist also von seiner Bewertung durch die Umwelt wesentlich mit abhängig. 
Demzufolge läßt sich vom sozial handelnden Menschen auch kein endgültiges, 
sondern nur ein relatives Bild entwerfen, das der Kultur und der Orga- 
nisation der jeweiligen Gesellschaft entspricht. Bergfeld (Leipzig). 


Dom Thomas Verner Moore, Dynamic Psychology. London, 16 John 
Street, Adelphi, J. B. Lippincott Company, 1924. 444 S. 15 sh. 


Des Verfassers aus dem Titelblatte ersichtliche dreifache Eigenschaft 
als Psycholog, Benediktinermönch und Psychotherapeut spiegelt sich darin 
wieder, daß sich das Buch eine dreifache Aufgabe stellt, nämlich 1. einen 
Einblick in die modernen Richtungen der Psychologie zu geben, 2. den 
Menschen das eigene Innere erkennen zu lebren und dadurch seelische 
Konflikte lösen zu helfen und 3. in die klinischen Probleme der Psychologie 
einzuführen. Trotz so verschiedenartiger Aufgaben ist, da sich deren jede 
mit bewußten Reaktionen befaßt, ein einheitliches Werk, eine Dynamic 
Psychology entstanden. 

Gegenüber der modernen Richtung des Behaviorismus, eines “outgrowth 
from animal psychology” (S. 8), wird erfolgreich dargetan, daß schon der 
Psychologie der Tiere, geschweige derjenigen der Menschen das Bewußtsein 
kein verpönter Begriff sein darf. »Die Vernachlässigung der historischen 
und das Ignorieren empirischer Forschung« wird als "capital sin” (S. 265) 
der Psychoanalyse vorgehalten. Sie ist keine psychologische Theorie, sondern 
eine durchaus nicht verwerfbare, aber unzulängliche Methode. 

Mit bewußten Reaktionen, die teils freiwillige Willensakte, teils not- 
wendige Gefühle, Affekte (emotions), Impulse oder Wünsche sind, reagiert 
das Bewußtsein auf seine empfangenen Eindrücke. Die Zahl der Gefühls- 
qualitäten ist unbekannt, übersteigt aber höchstwahrscheinlich Wundts 
Sechszahl. Der Affekt wird durch die intellektuelle Einsicht in die beim 
Affekterlebnis gegebene Situation verursacht. Ein Impuls ist die bewußte 
Tendenz, eine unserer physischen oder psychischen Fähigkeiten auszuüben. 
Durch Hemmung eines Impulses wird ein Wunsch hervorgerufen, d.h. die 
Begierde, eine Situation zu suchen oder zu schaffen, in welcher der Impuls 
befriedigt zu werden vermag. Da die Wünsche von den Impulsen, diese 


Literaturberichte. 293 


aber von den Fähigkeiten abhängen, sind die Arten unserer Wünsche ebenso zahl- 
reich wie die Arten unserer Fähigkeiten. Die Wünsche haben eine natürliche 
Tendenz zur planmäßigen Gruppierung. Damit die Gruppierung zu einem 
angemessenen, das individuelle Glück ausmachenden Lebensplan führt, hat 
die dynamische Psychologie praktische Direktiven zu geben. 


Der Psychotaxis genannte durchausnormaleImpuls, angenehme Situationen 
aufzusuchen, unangenehmen aber auszuweichen, kann zur Übertreibung, zu 
einer Parataxis ausarten, die elementarer Bestandteil der Psychosen und 
Psychoneurosen ist. Nicht durch Organerkrankungen bedingte Psychosen 
und Psychoneurosen sind zu heilen, indem die ihnen zugrunde liegenden 
Parataxeis bekämpft werden. 

Am Schlusse seiner mit großer Sach- und Literaturkenntnis und kritischer 
Schärfe entwickelten Ausführungen fordert Moore, daß man den Seelen- 
begriff, im metaphysischen Sinne, nicht im Sinne einer psychologischen 
Struktur genommen, nicht länger mehr vernachlässigen solle. "The soul is 
a conclusion arrived at by argument, not an object of perception” (S. 18). 
Moores zwei Hauptargumente sind, daß man auf Grund der Entwicklungs- 
vorgänge im Organismus auf ein dem letzteren innewohnendes vitales 
Prinzip, eine Entelechie oder Seele schließen müsse und daß unsere Be- 
wußtseinsprozesse, da sie nicht mechanische Tätigkeit der Atome unserer 
Nerven und Gehirnzellen sein können, einer spirituellen Substanz, einer 
Seele, zugeschrieben werden müssen. Die beiden Argumente kommen da- 
durch zustande, daß Organismen und Atome als physisch, als materiell 
unterschieden werden von psychischen, nicht-materiellen Bewußtseinsprozessen 
und ihnen analog gedachten Entwicklungsvorgängen im Organismus. Wer 
jedoch eingedenk bleibt, daß ihm das als physisch und als psychisch Unter- 
schiedene im Grunde immer nur psychisch, d.h. als Bewußtseinstatsache 
gegeben ist, kann jenen Argumenten keine Beweiskraft einräumen. 

Bergfeld (Leipzig). 


Robert A.Brotemarkle, Some Memory Span Problems. An Analytical 
Study at the College-Adult Level, Philadelphia, University of 
Pennsylvania, 1924. S. 229—258. 


Brotemarkle prüfte die Fähigkeit durchschnittlich 20—21 Jahre 
alter Studenten und Studentinnen, eine Anzahl diskreter Elemente auf- 
merksam aufzufassen und sofort zu reproduzieren. Innerhalb der Geprüften 
sonderten sich zwei extreme Flügelgruppen ab, deren eine in einem hohen 
Grade und deren andere in einem niederen Grade jene Fähigkeit besaß. 

Bergfeld (Leipzig). 


Henry Sherman Oberly, The Range for Visual Attention, Cognition 
and Apprehension, Philadelphia, University of Pennsylvania, 1924, 
Nachdruck vom American Journal of Psychology, Vol. 35 S. 3832—52. 


2—15 schwarze, ungruppierte Punkte auf weißem Grunde wurden 
tachistoskopisch dargeboten und ihrer Zahl nach beurteilt. Aus den Selbst- 
beobachtungen der Vpn. über das Zustandekommen ihrer Urteile schließt 
Oberly, daß die systematischen Kategorien “attention”, “cognition” und 


294 Literaturberichte. 


"apprehension” anders, als es in der Literatur geschieht, charakterisiert 
werden sollten. Bergfeld (Leipzig). 


Leon Dupre Stratton, A Factor in the Etiology of a Sub-Breathing 
Stammerer, Metabolism as Indicated by Urinary Creatine and 
Creatinine, Philadelphia, University of Pennsylvania. 1924. Nach- 
druck vom Journal of Comparative Psychology, Vol. 4 Nr. 3 
S. 325—46. 


Strattons im wesentlichen physiologisch-medizinische. Untersuchung 
gehört nur insofern zum Bereich der Psychologie, als sie einen Beitrag 
dazu liefert, daß der Gesundheitszustand der Körperorgane die von diesen 
Organen ausgehenden Reize mitbeeinflußt. Bergfeld (Leipzig). 


Bulletin of the State University of Jowa, December 15, 1924. What the 
University of Jowa is Doing for Children. 24 Seiten. 


In programmatischer Form wird beschrieben, was alles die Jowa Child 
Welfare Research Station für die physische und psychische Wohlfahrt der 
Kinder tut, damit sie, ihrem Stiftungszwecke gemäß, wissenschaftliche 
Methoden zur Bewahrung und Entwicklung normaler Kinder erforschen und 
Studierenden und weiteren Kreisen bekanntgeben kann. 

Bergfeld (Leipzig). 


L. Vivante, Note sopra la originalitä del pensiero, specialmente concernenti 
la psicoanalisi e la psicologia. Sonderdruck aus Rivista di cultura, 
Bd. 11/12, ohne Jahresangabe. 30 Seiten. 


Auf eine Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse folgt eine Kritik 
von McDougall. Obgleich dieser den Tropismus und den Behaviorismns 
bekämpft und selbst den Begriff einer Zielbestimmtheit in der Tätigkeit 
des Denkens anufstellt, wird er den Erscheinungen des Denkens nicht gerecht, 
da ihm der Begriff der Originalität und der inneren Zielbestimmtheit 
(attività intima) des Denkens fehlt. O. Klemm (Leipzig). 


L. Vivante, Intelligence in expression. With an Essay: Originality of 
thonght and its physiological conditions. Aus dem Italienischen 
übersetzt von B. Bullock. London 1925. XI u. 205 Seiten. 


Die Originalausgabe wurde in Bd. 47 S. 224 besprochen. Hinzugekommen 
ist eine Erörterung über die Selbständigkeit des Gedankens, die auch seine 
»Freiheit« in sich schließt, und seine physiologischen Grundlagen, ein- 
schließlich der Bindung an ein erlebendes Individuum überhaupt. Der Verf. 
entscheidet sich dafür, daß es zwischen der transzendentalen und der psycho- 
genetischen Betrachtung des Denkens keinen wesentlichen Unterschied gebe, 
und daß demnach auch die Psychologie und die Philosophie des Denkens 
letztlich miteinander zusammenfallen. 0.Klemm (Leipzig). 


Literaturberichte. 295 


Sydney Alrutz, Neue Strahlen des menschlichen Organismus. (Ein Bei- 
trag zum Problem der Hypnose.) Mit einer Abbildung. Kleine 
Schriften zur Seelenforschung, herausgegeben von Arthur Kron- 
feld. Stuttgart, J. Püttmann, 1924. Heft 9. 32 Seiten. 


Kurt Hildebrandt, Gedanken zur Rassenpsychologie. Ebenda Heft 10. 
20 Seiten. 1924. 


Gerhard Scherk, Zur Psychologie der Eunuchoiden. Ebenda Heft 12. 
24 Seiten. 1924. 


Die Schrift von Alrutz ist ein Auszug ans seinem 1917 veröffent- 
lichten schwedischen Hauptwerk »Till nervaystemets dynamik« und mehreren 
englischen und französischen Veröffentlichungen über denselben Gegenstand. 
Verf. setzt sich in Gegensatz zu denjenigen Forschern, die die Entstehung 
des hypnotischen Zustar.des auf Suggestion oder auf nervös-somatische Ein- 
wirkungen zurückführen, und glaubt wie Ochorowicz u. a. an einen 
spezifischen, vom Hypnotiseur oder seinem Nervensystem ausgehenden Ein- 
flüß. Bei diesem kann es sich um eine Emanation oder um eine besondere 
Form strahlender Energie handeln. In seinen Versuchen, in denen sich die 
Vp. meist in leichter Hypnose befand, erzielte er am Arm durch »Passes« 
(Striche ohne Berührung) eine Änderung der Sensibilität; der Erfolg blieb 
der gleiche, wenn der Arm von einer durchlässigen Platte aus Glas oder 
Metall bedeckt war, er blieb aus bei einem Schutz durch Karton, Wolle, 
Watte. Bewegung eines Muskels erfolgte, wenn der entsprechende motorische 
Punkt oder seine Sehne fixiert (»visiert«) wurde. Auch einige Versuche 
über Telepathie wurden angestellt. A. glaubt, daß ihm das Erwecken der 
Vp. aus dem hypnotischen Schlaf durch Konzentrierung des Willens ge- 
lungen ist (?). Ref. erkennt die Bemühungen des Verf., alle Fehlerquellen 
auszuschließen, an, kann aber Bedenken gegen seine Versuche und Schlüsse 
nicht zurückhalten. Es wäre nützlich gewesen, die durch Visierung hervor- 
gerufenen Bewegungen genauer zu analysieren. 

Kurt Hildebrandt verbreitet sich zunächst über das Wesen der 
Rasse, die er als die Summe erblicher Eigenschaften einer bestimmten 
Menschenform definiert, sodann über den Anteil der Vererbungslehre an der 
Rassenkunde. Vererbung erworbener Eigenschaften spielt beim Menschen 
höchstens eine untergeordnete Rolle, bestimmenden Einfluß auf sein leib- 
liches und geistiges Verhalten hat die Kreuzung, deren Ergebnis als Misch- 
rasse zu bezeichnen ist. Konstant bleiben immer die »Erbeinheiten«, ein 
Höherzüchten der Menschen gibt es nicht. Verf. nimmt die von Günther 
gegebene Einteilung der europäischen Rassen in eine nordische (arische), 
westische (mittelländische), ostische und dinarische (adriatische, sarmatische) 
an. Die nordische Rasse ist die edelste, aber ihre Reinheit fällt nicht mit 
hoher Kulturstufe zusammen, gerade die bedeutendsten Dentschen ver- 
danken ihre Größe einer Blutmischung. Vollkommener Abschluß einer Rasse 
führt zu Einseitigkeit; eine Rassenmischung ist zu erstreben, sofern es 
sich nicht um Blutarten handelt, die einander vollständig fernstehen. Den 
Juden ist in der Geschichte das bei ihnen stark entwickelte Blutbewußtsein 
sehr zu statten gekommen. Die Mischung nordischen Blutes mit jüdischem 
ist nicht unbedingt abzulehnen, wenigstens wenn es sich um eine Kreuzung 


296 Literaturberichte. 


mit Westjuden handelt. Wenn auch nicht wirklichen Kreuzungen, also 
Ehegemeinschaften das Wort geredet werden darf, so kann doch geistige 
Gemeinschaft nützlich sein. 

Wie Scherk ausführt, müßte man erwarten, daß den typischen 
somatischen Erscheinungen des Eunuchoidismus, der uns bald in der Form 
des eunuchoiden Höhenwuchses, bald in der des eunuchoiden Fettwuchses 
entgegentritt, ein typisches Bild des psychischen Verhaltens entspricht. 
Trotzdem findet man in der Literatur keine einheitliche Auffassung der 
eunuchoiden Psyche. Peritz sieht im Kunuchoidismus eine Form des 
Infantilismus, Sterling stellt mehrere Typen der Anomalie auf nach der 
gleichzeitig beobachteten Störung des Intellekts, Krisch legt Gewicht auf 
die Beziehungen zu epileptischen Erscheinungen, Onuf findet keine sicheren 
Störungen des Sexuallebens, während umgekehrt H. Fischer alle psychischen 
Eigenheiten der Eunuchoiden auf den Mangel der Vita sexualis zurück- 
führt, und F. Fränkel endlich lehnt überhaupt jeden Zusammenhang 
zwischen äußerem Habitus und seelischer Struktur ab. Nach der eignen 
Ansicht des Verf. gehören Intelligenzdefekte nicht zum typischen Bilde 
des Eunuchoidismus. Dagegen sind bestimmte Eigentümlichkeiten des 
Charakters regelmäßig anzutreffen, wie Mangel an Aktivität, an Wagemut, 
an Ehrgeiz. Der sexuelle Trieb fehlt, und höhere seelische Affekte können 
nicht entstehen. Triepel (Breslau). 


AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m.b.H. IN LEIPZIG 


Die Dekadenz der Arbeit 


Prof. Dr. Th. Svedberg 


Nach der 2. Auflage aus dem Schwedischen übersetzt von 
Dr. B. Finkelstein 


Die aktuellen Probleme der Physik und Chemie — Umwandlung der 
Energie, Moleküle und Atome, Kolloide, moderne Transmutationsversuche, 
flüssige Kristalle usw. — werden in dem Werk in jener allgemeinverständ- 
lichen und anziehenden Form dargestellt, für die die schwedischen Gelehrten 
eine besondere Gabe besitzen. 

Nicht nur der gebildete Laie, sondern auch der Fachmann findet in dem 
Buch viele Angaben, die in der zugänglichen Fachliteratur fehlen. 


Gebunden Goldmark 6.—, broschiert Goldmark 5.— 


Besprechung: Das Buch hat seinen Titel nach dem Prinzip erhalten, das mehr als 
alle anderen die Naturforschung der letzten Jahre beherrscht, von dem Gesetze der Degradation 
der Energie, der Arbeitsdekadenz. In wahrhaft allgemeinverständlicher Form werden die im 
Vordergrunde des wissenschaftlichen Interesses stehenden Probleme dargelegt. ... 

Das Werk gehört unbestreitbar zu den interessantesten und wertvollsten Erscheinungen. 
Die Ausstattung ist hervorragend, die Übersetzung ausgezeichnet. 

Prof. Quibier, Jena, in Chemikerzeitung. 





AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m.b.H. IN LEIPZIG 


Vor kurzem erschien: 


Die Formen der Wirklichkeit 


Vorträge, gehalten in der 
Kieler Ortsgruppe der Kant- Gesellschaft 
zum 200. Geburtstage Kants 


von 


G. Martius und J. Wittmann 


ehem. Prof. a. d. Univ. Kiel a. 0. Prof. a. d. Univ. Kiel 
114 Seiten. Preis: Goldmark 5.— 
Der erste Teil der Schrift von J. WITTMANN handelt über 


Raum, Zeit und Wirklichkeit 
(zugleich eine Würdigung der Lehre Kants) 


Der zweite Teil von G. MARTIUS über 
Die Kategorienlehre Kants 


In diesen Arbeiten werden Kants kritische Grundideen vom wirklich 
empirischen Standpunkt, wie Biologie und Psychologie ihn heute bieten, 
in einfacher, klarer Form entwickelt. 


Inhalt des 3. u. 4. Heftes. 


Seite 
Franz ScoLa, Über das Verhältnis von Vorstellungsbild, Anschauungsbild 
uid Nachbild = s s e e è mw ach a Bar ae a a o 297 
Aueuste Fuacu, Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 
Mit 13 Figuren im Text ... 2. 22 2 ee nee. 369 
CurisTtIan Rocce, Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie 
WITKL 5. 5: ar a ce ee Eee eh 441 
Literaturberichte: 
Friepeich JODL, Lehrbuch der Psychologie. (O. Sterzinger) . . . . . 469 
E. Martxak, Meinong als Mensch und als Lehrer. (O. Sterzinger).. . 470 
G. E. MüLzer, Abriß der Psychologie. (Aloys Müller)... ..... 470 
Dr. Max Orrner, Das Gedächtnis. Die Ergebnisse der experimentellen 
Psychologie und ihre Anwendung in Unterricht und Erziehung. 
(Aloys Müller): 5. #5 wm ea 470 
A. Hezsnarv, La Relativit& de la Conscience de Soi. (Max Dessoir) . 471 
Dr. Huco Dınerer, Die Grundlagen der Physik. Synthetische Prin- 
zipien der mathematischen Naturphilosopbie. (Aloys Müller)... . 471 
Dr. Joser ScHwERTSCHLAGER, Die Sinneserkenntnis. (Aloys Müller). . 472 
Karı Reinınger, Über soziale Verhaltungsweisen in der Vorpubertät. 
— Homer) 2.3 we ae ee en 474 
Evcen Rosenstock, Soziologie. I: Die Kräfte der (Gemeinschaft. 
(I ROMEI Su ine ea E a A a Er 414 
J. SapGer. Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. (A. Römer) 75 
Oskar DIXGLIXGER, Arbeit—Glaube—Liebe. Das Glanbensbekenntnis 
eines deutschen Christen. (A. Römer) . . 2... 2 2 2 2 200. 415 
WiırneLs Wexor, Grandriß der Psychologie. (4. Römer) ...... 476 
A. Priser, Untersuchungen zur Psychologie der Blinden. (A. Busemann) 476 
M. SarEYKo, Apperzeption und sukzessive Attention als Grundbegriffe 
der Arbeitsschul-Didaktik. (A. Busemann) . . .. 22.2.0... 417 
G. Bacher, Die Achsche Suchmethode in ihrer Verwendang zur Intelli- 
genzprüfung. (4. Busemann) . .. . >: >22. 478 
H. Krk, Über die Bedeutung der sensoriellen Veranlagung für die 
Bildung von Objektvorstellungen, insbesondere auch bei Eidetikern. 
(I. Busman) = 3.8 2:00. a a ee E 479 
H.Düxer, Über das Gesetz der speziellen Determination. Ein experi- 
menteller Beitrag zur Lehre vom Willen. (A. Busemann) 480 
— | 
N 


(Aus dem psychologischen Institut der Universität Köln.) 


Über das Verhältnis von Vorstellungsbild, Anschau- 


ungsbild und Nachbild. 


Theoretische Erwägungen im Anschluß an die Marburger 


eidetischen Untersuchungen. 


Von 
Franz Scola (Köln). 





Inhaltsübersicht. 


Verzeichnis der häufiger zitierten Schriften . 
Vorbemarkung 


1. Allgemeines über das Verhältnis von oretellungs- 
bild, Anschauungsbild und Nachbild. . .... 
Gedächtnisbilder und Nachbilder. . . . . 2... 
Nachbilder und Anschauungsbilder . 
Vorstellungsbilder und Anschauungsbilder i ; 
2 Die Entwicklung von Anschauungsbild und Vor- 
stellungsbild.. —F 
3. Die Bedingungen für das Auftreten der Ausehanunge- 
bilder und Vorstellungsbilder 
4. Die Entwicklung des Nachbildes. ; i 
5. Die Merkmale und Verhaltungsweisen der Bilde er. 
Die Deutlichkeit . . . 2 
Das Gewicht (die Intensität) der Bilder ; 
Die Erscheinungsweise des Hintergrundes . 
Die Projektion der Bilder auf farbige Hintergründe . 
Die Projektion der Bilder auf nichtebene Gründe . 
Die Lageänderung der Bilder bei Neigung des Kopfes . ` 
Die Gestaltänderung der Bilder bei Drehung des Schirmes . 
Die Größenänderung der Bilder bei ne des Schirmes 
Die Lokalisation der Bilder . f ; 
Der Einfluß von Störungsreizen . 
Die Größe des Sehbezirks bei den einzelnen Bilde. 
Schlußbemerkung 


Archiv für Psychologie. LU. 19 


315 


33882323838833888 


298 Franz Scola, 


Verzeichnis der häufiger zitierten Schriften. 


Über die Vorstellungswelt der Jugendlichen und den Aufbau des in- 
tellektuellen Lebens. Eine Untersuchung über Grundfragen der Psychologie 
des Vorstellens und Denkens. Hrsg. v. E.R. Jaensch, Zeitschrift für 
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Abt. I. (Im folgenden ZP. I.) 
*(1) I. Busse, P., Über die Gedächtnisstufen und ihre Beziehung zum Auf- 
bau der Wahrnehmungswelt. ZP. I. 84. 

*(2) II. Gottheil, E., Über das latente Sinnengedächtnis der Jugendlichen 
und seine Aufdeckung. Ebenda 87. 

*(3) II. Jaensch, E. R. und W., Über die Verbreitung der eidetischen An- 
lage im Jugendalter. Ebenda 87. 

*(4) IV. Gösser, A., Über die Gründe des verschiedenen Verhaltens der 
einzelnen Gedächtnisstufen. Ebenda 87. 

*(5) V. Krellenberg, P., Über die Herausdifferenzierung der Wahr- 
nehmungs- und Vorstellungswelt aus der originären eidetischen 
Einheit. Ebenda 88. 


Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre Struktur im Jugend- 
alter. Eine Untersuchung über Grundlagen und Ausgangspunkte unseres Welt- 
bildes usw. von E. R. Jaensch und Mitarbeitern. Leipzig 1923. 

*(6) I. Jaensch, E. R., Zur Methodik experimenteller Untersuchungen an 


optischen Anschauungsbildern. 
(7) I. Jaensch, E. R, und Reich, F., Über die Lokalisation im Seh- 


l raum. $ 
(8) TI. Kröncke, Karl, Zur Phänomenologie der Kernfläche des Seh- 
raums. 
(9) IV. Jaensch, E. R, Über den Nativismus in der Lehre von der 
Raumwahrnehmung. 


(10) V. Jaensch, E. R., Über Raumverlagerung und die Beziehung von 
Raumwahrnehmung und Handeln. 

(11) VI. Jaensch, E. R., Übergang zu einer Schichtenanalyse des Bewußt- 
seins USW. 

(12) VIL. Jaensch, E.R., Die Völkerkunde und der eidetische Tatsachen- 
kreis. 

(13) VII. Freiling, H., und Jaensch, E. R, Der Aufbau der räum- 
lichen Wahrnehmungen. 

(14) IX. Jaensch, E. R., Beziehungen von Erlebnisanalyse und Sprach- 

. wissenschaft usw. 

(15) X. Freiling, H., Jaensch, E. R, und Reich, F., Das Kovari- 
antenphänomen mit Bezug auf die allgemeinen Struktur- und 
Entwicklungsfragen der räumlichen Wahrnehmungen. 

(16) XI. Freiling, H., Über die räumlichen Wahrnehmungen der Jugend- 
lichen in der eidetischen Entwicklungsphase. 

(17) XI. Jaensch, E. R, Der Umbau der Wahrnehmungslehre und die 
Kantischen Weltanschauungen. 

(18) XIII. Jaensch, E. R., Wahrnehmungslehre und Biologie. 

(19) XIV. Jaensch, B. R., Ausblicke auf kulturphilosophische und päd- 
agogische Fragen und die Jugendbewegung unserer Zeit. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 299 


Über Grundfragen der Farbenpsychologie. Zugleich ein Beitrag zur Theorie 

der Erfahrung. Hrsg. von E.R. Jaensch, Zeitschrift für Psychol. u. 

Physiol. d. Sinnesorg. Abt. I. | 

(20) Jaensch, E. R., Vorbemerkung. — ZP. I, 83. 

*(21) V. Herwig, B., Über den inneren Farbensinn der Jugendlichen und 
seine Beziehung zu den allgemeinen Fragen des Lichtsinns. 
Ebenda 87. 

*(22) VI. Jaensch, E. R., Über Kontrast im optischen Anschauungsbild, 
Ebenda 87. 

*(23) VII. Herwig, B., und Jaensch, E. R., Über Mischung von objektiv 
dargebotenen Farben mit Farben des Anschauungsbildes. 
Ebenda 87. 

*(24) Jaensch, E. R., Über die subjektiven Anschauungsbilder. Ber. über 
d. VII. Kongr. f. exp. Psychol. in Marburg, hrsg. v. K.Bühler. 
Jena 1922. 

*(25) Jaensch, E. R., Zur Richtigstellung und Ergänzung. ZP. I, 88. 

(26) Jaensch, E. R., Einige allgemeinere Fragen der Psychologie und 
Biologie des Denkens, erläutert an der Lehre vom Vergleich. 
Leipzig 1920. 

(27) Jaensch, Walther, Ober Wechselbeziehungen von optischen, zere- 
bralen und somatischen Stigmen bei Konstitutionstypen. Zeit- 
schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Band LIX. 
1920. 

*(28) Jaensch, E. R., und W., Neue Untersuchungen der Jugendpsychologie. 
— Aus »Der Schulfreund«. Okt. 1921. 

*(29) Kroh, Oswald, Subjektive Anschauungsbilder bei Jugendlichen. Eine 
psychologisch-pädagogische Untersuchung. Göttingen 1922. 

(30) Kroh, O.„ Eine einzigartige Begabung und deren psychologische 
Analyse. Göttingen 1922. 

*(31) Kroh, O., Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlichen. 

(32) Jaensch, E. R., und Schönheinz, W., Einige allgemeinere Fragen 
der Wahrnehmungslehre, erläutert am Problem der Sehgröße. 
Nach Untersuchungen über Mikropsie beim Rollettschen Kon- 
vergenzplattenversuch. Archiv für die gesamte Psychologie. 
XLVI, 1. u. 2. Heft, 1924. 

(3) Koffka, K., Über die Untersuchungen an den sogenannten optischen 
Anschauungsbildern. Psychologische Forschung. III, 1923. 

(34) Koffka, K., Über die Messung der Größe von Nachbildern. Psycho- 
logische Forschung. III, 1923. 


Vorbemerkung. 


Subjektive Anschauungsbilder beruhen auf der Fähigkeit, 
einen anschaulichen Eindruck, nachdem der Reiz schon kürzere 
oder längere Zeit verklungen ist, mit sinnlicher Deutlichkeit 
zu reproduzieren, z. B. einen gesehenen Gegenstand nach seiner 
Wegnahme nicht nur vorzustellen, sondern im eigentlichen und 
wörtlichen Sinne wiederzusehen. Schon in der älteren Literatur 

19* 


300 Franz Scola, 


war das Phänomen gelegentlich erwähnt worden, ohne doch eine 
genauere Bearbeitung zu finden!). In jüngerer Zeit wurden 
Anschauungsbilder des Gesichtssinnes zuerst von dem Wiener 
Ohrenarzt V. Urbantschitsch, der sie bei seinen Pa- 
tienten feststellte, beschrieben. E.R.Jaensch griff die 
durch Urbantschitsch gegebene Anregung auf, und es 
kommt ihm das große Verdienst zu, in unermüdlicher Forscher- 
arbeit eine bis dahin fast unbeachtete, doch nicht bedeutungs- 
lose Erscheinung mit ihren eigenartigen Gesetzmäßigkeiten ans 
Tageslicht gezogen zu haben. 

Die systematische Erforschung des Anschauungsbildes durch 
Jaensch und seine Mitarbeiter im Marburger Psychologischen 
Institut begann, nachdem eine gelegentliche Beobachtung von 
Kroh ergeben hatte, daß unter Jugendlichen in der Alters- 
stufe von 9—14 Jahren eine größere Anzahl von Eidetikern?), 
d.h. von Individuen, die die Fähigkeit zu Anschauungsbildern 
besitzen, sich finden ließen. Seitdem ist von Jaensch und 
den Mitgliedern seines Instituts die experimentelle Unter- 
suchung des Anschauungsbildes von den verschiedensten Seiten 
her in Angriff genommen worden, so daB nunmehr eine Fülle 
der interessantesten und wertvollsten Tatsachen zusammen- 
gebracht ist. 

Die Grundlage aller Marburger eidetischen Arbeiten bilden 
die Versuche, in denen das Anschauungsbild mit den ihm ver- 
wandten oder ähnlichen Erscheinungen, mit der gewöhnlichen 
Vorstellung nämlich (dem Vorstellungsbild) und mit dem Nach- 
bild, zusammengestellt und hinsichtlich seiner Merkmale und 
Verhaltungsweisen verglichen wird. Dabei ergeben sich ge- 
wisse Gesetzmäßigkeiten, die Jaensch zu einer weitausschau- 
enden, ungemein geistvollen Theorie verwertet, die wir an 
dieser Stelle nur in ganz großen Zügen mitteilen: Vorstellungs- 
bild, Anschauungsbild und Nachbild sind Gedächtnisbilder. Sie 
stellen eine Schichten- oder Stufenfolge, eine Hierarchie dar, 
deren unterste Stufe das Nachbild ist und die im Vorstellungs- 
bilde gipfelt. Von diesen drei Gedächtnisbildern, zwischen denen 
übrigens kontinuierliche Übergänge bestehen, besitzt das An- 
schauungsbild insofern eine besondere Bedeutung, als es nach 


1) Angaben darüber bei Kroh (29, 3£.). 

2) Der Ausdruck stammt von Jaensch, der auch alle mit dem An- 
schauungsbild in Beziehung stehenden Erscheinungen als »eidetische« Tatsachen 
bezeichnet. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 301 


der Auffassung von Jaensch die alleinige Frühform des Ge- 
dächtnisses ist und aus ihm sich sowohl das Vorstellungsbild 
als auch das Nachbild im Laufe der Entwicklung herausdiffe- 
renziert. Aber nicht nur die Vorstellungswelt, sondern auch 
die Wahrnehmungswelt entwickelt sich aus dem Anschauungs- 
bild, das demnach die primitive Form alles anschaulichen Er- 
kennens darstellt. Schließlich spannt sich der Rahmen der 
Theorie noch weiter, indem die Hierarchie der Gedächtnisbilder 
eingegliedert gedacht ist in eine Stufenfolge intellektueller Funk- 
tionen überhaupt, die ihr Endziel in der Gestaltung des wissen- 
schaftlichen Weltbildes findet. Die auf dieser höchsten Stufe 
intellektueller Betätigung herrschenden sinnhaften Tendenzen 
(z. B. die Tendenz zur Gewinnung eines objektiven Weltbildes) 
sind auch schon in den niederen Schichten des Psychischen 
wirksam und vor allem in den Gesetzmäßigkeiten der eidetischen 
Erscheinungen erkennbar. — Von hier aus überschreitet die 
eidetische Theorie die Grenzen der Psychologie und nimmt 
unter Hinzuziehung erkenntnistheoretischer Gedankengänge all- 
gemeinphilosophischen Charakter an. 

Es kann und soll nicht unsere Absicht sein, diese Theorie 
einer Kritik zu unterziehen. Vielmehr ist es das Anschau- 
ungsbild selbst in seiner Eigenart und sind es die von Jaensch 
und seinen Mitarbeitern beigebrachten Tatsachen, die uns zu 
einer eingehenderen Beschäftigung mit den durch sie nahe- 
gelegten Problemen reizten und die vorliegende Arbeit veran- 
laßt haben. Letztere soll durchaus nicht mehr als ein Versuch 
sein, die eidetischen Phänomene auf eine unserer psycholo- 
gischen Gesamtanschauung entsprechende Art verständlich zu 
machen und möge als Versuch auch nur gewertet werden, bei 
dem wir uns wohl bewußt sind, daß über Tatsachen nicht so 
bald das letzte und entscheidende Wort geredet wird. 

Die Anregung zu dieser Arbeit ging von Herrn Prof. Lind- 
worsky aus. Ihm sei dafür und für das Interesse, das er 
ihr stets in freundlichster Weise entgegenbrachte, auch an 
dieser Stelle der verbindlichste Dank ausgesprochen. 

Die Aufgabe, die wir uns stellen, rechtfertigt gleichzeitig 
die Beschränkung auf eine bestimmte Gruppe von Unter- 
suchungen und Tatsachen. Indem wir nämlich das Wesen des 
Anschauungsbildes und sein Verhältnis zu den ihm verwandten 
Phänomenen zu bestimmen trachten, haben wir uns lediglich 
mit den Feststellungen zu befassen, die sich auf die allge- 


302 Franz Scola, 


meinen Eigenschaften und Verhaltungsweisen der drei oben ge- 
nannten Bilderarten beziehen und, wie wir schon sagten, die 
Grundlage und den Ausgangspunkt für die weiteren eidetischen 
Forschungen und Überlegungen bilden. Wennschon wir also 
alle mit dem eidetischen Tatsachenkreis in Verbindung stehen- 
den Veröffentlichungen der Marburger zum Studium der Er- 
scheinungen verwerteten, so ist es doch nur ein kleinerer Kreis 
von Arbeiten, die wir vor allem im Auge haben. In unserem 
Literaturverzeichnis sind diese Schriften mit einem * be- 
zeichnet. 

Für die oftmals wiederkehrenden Ausdrücke: Gedächtnis- 
bild(er), Vorstellungsbild(er), Anschauungsbild(er) und Nach- 
. bild(er) bedienen wir uns nach dem Vorgang der Marburger der 
Abkürzungen: GB, VB, AB und NB. 


1. Allgemeines über das Verhältnis von VB, AB und NB. 
GB und NB. 


Bevor wir auf das Verhältnis der drei Erscheinungen näher 
eingehen, müssen wir uns über folgendes klar werden: Bei 
jedem anschaulichen Erlebnis, sei es eine Vorstellung oder ein 
Nachbild oder auch eine Wahrnehmung, ist zu unterscheiden 
zwischen dem Gesamtverhalten, das vom Subjekt eingeschlagen 
wird, und dem anschaulichen Kern, der jedem dieser Erleb- 
nisse, ob ich nun sehe oder bloß vorstelle oder ob mir ein Nach- 
bild erscheint, innewohnt. Fragen wir also nach dem Ver- 
hältnis zwischen VB, AB und NB, so bezieht sich diese Frage 
entweder auf das subjektive Verhalten, das etwa bei dem einen 
Bilde anders ist als bei dem anderen, oder auf den anschau- 
lichen Kern, auf den Bewußtseinsinhalt, der bestimmte, ob- 
jektive Merkmale und Eigenschaften besitzt. Mit diesem Be- 
wußtseinsinhalt, mit dem eigentlichen Bild, beschäftigen sich 
die Marburger Untersuchungen, die wir im Auge haben, fast, 
ausschließlich, weshalb auch unsere Erörterungen von hier ihren 
Ausgang nehmen sollen. 

Den bisherigen Anschauungen gemäß verstehen wir unter 
einer Vorstellung einen anschaulichen Bewußtseinsinhalt, der 
auf der Wiedererneuerung eines früher gehabten Eindruckes 
beruht, der also nicht unmittelbar von einem peripheren Reiz 
bedingt ist. In dieser Bestimmung sehen wir das wesentliche 
Charakteristikum der Vorstellung überhaupt, gleichgültig ob 
dic wieder erneuerten Bilder in ihren Merkmalen und ihrem 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 303 


Verhalten, in ihrer Erscheinungs- und Erlebnisweise sich weit 
voneinander unterscheiden. Demgemäß sind auch die AB als 
wiedererneuerte anschauliche Bewußtseinsinhalte prinzipiell zu 
den Vorstellungen zu rechnen. Weil sie sich aber durch ihr 
Wirklich-gesehen-werden, durch ihre Sinnenfälligkeit, von den 
gewöhnlichen, nicht wirklich gesehenen Vorstellungen als eine 
besondere und bemerkenswerte Art deutlich abheben, so ist 
es wohl berechtigt, sie mit einem eigenen Namen zu bezeichnen, 
und wir folgen dem Beispiel der Marburger, wenn wir den Be- 
griff der Vorstellung in dem oben angegebenen, weiteren Sinne 
durch den des Gedächtnisbildes ersetzen und die AB (wirklich 
gesehene Vorstellungen) und VB im engeren Sinne (nicht wirk- 
lich gesehene Vorstellungen) zusammenfassend als Gedächtnis- 
bilder bezeichnen. — Ihnen gegenüber steht nach unserer An- 
sicht das Nachbild. Es erscheint nicht als wiedererneuerter, 
sondern lediglich als nachklingender, anschaulicher Inhalt. 
Infolgedessen fehlt ihm die wesentliche Bestimmung eines GB, 
und es besteht eine Kluft zwischen NB und GB. Das NB kann 
nicht GB sein, weil es nur NB ist, weil es nur nachklingt 
und nicht wieder erneuert wird, weil sein Zustandekommen 
von dem Nochvorhandensein des unmittelbar vorher ausgelösten 
Reizzustandes der Netzhaut abhängt. Umgekehrt: Ein Bild, das 
nicht im engen Anschluß an die Wahrnedmung, als nachklingende 
Empfindung, auftritt, sondern nach kürzerer oder längerer Zeit- 
spanne wieder erneuert wird (wie etwa die Wiederholungsemp- 
findungen, die Erscheinungen des Sinnengedächtnisses), ist eben 
deshalb kein NB mehr, sondern es ist ein GB!). 

Man könnte uns einwenden: Das Merkmal der Wiedererneuerung sei gar 
nicht die wesentliche Bestimmung des GB. Von einem GB sei vielmehr immer 
dann schon zu reden, wenn ein Bild gegeben sei, ohne daß der jetzt gegen- 
wärtige Gegenstand durch physikalischen Reiz auf das Sinnesorgan einwirkt. 
Wesentlich sei also für ein GB das Zurückbleiben einer Erregung überhaupt, 
die nicht durch äußeren Reiz bedingt sei. Dabei bedeute es nur einen graduellen 
Unterschied, ob diese rückbleibende und nicht durch äußeren Reiz direkt 
veranlaßte Erregung gleich nach der Wahrnehmung oder später, nach längerem 
Zwischenraum auftrete. — Unter solchen Voraussetzungen wäre allerdings 
das NB zu den GB zu rechnen. 


1) Die Forderung nach einer strengen theoretischen Scheidung von NB 
und AB, unbeschadet ihrer etwaigen phänomenologischen Ununterscheidbarkeit 
(siehe weiter unten!), finden wir auch von R. H. Goldschmidt vertreten 
(Rückblick auf Nachbildtheorien bis zur Herausbildung der Fechner-Helm- 
holtzschen Auffassung. Arch. f. d. ges. Psych. Bd.42 S. 263). 


304 Franz Scola, 
s 

Demgegenüber erinnern wir daran, daß dann schon das langsame Ab- 
klingen einer Empfindung, durch das die Dauer der Empfindung über die ob- 
jektive Reizdauer hinausgeht, als Gedächtniserscheinung aufzufassen wäre. 
Vor allem aber würde es ein Irrtum sein, wollte man den Unterschied zwischen 
dem bloßen Nachklingen und der Reproduktion eines Eindruckes nur als 
graduellen Unterschied in der Zeitdauer des Verbleibs der Erregung ansehen. 
Denn die Reproduktion, die Wiederbelebung eines Inhaltes nach längerer 
oder kürzerer Zwischenzeit setzt notwendig ein prinzipiell anderes Verbleiben 
des Eindruckes voraus als das bloße Nachklingen. Beim GB klingt die 
Empfindung nicht nach, sondern sie hinterläßt, wie man nicht unzutreffend 
sagt, eine »Disposition«, womit das latente oder potentielle Nochvorhanden- 
sein des Eindruckes gekennzeichnet werden soll. Es läßt sich dieser Tat- 
bestand auch durch den Gegensatz der primären und sekundären Erregung 
wiedergeben, ein Gegensatz, der sich übrigens nicht mit dem von peripher 
und zentral decken muß. Beim NB ist es die primäre Erregung, die noch 
andauert; beim GB ist es die sekundäre Erregung, die aus der Erregungs- 
disposition heraus entsteht. Das scheint uns ein mehr als gradueller Unter- 
schied. Von ihm aus gelangen wir weiter zu einer noch tieferen Bestimmung 
des GB. Das latente, dispositionelle Zurückbleiben der Eindrücke weist näm- 
lich darauf hin, daß es sich nicht bloß um ein mehr oder weniger aus- 
gedehntes Andauern der Erregung, sondern um eine durch die primäre Er- 
regung veranlaßte dauernde Veränderung des psychischen Apparates 
handelt. Man ist geneigt, hierbei an die Tatsachen der Assimilation von 
Stoffen durch den Organismus zu denken, durch welchen Prozeß dieser selbst 
eine dauernde Veränderung erleidet. — In diesem Sinne offenbar spricht 
auch Hering vom Gedächtnis als von einer »allgemeinen Funktion der 
organisierten Materie«. — Bei den GB findet dies seinen Ausdruck darin, 
daß die Bilder in eine enge Verbindung treten mit der Gesamtheit des Psy- 
chischen, indem sie einesteils in die vorhandenen Komplexe eingehen und 
andernteils dem Verlauf des psychischen Geschehens ihre Wiederbelebung 
verdanken. Das NB dagegen erwächst nicht aus einer dauernden Verände- 
rung des Organismus, was darin zum Ausdruck kommt, daß es in seiner Ent- 
stehung notwendig an die unmittelbar voraufgegangene Wahrnehmung ge- 
bunden ist, und daß es spurlos, ohne irgendwelche Bedeutung für das Ganze 
des Organismus (des psychischen wie des physiologischen) gewonnen zu 
haben, verschwindet. 

Es treten uns also in den Marburger Untersuchungen zwei 
Gruppen von Erscheinungen entgegen: Nachbilder und Ge- 
dächtnisbilder; die Gedächtnisbilder sind entweder Vorstellungs- 
bilder (Vorstellungen im engeren Sinne) oder Anschauungsbilder 
(wirklich gesehene Vorstellungen). 


NB und AB. 


Unabhängig von dieser theoretischen Scheidung besteht nun 
die andere Frage der praktischen Unterscheidbarkeit der Bilder, 
die Frage, ob es bestimmte Merkmale und Verhaltungsweisen 
gibt, die ausschließlich entweder den NB oder den GB zu- 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 305 


kommen, so daß es möglich wäre, eindeutig anzugeben, wann 
wir es mit einem NB und wann mit einem GB zu tun haben. 
— Diese Frage erhält ihre eigentliche Bedeutung erst da, wo 
der Unterschied zwischen Wiedererzeugtsein und bloßem Nach- 
klingen äußerlich fortfällt, wo nämlich das GB im unmittel- 
baren Anschluß an die Wahrnehmung reproduziert wird (was 
in den Marburger Untersuchungen meist der Fall war), und 
wo außerdem infolge besonders günstiger Versuchsbedingungen 
die NB eine große Beständigkeit erlangen. 

Für die eine Gruppe der GB, für die VB, besteht aller- 
dings auch dann keine Schwierigkeit, weil sie sich durch ihre 
Erscheinungsweise des »Bloß-vorgestellt-seins« von den wirk- 
lich gesehenen NB in jedem Falle deutlich abheben. Nicht so 
einfach ist dagegen die Unterscheidung von NB und AB. Beide 
werden nach der oftmaligen Angabe der Marburger wirklich ge- 
sehen; und wenn sie nun außerdem in gleicher Weise unmittel- 
bar nach der Betrachtung des Vorbildes auftreten, dann bedarf 
es zu ihrer Unterscheidung anderer Kriterien. Als solche Kri- 
terien sind zu nennen: 1. die Fixation des Gegenstandes bei 
Erzeugung des NB gegenüber der aufmerksamen Betrachtung 
des Objektes bei Erzeugung des AB; 2. der Umriß- und Farb- 
fleckcharakter sowie die negative Farbe und Helligkeit des 
NB gegenüber der Tendenz des AB, den dargestellten Gegen- 
stand womöglich mit allen oder doch mit den bedeutsamsten 
Einzelheiten und in seiner ursprünglichen Farbe und Helligkeit 
wiederzugeben; 3. das starre Verhalten des NB in bezug auf 
Größe, Gestalt, Lage und Lokalisation gegenüber der größeren 
Variabilität der geometrischen Verhältnisse beim AB. 

Diesen Kriterien aber, das hat sich in den Marburger Unter- 
suchungen deutlich erwiesen, kommt keineswegs unbeschränkte 
Geltung zu. Es gibt einerseits NB mit vielen Einzelheiten 
(5, 100) und in positiver Farbe (5, 98f.; 102f.) und solche, 
die in ihren geometrischen Verhältnissen ein von der gewöhn- 
lichen Starrheit abweichendes Verhalten zeigen (5, 63 Tab. 
u.a.); es gibt andererseits AB, die durch Fixation erzeugt 
werden (5, 98ff.; 7, 72; 21, 147 u.a.), die, wie NB, als 
bloße, nicht selten negativ gefärbte Lichtflecke erscheinen (4, 
105; 10, 165; 29, 15 u.a.), und die sich in den geometrischen 
Verhältnissen dem starren Gebaren der NB sehr weit nähern 
(3, 95; 29, 40). — Hier ist nun allerdings zu berücksichtigen, 
daß sich die Entscheidung, ob ein Bild AB oder NB ist, letzten 

Archiv für Psychologie. LI. 20 


306 Franz Scola, 


Endes auf die Aussagen der Vpn. stützt; und es ist noch eine 
offene Frage, ob das Urteil der Vpn. in jedem Falle dem wirk- 
lichen Tatbestand entsprechen muß. So wie es nämlich vor- 
kommt, daß unter gewissen Bedingungen ein durch äußeren 
Reiz faktisch veranlaßter Eindruck dem Beobachter als Vor- 
stellung und umgekehrt ein subjektiv erzeugtes Phänomen als 
wirklich wahrgenommene Erscheinung gilt, ebenso könnte auch 
ein Bild als AB beurteilt werden, wennschon es durch das 
Nachklingen des Reizes bedingt, also ein bloßes NB ist. 
Aber abgesehen von dieser theoretischen Frage interessiert 
uns jetzt vor allem die Tatsache, daß bei dem Urteil des Be- 
obachters, ob eine Erscheinung NB oder AB ist, die objek- 
tiven Bestimmungen und Merkmale der Bilder weitgehend un- 
berücksichtigt bleiben, die Tatsache, daß ein Bild, wennschon 
es seiner Erzeugungsart (Fixation) und seinem ganzen phäno- 
menalen Charakter nach (negative Farbe usw.) als NB sich 
gibt, dennoch als AB beurteilt wird. Diese Tatsache, ist nur 
verständlich zu machen durch die Annahme eines subjek- 
tiven Kriteriums, das sich mehr oder weniger unabhängig von 
den objektiven Merkmalen und Bestimmungen bildet und dem 
Urteil der Vpn. zugrunde liegt. Bevor wir jedoch diesen Ge- 
danken weiter verfolgen, wenden wir uns, um mit dem Wesen 
des AB vertraut zu werden, dem Verhältnis von VB und AB zu. 


VB und AB. 


Beide unterscheiden sich scharf durch ihre Gegebenheits- 
oder Erlebtheitsweise: Das AB wird wirklich gesehen, das 
VB aber bloß vorgestellt. Der Unterschied findet in den Mar- 
burger Schriften an anderen Stellen anderen Ausdruck. Wir 
lassen die wichtigsten Termini hier folgen: Die AB unter- 
scheiden sich in nichts von der Wirklichkeit (6, 16), sie er- 
scheinen wie etwas wahrnehmungsmäßig Gegebenes (23, 276). 
sie besitzen Wahrnehmungs- oder Empfindungscharakter und 
sinnenfällige oder sinnliche Deutlichkeit (6, 16; 1, 4; 4, 97; 
24, 3; 28, 3), sie werden in eigentlichem und wörtlichem Sinne 
wiedergesehen (1, 4 u. 9; 4, 97; 6, 40; 8, 273; 16, 295£.: 
21, 130; 24, 3; 25, 3). Alle diese und ähnliche Bestimmungen 
treffen für das VB nicht zu. Von ihm wird immer wieder 
gesagt, daß es nicht wirklich gesehen, sondern bloß vorge- 
stellt werde (1, 8; 6, 40; 8, 273; 16, 295f.; 24, 3; 28, 3 u.a.). 
Dieser Unterschied wird von den Vpn. spontan gemacht und 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 307 


immer wieder von neuem betont. Dennoch findet sich an keiner 
Stelle eine bündige Aussage darüber, worin er eigentlich 
gründet, was es heißt: ein Bild sei »wirklich gesehen« oder 
es sei »bloß vorgestell«. Diese Frage ist nicht etwa gleich- 
bedeutend mit der, wodurch sich Wahrnehmung und Vorstellung 
voneinander unterscheiden. Daß zwischen Wahrnehmung und 
Vorstellung im absoluten Sinne prinzipiell kein Unterschied be- 
steht (wenn wir nämlich als Wahrnehmung einen Bewußtseins- 
inhalt bezeichnen, der unmittelbar von einem äußeren Sinnes- 
reiz abhängig ist, und als Vorstellung einen solchen, der nicht 
unmittelbar von einem äußeren Reiz bedingt wird), muß nach 
den neueren Untersuchungen, deren Resultate Lindworsky 
in seiner Abhandlung über »Wahrnehmung und Vorstellung« 
(ZP I, 80) zusammenfaßt, als erwiesen gelten und findet 
seine Bestätigung durch den Aufweis des AB als einer recht 
häufigen Form von Vorstellungen mit empfindungsmäßigem 
Charakter. Auch hat die oben angedeutete Frage nach dem 
‚Wesen des Unterschiedes von »Wirklich-sehen« und »Bloß-vor- 
stellen« nicht den Sinn: durch welche Merkmale sich VB und 
AB im allgemeinen unterscheiden. Denn wir wissen, daß sie 
sich in jedem Falle voneinander abheben eben durch das Merk- 
mal der Sinnenfälligkeit, das den AB zukommt, und das die 
VB nicht aufweisen (1, 10; 4, 97; 6, 40; 7, 52; 29, 23ff.; 
29, 56). Hier fragen wir vielmehr, was die Ausdrücke Sinnen- 
fälligkeit, Wahrnehmungsgemäßheit, Wirklich-sehen einerseits 
und Bloß-vorstellen andererseits bedeuten, was mit ihnen eigent- 
lich gemeint sei. Dieser Frage wenden wir uns jetzt zu, weil 
wir glauben, nur durch ihre Beantwortung den Schleier von dem 
so geheimnisvoll erscheinenden Wesen des AB abheben zu 
können. — Auch Kroh gibt in seinem Buche »Subjektive An- 
schauungsbilder bei Jugendlichen« eine Analyse des Wirklich- 
sehens, die jedoch zu keinem für unsere Zwecke brauchbaren 
Ergebnis führt. Wir werden an gehöriger Stelle auf sie hin- 
weisen. 

Daß die Deutlichkeit, d. i. der Einzelheitsreichtum 
der Bilder in keinem wesensmäßigen Verhältnis zu dem ge- 
nannten Unterschiede steht, geht aus den Marburger Unter- 
suchungen hervor. Mögen "immerhin die wirklich gesehenen 
AB im allgemeinen deutlicher sein als die bloß vorgestellten 
VB (29, 28 u. 76), so können doch auch letztere mehr Einzel- 
heiten aufweisen als AB (29, 15 u. 28). Diese erscheinen 

20 * 


308 Franz Scola, 


nicht selten wie bloße Farbflecke (4, 105; 10, 165; 19, 15 u. 
28 f.; 31, 42), ohne darum an ihrer Sinnenfälligkeit etwas ein- 
zubüßen. Von erwachsenen Nichteidetikern werden bekanntlich 
die NB ohne jede Einzelheit wirklich gesehen, während die 
Vorstellungen trotz allen Detailreichtums empfindungsmäßigen 
Charakter für gewöhnlich nicht aufweisen. Übrigens hebt Dr. 
E., eine Vp. Krellenbergs, ausdrücklich hervor, daß der 
Unterschied zwischen vorgestellten und gesehenen Bildern nicht 
in der Deutlichkeit bestehe (5, 84 f.). 

Dasselbe ist über die Körperlichkeit der Bilder zu 
sagen. Gehen wir die diesbezüglichen Ergebnisse der Mar- 
burger durch (1, 30—35; 2, 88; 5, 106ff.), so finden wir, 
daB die verschiedensten Formen des Verhältnisses von räum- 
licher Erscheinungsweise und Gedächtnis-Stufe!) beobachtet 
worden sind, daß schließlich jedes Bild, ob es, wie die VB, 
bloß vorgestellt, oder, wie die AB und NB, wirklich gesehen 
wird, sowohl körperlich als auch reliefartig und flach er- 
scheinen kann. 

Weiter könnte der Unterschied zwischen vorgestellten und 
gesehenen Bildern ein gradueller oder auch wesentlicher Unter- 
schied in der Intensität sein. So vertritt Kroh die An- 
sicht, daß die Intensität des VB wesensverschieden von der 
des AB sei (29, 26f. u. 115). Dagegen zeigt der Versuch 
Busses über das Gewicht der GB (1, 27 ff.), in dem für die 
VB die gleiche Methode zur Feststellung der Intensität benutzt 
wird wie für die AB und NB?°), daß ein wesentlicher Unter- 
schied in der Intensität zum mindesten nicht überall besteht, 
und daß es sich oftmals nur um einen graduellen ‚Unterschied 
in der Lebhaftigkeit der Bilder handelt. Demzufolge nun könnte 
man glauben, eine jede Vorstellung werde dann wirklich ge- 
sehen, wenn sie einen gewissen Grad der Intensität erreicht. 
Aber selbst diese Annahme besteht nicht zu Recht. Denn die 
beiden Ausnahmen im Busseschen Versuch (1, 29 Tab.) zeigen 
für VB und AB das gleiche Gewicht, ohne daß deshalb die VB 
wirklich gesehen würden. — Wennschon wir also auf Grund 
der oftmaligen Aussagen über die Lebhaftigkeit der AB zu- 


1) Wir erinnern daran, daß VB, AB und NB als Gedächtnisstufen be- 
zeichnet werden. 

2) Busse ließ die Bilder auf einen detailierten Hintergrund projizieren, 
und die Vpn. mußten angeben, wieviel Einzelheiten des Hintergrundes während 
der Betrachtung der GB zu erkennen waren. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 309 


geben, daß in sehr vielen und vielleicht in den meisten Fällen 
das VB an Intensität vom AB weit übertroffen wird, go 
glauben wir doch nicht, daß die verschiedene Intensität der 
Bilder den Unterschied zwischen bloßem Vorstellen und wirk- 
lichem Sehen ausmacht. 

Wenn nicht in den Bildern selbst, so könnte doch in ihrem 
Zustandekommen, in der erlebten Verschiedenartigkeit der In- 
anspruchnahme des psychischen oder physiologischen Apparates, 
der Unterschied zwischen Sehen und Vorstellen begründet 
liegen. So führt Kroh die Empfindung des Beteiligtseins des 
äußeren Auges an (29, 69). Und in der Tat scheint damit ein 
wesentliches Charakteristikum des wirklichen Sehens gefunden 
zu sein. Möchte man doch sagen: Gesehene Bilder »kommen 
durch die Augen« und das »durch-die-Augen-kommen« werde 
faktisch erlebt. Jedoch ist auch diese Annahme unhaltbar, was 
darın zum Ausdruck kommt, daß es nicht möglich ist, für die 
bloß vorgestellten Bilder den Ausfall irgendeiner Empfindung 
im Organ zu konstatieren. Denn auch bei VB können Kon- 
vergenz- und Akkommodationsimpulse sowie Druck- und Span- 
'nungsempfindungen auftreten (29, 73), ja es ist anzunehmen, 
daB derartige Erscheinungen in viel höherem Maße dann er- 
lebt werden, wenn der Nichteidetiker seine bloß vorgestellten 
Bilder mit großer Anstrengung auf den Schirm projiziert, als 
wenn der Eidetiker bei ungezwungenem Aufschlagen der Augen 
fast mühelos seine Bilder sieht!). Eine eigentliche Empfindung 
im Organ, die bei den gesehenen Bildern stets, bei den bloß 
vorgestellten aber nie vorhanden ist, wird sich also kaum auf- 
weisen lassen. Überhaupt erscheint es ganz aussichtslos, nach 
einer empfindungsmäßigen Gegebenheit zu suchen, durch die 
das periphere oder zentrale Zustandekommen von Eindrücken 
unmittelbar bewußt würde. Bestehen doch bei den Illu- 
sionen peripher und zentral erregte Eindrücke unbemerkt neben- 
einander. Und schließlich müßten aus dieser Annahme für die 
AB sowohl wie für die wirklich gesehenen Traumbilder 
Schwierigkeiten erwachsen, da sie zentral erzeugt sind und 
dennoch mit dem Eindruck auftreten, als seien sie dem Sinnes- 
organ, dem »physischen Auge« (29, 69) gegeben. 


1) Martin berichtet: »Organempfindungen stellten sich häufiger bei 
solchen Bildern ein, die besonders schwer zu projizieren und festzuhalten 
waren« (Martin, Die Projektionsmethode und die Lokalisation visueller und 
anderer Vorstellungsbilder. ZP. I, 61 S. 339). 


310 Franz Scola, 


Aber es kann die Aussage der Vpn., daß bei Erzeugung und 
Betrachtung eines AB das Auge, und zwar das äußere, selbst 
beteiligt sei (29, 15f.), nicht aus der Luft gegriffen sein und 
muß eine real erlebte Unterlage haben. Wo soll diese gesucht 
werden, da der Eindruck des Beteiligtseins des Organs aus 
keiner objektiven und unmittelbaren Gegebenheit resultieren 
kann? 

Es bleibt nur ein Weg der Lösung des Problems, der darin 
besteht, daß wir den Unterschied zwischen Sehen und Vor- 
stellen in dem subjektiven Verhalten suchen, das je- 
weils eingeschlagen wird und, wie wir schon zu Anfang unserer 
Ausführungen (S. 302) andeuteten, bei jedem anschaulichen Er- 
lebnis von dem anschaulichen Kern, dem eigentlichen Bild, 
unterschieden werden muß. Dann wäre der soeben erörterte 
Eindruck des Beteiligtseins des äußeren Organs etwa folgender- 
maßen zu erklären: »Weil ich so tue, als ob ich mit den 
Augen sähe, darum meine ich, das Beteiligtsein der Augen 
auch zu empfinden.« Dieser Gedanke wird übrigens nicht nur 
durch unsere vorangegangenen Überlegungen, sondern durch die 
Berichte der Marburger selbst nahegelegt. Wir .erfahren 
nirgendwo, daß ein Bild erst nach seiner Erzeugung an Hand 
des objektiv Gegebenen auf seine Erscheinungsweise des Ge- 
sehen- oder Vorgestelltwerdens geprüft werden muß. Vielmehr 
ist es die Intention der Vp., die das GB derselben Vorlage will- 
kürlich zum gesehenen oder vorgestellten macht. Diese Inten- 
tion kann nur durch eine vom Subjekt einzuschlagende Ver- 
haltungsweise, vielleicht durch gewisse Nebenbedingungen unter- 
stützt, ihre Erfüllung finden. 

»Von welcher Art die Verhaltungsweise ist, von der es ab- 
hängt, ob ein VB oder ein AB entsteht, ist offenbar schwer 
zu sagen. Bisher haben wir selbst von Erwachsenen keine voll- 
befriedigende Beschreibung davon erhalten können«, schreibt 
Busse (1,9), setzt jedoch in einer während des Druckes bei- 
gefügten Anmerkung hinzu, daß »die Frage inzwischen durch 
eine andere Arbeit des Institutes in weitgehendem Maße ge- 
klärt« worden sei. Offenbar ist hiermit die Arbeit Krellen- 
bergs gemeint, der den »psychophysischen Gesamtzustand bei 
Erzeugung und Beobachtung eines AB« (den eidetischen Zu- 
stand) mit dem gewöhnlichen Zustand des Sehens und dem bei 
Erzeugung eines VB vergleicht (5, 73ff.). Abgesehen von 
wichtigen Einzelergebnissen, auf die wir später zurückkommen 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 311 


werden, entnehmen wir seiner Untersuchung in bezug auf die 
uns vorliegende Frage die Feststellung, daß es sich bei der Be- 
trachtung eines AB im allgemeinen um das ganz ungezwungene 
und natürliche Verhalten handelt, wie es beim wirklichen Sehen 
eines gegenwärtigen Objektes stattfindet (5, 80). Wie aber 
unterscheidet sich das Verhalten des wirklichen Sehens von dem 
des bloßen Vorstellens? 

Man ist geneigt, den Gegensatz von aktivem und passivem 
Verhalten heranzuziehen und zu sagen: Vorgestellte Bilder 
werden (aktiv) erzeugt, gesehene Bilder »läßt man (passiv) 
kommen«. Dem aber widerspricht die Tatsache, daß es frei- 
steigende Zwangsvorstellungen gibt, Eindrücke, bei deren auf- 
dringlichem Erscheinen sicher nicht das Gefühl der Aktivi- 
tät, des Erzeugens, im Subjekt vorhanden ist, und die doch 
nicht wirklich gesehen werden. Demgegenüber erfordert 
manches gesehene Bild einen hohen Grad von Aktivität, dann 
etwa, wenn es sich um das Erkennen einer nur undeutlichen 
und schwachen Gegebenheit handelt. Dr. E., eine Vp. Krel- 
lenbergs, kehrt das Verhältnis geradezu um, wenn er sagt: 
»Beim VB besteht der Eindruck der reinen Betrachtung, der 
Passivität und des Unbeteiligtseins, beim AB der Eindruck 
der Aktivität und des Beteiligtseins« (5, 83). Diese Aussage 
beweist zur Genüge, daß die Begriffe Aktivität und Passivität 
für sich allein und ohne nähere Umschreibung ihres Sinnes 
nicht geeignet sind, den Unterschied von Sehen und Vorstellen 
verständlich zu machen +). i 

Weiter könnte ein bestimmtes Verhalten der Lokalisation 
der Eindrücke für den genannten Unterschied in Frage kommen. 
Nach Kroh ist das Wirklich-gesehen-werden, die Sinnenfällig- 
keit der AB letzten Endes eine Folge des Erscheinungsortes 
(29, 69). Die AB treten im Sehraum auf (29,58), sie werden 
im Außenraum lokalisiert (29, 56 f.), sie sind in jedem Falle 
im Wahrnehmungsraum (29, 59 f.). Die VB dagegen erscheinen 
im sogenannten Vorstellungsraum ?), und zwischen Vorstellungs- 
und Wahrnehmungsraum besteht völlige Inkongruenz, Über- 
gangslosigkeit (29, 58—77). 

1) Martin (a.a.0. S.341) berichtet: »... es zeigen die Protokolle, daß 
der jeweilige Eindruck von einer Rezeptivität oder Passivität des Verhaltens 
bei der Perzeption nicht in bisher üblicher Weise als Kriterium für (gesehenes; 
d. Verf.) Objekt und (vorgestelltes; d. Verf.) Bild zu benutzen ist.« 

2) Über die hieraus entstehende Schwierigkeit für die projizierten VB 
weiter unten. 


312 Franz Scola, 


‚Was nun diese letztere Behauptung anbelangt, so glauben 
wir, folgendes feststellen zu dürfen: Ihrem Wesen und ihrer 
Struktur nach müssen Wahrnehmungs- und Vorstellungsraum 
als gleichartig angenommen werden. Denn ursprünglich ist uns 
nur ein Raum, der Wahrnehmungsraum gegeben. Wir können 
demnach auch nur diesen einen und keinen prinzipiell anders 
gearteten Raum vorstellen. Völlige Inkongruenz und Übergangs- 
losigkeit dürfte also zwischen dem wahrgenommenen und dem 
vorgestellten Raume nicht bestehen. 

Dennoch hat die Scheidung von Wahrnehmungs- und Vor- 
stellungsraum eine gewisse Berechtigung, wenn wir nämlich 
unter dem Wahrnehmungsraum nicht den Raum überhaupt ver- 
stehen, der (bei Nichtachtung aller Hindernisse, die sich der 
freien Bewegung unseres wahrnehmenden Organismus in den 
Weg stellen) seiner Struktur nach möglicherweise wahrge- 
nommen werden kann, sondern den besonderen und sehr be- 
schränkten Raumausschnitt, der momentan der Wahrnehmung 
wirklich zugänglich ist und als jetzt wahrnehmbar erlebt wird, 
den ich immerfort »um mich« habe, ohne übrigens die in ihm 
befindlichen Gegenstände kennen zu müssen, den ich in un- 
mittelbarer Verbindung weiß mit meinem aktuell wahr- 
nehmenden, entweder sehenden, tastenden oder hörenden 
Organismus. Mit diesem Wahrnehmungsraum ist offenbar 
identisch der von Dr. E. bei Krellenberg beschriebene 
»Eigenraum«, »der Raum, der mit der eigenen Person (wahr- 
nehmungsmäßig; Zus. d. Verf.) verbunden gedacht wird« (5, 
81). Ein besonderer Ausschnitt dieses Wahrnehmungsraumes 
ist nun wieder der »Sehraum«, der allein für unsere Unter- 
suchungen in Betracht kommt, da wir es nur mit optischen 
Eindrücken zu tun haben. Während der Wahrnehmungsraum 
»um mich« erlebt wird, ist der Sehraum nur »vor mir«; er 
ist das Stück des Raumes, das mir dann gegeben ist (oder ge- 
geben wäre), »wenn ich die Augen öffne« (oder »jetzt öffnen 
würde«). 

Demgegenüber ist der Vorstellungsraum jeder beliebige 
andere Raumausschnitt, in dem, etwa auf Grund früherer Wahr- 
nehmungen, ein Eindruck lokalisiert werden kann, und der mit 
dem gegenwärtigen Sehraum nicht zusammenfällt, wie etwa 
der Raum hinter mir oder ein von mir entfernter oder durch 
irgendwelche Gegenstände getrennter Raum. Es besteht 
zwischen ihm und dem Subjekt keine direkte wahrnehmungs- 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschaunngs- und Nachbild. 313 


mäßige Verbindung; er ist ein Raumstück, das »jetzt nicht ge- 
sehen werden kann«. | 

Auch Segal!) kommt auf Grund seiner Untersuchungen 
zu dem Ergebnis, daß der sogenannte Vorstellungsraum nur ein 
Teil des Wahrnehmungsraumes ist, daß also zwischen beiden 
nicht eine übergangslose Kluft besteht. Übrigens dürfte sich 
eine solche Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Vor- 
stellungsraum mit der von G.E.Müller?) vorgenommenen 
zwischen rein egozentrischer und topomnestischer Lokalisation 
weitgehend decken. 

Was nun die Lokalisation gesehener und bloß vorgestellter 
Bilder anbelangt, so läßt sich folgendes sagen: Wirklich ge- 
sehene Bilder sind stets im Sehraum lokalisiert (4, 98; 7, 52: 
24, 27; 29, 56ff.). Bloß vorgestellte Bilder werden häufig in 
einem Vorstellungsraum lokalisiert, d.h. in einem Raumaus- 
schnitt, der augenblicklich nicht gesehen werden kann, wobei 
nun die weitere Frage entsteht, in welcher räumlichen Be- 
ziehung ein solcher Vorstellungsraum zum Sehraum erlebt wird. 
Es können jedoch auch bloß vorgestellte Bilder im Sehraum 
selbst lokalisiert werden, was durch die Untersuchungen G. E. 
Müllers schon erwiesen und durch die Tatsache der pro- 
jizierten Vorstellungen bei Martin und in den Marburger 
Experimenten bestätigt wurde. Über diese Schwierigkeit, die 
hauptsächlich durch die projizierten Vorstellungen entsteht, 
hilft sich Kroh dadurch hinweg, daß er sagt: Vorstellungen 
werden nicht eigentlich gesehen, sondern sie erscheinen nur im 
Sehraum (29, 73). Damit aber ist der eigenartige Tatbestand 
ebensowenig erfaßt, wie wenn er andernorts den projizierten 
VB eine Mittelstellung hinsichtlich ihrer Lokalisation einräumt 
und meint, es bestehe bei ihnen weder vollkommene Kohärenz 
noch auch totale Inkohärenz mit den gleichzeitig im Gesichts- 
feld auftretenden Wahrnehmungsbildern (29, 77). 

Über das Negative dieser Angabe könnten wir durch den 
Gedanken der Bestimmtheit der Lokalisation hinauskommen. 
Tatsächlich mag der bloß vorgestellte Gegenstand häufig nur 
unbestimmt im Sehraum lokalisiert sein. Doch ist auch dieser 
Unterschied nicht durchgängig; denn es kann ein Gegenstand 


1) J. Segal, Über das Vorstellen von Objekten und Situationen, Stutt- 
gart 1916. 

2) G.E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vor- 
stellungsverlaufes II §§ 48—78. 


314 Franz Scola, 


an derselben Stelle wirklich gesehen und bloß vorgestellt werden, 
was in den Marburger Experimenten nicht selten der Fall ge- 
wesen ist. Das Lokalisationsverhalten allein macht also auch 
nicht den Unterschied von Sehen und Vorstellen aus. 

Eng mit dem Vorigen zusammenhängend ist die Frage der 
Aufmerksamkeitsrichtung. Kroh sagt an einer Stelle (29, 24), 
beim Sehen sei die Aufmerksamkeit nach außen gewandt. Dar- 
nach könnte für das bloße Vorstellen eine Aufmerksamkeits- 
richtung nach »innen« angenommen werden; dem aber wider- 
spricht die Tatsache, daß bisweilen vorgestellte Bilder so gut 
wie gesehene im Außenraum, ja im Sehraum lokalisiert sind, 
und die Aufmerksamkeit ist auf die »innere« Reproduktions- 
tätigkeit des Vorstellens so wenig wie auf die Funktion des 
Sehens, sondern in jedem Falle auf den gesehenen oder vor- 
gestellten Gegenstand gerichtet. — Auch der von Kroh ver- 
wandte Terminus »oculo-sensorische Aufmerksamkeit« (29, 69) 
führt uns nicht weiter, da das der Aufmerksamkeit beigefügte 
Attribut nur wieder besagt, daB es sich um ein Verhalten 
handelt, wie es beim wirklichen Sehen mit den Augen statt- 
findet, und daß dieses Verhalten durch den Begriff der Auf- 
merksamkeit allein nicht erfaßt werden kann. 

Der negative Ausfall unserer Analyse und der vergebliche 
Versuch, den Unterschied von Sehen und Vorstellen auf eine 
einzelne, psychisch einfache Verhaltungsweise zurückzuführen, 
veranlaßt uns zu einer Annahme, die auch durch Überlegungen 
allgemeinerer Art nahegelegt wird: Wir wissen, daB in der 
Gesamtheit des Psychischen die Komplexe von Elementen und 
elementaren Funktionen eine bedeutsame Rolle spielen. Wir 
wissen ferner, daß ein Komplex, der sich etwa durch das oft- 
malige Beisammen der Elemente im Laufe der Entwicklung 
gebildet hat, nicht mehr als bloße Summe seiner Glieder, sondern 
als neue und eigenartige Einheit erlebt wird. Und endlich 
wissen wir, daß eine solche komplexe Erlebniseinheit auch dann 
ins Bewußtsein treten kann, wenn faktisch nicht alle komplex- 
bildenden Elemente gegeben sind. In Ansehung dieser Tat- 
sachen glauben wir uns zu folgender Hypothese berechtigt: 
Der Unterschied von Sehen und Vorstellen ist nicht in einem 
einzelnen, psychisch einfachen Verhalten zu suchen, sondern 
es werden sich im Laufe der Entwicklung verschiedene Ver- 
haltungsweisen zu Komplexen, zu Gesamtverhaltungsweisen zu- 
sammenschließen, die, selbst beim Ausfall einzelner Glieder, in 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 315 


ihrer typischen Eigenart erlebt, den Eindruck des Sehens bzw. 
Vorstellens bedingen. Solche Gesamtverhaltungsweisen aufzu- 
decken, ist nun unsere nächste Aufgabe, und wir glauben uns 
ihrer am besten dadurch zu entledigen, daß wir den Verlauf 
der Entwicklung selbst verfolgen und zusehen, an welchen 
Stellen Ansatzpunkte zur Bildung eines besonderen Verhaltens 
des Subjektes den Eindrücken gegenüber gegeben sind. 

Bei diesem Versuch einer genetischen Lösung des Problems 
stützen wir uns in den Grundgedanken auf die Auffassung von 
Lindworsky, wie sie verschiedenerorts, vor allem auch in 
der schon genannten Abhandlung über »Wahrnehmung und 
Vorstellung« niedergelegt ist. 


2. Die Entwicklung von AB und VB. 


Im frühesten Entwicklungsstadium des Erkenntnisprozesses 
hat das Kind weder wirklich gesehene noch auch bloß vor- 
gestellte Bilder (so wie es Wahrnehmung und Vorstellung nicht 
unterscheidet); es hat nur anschauliche Inhalte überhaupt. 
Zwischen diesen Inhalten bestehen Unterschiede in bezug auf 
die Deutlichkeit, die Ausgeprägtheit der Farben, die Schärfe 
und Bestimmtheit der Linien und Formen, kurz die Lebhaftig- 
keit oder Intensität sowie die zeitliche und räumliche Aus- 
dehnung. Weil aber einerseits diese Unterschiede mannigfaltig 
und die Übergänge zwischen ihnen kontinuierlich sind, und weil 
‚andererseits das Kind weder die Herkunft noch die Bedeutung 
der Eindrücke kennt, so ist es allen, je nach seinem psychischen 
Gesamtzustande, in gleicher Weise hingegeben. Irgendeinem 
Eindruck eine besondere Einstellung, ein eigenes Verhalten 
entgegenzubringen, besteht vorerst keine Veranlassung. Es 
mag dieser Zustand sein wie ein verständnis- und interesse- 
und wahlloses Hinnehmen alles dessen, was sich dem Bewußt- 
sein darbietet, mag es durch äußeren Reiz oder durch innere Er- 
regung veranlaßt sein. — Allmählich nun vollzieht sich der 
Prozeß, den Lindworsky in seiner genannten Abhandlung 
eingehend geschildert hat und den wir zwecks Grundlegung 
unserer weiteren Ausführungen hier nur kurz skizzieren wollen: 
Wir sagten oben, daß sich die Eindrücke in bezug auf ihre 
anschaulichen Merkmale mannigfaltig unterscheiden. In vielen 
Fällen werden diese Unterschiede nur sehr gering und kaum 
merklich sein. Auch kreuzen sich häufig die Eigenschaften in 
ihren gradweisen Abstufungen dergestalt, daß beispielsweise 


316 Franz Scola, 


hohe Deutlichkeit mit geringer Intensität und umgekehrt ge- 
paart ist, daß schwache, aber äußerst beständige Eindrücke 
mit kurzdauernden, höchst intensiven Inhalten wechseln. Wäre 
nur diese Regellosigkeit, dann würde wahrscheinlich die noch 
unentwickelte Psyche, von der Fülle der Beziehungen erdrückt, 
keine festen Verhältnisse erfassen können; nur schwerlich würde 
es zur Bildung bestimmter Gruppen der Erscheinungen kommen. 
Nun aber hebt sich aus allen Eindrücken einerseits eine ge- 
wichtige Anzahl solcher hervor, bei denen die obengenannten 
Merkmale in höchstem Grade vereinigt sind, während anderer- 
seits eine nicht weniger bedeutende Gruppe die niedrigsten 
Grade jener Eigenschaften ausprägt. Alle diese Eigenschaften 
wollen wir hier vorläufig einer kurzen Ausdrucksweise halber 
unter dem Begriff der Intensität zusammenzufassen !) und reden 
demgemäß von intensiven oder starken und weniger intensiven 
oder schwachen Eindrücken. Wo nun zwei Vertreter dieser 
beiden Gruppen nebeneinander (in dichter Abfolge) erlebt 
werden, ist Anlaß zu einer Beziehungserfassung gegeben, die 
vorerst nur rein formal zu charakterisieren sein wird: Inhalt A 
ist anders als Inhalt B. 

Infolge des für das Kind charakteristischen oftmaligen 
Wechsels zwischen Schlaf oder Halbschlaf und Wachen, 
zwischen Traum und Wirklichkeit wird die Entwicklung dieses 
Beziehungserlebnisses?) begünstigt und gefördert. Außerdem 
führt die häufige Vergleichsmöglichkeit zum dauernden Ver- 
bleib des reproduzierbaren Wissens, »daB es solche und solche, 
d.h. starke und schwache Inhalte gibt«, und schließlich zur 
Bildung eines absoluten Eindruckes, so daß unmittelbar und 
ohne jeweils neuen Vergleich dieser oder jener Inhalt als zu 
der einen oder anderen Gruppe gehörig erlebt wird. 

Bedenken wir nun, daB das Kind schon früh aus dem 
interesselosen Zustand, wie wir ihn oben nannten, hinaustritt, 
daß sehr bald gewisse Inhalte und Komplexe von Inhalten eine 
Bedeutung für es gewinnen, die allerdings als solche nicht 
erfaßt, aber in den mit dem Auftreten der Inhalte verbundenen 


1) Das ist an sich unkorrekt und wird hier nur durch die Voraussetzung 
gerechtfertigt, daß die Grade der übrigen Eigenschaften (Deutlichkeit usw.) 
mit den Abstufungen der Intensität gleichsinnig gepaart sind. 

2) Nach jüngsten Ausführungen von Lindworsky sind wir berechtigt, 
von einer »Entwicklung des Beziehungserlebnisses« zu reden (Lindworsky, 
Revision einer Relationstheorie, Archiv f. ges. Psych. Bd. 48 S. 248). 


Über das Verhältnis von Vorstellangs-, Anschauungs- und Nachbild. 317 


Lustgefühlen erlebt wird; bedenken wir weiter, daß durchaus 
nicht immer diese lustbetonten Inhalte auch gleichzeitig inten- 
sive Inhalte sind, sondern sehr häufig schwach, undeutlich und 
flüchtig auftreten werden, dann können wir aus dieser Tat- 
sache das Bestreben herleiten, solche schwachen aber gern ge- 
habten Eindrücke durch eine besondere Verhaltungsweise zu 
fördern, zu stärken, zu halten, zu unterstützen. 

Hier kann mit Recht die Frage aufgeworfen werden, wie 
denn dieses Bestreben sowohl als auch seine Erfüllung durch 
das Einschlagen einer gewissen Verhaltungsweise (ohne die 
Voraussetzung einer ursprünglichen Anlage) möglich sein soll, 
wenn nicht das zu erreichende Ziel, nämlich die Förderung der 
schwachen Eindrücke, samt dem zu ihm führenden Wege vorher 
schon in einer ungewollt aufgetretenen Situation des öfteren 
gegeben war. Eine solche Situation ist unschwer aufzuweisen: 
Einerseits erlebt das Kind bei dem oftmaligen Übergang vom 
Schlaf zum Wachen, wie die wenig intensiven Eindrücke plötz- 
lich durch starke verdrängt werden, die in verschiedenster 
Art (als optische, akustische, taktile Inhalte) auf es eindringen: 
wenn es die Augen öffnet, wenn die Körperlage verändert 
wird, wenn sich der Kopf aus den Kissen hebt, wenn es Be- 
wegungen mit den Gliedern ausführt und etwa durch sein 
eigenes Schreien die bis dahin herrschende Stille unterbricht, 
kurz, wenn jener, aus mannigfaltigsten Inhalten gebildete Kom- 
plex ins Bewußtsein tritt, der sich in seiner Aufdringlichkeit 
und Lebhaftigkeit schon jetzt als »meine Umwelt« aus allem 
Erlebten herauszuheben beginnt. — Andererseits geschieht es 
beim Übergang vom Wachen zum Schlaf, daß die Eindrücke, 
die vorher nur flüchtig, undeutlich und mit geringer Intensität 
hier und da in dieser »Umwelt« umherschwirrten, allmählich 
aufleben, sich breit machen und an Deutlichkeit und Intensität 
gewinnen: wenn die Glieder erschlaffen und in eine bequeme, 
möglichst empfindungslose Lage gebracht werden, wenn der 
Kopf sich zurücksenkt, wenn (infolge verminderter Konvergenz 
und Akkommodation) alles vor dem Blick verschwimmt und 
einförmig wird, wenn die Augen erst zwinkern, wobei das 
Licht mehr und mehr schwindet, dann halb und schließlich 
ganz geschlossen werden, wenn nach und nach die Geräusche 
verstummen und gar der eigene Atem so leise geht, daB voll- 
kommene Stille herrscht; kurz wenn die empfindungsreiche 
»Wach-Umwelt«, aus dem Bewußtsein tretend, den schwachen 


318 Franz Scola, 


Inhalten Raum gibt. Durch dieses Erlebnis und die darauf sich 
gründenden Beziehungserfassungen: daB ein schwacher Ein- 
druck gefördert werden kann, und daß zu seiner Unterstützung 
diese und jene Bedingungen erfüllt sein müssen, ist das Ver- 
halten vorgezeichnet, das einzuschlagen ist, wenn schwache 
Inhalte gestützt und gefördert werden sollen, und das eben 
darin besteht, die genannten Bedingungen willkürlich: herbei- 
zuführen: Man ist bemüht, die Inhalte jener eindringlichen, 
intensiven Umwelt möglichst unberücksichtigt zu lassen, sie 
zu verdrängen, sich gegen sie abzusondern; man will nicht 
hören und nicht sehen, man lehnt den Körper zurück, man 
senkt den Kopf, der Blick sucht eine einförmige, farbhomogene 
Fläche, man bedeckt oder schließt die Augen, man vermeidet 
sorgfältig jede Bewegung, durch die neue Eindrücke wach- 
gerufen werden könnten, ja man hält den Atem zurück, um die 
den schwachen Eindrücken zugunsten angestrebte »Stille des 
Bewußtseins« vollkommen zu machen. 

Man wird nicht leugnen, daß hiermit Verhaltungsweisen 
aufgezeigt sind, die in ihrer komplexen Geschlossenheit ein, 
vielleicht individuell variierendes, aber doch typisches Gesamt- 
verhalten bilden, das sich unschwer jeder zum Erlebnis bringen 
kann. 

Diesem bei schwachen Eindrücken eingeschlagenen Gesamt- 
verhalten gegenüber erhält sich bei den starken, selbständigen, 
keiner Unterstützung bedürftigen Eindrücken die ursprüng- 
liche Verhaltungsweise, die vorerst nicht anders denn als 
schlichtes Hingegebensein, als pures Aufnehmen zu charakteri- 
sieren ist. 

War es bisher nur der Gesichtspunkt der Ausgeprägtheit 
und Lebhaftigkeit der Inhalte, der zu einer Scheidung aller 
Bilder in zwei Gruppen und damit zu einer verschiedenen Ver- 
haltungsweise ihnen gegenüber führte, so treten mit fort- 
schreitender Entwicklung andere Anlässe für eine noch schärfere 
Zweiteilung sämtlicher Eindrücke hinzu, wodurch gleichzeitig 
auch das jeweilige Verhalten einen besonderen Akzent erhält. — 
‚Wird beispielsweise zum ersten Male ein Pferd gesehen, dann 
hebt sich zweifellos dieser eigenartige Komplex dergestalt aus 
seiner Umgebung heraus, daß die Umgebung gar nicht be- 
achtet und erfaßt wird. Darum wird es durchaus nicht auf- 
fällig sein, wenn das Bild eines Pferdes im Zimmer, etwa vor 
dem Bette sich zeigt. Sobald aber die Eindrücke überwiegen, 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 319 


in denen das Pferd in seiner charakteristischen Umgebung (etwa 
auf der Straße) sich befindet, will es nicht mehr ins Zimmer 
»hineinpassen«. Man erfährt von anderen über die Zusammen- 
gehörigkeit der Dinge; diesbezügliche eigene Überlegungen setzen 
ein, kurz: alle gehabten Eindrücke, verbunden mit dem immer 
weitergehenden Beziehungswissen, führen zu einer kritischen Ein- 
stellung in bezug auf das Beisammen der Gegenstände, die durch 
die Frage charakterisiert werden kann: ob die auftretenden 
Bilder auch hierher gehören? wobei das als Ausgangspunkt der 
Beurteilung angenommene »hierher« eben jene Gruppe von 
Eindrücken ist, die sich als die intensive und stabile Umwelt 
mehr und mehr auszeichnet. — Gleichzeitig wird die Erfahrung 
gemacht, daß gerade solche Bilder, die nicht in jene Umwelt 
»hineinpassen« wollen, d. h. die zumeist in anderer Umgebung 
erlebt worden sind, »von mir allein« gesehen werden und von 
den übrigen Personen nicht nur keine Beachtung, sondern gar 
direkte Ablehnung erfahren. — Als wichtigster Gesichtspunkt 
für eine tiefere Zweiteilung aller Eindrücke ist schließlich zu 
nennen der erlebte Zusammenhang der Bilder mit »meinem 
tätigen und leidenden Organismus«. Es ist etwas anderes, ob 
man sich jetzt aufmacht zu einer Fahrt in die Stadt und nach 
ausgedehnter Zeitspanne, angefüllt mit mannigfaltigen Tätig- 
keiten und Eindrücken, den Dom vor sich sieht, oder ob, 
während man im Stuhle sitzen bleibt, das Bild des Domes vor 
Augen tritt. — Und es ist etwas anderes, ob man im warmen 
Zimmer den brennenden Ofen vor sich hat, den man brummen 
hört, an den man herantreten, an dem man sich wärmen, gar 
verbrennen kann, was langwierige Folgen nach sich zieht, oder 
ob man fröstelnd im kalten Zimmer das Bild des geröteten 
Ofens erscheinen läßt. 

Durch solche und ähnliche Erfahrungen erhält nun einer- 
seits die fast ständig in größter Intensität erlebte Umwelt ein 
neues Charakteristikum: Die Gegenstände in ihr sind »wirk- 
lich da«, sie stehen mit meinem Organismus, weil sie wirklich 
da sind, in unmittelbarer Verbindung, welche Verbindung in 
einer ununterbrochenen Kette von Eindrücken verschiedenster 
Art faktisch erlebt wird oder doch als möglicherweise erlebbar 
gegeben ist. 

Dagegen sind die Dinge, die nicht in diese Umwelt hinein- 
‚passen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit meinem 
wahrnehmenden Organismus stehen, die meist nur in undeut- 


320 Franz Scola, 


lichen, schwachen und flüchtigen Bildern sich darstellen, »nicht 
wirklich da«. 

Nun fällt dieser letztcharakterisierte Unterschied von »wirk- 
lich da« und »nicht wirklich da« im allgemeinen, wie wir 
schon andeuteten, mit dem früher erkannten von intensiven 
und schwachen Eindrücken zusammen; gerade die der Unter- 
stützung bedürftigen Inhalte sind es zumeist, die nicht in die 
Umwelt hineinpassen und hineingehören, die von anderen ab- 
gelehnt werden und in keinem anschaulich erlebten Zusammen- 
hang mit meinem Organismus stehen. Infolgedessen bildet sich 
die Neigung heraus, die den schwachen Eindrücken gegenüber 
eingeschlagene Verhaltungsweise auf alle die nicht wirklich 
gegenwärtigen Inhalte auszudehnen. Und wenn die Verhaltungs- 
weise als das Zurückziehen in die »Stille des Bewußtseins«, 
wie wir es nannten, anfangs nur der Unterstützung schwacher 
und flüchtiger Bilder diente, so wird sie nun zur bewußten 
und dem erkannten Sachverhalt entsprechenden Absonderung 
alles nicht wirklich Gegenwärtigen, »bloß vor mich Hinge- 
stellten« bloß »Vorgestellten« von dem, was wirklich da ist. 

Auf der anderen Seite erhält nun auch das den starken 
Eindrücken gegenüber eingeschlagene Verhalten, das bisher nur 
negativ durch das Nichtvorhandensein irgendeines besonderen 
Bestrebens oder Bemühens charakterisiert werden konnte, einen 
eigenen Ton, indem es nicht mehr allen intensiven und be- 
ständigen, sondern nur noch jenen Inhalten entgegengebracht 
wird, die auf Grund der oben angedeuteten Kriterien als »wirk- 
lich gegenwärtig« gelten. Es wendet sich bewußt nur noch 
der Umwelt zu, dem Gegenstandskomplex, der jeweils »vor 
mir« ist, und der, nachdem durch oftmaliges Öffnen und 
Schließen der Augen, durch Bewegungen des Kopfes die be- 
stimmten und festen Beziehungen zu »meinen geöffneten und 
dorthin gerichteten Augen« erfaßt worden sind, zur »wirklich 
gesehenen Welt«, zum Sehraum wird. Aus der ursprüng- 
lichen Verhaltungsweise ist durch das mit ihr zumeist ver- 
bundene ungezwungene Aufschlagen der Augen »wirkliches 
Sehen« geworden. 

Es hat sich also unsere Annahme, nach der der Unter- 
schied in der Erlebnisweise des Gesehen- und Vorgestellt- 
werdens in einem Unterschied im Gesamtverhalten des Subjektes 
zu suchen ist, als prinzipiell durchführbar erwiesen, indem. 
sich gezeigt hat, daß es tatsächlich einen solchen Unterschied 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 321 


in dem den Eindrücken entgegengebrachten Gesamtverhalten 
gibt. Weil nun nach unseren Darlegungen die Verhaltungs- 
weise des wirklichen Sehens die ursprünglichere ist, und weil 
sich das bloße Vorstellen erst im Laufe der Entwicklung als 
besonderes Verhalten herausbildet und, anfangs nur schwachen 
Eindrücken gegenüber eingeschlagen, erst nach und nach auf 
alle subjektiv erzeugten Inhalte übertragen wird, so ist damit 
die Möglichkeit gegeben, daß etwa in einem gewissen Stadium. 
in dem die Entwicklung ihr Endziel noch nicht erreicht hat, 
und unter gewissen Bedingungen, wozu besonders die indi- 
viduell verschiedene Anlage zu lebhaften Sekundär-Emp- 
findungen gehört (siehe weiter unten Kap.3 8.323), Eindrücke, 
die faktisch bloß vorgestellt, d. h. nicht unmittelbar von einem 
äußeren Reiz bedingt sind, noch von der ursprünglichen, an- 
schauenden Verhaltungsweise umspannt und demnach wirklich 
gesehen werden. Wir haben es dann mit einem AB zu tun. 
Überall da aber, wo das obengeschilderte, eingezogene, ab- 
geschlossene, »vorstellige« Gesamtverhalten eingeschlagen wird, 
entsteht ein VB mit dem Eindruck des bloßen Vorgestelltseine. 

Indem wir den Unterschied zwischen Sehen und Vorstellen 
auf einen Unterschied in der vom Subjekt eingeschlagenen 
Gesamtverhaltungsweise zurückführen, wird es uns möglich, 
auch die Tatsache des kontinuierlichen Überganges zwischen 
VB und AB verständlich zu machen. Wir sagten oben (S. 314), 
daß das jeweilige Gesamtverhalten sich aus einzelnen Teil- 
verhaltungsweisen bildet, die sich zu einem Komplex von 
charakteristischem Gepräge zusammenschließen. Nehmen wir 
nun beispielsweise an, das schlichte Sehen setzt sich aus den 
Verhaltungsweisen S1, S2, S3, S4, S5, .. . zusammen, 
während das Vorstellen durch die Komponenten V1, V2, V3, 
V4, V5 ... gebildet wird, so ist es wohl denkbar, daß aus 
dem Komplex des vorstelligen Verhaltens infolge gewisser Be- 
dingungen die Teilverhaltungsweisen V5 oder V4 durch S5 
oder S4 ersetzt werden. Das bedeutet dann eine Annäherung 
des VB an das AB in irgendeiner Hinsicht (Größenänderung, 
Lokalisation), ohne daß dadurch das Bild schon zum gesehenen 
Bilde würde. Denn die V, d. h. die zum vorstelligen Verhalten 
gehörigen Komponenten, sind immer noch genügend stark ver- 
treten, um den charakteristischen Eindruck des bloßen Vor- 
gestelltseins wachzurufen. So sind die projizierten Vorstellungen, 
obgleich sie bei geöffneten Augen erzeugt und in den Sehraum 

Archiv für Psychologie. LU. 21 


322 Franz Scola, 


hineinprojiziert werden, dennoch nur VB, weil trotz der äußer- 
lichen Annäherung an das wirkliche Sehen die innere Gesamt- 
haltung des bloßen Vorstellens eingenommen wird. Die In- 
struktion, die die Erzeugung eines VB und keines gesehenen 
AB verlangte, versetzte die Vpn. wahrscheinlich schon bei 
Betrachtung der Vorlage in jene Situation, in der wir uns 
befinden, wenn wir ein anschauliches Objekt zwecks späterer 
Reproduktion in seinen Teilen behalten wollen: Wir bemühen. 
uns, das Gesehene während oder kurz nach der Betrachtung 
zum Sachverhaltswissen zu erheben, um hernach aus diesem 
Wissen heraus das VB zu konstruieren. Hinzu kommt die 
kurze Einprägungsdauer, die bei den meisten Vpn. nur ein 
schwaches undeutliches und flüchtiges Bild erwarten läßt. Da- 
durch aber wird einerseits die Konstruktion des Bildes aus dem 
Wissen heraus veranlaßt!), zu welchem Zwecke man sich 
sammelt, sich besinnt; und andererseits wird das oben charakte- 
risierte Bestreben herbeigeführt, den Eindruck trotz der Pro-, 
jektion in den Sehraum, von den Wahrnehmungsgegebenheiten 
möglichst abzusondern, zu isolieren. Infolgedessen muß das 
Projizieren mit geöffneten Augen, wobei der Blick auf den 
Schirm, also in den Sehraum gerichtet ist, als etwas emp- 
funden werden, das eigentlich nicht zum bloßen Vorstellen 
paßt und ihm hinderlich ist. Man wird also diese ganze er- 
zwungene, äußerliche Situation möglichst wenig beachten, so 
daß auf Grund jenes inneren Verhaltens selbst bei geöffneten 
Augen der Gesamteindruck des bloßen Vorstellens besteht. 
Übrigens ist es nicht ausgeschlossen, daß in derartigen Fällen, wo sich 
die Verhaltungsweisen des Sehens und Vorstellens miteinander vermengen, 
Unsicherheit darüber besteht, ob der Eindruck gesehen oder bloß vorgestellt 
ist. So teilt G. Schwab (Vorläufige Mitteilung über Untersuchungen zum 
Wesen der subjektiven Anschauungsbilder. Psych. Forschung V, 321 ff.) eine 
Anzahl von Protokollen seiner Vpn. mit, in denen diese Unsicherheit aus- 
gesprochen wird. — Jedoch können unseres Erachtens die Folgerungen, die 
Schwab aus seinen Ergebnissen zieht, nicht allgemein auf die Marburger 
Feststellungen übertragen werden und etwa die Echtheit der AB überhaupt 
in Frage stellen. Schwab glaubt durch seine Beobachtungen gezeigt zu 
haben, »daß mit der Erklärung der Vpn., daß sie im AB etwas »sehen«, 
durchaus keine Gewähr dafür gegeben ist, daß es sich dabei auch um ein 


leibhaftiges Wahrnehmen handelt« (a.a.0. S.339). Die Schwierigkeit liegt 
hier vor allem in dem Begriff des leibhaftigen Wahrnehmens, der offenbar 


1) Gerade dieses Moment kommt in den von Martin berichteten Proto- 
kollen verschiedentlich zum Ausdruck (Martin, Die Proj.-Meth. S. 368, 376, 
383 f. 393). 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 323 


mehr als wirkliches Sehen besagt, indem er auf den »Objektivitätscharakter« 
(a. a. O. S.321) der Erscheinungen zielt. Auch die Marburger Vpn. unter- 
liegen nur selten einer Täuschung über die subjektive Bedingtheit ihrer AB, 
sie wissen, daß die Bilder nicht eigentlich wahrgenommen werden, wennschon 
sie wirklich gesehen sind (24, 32; 29, 73 u. 100). — Gegen die Echtheit 
der AB spricht auch nicht, wie Schwab meint (a.2.0. S.339), die Tat- 
sache, daß Einzelheiten gesehen werden, die nicht in der Vorlage enthalten 
waren, da prinzipiell jeder wiedererneuerte Inhalt von. der ursprünglichen 
Verhaltungsweise umspannt werden kann. — Ferner ist für die Ergebnisse 
Schwabs zu berücksichtigen, daß sie an Mädchen gewonnen sind, bei denen 
vielleicht jene spielerische Willkür im Wechsel der Verhaltungsweise nicht 
so wie bei Knaben ausgebildet ist. — Schließlich gibt Schwab ausdrücklich 
die Instruktion, die Gegebenheitsweise des »gesehenen« Bildes mit der des 
bloß vorgestellten oder wahrgenommenen zu vergleichen und sie zu beschreiben, 
eine Aufforderung, die ohne Zweifel gerade bei Mädchen Zurückhaltung des 
Urteils, Unsicherheit und Berücksichtigung der gewußten Wirklichkeitsver- 
hältnisse (Nichtvorhandensein des Gegenstandes) veranlassen mußte. 


3. Die Bedingungen für das Auftreten der AB und VR. 


Nach unseren obigen Ausführungen (S. 316£.) nimmt die 
Bildung der vorstelligen Verhaltungsweise ihren Ausgang von 
dem Bestreben, schwache Eindrücke zu fördern und zu unter- 
stützen. Es wird also das Auftreten von AB im allgemeiner 
abhängig sein von der Fähigkeit zu intensiven, se- 
kundärerregten Eindrücken; denn schwache, undeut- 
liche und flüchtige Bilder drängen von sich aus dazu, von 
dem eigenartigen isolierenden, schützenden, vorstelligen Ver- 
halten umspannt zu werden. Daraus erklärt sich die von den 
Marburgern festgestellte Bedeutung der gesamten psychophy- 
sischen Konstitution des Individuums für das Auftreten und 
die Ausgeprägtheit von AB (5, 91; 16, 298f.; 24, 4f.; 28, 11; 
29, 126), der Einfluß geologischer Verhältnisse (6, 42ff.; 7, 
48f.; 10, 167£.; 21, 135; 24, 4; 29, 127), der Vererbung (29, 
56ff.; 28, 4), der therapeutischen Behandlung (5, 72f.; 16, 
312; 28, 8; 6, 41), sowie der Erziehung durch die verschiedenen 
Gemeinschaftsformen und endlich des »psychischen : Klimas« 
eines Ortes oder einer Landschaft überhaupt (16, 298ff.; 24, 
31ff.; 28, 4 und 9; 29, 53ff.).. In welchem Maße und in 
welcher Ordnung durch derartige Faktoren die individuellen 
Schwankungen und die örtlichen Differenzen in der Fähigkeit 
zur Erzeugung von AB bewirkt sind, kann und soll an dieser 
Stelle nicht untersucht werden. 

Nun müßte nach unserer Theorie ein jeder, der über ge- 


nügend starke Vorstellungen verfügt, prinzipiell zur Erzeugung 
21* 


324 Franz Scola, 


von AB imstande sein, wenn er seinen starken Vorstellungen 
gegenüber das ursprüngliche Verhalten einschlägt. Tatsächlich 
aber ist die eidetische Fähigkeit durchweg nur auf einen ge- 
wissen Prozentsatz Jugendlicher beschränkt, denen eine viel 
größere Anzahl jugendlicher und erwachsener Nichteidetiker 
gegenübersteht, deren Vorstellungen an Intensität den AB der 
Eidetiker nicht in jedem Falle nachstehen. Das wird ver- 
ständlich, wenn wir bedenken, daß das vorstellige Verhalten, 
das anfangs nur der Unterstützung schwacher Eindrücke diente, 
mehr und mehr auf alle sekundär erregten Bilder übertragen 
und anfangs willkürlich jedesmal dann eingeschlagen wird, wenn 
sich das kritische Wissen einstellt, der Inhalt sei »nicht wirk- 
lich da«, er sei nur subjektiv erzeugt. Infolge einer sich bildenden 
festen Assoziation führt dieses kritische Wissen endlich ge- 
wohnheitsmäßig und notwendig zu der vorstelligen Verhaltungs- 
weise, so daß das Subjekt nicht mehr imstande ist, willkürlich 
das ursprüngliche Verhalten auch da einzuschlagen, wo die 
subjektive Herkunft des Bildes auf Grund irgendwelcher 
Kriterien erkannt wird. Es ist also nicht so, daß einer An- 
zahl von Individuen ursprünglich die Fähigkeit zu AB abgeht. 
Vielmehr ist jeder in einem gewissen Stadium seiner psy- 
chischen Entwicklung Eidetiker gewesen!), in dem Stadium 
nämlich, da er die vorstellige Verhaltungsweise noch nicht 
»gelernt« hatte?); und das Unvermögen zur Erzeugung von 
AB hat nur darin seine Ursache, daß sich in gewissen Situ- 
ationen und gewissen Eindrücken gegenüber das vorstellige 
Verhalten, infolge fester Assoziation, zwangsläufig einstellt. 
Wir haben also hier den Fall, wo eine bestimmte Verhaltungs- 
weise im Laufe der Entwicklung verloren gegangen ist, die aber 
prinzipiell wieder geweckt werden kann, wenn nur die geeignete 
Situation geschaffen wird, die es, um einen Ausdruck Lind- 
worskys zu gebrauchen, dem Subjekt ermöglicht, den »ab- 
gerissenen Faden zu jener Verhaltungsweise wiederzufinden«. 
Darum gibt es auch Fälle, in denen selbst der Nichteidetiker 
gelegentlich AB erzeugt. So wurden, nach einer Mitteilung 
von Lindworsky, in Versuchen über die Wertheimer- 
schen Scheinbewegungen Phänomene wirklich gesehen, denen 


1) Diese Ansicht wird übrigens auch von den Marburgern vertreten. 

2) Selbstverständlich wird je nach der Gesamtveranlagung und je nach 
den Erziehungseinflüssen im weitesten Sinne dieses Stadium für den einen 
früher und für den andern später anzusetzen sein. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 325 


kein äußerer Reiz entsprach und die auch kaum durch eine 
physiologische »Querfunktion« (Wertheimer) zu erklären 
waren!), wobei sich die Beobachter der subjektiven Herkunft 
dieser Phänomene wohlbewußt blieben. Hier war es also die 
Gesamtsituation, das dauernde Sehen auf die dargebotenen Fi- 
guren, verbunden mit der Erwartung, dort irgend etwas zu er- 
blicken, die das vorstellige Verhalten gar nicht aufkommen ließ 
und die subjektiv erzeugten Gebilde zu wirklich gesehenen 
machte. — In anderen Fällen werden AB auch von Nicht- 
eidetikern erzeugt, wenn entweder der Gesichtspunkt, ob 
primär- oder sekundärreizbedingt, gänzlich fortfällt, wie im 
Schlaf, wo die Traumbilder wirklich gesehen werden; oder aber 
es wird die wirkliche Gegenwart eines dem Eindruck korre- 
spondierenden Dinges durch die gegebene Situation dergestalt 
fest suggeriert, daß ein Zweifel an ihr gar nicht aufkommt. 
Dieser Fall liegt vor bei den Illusionen, wo reproduzierte 
Ergänzungen des sinnlich Gegebenen deshalb wirklich gesehen 
werden, weil die aus den reproduzierten und wahrgenommenen 
Inhalten entstehenden Komplexe der Gesamtsituation völlig ent- 
sprechen und durch sie geradezu nahegelegt sind. Hierher 
gehört das von Lindworsky in der genannten Abhand- 
lung angeführte Beispiel (ZP I, 80: 205), wo die Vp. einen 
Farbfleck wirklich sah, weil sein Erscheinen vom VI. ange- 
kündigt war, und weil tatsächlich andere Farbflecken in 
größerer Zahl erschienen, so daß auch der nur vorstellungs- 
mäßig gegebene Fleck keine Besonderheit darstellte und mit 
Bestimmtheit erwartet werden mußte. Von ähnlichen Fällen 
berichten die Marburger (5, 64; 7, 76; 12, 227ff.), und auch 
die Versuchsergebnisse Külpes, Perkys und anderer For- 
scher dürften hier einzuordnen sein: Erscheinungen werden 
wirklich gesehen, weil der Glaube an die Realität der Inhalte 
neben genügender Intensität den Beobachter in das ursprüng- 
liche Verhalten hineinführt. — Mit Kroh stimmen wir über- 
ein, wenn er (29, 73) derartig bedingte AB für die früheste 
Kindheit ansetzt; denn hier ist nach unserer obigen Schilderung 
die Scheidung zwischen wirklich und unwirklich noch nicht voll- 
zogen, während in einem späteren Entwicklungsstadium nur in 
besonderer Situation und Bewußtseinslage das kritische Wissen 


1) Der Lichtstreifen ging als solcher deutlich über die nichterleuchtete 
Strecke. 


326 Franz Scola, 


um die subjektive Herkunft von Bildern zurücktreten kann. — 
Aber selbst in einer Phase, wo die Scheidung zwischen objektiv- 
und subjektiv-bedingt schon gemacht ist, wird ein Jugend- 
licher viel häufiger als der Erwachsene in die Lage kommen, 
Vorstellungen zu objektivieren und demgemäß das ursprüngliche 
Verhalten ihnen gegenüber einzuschlagen, weil ihm einerseits 
der Gesichtspunkt, ob wirklich oder bloß gedacht, noch nicht, 
wie dem Erwachsenen, ständig mitgegeben ist und an jedes 
Bild herangebracht wird, und weil andererseits dem Jugend- 
lichen infolge der geringeren Erfahrung noch manche von den 
Kriterien fehlen, die ihn eine Vorstellung als solche erkennen 
lassen könnten. 

In den zuletzt genannten Fällen werden Eindrücke deshalb 
wirklich gesehen, weil sie mit hinreichender Intensität und ohne 
das Bewußtsein subjektiver Herkunft auftreten. Damit aber 
sind die eigentlichen und echten AB, wie sie von den Mar- 
burgern beschrieben werden, noch nicht erklärt. Denn nach 
ausdrücklichem Bericht sind die Täuschungen über den Wirk- 
lichkeitscharakter der gesehenen Eindrücke äußerst selten (24, 
32; 29, 73 u. 100). Hier wird also die ursprüngliche Ver- 
haltungsweise eingeschlagen, obwohl das Nichtvorhandensein 
eines dem Eindruck entsprechenden Dinges bewußt ist: AB 
werden willkürlich erzeugt. — Unserer Theorie macht 
das keine Schwierigkeiten: Eine bekannte Tatsache ist die 
Labilität der jugendlichen Psyche. Soll nun der Begriff der 
Labilität, um wissenschaftlichen Wert zu erhalten, in Hin- 
sicht auf die von der Psychologie erarbeiteten Erscheinungen 
und ihre Gesetzmäßigkeiten näher umschrieben und ausgefüllt 
werden, so muß vor allem, wie uns scheint, auf das Fehlen 
ausgebreiteter und dauernder Gewohnheiten hingewiesen werden. 
das seinerseits in der noch wenig entwickelten Ausbildung und 
geringen Festigkeit assoziativer Verbindungen zwischen Kom- 
plexen in großem Stile, die sich trotz aller Variierung der 
Situation und Konstellation des Psychischen durchsetzen, seine 
Ursache haben dürfte. — Bedenken wir nun, daß jene vor- 
stellige Verhaltungsweise nicht etwa mit der Wiedererneuerung 
anschaulicher Inhalte überhaupt schon notwendig verknüpft ist, 
sondern erst nachträglich an die wiedererzeugten Eindrücke 
herangebracht wird, um sich schließlich mit ihrem Auftreten 
assoziativ zu verbinden, so ist damit ohne weiteres die Mög- 
lichkeit von Fällen gegeben, in denen die einzuschlagende Ver- 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 327 


haltungsweise noch nicht durch die feste Assoziation bestimmt 
wird. Hier sind es dann zumeist irgendwelche andere Fak- 
toren oder Motive, die das ursprüngliche Verhalten veranlassen: 
Ein Eindruck ist oftmals oder soeben vorher sehr lange in der 
ursprünglichen Verhaltungsweise wahrgenommen worden; ge- 
wohnheitsmäßig!) wird dieselbe Verhaltungsweise auch dann 
noch eingeschlagen, wenn er auf Grund sekundärer Erregung 
wiedererscheint. Hierher gehört die von Jaensch angeführte 
Beobachtung, daß Schüler nach längerem Lesen im Buche beim 
Aufblick den Kopf des Lehrers nicht sehen, weil er ihnen 
durch das AB des Buches verdeckt wird (28, 10), und Kroh 
berichtet, daß ihm vor dem Einschlafen die am Abend korri- 
gierten Schülerhefte seitenweise vor den Augen erschienen seien 
(29, 85; dort auch andere Beispiele). Ferner wird des öfteren 
bezeugt, daß bekannte und vertraute Gegenstände mit Vorliebe 
wirklich gesehen werden (5, 84; 4, 101; 7, 101). Ein Knabe, 
der sonst nicht über AB verfügt, sieht das Bild seiner Eltern 
wie in weiter Ferne (29, 32). Hier macht sich gleichzeitig ein 
anderes Motiv, das zum ursprünglichen Verhalten führt, geltend: 
Der vorgestellte Gegenstand hat für das Subjekt eine gewisse 
Bedeutung. Dinge, die man gern sieht, die man liebt, die das 
Interesse in Anspruch nehmen, von denen man wünscht oder 
gar erwartet, daß sie hier im selben Raume seien, werden eher 
wirklich gesehen als solche Gegenstände, die unbeliebt sind, 
mit denen man sich nicht gern beschäftigt und die man nicht 
vor sich haben möchte. Interessantes, Sinnvolles wird den 
homogenen Farbquadraten und sinnlosen Bilder- und Buch- 
stabengruppen gegenüber bevorzugt (1, 10; 5, 86ff.; 6, 17ff.; 
29, 29ff. u. v. a.). Hieraus erklärt sich die von einigen Vpn. 
hervorgehobene Notwendigkeit einer inneren Beziehung zu dem 
gesehenen Gegenstand (5, 86ff.; 24, 32), die dann nicht selten 
im Experiment durch »vertiefte Betrachtung« erst hergestellt 
wird; das Vorbild ist in seinen Einzelheiten zu durchwandern 
und manche Vpn. müssen sich ganz in den Raum des Bildes, 
das sie wiedersehen wollen, hineinversetzen (5, 81ff.), offen- 
bar, um den hemmenden Gedanken zurückzudrängen, »die er- 
scheinenden Gegenstände könnten sich nicht in diesem Zimmer 
befinden«, ein Schweizerhaus stehe wohl auf den Alpen, nicht 


1) Auch diese Tatsache der Bildung »kurzer Gewohnheiten« dürfte neben 
dem oben Gesagten über die Labilität ein Charakteristikum der jugendlichen 
Psyche sein. 


328 Franz Scola, 


aber auf dem Tisch des Versuchsraumes, ein Gedanke, der bei 
vielen Individuen das vorstellige Verhalten wachrufen würde. 
— Aus demselben Grunde werden gelegentlich Bilder leichter 
gesehen, wenn der zu reproduzierende Gegenstand noch vor- 
handen und vom Projektionsschirm nur verdeckt ist (29, 57), 
während eine Vp. es nicht vermag, das AB eines Objektes neben 
das Objekt selbst zu projizieren (29, 60), wahrscheinlich, weil 
der Gedanke, es könne der Gegenstand nicht zweimal da sein, 
die ursprüngliche Verhaltungsweise zurückdrängt. — AB werden 
durch die Erwartung ihres Erscheinens (29, 135 ff.) und durch 
‚Wahrnehmungskomplexe, in die sie hineinpassen und leicht 
hineingesehen werden können, begünstigt (12, 233; 29, 61). 
Darum auch wirkt das Abdunkeln des Raumes und die Homo- 
genität des Gesichtsfeldes fördernd auf die Erzeugung von AB 
ein, weil unter solchen »optimalen« Bedingungen (21, 139; 
29, 12ff. u. a.) die wirkliche Umgebung und damit das störende 
und die ursprüngliche Verhaltungsweise hemmende Bewußt- 
sein zurücktritt, daß der reproduzierte Gegenstand nicht in 
diese Umgebung hineinpasse und deshalb möglichst von ihr 
isoliert und von der vorstelligen Verhaltungsweise umspannt 
werden müsse!). 

Schließlich gibt es unter den Eidetikern eine nicht geringe 
Anzahl solcher, bei denen das kritische Wissen um die sub- 
jektive Bedingtheit der Eindrücke durchaus nicht hemmend 
auf das Einschlagen der ursprünglichen Verhaltungsweise ein- 
wirkt, und die also ohne die genannten Hilfen und Begünsti- 
gungen AB mit großer Leichtigkeit erzeugen, die keinen Unter- 
schied machen zwischen interessanten und uninteressanten, sinn- 
vollen und sinnlosen, beliebten und gleichgültigen Objekten, 
denen jegliche Situation recht ist und die sich nicht scheuen, 
einen Gegenstand in unmöglicher Umgebung wiederzusehen. 
Dieses vollkommen freie Verfügen über die eidetische Fähigkeit 
kommt bezeichnenderweise durchweg nur ganz jugendlichen 
Eidetikern zu, während mit steigendem Alter immer mehr 
Sonderbedingungen zur Erzeugung eines AB vonnöten sind (5, 
80 ff.). Dafür lassen sich aus unserer Grundauffassung zwei 
Ursachen beibringen: Einerseits ist die Gewohnheit, den sub- 
jektiv erzeugten Bildern die vorstellige Verhaltungsweise ent- 


1) Es kann dies auch so ausgedrückt werden, daß die optimalen Be- 
dingungen von sich aus den Eindruck gegen störende Reize schützen und 
deshalb die vorstellige Verhaltungsweise nicht vonnöten ist. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 329 


gegenzubringen, um so weniger ausgebildet, je weiter wir in 
der Entwicklung zurückgehen (siehe unsere obige Bemerkung 
über die Labilität der jugendlichen Psyche). Je mehr aber diese 
Gewohnheit durch Bildung einer starken Assoziation sich festigt, 
um so bedeutender werden die Hemmungen, die daraus für das 
Einschlagen des ursprünglichen Verhaltens erwachsen, und um 
so günstiger müssen die Bedingungen sein, damit diese Hem- 
mungen überwunden werden können. — Andererseits entspricht 
es dem kindlichen Charakter viel mehr als dem zum Ernste 
des Lebens Heranreifenden und Herangereiften, eine spiele- 
rische Umkehr der wohlerkannten Wirklichkeitsverhältnisse 
vorzunehmen und just solche Dinge sehen zu wollen, die eigent- 
lich nicht gesehen werden können; zum mindesten legt das 
Kind eine große Gleichgültigkeit gegenüber dem Wirklich- oder 
Nichtwirklichsein an den Tag. Die Veränderungen, die es 
allein durch sein Verhalten in der Umwelt hervor- 
rufen kann, machen ihm Spaß, es spielt mit seinen AB und 
erlangt durch die vielfache Übung schließlich eine solche Fertig- 
keit in der Kunst, daß es imstande ist, allen Eindrücken und 
selbst den schwachen, undeutlichen und flüchtigen Bildern 
gegenüber die ursprüngliche Verhaltungsweise des Sehens ein- 
zuschlagen!). — Ja, es kann das schlichte Anschauen aller 
auftauchenden Inhalte derartig zur Gewohnheit werden, daß 
das Individuum gar nicht mehr imstande ist, sich etwas »bloß 
vorzustellen«. »Was ist Denken? Das ist doch, wenn man 
etwas sieht%«, sagt Ernst Wi, eine Vp. Krellenbergs 
(5, 66). Auch an anderer Stelle erfahren wir, daß VB schon 
nach kürzester Betrachtung und wenn der Blick auf den Schirm 
sich richtet, zu AB werden (4, 103 und 111 und 121; 5, 61; 
28,8). Hier ist ohne Zweifel die Projektion der Eindrücke bei 
geöffneten Augen in den Sehraum hinein ein zu starker Anlaß, 


1) :Wir können hier auf eine Erscheinung hinweisen, bei der ein ähnlicher 
Wechsel in der Verhaltungsweise stattfindet. Steht man auf einer Brücke und 
sieht unter sich den Fluß vorüberziehen, so kann man sich in die Situation 
vergetzen, als lägen die Wellen ruhig, während man selbst mit der Brücke 
über das Wasser dahinschwebt. Bei gehöriger Umstellung des Verhaltens 
verschwindet der Eindruck; die Wellen ziehen vorbei und die Brücke steht 
stil. Ein jeder wird sich erinnern, daß er in seiner Kindheit dieses Spiel 
auf der Brücke besonders gern und mit großer Geschicklichkeit vollführt 
hat, während es dem Erwachsenen nicht immer mehr gelingen will. Das ent- 
spricht unserem Befunde über die Fähigkeit zu willkürlichem Wechsel in 
der Verhaltungsweise im Jugendalter. 


330 - Franz Scola, 


das Verhalten des schlichten Sehens einzuschlagen, als daß die 
Instruktion, bloß vorzustellen, befolgt werden könnte!). Bei 
anderen Vpn. verschwinden die VB, wenn der Blick während 
ihrer Erzeugung auf einen farbigen oder gekrümmten Schirm 
gerichtet wird (4, 115; 4, 117), offenbar deshalb, weil ein 
solcher Hintergrund nicht unbeachtet bleiben kann und die 
Bilder zu wenig Intensität besitzen, um sich, wie die wirklich 
gesehenen, ihm gegenüber zu behaupten. 


4. Die Entwicklung des NB. 


Im ersten Kapitel unserer Arbeit (S.304 ff.) konnten wir 
zeigen, daß zwischen NB und GB im allgemeinen wohl Unter- 
schiede bestehen, daß aber diese Unterschiede bei Jugendlichen 
weitgehend verwischt sein können und doch der bestimmte 
Eindruck vorhanden ist, demzufolge das Bild als NB oder GB 
(AB) beurteilt wird. Wir schlossen daraus (S.306), es müsse 
diesem Urteil der Vpn. ein subjektives Kriterium zugrunde 
liegen, das sich mehr oder weniger unabhängig von den ob- 
jektiven Merkmalen und Bestimmungen bildet. Ein solches 
subjektives Kriterium aufzuzeigen sind wir imstande, wenn 
wir das NB in den von uns im 2. Abschnitt (8.315 ff.) geschil- 
derten allgemeinen Entwicklungsverlauf hineinversetzen. 

Wir gingen davon aus, daß im frühesten Entwicklungs- 
stadium das Kind weder die Herkunft noch die Bedeutung der 
Eindrücke kennt. Es weiß nicht, ob ein ihm bewußter Inhalt 
primär- oder sekundärreizbedingt ist, und ob der Reiz durch 
ein gegenwärtiges Objekt veranlaßt wird oder nur nachklingt. 
Allmählich nun setzt sich auf Grund der von uns aufge- 
wiesenen Erfahrungen die Scheidung durch in solche Inhalte, 
die wirklich vor mir, und in solche, die nicht wirklich vor mir 
sind. Während aber diese Scheidung vollzogen wird, bleibt 
eine Art von Bildern zurück, die weder zu der einen noch zu 
der anderen Gruppe gehören will. An Intensität den Eindrücken 
der Umwelt nicht nachstehend, paßt die Erscheinung dennoch 
in diese Umwelt nicht hinein. Sie ist flüchtig, und wenn man 
sie ergreifen will, wenn man sie mit den Fingern abtasten will, 
wie etwa das Muster der Tapete, so verschwindet sie um so 


1) Siehe hierzu unsere Ausführungen auf S.321f., wonach sich beim pro- 
jizierten VB mit dem Hinausschauen in den Sehraum dennoch die vorstellige 
Verhaltungsweise verbindet. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 331 


eher, ohne irgendeine Spur von sich zu hinterlassen. Wendet 
man sich um, so folgt die Erscheinung dem Blick und läßt 
gerade hierdurch die Stabilität und Selbständigkeit vermissen, die 
man an der Umwelt so oft zu erleben Gelegenheit hat. Auch 
die Tatsache, daß ein Gegenstand, wenn ich nach längerer Be- 
trachtung von ihm hinwegsehe, einfachhin verdoppelt wird, 
entspricht nicht den aus sonstigen Quellen stammenden Er- 
fahrungen. — Ebensowenig aber ist die Erscheinung der anderen 
Gruppe der als »von mir erzeugt« geltenden Inhalte zuzurechnen. 
Indem sie sich keinem größeren Komplexe erfahrungsgemäß 
einordnet und dem Vorstellungsablauf durchaus nicht ent- 
spricht, indem sie aus keiner Interessen- und Aufmerksamkeits- 
richtung erwächst und, ohne erwünscht zu sein, ohne aber auch 
durch einen bloßen Akt des Erinnerns erzeugt werden zu 
können, für gewöhnlich nur dann auftritt, wenn der Blick 
längere Zeit starr auf ein durch Einfachheit oder Leuchtkraft 
ausgezeichnetes Objekt gerichtet war, indem sie endlich von 
diesem Objekt in stereotyper Einförmigkeit nur die Umrisse, 
und zwar in negativer Farbe und Helligkeit wiedergibt, stellt 
sie sich als ein für das gesamte psychische Geschehen be- 
deutungsloses Nebenprodukt der Wahrnehmung, als bloßes 
»Nachbild« eines vorher gehabten Eindruckes, dar. Auf Grund 
dessen bildet sich diesem NB gegenüber mehr und mehr ein 
Verhalten heraus, das seiner Bedeutungslosigkeit entspricht: 
Es wird für gewöhnlich nicht, wie die GB, selbst intendiert 
und beobachtet; vielmehr läßt man es abfallen, man beachtet 
es nicht, sieht an ihm vorbei und gibt sich ganz den Eindrücken 
hin, auf die soeben die Aufmerksamkeit gerichtet war!). Es 
ist klar ersichtlich, daß dieses Verhalten des »Vorbeisehens« 
an dem Eindruck, obgleich es ein wirkliches Sehen ist, denn- 
noch sich unterscheidet von dem Sehen eines AB. Hier (beim 
AB) wird das Bild selbst gesehen, dort (beim NB) er- 
scheint es nur während und bei Gelegenheit des Sehens eines 
Umweltobjektes. Weil nun dieser Unterschied in dem subjek- 
tiven Verhalten erst allmählich, und zwar auf Grund einer mehr 
oder weniger bewußt vorgenommenen Wertung der Erschei- 
nungen hinsichtlich ihrer Bedeutung für das jeweilige Er- 
leben, sich herausbildet, so sind sehr wohl Fälle denkbar, in 


1) Auf die Fälle, für die das oben Gesagte nicht zutrifft, kommen wir 
sogleich zu sprechen. — Übrigens wird diese Verschiedenheit des Verhaltens 
von den Vpn. Martins betont (Martin, Die Proj.-Meth. S. 361ff.). . 


332 Franz Scola, 


denen das NB nicht einfach unbeachtet beiseite geschoben, 
sondern, wie die übrigen anschaulichen Phänomene, etwa wie 
die GB, gewertet und behandelt wird. Das mag beim normalen 
Erwachsenen nur selten vorkommen; denn sein psychisches 
Geschehen steht fast ständig unter der Determination be- 
stimmter Aufgaben, in die die flüchtige Nacherscheinung an 
keiner Stelle hineinpaßt. Selbst in den Experimenten, in denen 
das NB als solches beobachtet werden soll, ist er wohl im- 
stande, der Instruktion, einen Punkt des Schirmes zu fixieren, 
Folge zu leisten, besonders dann, wenn er weiß, unter welch 
zufälligen Bedingungen die Erscheinung entsteht, und daß es 
keiner besonderen Intention, sondern lediglich eines gleich- 
gültigen Hinstarrens bedarf, um sie von selber kommen zu 
Jassen!). Wenn aber beispielsweise, etwa infolge von Er- 
müdung, die Richtung des psychischen Verlaufes nicht fest 
bestimmt ist, wenn man seine Aufmerksamkeit sozusagen nicht 
»in der Hand« hat, so daß sie sich schon durch geringe An- 
lässe ablenken läßt, wenn außerdem das NB mit großer Leichtig- 
keit nach kürzester Betrachtung eines Gegenstandes entsteht 
und man sich gar nicht bewußt wird, diesen Gegenstand über- 
haupt angeschaut zu haben, dann kann man — auch als Er- 
wachsener — versucht sein, in seinen NB mehr als NB zu 
sehen, sie zu beobachten, sich mit ihnen zu beschäftigen und 
sie mit gleichzeitig erzeugten GB zu vermengen und zu ver- 
wechseln. Eine irgendwie geartete individuelle Veranlagung, 
eine bestimmte äußere und innere Situation mögen einem solchen 
ungewöhnlichen Verhalten den NB gegenüber förderlich sein. 
Dagegen bedarf es wahrscheinlich beim Jugendlichen keiner be- 
sonderen Zustände, um die geschilderte Verwechslung und Ver- 
mischung des NB mit den GB herbeizuführen. Denn je weiter 
wir in der Entwicklung zurückgehen, um so weniger ist die 
Entstehungsweise und die Bedeutung der Erscheinungen be- 
kannt. Deshalb wird der Jugendliche, zumal sein Vorstellungs- 
ablauf noch wenig geordnet und nicht stets von dem Schema 
einer Aufgabe beherrscht ist, häufig und vielleicht normaler- 
weise im NB eine den GB gleichwertige Erscheinung erblicken 
und sich dementsprechend verhalten; d.h. er schaut nicht gleich- 
gültig am NB vorbei, sondern hebt es als interessantes Phä- 
nomen aus dem Komplex der Umwelt heraus, es erscheint 


1) Siehe hierzu die schon oben S. 331 zitierte Stelle bei Martin. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 333 


ihm nicht bloß, während er den Schirm fixiert, sondern er 
sieht es selbst, und wenn er Eidetiker ist, sieht er es ähn- 
lich, wie er seine AB zu sehen gewöhnt ist. 

Von hier aus wird es verständlich, daß, wie die Mar- 
burger berichten, ein kontinuierlicher Übergang besteht zwischen 
NB und AB (1, 5; 24, 8 u. a.). Auf die einzelnen Tatsachen 
gehen wir weiter unten ein. Hier sollen die möglichen Zwischen- 
formen nur angedeutet werden: Sind beispielsweise AB zu er- 
zeugen, wobei aber die Fixation der Vorlage gefordert ist (wie 
bei Herwig; 21, 147), so könnte es wohl sein, daß infolge 
des Fixierens ein negatives NB entsteht, die Beobachter aber, 
in dem guten Willen, der Instruktion des Vl.s zu genügen, sich 
diesem NB gegenüber ganz so wie bei Betrachtung eines AB 
verhalten und auch selbst glauben, sie hätten es mit einem AB 
zu tun. Wie wir später zeigen können, nähert sich in solchen 
Fällen das NB der Gesetzmäßigkeit des AB, so daß auch der 
VI. den Eindruck gewinnen muß, AB, wenn auch negativ ge- 
färbte, vor sich zu haben. — Wir sind geneigt, die von Her- 
wig untersuchten Erscheinungen zum großen Teil auf diese 
Weise zu erklären; und auch die von ihm (21, 140ff.) vor- 
gebrachten Argumente für den AB-Charakter dieser Erschei- 
nungen können uns nicht überzeugen, da eben die Abwei- 
chungen von der normalen NB-Gesetzmäßigkeit aus dem un- 
gewöhnlichen Verhalten derVpn. verständlich zu machen sind. 
Vielleicht lassen sich ebenso die Fälle erklären, in denen das 
AB beim Rückgang der eidetischen Fähigkeit aus positiver . 
in negative Farbe umschlägt (1, 5; 21, 148 u. 208 f.; 24, 8). 
Wir würden dann nicht, wie die Marburger, das negative Bild 
als AB, sondern als NB bezeichnen, das, wegen des Unver- 
mögens, in jedem Falle und von jedem Objekt ein AB zu er- 
zeugen, unbemerkt an dessen Stelle tritt, aber infolge der 
durch die Instruktion geforderten Verhaltungsweise wie ein 
AB behandelt und als solches auch beurteilt wird. Übrigens 
ist es nicht ausgeschlossen, daß in manchen Fällen während 
der Entstehung eines NB durch die Verhaltungsweise des Sub- 
jektes, die auf die Reproduktion des Eindruckes gerichtet ist, 
gleichzeitig ein AB auftritt und mit dem NB verschmilzt, 
so wie es mit einem Wahrnehmungsbild verschmelzen kann!). 
Das dürfte dort zutreffen, wo NB »mit vielen Einzelheiten« 


1) Derartige Verschmelzungen bezeugt Martin a. a. 0. S. 345. 


334 Franz Scola, 


gesehen werden (5, 100) oder wo durch Denken an die Farbe 
des Originals die komplementäre Farbe im NB (bzw. AB) 
überwunden wird (5, 101ff.). Es wird von Fall zu Fall ver- 
schieden sein, ob wir bei derartigen Verschmelzungen an ein 
Eingehen des AB in das NB (und umgekehrt) oder an eine 
teilweise oder gänzliche Verdrängung des einen Inhaltes durch 
den anderen denken sollen. Herwig berichtet (21, 159) von 
Wettstreiterscheinungen, bei denen positives und negatives AB 
(welch letzteres wir als NB betrachten) neben- und überein- 
ander gesehen wurden. — Im Anschluß an das früher Ge- 
sagte (S.328) über die optimalen Bedingungen zur Erzeugung 
eines AB können diese Tatsachen auch so gedeutet werden, daß 
das Auftreten eines NB die Erzeugung des AB begünstigt, 
etwa so, wie ein Wahrnehmungskomplex das wirkliche Sehen 
einer Vorstellung veranlassen kann:). Damit glauben wir 
die bedeutsamsten Übergangsformen zwischen NB und AB be- 
sprochen zu haben. 


5. Die Merkmale und Verhaltungsweisen der Bilder. 
Die Deutlichkeit. 


Nach dem übereinstimmenden Berichte der Marburger 
zeichnet sich das AB im allgemeinen gegenüber dem VB durch 
seinen großen Einzelheitsreichtum aus (1, 26; 29, 28 u. 76). 
Das deckt sich mit unserer Grundauffassung von dem Unter- 
schied der GB. Denn detailarme Eindrücke drängen von sich 
* aus zu dem isolierenden, vorstelligen Verhalten, während deut- 
liche Bilder infolge ihrer Objektadäquatheit die naive, ur- 
sprüngliche Verhaltungsweise begünstigen und also am ehesten 
wirklich gesehen werden. — Umgekehrt wird die auf Erzeugung 
eines AB gerichtete Intention Bedingungen schaffen, die nun 
ihrerseits den Reichtum an Einzelheiten herbeizuführen ge- 
eignet sind: Die Betrachtungsdauer war in den Marburger Ex- 
perimenten für das AB zumeist länger als für das VB; die 
Vorlage wurde nicht nur flüchtig, sondern aufmerksam be- 
trachtet und mit dem Blick durchwandert. Einzelne Vpn. reden 
gar von einer Vertiefung in das einzuprägende Bild, damit es 
ein besonderes Verhältnis zum Subjekt erlange. 


1) Ähnlich sagt Martin (a.a.0. S.365), es sei das Fechnersche Er- 
innerungsbild »ein momentan durch Spuren des NB erhelltes GB«. — Der 
besprochene Tatbestand kommt übrigens auch in verschiedenen der von ihr 
protokollierten Selbstbeobachtungen zum Ausdruck (a. a. O. S.355ff.). 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 335 


Auf der anderen Seite ist doch nach unserer Theorie auch 
die von den Marburgern gemachte Feststellung verständlich, 
daß das VB bisweilen reicher an Einzelheiten ist als das AB 
(29, 15 u. 28; 4, 99; 10, 126). Denn die jeweils einzuschlagende 
Verhaltungsweise ist nicht allein abhängig von der Deutlich- 
keit eines Inhaltes, so daß es sehr wohl möglich ist, daß ein 
deutliches Bild bloß vorgestellt und ein undeutliches wirklich 
gesehen wird. 


Das Gewicht (die Intensität) der Bilder. 


Wie wir schon oben erwähnten (S.308), prüft Busse das 
Gewicht aller drei Bilderarten auf die gleiche Weise, indem 
sie den Gedanken zugrunde legt, daß zwischen subjektiv- und 
objektiverregten Eindrücken ein Wettstreit besteht, in welchem 
die GB den gleichzeitigen Wahrnehmungsgegebenheiten mehr 
oder weniger unterliegen können (1, 27). Aus diesem Versuche 
ergibt sich die prinzipielle Gleichartigkeit der Intensität der 
VB mit der der gesehenen AB und NB, wennschon in den 
meisten Fällen ein gradueller Unterschied besteht: Das Ge- 
wicht des VB ist geringer als das des AB und dieses wieder 
geringer als das des NB. Bei 2 von 9 Vpn. wurde für 
alle drei Bilder die gleiche Intensität festgestellt (1, 29). — 
Dagegen meint Kroh (29, 115), es sei die Intensität wenigstens 
reiner VB wesensverschieden von der der gesehenen AB, 
welche Ansicht durch Aussage der Vp. K. bei Gößer 
bestätigt wird, nach der das »Verschwinden« des Hinter- 
grundes bei Betrachtung eines VB von ganz anderer Art 
ist wie dann, wenn ein AB den Hintergrund zudeckt (4, 101). 
Von dieser Beobachtung wollen wir ausgehen. Sie erklärt sich 
zwanglos aus der von uns aufgewiesenen Verschiedenartigkeit 
der jeweiligen Verhaltungsweise, durch die sich der Eindruck 
der Bilder als »wirklich gesehener« oder »bloßB vorgestellter« 
konstituiert: Nach unserer Beschreibung geht das vorstellige 
Verhalten darauf hinaus, die augenblicklichen, empfindungs- 
mäßigen Wahrnehmungsgegebenheiten möglichst unberücksich- 
tigt zu lassen und gar nicht zu beachten. Ist nun der Inhalt 
imstande, das Bewußtsein des Subjektes derart auszufüllen, 
daß das Interesse oder die Aufmerksamkeit vollkommen ab- 
sorbiert wird, d.h. besitzt der Inhalt höchste Intensität im 
engeren Sinne, so wird die vorstellige Verhaltungsweise von 
vollem Erfolg begleitet sein, indem der Sehraum, wie überhaupt. 


336 Franz Scola, 


der ganze momentane Wahrnehmungskomplex, verdrängt wird 
und dem Bewußtsein gänzlich entschwindet. Wir haben dann 
den von der Vp. K. charakterisierten Zustand: »Bei scharfer 
Konzentration der Aufmerksamkeit auf das VB sehe ich den 
Schirm als Hintergrund nicht.« — »In dem Augenblick, wo 
ich mir das Schweizerhaus vorstelle, ist der Hintergrund über- 
haupt nicht da« (4, 101). 

Anders liegen die Verhältnisse, wenn entweder die vor- 
stellige Verhaltungsweise nicht zur völligen Verdrängung des 
Sehraumes führt, oder wenn das VB, als projizierte Vorstellung, 
ausdrücklich in den Sehraum hineinverlegt, oder wenn das 
AB dort gesehen wird. Dann setzt der von Busse beschriebene 
eigentliche Wettstreit zwischen objektiv- und subjektiverzeugten 
Inhalten ein, der sowohl durch die Fähigkeit der Bilder zur 
Aufmerksamkeitsabsorption als auch durch ihre Frische der 
Farben, durch die Schärfe und Bestimmtheit der Linien und 
Formen, durch den Einzelheitsreichtum, kurz durch die Leb- 
haftigkeit oder das »Gewicht« der Erregung entschieden wird. 
Bei höchstem Gewicht ist dann das Bild imstande, die Wahr- 
nehmungsgegebenheiten nicht nur infolge von Nichtbeachtung 
aus dem Bewußtsein zu verdrängen, sondern die Empfindungen 
selbst gewissermaßen teilweise auszulöschen, gar nicht auf- 
kommen zu lassen, die Gegenstände faktisch zu verdecken +). 

So wird uns verständlich, daß es einerseits Fälle gibt, in 
denen die Intensität der VB und AB ganz unvergleichbar und 
wesentlich verschieden scheint (Kroh), daß andererseits, wie 
im Busseschen Versuch, VB im gleichen Sinne wie AB Ge- 
wicht besitzen und die Einzelheiten des Hintergrundes »ver- 
decken« können (1, 29). Allerdings wird im letzteren Falle 
durchweg das VB von geringerem Gewicht sein als das AB 
(Busse), weil gerade die Schwäche der Erregung der erste 
Anlaß war, das vorstellige Verhalten einzuschlagen, und weil 
(wie wir schon bezüglich der Deutlichkeit bemerkten) in den 
Marburger Experimenten durch die Intention auf ein bloß vor- 
gestelltes oder wirklich gesehenes Bild die Schwäche bzw. 
Lebhaftigkeit der Erregung mitbedingt wurde (Einprägungs- 
dauer und Einprägungsart). — Weil aber die einzuschlagende 


1) Stumpf unterscheidet den Vorstellungsraum im engeren Sinne, der 
den ganzen Wahrnehmungsraum verdrängt und deshalb keine gesehene Raum- 
beziehung zu ihm hat, und den Vorstellungsraum, der im Sehraum untergebracht 
ist. Angeführt bei Fröbes, Lehrb. der exper. Psych. Bd. I? S. 226 f. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 337 


Verhaltungsweise durchaus nicht allein von der Lebhaftigkeit 
der Erregung abhängig ist, sondern, wie wir zeigen konnten 
(S. 324 ff.), durch die verschiedensten Faktoren bestimmt werden 
kann, so ist es möglich, daß auch intensive Eindrücke bloß 
vorgestellt und schwache Eindrücke wirklich gesehen werden, 
woraus sich die von Busse bei ihren beiden Ausnahmen fest- 
gestellte Gleichheit des Gewichtes von VB und AB erklärt 
und selbst eine Umkehrung des Gewichtsverhältnisses verständ- 
lich würde. 


Die Erscheinungsweise des Hintergrundes. 


Mit den von uns aufgewiesenen Gesamtverhaltungsweisen, 
die den einzelnen Bildern gegenüber eingeschlagen werden, 
sind, wie wir schon andeuteten (S.314£. u. 321 f.), gewisse Teil- 
verhaltungsweisen verbunden, die als äußere oder innere Willens- 
handlungen aufzufassen sind und die je nach den besonderen 
Umständen und je nach dem psychischen Gesamtzustande eine 
verschiedene Wirksamkeit entfalten und dadurch mannigfaltige 
funktionelle Unterschiede der Bilder herbeiführen können. 

Auf eine dieser Teilverhaltungsweisen stießen wir schon 
bei Besprechung der Intensität. Dort (S. 335 f.) zeigte sich, daß 
infolge des eigenartigen Verhaltens beim VB der Projektions- 
grund wie überhaupt der ganze momentane Wahrnehmungs- 
komplex unbeachtet bleiben und dem Bewußtsein völlig ent- 
schwinden kann. Wird nun auch eine derartig strenge Iso- 
lierung des VB nicht allzu häufig sein), so ist doch zu er- 
warten, daß durch die mit dem vorstelligen Verhalten ver- 
bundene Aufmerksamkeitsrichtung oder besser Auf- 
merksamkeitsverengung die Erscheinungsweise des Hinter- 
grundes beeinflußt wird. So fügen sich die Gößerschen Er- 
gebnisse zwanglos unserer Theorie ein: Da, wo es überhaupt 
möglich ist, beim bloßen Vorstellen eines Bildes den Blick auf 
den Schirm zu richten (ohne daß das Bild verschwindet oder 
als AB gesehen wird; 4,103; siehe auch S. 329£.), erscheint der 
Hintergrund nach den Aussagen der Vpn. »unbestimmt«, d.h. 
ver kann nicht näher beschrieben werden« (4, 102f.). 

Dagegen scheint es verwunderlich, daß auch beim AB, 

obgleich es wie das NB mit ursprünglichem Verhalten auf dem 


1) Sie kann beispielsweise dort nicht stattfinden, wo VB gemessen werden, 
also bei den »projizierten« Vorstellungen. 
Archiv für Psychologie. LII. 22 


338 Franz Scola, 


Schirm gesehen wird, dennoch der Hintergrund »nebelhaft«., 
»wolkig«, »verschwommen«, »wie ein grauer Schleier« erscheint, 
während er beim NB deutlich als »Papierfläche« gesehen wird 
(4, 102f.). Aber auch das ist verständlich, wenn wir auf den 
oben 8.331) erörterten Unterschied im Sehen von AB und NB 
zurückgreifen: Das AB wird als solches intendiert, die Auf- 
merksamkeit ist primär auf das Bild gerichtet, und allein diese 
Aufmerksamkeitskonzentration läßt die Umgebung des Bildes 
verschwimmen. Das zeigt sich schon in der gewöhnlichen Wahr- 
nehmung, etwa bei aufmerksamer Betrachtung eines an der 
Wand hängenden Bildes, zumal wenn die nichtbeachtete Um- 
gebung einförmig ist, wie es in dem Gößerschen Versuch 
der Fall war. — Demgegenüber sahen wir das Eigenartige der 
beim NB eingeschlagenen Verhaltungsweise darin, daß das NB 
als solches nicht intendiert ist, nicht eigentlich beobachtet, daß 
an ihm gewissermaßen vorbeigesehen wird. Bei seiner Er- 
zeugung ist der Blick und die Aufmerksamkeit primär auf den 
Hintergrund gerichtet, so daß dieser vom Beobachter gesehen 
wird, wie er in Wirklichkeit ist. — Wir haben es also bei 
dem besprochenen Unterschied nicht, wie Gößer meint (4, 
125), mit einer mehr oder weniger starken Annäherung an das 
»innere Vorstellungsgrau«, sondern mit einer Verschwommen- 
heit der äußeren Wahrnehmung zu tun, die durch die mit dem 
Gesamtverhalten verbundene Blick- und Aufmerksamkeits- 
richtung bedingt ist. 


Die Projektion der Bilder auf farbige Hinter- 
gründe. 


Eine Bestätigung dieser unserer Anschauung finden wir in 
den Ergebnissen des Gößerschen Versuches, in dem die Bilder 
auf farbige Hintergründe projiziert wurden. Warum eine solche 
Projektion des VB meist nicht gelingen konnte (4, 117), haben wir 
schon weiter oben (S. 329 f.) dargelegt, so daß wir uns nur noch 
mit dem Unterschied von AB und NB zu beschäftigen haben. — 
Das AB, so sagten wir, wird als solches selbst intendiert und 
als eigenwertige und selbständige Erscheinung beobachtet. Dem 
entspricht es, wenn die AB farbiger Quadrate von den anders- 
farbigen Hintergrundsquadraten deutlich unterschieden werden, 
wenn das AB nicht völlig im Hintergrunde aufgeht, wenn es 
erst einer besonderen Bemühung bedarf, beide zur Deckung 
zu bringen (4, 117f.). Da, wo diese Deckung stattfindet, be- 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 339 


steht der Eindruck, daß nicht das verfärbte Hintergrunds- 
quadrat, sondern das verfärbte AB gesehen wird (4, 117£.). 
— Anders beim NB: Bei seiner Erzeugung wird lediglich der 
Hintergrund ins Auge gefaßt, und gewissermaßen beiläufig 
entsteht das Phänomen, ohne als gegenständlich bedeutungs- 
volle Erscheinung aus den gesehenen Objekten herausgehoben 
zu werden. Es wird also vom Hintergrundsquadrat nicht unter- 
schieden, deckt sich mit ihm und geht so gänzlich in ihm auf, 
daß die Vpn. den Eindruck gewinnen, nicht ein NB, sondern 
den verfärbten Hintergrund zu sehen (4, 117). 

Eine Schwierigkeit für unsere Auffassung, es sei die mangelhafte 
Deckung von AB und Hintergrundsquadrat eine Folge der dem AB gegenüber 
eingeschlagenen Verhaltungsweise, scheint aus den Ergebnissen der von 
Herwig und Jaensch angestellten Mischungsversuche zu entstehen. Dort 
wurde bei der Projektion von AB auf farbige Gründe zumeist vollkommene 
Deckung und Mischung erreicht, und der von Gößer festgestellte Wett- 
streit wird nur als Ausnahme erwähnt (23, 275—281). Dieser Tatbestand 
wird uns verständlich, wenn wir hören (23, 280), daß zur Erzeugung der 
AB bei Herwig und Jaensch die Vorlage, allerdings nur 3 Sek. lang, 
fixiert wurde. Ohne behaupten zu wollen, es handle sich deshalb gar nicht 
um AB, sondern um NB !), dürfen wir doch annehmen, daß durch die 
Fixation eine dem NB-Verhalten ähnliche Einstellung veranlaßt war. Außer- 
dem hatte Herwig dieselben Vpn. schon bei seinen offenbar langwierigen 
Farbenuntersuchungen benutzt, in denen die Vorlage durchweg 20 Sek. lang 
fixiert werden mußte (21,,139) und nicht selten auch bei seitlicher Be- 
obachtung des AB die Fixation eines Punktes des Hintergrundes 
durch die Instruktion gefordert war (21, 151). Daran gewöhnt, wird sich eine 
gleiche Einstellung und Blickrichtung auch in den darauf folgenden Mischungs- 
versuchen durchgesetzt haben. 


Die Projektion der Bilder auf nichtebene 
Gründe. 


‚Weiter tritt die typische Verschiedenheit der Blick- und 
Aufmerksamkeitsrichtung, die aus dem jeweiligen Gesamt- 
verhalten resultiert, in den Versuchen zutage, in denen die 
Bilder auf nichtebene Gründe projiziert wurden (4, 114ff.). 
Als solche benutzte Gößer einen geknickten Schirm, dessen 
Kante auf den Beobachter zustand, und eine gewölbte Fläche. 
— Vor solchen nichtebenen Hintergründen mußte sich das für 
das VB charakteristische Bestreben, die Umwelt-Gegebenheiten 
weitmöglichst zurückzudrängen, noch stärker geltend machen 


1) Diese Frage zu prüfen, müßte das Experimentum crucis auf die 
Wiedererzeugbarkeit der Bilder angestellt werden. (Siehe unsere Bemerkung 
über die NB bei Herwig auf S. 333.) 


22» 


340 Franz Scola, 


als vor ebenem, homogen-grauem Schirm, weil hier die Gefahr 
einer Störung der vorgestellten Bilder bedeutend größer war 
als dort. — Man wird sich also bemüht haben, während des 
Vorstellens sogar den Gedanken an die Struktur des Hinter- 
grundes nicht aufkommen zu lassen; der Schirm war gewisser- 
maßen für die Vpn. nicht da und konnte demnach auch keinen 
Einfluß auf das VB geltend machen. Dieses wurde nach An- 
gabe Gößers (4, 114f.) bei ungezwungenem Verhalten durch- 
weg in seiner ursprünglichen Gestalt sowohl vor der ge- 
krümmten Fläche als auch vor der Kante des geknickten Hinter- 
grundes vorgestellt. Daß es sich hier nicht eigentlich um eine 
mit dem Bild als solchem verknüpfte Eigenart, sondern, unserer 
Anschauung gemäß, um die Wirkung einer gewissen subjek- 
tiven Verhaltungsweise handelt, geht aus der von Gößer 
gleichfalls beobachteten Möglichkeit hervor, auch das VB dem 
nichtebenen Hintergrunde anzupassen, wenn nämlich die In- 
struktion ausdrücklich verlangt, es auf dem Hintergrunde zu 
sehen, wenn also, nach der oben angeführten Stelle, nicht mehr 
das »ungezwungene« Verhalten eingeschlagen wird, d.h. wenn 
man sich so verhält, wie man sich beim bloßen Vorstellen im 
allgemeinen nicht zu verhalten pflegt. Es tritt dann zu dem 
durch die Instruktion gegebenen antizipierenden Schema: den 
Gegenstand vorzustellen, die Bestimmidng hinzu, ihn auf dem 
so und so strukturierten Grunde, eben auf dem geknickten oder 
gewölbten Schirm, vorzustellen, so daß dieser auf die Gestaltung 
des Bildes Einfluß gewinnt. | 

»Das NB machte alle Krümmungen und Knickungen der 
benützten Projektionsflächen mit« (4, 115), was sich daraus 
erklärt, daß bei seiner Erzeugung Blick und Aufmerksamkeit 
primär auf den Schirm gerichtet sind, daß das NB beim Sehen 
des Grundes nur beiläufig erscheint und demgemäß völlig in das 
Gesehene, gleichgültig, welcher Struktur es ist, eingeht, wobei 
keinerlei Rücksicht auf das Objekt genommen wird, weil eben 
. das Objekt als solches gar nicht intendiert wird. 

Beim AB dagegen findet gerade das letztere statt. Hier 
spielt die Rücksicht auf den vorher gesehenen Gegenstand, auf 
seine Eigenart und das zu ihm verwandte Material schon bei der 
Erzeugung eine mehr oder weniger große Rolle: wie weit die 
Vp. imstande ist, jedweden Gegenstand in jeder Wahrnehmungs- 
situation und mit dieser oder jener Veränderung wirklich 
wiederzusehen, und wie und als was sie ihn in der neuen 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 341 


Situation auffaßt und demgemäß wiedersehen will, ob sie etwa 
- einen steifen Karton oder ein auf den Grund aufgeklebtes 
Papierquadrat zu erblicken glaubt (siehe hierzu das Kapitel 
über die Bedingungen für das Auftreten von AB, 8.323 ff.). 
Darum zeigt das AB, wie aus dem Gößerschen Bericht her- 
vorgeht (4, 115f.), ein verschiedenes Verhalten: teils paßt es 
sich dem Hintergrunde an, wenn auch nicht immer gleich stark 
wie das NB, teils erscheinen nur einige Teile vom Schirm be- 
einflußt, so daB etwa nur die äußerste Kante der geknickten 
Projektionsfläche sich durchdrückt, teils hängt es glatt in ur- 
sprünglicher Gestalt vor dem Hintergrunde. 


Die Lageänderung der Bilder bei Neigung des 
Kopfes. 


| Untersuchungen über die Lageänderung der Bilder sind an- 

gestellt worden von Busse (1, 14—21), Gottheil (2, 85 
—87) und Krellenberg (5, 66f.). Der Verlauf der Ver- 
suche war folgender: Das Objekt, meist ein mit einem Wort 
beschriebener Papierstreifen, wird in 50 cm Entfernung und 
in Augenhöhe auf einem Schirm genau wagerecht dargeboten 
und nach Erzeugung des VB, AB oder NB der Kopf der Vp. 
um 45° (bei Gottheil um 50°) geneigt. Die Stellung des 
Kopfes war jeweils durch eine Stütze fixiert. Das Ergebnis 
der Versuche läßt sich dahin zusammenfassen, daß für das 
VB eine Tendenz besteht, es auch bei geneigtem Kopf in seiner 
ursprünglichen Lage erscheinen zu lassen. Das NB dagegen 
folgt im allgemeinen der Neigung des Kopfes, wennschon die 
Neigungswerte hinter denen der Kopfneigung zurückbleiben. 
Das AB nimmt zumeist eine Mittelstellung zwischen VB und 
NB ein., 

Zur Erklärung dieser Tatsachen greifen wir auf das zu- 
rück, was G.E.Müller in seiner Abhandlung »Über das 
Aubertsche Phänomen« über die Lokalisation eines Ein- 
druckes bei Neigung des Kopfes ausführt‘). Dabei wollen wir 
von Lagerung und nicht von Lokalisation reden, da wir den 
Terminus Lokalisation in anderem Sinne verwerten wollen. 

Nach der Auffassung Müllers besteht für die Lagerung 
von Eindrücken bei Neigung des Kopfes eine doppelte Tendenz: 


1) G. E. Müller, Über das Aubertsche Phänomen, ZP. II, 49 S. 109. 
Siehe auch G.E.Müller, Anal. d. Ged.-Tätigkeit usw. II S. 66 ff. 


342 Franz Scola, 


nämlich ihre Lage zu bestimmen einerseits in Beziehung auf 
den geneigten Kopf (B- oder K-Tendenz), andererseits in Be- 
ziehung auf den in normaler, gewohnheitsmäßiger Haltung be- 
findlichen Rumpf (S-Tendenz). Der Effekt dieser beiden 
Tendenzen ist, wie leicht eingesehen werden kann, entgegan- 
gesetzt und besteht für subjektiv erzeugte Bilder darin, daß die 
Bilder bei Einordnung in das Bezugssystem des Rumpfes ihre 
ursprüngliche Lage beibehalten, bei Einordnung in das Bezugs- 
system des Kopfes aber mit dem Kopf sich gleichgerichtet 
und im selben Maße neigen!), Aus dem Zusammenwirken 
oder besser Gegeneinanderwirken dieser beiden Tendenzen re- 
sultiert eine mittlere Neigung, die sich entweder mehr der 
ursprünglichen oder einer der Neigung des Kopfes ent- 
sprechenden Lage nähert. Im einzelnen werden die genauen 
Neigungswerte von dem gegenseitigen Stärkeverhältnis der , 
beiden Tendenzen abhängig sein. — Gehen wir also kurz auf 
die Art und die Wirksamkeit dieser Tendenzen ein, um daraus 
die Bedingungen für die Stärke ihres Auftretens und die Nach- 
drücklichkeit ihres Einflusses auf die Lagerung der Bilder er- 
schließen zu können. Offenbar haben wir es hier mit dem 
Auftauchen weitgehend schematisierter, kaum oder gar nicht 
beachteter, räumlicher Vorstellungen von der Kopf- und Körper- 
lage zu tun, die durch gewisse »Lageeindrücke«?) mannig- 
faltiger Art wachgerufen werden. Die Wirksamkeit dieser 
oder jener Lagerungstendenz wird sich also darnach bemessen, 
ob mehr die gewohnheitsmäßige, normale Haltung des Körpers 
oder die gegenwärtige Neigung des Kopfes vorstellungsmäßig 
auftritt und die Lagerung der Eindrücke bestimmt. Damit ist 
nun die Möglichkeit einer Erklärung der Marburger Tatsachen 
gegeben, wenn wir zeigen können, daß (neben anderen Faktoren, 
die entweder aus der individuellen Eigenart oder aus der augen- 
blicklichen Situation entspringen) auch das subjektive Ver- 
halten in irgendeinem Sinne Einfluß darauf hat, welche Körper- 
lagevorstellung mit größerem Nachdruck auftaucht und welche 
der beiden Lagerungstendenzen demnach überwiegt. 

Gehen wir vom NB aus. Weil ihm eine Erregung der Netz- 
haut zugrundeliegt, so ist die natürliche Folge der Kopfneigung 
die gleichsinnige Neigung des Bildes. Hinzu kommt die Ver- 


1) Wir wollen hier die Gegenrollungen der Augen unberücksichtigt lassen, 
da sie für alle drei Bilder im allgemeinen gleich sein dürften. 
2) G. E. Müller a.a.0. S. 158. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 343 


haltungsweise, die dem NB gegenüber gewöhnlich eingeschlagen 
wird: Das interesselose Hinstarren auf den Projektionsgrund 
läßt den Gedanken an die ursprüngliche Lage des Eindruckes 
zurücktreten, so daß jene Tendenz dominiert, infolge derer das 
Bild, eingeordnet in das Bezugssystem des Kopfes, dessen 
Neigung mitmacht (2, 85ff... — Daß aber auch beim. NB 
die entgegengesetzte Tendenz wirksam werden kann, die aus 
der Vorstellung der normalen Körperhaltung entspringt und 
dem Bild seine ursprüngliche Lage zu geben trachtet, zeigen 
die Fälle, in denen die Neigung des NB hinter der Neigung des 
Kopfes um einen Betrag zurückbleibt, der so groß ist, daß er 
nicht mehr durch den Einfluß der Augenrollungen erklärt 
werden kann. Derartige Fälle finden sich bei Busse (1, 
16f.) und in noch größerer Anzahl bei Krellenberg i(5, 
63). Wiederum also sind es die Eidetiker, die hier den NB 
gegenüber nicht das gewöhnliche Verhalten einschlagen, indem 
sie in besinnlicher Einstellung die Vorstellung von der ursprüng- 
lichen Lage des Eindruckes reproduzieren. 

Auch beim AB ist der Blick in die Umwelt gerichtet, und 
während sich der Kopf neigt, wird die dadurch hervorgerufene 
Veränderung der Situation wohl bemerkt. Aber das. AB hat 
gegenstandsbezogene Bedeutung, es nimmt das Interesse des Be- 
obachters in Anspruch, so daß ihm gegenüber die Umwelt nur 
eine geringere Beachtung findet. Die durch die Kopfneigung her- 
vorgerufenen Körperempfindungen treten im Bewußtsein zu- 
rück; man ist zu sehr mit dem Bild beschäftigt, als daß man 
genau auf sie merken könnte. Infolgedessen tritt die Vorstellung 
von der Kopfhaltung nur mit geringerer Kraft auf. Das 
Stärkeverhältnis der beiden Lagerungstendenzen verschiebt sich 
zugunsten jener, die die Lage des Bildes in Beziehung zur nor- 
malen Rumpflage bestimmt: Das AB wird durch die Neigung 
des Kopfes weniger beeinflußt als das NB (1, 16; 5, 63). 

Noch mehr verschwindet beim VB die tatsächliche Wahr- 
nehmungssituation. Hier zielt ja das vorstellige Verhalten 
geradezu auf eine weitestmögliche Verdrängung alles empfin- 
dungsmäßig Gegebenen hin. Man bemüht sich, die Verände- 
rungen der Umwelt nicht zu sehen; man will nicht wissen, daß 
man den Kopf neigt; und je mehr dieses Absehen von der gegen- 
wärtigen Situation, dieses »bloße Vorstellen« gelingt, um so 
mehr werden die Lageeindrücke zurückgedrängt, und um so 
weniger Kraft besitzt die Vorstellung von der Lage des 


344 Franz Scola, 


Kopfes, ihren Einfluß geltend zu machen. Hinzu tritt das 
besinnliche Verhalten beim VB, der oftmals bewußte Rekurs 
auf die ursprüngliche Wahrnehmung, die Berücksichtigung be- 
kannter Gegenstandsverhältnisse, das Bestreben, während des 
Vorstellens sich in ungestörter, bequemer, gewohnter Haltung 
zu befinden, was alles das Gesamtschema der gewohnheitsmäßig 
eingenommenen, normalen Körperstellung mit großer Eindring- 
lichkeit auftauchen läßt und zu einer mehr oder weniger starken 
Annäherung an die ursprüngliche Lagerung des Bildes führt 
(ebenda). 


Die Gestaltänderung der Bilder bei Drehung des 
Schirmes ist von Busse (l, 21ff) und Gößer (4, 110£f.) unter- 
sucht worden. Der Hergang des Experiments ist folgender: In 50 bezw. 
35 cm Entfernung vom Auge des Beobachters wird auf einem Schirm eine 
stehende Ellipse mit dem Achsenverhältnis 5,5:6 zur Einprägung dargeboten. 
Sodann wird der Schirm durch einen drehbaren ersetzt und dieser, nachdem 
das Bild auf ihn projiziert worden ist, um seine senkrechte Achse gedreht. 
Die Vp.-hat anzugeben, wann die Ellipse als Kreis erscheint!). Der dieser 
Angabe entsprechende Drehwinkel des Schirmes wurde abgelesen. Dabei er- 
gab sich, daß beim VB die Gestalt sich länger erhielt als beim AB und bei 
diesem länger als beim NB; d. h. es bedurfte einer größeren Drehung des 
Schirmes, damit die Ellipse als Kreis gesehen wurde. Nach dem in dem 
vorangehenden Kapitel Gesagten können wir auf eine eingehende Besprechung 
dieses Ergebnisses verzichten, da es sich zwanglos unserer Gesamtauffassung 
einordnen läßt. Es genügt der Hinweis darauf, daß auch hier zwei Ten- 
denzen wirksam sind, nämlich den Eindruck entweder in den ursprünglich 
gegebenen oder in den durch die Schirmdrehung veränderten Wahrnehmungs- 
komplex einzuordnen und seiner Konstellation gemäß die Gestalt des Bildes 
zu bestimmen. Je nachdem nun die eine oder andere dieser Tendenzen in- 
folge des Gesamtverhaltens (Beachtung und Berücksichtigung der Schirm- 
drehung) dominierte, blieb die eingeprägte Gestalt mehr oder weniger lange 
erhalten. 

Gößer modifiziert den Versuch dadurch, daß er den homogenen durch einen 
inhomogenen Grund ersetzt, was eine Zunahme der Drehungswerte, d. h. eine 
Annäherung an das VB-Verhalten zur Folge hat. Wir werden in einem späteren 
Kapitel (S. 361 f.) zusammenfassend erörtern, wie dieser Einfluß der »Störung« 
nach der hier vertretenen Anschauung zu erklären ist. 


DieGrößenänderung der Bilder. 


Wird ein NB auf einen Schirm projiziert und dieser dann 
vom Beobachter weg- oder auf ihn zugerückt, so ändert sich 
bekanntlich die Größe des NB proportional mit der Entfernung 


1) Busse verlangte außerdem die Angabe darüber, wann die Ellipse 
begann, sich zu runden, und wann der Kreis in eine liegende Ellipse überging. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschanungs- und Nachbild. 345 


des Schirmes (Emmertsches Gesetz). — Den gleichen Ver- 
such stellen die Marburger mit den NB und GB ihrer Vpn. 
an. Dabei ergibt sich folgendes: Für die Größenänderung der 
NB bei erwachsenen Nichteidetikern gilt das Emmertsche 
Gesetz (2, 76). Die NB Jugendlicher dagegen und besonders 
die der Eidetiker weichen von diesem Gesetze ab, indem sie 
meist nicht die zu erwartenden Werte der Größenänderung er- 
reichen (2, 77f.; 3, 92; 4, 123 Tab.; 5, 63). Was das AB 
anbelangt, so ändert sich auch seine Größe mit der Entfernung: 
aber die Abweichung vom Emmertschen Gesetz ist im all- 
gemeinen viel größer, als sie beim NB beobachtet wurde, d.h. 
das AB wird hinsichtlich seiner Größe weniger stark durch 
die Entfernungsänderung beeinflußt (1, 27£.; 3, 93 ff.; 4, 123: 
5, 63 u.a.). Noch geringer ist die Größenänderung des VB. 
das bei Entfernung im allgemeinen nur wenig wächst, gleich 
bleibt oder gar kleiner wird (1, 36; 2, 78ff.; 4, 123; 5, 63 
u.a.). Es zeigt sich also eine Tendenz zur Größenkonstanz, die 
bei Jugendlichen und besonders bei den Eidetikern weniger 
stark ausgeprägt ist als bei Erwachsenen (2, 78 ff.). 

Die Marburger fassen diese Ergebnisse in dem Gesetz zu- 
sammen: Einer je höheren Gedächtnisstufe das GB angehört, 
desto größer ist sein Invarianz-Grad (1, 65; 5, 60; 24, 19f. 
u. &.). Wennschon darin die allgemeine Tendenz der Größen- 
änderung. zum Ausdruck kommt, so muß doch berücksichtigt 
werden, daß bei genauer Prüfung der Ergebnisse nicht wenig 
Ausnahmen von dem Gesetz sich finden lassen (5, 63 Tab., 
siehe auch 33, 146ff.). Außerdem zeigen die GB sowohl 
wie die NB nicht selten schon eine Größenänderung in der Aus- 
gangsstellung, d.h. in der Entfernung, in der die Vorlage einge- 
prägt wurde (1, 42 Tab.; 2, 77 u. 97£.; 4, 119; 4, 23; 16, 316£.). 
An einigen Stellen geht die Größenänderung des AB noch über 
die nach dem Emmertschen Gesetz zu erwartende hinaus 
(1, 42 Tab.), und für das NB wird in mehreren Fällen eine der 
Entfernungsänderung entgegengesetzte Größenänderung fest- 
gestellt, d.h. das NB wird bei größerer Entfernung kleiner und 
wächst bei Annäherung (5, 63). 

Diese Tatsachen sind zu erklären. Dabei gehen wir von der 
Größenänderung des NB aus. Wie uns scheint, läßt sich das Zu- 
standekommen der NB-Größe als ein ähnlicher Vorgang auffassen, 
wie er bei der Bildung der Sehgröße stattfindet. Den verschiedenen 
Tatsachen der Sehgröße dürfte am ehesten die von Lind- 


346 Franz Scala, 


worsky in seiner »Experimentellen Psychologie« (Philosoph. 
Handbibl. Bd. V3, 1923) ausgeführte Theorie gerecht werden: 
Nach ihr ist für die Sehgröße oder »Mächtigkeit« eines Ein- 
druckes nicht so sehr die faktische, in Metern angebbare Ent- 
fernung des Gegenstandes vom Auge des Beobachters, als viel- 
mehr der erlebte Raum oder die erlebte Entfernung, die 
durchaus nicht mit der objektiven Entfernung des Gegen- 
standes übereinstimmen muß, maßgebend. Diese Auffassung 
macht einerseits die in mehr oder weniger ausgedehnten Be- 
reichen herrschende Größenkonstanz der Dinge, andererseits 
auch die eigenartigen Täuschungen über die Größe von Gegen- 
ständen verständlich. So gewinnt z.B. die Fliege, die vor 
meinen Augen vorbeihuscht, während ich gänzlich im »Straßen- 
raum« befangen bin, die Mächtigkeit eines vor dem Fenster 
vorbeifliegenden Vogels, und der Schornstein wird zum winzigen 
Fleck auf der Fensterscheibe, wenn ich etwa durch langes Lesen 
noch in der Einstellung des Nahraumes mich befinde. — Wir 
fassen diese Tatsachen dadurch zusammen, daß wir sagen: 
Die Mächtigkeit eines Eindruckes wächst mit der Entfernung, 
in der er erlebt wird. Damit aber haben wir das Emmert- 
sche Gesetz in eine Form gebracht, die es ermöglicht, sowohl 
die exakt dem Gesetze folgenden Fälle als auch die Ab- 
weichungen, wie überhaupt die Größenänderung der von den 
Marburgern untersuchten Bilder ohne Hinzunahme einer neuen 
Gesetzmäßigkeit einheitlich zu erklären. Denn einerseits ist 
der Fall denkbar, daß die erlebte Entfernung mit der wirk- 
lichen durch den Schirm repräsentierten übereinstimmt: Die 
Größenänderung folgt dem Emmertschen Gesetz. Anderer- 
seits kann aber auch infolge irgendwelcher Bedingungen eine 
andere, mit der durch den Schirm faktisch gegebenen Ent- 
fernung nicht korrespondierende Raumvorstellung auftauchen 
und den Eindruck in seiner Mächtigkeit bestimmen: Die Größen- 
änderung weicht vom Emmertschen Gesetze ab. 


An dieser Stelle muß ein naheliegendes Mißverständnis beseitigt werden: 
Es handelt sich bei dem Auftauchen der Raumvorstellung, durch die der Ein- 
druck seine Mächtigkeit erhält, nicht einfach um die Lokalisation des Ein- 
druckes, wennschon beide ursprünglich eng miteinander verbunden sein dürften. 
Unter Lokalisation verstehen wir die Einordnung eines Inhaltes an eine be- 
stimmte Stelle im Ganzen des gegebenen Wahrnehmungskomplexes, die durch 
einzelne Teilinhalte dieses Komplexes mehr oder weniger genau festgelegt 
ist. So sehe ich den Schornstein dort zwischen dem näherstehenden Hause 
und der weiter entfernt befindlichen Baumgruppe. Dagegen sprechen wir im 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 347 


folgenden von »Raumgebung«, wenn der Eindruck in eine jetzt auftauchende 
Raumvorstellung eingeht. Diese Raumvorstellung aber ist nicht die Vor- 
stellung einzelner, bestimmter, jetzt hier befindlicher Dinge, sondern sie ist 
das charakteristische Schema der Gesamtsituation, in der ich mich diesem oder 
jenem Raum gegenüber befinde. So können wir etwa vom Stubenraum sagen: 
Er ist dicht um mich, ich kann ihn abtasten oder doch mit wenig Mühe ab- 
schreiten, er engt mich momentan ein, zwingt meine Augen zu einer be- 
stimmten, ständigen Konvergenz und Akkommodation, das gesprochene Wort 
hat in ihm einen eigenen Klang usw.!). — Wir werden in einem späteren 
Kapitel auf das Verhältnis von Lokalisation und Raumgebung noch einmal 
eurückkommen. 


Fragen wir uns nun, von welchen Faktoren das Auftauchen 
einer bestimmten Raumvorstellung subjektiv erzeugten Ein- 
drücken gegenüber abhängig ist, so werden wir diese teils in 
der Eigenart des Objektes (ein Schornstein wird zu aller- 
meist die Vorstellung des fernen Landschaftsraumes wachrufen), 
teils in der beim Einprägen oder Erzeugen .des Bildes herr- 
schenden Situation (ob ich das Objekt vor mir hatte und ob 
ich in gleicher Stellung und Entfernung den Eindruck wieder- 
erzeuge), teils in der jeweiligen Gesamtverhaltungsweise des 
Subjektes (ob ich z.B. vorstellen oder wirklich sehen will) 
zu suchen haben. Vor allem mit den letztgenannten Einflüssen 
der herrschenden Situation, d.h. der äußeren Versuchsbeding- 
ungen, und des subjektiven Gesamtverhaltens auf die Raum- 
gebung haben wir uns im Rahmen unseres Themas zu be- 
schäftigen. Die äußeren Versuchsbedingungen waren in den 
Marburger Experimenten über Größenänderung durchweg die 
gleichen: Die Vorlage wurde in 50 cm Entfernung auf einem 
Schirme dargeboten. Die Vp. blieb bei Erzeugung des Bildes 
(VB, AB oder NB) am gleichen Platz und in der gleichen 
Stellung sitzen, während der Schirm von ihr weg oder auf 
sie zu geschoben wurde. Diese einfachsten Versuchsbedingungen 
beschränkten die möglicherweise auftauchende Raumvorstellung 
auf jeden Fall auf den vor dem Auge des Beobachters liegen- 
den Streifen des Stubenraumes?). Man wußte, daß der Schirm 
innerhalb dieses Streifens vor und zurückbewegt werden sollte 
und war deshalb auf diesen Streifen allein eingestellt. So ist 


1) Die vorgenommene Scheidung von Lokalisation und Raumgebung dürfte 
sich im gewissen Sinne mit der von G. E. Müller vorgenommenen zwischen 
prelativer« und »egozentrischer« Lokalisation berühren (G.E.Müller, Anal. 
d. Ged.-Tätigkeit usw. II S. 48 ff.). 

2) Es kommen also die meisten der von G. E. Müller angeführten 
Lokalisationstendenzen für unseren Fall nicht in Betracht. 


848 Franz Scola, 


es von den äußeren Versuchsbedingungen lediglich die Bewegung 
des Schirmes, die auf die Raumgebung der Bilder Einfluß ge- 
winnt, so daß wir nur ein Vor, Auf oder Hinter dem 
Schirm zu erwarten haben. Wie sich nun dieses Verhältnis 
von Raumvorstellung und Entfernung des Schirmes im einzelnen 
gestaltet, wird von der jeweiligen und mit den Bildern 
wechselnden Verhaltungsweise des Subjektes abhängig sein. Das 
zu untersuchen gehen wir vom VB aus: 
Vergegenwärtigen wir uns die eigenartige Verhaltungsweise, 
die das Subjekt bei Erzeugung und Betrachtung eines VB ein- 
nimmt. In dem Bestreben, die gemeinhin schwachen, unwirk- 
lichen Eindrücke gegen die intensive Umwelt zu schützen, 
läßt man diese Umwelt möglichst unberücksichtigt; man be- 
achtet sie nicht, und zur Unterstützung dieses mehr inneren 
Verhaltens wendet man auch äußerlich den Blick von ihr ab. 
Hat man vorher im Zimmer frei umhergeschaut, so wird man 
nun den Kopf senken und die Augen zusammendrücken; der 
Blick trifft in typischer Situation auf die Platte des Tisches, 
die den gesehenen Raum bedeutend einengt, da sie sich kaum 
eine Elle weit vor den Augen befindet. Weil aber diese Ein- 
engung des Raumes nicht eine bloß zufällige ist, sondern ge- 
radezu im Bestreben des Subjektes liegt, so wird sie bewußt 
auch als Einengung erlebt, was man etwa so charakterisieren 
könnte: »Ich will jetzt in einem solch engen Raume sein, daß 
nichts mehr zwischen mich und meine Vorstellungen: treten 
kann.« Infolge der oftmaligen Wiederkehr dieser Situation 
wird schließlich der dicht vor den Augen befindliche Raumteil 
zu einem typischen Vorstellungsraum, der sich als Gesamt- 
situationsschema mit der vorstelligen Verhaltungsweise mehr 
_ und mehr verbindet und mit ihr zusammen immer dann auf- 
taucht, wenn die Eigenart des Objektes oder die äußeren Be- 
dingungen nicht ein anderes Raumerlebnis veranlassen. In ihn 
werden die Vorstellungen mit Vorliebe hineingezogen und ge- 
winnen durch ihn ihre Mächtigkeit, ihre »Vorstellungsgröße«. 
Betrachten wir nun die Marburger Ergebnisse über die 
Größenänderung des VB. Die äußeren Versuchsbedingungen 
mußten das Auftauchen der von uns charakterisierten einge- 
engten Raumvorstellung beim Einschlagen der vorstelligen Ver- 
haltungsweise begünstigen. Durch den schon bei der Ein- 
prägung etwa eine Elle weit vom Auge des Beobachters befind- 
lichen Schirm war der Raum in typischer Weise begrenzt. 


s 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 349 


Man fühlte sich sogleich in der wohlbekannten »Schulbank- 
oder Schreibtisch-Situation«, und als nach Wegnahme des Ob- 
jektes der Schirm an seinem Orte stehen blieb, war durchaus 
keine Veranlassung, die VB in einen anderen als den Schirm- 
raum zu versetzen. Dort also erschienen sie in der Größe, in 
der ursprünglich die Vorlage gesehen worden war. Selbstver- 
ständlich ist dabei eine mathematisch strenge Gleichheit nicht 
zu erwarten. Abgesehen von den möglicherweise im Meßver- 
fahren gelegenen Fehlerquellen!) und von der etwaigen mangel- 
haften Einprägung der Größe des Gegenstandes, wird der er- 
lebte und durch die Schirmstellung veranlaßte Vorstellungs- 
raum sowohl individuell als auch von Fall zu Fall verschieden 
sein: Das Bild erscheint wenig größer oder kleiner als die 
Vorlage (2, 78—80). 

Nicht mehr so selbstverständlich aus den äußeren Versuchs- 
bedingungen, verbunden mit der vorstelligen Verhaltungsweise, 
erfolgt die Raumgebung und Mächtigkeitsbestimmung dann, 
wenn diese Bedingungen durch Wegrücken des Schirmes bis 
auf 100 oder 150 cm Entfernung variiert werden. Da, wo das 
Auftauchen der eingeengten Raumvorstellung sich mit der vor- 
stelligen Verhaltungsweise überhaupt schon fest assoziiert hat 
und in die komplexe Erlebnisart des bloßen Vorstellens infolge 
langer Gewohnheit fast unlösbar eingegangen ist, da, wo 
man in stereotyper Weise die VB immer nur eine Elle weit 
vor den Augen erscheinen läßt, und wo man, mit eigenen 
Dingen beschäftigt, eine gewisse kühle Gleichgültigkeit allen 
Umweltveränderungen gegenüber zu beweisen imstande ist, wird 
allerdings die Vorstellung des eingeengten Nahraumes im Be- 
wußtsein verharren, um auf die Mächtigkeit der Bilder weiter- . 
hin ihren Einfluß auszuüben. Das ist bei Erwachsenen der 
Fall, deren VB bei Veränderung der Schirmentfernung weit- 
gehend konstant bleiben (2, 79). 

Nicht so bei Jugendlichen. Wennschon auch dort infolge 
der vorstelligen Verhaltungsweise selbst beim Wegrücken des 
Schirmes das Nahraumschema im allgemeinen verharrt und dem- 
nach die Größe des VB zumeist eine ähnliche Konstanz zeigt 
wie bei Erwachsenen, so ist doch der Vorstellungsraum noch 
nicht überall in der stereotypen Weise ausgebildet und mit 


1) Siehe hierzu Koffka, Über die Messung der Größe von Nachbildern, 
Psychol. Forsch. Bd. III, 1923. 


350 Franz Scola, 


dem vorstelligen Gesamtverhalten so fest assoziiert, daß das 
jeweilige Raumerlebnis nicht durch die Bewegung des Schirmes 
beeinflußt werden könnte (siehe unsere früheren Bemerkungen 
über die Labilität der jugendlichen Psyche). Die Raumvor- 
stellung erweitert sich hier und da beträchtlich, ohne doch im 
allgemeinen der Entfernung des Schirmes auch nur annähernd 
zu entsprechen. So entstehen die Werte der Größenänderung 
von VB bei Jugendlichen, die vom Emmertschen Gesetze 
bedeutend abweichen, und die doch nicht der bei Erwachsenen 
beobachteten Konstanz der Größe gleich sind (2, 80; 5, 63). 

Interessant ist auch das Kleinerwerden der VB beim Wegrücken des 
Schirmes, das nicht selten beobachtet wurde (ebenda). Die Marburger er- 
klären es durch den Einfluß der Erfahrung, daß Gegenstände in größerer 
Entfernung kleiner erscheinen (2,79; 1,37). Eine solche Erfahrung aber gibt 
es, wie schon Koffka bemerkt (33, 149) im Stubenraum sicher nicht. Ein- 
facher läßt sich der Tatbestand unter Zugrundelegung unserer Auffassung 
verständlich machen: Weil die Vp. nicht imstande ist, in der verlangten 
größeren Entfernung vorzustellen, so fällt sie in die typische Verhaltungs- 
weise zurück und zieht die Bilder in den Nahraum hinein. — Auf der anderen 
Seite ist es wiederum die vorstellige Verhaltungsweise, die zu einer Ver- 
größerung der Bilder bei Annäherung des Schirmes bis auf 25 cm führt 
(ebenda). Indem sie die Isolierung der Eindrücke von der aufdringlichen 
Umwelt anstrebt, erwirkt sie da, wo der Schirm in den Nahraum selber 
hineinrückt, eine Erweiterung des Raumerlebnisses, die, vielleicht durch den 
Gedanken an die ursprüngliche Entfernung des Objektes veranlaßt (50cm), 
nicht selten noch über diese Ausgangsstellung hinausgeht. Damit sind wir 
auf einen weiteren Faktor gestoßen, der sich gerade bei der Raumgebung und 
Mächtigkeitsbestimmung des VB in zahlreichen Fällen auswirken wird. Mit 
dem vorstelligen Verhalten verbindet sich oftmals eine Besinnung auf die 
in der ursprünglichen Wahrnehmung gegebenen Verhältnisse, die in den Mar- 
burger Experimenten durch die den VB gewidmete kurze Einprägungsdauer ge- 
radezu provoziert wurde (siehe hierzu weiter oben S. 322). Wo also ein 
` stereotyper Vorstellungsnahraum noch nicht entwickelt war und die Raum- 
gebung durch die Schirmbewegung in Unsicherheit und Schwanken geriet, 
mußte man sich bemühen, auf das ursprüngliche Raumschema und auf die 
ihm entsprechende Mächtigkeit des Eindruckes zurückzugehen und gewisser- 
maßen eine Korrektur der gegenwärtigen Verhältnisse vorzunehmen. Es ist 
wohl verständlich, wenn bei einer solchen Korrektur durch das Wissen das 
Ziel häufig übersprungen, wenn beispielsweise bei Annäherung des Schirmes 
der Eindruck, in dem Bestreben, ihn an seinen ersten Ort zu verlegen, in 
übertrieben weiter Entfernung erlebt wird und sich demgemäß vergrößert. — 
Übrigens dürfte die Größe des VB nicht selten auch durch Verhältnis- 
bestimmungen konstruiert worden sein. 


Wir kommen zur Größenänderung des AB. Vergegen- 
wärtigen wir uns auch hier die ihm gegenüber eingeschlagene 
Verhaltungsweise des gewöhnlichen Sehens, wie es in der Wahr- 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 351 


nehmung stattfindet. Frei und ungezwungen ist der Blick des 
Subjektes in den typischen Gesamtraum gerichtet, in dem es 
sich befindet, in dem es sich bewegt, auf den es durch die 
herrschende Situation, durch die augenblickliche Beschäftigung 
mit allen Sinnen eingestellt ist, sei es der Landschaftsraum 
beim Spaziergang, der Hof- oder Straßenraum beim Spiel, der 
Stuben- oder Tischraum bei der Arbeit, der Buchraum beim 
Lesen oder der engste Fingerraum bei der Beschäftigung mit 
kleinsten Dingen. Betrachten wir daraufhin die Marburger Ex- 
perimente, die unter den oben geschilderten Bedingungen an- 
gestellt wurden, so können wir sagen, daß hier im allgemeinen 
der Tischraum als Gesamtsituation erlebt wurde, in dem nun 
die genauere Raumgebung, die erlebte Entfernung durch die 
wechselnde Stellung des Schirmes wohl angeregt, dennoch ihr 
gegenüber mehr oder weniger frei und durch verschiedene 
andere Motive im einzelnen beeinflußt werden konnte. So mag 
nicht selten schon in der Ausgangsstellung der Schirm als zu 
nahe befindlich erlebt werden. Man ist nicht gewöhnt, seine 
Bilder in dieser Engigkeit zu sehen, und so kommt es, daß bei 
bloßer Intention auf das AB, unbekümmert um die faktische 
Entfernung der Projektionsfläche, allsogleich ein weiteres 
Raumschema auftaucht und die Mächtigkeit des Bildes im 
Sinne einer Vergrößerung beeinflußt (1, 42; 4, 119; 16, 316£.). 
Die für diese Tatsache vorgebrachte Erklärung Jaenschs 
durch schwach epileptoiide Anlage gewisser Eidetiker, mit 
der im allgemeinen Makropsie verbunden sei (25), läßt sich 
nicht auf die Fälle anwenden, wo das AB in der Ausgangs- 
stellung kleiner gesehen wird (1, 42; 4, 119). Unsere Auf- 
fassung von der Größenbestimmung durch das jeweils auf- 
tauchende Raumschema macht beide Möglichkeiten verständlich. 

Es ist nicht anders zu erwarten, als daß die Fortbewegung 
des Schirmes in größere Entfernungen beim gesehenen AB die 
Raumgebung ungleich stärker beeinflußt als beim VB. Während 
dort infolge der vorstelligen Verhaltungsweise bei Nichtbeach- 
tung der Umweltänderungen ein Nahraum bevorzugt ist und 
im Bewußtsein zu verharren strebt, ist hier, beim AB, der Blick 
frei in die Umwelt hineingerichtet; man sieht, wie sich der 
Raum eröffnet und daß man den ganzen Tisch nun vor sich 
hat. Dadurch angeregt, taucht ein weiteres Raumschema auf. 
das jedoch, nach dem oben Gesagten, keineswegs durch die 
meßbare Entfernung des Schirmes notwendig begrenzt sein 


352 Franz Scola, 


muß. Erinnern wir uns, daß primär nicht der Schirm, sondern 
das Bild gesehen wird; mag also die Fortbewegung des Schirmes 
immerhin eine starke Anregung sein für das Wachwerden 
einer erweiterten Raumvorstellung, so ist doch seine faktische 
Entfernung durchaus nicht immer maßgebend für die Größe 
des AB. Andere Faktoren treten hinzu: Vielleicht gibt es eine 
typische Weite, in der die Vp. ihre Bilder mit Vorliebe sieht, 
wenn sie beispielsweise auf dem Sofa sitzt und dösend die 
Tischplatte betrachtet. Vielleicht ist es die Eigenart des Ob- 
jektes. Man will es eben dort in der Mitte des Tisches und 
nicht wie an den Schirm geklebt erblicken. Übrigens lassen 
sich nicht alle Dinge auch überall wiedersehen. Wir hörten 
früher, daß die Meinung, der Gegenstand sei noch da, die Er- 
zeugung eines AB begünstigt. In solchem Falle wird selbst- 
verständlich auch das dem ursprünglichen Orte entsprechende 
Raumschema im Bewußtsein bleiben. Schließlich mag bei 
Jugendlichen nicht selten ein allgemeiner Zug in ‘die Weite 
bestehen +), so daß die durch die Schirmbewegung veranlaßte, 
erlebte Entfernung noch über die faktisch mit dem Schirm 
gegebene hinausgeht. — Aus den genannten, die Raumgebung 
beeinflussenden Faktoren sind nun die Größenverhältnisse des 
AB zwanglos zu erklären: Auf der einen Seite nämlich die un- 
verkennbare Tendenz, sich weit mehr als das VB dem 
Emmertschen Gesetz zu nähern, auf der anderen Seite aber 
die Tatsache, daß dieses Gesetz nur in wenigen Fällen exakt 
verwirklicht ist, und daß schließlich beim AB jede Art der 
Größenänderung beobachtet werden kann (1, 42; 3, 93f£f.; 
4, 123; 5, 63). Im allgemeinen wird man sagen können: Die 
die Mächtigkeit des AB bestimmende Raumvorstellung ent- 
spricht um so weniger der faktischen Entfernung des Schirmes, 
je mehr Interesse das gesehene Objekt beansprucht, je mehr 
also der Schirm unbeachtet bleibt, so daß die von uns auf- 
geführten oder ähnliche Motive für die Raumgebung wirksam 
werden. Dem entspricht es, wenn nach den Krellenberg- 
schen Befunden AB von interessanten Objekten. mehr, solche 
von einfachen Farbenquadraten weniger vom Emmertschen 
Gesetze abweichen (5, 63). 


1) Wir erinnern hier an die gerade bei Jugendlichen häufige Erscheinung 
des Wachträumens, wobei die Augen in eine unbestimmte Weite gerichtet und 
eingestellt sind. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 353 


Damit haben wir gleichzeitig eine allgemeine Formel für 
die Größenänderung des NB gefunden. Bei Analyse des ihm 
gegenüber eingeschlagenen Verhaltens kamen wir zu dem Er- 
gebnis, daß das NB, weil es sich als bedeutungslose Erscheinung 
herausstellt, mehr und mehr übersehen wird, und daß selbst 
bei seiner willkürlichen Erzeugung primär der Hintergrund im 
Blickpunkt steht, bei dessen Fixation das NB nur beiläufig er- 
scheint, ohne als solches intendiert zu sein. Dieses Übersehen 
des NB ist bei Erwachsenen, zumal, wenn sie sein Wesen 
und seine Erzeugungsbedingungen kennen, zur ständigen Ge- 
wohnheit geworden, und es wird nicht leicht eine Situation 
geben, die diese Gewohnheit erschüttern könnte. Es paßt sich 
also das mit der NB-Erzeugung verbundene Raumerlebnis der 
jeweiligen Schirmstellung an und führt zu einer Größen- 
änderung, die dem Emmertschen Gesetz entspricht!) (2,76). 

Anders beim Jugendlichen. Wie wir fanden, kommt es 
nicht selten vor, daß er NB mit AB verwechselt oder doch 
seinen NB eine ähnliche Verhaltungsweise entgegenbringt wie 
den gleicherweise gesehenen AB; d.h. er ist bei Erzeugung des 
NB auf dieses selbst gerichtet; er will es sehen, will es be- 
obachten, so daß ihm gegenüber ähnliche Faktoren für die 
Raumgebung wirksam werden, wenn auch in schwächerem 
Maße, wie wir sie beim AB kennen lernten. Das wird um so 
mehr der Fall sein, je kürzer die Fixationsdauer bei der Ein- 
prägung war, weil dann, infolge der Schwäche der Nach- 
erregung, das Bestreben eintritt, das NB durch eigentliche 
Reproduktion zu unterstützen, während umgekehrt die längere 
Fixation den Schirm und seine faktische Entfernung viel 
mehr in den Vordergrund treten läßt und das stumpfe 
Fixieren jede Intention auf das NB selbst unterdrückt (1, 38: 
2, 77; 24, 10). — Übrigens ist durchaus nicht einzusehen, 
warum nur der Eidetiker ein solch interessiertes Verhalten 
seinen NB gegenüber einschlagen sollte. Auch der nicht- 
eidetische Jugendliche, in Verwunderung über das eigenartige 
Phänomen, dessen Herkunft er nicht kennt, wird glauben, er 
habe es hier mit einem Eindruck zu tun, der noch mehr als 
seine gewöhnlich schwachen Vorstellungen Beachtung verdient. 


1) Es wäre zu untersuchen, ob nicht auch etliche der von Koffka (Über 
die Messung der Größe von Nachbildern) festgestellten, geringen Abweichungen 
bei den verschiedenen Meßverfahren auf eine Beeinflussung der Raumvor- 
stellung zurückzuführen sind. 

Archiv für Psychologie. LII. 23 


354 Franz Scola, 


So können auch bei ihm andere Faktoren als nur die Schirm- 
entfernung auf die Raumgebung der NB und dadurch auf ihre 
Größe Einfluß gewinnen. Wir halten es nicht für zweckmäßig 
und dem objektiven Tatbestand ganz entsprechend, wenn in 
solchen Fällen von »rudimentären AB« gesprochen wird (Gott- 


heil). 


Unsere Auffassung, es sei die Größe der Bilder durch das jeweilig auf- 
tauchende Raumschema bedingt, wird indes von einem Einwand bedroht: 
Gewiß ändert sich auch in der Wahrnehmung die Mächtigkeit eines Gegen- 
standes mit dem Raum, in dem er erlebt wird, aber trotz veränderter Mächtig- 
keit bleibt die gemessene Projektionsgröße abhängig von der objektiven Ent- 
fernung der Maßfläche. Wenn wir beispielsweise, um auf den oben ange- 
führten Fall zurückzugreifen, die Fliege, die uns, da wir im Straßenraum 
befangen sind, mit der Mächtigkeit eines Vogels gegeben ist, vor den Augen 
messen, so wird die Zirkalweite doch wieder nur die Größe der Fliege 
angeben. Ebenso müßten die subjektiv erzeugten Eindrücke, wennschon sie 
unter anderem Raumschema erlebt werden, dennoch den geometrisch-op- 
tischen Gesetzen der Größenänderung bei Schirmentfernung folgen, da die 
Messung der Bilder auf dem Schirm geschieht. — Diesem Einwand jedoch liegt 
eine falsche Voraussetzung zugrunde, und wir benutzen die Gelegenheit, unsere 
Auffassung von der Größe subjektiver Eindrücke nochmals zu formulieren. 
Dabei gehen wir von einem von Lindworsky des öfteren ausgesprochenen 
Gedanken aus: Nicht fertige Gegenstände scheinen in unser Bewußtsein ge- 
wissermaßen hinein, sondern wir bauen die Gegenstände, bildlich gesprochen. 
in der Außenwelt auf, und die Bausteine dazu — um in dem Bilde zu bleiben — 
sind teils peripher bedingte Empfindungen, teils zentral erregte Vorstellungen !). 
Auf unsere Frage angewandt, läßt sich also sagen: Die Mächtigkeit eines 
Wahrnehmungsgegenstandes ist ein Verschmelzungsprodukt von Empfindungen, 
die im Netzhautbild mit zugehörigem Sehwinkel ihr physiologisches Korrelat 
besitzen, und von hinzutretenden Vorstellungen, von denen ein gewisses Raum- 
schema im Rahmen der uns beschäftigenden Fragen besondere Beachtung ver- 
dient. Die so in die Außenwelt hineingebaute Mächtigkeit der Eindrücke ist 
es, die uns in naiver Einstellung überall gegeben ist, eben weil wir beim 
Aufbau der Wahrnehmungswelt die aus früherer Erfahrung stammenden Vor- 
stellungen nie unberücksichtigt lassen. — Was geschieht aber, wenn wir die 
Projektionsgröße der Gegenstände in bestimmter Entfernung mit dem Zirkel 
messen, oder wenn wir, wie etwa der Maler, sie auf einem vors Auge ge- 
haltenen Maßstab visieren? Dann werden eben infolge der erzwungenen 
Projektion der Gegenstände auf eine Maßfläche die zu dem Empfindungs- 
komplex hinzutretenden subjektiven Vorstellungen, also auch das in gewöhn- 
licher Einstellung erlebte Raumschema, künstlich unterdrückt. Dann wird tat- 
sächlich nicht mehr die Mächtigkeit, sondern die dem Netzhautbikl ent- 
sprechende Sehwinkelweite in den Zirkel genommen. — Jeder, der einmal 


1) Daß deshalb ein solcher Aufbau der Wahrnehmungswelt nicht schon 
in der frühesten Entwicklungsphase stattfinden kann, sondern Erfahrungen 
voraussetzt, die Vorstellungen zurücklassen, ist selbstverständlich. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 355 


Gelegenheit hatte, Kinder das Visieren von Gegenständen mit einem Stäbchen 
zu lehren, wird wissen, wie schwer diese künstliche Operation ist für einen, 
der von Sehwinkelverhältnissen nichts weiß, und der deshalb nicht ohne 
weiteres imstande ist, das rein empfindungsmäßig Gegebene zu beachten und 
die mit dem Gegenstand auftauchende Raumvorstellung zu unterdrücken. Man 
wird immer wieder feststellen können, daß Kinder die den entfernten Gegen- 
ständen entsprechende Projektionsausdehnung viel zu groß auf dem Visier- 
stäbchen abgreifen. Sie übertragen also nicht einfach die Netzhautbildgröße 
oder besser die Sehwinkelweite, sondern die Mächtigkeit des Eindruckes in 
die Maß- oder Projektionsfläche hinein. Mit anderen Worten: Gegenüber der 
durch die Projektionsfläche gegebenen objektiven Entfernung setzt sich die 
mit dem Gegenstand verbundene Raumvorstellung durch und macht sich bei 
der Größenbestimmung des Eindruckes geltend. — Selbst wenn man als Er- 
wachsener die geometrisch-optischen Projektionsverhältnisse der Dinge kennt 
und einen bedeutenden Unterschied zwischen Sehgröße und Projektionsgröße 
vor dem Experiment erwartet, ist man doch immer wieder erstaunt über die 
frappante Kleinheit entfernt stehender Gegenstände, die monokular auf ein 
Visierstäbchen projiziert werden. Und vergleicht man hernach in ungezwungener 
Einstellung den Gegenstand selbst mit der abvisierten Ausdehnung, so will 
man nicht glauben, daß dergestalt klein der Gegenstand erscheinen soll. 


Übertragen wir nun den oben angeführten Gedanken vom Aufbau der 
Dinge in der Außenwelt auf die subjektiv erzeugten Eindrücke, dann müssen 
wir die ganz bedeutsame Einschränkung machen, daß hier nicht mehr eine 
aktuelle Einwirkung des Gegenstandes auf das Sinnesorgan stattfindet, daß 
demnach eine Reduktion der Erscheinungsgröße auf die Sehwinkelgröße (wie 
in der Wahrnehmung) durch künstliche Projektion nicht vorgenommen werden 
kann. Es wird also nicht Sehwinkelgröße eingeprägt und gemessen, sondern 
Mächtigkeit wird unter Berücksichtigung des jeweils erlebten Raumes ge- 
staltet. Diesen Tatbestand hatten wir im Sinne, als wir weiter oben sagten, 
es handle sich beim Zustandekommen der NB-Größe um einen ähnlichen 
Vorgang, wie er bei der Bildung der Sehgröße stattfindet. — Aber, könnte 
man einwenden, beim NB besteht wie in der Wahrnehmung ein Netzhautbild ; 
konstituiert sich doch der Begriff des NB gerade dadurch, daß die primäre 
Erregung nachklingt. Also wird auch bei Messung des NB Sehwinkelgröße und 
nicht Mächtigkeit gemessen. — Darauf erwidern wir folgendes: Auch wir 
vertreten allerdings die Auffassung, daß beim NB die primäre Erregung in 
der Netzhaut nachklingt, eine Auffassung, die in der Heringschen Theorie 
von der Umstimmung der Netzhautelemente eine kräftige Stütze besitzt!). 
Aber diese Auffassung ist doch immer nur Theorie, die auf Grund der Tat- 
sachen gebildet bezw. umgebildet werden muß. Die Tatsachen nun lassen 
sich dahin zusammenfassen: Das NB folgt nicht in allen Fällen den geometrisch- 
optischen Gesetzen, es verhält sich also nicht immer 80, wie es von einem 


1) Die Annahme einer Nacherregung der Netzhaut beim NB kann übrigens 
auch den von Bocci untersuchten »zerebralen NB« gegenüber bestehen bleiben, 
die im einen Auge eingeprägt und mit dem anderen gesehen werden. Denn 
man kann sagen: Das Netzhautbild ist da und bedingt einen Eindruck, für 
dessen Auftreten es prinzipiell gleichgültig ist, welches Auge geöffnet und 
welches geschlossen wird. 

Pr 


356 Franz Scola, 


größenkonstanten Netzhautbild zu erwarten wäre. Diesem Tatbestand muß 
die Netzhautbildtheorie angepaßt werden, was auf Grund unserer allgemeinen 
Anschauungen von der Größenänderung der Bilder sehr wohl möglich ist. 
Denken wir uns, daß beim NB eine bestimmte Stelle der Netzhaut sich 
in Erregung befindet. Auf die gleiche Stelle wirken nun aber auch bestimmte 
Reize der Umwelt ein, die ständig bereit sind, das NB zu verdrängen. Die 
Folge davon ist die Unbeständigkeit, die es für gewöhnlich besitzt und in- 
folge derer schon die geringste Störung genügt, es zum Verschwinden zu 
bringen. Mögen nun immerhin die NB der jugendlichen Eidetiker nach dem 
Bericht der Marburger durch größere Intensität und Beständigkeit ausgezeichnet 
sein (2, 77; 29, 12; 29, 106), so ist doch anzunehmen, daß zum mindesten 
solche Teile des Bildes, die gänzlich unbeachtet bleiben, die infolge eines 
gewissen Verhaltens völlig vernachlässigt werden, sich gegenüber den Wahr- 
nehmungsinhalten nicht behaupten können. Daraus aber ergibt sich die Mög- 
lichkeit einer Beeinflussung der Größe des Bildes durch die oben angegebenen 
Faktoren: Die Randteile des NB, die der durch ein gewisses Raumerlebnis 
bestimmten Mächtigkeit nicht entsprechen und über sie hinausgehen, werden 
infolge ihrer gänzlichen Vernachlässigung von den eindringlichen Wahr- 
nehmungsinhalten verdrängt, fallen gewissermaßen ab und bleiben ungesehen. 
Damit stimmt die Beobachtung überein, daß die längere Einprägungsdauer die 
Größenänderung im Sinne einer Annäherung an das Emmertsche Gesetz 
. beeinflußt (2, 77; 24, 10), indem sie die Nacherregung festigt und dadurch 
dem »Abfallen« der Ränder entgegenwirkt. 

Die hier vertretene Ansicht, daß die Größe des NB nicht von der ob- 
jektiven Entfernung der Projektionsfläche, sondern von der jeweils er- 
lebten Entfernung des Bildes abhängt, finden wir übrigens bestätigt durch 
die Ergebnisse der von H. Frank angestellten Versuche!), in denen als 
Hintergrund die perspektivische Zeichnung eines möglichst langen Korridors 
diente. Das NB erschien kleiner oder größer, je nachdem es auf eine Stelle 
projiziert wurde, die als vorn oder hinten liegend gedacht war (a.a. 0. S. 33). 

Mit der möglichen Annahme, es handle sich bei der durch Entfernungs- 
änderung hervorgerufenen Größenänderung des VB um ein Verhalten, das 
mit der Größenänderung des NB in eine Linie zu stellen sei, beschäftigt sich 
G. E. Müller (Anal. d. Ged.-Tätigkeit 379) und weist sie zurück mit dem 
Hinweis auf die auch von ihm beobachtete Tatsache, daß die Größe von Vor- 
stellungen im allgemeinen sehr weit von der aus den geometrischen Ver- 
hältnissen errechenbaren Größe abweicht. Selbstverständlich wendet sich 
dieses Argument nicht gegen die hier vertretene Anschauung; denn es geht 
von der Voraussetzung aus, daß eine Vorstellung stets in der Entfernung er- 
lebt wird, in der sich die Projektionsfläche vom Auge des Beobachters be- 
findet, eine Voraussetzung, die eben, wie wir zu zeigen versuchten, nicht für 
alle Fälle Geltung besitzt. — Übrigens deutet Müller selbst gelegentlich 
(a. a O. S. 370£.) auf die Möglichkeit einer Nichtübereinstimmung von 
faktisch gegebener und vorstellungsmäßig erlebter Entfernung hin: »Fordert 
man Z. B. die Vp. auf, sich bei geschlossenen Augen eine bestimmte Ziffer 
zuerst in bequemer Lesedistanz und dann in der bedeutend größeren Ent- 


1) H. Frank, Über die Beeinflussung von Nachbildern durch die Ge- 
stalteigenschaften der Projektionsfläche, Psych. Forsch. IV, 32 ff. 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 357 


fernung der gegenüber befindlichen Zimmertür vorzustellen, so kann es leicht 
geschehen, daß die Vp. dem zweiten Teile dieser Aufgabe nicht in der Weise 
nachkommt, daß sie sich die Ziffer von ihrem gegenwärtigen 
Standpunkte aus an der Türe oder ungefähr in der Entfernung der 
Türe vorstellt, sondern in der Weise, daß sie innerlich vor die Türe ver- 
setzt ist und die Ziffer in Lesedistanz vor sich sieht ... Auch wenn man sich 
zunächst die Türe mitsamt ihrer Entfernung möglichst deutlich vergegen- 
wärtigt hat, besitzt sie doch, wie eine Vp. bemerkt, eine Tendenz, in der Nähe 
zu erscheinen, sowie man die Aufmerksamkeit dem an der Türe vorzustellenden 
Objekte zuwendet.« — Wie bei geschlossenen Augen, so kann diese Tendenz 
aber auch bei geöffneten Augen sich durchsetzen, zumal dann, wenn infolge des 
Gesamtverhaltens alles Gesehene geflissentlich aus dem Bewußtsein ver- 
drängt wird. 

G. E. Müller führt andere Faktoren an, die auf die Größe der Vor- 
stellungen Einfluß gewinnen können (a. a O. S. 381ff.). So z. B. die all- 
gemeine Erfahrung, daß ein Objekt in der Ferne kleiner erscheint als in 
der Nähe. — Eine solche Erfahrung aber gibt es, wie wir schon weiter oben 
sagten, im Stubenraum sicher nicht. — Nun sind wir jedoch keineswegs der 
Meinung, es sei ausschließlich das Raumverhalten für die Größe subjektiv 
erzeugter Bilder maßgebend. Die Tendenz, die gewußten Größenverhältnisse 
der Dinge auch in der Vorstellung zu erhalten; das Bestreben, deutlich zu 
sehen bezw. vorzustellen; der Einfluß der Projektionsfläche und anderes mehr 
werden beim Zustandekommen der Bildgröße mit wirksam sein. Wir waren 
berechtigt, alle derartigen Faktoren, sofern die Stärke ihres Einflusses nicht 
von der Eigenart der Verhaltungsweise bei den einzelnen Bildern abhängig 
ist, unberücksichtigt zu lassen. Denn nur auf die Erklärung der typischen 
Unterschiede der Größenänderung von VB, AB und NB, nicht aber auf die der 
Größenänderung subjektiv erzeugter Eindrücke überhaupt, waren wir bei 
unsern Überlegungen gerichtet. 


Die Lokalisation der Bilder. 


Es entsteht hier die Frage: Wenn infolge des eigenartigen 
Gesamtverhaltens, das den Bildern in verschiedener Weise ent- 
gegengebracht wird, eine bestimmte Raumvorstellung aufzu- 
tauchen pflegt, die der objektiven Entfernung des Schirmes 
sehr häufig nicht entspricht, muß dann nicht von den Vpn. 
eine Distanz zwischen Bild und Hintergrund beobachtet werden. 
müssen die Bilder nicht mehr oder weniger weit vor bzw. hinter 
dem Schirm lokalisiert erscheinen? In den Versuchen über 
Größenänderung aber wird von einer Distanz zwischen Bild 
und Schirm an keiner Stelle berichtet, und so scheint es, als 
sei unsere Erklärung nicht aufrechtzuerhalten. 

Zur Lösung dieser Schwierigkeit verweisen wir auf das 
weiter oben Gesagte über das Verhältnis von Raumgebung und 
Lokalisation. Folgendes fügen wir ergänzend hinzu: Die die 
Raumgebung eines Eindruckes bewirkende Raumvorstellung ist 


358 Franz Scola, 


weitgehend unabhängig von einzelnen, bestimmten, jetzt hier 
wahrgenommenen Dingen; sie stellt sich vielmehr dar als ein 
sehr allgemeines Schema von der oftmals (übrigens nicht nur 
optisch) erlebten Eigenart der Dinge in »diesem Raum«, von 
ihren räumlichen Beziehungen zu mir und von dem Verhältnis 
und von der Einstellung meines wahrnehmenden und handeln- 
den Organismus zu ihnen, sowie von dem möglicherweise ihnen 
gegenüber einzuschlagenden Verhalten. Es sind also z. B. 
nicht bestimmte, ferne Gegenstände, sondern es ist gewisser- 
maßen das Fernsein der Gegenstände selbst, das mir in einer 
solchen Raumvorstellung, verbunden mit vielfältigem Sachver- 
haltswissen, schematisch gegeben ist und sogar bei geschlossenen 
Augen gegeben sein kann. Nun braucht das Vorhandensein und 
die Wirksamkeit einer solchen schematischen Raumvorstellung 
auf den gehabten Eindruck nicht immer klar bewußt zu sein. 
Nehmen wir beispielsweise folgenden Fall: Wir betrachten ein 
Reklameschild, das in einer gewissen Entfernung vor einer 
Mauer aufgestellt ist. Seine Aufschrift interessiert uns der- 
gestalt, daß wir völlig in die Betrachtung versunken sind. 
Das dabei auftauchende Raumschema erhält durch das Schild 
seine Begrenzung, und der mit ihm gegebene Raum ist es, den 
wir ausschließlich erleben. Würden wir uns jetzt wegwenden 
und hernach gefragt werden, in welchem räumlichen Verhältnis 
Schild und Mauer zueinander stehen, wir würden antworten: 
Nun, das Schild wird wohl an die Mauer angeheftet sein. — 
Wird aber unsere intensive Betrachtung durch irgendeinen 
Anlaß, etwa durch die soeben angeführte Frage, unterbrochen. 
dann verteilt sich sogleich die Aufmerksamkeit auf ein größeres 
Feld, die Mauer wird mitbeachtet, und plötzlich kommt es 
uns zum Bewußtsein, daß der mit der Mauer gegebene Raum 
weiter ist als der durch das Schild begrenzte; wir erleben eine 
Distanz, die zwischen beiden Gegenständen besteht und können 
nun angeben, daß das Schild nicht an die Mauer angeheftet 
ist, sondern in einer gewissen Entfernung vor ihr sich be- 
findet. — In der gleichen Lage mögen auch die Beobachter in 
den Marburger Experimenten gewesen sein. Der Instruktion 
gemäß wurden die Bilder etwa in bezug auf ihre Deutlichkeit, 
Intensität und Größe betrachtet, während das räumliche Ver- 
hältnis von Bild und Hintergrund durchaus keine Beachtung 
fand. So war es auch nur das mit dem Bild auftauchende 
Raumschema, das erlebt wurde und das, weil man in ihm 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 359 


gänzlich befangen war, eine Lokalisation der Eindrücke im 
Verhältnis zum Schirm oder zu anderen Umweltgegebenäeiten 
nicht veranlassen konnte. Es ist also sehr wohl verständlich, 
wenn die Vpn. über die Stellung der Bilder zum Hintergrund 
spontan nichts aussagen. — Erst als Gößer die Instruktion 
erteilte, den Hintergrund und das Verhältnis des Bildes zu 
ihm zu beachten und zu beschreiben, und erst, als er an 'die 
jugendlichen Eidetiker die direkte Frage stellte: Scheint das 
Bild sich vor, auf oder hinter dem Hintergrund zu befinden? 
(4, 100 und 102), treten die Vpn. gewissermaßen aus ihrer 
Versunkenheit heraus, das Aufmerksamkeitsfeld erweitert sich, 
und es wird ihnen ein Tatbestand bewußt, an den sie bis jetzt 
noch gar nicht gedacht haben: daß nämlich der Schirm in 
einem anderen Raume liegt als in dem, der durch das Bild 
begrenzt ist. »In zahlreichen Fällen zeigt sich die Tendenz 
der Loslösung, namentlich des AB und VB vom Hintergrund« 
(4, 104). Damit aber bestätigt sich unsere Annahme, daß das mit 
den Bildern auftauchende Raumschema mit der faktischen Ent- 
fernung des Schirmes sehr häufig nicht übereinstimmt. 
Wenden wir uns den genaueren Versuchsergebnissen zu. 
Ganz allgemein sagt Gößer vom VB (4, 106): »Das VB war 
bald an einem näheren, bald entfernteren Ort des Wahr- 
nehmungsraumes oder in einem Vorstellungsraum, der zum 
Wahrnehmungsraum keine Beziehung hat, oder im Kopf lokali- 
siert.« Verstehen wir hier den Ausdruck »im Vorstellungsraum« 
in dem früher (S. 335£.) besprochenen Sinne einer radikalen 
Verdrängung der Umweltgegebenheiten zugunsten eines Raum- 
teiles, der jetzt gar nicht gesehen werden kann, so finden wir 
mit den übrigen Wendungen unsere Ansicht über das Raum- 
verhalten beim VB bestätigt. Denn auch der Ausdruck »im 
Kopfe« darf kaum wörtlich und in der Bedeutung gefaßt 
werden, als ob es sich um die Vorstellung des Raumes unter 
der Schädeldecke handele. Der Eindruck, das Bild sei im 
Kopf lokalisiert, wird offenbar nur vorgetäuscht durch das Be- 
mühen, es weitmöglichst von den Umweltgegebenheiten zu iso- 
lieren, wodurch die Vorstellung eines Raumes auftaucht, der 
so eng ist und so nahe vor meinen Augen liegt, daß dort in 
der Regel nie etwas gesehen werden kann. — Die Lokalisation 
des VB an einem entfernteren Ort entspricht der früher be- 
sprochenen Tatsache (S. 349), daß der Vorstellungsnahraum 
durchaus nicht für alle Individuen einen Radius von höchstens 


360 Franz Scola, 


50 cm besitzen muß, weshalb auch VB, wie wir fanden, schon 
in der Ausgangsstellung den ursprünglich eingeprägten Gegen- 
stand an Größe übertreffen können. — Weitere Untersuchungen 
über die Lokalisation von VB liegen nicht vor. 

Jaensch untersucht die Lokalisation von AB in der Aus- 
gangsstellung (7, 50£.) und findet, daß 41 von 50 Vpn. das 
AB unmittelbar in der Ebene des Grundes sehen; 7 Vpn. er- 
blicken es zwischen Auge und Hintergrund, während 2 Be- 
obachter es hinter dem (dann durchsichtig erscheinenden) 
Schirm lokalisieren. Nach dem Busseschen Ergebnis, nach 
dem die AB durchweg schon in der Ausgangsstellung ver- 
größert waren, müßten wohl mehr der letztgenannten Fälle 
(Lokalisation hinter dem Schirm) erwartet werden. Aber das 
Wissen von der Undurchsichtigkeit des Schirmes wird die meisten 
Vpn., auch wenn die auftauchende Raumvorstellung einer 
größeren Entfernung entsprach, daran gehindert haben, die dem- 
gemäße Lokalisation der Bilder vorzunehmen. Durch den Hin- 
weis auf das räumliche Verhältnis von Bild und Hintergrund 
wird das sonst übliche Raumschema verdrängt worden sein und 
das Raumerlebnis sich der objektiven Entfernung der Pro- 
jektionsfläche angepaßt haben +). 

Der Zusammenhang der Raumgebung und des Raumver- 
haltens mit der Art der Bilder einerseits und mit der Ent- 
fernung des Schirmes andererseits, den wir der Erklärung der 
Größenänderung zugrunde legten, tritt nun ganz deutlich in den 
von Gößer angestellten Loslösungsversuchen zutage (4, 106 
—110), in denen der Schirm von 125 bis 275 cm vom Auge 
des Beobachters weggerückt wurde. (Die Einprägung geschah 
auch hier in 50 cm Entfernung.) Das VB wurde wegen der 


1) Übrigens kann hier die Möglichkeit bestehen, die G. E. Müller für 
die willkürliche Erzeugung oder Verdeutlichung von unbeachteten Vorstellungen 
ansetzt. »Es ist allgemein gesprochen immer der Zweifel berechtigt, ob wir 
die Beschaffenheit eines Vorstellungsbildes, das nur als unbeachtete Grund- 
lage oder Mitgrundlage einer durch ihren Erfolg für uns wichtigen Repro- 
duktionstendenz dient, dadurch wirklich näher aufklären können, daß wir uns 
das Vorstellungsbild desselben Gegenstandes behufs näherer Charakterisierung 
... willkürlich zu erzeugen oder zu verdeutlichen suchen. Im letzteren Falle 
können sich mancherlei frühere Erfahrungen, Reflexionen, Suggestionen und 
sonstige Nebeneinflüsse in fälschender Weise mit geltend machen, die nicht 
wirksam sind, wenn das Vorstellungsbild in natürlicher Weise als Bestandteil 
des betreffenden durch Willkür nicht beeinflußten Gesamtvorganges auftritt« 
(G. E. Müller, Über das Aubertsche Phänomen, ZP. II, 49 S. 143 f.). 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 361 


Unbestimmtheit seiner Lokalisation in diese Untersuchungen 
nicht einbezogen. — Das Ergebnis entspricht durchaus unseren 
Erwartungen: Das AB löst sich durchweg weiter vom Schirme 
ab als das NB (4, 107f.), weil bei ihm, dank der AB-Ge- 
samtverhaltungsweise, neben der objektiv gegebenen Schirm- 
bewegung mannigfache andere Faktoren auf die Raumgebung 
Einfluß gewinnen können, während beim NB viel mehr die 
bloße Richtung auf den Schirm stattfindet und für das Auf- 
tauchen eines besonderen Raumschemas nur wenig Anlaß be- 
steht. — Da aber, wo die Tendenz vorhanden ist, den Eindruck 
in einem Raum zu erleben, der mit der Entfernung der Pro- 
jektionsfläche nicht übereinstimmt, wird sich diese Tendenz um 
so mehr geltend machen und die Raumdifferenz um so be- 
deutender. werden, je weiter der Schirm sich fortbewegt, wie 
es denn faktisch im Gößerschen Versuch sich zeigt: Die 
Loslösung der Bilder wächst im allgemeinen mit steigender 
Entfernung (ebenda). 

Der Loslösungsversuch wurde noch durch Einführung eines 
Störungsreizes (Pfiff) modifiziert und bietet dadurch die Mög- 
lichkeit, den Zusammenhang von Raumgebung und Größen- 
änderung unmittelbar zu beobachten. Schon Busse hatte fest- 
gestellt (1, 42), daß bei Störungsreiz eine Größenänderung der 
Bilder eintritt. In dem Gößerschen Versuch geht nun bei 
3 von 6 Vpn. mit dieser Größenänderung eine Änderung der 
Lokalisation parallel, d.h. die Bilder rücken näher an den 
Beobachter heran. Freilich könnte eine solche Parallelität der 
beiden Erscheinungsreihen auf Zufall beruhen. Wir glauben 
es jedoch wahrscheinlich gemacht zu haben, daß zwischen ihnen 
ein realer Zusammenhang besteht, indem sowohl die Größen- 
änderung als auch die Lokalisation von dem gleichen Faktor, 
nämlich dem jeweiligen Raumverhalten, abhängig ist. 

Wie der Einfluß des Störungsreizes auf Größenänderung 
und Lokalisation gemäß der hier vertretenen Anschauung kon- 
kret zu denken ist, wird im nachfolgenden Kapitel dargelegt. 

Wir übergehen die von Gößer durchgeführten weiteren 
Variationen des Loslösungsversuches, da sie im wesentlichen 
dasselbe Ergebnis zeitigten. 


Der Einflußvon Störungsreizen. 


Verschiedentlich führen die Marburger während der Be- 
trachtung der Bilder Störungsreize ein und lassen die dadurch 


362 Franz Scola, 


hervorgerufenen Veränderungen an den Bildern beobachten. Als 
Störungsreize dienten: die Aufhellung des Grundes (1, 39), ein 
Pfiff (1, 40; 4, 108), das leise Rezitieren eines Gedichtes 
(1, 41) und die Ersetzung des homogenen durch einen inhomo- 
genen Grund (2, 82f.; 4, 112); dadurch werden die GB in 
bezug auf ihre Größe, Gestalt und Lokalisation in der durch 
das VB-Verhalten im allgemeinen angedeuteten Richtung be- 
einflußt. So wächst die Loslösung des AB und NB vom Hinter- 
grund, und die Bilder werden kleiner bzw. größer, je nachdem 
sich der Schirm in bezug auf die Ausgangsstellung in größerer 
oder geringerer Entfernung befindet. Die Marburger geben 
diesem Tatbestande folgenden Ausdruck: Wird während der 
Beobachtung eines GB ein Störungsreiz auf die Beobachter aus- 
geübt, so hat das GB die Tendenz, auf eine höhere Ge- 
dächtnisstufe zu steigen (1, 43). 

Wir übergehen die Schwierigkeiten, die dieser Auffassung 
aus den Tatsachen heraus erwachsen, und die Koffka 
eingehend bespricht (33, 154ff.). Sie lösen sich sogleich, 
wenn wir bedenken, daß einerseits der Unterschied der Bilder 
im wesentlichen ein Unterschied in dem subjektiven Verhalten 
ist, und daß andererseits die in den Versuchen verursachte 
Störung gerade dieses subjektive Verhalten beeinflussen mußte. 
So werden beispielsweise die AB zumeist in einen Raum hin- 
eingezogen, der enger ist als der durch den Schirm begrenzte. 
Infolgedessen muß die Instruktion, die Eindrücke auf den 
Schirm zu projizieren, gewissermaßen als Zwang empfunden 
werden. Man bemüht sich, der Aufforderung wenigstens äußer- 
lich durch das Hinschauen auf die Projektionsfläche nachzu- 
kommen, wodurch die Bilder bis zu einem gewissen Grade 
durch die Schirmstellung beeinflußt werden. Aber diese Lage 
ist ungewohnt und unbequem; man fühlt sich nicht sicher; und 
wenn nun der Störungsreiz erfolgt, so fällt man von selbst 
und unwillkürlich in das leichtere und gewohnte Verhalten 
zurück, d.h. man zieht die Bilder in den Raum hinein, in 
dem sie, unbeeinflußt durch die Schirmstellung, im allgemeinen 
erlebt werden!). Der Effekt dieser Tendenz besteht in einer 


1) Köhler berichtet von einem Umwegversuch mit Chica, in dem diese 
zuerst das zielgerechte, aber ungewohnte und schwierige Verhalten einschlägt, 
plötzlich jedoch, durch ein Geräusch erschreckt, in das gewohnte, leichtere 
Verhalten zurückfällt und infolgedessen die Lösung der Aufgabe verfehlt (W. 
Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, 1921, S. 185). 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 363 


Verkleinerung oder Vergrößerung der Eindrücke, je nachdem 
der Schirmraum weiter oder enger ist als das mit der Er- 
zeugung der Bilder gewohnheitsmäßig auftretende Raumschema, 
was mit den Beobachtungen der Marburger übereinstimmt. 


Die Größe des Sehbezirkes bei den einzelnen 
Bildern. 


Indem wir mit der jeweils verschiedenen Gesamtverhaltungs- 
weise ein verschiedenes Raumerlebnis verbunden denken, finden 
wir gleichzeitig die Möglichkeit einer Erklärung der Ergeb- 
nisse, die sich in den Versuchen über die Weite des Seh- 
bezirkes herausgestellt haben. Die von Busse (1, 24f.) ver- 
wandte Versuchsanordnung war folgende: Von einem mit einem 
Wort (Donaueschingen) beschriebenen Papierstreifen wird ein 
VB, AB oder NB erzeugt; während der Betrachtung des Bildes 
durch die Vp. schiebt der Vl. einen mit Marke und Skala ver- 
sehenen Schieber von der oberen Peripherie her gegen die Mitte 
des Bildes vor. Die Vp. hat anzugeben, wann sie die Marke 
zuerst erblickt. Das Ergebnis ist: Im allgemeinen wird beim 
VB ein größerer Umkreis des Feldes überschaut als beim AB 
und bei diesem ein größerer als beim NB. Dabei sind die in- 
dividuellen Unterschiede sehr bedeutend, und bei 3 von 9 Vpn. 
ist der Gesichtsfeldumfang für alle Bilder gleich. 

Einen ähnlichen Versuch stellt Krellenberg an, der 
allerdings nur den Sehbezirk bei der Wahrnehmung und beim 
AB vergleicht. Dennoch sind seine Überlegungen und Ergeb- 
nisse hier heranzuziehen, weil sie für die Erklärung der Er- 
scheinungen berücksichtigt werden müssen. — Krellenberg 
geht von der Frage aus, ob und wie weit sich der »eidetische 
Zustand«, d. i. der Zustand bei Betrachtung eines AB, von dem 
gewöhnlichen Zustand bei der Wahrnehmung unterscheidet. 
Diese Frage soll entschieden werden durch Prüfung der 
Schwellen im eidetischen und gewöhnlichen Sehen. »Die Be- 
stimmung der Schwelle erfolgt auf optischem Gebiet durch 
Bestimmung der Gesichtsfeldgrenze« (5, 74). Da, wo das Ge- 
sichtsfeld im eidetischen Sehen kleiner ist als bei unge- 
zwungenem Verhalten in der Wahrnehmung, wird geschlossen, 
»daß sich bei diesen Vpn. der eidetische Zustand von dem un- 
gezwungenen Verhalten abhebt, ihm gegenüber etwas beson- 
deres darstellt, also nicht mehr das ganz normale Verhalten 


364 Franz Scola, 


bildet« (5, 77). Das Ergebnis der Krellenbergschen Unter- 
suchung ist folgendes: 7 von 15 Vpn. zeigen keinen oder doch 
keinen wesentlichen Unterschied in der Weite des Sehbezirkes, 
während bei den übrigen Vpn. ein solcher Unterschied in mehr 
oder weniger hohem Grade besteht, indem der Gesichtsfeld- 
umkreis in der Wahrnehmung größer ist als bei Betrachtung 
des AB. 

Gehen wir, den theoretischen Zweck unserer Arbeit ver- 
folgend, zuerst auf die Überlegungen Krellenbergs ein. 
Indem er für seine Untersuchungen den Begriff der Schwelle 
heranzieht, weist er auf eine mögliche Erklärung des Phä- 
nomens der Gesichtsfelderweiterung oder -verengung hin, die 
sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist. Wir können 
sagen: Je schwieriger einem Beobachter die Erzeugung eines 
Bildes ist, um so mehr muß er sich konzentrieren und um so 
mehr Energie muß auf das Bild verwandt werden. Diese 
Energie wird dem Umfeld entzogen, so daß dort auftretende 
Reize keine Empfindung auszulösen imstande sind. Ohne 
Zweifel werden dadurch zum großen Teil die individuellen 
Schwankungen sowohl bei Krellenberg als auch bei Busse 
zu erklären sein, daß z.B. eine Vp. die Marke schon 63 cm, 
eine andere erst 1 cm weit vom Fixationspunkte des NB sieht 
(1, 26). Auch der von Koffka (33, 129) geäußerte Ge- 
danke, der enge Sehbezirk beim NB sei eine Folge des durch 
die vorherige Fixation des Objektes veranlaßten »Anstarrens«, 
weist in diese Erklärungsrichtung. Ebenso wird manchem Be- 
obachter die Erzeugung einer bloßen Vorstellung leichter sein 
als die eines AB, das oft nur nach längerer, eingehenderer Be- 
trachtung der Vorlage entsteht, in die man sich vertiefen, 
mit der man sich innerlich beschäftigen muß. Das erfordert 
eine stärkere Konzentration und führt dadurch zu einer Ver- 
engung des Gesichtsfeldumkreises beim AB, wie sie, unseren 
Anschauungen gemäß, gerade bei erwachsenen Eidetikern in 
bedeutendem Maße beobachtet wurde (5, 89ff.). 

Aber diese Erklärung kann nicht für alle Fälle als aus- 
reichend gelten. Denn es gibt, wenigstens unter den Jugend- 
lichen, nicht wenige, die ihre AB mit der gleichen Leichtig- 
keit sehen, mit der sie ein Wahrnehmungsobjekt betrachten. 
Das beweist die Krellenbergsche Untersuchung mit dem 
Ergebnis, daß bei stark ausgeprägten Eidetikern Gesichtsfeld- 
umfang und Tastunterschiedsschwelle im eidetischen Zustand 


Über das Verhältnis von Vorstellangs-, Anschauungs- und Nachbild. 365 


und in der Wahrnehmung gleich oder doch wenig verschieden 
sind (5, 76). Es ist aber kaum anzunehmen, daß die Be- 
trachtung eines so mühelos und schlicht gesehenen AB mehr 
Konzentration verlangt als die Erzeugung eines VB. Da nun 
auch Busse stark ausgeprägte Eidetiker verwendet (1, 12), 
so muß zur Erklärung der von ihr festgestellten regelmäßig 
gradweisen Verschiedenheit des Gesichtsfeldumfanges bei den 
einzelnen Bilderarten ein anderer Faktor herangezogen werden. 
— Wir glauben, daß dieser Faktor in der Raumgebung zu 
suchen sei, die wir auch für die Größenänderung der Ein- 
drücke und für ihre Lokalisation verantwortlich machten. Be- 
trachten wir die Verhältnisse in der Wahrnehmung. Ange- 
nommen, wir befinden uns im Zimmer. Der Zimmerraum mit 
allen seinen Einzelheiten ist uns durchaus bekannt. Wir sind 
mit den verschiedenen Gegenständen vertraut, wir kennen 
ihren Standort und ihre räumlichen Verhältnisse zueinander 
und zu unserem gegenwärtigen Platze. Wir wissen im all- 
gemeinen, welche Veränderungen im Zimmer vor sich gehen 
können, und diese Veränderungen interessieren uns, da sie nicht 
nur dem Raume, sondern auch der Bedeutung nach uns nahe 
sind, und sie sind uns um so näher und bedeutungsvoller, je 
enger sich der Raumkreis um uns schließt. Alles das führt 
dazu, daß unser ganzer Organismus im Nahraum ungleich mehr 
auf die Breite eingestellt ist als im Fernraum; denn werfen 
wir den Blick zum Fenster hinaus, dann ist es nicht der ganze, 
möglicherweise wahrnehmbare Umkreis von Gegenständen, son- 
dern es ist nur ein schmaler Ausschnitt aus der vor uns 
liegenden Welt, häufig nur ein einziges Objekt, das wir ins 
Auge fassen. Bedenken wir, wie klein dieses Objekt ist im 
Verhältnis zur Weite des Horizontes, während im Nahraum 
schon dieses vor mir liegende Blatt Papier einen nicht unbe- 
deutenden Teil des Sehraumes darstellt. Auch bin ich in der 
Ferne nicht so bewandert, um Dinge und Geschehnisse, die 
seitwärts vom Interessenpunkt gelegen sind, schnell erfassen zu 
können, was sich schließlich dadurch erübrigt, daß die Welt, 
je weiter sie sich entfernt, an unmittelbarer Bedeutung für mich 
und meinen Organismus verliert. Nicht unwesentlich scheint 
für diese Tatsache auch die Verengung der Wahrnehmungsmög- 
lichkeit mit zunehmender Entfernung in den anderen Sinnes- 
gebieten (Gehör, Getast). So können wir sagen: Je näher 
der Raum ist, den ich erlebe, um so mehr geht er relativ in 


366 Franz Scola, 


die Breite; je entfernter er ist, um so enger wird relativ der 
Bezirk, der mir bei ruhendem Blick vom Sehraum gegeben ist. 
Man könnte von einem Keil sprechen, den das Sehorgan in die 
Welt hineintreibt und dessen Basis in der Fläche liegt, in der 
ich mich befinde. Wir sind also, um es nochmals zu betonen. 
der Auffassung, daß die mit steigender Entfernung zunehmende 
Verengung des gleichzeitig gegebenen Sehbezirkes nicht aus 
irgendwelchen physiologischen Tatbeständen (Akkommodation) 
erklärt werden muß, sondern die Folge eines subjektiven Raum- 
verhaltens ist, das sich im Laufe der Entwicklung als das 
eben notwendige, zweckmäßige, als das bequemste und der 
Gesamtsituation angemessenste herausgestellt hat (vergleiche 
hierzu die nachfolgenden Ausführungen über das Aubert- 
Förstersche Phänomen). 

Es ist nicht anders zu erwarten, als daß dieses Raum- 
verhalten wechselt mit dem Raumerlebnis, d.h. mit dem im 
Bewußtsein auftauchenden Raumschema; daß also neben solchen 
Eindrücken, die im Nahraum erlebt werden, ein relativ größerer 
Bezirk überschaut wird als neben denen, die eine weitere Raum- 
vorstellung auftauchen lassen. Und da die Raumvorstellung 
wiederum in typischer Weise abhängig ist von dem Gesamt- 
verhalten des bloßen Vorstellens und des Sehens von AB oder 
NB, so kann daraus eine entsprechende typische Verschieden- 
heit des gleichzeitig überschauten Sehbezirkes beim VB, AB 
und NB erschlossen werden: Weil unter den obwaltenden Be- 
dingungen das VB zumeist näher erlebt wurde als das AB 
und dieses näher als das auf dem Schirm liegende NB, so 
mußte der gleichzeitig überschaute Sehbezirk beim VB größer 
sein als beim AB und bei letzterem größer als beim NB, 
was mit dem Busseschen Ergebnis übereinstimmt. 


Unsere Auffassung, es bestehe zwischen Größenänderung und Gesichts- 
feldumfang ein Zusammenhang in dem Sinne, daß beide Erscheinungen gleicher- 
weise durch den Faktor der Raumgebung bedingt werden, scheint sich in 
den Versuchen zu bestätigen, die von Jaensch und Schönheinz mit den 
Rollettschen Platten ausgeführt wurden (32). Dabei ging nämlich der durch 
die Rollettschen Platten hervorgerufenen scheinbaren Verkleinerung (Mi- 
kropsie) von Objekten eine Gesichtsfelderweiterung parallel, wie sie im 
Aubert-Försterschen Versuch beobachtet wird. Die Parallelität beider 
Erscheinungen zeigte sich vor allem darin, daß sie durch die gleichen Be- 
dingungen, nämlich durch die mehr oder weniger große Kompliziertheit der 


Über das Verhältnis von Vorstellungs-, Anschauungs- und Nachbild. 367 


Objekte vermindert bezw. verstärkt wurden. Eine kausale Abhängigkeit des 
Gesichtsfeldumfanges von der Mikropsie oder umgekehrt konnte in eigens an- 
gestellten Versuchen nicht konstatiert werden, denn es gab keinen noch so 
geringen Grad von Verkleinerung bezw. Gesichtsfelderweiterung, der nicht 
durch die Parallelerscheinung begleitet worden wäre (32, 49ff.). Dieses 
Resultat legt den Gedanken an einen dritten Vorgang nahe, der sowohl die 
Größenänderung als auch die Gesichtsfelderweiterung gleicherweise verur- 
sacht. Ein solcher Faktor dürfte in dem jeweils verschiedenen Raumerlebnis 
zu suchen sein, das ja, wie wir als wahrscheinlich dartun konnten, auch bei 
den subjektiv erzeugten Bildern sowohl die Größe als auch die Weite des 
Gesichtsfeldes beeinflußt. Darnach wäre die ganze Erscheinungsgruppe folgen- 
dermaßen zu erklären: Die tatsächliche Entfernungsänderung im Aubert- 
Försterschen Versuch und die Akkommodationsänderung bei Benutzung der 
Rollettschen Platten verursachen eine Umstellung (Verengung oder 
Erweiterung) des Raumverhaltens, die in der oben beschriebenen Weise 
eine Größenänderung (Mikropsie oder Makropsie) und gleichzeitig eine Ge- 
sichtsfelderweiterung bezw. -verengung nach sich zieht. 

Für diese Erklärung besteht jedoch eine Schwierigkeit. Wenn nämlich 
die Mikropsie und die Gesichtsfelderweiterung gemäß dem früher Ausgeführten 
durch eine Verengung des Raumschemas bedingt sein soll, dann muß eine 
etwa bemerkte Entfernungsänderung in einer Annäherung der Objekte be- 
stehen!). Nun aber hören wir von Jaensch und Schönheinz: »Bald er- 
scheint ein Gegenstand näher, bald ferner, und zwar unter ganz gleichen 
Versuchsbedingungen. Sogar ein und dieselbe Vp. hat manchmal verschiedene 
Eindrücke« (32,13). 

Dennoch möchten wir selbst dieser Beobachtung gegenüber unsere Deutung 
der Erscheinungen nicht ohne weiteres aufgeben. Denn wir müssen bedenken, 
daß wir es bei dem die Größe beeinflussenden Raumschema mit einer Vor- 
stellung zu tun haben, die unbewußt oder besser unbeachtet ihre Wirksam- 
keit ausübt, und es besteht, wie G. E. Müller meint?), der berechtigte 
Zweifel, ob wir die Beschaffenheit einer solchen Vorstellung dadurch wirklich 
aufklären, daß wir sie willkürlich zu vergegenwärtigen und zu verdeutlichen 
suchen. In solchen Fällen »können sich mancherlei frühere Erfahrungen, Re- 
flexionen, Suggestionen und sonstige Nebeneinflüsse in fälschender Weise 
mit geltend machen, die nicht wirksam sind, wenn das Vorstellungsbild in 
natürlicher Weise als Bestandteil des betreffenden, durch Willkür nicht be- 
einflußten Gesamtvorganges auftritt« (a. a. O. S. 144). Es liegt nahe, diesen 
Gedanken auf die oben erwähnte Unsicherheit und Verkehrtheit der Lokali- 
sation der Objekte anzuwenden, zumal wenn wir berücksichtigen, daß in den 
von Jaensch und Schönheinz angestellten Versuchen irgendwelche An- 
haltspunkte für die Lokalisation der Objekte nicht gegeben waren. 


1) Daß die Entfernungsänderung erst nach dem ausdrücklichen Hinweis 
auf sie bemerkt wurde, deckt sich mit unserer Auffassung, nach der die Raum- 
gebung nicht in allen Fällen eine bestimmte Lokalisation zur Folge hat 
S. 357 ff.). > 

2) G. E. Müller, Über das Aubertsche Phänomen, ZP. II, 49 S. 143f.; 
siehe auch die Fußnote auf S. 360 der vorliegenden Arbeit. 


368 Fr. Scola, Über d. Verhältnis v. Vorstellungs-, Anschauungs- u. Nachbild. 


Schluß. 


Mit dem Vorliegenden dürften die bedeutsamsten Unter- 
schiede zwischen VB, AB und NB besprochen sein und wir 
kommen zum Schluß. 

Gößer hat seine Ergebnisse sämtlich unter dem Begriff 
der Kohärenz zusammengefaßt. Er formuliert das Gesetz: Der 
Kohärenzgrad zwischen dem GB und den gleichzeitig ge- 
gebenen Wahrnehmungsdaten nimmt mit steigender Gedächtnis- 
stufe ab (4, 125f.). An anderen Stellen erfahren wir, daß nicht 
nur die von Gößer gefundenen Tatsachen, sondern auch die 
Größen -und Lageänderung der Bilder auf dieses Kohärenz- 
gesetz zurückzuführen seien (5, 60; 29, 77), ohne daß aller- 
dings eine genauere Bestimmung dieses Verhältnisses gegeben 
würde. 

Nun kann der Begriff der Kohärenz in gewissem Sinne 
auch auf die von uns vertretenen Anschauungen über das Ver- 
hältnis der drei Bilderarten angewandt werden. Aber wir 
möchten es nicht unterlassen, auf die sehr bedeutende Ver- 
schiedenartigkeit der beiderseitigen Auffassungen hinzuweisen. 
Nach dem, was wir in den Schriften der Marburger diesbezüg- 
lich angedeutet finden, soll es sich bei der Kohärenz offenbar 
um eine Eigenschaft der Bilder selbst handeln, die mit ihrem 
Wesen als anschaulicher Inhalte und mit ihrem funktionalen 
Charakter irgendwie verbunden ist. — Demgegenüber ver- 
suchten wir in der vorliegenden Arbeit darzutun, daß zwischen 
den einzelnen Bildinhalten, dem anschaulichen Kern der Er- 
lebnisse, kein wesentlicher Unterschied besteht, daß vielmehr 
die von den Marburgern festgestellten Verschiedenheiten im 
Verhalten der Bilder durch die Andersartigkeit der vom Subjekt 
eingeschlagenen Verhaltungsweise herbeigeführt wird. Dadurch 
gewannen wir die Möglichkeit, sowohl die zwischen den Bildern 
bestehenden typischen Unterschiede als auch die Übergangs- 
formen und die von der Eigenart des Individuums und von zu- 
fälligen Faktoren abhängigen Schwankungen im Verhalten der 
Erscheinungen verständlich zu machen, ohne daß wir genötigt 
waren, neue Funktionen anzusetzen (1, 64; 26, 29 ff.), oder auf 
die verschiedene psychophysische Bedingtheit der Inhalte zu- 
rückzugreifen (29, 103£.). 


(Eingegangen am 15. März 1925.) 


(Aus dem Psychologischen Institut Wien.) 


Über 
symbolische Schemata im produktiven Denkprozess. 


Von 
Auguste Flach (Wien). 


(Mit 13 Figuren im Text.) 


Inhaltsverzeichnis. 
1. Kinleitung. 4.5 2: dies ae "589 
1. Die Entdeckung symbolischer Schemata durch Selbstbeobach- 
ing ee ar Rz 869 
2. Hinweise auf symbolische Schemata in der Literatur . . . . 874 
U. Die Versuche =: 2. 2-4 a 2 We ee a 378 
IIL Die Eigenart des symbolischen Schemas . . . . 2.2 2 2 2 2.0. 892 
1. Der bloße Symbolcharakter. . . - . 2 2 2 2 2 2 2 2 22. 392 
2. Der produktive Charakter . . . 2 2 2 2 2220200. 895 
3. Der räumliche Charakter . e.. 2 2 2 2 a nen. 896 
4. Der motorische Charakter . . 2 2 2200 0 een. .. 400 
IV. Die aufbauenden Faktoren des symbolischen Schemas . . ... . 404 


1. Der objektive Faktor: der abstrakte Gedankengehalt.. . . . 404 
2. Der subjektive Faktor: die individuelle Vorbereitung. . . . 407 
V. Die Abgrenzung des symbolischen Schemas gegen verwandte 


Phänomene....... 412 

1. Die Denkillustrierungg..... 412 

2. Die »Diagramme« . ...... ee ae A ee re et 420 

‚8. Die »autosymbolischen Phänomene«. .. 22.202... 429 
VI. Das Entstehen des symbolischen Schemas aus dem »Sphärenbewußt- 

BEINE: 2 5. Anett re ee ne ae I era ne 431 


I. Einleitung. 


1. Die Entdeckung symbolischer Schemata durch Selbst- 
beobachtung. 


Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit denjenigen Denk- 
erlebnissen, in welchen ein abstrakter Gedankengehalt an sinn- 
lichen Anschauungen erfaßt wird und durch diese eine sym- 
bolische Darstellung erfährt. 

Archiv für Psychologie. LII. 24 


370 Auguste Flach, 


Es ist mir aufgefallen, daß so und so oft, wenn ich mir 
ein Problem klarmachen wollte, ja selbst beim Verstehen von 
Sätzen, welche eine gewisse Anforderung an das Denken stellten, 
Vorstellungen auftauchten, mehr oder minder lebhafte, aber 
immer Vorstellungen, welche die Lösung des Problems, das 
Verständnis des Satzes mit sich brachten. Es war mir dann 
immer ein leichtes, an diesen Bildern das Resultat abzulesen. 
Ich hatte nurmehr die Formulierung zu besorgen, das Resultat 
als solches stand schon fertig vor mir, ich konnte es an dem 
Bild ablesen. Es zeigte sich, daß diese Vorstellungen nur dann 
auftraten, wenn ich mir eine Bedeutung, oder den Sinn eines 
Satzes erst erarbeiten mußte. Niemals aber sind sie dann ent- 
standen, wenn ich ber der Lösung einer Aufgabe bloß an mein 
Gedächtnis zu appellieren brauchte. Dies ist ein Umstand, der 
sich auch im Verlauf der Untersuchung bei den Erlebnissen 
meiner Versuchspersonen immer wieder gezeigt hat. 

Die Bilder selbst hatten den Charakter von Schemata. 
Denken wir an das Schema, welches der Baumeister von seinem 
Bauwerk entwirft. Es enthält die Grundzüge, alles was für 
das Verständnis von Aufbau und Gliederung notwendig ist, 
alles das, aber auch nur das. Und so waren diese Bilder trotz 
ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit merkwürdig abstrakt. Von 
außen gesehen hatten sie, wenn ich sie zeichnerisch festhielt 
für jemand, der den abstrakten Sinn nicht kannte, für welchen 
sie standen, etwas eigenartig Lückenhaftes, das so- weit gehen 
konnte, daß der unbefangene Beschauer diesen ihren Sinn über- 
haupt nicht hätte finden können und fragen mußte: »Was ist 
das? Warum steht das da? Was soll das bedeuten’%« Diese 
Frage drängt sich dem unbefangenen Beschauer auf und weist 
in ihrer Naivität gerade auf dasjenige Moment hin, das diese 
Erscheinungen vor allem charakterisiert. Sie sind nichts, aber 
sie sollen etwas bedeuten, sie haben keine Eigenbedeutung, 
sondern nur eine Symbolfunktion. Um zu verstehen, was hier 
gemeint ist, genügt es, daß man beim Durchblättern der Pro- 
tokolle die Zeichnungen allein ansieht, ohne den Text und die 
von der Vp. gegebene Deutung hinzunehmen; doch werden wir 
noch an anderer Stelle auf dieses Moment, welches die Schemata 
in charakteristischer Weise von den Bildern der Denkillustrierung 
unterscheidet, näher eingehen. 

Ich will nun daran gehen, einige eigene, gelegentlich auf- 
getretene symbolische Schemata als Beispiele hier anzuführen: 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 371 


Nr.1. Ich will mir das Wesen der »Bedeutung« im 
Husserlschen Sinn klarmachen: Da erscheint folgendes Bild, 
welches ich gleich festhalte: 

»Eine rhomboidale, perspektivische Fläche auf dunstigem 
Hintergrund. Die Kontur der Fläche ist durch Linien ge- 
geben. Die Linien sind schwarz. Sofort folgender Gedanke, 
den ich gleichsam am Bild ablese: Die mir zugekehrte Fläche 
eines Körpers sehen; mit dem Perspektivischen an der Fläche 
ist das Wissen verbunden, daß sie einem Körper angehört, 
der noch viele andere Flächen hat, die ich aber nicht sehen 
kann. Die Bedeutung ist durch die Fläche symbolisiert. Der 
durch die verschiedenen Flächen gebildete Körper ist der Gegen- 
stand. Ich kann jeweils nur die mir zugekehrte Fläche des 
Körpers, nur eine Bedeutung des Gegenstandes erfassen. Das 
Bild war zuerst gegeben, dann der Gedanke. 

An Nr.1 sehen wir deutlich, wie das Bild seinen Sinn und 
Wert nur durch den Gedanken »Bedeutung« erhält, für den es 
steht, wie aber andererseits dieses Bild bis ins Detail seiner 
Struktur durch diesen Gedanken bestimmt und von ihm erfüllt 
ist. Die Beziehung zwischen Fläche und Körper steht für die 
abstrakte Beziehung von Bedeutung und Gegenstand. Das 
Perspektivische der Fläche deutet an, daß es sich hier um eine 
Fläche an einem Körper, eine Bedeutung, einen Aspekt des 
Gegenstandes handelt, und daß es an diesem Körper noch 
viele Flächen gibt, die ich nur nicht zugleich erfassen kann. 
Gleichzeitig kann ich nur eine Fläche des Körpers, nur eine 
der vielen möglichen Bedeutungen des Gegenstandes erfassen. 
»Das Bild war zuerst gegeben, dann der Gedanke, den ich 
gleichsam am Bild ablese.« Ein Hinweis darauf, daß an dem 
Bilde gedacht worden war. 

Nr.2. Ich lese eine Sentenz aus Wildes Aphorismen: 
»Von alten Freunden zu scheiden erträgt man mit Gleichmut; 
aber sehr schmerzhaft empfindet man den Abschied von solchen, 
denen man eben erst vorgestellt wurde.« 

Im Suchen nach dem Sinn taucht ein Schema auf: Eine 
strahlenartig durchleuchtete Gestaltung des Raumes, selbst nur 
Raum, aber durch eine mehr ins Graue gehende Tönung von 
dem übrigen Raum verschieden; strahlenartig ist dieses Etwas, 
das perspektivisch von mir weg, in horizontaler Richtung ver- 
läuft. Dazu fallen mir die Worte ein, die ich auch ausspreche: 
»Weg, Perspektive, Möglichkeiten«. Der perspektivische Ver- 

24* 


372 Auguste Flach, 


lauf in die Tiefe, der perspektivische Blick, steht hier für un- 
bekannte Möglichkeiten, welche das flüchtige Vorgestelltwerden 
noch offengelassen hat. An diesem perspektivischen Etwas habe 
ich den Sinn erfaßt, habe ich gedacht. Auch hier wird an dem 
Bilde gedacht, der Sinn geht dem Erlebenden erst durch das Bild 
auf. Schön ist die räumliche Darstellung der unbekannten Mög- 
lichkeiten mit dem perspektivischen Verlauf und dem weiten 
Blick nach der Tiefe gegeben. Das Bild selbst enthält kein über- 
flüssiges Detail, das auf einen Eigenwert desselben hinzielen 
würde; jedes Detail, das sich herausheben läßt, ist von dem 
Gedankengehalt her bestimmt. 

Nr.3. Der Begriff des Individuums in biologischer Hin- 
sicht ist für mich immer in Form eines Schemas gegeben, 
welches seinerzeit, als ich mir die Bedeutung klarmachte, ge- 
bildet wurde, und welches seither immer auftaucht, so oft ich 
den Begriff denke. Es sind unendlich viele gerade Linien, die 
sich alle in einem Punkte schneiden. In diesem Schnittpunkt 
liegt das Individudlle, es entsteht quasi dadurch, daß sich 
alle diese Linien in einem Punkte schneiden. Das Bild soll 
besagen: das Individuum ist der Schnittpunkt unendlich vieler 
Gesetzmäßigkeiten. Die Linien sind leuchtend, ich habe sie 
wie einen Stern, der auf horizontaler Unterlage vor mir liegt 
auf dunklem Grund. 

Nr.4. Das folgende Schema ist gelegentlich entstanden, 
als ich aus Italien zurückkommend mich bemühte, einem 
Freunde die Eigenart der Stadt Genua klarzumachen. 

Ich sah plötzlich bei dem Gedanken an Genua zwei un- 
geheuer mächtige Brückenpfeiler. Darüber ein leichter Brücken- 
bogen, lächerlich fragil im Vergleich zu den beiden massigen 
Pfeilern. Er ist nur wie ein flüchtiger leichter Überbau, der 
nicht organisch mit den Pfeilern verbunden ist, über denen er 
sich wölbt. Dieser fragile Bogen dient dazu, daß darauf un- 
zählige Menschen, wie kleine schwarze Schattenrisse, von einem 
Pfeiler zum anderen, hin- und herlaufen, wie um die Verbindung 
zu besorgen. Das ist Genua; aber nicht eine Ansicht von Genua, 
sondern das, was Genuas Besonderheit, sein Wesen für mich 
ausmacht. Diese beiden aus Quadern aufgebauten Brücken- 
pfeiler sind der Adel und das Volk. Das Volk, das dort am 
Hafen in der Altstadt lebt. Das sind keine Proletarier, das 
ist eine Kaste, die vielleicht ebenso alt ist wie dieser Adel, die 
auch ihre Tradition, ihre Ahnen hat, die sie durch viele Gene- 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 373 


ratıonen aufzeigen kann, stolz, stark mit dem Boden ver- 
wachsen. Zwischen diesen beiden Kasten gibt es keinen Aus- 
gleich, sie sind gleich stark, gleich mächtig und unbedingt von- 
einander getrennt. Das, was über den fragilen Überbau, über 
den Bogen hin- und herläuft, das sind die Clerks, die Beamten; 
sie sind nicht bodenständig, sind nur die Mittelspersonen, die 
die Verbindung besorgen. 


Nr.5. Ich spreche über Georg Simmels Metaphysik 
und habe folgendes Bild: Ein festes Netz von dicht hin- und 
herlaufenden Schnüren, die einander gegenseitig stützen und 
festigen. Dann ist es so, als würde das Netz von rechts und 
links gleichzeitig gezogen, als wie um seine Festigkeit zu er- 
proben. Das Netz vibriert bloß leise, das Geflecht hat sich 
bewährt. Dieses Hin und Her von Schnüren, die einander 
gegenseitig halten, ist das Sinnbild der Relativität, die mir 
für das Weltbild Simmels vor allem charakteristisch er- 
scheint. Die Kreuzungsstellen der Schnüre symbolisieren die 
relativen Werte, welche das System dieser Weltanschauung auf- 
bauen. Das fertige Netz aus dieser Relativität gewoben ist 
das Absolute. Für Simmel ist die Relativität selbst zum 
Absoluten geworden. Wichtig erscheint mir vor allem, daß 
diese Relativität das Weltbild aufbaut, daß sie kein destruk- 
tives Prinzip ist, daher das feste Netz. 


Auch Nr.5 ist so recht ein Beispiel dafür, daß das Bild, 
das wir im symbolischen Schema anschaulich vor uns haben, 
keinen Eigenwert besitzt. Hier sehen wir kein Netz als solches 
vor uns, sondern die Relativität alles Seienden dargestellt in 
der Netzstruktur. So wie in diesem Weltbild Sein und Nicht- 
sein a und non a einander gegenseitig bedingen, so sehen wir 
im Bilde die Schnüre, die von entgegengesetzter Richtung 
kommend einander gegenseitig stützen. Aus dieser gegen- 
seitigen Bedingtheit aber ist das Absolute selbst aufgebaut als 
festes Gebilde. 


Das produktive Denken ist es, das in jedem dieser symbo- 
lischen Schemata zum Ausdruck kommt. Auch wenn wir in 
den Biographien großer Männer Nachschau halten, um zu sehen, 
wie diese eigentlich zur Konzeption, ihrer Theorien gekommen 
sind, werden wir vielfach auf solche Schemata stoßen, auf 
Grund deren eine Idee erfaßt wurde und mit deren Hilfe Dichter, 
Philosophen und Künstler ihre Gedanken dargestellt haben. 


374 Auguste Flach, 


2. Hinweise auf symbolische Schemata in der Literatur. 


Ich erinnere an die originelle Art und Weise, in welcher 
Stöhr seine Theorie von der Begriffsbildung anschaulich ge- 
macht hat. Stöhr!) hat den Begriff einfachsten Baues durch 
einen Kegel dargestellt: 


Fig. 1. 


Die Spitze des Kegels steht für den Begriffsbildner. Unter 
dem Begriffsbildner versteht Stöhr die identische Reaktion, 
welche das Begriffene zusammenhält. Die Punkte symbolisieren 
die einzelnen Exemplare, welche in das Begriffsfeld (den Um- 
fang) hineingehören. 

»Soweit dieser Begriffsbildner eine Vorstellung ist, wird 
er ebenfalls durch einen Punkt zu geben sein, weil er kein 
Exemplar ist, weil er nicht in das Begriffsfeld hineingehört, 
so muß er außerhalb des Kreises gesetzt werden.« »Der beste 
Platz für den Begriffsbildner wird also, ein Punkt oberhalb 
des Kreises sein. Dieser Punkt kann als eine Kegelspitze ge- 
nommen . werden und das Begriffsfeld als die Grundfläche des 
Kegels. Von der Kegelspitze geht zu jedem Punkte in der 
Grundfläche eine gerade Linie, die die aktive Reproduktions- 
fähigkeit ausdrückt. Um anzudeuten, daß diese Fähigkeit der 
Spitze zukomme, von dort ausgehe und auf die Exemplare, also » 
auf die Punkte in der Grundfläche gerichtet sei, kann man 
Pfeile anbringen, die von der Spitze zur Grundfläche weisend 
die Reproduktionsrichtung anzeigen.« 

Dieses Schema ist deshalb so interessant, weil es von der 
üblichen Auffassung der Logik abweicht und ganz deutlich 
den Charakter des symbolischen Schemas zeigt. Man sieht, 
daß es aus dem aktuellen -Denken hervorgegangen ist und die 
Spuren der Denkarbeit an sich trägt. Daß Stöhr das Phä- 


1) Adolf Stöhr, Lehrbuch der Logik 1910 S.15. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprezeß. 375 


nomen, welches wir ein symbolisches Schema nennen, aus dem 
Erleben gut gekannt hat, geht daraus hervor, daß er sich in 
der Logik immer wieder mit diesem Problem der Schematisie- 
rung eines Begriffes auseinandergesetzt, hat. 

Von da aus kann man schließen, daß auch die bekannten 
Schemata, vermittels deren die Logik die Begriffe darstellt, 
ursprünglich derartige symbolische Schematisierungen waren, 
welche nur konventionell und unpersönlich geworden sind, aber 
psychologisch in derselben Weise entstanden sein mögen, wie 
wir es bei Stöhr gesehen haben: Aus der unmittelbaren 
Vergegenwärtigung der Begriffsbeziehungen. Die 
Zeichnungen, an denen uns Stöhr sowohl seine Theorie der 
metaphysischen Materie?) als auch die Idee von den gleitenden 
Schnitten?) anschaulich gemacht hat, weisen darauf hin, daß 
auch diese beiden Konzeptionen psychologisch auf dieselbe Art 
entstanden sein mögen. Es ist charakteristisch und bestätigend 
zugleich, daß Stöhr immer mit Zeichnungen gearbeitet hat. 

Kekule, der Schöpfer der Benzoltheorie, hat selbst ein- 
mal seine Erlebnisse geschildert, auf Grund deren er zur Kon- 
zeption seiner Benzoltheorie gekommen ist. Ich entnehme diese 
Schilderung einem Vortrag®), den Kekule& anläßlich einer 
Festversammlung der Deutschen chemischen Gesellschaft zur 
Feier des 25jährigen Jubiläums seiner Benzoltheorie gehalten 
hat. Kekule sagt: »Vielleicht ist es für Sie von Interesse, 
wenn ich durch höchst indiskrete Mitteilungen aus meinem 
geistigen Leben darlege, wie ich zu einzelnen meiner Gedanken 
gekommen bin: Während meines Aufenthaltes in London wohnte 
ich längere Zeit in Clapham Road in der Nähe des Common. 
Die Abende verbrachte ich vielfach bei meinem Freunde... 
in Islington, dem entgegengesetzten Ende der Riesenstadt. Wir 
sprachen da von mancherlei, am meisten aber von unserer lieben 
Chemie. An einem schönen Sommertage fuhr ich wieder ein- 
mal mit dem letzten Omnibus, wie immer. Ich versank in 
Träumereien. Da gaukelten vor meinen Augen die Atome. 
Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen, jene kleinen Wesen, 
aber es war mir nie gelungen, die Art ihrer Bewegung zu er- 
lauschen. Heute sah ich, wie vielfach zwei kleinere sich zu 
Pärchen zusammenfügten, wie größere zwei kleinere umfaßten, 


2) Stöhr, Wege des Glaubens S.11 Fig.1, 2, 3. 
3) Stöhr, Wege des Glaubens S.45 Fig. 4. 
38) Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft XXIII I S. 1306 f. 


376 Auguste Flach, 


noch größere drei und selbst vier der kleineren festhielten, und 
wie sich alles im wirbelnden Reigen drehte. Ich sah, wie 
größere eine Reihe bildeten und nur an den Enden der Kette 
noch kleinere mitschleppten. Ich sah, was Altmeister Kopp... 
in seiner »Molekularwelt« uns in so reizender Weise schildert, 
aber ich sah es lange vor ihm. ... ich verbrachte einen Teil der 
Nacht, um wenigstens Skizzen jener Traumgebilde zu Papier 
zu bringen. So entstand die Strukturtheorie. 

Ähnlich ging es mit der Benzoltheorie. Während meines 
Aufenthaltes in Gent, in Belgien, bewohnte ich elegante Jung- 
gesellenzimmer in der Hauptstraße. Mein Arbeitszimmer aber 
lag nach einer engen Seitengasse und hatte während des Tages 
kein Licht. Da saß ich und schrieb an meinem Lehrbuch; 
aber es ging nicht recht, mein Geist war bei anderen Dingen. 
Ich drehte den Stuhl gegen den Kamin und versank in Halb- 
schlaf. Wieder gaukelten die Atome vor meinen Augen. 
Kleinere Gruppen hielten sich diesmal bescheiden im Hinter- 
grund. Mein geistiges Auge, durch wiederholte Gesichte ähn- 
licher Art geschärft, unterschied jetzt größere Gebilde von 
mannigfacher Gestaltung. Lange Reihen, vielfach dichter zu- 
sammengefügt; alles in Bewegung, schlangenhaft sich wendend 
und drehend. Und siehe, was war das? Eine der Schlangen 
erfaßte den eigenen Schwanz und höhnisch wirbelte das Ge- 
bilde vor meinen Augen. ... auch diesmal verbrachte ich den Rest 
der Nacht, um die Konsequenzen der Hypothese auszuarbeiten. 

Was Kekule& hier schildert, ist nichts anderes als das, 
was wir ein symbolisches Schema genannt haben. Ein allge- 
meiner Sachverhalt findet durch konkrete Ge- 
gebenheiten in sinnlich anschaulicher Weise eine 
symbolische Darstellung. 

Einen weiteren Hinweis auf diese Phänomene finden wir 
bei Binet“), welcher in seiner Arbeit »La pensée sans ima- 
ges« Versuche gemacht hat, um festzustellen, welcher Anteil den 
Vorstellungen am Zustandekommen der Gedanken zuzuschreiben 
ist. Binet äußert sich über das häufige Vorkommen solcher 
symbolischer Vorstellungen folgendermaßen: 

»Ce genre d'imagerie est peut-être plus frequent, qu'on se 
pense. Beauconp de personnes le possèdent, sans en avoir le 
supçon, parcequ’elles n’en ont pas reconnu la véritable nature; 
ce sont des évènements qui appartiennent à la vie intime et 


— 


4) Binet, La pensée sans images, Revue philosophique 28 année 1903. 





Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 377 


dont on n’a pas l'occasion de parler, parce qu'ils n’ont pas 
d'intérêt pratique.« 

Auch Karl Bühler) hat die große Bedeutung, die dem 
symbolischen Schema sowohl im Geistesleben des Kindes, als 
im wissenschaftlichen Denken Erwachsener bei der Erwerbung 
neuer Begriffe zukommt, erkannt und wiederholt darauf auf- 
merksam gemacht. 

In besonders ausgeprägter Weise hat Wilhelm Betz 
die Gabe besessen, abstrakte Gedanken in konkret anschau- 
licher Weise zu erleben. In seinem Buch »Psychologie des 
Denkens«, Kapitel 3 S.74, berichtet er: 

»Ich mag denken, welchen Begriff ich will, immer steht er, 
wenn ich Aussagen über ihn machen will, in einer Gegend im 
Raum vor mir (etwa auf Armlänge und in Kopfhöhe, etwas 
nach rechts von mir) wie ein Ding. Diese Gegend im Raum 
steht in einem eigentümlich dynamisch elastischen Zustand, 
manchmal mehr diffus, wie etwa, wenn ich über Philosophie 
oder Logik aussagen will, manchmal bestimmter, fester m sich, 
wie bei substantivierten Partikeln.« 

Er beschreibt das Erlebnis, das er hat in einem Falle, wo 
es sich darum handelt, Aussagen über den Hunger zu machen. 
Er sagt: »Ich kann mir ziemlich leicht einbilden, daß ich 
Hunger habe, so daß ich zweifelhaft werde, ob ich wirklich 
hungrig bin oder es mir nur einbilde, aber es ist etwas ganz 
anderes, wenn ich mir den Zustand des Hungers vorzustellen 
suche. Hier achte ich nicht im geringsten auf eventuelle Ge- 
fühle und Empfindungen in mir. Meine Aufmerksamkeit ist 
durchaus nach außen gerichtet, auf eine Gegend im Vor- 
stellungsraum, welche Gegend sich von dem übrigen Raum 
durch eine Art »Verdichtung« auszeichnet, und ich betrachte 
diese Raumgegend beim Nachdenken über den Hunger gerade 
als ob der Hunger wie eine greifbare Sache in dieser Gegend 
vorhanden wäre. Betz sagt ausdrücklich in unserem Sinn: 
»Diese Projektionsformen sind Hilfen.« »Diese Inhalte sind 
für das Denken äußerst wichtig, mit ihnen und an ihnen wird 
gedacht. 

Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß das Erleben eines 
abstrakten Gedankengehaltes durch symbolische Schemata 


5) Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1922, 
S. 266, 269, 388. 


378 Auguste Flach, 


nicht als eine individuelle Eigentümlichkeit aufzufassen ist, 
die vereinzelt dasteht, sondern eine, wenn auch weniger be- 
achtete, so doch häufig vorkommende Form der Sinnerfassung 
darstellt, bin ich darangegangen, dieses Phänomen von denk- 
psychologischen Gesichtspunkten aus experimentell, methodisch 
zu untersuchen. 


Il. Die Versuche. 


Es wurden Versuche unternommen, welche darin bestanden, 
daß durch entsprechende Fragestellungen in der Versuchsperson 
` Denkerlebnisse hervorgerufen wurden. Die Aufgabe bestand 
in der Klärung geläufiger, aber nicht definierter Begriffe. Die 
Instruktion ging dahin, den Sinn desjenigen, worum gefragt 
wurde, möglichst kurz und prägnant herauszustellen, ihn wo- 
möglich auf eine Formel zu bringen und weiter die Erlebnisse 
zu Protokoll zu geben, welche die Vp. zu dem Resultat geführt 
haben. 

Es hat sich im Verlaufe unserer Versuche gezeigt, daß 
der Art und Weise der Aufgabenstellung eine große Rolle zu- 
fällt. Es wird wohl nicht anzunehmen sein, daß es für jeden 
Gedanken eine bestimmte Fragestellung gibt, auf welche unter 
allen Umständen alle Personen mit einem symbolischen Schema 
reagieren werden, aber eines ist gewiß, es gibt bestimmte 
Fragestellungen, welche von vornherein nicht 
geeignet sind, derartige Phänomene auszulösen. 

So haben wir keine Schemata bekommen, wenn die Aufgabe 
zu leicht war, oder die Vp. sie rein gedächtnismäßig lösen 
konnte. In solchen Fällen erfolgte entweder ein anschauungs- 
loses wörtliches Reagieren, oder eine bloße Denkillu- 
strierung, d.h. die Versinnlichung, welche oft sehr ins 
Detail gehen kann, ist bloß eine inhaltliche Illustrierung des 
Gegenstandes, ihre Beziehung zum Gedanken ist nur eine zu- 
fällige, äußerliche, rein assoziative. 

Ein Beispiel für ein derartiges Resultat gibt uns die Arbeit 
von Binet: »La pensee sans images«, Revue philosophique 
28 annee 1903. Binet wollte dasselbe Phänomen, welches wir 
hier beschreiben, auf experimentellem Wege erfassen, doch ist 
ihm dies infolge unzweckmäßiger Fragestellungen nicht gelungen. 
Die Aufgaben, welche Binet seinen Vpn. stellte, waren keine 
Denkaufgaben. Binet ruft seiner Vp. den Namen »Bouquin« 
zu. Es ist der Name eines alten Fuhrmannes, den die Vp. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 379 


kennt. Es erfolgt keine sinnliche Vorstellung. Einer anderen 
Vp. ruft er das Wort »Clocher« zu; die Vp. hatte die sinnliche 
Vorstellung eines ihr bekannten Glockenturmes einer Kirche. 
Daß ebenso auf die Frage: »Haben Sie dieses Jahr große Fort- 
schritte in der deutschen Sprache gemacht?« nichts anderes 
vorgestellt wurde als Buchstabenbilder und das Bild der deut- 
schen Lehrerin, nimmt uns nicht wunder. Binet konstatiert, 
daß weder das Bild der Lehrerin noch das der Buchstaben den 
Sinn des Satzes wiedergibt. 

Die Versuche, welche Binet angestellt hat, kranken samt 
und sonders daran, daß die Aufgaben, die gestellt wurden, 
keine Denkaufgaben waren und sich leicht assoziativ erledigen 
ließen. Produktiv gedacht wurde bei diesen Versuchen nicht 
und darum konnten auch keine Schemata auftreten, nach denen 
Binet gesucht hat. Wenn Bilder überhaupt gesehen wurden, 
waren es nur begleitende Vorstellungen, das was wir als Denk- 
illustrierung bezeichnet haben. Mit unserer Charakterisierung 
der Denkillustrierung stimmt auch die Beschreibung überein, 
die Binet seinen Bildern gibt: »L’image n’illustre qu’une toute 
petite partie du phénomène et souvent d'ailleurs la visualisation 
ne porte que sur le décor des choses.« Höchst charakteristisch 
ist es auch, wenn Binet zu dem Resultat kommt, daß diese 
Bilder beinahe immer nur die materiellen Gegenstände wider- 
spiegelten und niemals eine Beziehung darstellten: »L’image 
etait presque toujours visuelle et elle ne mirait presque tou- 
jours que des objets materiels; Elle n’a jamais represente un 
rapport.« 

Dad es aber gerade die Beziehungen sind, auf welchen das 
Schema sich aufbaut, und durch welche es den abstrakten Ge- 
dankengehalt zur Darstellung bringt, hat Binet richtig gefühlt. 

Wir haben bei unseren Versuchen ferner die folgende Be- 
obachtung gemacht: Wenn der VI. bei der Formulierung der 
Aufgabe ein Wort wählte, welches von vornherein mit einer 
bildhaften Vorstellung fest assoziiert war, wie z.B. »Land- 
schaft« oder »Labyrinth«, so ist die mit diesem Wort gewohn- 
heitsmäßig verknüpfte illustrierende Vorstellung aufgetreten; 
diese aber hat die Bildung eines Schemas erschwert oder ver- 
hindert, wie überhaupt bilderreiches Material, wenn es geboten 
wird, entweder nur Denkillustrierung auslöst oder dazu führt, 
daß die im Text gebotenen Bilder gar nicht aktualisiert werden; 
es wird vielmehr der abstrakte Sinn dazu gesucht. 


380 Auguste Flach, 


Diese Tatsache, daß auf bilderreiches Material meist in an- 
schauungsloser, abstrakter Weise reagiert wird, hat sich auch 
bei den Versuchen von Groos®) und Mayer?) gezeigt. So- 
wohl Groos®) als auch Mayer haben gefunden, daß beim 
Hören und Auffassen bilderreicher Gedichte das anschauliche 
Material, das geboten wird, erfaßt wird, ohne daß die ent- 
sprechenden optischen Vorstellungen aktualisiert werden. 

Es hat sich weiter in unseren Versuchen immer wieder ge- 
zeigt, daß man ein symbolisches Schema nicht willkürlich pro- 
duzieren kann, daß dort wo eine Veranschaulichung direkt in- 
tendiert worden war, immer nur eine Illustrierung, nie aber 
eine Schematisierung des Gedankens aufgetreten ist. Wir haben 
nur dann Schemata bekommen, wenn das ganze Bemühen der 
Vp. auf die Klarstellung der abstrakten Bedeutung gerichtet 
war. 

Darin und in dem Umstand, daß die Versuchsperson über 
den Unterschied zwischen symbolischem Schema und Denk- 
illustrierung nicht unterrichtet war, liegt die Gewähr dafür, 
daß diese Bilder, welche wir in den Protokollen veröffentlichen, 
nicht willkürlich hervorgerufen sind. 

Auf diese eigenartige Tatsache, daß das Auftreten dieser 
Phänomene hinsichtlich ihrer Entstehung unserer Willkür ent- 
zogen ist, ist auch Binet?) bei seinen Versuchen gestoßen: 
Er äußert sich darüber folgendermaßen: »Le principal caractère 
de ces représentations c'est qu’elles sont involontaires, qu’elles 
se sont construites en dehors de notre volonté et que nous ne 
pouvons pas les modifier.« 

Wir haben uns bemüht, bei Aufstellung unserer Versuchs- 
anordnung auf alle hier angeführten Momente zu achten und 
unsere Aufgaben vor allem so zu stellen, daß die Vp. denken 
mußte. Freilich mußte hier eine individuelle Differenz zur 
Geltung kommen; während die eine Vp. z. B. eine Frage rein 
gedächtnismäßig erledigen Konnte, mußte eine andere die 
Antwort auf dieselbe Frage sich erst erarbeiten. 

Sowohl bei der Eigenbeobachtung als auch im Experiment 


6) Groos, Das innere Miterleben und die SDpendungen aus dem Körper- 
innern, Zeitschrift f. Ästhetik. 

7) Mayer, Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig 1901; Gött. Gel. Anz. 1906 
(4) S. 298—321. 

8) Groos, Der ästhetische Genuß, 1902. 

9) Binet, La pensée sans images, Revue philosophique 28 année 1903. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 381 


hat es sich herausgestellt, daß bei abstraktem Versuchsmaterial, 
das geboten wurde, die Vp. genötigt war, sich irgendwie an an- 
schauliche Hilfen festzuklammern. Aus diesem Grunde sind 
wir in unseren Versuchen möglichst von einem abstrakten Ge- 
dankengehalt ausgegangen, um zu dessen sinnlich symbolischer 
Darstellung zu gelangen. 

Symbolische Schemata sind immer nur dort aufgetreten, 
wo ein Sinn mit besonderer Evidenz spontan erlebt wurde, und 
nicht dort, wo er, als etwas Fertiges, bereits in bestimmter 
Weise Gestaltetes aus dem Gedächtnis reproduziert worden war. 
Trotzdem muß es auch in diesem Falle, natürlich nicht unbe- 
dingt, zur Bildung eines Schemas kommen. Die Vp. kann den 
Sinn in einer viel vageren Weise erleben oder ganz unanschau- 
lich abstrakt nur mit einer Definition in Worten reagieren. 
Vielleicht wird man einmal an Hand eines ganz großen stati- 
stischen Materials der Frage näherkommen können, welche Be- 
dingungen eigentlich für das Auftreten symbolischer Schemata 
gegeben sein müßten. Es dürften hier viele Faktoren mit- 
spielen, die wir jetzt noch gar nicht alle übersehen. Die in- 
dividuelle Veranlagung wird in mancher Hinsicht entscheidend 
sein; aber auch die momentane Disposition, die Aufmerksam- 
keitseinstellung, die ganze große Menge an Faktoren, welche 
mit in die Vorbereitung und Einstellung eingehen, sind von 
Wichtigkeit. Wir konnten auf diese Frage in der vorliegenden 
Arbeit nicht näher eingehen und mußten dieses Problem für 
einen späteren Zeitpunkt zurückstellen. 

Fragen wurden vom Vl. nur selten gestellt, gewöhnlich 
sagte die Vp. selbst, was es mit dem Bild für die Klarstellung 
des Gedankens für eine Bewandtnis hat. Dies war besonders 
dort der Fall, wo das Bild ohne Beziehung auf diesen unver- 
ständlich war und die Vp. das Bild allein nicht beschreiben 
konnte, ohne sich immer wieder auf den abstrakten Gedanken- 
gehalt zu beziehen. Zeitmessungen wurden unterlassen, 
weil sie für unser Problem belanglos sind und es sich in der 
Eigenbeobachtung wie auch in den Versuchen gezeigt hat, 
daß die anschaulichen Bilder sofort da waren mit dem Ver- 
ständnis gegeben, oder aber sie blieben überhaupt aus. Es 
war natürlich für unsere Zwecke vollkommen gleichgültig, ob 
die Vp. den aufgegebenen Gedanken objektiv völlig zutreffend 
und einwandfrei erfaßt und symbolisch dargestellt hat. Es 
konnte uns nur auf den psychischen Tatbestand des Denk- 


382 Auguste Flach, 


erlebnisses ankommen und nicht auf die objektive Richtigkeit 
des Gedachten. Ebenso sind auch vielfach andere subjektive 
Momente durch die besondere Art und Weise, wie der Vp. im 
Augenblick ein abstrakter allgemeiner Gedankengehalt besonders 
evident war, in die Darstellung mit eingegangen. 

Eine zweite Versuchsanordnung bestand darin, der Vp. 
Aphorismen zu bieten, welche vorgesprochen wurden. Sobald 
die Vp. den Sinn erfaßt hatte, gab sie zu Protokoll, wie der 
Prozeß des Verstehens zustandegekommen war. Nachdem auch 
diese Versuchsreihe auf dasselbe Ziel gerichtet war und keine 
andersartigen Resultate gefördert hat wie die ersten, haben wir 
keine Veranlassung gesehen, sie gesondert zu behandeln. 

Nachstehend veröffentlichen wir eine Reihe von Proto- 
kollen, an welchen wir die Feststellungen über das Wesen der 
symbolischen Schemata und ihre Abgrenzung gegenüber an- 
deren Phänomenen demonstrieren wollen. 


Versuchsprotokolle: 

Nr.6 »Tausch«. 

Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Tausch sprechen ?« 

Antwort: »Sofort nach dem Anhören ein wenig präzisiertes, ober trotzdem 
seiner Bedeutung nach unzweideutiges optisches Symbol. Da ist ein Band, 
da vollzieht sich etwas, da könnten Personen sein; ich sehe sie aber 
nicht, ich brauche für das Band nur den Ansatz, aus dem Schema ist noch 
etwas zu entnehmen: nämlich, daß keine der beiden Richtungen bevorzugt 
ist. Das Bild war fertig. Daß hin- und hergegangen wird, lag in der 
Bedeutung, nicht im Bild. Ich sagte, zwischen beiden geschieht etwas, es hätte 
das Wechselverhältnis hineinkommen können, dadurch, daß Bewegung hinein- 
gekommen wäre.« 





Fig. 2. 


Anmerkung: Alle hier reproduzierten Bilder wurden nach den von den 
Vpn. im Augenblick entworfenen Zeichnungen angefertigt. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 383 


Nr.7 »Tausch«. 


Aufgabe: »Was ist es, das das Wesen des Tausches ausmacht ?« 

Antwort: »Ich habe das was ich meine in Form einer Schleife gegeben: 
Da ist eine Schleife, die den Kreisprozeß des Tausches darstellt. Da beim 
Tausch unbedingt ein Zusammentreffen der beteiligten Personen an einem 
Schnittpunkt erfolgen muß, so sollten diese Kurven die Tauschaktion darstellen. 


Fig. 3. 


Die Kurven stellen die beim Tausch auftretende Bewegung dar; daß die Be- 
wegung spiralförmig sein muß, hat darin seinen Grund, daß der eine beim 
Tausch verliert, während der andere gewinnt. Die Ungleichheit der Kurven 
soll zum Ausdruck bringen: den mit dem Tausch verbundenen Vorteil oder 
Nachteil des Einzelnen. Die Schleife ist im Augenblick entstanden.« 


Nr.8 »Gewalt«. 


Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Gewalt sprechen ?« 

Antwort: »Ich würde sagen überwältigende Kraft.« 

»Es war zweierlei da: etwas was man sehen kann und etwas was man 
spürt. Ich habe es ganz schwach gespürt, hätte dies aber weiter ausgestalten 
können. Was ich sehe ist ein Ding, aber ich kann nicht sagen was für ein Ding, 
es ist in der Natur draußen, in großer Entfernung, das Ding ist sehr groß 
dimensioniert, vielleicht ist es ein Haus, links vorn, und darüber war es einen 
Augenblick wie eine verdeckende gerade, mathematische Fläche, die sich an 
das Ding an und über dieses darüberlegt. Nichts Dynamisches, von der 
Fläche wird es zu einer Wolke, es wird dicker, bleibt nicht so flächenhaft; 
unbegrenzt nach allen Seiten. In dem Verhältnis dieses Etwas, das ich erst 
mathematische Fläche, dann Wolke nannte, zu dem Haus liegt beschlossen die 
Bedeutung von Gewalt, ich suche dann ein Wort und es drängt sich mir ‚un- 
berechenbar‘ auf, gleich darauf aber kam ‚überwältigen‘. Dieses Verhältnis, 
von dem ich früher sprach, war Kraft; so kam ich zu überwältigender Kraft. 
Ich könnte mir das Bild für einen gewissen Fall ausdenken: Über- 
schwemmung, Feuersbrunst. Ich hätte es für alle möglichen konkreten Fälle 
ausdenken können, wo Gewalt eine Rolle spielt. Dieses Bild ist sinnvoll, be- 
deutungsvoll. Ich kann die einzelnen Stellen angeben, wo die Merkmale zu 
holen sind: Aus dem Unbegrenzten ist herauszuholen das Merkmal des Un- 
berechenbaren, dort müßte ich hinschauen, um das Merkmal des Unberechen- 
baren herauszuholen. An dem Verhältnis zwischen Fläche und Ding da wäre 
die Stelle, wo ich die zerstörende Wirkung, die vernichtende, die Größe der 
Kraft herausholen müßte, dort liegt es, an dieser Stelle weitgehend sinn- 
erfüllt. Diese Sinnerfüllung führt zur Merkmalfindung. Ich kann das Merkmal 
bezeichnen, ich hole es heraus, wenn man so will.« 


384 Auguste Flach, 


Nr.9 »Bach«. 

Aufgabe: »Wie würden Sie die Musik ‚Sebastian Bachs‘ charakterisieren ?« 

Antwort: »Ich würde sagen Ornamentik; die kleine, detailreiche Or- 
namentik.« 

VL: »Wie sind Sie auf Ornamentik gekommen ?« 

Vp.: »Es sind kleine Bogen, die ich sehe im Raum, dazu höre ich gleich- 
zeitig Bachsche Musik. So sehen die Bogen aus: 


(VNVVVN 


Fig. 4. 


Aber es könnte auch eine andere Ornamentik sein, z. B. bei den Fugen so«: 
Fıg. 5. 


Nr. 10 »Sollen«. 

Aufgabe: »Wie könnten Sie das Wesen des Sollens charakterisieren ?« 

Antwort: »Das was nicht ist, und doch ist, in gewissem Sinne, nämlich 
als Norm. Es ist auch etwas anschaulich gegeben. Vor mir ist ein dunkler 
Abgrund und jenseits des Abgrundes etwas Weißes, vielleicht ein lichtes 
Gebäude, aber ungegliedert, ich sehe nur etwas Weißes, dort müßte man 
hinüberkommen, es ist, als würde ich von meinem Standort im Bogen hinüber- 
reichen; mich selbst sehe ich nicht, aber ich weiß dort, wo ich bin, da ist das 
Sein lokalisiert; dort wo das Weiße ist, wo ein Gebäude errichtet sein muß, 
dort ist das Sollen. 

Zwischen dem Sein und Sollen ist ein Abgrund. Dieser Abgrund und das 
Hinüberlangen ist mir das Wesentliche am Sollen. Das was sein soll, das ist 
nicht. Es ist nur im Sinne der Norm. Man muß es erst realisieren, man 
muß hinüberreichen über den Abgrund, der das Sein vom Sollen trennt, um 
dahin zu gelangen.« 

Nr. 11 »Begehren«. 

Aufgabe: »Wodurch erscheint Ihnen alles Willensmäßige, alles Begehren 
besonders charakterisiert zu sein ?« 

Antwort: »,Ursachbewußtsem‘ im Sinne Messers.« »Dieses Wort 
hat gar nichts zu tun mit dem Bild, das ich gehabt habe. Das 
Bild ist ein Mensch, aber ich kann auch darüber hinausgehen, er stand 
nicht nur als Mensch hier, sondern als Vertreter von etwas Anderem, das 
Andere war nicht bestimmt, nicht abgegrenzt. Tiere wären auch mitein- 
geschlossen, in dem, was es sein könnte. Für diesen Menschen könnte ich eine 
Stelle im Vorstellungsraum angeben, wo er stehen müßte, zeichnen könnte 
ich ihn nicht, es ist nur ein ausgefüllter Raumteilda; da ist 
etwas, das ist Er. Wie wenn ich ihn herausgeschnitten hätte, als hätte er 
etwas an, aber ich kann nicht sagen, daß das ein Kleid ist, dort steht er, 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 385 


das ist so ein Raum und mit ihm ein zweites Schema, ganz organisch ver- 
einigt. Es geschieht etwas, und zwar in der Richtung der Pfeile, es geht von 
innen aus, es müssen Erlebnisse sein, die das Spezifische der Richtung haben. 
Den Punkt sehe ich nicht, aber sie gehen von ihm aus; das Ich als Quellpunkt. 

So eine Gerichtetheit, ein Streben, ich bin darin in diesen Bewegungen 
der Pfeile. Ich denke durchaus mit diesem Schema.« 

(Das gezeichnete Schema ist eine kreisartig abgeschlossene Fläche mit 
einem Punkt in der Mitte, aus welchem nach links unten einige Pfeile heraus- 
schießen.) 

VL: »Ist es so, daß Sie die Bewegungen mitmachen? Sind es Mit- 
bewegungen ?« 

Vp.: »Nein, es ist im Raume rechts, es ist mir Objekt.« 

Nr. 12 »Religiosität«. 

Aufgabe: »Wie würden Sie Religiosität losgelöst vom Kirchlich-Tradi- 
tionellen charakterisieren ?« 

Antwort: »Von einer breiten Basis nach oben zu stark verjüngt, bewegt 
sich rasch von unten nach oben eine hellgraue, eigenartig durchleuchtete 
Nebelschwade. Die Bewegung hat folgende Richtung«: 





Fig. 6. 


Das Ganze ist im dunklen Raum und soll die Funktion des Religiösen in 
einem eigenartig aufstrebenden Rhythmus, einer Gerichtetheit nach oben sym- 
bolisiert darstellen. 

Nr. 13 »Kompromiß«. 

Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Kompromiß sprechen ?« 

Antwort: »Ich sah zwei Kreise, die sich nähern und sich schneiden, 
Kompromiß war mir dargestellt inder gemeinsamen Fläche der 
beiden Kreise, die Kreise waren gezeichnet, der eine Kreis rechts, 
der andere Kreis links, wie das Begriffsschema von Begriffen, die sich teil- 
weise schneiden.« 


Fig. 7. 
Archiv für Psychologie. LII. 25 


386 Auguste Flach, 


Anmerkung: Dieses Schema ist besonders interessant, weil es dem Schema 
der einander schneidenden Begriffe, welches-wir aus der Logik kennen, äußer- 
lich gleich ist, während es sich aber im Falle der Logik um eine formale 
Relation handelt, drückt dieses Schema etwas Bestimmtes aus; die beiden 
Kreisen gemeinsame Fläche ist das, was das Wesen des Kompromisses sym- 
bolisiert. 

Nr. 14 »Kompromiß«. 

Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Kompromiß sprechen ?« 

Antwort: »Kompromiß ist die Verbindung von zwei Menschen. Ich hatte 
die Vorstellung von zwei Körpern, die sich von der Seite zusammenschieben. 
Sie haben irgendeine Form gehabt, die nicht bestimmt war, es waren aber 
zwei Körper von rechts und links, die sich ineinandersaugen, mit Greifarmen, 
der Körper war fest, hatte Auswüchse wie Darmzotten, die er ausstreckte 
und die ineinander verschlungen wurden; und dann war es ein Körper, der 
sich aber merkwürdigerweise nicht viel vergrößert hatte, er war etwas größer 
als einer der Teile, aber nicht so groß wie beide zusammen; er war grau- 
grün, hatte eine schmutzige graugrüne Farbe; die Bewegung habe ich mit den 
Händen mitgemacht. 


Nr. 15 »Hypothese Theorie«. 

Aufgabe: »Es ist der übergeordnete Begriff zu suchen von Hypothese 
und Theorie.« 

Antwort: »Sofort eine Linie, welche sich von mir weg in schlangen- 
förmigen Bewegungen, in gerader Richtung fortschlängelte, als müßte sie 
sich durch etwas hindurch erst den Weg bahnen. Gleichzeitig das Wissen, 
daß es sich hier um ein Symbol handelt, welches für die Bedeutung Hypothese, 
Theorie steht und welches die Funktion der Wegbahnung durch Nichtgebahntes 
ausdrücken soll. In dem Begriff ‚Wegbahnung‘ hatte ich den übergeordneten 
Begriff. 

Die Linie war visuell, motorisch gegeben, ich habe die Bewegung der 
Linie mitgemacht. Die Achse der Linie ist wagrecht auf meine Körperachse 
zu gerichtet. Ich habe den Begriff Wegbahnung am Bild bloß abgelesen.«' 


Nr. 16 »Synthese«. 

Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Synthese sprechen ?« 

Antwort: »Zusammenfassung. Es war so etwas wie ein Netz, das sich 
pyramidenförmig zusammenzieht, die Mehrheit als Ausgang und die Einheit 
als Ende sind darin als Basis und Spitze charakterisiert. Nichts Dynamisches, 
nichts von Geschehen war darin, ich konnte dieses nicht ablesen daraus.« 


Nr. 17 »Chaos«. 


Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von ‚Chaos‘ sprechen %« 

Vp. macht eine wirbelnde Bewegung mit beiden Händen. 

Antwort: »So etwas. Eine vollkommen ungeordnete Masse jeder Art. 
Ich sehe ein Zusammenballen einer grauen Masse, wie wenn man Wolken 
zusammenballen würde. Wie wenn Gedärme sich durcheinanderschieben, große 
und kleine, dicke und dünne, das Ganze ist rund und kugelig, hat keine 
Ecken, ein großer Knödel, durch den sich das Ganze durchwurlt, grau wer- 
schieden belichtetes Grau, je nachdem die Teile dunkler oder heller, dicker 
oder dünner waren, abschattiert. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 387 


Nr. 18 »Chaos«. 

Aufgabe: »Geben Sie mir eine kurze prägnante Charakterisierung dessen, 
was mit Chaos gemeint ist.« f 

Antwort: »Ich hatte sofort folgendes Bild: Durcheinanderfluten von Un- 
geschaffenem, Ungeformtem, in Form einer leisen Bewegung, einer dick- 
flüssigen, weißlich-grauen Masse im Raum. Die Bewegung ist eine Wellen- 
bewegung, von links nach rechts und von rechts nach links, aber ohne sicht- 
bare Wellen. Es ist ein Inneres, das ich sehe; die Oberfläche ist spiegelglatt, 
das Wogen findet unter dieser statt. Die glatte Oberfläche macht die Be- 
wegung nicht mit, darunter ist die Masse wie langsam kochend gegeben, 


Nr. 19 »Kontinuität«. 


Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Kontinuität sprechen ?« 

Antwort: »Fortsätzlichkeit. Ich sah etwas Langlaufendes, das sich per- 
spektivisch verliert, vor mich hin, von mir weg, dunkler werdend nach rück- 
wärts, ähnlich wie ein ganz langer Gang, der durch das Verschwinden in der 
Unendlichkeit finster wird. Ein Sichverlieren durch das Unaufhörliche, aus 
Mangel an Verfolgungsmöglichkeit. Zuerst kam so ein Gefühl des Nichtauf- 
hörenden, an das sich das Bild geschlossen, dann erst kam die Formulierung.« 


Nr. 20 »Kontinuität«. 

Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Kontinuität sprechen ?« 

Antwort: »Sprunglosigkeit. Es war sofort eine gerade Linie da, von 
links unten nach rechts oben. Ich gehe entlang der Linie und erfasse im 
Entlanggehen, worauf es ankommt. Erfasse dabei, das müßte mathematisch 
ausgedacht werden, Beziehung zur Mengenlehre; beschränke mich auf die 
anschauliche Vergegenwärtigung, wie ich sie in der Linie hatte. Anwendung 
auf entwicklungstheoretische Fragen, ob Sprung oder Nichtsprung, man müßte 
nicht den Sprung um alles in der Welt vermeiden. Wenn ich an die Lücken 
m der Kontinuität denke, genügt mir die Lücke nicht mehr. Dann sind es 
Spalten, welche den Sprung symbolisieren.« 


Nr. 21 »Beaudelaire«. 


Instruktion: »Ich werde Ihnen irgend einen Namen aus der Weltgeschichte 
oder Literaturgeschichte nennen und bitte um eine möglichst prägnante 
Charakterisierung, nachher eine Beschreibung Ihrer Erlebnisse.« 


Aufgabe: »Beaudelaire«. 

Ich sah sofort im freien Raum auf ganz dunklem Hintergrund pinen 
grün-blauen Farbfleck ausgesprochen in der Farbe des Vitriols, wie mit 
einem einzigen breiten Pinselstrich hingeworfen. Der Streifen ist länger als 
breit, vielleicht doppelt so lang als breit. Gleichzeitig ein Wissen, daß diese 
Farbe das Morbide ausdrücken soll, die spezifische Dekadenz, die Beaudelaire 
charakterisiert. Ich versuche, ob ich dieses Bild z. B. auch auf Wilde an- 
wenden würde, oder auf Huysmans. Unmöglich. Solche Widerstände, als 
ob mir etwas Unlogisches zugemutet werden würde. Dieses Bild steht nur 
für Beaudelaire und wird mir von nun ab immer für ihn repräsentativ sein. 
Es drückt mir Beaudelaires spezifische Einstellung zum Leben aus, wie er 
immer den Genuß an den Farben und an allem sinnlich Gegebenen betont, 
vielleicht gerade deshalb so betont, weil er ihn nicht so sehr hat, wie er ihn 
haben möchte. Dieser impressionistische Zug, dieses bewußte und gewollte 

25* 


388 Auguste Flach, 


Haften am flüchtigen, sinnlichen Eindruck, dieses Hohnlachende, noch über 
dem eigenen Erleben Stehen, dies alleinige Bejahen des Genießens und die 
aus Unvermögen zum Genuß hervorgehende Perversität. Das alles liegt für 
mich beschlossen in diesem Bild.« 


Nr. 22 »Expressionismus, Impressionismus«. 


Aufgabe: »Wie würden Sie das Wesen des Expressionismus gegenüber 
dem Impressionismus charakterisieren %« 

Antwort: »Ausdruckskunst. Ich hatte mannigfaltige anschauliche Erleb- 
nisse. Als erstes ein Schema, das ich häufig habe, wenn von Expressionismus 
die Rede ist, ein optisches Gebilde, und zwar derart, daß zackige Linien 
aus einem Menschen herauskommen, es soll bedeuten Erlebnisse, Vorstellungen, 
aber nicht nur Vorstellungen, sondern viel Anderes. Die zackigen Linien 
drücken die Erlebnisse aus, und zwar, daß diese Erlebnisse in eigenartiger 
Weise aus diesem Menschen nicht wandern sondern strahlen, dazu das Be- 
wußtsein, daß der Expressionismus das Ringen ist, um mit diesen Strahlungen 
etwas zu machen. Für den Impressionismus hatte ich Linien nach einwärts, 
zentripetal, und das Entscheidende stand außen, ich würde sagen, das ist 
der Eindruck. 

Das Expressionismusschema war das erste, aber ich kann nicht sagen, 
ob es in Verbindung mit dem anderen war, es war ein Hinüber- und Herüber- 
gehen.« 


Nr. 23 »Expressionismus, Impressionismus«. 

Aufgabe: »Wie würden Sie den Expressionismus charakterisieren gegen- 
über dem Impressionismus ?« 

Antwort: »Expressionismus ist die seelische Wiedergabe. Impressionismus 
ist die technische Wiedergabe. Der Expressionismus ist mehr Erlebnis, der 
Impressionismus mehr Beobachtung. Beide Wege führen zu der Wiedergabe. 
Die Wiedergabe selbst ist hier in der Anschauung nicht malerisch wieder- 
gegeben, sondern plastisch, eine Plastik auf einem grau behauenen Block. 

Das was Expressionismus ist, ist in meiner Farbe gefärbt, persönlich 
gefärbt, weiche, feine Pastellfarben, Regenbogenfarben, Nilgrün und Lachs- 
farbe vorherrschend, in Streifen weich konturiert. Das was Impressionismus 
ist, ist grau und stellt den Gegenstand so dar, wie er ist. 

Beim Impressionismus ist es, wie wenn ich hinter einer Mauer stehen 
würde und ganz kalt und förmlich das Ding taxiere und es wiedergebe, während 
ich beim Expressionismus bemüht bin, meine ganze Persönlichkeit in die 
Wiedergabe hineinzulegen. Das ist ausgedrückt durch die persönliche Färbung. 

Meine Stellung war am Ausgang der Wege an der Basis, ich habe mich 
selbst stehen gesehen, und zwar zweimal an beiden Ausgangspunkten, am 
Ausgangspunkt des Expressionismus hell, in der Beleuchtung, die aber nicht 
von außen gekommen wäre, sondern von innen, die Linien weich, im anderen 
Falle schärfer konturiert, farblos, so daß man als Person nicht in Betracht 
kommt und nur den Beobachter spielt und nichts von sich hergibt.« 

Beide, sowohl Impressionismus als auch Expressionismus, werden erfaßt 
als Wiedergabe, durch den übergeordneten Begriff, der aber der Vp. als 
übergeordneter gar nicht zum Bewußtsein kommt. Auch jenes Schema der 
zackigen Linie ist bis ins letzte Detail bedeutungserfüllt. Das Persönliche, das 
in die Darstellung eingeht, wird durch die persönliche Färbung ausgedrückt. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 389 


Die Versuchsperson sagt: »in meiner Farbe gefärbt«. Es hat eine symbolische 
Bedeutung, wenn die Versuchsperson sagt, daß das Licht am Ausgang des Ex- 
pressionismus nicht von außen kommt, sondern von innen. Das Unpersönliche 
des Impressionismus wird durch das indifferente Grau ausgedrückt. Die 
Mauer symbolisiert die Trennung zwischen Künstler und Gegenstand beim 
Impressionismus, die Person des Künstlers verschwindet hier gleichsam 
hinter einer Mauer. Wir können ihn durch sein Werk hindurch nicht erkennen. 
Aber auch zwischen ihm und seinem Werke steht eine Mauer. Die Vp. sagt 
noch ausdrücklich, daß man in der Kunst des Impressionismus als Person 
nicht in Betracht kommt. 


Nr. 24 »Demut«. 


Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Demut sprechen ?« 

Antwort: »Ein Zug im Nacken war sofort da. Vp. neigt den Kopf nach 
abwärts. Es ist ein Unterordnen, ohne sich das vorzuhalten, ob es berechtigt 
ist oder nicht. Aus einem gewissen, vielleicht spezifisch-fraulichen Gefühl, 
ohne daß man die Empfindung hätte, daß man sich dabei etwas vergibt.« 

Die Versuchsperson macht die entsprechende Bewegung, die sie gleich 
zu Anfang gemacht hat, und beschreibt sie: »Es ist ein Sichhinunterneigen 
und Sichhinneigen zugleich. Denn wenn ich mich hinunterneige und mich 
abdrehe, ist es nicht mehr Demut.« 


Nr. 25 »Gotik«. 


Aufgabe: »Können Sie mir das Wesen der Gotik als geistige Bewegung 
kurz skizzieren ?< 


Antwort: »Himmlischkeit.« 

»Ich hatte ein Bild, es war wie ein Zusammenfassen von Gini en, 
die steil, idealistisch aufwärtsstreben, zu einer Spitze nach 
oben, die Linien bauen sich auf wie ein Zelt, von verschiedenen Seiten ein- 
ander zustrebend zur Spitze. Die Linien habe ich entstehen sehen, im Raum, 
in klarer Luft, es war wie ein Aufsteigen.« 

Vl.: »Was sollen die Linien bedeuten %« 

Vp.: »Streben nach dem Höchsten, wo alle Kulturtätigkeiten sich zu- 
sammenraffen zu dieser Einheit des Idealismus. Weltanschauungssicherheit.« 


Nr. 26 »Heterogenie der Zwecke«. 


Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir mit Wundt von der Heterogenie 
der Zwecke sprechen ?« 

Antwort: »Zur Hauptsache-Werden eines vorher als Nebenerfolg auf- 
getretenen Zweckes. 

Ich bin auf ein Gebiet der primitiven Kultur gerichtet, Entstehung der 
Kunst, Verzierung an Gefäßen. Eines der geläufigen Beispiele war mir 
gegenwärtig: Tongefäß mit Korbgeflecht herum. Das, worauf es an- 
kommt, war mir optisch symbolisiert: Verzweigung einer 
Linie. Dieses Schema schließt sich an das Gefäß mit dem Korbgeflecht an. 
Es geht eine Linie auf das Gefäß zu, dann ein Seitenzweig nach rechts. Das 
Korbgeflecht soll dazu nur ein Beispiel sein.« 

Hier ist durch eine Vorstellung zuerst das Beispiel, der Anwendungsfall 
gegeben, an ihn schließt sich ein Schema, das das an ihm zum Ausdruck ge-' 
brachte Prinzip rein und abstrakt herausstellt. 


390 Auguste Flach, 


Fig. 8. 


Nr. 27 »Proletarier«. 


Aufgabe: »Geben Sie mir eine kurze prägnante Charakterisierung dessen, 
was Sie unter ‚Proletarier‘ verstehen.« 

Antwort: »Ich hatte ein merkwürdiges Bild, eine ebene schwarze Fläche 
und unter dieser so ein dunkles wogendes Schwälen, ein unbestimmtes Wogen, 
wie von einer dunklen, dicken schwerflüssigen Masse.« 

Vl.: »Was soll die Masse bedeuten ?« 


Vp.: »Die Ausgebreitetheit über die Welt und so etwa wie eine latente 
Dynamik, ein latenter Auftrieb.« 


Nr. 28 »Altruismus«. 


Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Altruismus sprechen ?« 


Antwort: »Anschaulich ist mir folgendes gegeben: Richtung des Hinüber- 
gehens zu einem Anderen, der nicht gegeben ist. Eine bogenmäßige Richtung 
zu dem Anderen. Der Schwerpunkt des Wesens dieses Altruisten liegt nicht 
in ihm selbst, sondern am Ende des Bogens, dort hat er seine Direktiven, 
dort pflegt er. Das Wort pflegen drängt sich auf.« 


Anmerkung: Hier ist das Prinzip des Altruismus durch den Bogen dar- 
gestellt. Das Wort pflegen bringt den Anwendungsfall für das Prinzip zum 
Ausdruck. 


Nr. 29 »Zweck — Motiv«. 


Aufgabe: »Wie würden Sie das Verhältnis von Zweck und Motiv charakte- 
risieren ?« 


Antwort: »Es sind Fäden, die sich vom Motiv über das Gehirn zur 
Ausarbeitung ziehen. Ich sehe ein Bild, ein tieferstehendes und ein höher- 
stehendes Gebilde. Es ziehen Fäden vom tieferstehenden zum höherstehenden 
Gebilde. Die Fäden gehen ganz durcheinander, sind ineinander verschlungen 
und verdicken sich am Ende. Das Ende ist oben. Das Motiv ist unten, der 
Zweck ist oben. Die Fäden, die vom Motiv zum Zweck gehen, verschlingen 
sich und gehen durch das Gehirn hindurch zum Zweck. Vom Zweck führen 
-Wege zum Ziel Fäden führen zum Motiv, sie sind wie Kabeln, die Greif- 
fäden, die sich nach oben verdicken, wie Ansätze, 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 391 





Fig. 9. 


Anmerkung: Sehr interessant ist dieses biologische Schema des Ent- 
wicklungsgangs vom Motiv zum Zweck und darüber hinaus zum Ziel, ein 
Schema, das ohne die Bedeutung, die von der Vp. jeweils bei jedem Detail 
hinzugesagt werden muß, unverständlich ist. Solange man das Bild nicht 
kennt, ist auch die Formulierung im ersten Satz unverständlich. 


Nr. 30 »Volk — Staate. 

Aufgabe: »Wie würden Sie die Beziehungen zwischen Volk und Staat 
charakterisieren ?« 

= Antwort: »Das Erste was da war: Da müssen Sie einen Staatslehrer 
fragen; und dann war es wie eine Menschenmenge und darüber ein Be- 
ziehungsnetz und das sollte sein: der Staat wirkt sich aus, an diesem Be- 
ziehungsnetz, das doch zum Volk irgendwie gehört. Dieses Beziehungsnetz 
ist auch anschaulich. Das ist wie etwas von mir Herausgehobenes und wie 
über den Köpfen weg zu Schendes. Es sollte aber in Realität wirklich darin 
sein. Der Staat hatte auch ein Zentrum, von dem die Beziehungen ausgehen. 
Das Zentrum habe ich nicht gesehen, es ist mir nur bewußt, daß sie won 
dem Zentrum ausgehen. 

Das Volk ist etwas, des über das Land ausgebreitet ist: Ich sehe eine 
weite Fläche und das Volk wächst irgendwie aus dem Land, ist innig ver- 
bunden damit, und darüber wächst, wie aus diesem Organismus herausgehoben, 
als Abstraktionsprodukt dieses Netz. Das sind Kraftlinien, in denen etwas 
geschehen kann. Eines ihrer wichtigsten Merkmale ist dieses, daß sie von 
dem einen Punkt her bedient werden, sozusagen.« 


Nr. 31 »Anpassung«. 

Aufgabe: »Was meinen wir, wenn wir von Anpassung sprechen !« 

Antwort: »Zweckmäßige Veränderungen nach der Situation. Etwas 
Räumliches, nicht leicht Festzustellendes gegenüber von mir in einer be- 
stimmten Richtung, das ist das, was sich anpaßt. Ihm gegenüber steht das, 
dem es sich anpassen muß, es ist kein Lebewesen da, kein körperliches Ding, 
weder auf der einen noch auf der anderen Seite, das sich Anpassende ist 


392 Auguste Flach, 


etwas Plastisches, plastische Luft, etwas Gasförmiges, das Andere müßte 
ein Relief enthalten, das Eine würde sich in das Andere hineinschieben und 
sich ihm anschmiegen. Eigentümlich unbestimmt ist das. Letzten Endes das 
Bild vom Wachs und Siegel, das von mir in die quallenhaft unbestimmte Kon- 
sistenz hineingedacht wird. Das Bild hat schon alles enthalten, man mußte 
nur lossprechen.« 

Nr. 32 »Hegelk«. 

Aufgabe: »Wie würden Sie das Weltbild Hegels charakterisieren ?« 

Antwort: »Sofort so etwas wie in sich geschlossene Linien. Ich weiß 
nicht, ob ich sagen kann Kreis. In sich geschlossene Linien, die aber nicht 
fest auflagen, keinen festen Boden hatten, ein Gewusel von ge- 
schlossenen Kurven, auch etwas darin, wie eine in eine Spitze auslaufende 
Spirale. Das Spitzausgehende, in sich Zurückkehrende, das war das Symbol.« 

Vl.: »Das Symbol wofür %« 

Vp.: »Für den allgemeinen Eindruck, den mir Hegel jetzt macht, ohne 
daß ich an etwas Einzelnes, Konkretes dachte. Es war auch der Gedanke 
gegeben: aprioristisches Konstruieren, den Tatsachen Gewalt antun. Es war 
ein Sichfreuen an einem geschlossenen System, und andererseits ein Be- 
dauern über die aprioristische Denkweise, dem nicht auf den Tat- 
sachen-Fußen« 

Nr. 33 »Hegel«. 

Aufgabe: »Wie würden Sie die Hegelsche Philosophie charakterisieren ?« 

Antwort: »Es hat sich mir gleich durch den besonderen Dreitakt sym- 
bolisiert. Ich hörte drei Schläge: Poch, poch, poch. Der letzte war be- 
sonders betont. Ich zählte auch eins, zwei, drei. Ich habe mir die Worte 
Thesis, Antithesis, Synthesis gar nicht gesagt, ihr Wesen war mir im Drei- 
takt gegeben.« 

Hier finden wir eine abstrakte Bedeutung, akustisch, motorisch durch 
einen Rhythmus symbolisiert. 


III. Die Eigenart des symbolischen Schemas. 
1. Der bloße Symbolcharakter. 


Das Phänomen, welches in allen diesen Protokollen immer 
wieder auftritt, zeigt ganz bestimmte charakteristische Züge. 
Zu diesen gehört vor allem der bloße Symbolcharakter des 
Bildes. Alle diese anschaulichen Gegebenheiten, 
welche die Vp. unmittelbar erlebt, weisen hin auf einen 
über ihr sinnliches Sein hinausgehenden ab- 
strakten Gedankengehalt. Mehr noch. Schon die zu- 
erst angeführten, gelegentlich entstandenen Schemata haben ge- 
zeigt, daß die sinnlichen Bilder allein besehen, für jedermann 
unverständlich sind, solange er den Gedanken nicht kennt, für 
den sie stehen. Diese Beobachtung hat sich im Verlauf der 
Versuche bestätigt. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 393 


Dort, wo sinnliche Bilder sonst illustrativ auftreten, wird 
irgendein konkreter Gegenstand, oder eine Situation aus der 
Wahrnehmung herangezogen und zu dem darzustellenden ab- 
strakten Gedankengehalt in Beziehung gesetzt, um diesen 
gleichnisweise zu verdeutlichen. 

Nr. 40. Um das Charakteristische am Wesen der Fichteschen Philo- 
sophie befragt, vergegenwärtigt sich die Vp. einen Mann, der mit einem 
Hammer auf eine Mauer klopft. Vom VI. befragt, was dieses Bild zu be- 


deuten habe, sagt die Vp. das soll heißen: »Das Ich hat sich das Nichtich 
geschaffen, um Material für sein Handeln zu haben.« 


Jeder, der dieses Bild irgendwo gemalt oder gezeichnet sieht, 
wird auch ohne Beziehung zur Fichteschen Philosophie sagen 
können: Das Bild hat einen Sinn, das ist ein Mann, der mit 
einem Hammer auf eine Mauer klopft. Dieses Bild hat also un- 
abhängig von dem abstrakten Gedankengehalt, zu dem es durch 
die Vp. in symbolische Beziehung gesetzt wurde, seinen eigenen 
guten Sinn, seine Eigenbedeutung, wie wir es genannt haben. In 
solchen Fällen sind es eigentlich immer zwei Be- 
deutungen, aus denen die symbolische Beziehung 
sich aufbaut: Die Eigenbedeutung irgendeines 
konkreten Gegenstandes und der Sinngehalt eines 
abstrakten Gedankens. Diese Art der Symbolisierung hat 
Kant!°) charakterisiert, indem er sagt: es sind indirekte Dar- 
stellungen »vermittels einer Analogie, in welcher die Urteilskraft 
ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den 
Gegenstand einer sinnlichen Vorstellung und zweitens die bloße 
Regel der Reflektion über jene Anschauung, auf einen ganz 
anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, 
anzuwenden«. 

Ganz anders liegen die Verhältnisse in unserem speziellen 
Falle einer Symbolisierung, wo ein abstrakter Gedankengehalt 
an einem symbolischen Schema erfaßt wird und durch dieses 
eine adäquate Darstellung erfährt. Diese Bilder haben 
keine Eigenbedeutung; sie haben Bedeutung nur durch ihre 
Funktion als Darstellungsmittel des Gedankens!!). 


Ich verweise ‘auf Nr.29 »Zweck und Motiv«, wo das Schema allein un- 
verständlich ist und nur dadurch sinnvoll wird, daß die Vp. bei jedem an- 


10) Kant, Kritik der Urteilskraft, § 59: Von der Schönheit als Symbol 
der Sittlichkeit. 

11) Unsere experimentellen Ergebnisse decken sich hier vollständig mit den 
Ausführungen von Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen 
1923 S. 42. : 


394 Auguste Flach, 


schaulichen Detail, das sie heraushebt, spontan hinzufügt, was es bedeutet. 
Die Formulierung im ersten Satz ist unverständlich ohne das Bid. Die Vp. 
hat an diesem Bilde gedacht, und darum können wir auch nur an Hand des Bildes 
verstehen, was die Vp. mit der so seltsam anmutenden Formulierung Bagen 
will Sie hat das Verhältnis von Zweck und Motiv in biologischer Hinsicht 
als eine Entwicklung aufgefaßt, welche vom Motiv zum Zweck und von da 
zur Konsequenz, zum Ziel geht. 

In Nr. 6 »Tausch« erlebt die Vp. das Moment des Geschehens, welches 
den »Tausch« charakterisiert. Sie sagt: »Da vollzieht sich etwas. Auch die 
Zweiheit, welche der Tausch voraussetzt, ist durch die beiden Ansätze ge- 
geben. Das Band symbolisiert den Akt des Tausches, der die Zweiheit wer- 
bindet. Endlich gibt die Vp. noch ein letztes Charakteristikum des Tausches 
an: »Aus dem Schema ist noch etwas zu entnehmen, nämlich, daß keine der 
beiden Richtungen bevorzugt ist.« 

Wir sehen hier deutlich, wie der abstrakte Gehalt an an- 
schaulichen Gegebenheiten erlebt wird. Diese anschaulichen Ge- 
gebenheiten sind von einer Knappheit und Prägnanz, die uns wie 
eine Anschauung gewordene Formel anmutet. Das Bild selbst 
ist restlos von dem abstrakten Gehalt her aufgebaut und enthält 


keine bedeutungsfreien, selbständigen Details. 

Ich lasse weitere Beispiele folgen: 

Nr.11. Nach dem Wesen alles Willensmäßigen, alles Begehrens gefragt, 
antwortet die Vp.: »Es müssen Erlebnisse sein, die das Spezifische der 
Richtung haben, das Ich als Quellpunkt.« Erlebt wurde diese Definition an 
einem Schema. Die Vp. selbst sagt uns: »So eine Gerichtetheit, ein Streben, 
ich bin darin in diesen Bewegungen der Pfeile, ich denke durchaus mit diesem 
Schema.« . 

Nr. 16 »Synthese«. Ein Netz, das sich pyramidenförmig zusammenzieht. 
Die Vp. selbst gibt die Deutung: »Die Mehrheit als Ausgang und die Einheit 
als Ende sind mir darin durch Basis und Spitze charakterisiert.« 

Nr.15. Nach dem übergeordneten Begriff von »Hypothese und Theorie« 
gefragt, kommt die Vp. zu dem übergeordneten Begriff: »Wegbahnung durch 
Nichtgebahntes« auf Grund eines Schemas. »Sofort eine Linie, welche sich von 
mir weg in schlangenförmigen Bewegungen fortschlängelte, als müßte sie 
sich durch etwas hindurch erst den Weg bahnen.« 

In Beispiel Nr. 26 »Heterogenie der Zwecke« sagt die Vp. selbst: »Das, 
worauf es ankommt, war mir optisch symbolisiert.« 

Nr.31 »Anpassung«. Das Bild hatte schon alles enthalten. Man mußte 
nur lossprechen. 

Nr.20 »Kontinuität«. »Es war sofort eine gerade Linie da. Ich gehe 
entlang der Linie und erfasse im Entlanggehen, worauf es ankommt.« 

In Nr. 8 macht die Vp. über das eben gehabte Erlebnis spontan 
folgende Aussage: »Dieses Bild ist sinnvoll, bedeutungsvoll, ich kann die 
einzelnen Stellen angeben, wo die Merkmale zu holen sind. Aus dem Un- 
begrenzten ist herauszuholen das Merkmal des Unberechenbaren, dort müßte 
man hinschauen, um das Merkmal des Unberechenbaren herauszuholen; an 
dem Verhältnis zwischen Fläche und Ding da wäre die Stelle, wo ich die 
zerstörende Wirkung, die vernichtende, die Größe der Kraft herausholen 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 395 


müßte, dort liegt es an dieser Stelle, weitgehend, sinnerfüllt. Diese Sinn- 
erfüllung führt zur Merkmalfindung. Ich kann dann das Merk- 
mal bezeichnen, ich hole es heraus, wenn man so will.« 

Diese Sinnerfüllung führt zum Erfassen der für den Ge- 
danken konstitutiven Momente. Die Vp. sagt ganz ausdrück- 
lich, daß sie durch die sinnliche Anschauung zur »Merkmal- 
findung«, eben zu dieser Erfassung des Sinnes gekommen ist. 
Diese konstitutiven Momente sind für sie an ganz bestimmten 
Stellen dieses anschaulichen Gebildes lokalisiert. Diese Stellen 
sind von dem Sinngehalt her determiniert. Von ihm aus können 
wir die Konstruktion des anschaulichen Gebildes auflösen. 
Dieses anschauliche Gebilde stellt nichts an- 
deres dar alsein System ideeller, begrifflicher 
Beziehungen, die dadurch erfaßt wurden, daß 
sie die Vp. als bestimmte Relationen anschau- 
licher Gegebenheiten erlebte, 

Dadurch daß die Vp. am sinnlichen Bilde die Besonderheit 
des abstrakten Gedankens unmittelbar erlebt, kommt eine der- 
derartige Identifizierung von Bild und Gedanke zustande, daß 
es die Vp. gar nicht begreift, wie es möglich ist, daß ein anderer 
dieses Bild anders auffassen könnte, als sie es tut. Nr. 21 
»Beaudelaire«. »Dieses Bild steht nur für Beaudelaire und 
wird von nun ab für ihn immer repräsentativ sein. Ich versuche, 
ob ich das Bild z. B. auf Wilde anwenden würde oder auf 
Huysmans. Solche Widerstände,‘ als ob mir etwas Un- 
logisches zugemutet werden würde.« 

Für alle diese Bilder ist es bezeichnend, daß sie von dem 
darzustellenden Gedankengehalt her restlos bestimmt sind. Von 
diesem Gesichtspunkte der Sinnerfüllung habe ich mich leiten 
lassen, als ich unter die symbolischen Schemata auch jene auf- 
genommen habe, welche von außen gesehen, von dem fremden 
Beschauer, solange er den dazugehörigen Gedankengehalt nicht 
kennt, leicht als Kegel oder Kugel oder irgendein geometrisches 
Gebilde bezeichnet werden können. Diese scheinbare Eigen- 
bedeutung wird vom Erlebenden entweder gar nicht beachtet, 
oder sie hat Symbolfunktion so wie in Nr. 13 »Kompromiß« 
oder Nr.4 »Genua«. 


2. Der produktive Charakter. 


An den vorhin angeführten Protokollen läßt sich auch be- 
reits das zweite Merkmal erkennen, das für alle symbolischen 


396 Anguste Flach, 


Schemata wesentlich ist, nämlich, daß an diesen Bildern 
gedacht wird. Sie gehen aus dem Denkverlauf unmittel- 
bar hervor und sind eine Erscheinungsweise des produktiven 
Denkens. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Wissens- 
aktualisierung im engeren Sinn, um eine bloße Reproduktion 
eines fertigen Wissens, das im Gedächtnis bereit läge, sondern 
die Vp. kommt mit der Symbolisierung und durch diese erst 
zum Sinnverständnis. Das Erfassen des Sinngehaltes kommt 
in der Symbolisierung dadurch zustande, daß die die besondere 
Sinnstruktur aufbauenden Beziehungen der Vp. zuerst in an- 
schaulichen (räumlichen) Gegebenheiten klar werden. In einem 
anschaulichen Bilde ergibt sich unmittelbar das Verstehen des 
Sinnzusammenhangs, das vorher noch nicht vorhanden war. 
Es ist darum ein produktives Denken, das sich hier im Be- 
reiche des Anschaulichen vollzieht, nur daß dieser Prozeß gleich- 
sam an einem anderen Material zur Auswirkung gelangt. Die 
Klarstellung und Abgrenzung des abstrakten Gedankengehaltes 
erfolgt nicht in der begrifflichen, sondern in der sinnlichen 
Sphäre. 


3. Der räumliche Charakter. 


Außer den beiden hier beschriebenen wesentlichen Merk- 
malen ist es das Moment der räumlichen Gegebenheit, welches 
alle diese Phänomene durchwegs aufweisen. Im symbolischen 
Schema wird ein abstrakter Gedankengehalt dadurch erfaßt, 
daß die ihn konstituierenden, ideellen Beziehungen in anschau- 
licher Weise erlebt werden, und zwar, soweit ich es gefunden 
habe, immer als räumliche Gegebenheiten. 

Während in denjenigen Fällen, wo es sich um eine illu- 
strierende Vorstellung handelt, der Raum bloß als Matrix fun- 
giert, als Hintergrund und Untergrund, gleichsam als Bühne, in 
welche die illustrierenden und symbolisierenden, anschaulichen 
Gestaltungen hineingestellt sind, hat er in jenen Fällen, wo ein 
symbolisches Schema vorliegt, Darstellungsfunktion, das heißt: 
die räumlicnen Bestimmungen und Gestaltungen sind nicht nur 
vorhanden, sondern sie sind geradezu die Träger und wesent- 
lichen Versinnlichungen der abstrakten Beziehungen. Durch 
die Verräumlichung dieser Beziehungen wird der abstrakte Ge- 
dankengehalt erfaßt. 

Besonders prägnant kommt die Funktion des Raumes als 
Darstellungsmittel dort zum Ausdruck, wo ein Schema sich 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 397 


allein aus den Mitteln räumlicher Bestimmungen aufbaut. Durch 
bloße Abgrenzung, Verdichtung, Richtungsbestimmtheit, oder 
dadurch, daß ein bestimmter Rhythmus in eine Raumgegend 
eingeht, findet ein abstrakter Gedankengehalt eine sinnliche 
Darstellung. 

So ist es z. B. in folgendem Fall, wo die Vp. gefragt wird: Wie würden, 
Sie das charakterisieren, was man als »neu« bezeichnet? »Ich erfasse das als 
neu, was mir nicht bekannt ist.« Indem ich dies sage, habe ich folgendes 
Bild: Ich sehe einen poligonen weißen, gleichsam leeren Fleck, der dadurch 
entsteht, daß in unregelmäßiger Weise ein anderes Terrain ihn begrenzt, 
von dem ich weiß, daß es das Terrain des Bekannten, irgendwie Gestalteten 
ist. Der Fleck symbolisiert mir das Neue. Die Grenzgestaltung des Be- 
kannten bedingt die Gestaltung desjenigen, was wir das Neue nennen. Das 
ist die symbolische Bedeutung dieser Grenzlinie. Das Neue ist gleichzeitig 
auch das noch nicht Gestaltete, »gleichsam Leere«. 





Fig. 10. 


Die einzige Gestaltung, die es erfährt, ist die von der Grenze her, die 
Gestaltung durch das Bekannte. Es entsteht charakteristischerweise da- 
durch, daß das Bekannte (graue Terrain) aufhört. So erfährt das Neue 
seine charakteristische erste Gestaltung durch die Grenze des Bekannten. 
Die Grenze des Bekannten determiniert hier die Gestaltung des Unbekannten, 
des Neuen. 

Ebenso wird in Nr.34 von der Vp., die gefragt wird: »Was verstehen 
wir unter Anthropomorphismus«, das Religiöse an einem Schema erlebt, das 
nur aus räumlichen Bestimmungen allein sich aufbaut. »Das Weite ist ge- 
geben, das Nach-Oben ist da, der Horizont, die Fläche mit Horizont, und 
über den Horizont kann sich der Blick heben, um zu suchen; es tritt mir 
nicht entgegen, ich habe nur die Gegenden, die ich ausnützen könnte für 
meine Zwecke, sie werden aber nicht ausgenützt, sie werden nicht differen- 
ziert. Es ist in erster Linie das Religiöse, aber es ist noch offen gelassen, 
was da noch ist.« 

Oder Versuch Nr.19. Hier wird der Vp. das Wesen der »Kontinuität« 
an einem symbolischen Schema anschaulich. Sie beschreibt das, was sie sieht, 
indem sie sagt: »Es ist etwas Langlaufendes, das sich perspektivisch ver- 


398 Auguste Flach, 


liert, vor mich hin, von mir weg, dunkler werdend nach rückwärts, ähnlich 
wie ein ganz langer Gang, der durch das Verschwinden in der Unendlichkeit 
finster wird. Ein Sich-Verlieren durch das Unaufhörliche aus Mangel an 
Verfolgungsmöglichkeit. 

Nr. 28: »Was verstehen wir unter Altruismus?« Die Vp. hat anschaulich 
eine Richtung gegeben, das Hinübergehen zu einem anderen, der nicht ge- 
geben ist. »Eine bogenmäßige Richtung ist das. Der Schwerpunkt des Altruisten 
liegt nicht in ihm selbst, sondern am Ende des Bogens, dort hat er seine 
Direktiven, dort pflegt er.« ; 

In all diesen Beispielen ist das Schema aus räumlichen Be- 
stimmungen, in die allenthalben noch Bewegung mit eingeht, 
aufgebaut. Der Raum selbst wird zu einem plastischen Medium, 
dessen sich der Gedanke zu seiner Gestaltung bedient. 


Von diesen Fällen werden wir jene zu unterscheiden haben, 
wo ein abstrakter Gedankengehalt an einer bestimmten Stelle 
im Raum lokalisiert erscheint, ohne daß durch diese Lokali- 
sation der Gedanke selbst näher charakterisiert werden würde. 
Diese Lokalisationen sind går nichts anderes als Haftpunkte 
für das Denken, das an diesen räumlichen Bestimmtheiten ein- 
setzen und sich an ihnen wie an wirklichen Gegenständen be- 
tätigen kann. 


Zum Beispiel Versuch Nr. 86. 

»Verstehen Sie und geben Sie zu Protokoll, wie sich dieses 
Verstehen vollzogen hat.« 

»Man muß die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele 
heilen.« »Dieser Zwefheitskomplex, Sinne und Seele, und dann Gesundheit 
dazu, das ist mir gegenwärtig und ich arbeite mit ihm. Ich sehe dabei, das 
kann ich mit Bestimmtheit sagen, eine Ortsunterscheidung, Sinne rechts und 
Seele links, Sinne mehr punktuell und die Seele das ist das Raumhaftere. 
Eine Spaltung ist bei den Sinnen da. Die Seele ist wie eine einseitige runde 
Grenzlinie, etwas weit Offenes. Das Heilen, das Gesundsein war nicht in der 
Anschauung, ich hätte es aus einem anschaulichen Moment nicht nehmen 
können. Die räumliche Differenzierung gibt mir eine Stütze 
für das Denken; daß ich hin- und hergehen kann, das muß ich machen 
bei diesem Denken.« Die Stütze, von der die Vp. spricht, besteht nur in 
einer getrennten Lokalisation im Vorstellungsraum. 

Nr. 37. 

»Können Sie mir eine ganz kurze vergleichende Charakteristik 
geben? Renaissance — Reformation.« 

»Sofort ein Gefühl der Sympathie, dann inmitten vieler Anklänge pn 
Wissen folgendes Bild: Ein horizontaler Strich. An einem Ende Reformation, 
aber nicht anschaulich, nur ein Wissen davon, am anderen Ende Renaissance. 
Die beiden Termini haben die Plätze gewechselt, ohne daß es störend auf- 
gefallen wäre. Das Schema war mehr eine Begleiterscheinung, keine Hilfe 
für die Lösung der Aufgabe.«x Vl.: »Glauben Sie, daß mit dem Strich etwas 
gemeint war?« »Wenn es etwas bedeutete, so war es nur das Obwalten 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 399 


einer Beziehung, die erst herausgearbeitet werden sollte, ein Aufgabe- 
symbol« 

Die Vp. nennt diesen Strich ein Aufgabesymbol und be- 
zeichnei damit ganz richtig, daß die Symbolisierung sich hier 
nur auf die Aufgabenstellung bezieht. Die Vp. betont auch, 
daß diese Art der Veranschaulichung »mehr eine Begleiterschei- 
nung, keine Hilfe für die Lösung der Aufgabe« sei. 


Hierher gehören auch alle diejenigen Fälle, die Botju 
Schanoff:?) beschrieben hat. Auch die Schemata, die dieser 
bei seinen Vpn. beobachten konnte, dienten nur der Fixierung 
von Aufgaben: »Die optischen Zahlen dienen als gewisse An- 
haltspunkte beim Rechnen. So wird das Behalten 
gewisser Zwischenzahlen durch das Schema erleichtert: 
Soweit die Zahlen nicht durch Ziffern repräsentiert sind, ist 
das Schema eine Höhe, eine Linie, eine Strecke, welcher eine 
bestimmte Länge zukommt. Das Schema spielt während 
des Ausrechnens entweder keine Rolle oder dient nur zur 
Bestimmung der Größe der inzwischen gewonnenen 
Zahlen, indem die Vp. weiß, wo ungefähr im Schema 
die betreffende Zahl liegt.« 

Ich möchte diese Fälle, wo die räumliche Lokalisation nichts 
beiträgt zur Lösung der Aufgabe, nicht als symbolische 
Schemata in unserem Sinn bezeichnen, sondern sie vielmehr zur 
- Gruppe der Denkillustrierung rechnen. Wir werden diese Art 
der Veranschaulichung im Kapitel über die Diagramme noch 
ausführlich besprechen. 

Um den Unterschied zwischen dem Schema und der bloßen 
Lokalisation im Vorstellungsraum ganz klar werden zu lassen, 
wollen wir noch ein Beispiel anführen, welches Messer in 
seiner Arbeit »Experimentellpsychologische Untersuchungen über 
das Denken« (Archiv für die gesamte Psychologie Bd.8) ver- 
öffentlicht hat. Bei den Reizworten »Zweck—Motiv« »Bild 
eines Schemas, wo Zweck rechts von einem Mittelpunkt ist 
und Motiv links, und Bewußtsein: Motiv treibt nach 
rechts, Zweck zielt nach rechts«. Das ist ein Fall, 
den man bei flüchtiger Betrachtung leicht für eine bloße Lo- 
kalisation halten könnte. Genauer besehen ist das ein richtiges 
symbolisches Schema. Es kommt hier durch die Lokalisation 


12) Botju Schanoff, Die Vorgänge des Rechnens, Monographien von 
Meumann Bd.11, Jahrg. 1911. 


400 Auguste Flach, 


und die Bewegung, welche in sie eingeht, zur Darstellung des 
Gedankengehaltes. Es wird an und mit dieser Lokalisation 
gedacht. Durch die räumliche Getrenntheit und gleiche Ziel- 
strebigkeit von Zweck und Motiv wird deren gegenseitige Be- 
ziehung zum Ausdruck gebracht und damit ist die symbolische 
Darstellung des Sinngehaltes gegeben. 

Die Orientierung des Geistigen am Räumlichen entspricht 
einer uralten Gepflogenheit unseres Geistes. »Noch in den 
höchstentwickelten Sprachen begegnet uns die metaphorische 
Wiedergabe geistiger Bestimmungen durch räumliche. Wie sich 
im Deutschen dieser Zusammenhang in den Ausdrücken des 
Vorstellens und Verstehens, des Begreifens, des Begründens, 
‚des Erörterns usw., wirksam erweist!?).« Es ist interessant, 
zu sehen, daß diese selbe Funktion, die in der Sprache ihren 
Niederschlag gefunden hat, noch heute in uns lebendig ist und 
dort zum Ausdrucke kommt, wo ein Gedanke in unmittelbar 
anschaulicher Weise an einem symbolischen Schema erfaßt 
wird. 


4. Der motorische Charakter. 


Ein weiteres Moment, dem am Zustandekommen der sym- 
bolischen Schemata eine wichtige Rolle zuzufallen scheint, ist 
das motorische. Während aber die räumliche Gegebenheit ein 
wesentliches Merkmal ist, möchte ich die Frage, ob das ' 
Motorische als ein durchgängiges Merkmal zu bezeichnen 
ist, noch offen lassen. Was meine eigenen Schemata anlangt, 
so muß ich sagen, daß sie durchwegs motorische Elemente 
enthalten, was aber darauf zurückgeführt werden könnte, daß 
ich vielleicht stark motorisch veranlagt bin. Tatsächlich dürften 
ja hier große individuelle Differenzen bestehen. 

Die Angaben der Vpn. lassen den Tatbestand: War das 
Vorliegende motorisch oder nicht gegeben, nicht 
ıimmereindeutigerkennen. Ich zitiere zwei Protokolle 
ein und derselben Vp., welche widersprechende Angaben zu 
enthalten scheinen, wo wir aber durch die Angaben, welche die 
Vp. im zweiten Protokoll macht, den scheinbaren Widerspruch 
werden auflösen können. 


»Es war so etwas wie ein Netz, das sich pyramidenförmig zusammen- 
zieht.« »Die Mehrheit als Ausgang und die Einheit als Ende sind darin durch 


13) Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1923. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 401 


Basis und Spitze charakterisiert. In einem Nachsatz fügt die Vp. spontan 
hinzu: »Nichts Dynamisches, nichts von Geschehen war darin, ich könnte 
dieses nicht ablesen daraus.« (Nr, 16 »Synthese«.)' 
»Da ist ein Band, da vollzieht sich etwas. Ich brauche für das 
Band nur den Ansatz. Das Bild war fertig da. Daß hin- und her- 
gegangen wird, lag in der Bedeutung, nicht im Bild. Ich sage 
zwischen beiden geschieht etwas; es hätte das Wechselverhältnis hinein- 
kommen können, dadurch, daß Bewegung hineingekommen wäre.« 
(Nr. 6 »Tausch«,) 


Die Vp. hat dieses Bild Nr.6 und wahrscheinlich auch 
Nr. 16 als von vornherein fertiges statisch erlebt. Das Wechsel- 
verhältnis dieses »da geschieht etwas« war nur gedacht und 
nicht als Bewegung erlebt worden. Damit ist aber nicht aus- 
geschlossen, daß doch Motorisches hier mitgespielt haben mag, 
Augenbewegungen oder motorische Impulse, welche nicht aus- 
geführt wurden und sich nur in dem Gedanken »da geschieht 
etwas«, »da vollzieht sich etwas« ausgewirkt haben. 

Vielleicht gibt es symbolische Schemata, wo jedes motorische 
Moment fehlt. Andererseits ist die Annahme durchaus nicht 
von der Hand zu weisen, daß selbst dort, wo die Vp. über mo- 
torische Erlebnisse selbst keine Angaben machen kann, moto- 
rische Impulse bei der Erfassung des Gedankens mitgewirkt 
‘ haben mögen. Diese Annahme erscheint uns immerhin plausibel, 
wenn wir uns vergegenwärtigen, daß das Denken zum Tun in 
ganz naher Beziehung steht. Namhafte Forscher sind bei ihren 
phylogenetischen und ontogenetischen Studien immer wieder 
darauf gestoßen. Stöhr hat das Entstehen der Begriffe aus 
der unmittelbaren Reaktion abgeleitet. »Das physisch Zerwerf- 
bare«, so sagt er, »ist der Begriff des Vielen. Dem steht der 
Begriff dessen gegenüber, was dem Zerwerfungsversuch einen 
fühlbaren Widerstand entgegensetzt. Das physisch Kohärente 
kann nicht zerworfen werden, es kann höchstens zerbrochen 
werden. »In dieser Weise können wir alles, das kohärent 
ist, einerseits unter seinen besonderen Begriff bringen, wie 
Hut oder Haus oder Messer, und außerdem unter den Begriff 
des Eins = des Unzerwerfbaren !*).« Paul Schilder!5) weist 
in seiner »Medizinischen Psychologie wiederholt darauf hin, 
daß es eigentlich kein interesseloses Denken gibt: »Begriffe sind 
ideelle Haftpunkte für das Handeln. Man kann das Wesen 
des Begriffes nicht verstehen, wenn man sich nicht klarmacht, 


14) Stöhr, Lehrbuch der Logik S. 12. 
15) Paul Schilder, Medizinische Psychologie, Berlin 1924, S. 197. 
Archiv für Psychologie. LII. 26 


402 Auguste Flach, 


daß sie die Grundlage für mögliche Handlungen abgeben. Man 
sieht aber sogleich, daß gerade das Bedeutungserlebnis zum 
Handeln besonders enge Beziehungen haben muß.« Vielleicht 
hat die sinnliche Gestaltung des abstrakten Gedankens im Raum 
auch den biologischen Wert, daß so aus der Anschauung im 
Raum heraus besser Angriffspunkte für unser Handeln ge- 
wonnen werden können. Tatsächlich sehen wir, daß es sym- 
bolische Schemata gibt, wo die Erfassung des Sinngehaltes 
offensichtlich am Tun, am Handeln, an der Handhabung der 
Dinge orientiert ist. Es sind die biologisch wichtigen Punkte, 
welche in solch einem Schema festgehalten werden und welche 
die Grundlage abgeben, den besonderen Gesichtspunkt, von .dem 
aus der Aufbau des abstrakten Gedankens erfolgt ist... 

Ich möchte in denjenigen Fällen, wo die abstrakte Be- 
deutung durch unsere Reaktion auf den Gegenstand bestimmt 
ist von einer pragmatischen Sinnerfassung sprechen. 
In der pragmatischen Erfassung wird das motorische Element 
direkt aufbauend für den abstrakten Gedankengehalt. 

Wenn ich irgend jemand frage, »was ist das, eine Wendel- 
treppe?«, so wird jeder rasch mit der Hand von unten nach 
oben in der Luft eine Spirale beschreiben: »So etwas«, »das 
ist eine Wendeltreppe.« In dieser spiralen, nach oben zu sich 
verjüngenden Bewegung konstruiert er gleichsam die Wendel- 
treppe, und zwar nicht abstrakt auf dem Wege der Gleichung, 
sondern schaffend in der ausführenden Bewegung, im kon- 
struierenden Akt wird das erfaßt, was das Wesen der Wendel- 
treppe ausmacht. 

Auch bei unseren Versuchen finden wir, wie im Beispiel 
von der Wendeltreppe, daß die Vp. ganz unmittelbar mit einer 
Bewegung reagiert, in welcher sie die Besonderheit irgendeines 
Sachverhaltes zur Darstellung bringt. 

Nr.17 »Chaos«. Vp. macht sofort eine wirbelnde Bewegung mit beiden 
Händen. Antwort: »So etwas, eine vollkommen ungeordnete Masse jeder Art.« 

Nr.24 »Demut«. »Sofort die motorische Tendenz den Kopf zu senken 
und eine demütige Haltung einzunehmen.« 

Nr. 14 »Kompromiß«. »Ich hatte die Vorstellung von zwei Körpern, die 
sich von der Seite zusammenschieben und sich ineinandersaugen. Die Be- 
wegung habe ich mit den Händen mitgemacht.« 

Nr. 11 »Begehren«. »Ich hatte ein Gefühl im Nacken, ein Gefühl des 
Hingezogenwerdens zum begehrten Gegenstand.« 

Nr.12 »Religiosität«. Die Bewegung soll die Funktion des Religiösen 


in einem eigenartig aufstrebenden Rhythmus einer Gerichtetheit nach oben 
darstellen. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 403 


Dieses Erfassen eines objektiven Soseins im Tun ist vor 
allem dadurch charakterisiert, daß die Bewegung, die wir aus- 
führen, die konstruktive Bewegung ist, die wir .mit- 
machen, in der wir die diesem Sein immanente Gesetzmäßig- 
keit miterleben. In der Zwangsläufigkeit der ausgeführten 
Bewegung findet das Erleben der Eigenart einer Gestalt seinen 
unmittelbaren, beinahe reflexhaften Ausdruck. Wir werden, 
wenn wir eine Gestalt erfassen wollen, sie unwillkürlich nach- 
machen, sie abtasten oder durchfahren. Dieses Abtasten oder 
Durchfahren wird nur in einer der Besonderheit ‚dieser Gestalt 
adäquaten Weise möglich sein. Es wird z.B. im Falle einer 
antiken Plastik anders sein, als einer barocken. Es wird ein 
ganz bestimmter Rhythmus sein, der einer bestimmten Gestalt 
entspricht und allein ihr Wesen zur Darstellung bringen kann. 
Indem wir diesen Rhythmus nachmachen, erleben wir die Eigen- 
art der Gestalt ganz unmittelbar. »Zum Begreifen des Kreises«, 
sagt Stöhr!®), »gehört es, daß zum gegebenen Kreise eine 
wenn auch noch so primitive Art seiner Erzeugung hinzu vor- 
gestellt wird.« Statt eines Zirkels tut es auch ein Pflock in 
der Erde, woran eine Schnur gebunden ist. Schließlich genügt 
ein ` Stock allein, mit dem im Lehm drehrunde Löcher gebohrt 
werden können !?), 

»Immer handelt es sich um die era 
der Figur, diezur Figur hinzugedacht wird, wie 
die Bewegung zur hinterlassenen Spur.« 

Ergänzend ist hier noch hinzuzufügen, daß das Motorische 
auch als Bildbestandteil in einen Bildzusammenhang eingehen 
kann. Das kann sowohl bei Denkillustrierung als auch in einem 
symbolischen Schema der Fall sein. Sehr häufig ist in beiden 
Fällen Motorisches dadurch gegeben, daß das Bild im Augen- 
blick entsteht und nicht auf einmal fertig da ist. 

Wir wollen die Besprechung der charakteristischen Merk- 
male nicht schließen, ohne zu erwähnen, daß unsere Vpn. auch 
vielfach über Synästhesien berichten, über verschiedene Körper- 
sensationen, welche sie gleichzeitig mit dem Erfassen eines ab- 


16) Adolf Stöhr, Lehrbuch der Logik S. 9. 

17) Ich verweise auf die Untersuchungen von K. Groos (Der ästhetische 
Genuß 1902; derselbe, Das innere Miterleben und die Empfindungen aus dem 
Körperinnern, Zeitschr. f. Ästhetik 4), der in diesem Nachmachen der kon- 
struktiven Bewegung, welche er die »innere Nachahmung« nannte, einen für das 
ästhetische Erfassen wesentlichen Faktor erkannt hat. 

26* 


404 Auguste Flach, 


strakten Gedankens erleben. Z. B. sagt die Vp. einmal, »sie spüre 
ordentlich die Weichheit des Materials«. (Sie hatte einen Teppich 
vorgestellt, auf dem eine Flüssigkeit ausgegossen war.) In einem 
anderen Falle: es werden Kugeln in die Luft geworfen, die Vp. 
fühlt körperlich den Widerstand, welchen die Luft den auffliegen- 
den Kugeln entgegensetzt, so daß diese nicht höher fliegen können. 
Wir sind auf diese Synästhesien in unseren Ausführungen nicht 
näher eingegangen, weil es sich gezeigt hat, daß diese Phäno- 
mene dem anschaulichen Erleben überhaupt eigen sind und 
kein Merkmal darstellen, welches für das symbolische Schema 
als solches besonders charakteristisch wäre. Sie kommen ebenso 
gut im Falle der Denkillustrierung bei bloßen Assoziationen vor 18). 

Nachdem wir nun die Merkmale der symbolischen Schemata 
besprochen haben, möchten wir noch darauf verweisen, daß die 
symbolischen Schemata nicht immer bloß als flüchtige momen- 
tane Produkte im Denkverlauf auftreten, sondern daß sie auch 
dauernd einen Platz im Bewußtsein erlangen können. Das bei 
dem ersten Erfassen eines Gedankens aufgetauchte Schema 
kann konstant werden und sich immer wieder einstellen, wenn 
der betreffende Gedanke auftritt. Beispiel Nr.3. Auch dieser 
Konstantencharakter ist nicht nur dem Schema eigentümlich, 
sondern kommt ebenso in Fällen von Denkillustrierung vor. 
Beispiel Nr. 40. 


IV. Die aufbauenden Faktoren des symbolischen 
Schemas. 


Es wird nun unsere Aufgabe sein, zu zeigen, welches eigent- 
lich die Faktoren sind, auf Grund deren das symbolische Schema 
selbst sich aufbaut. 


1. Der objektive Faktor: der abstrakte Gedankengehalt. 


Da ist vor allem der abstrakte Gedankengehalt, der in dem 
symbolischen Schema eine sinnliche Darstellung findet. Er 
wird erlebt, als der objektive Sinn, auf dessen Klarstellung 
die Vp. gerichtet ist. Dieser Sinn kann begrifflich formuliert 
gegeben sein, wie in den meisten Fragestellungen bei unseren 


18) Vgl. Schwiete, Über die psychologische Repräsentation der Be- 
griffe, Arch. f. d. ges. Psychologie Nr. 19. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 405 


Versuchen, oder als Problemstellung, wie im Falle Kekule. 
Er kann aber auch als ein reicher Gedankenkomplex auftreten, 
um dessen Klarstellung und Präzisierung die Vp. bemüht ist. 

. Wie kommt es, daß dieser objektive Sinn gerade in diesem 
individuellen, anschaulichen Bilde seine adäquate Darstellung 
erfährt? Das kommt daher, daß alle diese Linien und Kurven, 
aus denen das individuelle, anschauliche Bild sich aufbaut, 
nichts anderes sind, als die räumliche Darstellung derjenigen 
ıdeellen Relationen, welche den abstrakten Gedankengehalt kon- 
stituieren. Betrachten wir daraufhin einige Protokolle. 

‚In Nr.6 erlebt die Vp. den abstrakten Sinn »Tausch« als ein Ge- 
schehen, das zwischen zwei Ansatzstellen sich vollzieht. Die Beziehung selbst 


wird durch ein Band symbolisiert. »Aus dem Schema ist noch etwas zu 
entnehmen, nämlich daß keine der beiden Richtungen bevorzugt ist.« 

In Nr.10 faßt die Vp. den Begriff des Sollens auf als eine Beziehung, 
zwischen dem Sein und dem was nicht ist, und doch ist im gewissen Sinn, 
nämlich als Norm. Die Beziehung stellt sich die Vp. als einen Abgrund dar, 
»dieser Abgrund und das Hinüberlangen ist mir das Wesentliche am Sollen«. 

Ebenso Nr. 11. Das Begehren wird hier durch Beziehungen Hargestellt, 
die von einem Punkt ausgehen und das Spezifische der Richtung 
haben. »Das Ich als Quellpunkt.« 

In Nr. 16 wird der Begriff »Synthese«x durch ein pyramidenförmiges 
Netz symbolisiert, das die Beziehungen darstellt, welche von einer Mehrheit 
ausgehen und in einer Spitze vereinigt werden. 

In Nr. 8 »Gewalt« heißt es: »In dem Verhältnis dieses Etwas, das ich 
erst mathematische Fläche, dann Wolke nannte, zu dem Haus liegt be- 
schlossen die Bedeutung von Gewalt. Ich suche dann ein Wort und es drängt 
sich mir unberechenbar auf, gleich darauf aber kam überwältigen. Dieses 
Verhältnis, von dem ich früher sprach, war Kraft, so kam ich zu über- 
wältigender Kraft. 

In Nr. 12 wird das Religiöse in einer von unten nach oben ;weisenden 
Bewegung durch die Beziehung zu Gott symbolisiert. 

Ich verweise ferner auf: Nr. 22, 13, 14, 17, 30 und 31. 

Aus diesen Beispielen geht deutlich hervor, daß es immer 
Beziehungen sind, die hier dargestellt werden. In diesen Be- 
ziehungen wird der aufgegebene abstrakte Sinn gedacht. Der 
Gedanke wird durch das Gerüst der ihn kon- 
stituierenden Beziehungen gedacht, und diese 
abstrakten, ideellen Relationen werden der Vp. 
dadurch klar, daßsiesie zu sinnlich wahrnehnm- 
baren Verhältnissen im Raum konkretisiert und 
sie als räumliche Ordnung erfaßt. 


Die anschaulichen Gestaltungen, in denen die Beziehungen 
bewußt werden, sind wohl individuelle, aber darum doch nicht 


406 Auguste Flach, 


völlig freie und willkürliche. Inihnenkommen ob- 
jektive, sachliche Verhältnisse zum Ausdruck. 
Wir haben damit wohl eine Verräumlichung des Geistigen vor 
uns, die aber darum doch einer Denkillustrierung nicht gleichzu- 
setzen ist. Denn im Falle des Schemas sind nur die abstrakten 
Beziehungen versinnlicht, während die Denkillustrierung die ab- 
strakten Beziehungen in Konkretisierungen darstellt. 

Das Erfassen des Gedankengehaltes im Falle eines symbo- 
lischen Schemas geht nicht so vor sich wie in den Fällen von 
Wissensaktualisierung — durch Einordnung in schon Bekanntes, 
durch Subsumtion oder Folgerung, sondern es wird unmittelbar die 
Zusammengehörigkeit von Beziehungen zu einem Sinnzusammen- 
hang erfaßt. 

Aus dieser hier beschriebenen Erlebnisweise heraus begreifen 
wir nun die beiden Merkmale, welche wir als die für alle 
symbolischen Schemata wesentlichen haben aufzeigen können. 
1. Die Tatsache, daß es produktive Denkvorgänge sind, die 
sich hier im Bereiche des Anschaulichen vollziehen, die Vp. 
sagt selbst, daß sie an dem Schema gedacht hat, was auch 
daraus hervorgeht, daß jedes einzelne räumliche Datum, welches 
wir an diesem anschaulichen Gebilde herausheben können, von 
dem Sinn her bestimmt ist. 2. Die Sinnerfülltheit des an- 
schaulichen Bildes, welche so weit geht, daß das anschaulich 
Gegebene nur Darstellungsfunktion hat und ohne den dazu- 
gehörigen Gedankengehalt unverständlich ist. 

Wenn wir auf diesen phänomenologischen Tatbestand eine 
allgemeine Theorie des Denkens aufbauen wollten, so könnten 
wir sagen: Wir können nicht isoliert, d.h. losgelöst aus 
dem sachlichen Zusammenhang, in den jedes Sein naturnot- 
wendig gestellt ist, denken. Wenn wir von einem einzelnen 
isolierten Gegenstand sprechen, so ist das bereits das Resultat 
einer Abstraktion. Wir können wohl isoliert vorstellen, wobei 
ich unter Vorstellung die Reproduktion von irgend etwas wahr- 
nehmungsmäßig Gegebenem verstehe, die dieses mit all den 
unwesentlichen, zufälligen Details, die ihm anhaften, wiedergibt. 
Dort aber, wo wir ein Sein im Denken gleichsam erst schaffen, 
müssen wir es notwendig in Beziehung setzen zu anderem. Ein 
Sein denkend erfassen, heißt Dieses in seiner Besonderheit 
dadurch erkennen, daß wir es aus dem Zusammenhang heraus 
bestimmt finden, in den es gestellt ist. Erlebnismäßig ist uns 
auch, wenn wir einen abstrakten Gegenstand erfassen wollen, 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 407 


dieses sachliche System von Beziehungen gegenwärtig, aus dem 
heraus wir ihn begreifen müssen. Ja dieser Gegenstand ist 
vielleicht gar nichts anderes als ein bestimmter Stellenwert in 
einem solchen System von Beziehungen. 

Wie der Punkt als einfache und einzelne Lage immer nur 
im Raum, das heißt logisch gesprochen unter Voraussetzung 
eines Systems von Lagebestimmungen möglich ist, — wie der 
Gedanke des zeitlichen »Jetzt« nur in Rücksicht auf eine Reihe 
von Momenten und auf die Ordnung und Folge des Nachein- 
ander, die wir »Zeit« nennen, sich bestimmen läßt, so gilt das 
gleiche auch für das Ding- und Eigenschaftsverhältnis. Jedes 
Einzelne gehört hier schon einem Komplex an und bringt die 
Regel dieses Komplexes in sich zum Ausdruck +°). 

Wir können hier auf eine Diskussion dieser speziellen 
Theorie vom Denkverlauf nicht näher eingehen und setzen 
unsere Analyse des symbolischen Schemas fort. 


2. Der subjektive Faktor: die individuelle Vorbereitung. 


Es hat sich bei unseren Versuchen gezeigt, daß ein und 
derselbe objektive Gedankengehalt von den verschiedenen Vpn. 
eine verschiedene Auffassung und Darstellung erfahren hat. 
So sieht das symbolische Schema, durch welches die Vp. im 
Protokoll Nr.18 den Begriff »Chaos« charakterisiert, anders 
aus als jenes von Nr.17, wo eine andere Vp. von demselben 
gemeinten Denkgegenstand eine Darstellung entwirft. Nr.17 
definiert das »Chaotische« als »eine ungeordnete Masse jeder 
Art«, und dieses Ungeordnete wird der Vp. anschaulich durch 
eine in sich geschlossene Bewegung, in der Wolken oder Ge- 
därme sich verknäulen. Nr.18 faßt »Chaos« auf als das Un- 
geformte, Ungeschaffene, das bewegt ist, aus dem noch alles 
werden kann, gegenüber dem Geschaffenen, Geformten, das 
durch eine glatte Fläche von diesem getrennt ist. Nr.23 sieht 
das Wesen des »Expressionismus« von dem des Impressionismus 
unterschieden durch die verschiedene Weise der Wiedergabe. 
Nr. 22 hat den Expressionismus als Ausdruckskunst aufgefaßt. 
Der Expressionismus ist für sie vor allem durch das Problem 
charakterisiert, wie das, was seinem Wesen nach Kundgabe ist, 
Darstellung werden soll. Für die Vp. in Nr.33 ist die»Hegel- 


19) Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen S. 39. 


408 Auguste Flach, 


sche Philosophie« vor allem durch den Dreitakt, die Dreiteilung 
von Thesis, Antithesis und Synthesis charakterisiert, während 
eine andere Vp. in Nr.22 das Wesen der Hegelschen Philo- 
sophie in dem aprioristischen Konstruieren, dem »nicht auf den 
Tatsachen fußen« sieht. 


Diese individuellen Differenzen in der Auffassung und Dar- 
stellung des objektiven Gedankens gehen aus dem zweiten 
Moment hervor, welches für die Konstruktion des symbolischen 
Schemas von entscheidender Wichtigkeit ist: aus der mo- 
mentanen Gesamthaltung des Individuums. 


Wenn wir die Sachlage durch die Begriffsbildungen aus- 
drücken wollen, in denen Husserl?) den einen abstrakten 
Gegenstand von den verschiedenen Bedeutungen unterscheidet, 
durch die er gemeint wird, so können wir sagen: durch die 
seelische Situation, welche in dem Augenblick gegeben ist, in 
welchem die Vp. auf die Erfassung des objektiven Sinnes ge- 
richtet ist, wird unter den verschiedenen möglichen Bedeutungen 
eines abstrakten Gegenstandes diejenige ausgewählt, für welche 
die Vp. eine gewisse Vorbereitung besitzt. Die Vorbereitung 
selbst setzt sich einerseits aus momentanen Eindrücken zu- 
sammen, vielleicht daß auch kurz vorher Erlebtes manchmal 
noch perseveriert, andererseits wird sie als dispositive Vor- 
bereitung ihre Wurzeln tief in der Vergangenheit, in der Eigen- 
art und dem Schicksal des Individuums haben. Die spezielle 
Vorbildung des Einzelnen, seine intellektuellen und affektiven 
Dispositionen, mit welchen er an den Gedanken herantritt, 
werden für die besondere Erfassung maßgebend sein. 

Ich kenne die Vp. des Protokolles Nr.10 genau und weiß, 
dab das, was sie in diesem Protokoll ausspricht, der Ausdruck 
eines jahrelangen Ringens um eine Lösung ist. Um das Wesen 
des »Sollens« befragt, antwortet die Vp.: »Zwischen dem Sein 
und Sollen ist ein Abgrund. Dieser Abgrund und das Hinüber- 
langen ist mir das Wesentlichste am Sollen.« 

Wenn für die Vp. des Protokolles Nr.14 dieses Etwas, 
welches den Kompromiß symbolisiert, eine schmutzige, grau- 
grüne Farbe hat, so ist das kein zufälliges, gleichgültiges 
Detail, wie es überhaupt innerhalb des symbolischen Schemas 
nichts Zufälliges und nichts Gleichgültiges gibt. Mit dieser 


20) Edmund Husserl, Logische Untersuchungen 2. Teil. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 409 


Farbe charakterisiert die Vp. das Wesen des Kompromisses, 
und diese Farbe ist determiniert durch die Auffassung der 
Vp., für die der Kompromiß etwas Schmutziges ist. Ich hatte 
Gelegenheit, Einblick in das Seelenleben dieser Vp. zu ge- 
winnen, und weiß, daß sie unter einem ständigen Seelenkonflikt 
schwer leidet, weil sie gezwungen ist, mit Rücksicht auf ihre 
Umgebung immer wieder einen Kompromiß einzugehen, den sie 
verabscheut und als unwürdig empfindet. 


Es wird vielleicht selten möglich sein, die tieferen Wurzeln 
eines symbolischen Schemas aufzudecken, erstens setzt dies eine 
genaue Kenntnis der Eigenart und des Schicksals der Vp. vor- 
aus, und zweitens wird es nicht häufig vorkommen, daß wir 
mit der Aufgabe um Klarstellung eines abstrakten Gedankens 
gerade auf einen Komplex im Seelenleben dieses Individuums 
auftreffen. 


Trotzdem habe ich auf Grund meiner Untersuchungen die 
Überzeugung gewonnen, daß das symbolische Schema seine in- 
dividualgeschichtlichen Wurzeln hat. Namentlich von Kon- 
stantenbildungen von denselben perennierenden, immer wieder- 
kehrenden, gleichen Visualisationen bestimmter Gedanken lassen 
sich für die Tiefenpsychologie wertvolle individualgeschichtliche 
Aufschlüsse erwarten. 


Die besondere individuelle Vorbereitung wirkt 
determinierend auf das inhaltliche Erfassen des 
Gedankens. Durch sie geht ein subjektives Moment ein in die 
Darstellung des objektiven Sinngehaltes. Ich möchte hier noch 
einmal auf die logisch-erkenntnistheoretische Grundlage solcher 
Sinnerfassung zurückgreifen, die ich vorhin mit dem Hinweis 
auf Husserls Begriffsbildungen formuliert habe2!). In der 
Aufgabenstellung ist ein überindividuelles Moment dadurch ge- 
geben, daß es ein objektiver Sachverhalt ist, um dessen Klar- 
stellung gefragt wird. Darum habe ich, wenn ich die gleichen 
Fragen einer größeren Anzahl von Vpn. vorlegte, immer wesent- 
liche Übereinstimmungen in den Antworten bekommen. Die 
Aufgabenstellung bezieht sich auf den einen abstrakten Gegen- 
stand (im Sinne Husserls), z. B. das Verhältnis von Motiv 
und Zweck. Diesen intendieren so und so viele Bedeutungen. 
Die eine Vp. wird dieses Verhältnis psychologisch fassen, die 


21) Edmund Husserl, Logische Untersuchungen 2. Teil. 


410 Auguste Flach, 


andere vielleicht juridisch., Daß überall dort, wo ein Begriff 
gedacht wird, ein objektiver Sachverhalt intendiert wird, läßt 
sich deutlich erkennen, wenn wir diese Fälle mit jenen Kon- 
trastieren, wo etwas anderes als ein Begriff gemeint ist. 

Wenn ich meiner Vp. einen Eigennamen zurufe, z. B. 
»Marie«, so ist ein ganz anderer Tatbestand gegeben, als wenn 
ich ihr aufgebe, »Tausch« zu definieren. Im ersten Falle des 
Eigennamens wird die Reaktion bei den einzelnen Vpn. voll- 
kommen verschieden sein. Jeder wird sich unter Marie etwas 
anderes vorstellen, es wird hier überhaupt außer dem Reizwort 
in all den Reaktionen nichts Identisches vorkommen. Anders 
bei »Tausch«, ja anders selbst bei einem bestimmten Eigennamen, 
der für uns einen bestimmten Komplex bezeichnet, z. B. 
»Napoleon«. Man kann an den Sieger von Jena oder an den Be- 
siegten von Waterloo usw. denken. In allen diesen Vorstellungen 
wird es einen identischen Sinn geben, »Napoleon«. Schon darin, 
daß sich alle verstehen, wenn von »Napoleon« die Rede ist 
(was im Falle Eigennamen Marie nicht der Fall ist), ist das 
Identische zu suchen. Dieses Identische des Sachverhaltes, 
das in der Aufgabenstellung gemeint ist, wenn wir die Vp. 
fragen: »Was ist Tausch? Was ist das Verhältnis von Motiv 
und Zweck?« usw., das verstehen wir, wenn wir von dem das 
Schema aufbauenden objektiven Faktor, dem abstrakten Ge- 
dankengehalt sprechen. 

Durch den besonderen Gesichtspunkt, von dem die Vp. 
ausgeht, wenn sie im symbolischen Schema den objektiven Ge- 
danken konstituiert, wird dieser objektive Sinn in individueller 
Weise gefaßt und eventuell auch modifiziert. Diese Modi- 
fikation kann eine derartige sein, daß der objektive Sinn von 
einer bestimmten Seite her gewissermaßen in einer perspekti- 
vischen Ansicht erfaßt wird, oder auch, daß er geradezu eine 
Verschiebung in einen anderen Sinnbereich erfährt. Ich ver- 
weise auf Protokoll Nr.29, wo die Vp. die Beziehung von 
»Zweck und Motiv« charakterisiert, indem sie sagt: »Es sind 
Fäden, die sich vom Motiv über das Gehirn zur Ausarbeitung 
ziehen.« Diese Formulierung erscheint auf den ersten Blick 
sinnlos. Da erfahren wir durch das Bild und die Deutung, 
die die Vp. gibt, daß mit den Fäden die Beweggründe gemeint sind, 
die zum Gehirn führen. Im Gehirn sind die Verbindungsfäden 
zum Zweck zu suchen, von da aus gehen die Wege zum Ziel, 
zur Konsequenz, wie die Vp. sagt. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 411 


Diese Auffassung der Beziehung von Motiv und Zweck ist 
einseitig und subjektiv. Dessen ungeachtet ist diese Darstellung 
ein sinnvolles Ganzes, das einen einheitlichen Aufbau zeigt, 
in dem ein Gedanke konsequent zu Ende gedacht wird. 

Im Protokoll Nr.23 erfolgt die Erfassung der Bedeutung 
»Impressionismus, Expressionismus« von der persönlichen Stel- 
lungnahme und Wertungsweise her, welche die Vp. für jede 
einzelne dieser Kunstrichtungen empfindet. Auch dieser Aus- 
gangspunkt ist einseitig, er mag objektiv gesehen falsch sein, 
aber er ist in diesem seinen Sinn konsequent durchgeführt. 
Auf ihm baut sich ein vollkommen einheitlicher Gedanken- 
komplex auf, eine Sinnstruktur, die von der zweifachen 
Wertungsweise als ihrem teleologischen Prinzip getragen ist. 

Diese Tatsache, die wir hier an zwei Beispielen demon- 
striert haben, finden wir bei allen übrigen Protokollen vor. 
Jede dieser sinnlich anschaulichen Gebilde ist ein einheitlicher 
Komplex, der einen vollständig zweckbestimmten inneren Auf- 
bau aufweist. Es ist ein objektiver Gedankengehalt, der eine 
“individuelle, sinnlich anschauliche Darstellung erfährt. Der 
Ansatzpunkt für die besondere Gestaltung des 
Schemas ist durch das subjektive Moment derin- 
dividuellen Vorbereitung mitbestimmt. In ihm ist 
dann bereits die Art und Weise festgelegt, wiein 
dem betreffenden Fallder Prozeß dersymbolischen 
Gestaltung ablaufen muß. l 

Wenn eine Vp. die Beziehung von Zweck und Motiv vom 
biologischen Gesichtspunkt her auffaßt, wie z.B. Nr.29, so 
ist die Vp. von vornherein für die Versinnlichung in eine ganz 
andere Richtung gedrängt, als wie wenn sie diese Beziehung 
z. B. vom juridischen Gesichtspunkt her aufgefaßt hätte. In 
jedem Falle aber ist in der augenblicklichen Gesamthaltung 
des Individuums in dieser seelischen Situation, welche von der 
Gerichtetheit auf einen bestimmten Gedanken beherrscht wird, 
ein teleologisches Moment gegeben, dessen de- 
terminierende Wirksamkeit die Geschlossen- 
heit und Einheitlichkeit, kurz das Gestalt- 
moment des Gedankens garantiert. 

Dieses teleologische Moment unterscheidet diese Darstel- 
lungen als die normaler Menschen von denen, wie sie uns von 
Geisteskranken gegeben werden. Beim Ideenflüchtigen kommt 
es deshalb nicht zur Gestaltbildung, weil immer andere art- 


412 Auguste Flach, 


fremde, oft nur auf Klangassoziationen beruhende Erlebnisse 
sich dazwischen schieben. In anderen pathologischen Fällen 
(z. B. bei Schizophrenen) ist die sachliche Bedingtheit, welche 
von der Struktur des objektiven Sinnes ausgeht, in ihrem Wir- 
kungswert herabgesetzt. Die von starken Affekten dauernd be- 
herrschte autistische Einstellung läßt Gestaltbildungen ent- 
stehen, die Bildern gleichen, wie wir sie in einem Zerrspiegel 
sehen. 

Das symbolische Schema ist, so haben wir gesehen, doppelt 
determiniert. Einerseits durch einen objektiven Faktor, den 
abstrakten Gedankengehalt, und andererseits durch einen sub- 
jektiven Faktor, das ist die momentane seelische Gesamthaltung 
des Individuums, die wir als die periphere Auswirkung der 
individuellen Vorbereitung erkannt haben. 


V. Die Abgrenzung des symbolischen Schemas 
gegen verwandte Phänomene. 


1. Die Denkillustrierung. 


Nachdem wir das symbolische Schema beschrieben haben, 
soll dieses Phänomen noch dadurch klargestellt werden, daß 
wir zeigen, wie es sich abgrenzt gegenüber denjenigen Phäno- 
menen, mit denen es leicht verwechselt werden könnte und im 
Verlauf der Begebenheiten auch vielfach verwechselt worden 
ist. Es gibt eine große Anzahl von Fällen, in denen ebenfalls 
ein abstrakter Gedanke durch eine bildhafte Vorstellung ver- 
sinnlicht wird, welche sich aber in ihrem Charakter von dem 
symbolischen Schema. wesentlich unterscheiden. Hierher ge- 
hören z.B. alle jene Fälle, wo 

a) an irgendeinem vorgestellten, konkreten Gegenstand oder 
einer Situation, welche aus der Wahrnehmung reproduziert 
ist, der abstrakte Gedankengehalt gleichnisweise veran- 
schaulicht wird. Es liegt im Wesen des Gleichnisses, daß 
bier Bild und Gedanke nur in indirekter Weise durch ein 
tertium comparationis zueinander in Beziehung gebracht werden. 

Eine unserer Vpn. weist in einem Gespräch darauf hin, daß die Denk- 
weise des Dr. X durch besonders scharfe logische Folgerichtigkeit sich aus- 
zeichne, daß ihr aber der große künstlerische Zug fehlt. Sofort, noch ehe 
sie es so formulieren konnte, hatte sie folgendes Bild, welches sie festhielt: 
»Im tagehellen Raum bewegt sich ein weißer Flügel in horizontaler Linie 
rasch von links nach rechts und bleibt, als ob er nicht mehr weiter könnte, 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 413 


weil hier der Raum begrenzt ist, in der äußersten rechten Ecke meines 
Seefeldes stecken. Ein Zollstab hellbraun, eingeteilt so, wie ich ihn aus 
der Wahrnehmung kenne, bewegt sich mit großer Geschwindigkeit, wie eine 
Raupe eines um das andere seiner eingeknickten Glieder vorschiebend, auf 
der Strecke, welcher der Flügel zurückgelegt hat, und mißt so die Strecke 
und was das Komische ist, gleich auch den Flügel selbst ab in seinem Eifer. 
Das Bild soll die mathematisierende pedantische Denkart glossieren. 

Oder Nr. 40. A 
»Wie würden Sie das Wesen der Fichteschen Philosophie 

charakterisieren ?« 

Antwort: Da tritt immer ein und dasselbe Bild auf: Ein Mann klopft 

mit einem Hammer auf eine Mauer, vor welcher er steht. 


V1.: Was soll das Bild bedeuten? 
Vp.: Das Ich hat sich das Nicht-Ich geschaffen, um ein Material für 
sein Handeln zu haben. 


b) Die Versinnlichung des abstrakten Gedankengehaltes er- 
folgt ddurch die bildhafte Vorstellung an irgendeinem kon- 
kreten Beispiel, am Anwendungsfall. 


Eine Vp. (Protokoll Nr.50) wird ersucht, den Begriff »Tausch« dar- 
zulegen, und sie bringt folgendes Bild: »Ich sehe zwei Männer, die mitein- 
ander streiten, jeder will sein Tauschmittel anbringen, die Männer waren 
ausgeführt im polnischen Zuschnitt. Im Moment, wo ich es mir als Witz 
vorgestellt habe, war ein anderes Bild da: Naturvölker, die noch kein Geld 
haben, an einer sonnigen Küste, in einfachen Kitteln, ohne besondere Kleidung. 
Vorwiegend Frauen, Muscheln, Bänder, in langen Ketten aufgefädelt wie 
abwägend in den Händen. Eine Frau beugt sich vor und hält etwas in den 
Händen. Sie hat glattes langes Haar. Ich habe das Ganze von der Küste 
her gesehen, vom Meer, von einem Schiff aus, mich selbst habe ich nicht 
gesehen.« Dieses Bild stellt nicht wie in No.6 oder Nr.7 das Wesen, den 
Begriff des Tausches dar, sondern hier wird am Beispiel demonstriert, in 
welchen konkreten Fällen wir von »Tausch« sprechen. 


Oft finden wir beides, das symbolische Schema und die 
bloße Illustrierung durch bildhafte Vorstellung, in einem und 
demselben Erlebnis beisammen. Das eine oder das andere kann 
zuerst auftreten; aber immer ist es so, daß das Prinzip durch 
das symbolische Schema, das Beispiel durch die illustrierende 
Vorstellung gegeben ist. | 

Zum Beispiel Nr. 52. 

»Wie würden Sie das Wesen des Humors abgrenzen gegen- 
über dem Witz ?« 


»Für Humor habe ich so etwas wie ein Gefühl oder schwach anschau- 
lich von etwas Breitem, Behäbigem, Natürlichem, Gesundem, so etwas wie 
eine Fläche, das lag rechts; links war etwas für Witz, das Gefühl von 
etwas nicht so ganz die Persönlichkeit Durchsetzendem, sondern des Momen- 
tanen, Spitzen. An Stelle der Fläche kommt ein Bild von einer Wirtsstube. 
Eine sehr nette Stube mit Holz getäfelt mit Menschen darin. Das Ganze 


414 Auguste Flach, 


in der Richtung nach Köln. Kölnisch war mir der Typus des Humors. Witz 
drängte mich in die Richtung von Esprit, dort wo die Spitze war entsteht 
ein Sprühen, aber es ist kein Springbrunnen, sondern nur ein Liniengewusel.« 

Die Fläche und die Spitze, das die Persönlichkeit Durchsetzende des 
Humors gegenüber dem Momentanen des Witzes, so weit geht das symbolische 
Schema. Dann setzt die Denkillustrierung mit dem Anwendungsfall ein; sie 
zeigt humorvolle Menschen, in einer Kölner Wirtsstube. An Esprit schließt 
sich vielleicht rein assoziativ das Sprühen der Spitze. 

Im Protokoll Nr. 26 »Heterogenie der Zwecke« ist durch eine Vorstellung 
zuerst das Beispiel, der Anwendungsfall gegeben. Daran schließt sich ein 
Schema, das das an ihm zum Ausdruck gebrachte Prinzip rein und abstrakt 
herausstellt. 

c) Die Assoziation zwischen dem Gedanken und dem Bild 
kann auch eine solche sein, welche keinen sachlichen Zusammen- 
hang mit dem darzustellenden, abstrakten Sinn aufweist und 
nur auf die Gleichzeitigkeit des Erlebens zurückzuführen ist. 

Die Vp. im Protokoll Nr. 53 wird aufgefordert, eine kurze prägnante 
Charakterisierung der Bedeutung »Zolas« zu geben, und reagiert mit der 
Vorstellung von einem Wettrennen. Auf die Frage des VL, ob die Vp. viel- 
leicht wisse, in welchem Zusammenhang diese Vorstellung zum gefragten 
Sinn stehe, sagte sie, sie habe eine genaue Schilderung eines Wettrennens 
einmal in Zolas »Nana« gelesen und seither tauche beim Nennen des Namens 
Zola immer wieder dieselbe Vorstellung auf. 

In diesem Falle besteht zwischen Bild und Gedanke eine rein 
auf assoziativer Grundlage aufgebaute Beziehung ohne einen 
tieferen sachlichen Zusammenhang. Durch einen willkürlichen, 
bedeutungsverleihenden Akt wird die Vorstellung des Wett- 
rennens repräsentativ für Zola. Kindheitserinnerungen bilden oft 
das Material für solche Vorstellungen. Irgendeine Szene wird 
festgehalten, verbunden mit dem Begriff und Svent in manchen 
Fällen fortan für diesen Begriff. 


d) Manchmal kommt es vor, daß irgendein Wort im Zu- 
sammenhang eines Satzes eine Vorstellung auslöst, und diese 
illustriert dann nicht den Sinn des ganzen Satzes, sondern 
den Sinn dieses einen Wortes, das zufällig im Verlaufe der 
Formulierung aufgetreten ist. Die Beziehung zum Satzsinn ist 
auch hier nur eine indirekte. Mit diesem ist das Bild rein 
assoziativ verknüpft, während es den speziellen Wortsinn 
gieichnisweise veranschaulichen kann. 


Nr. 54. Ich lese in der Zeitschrift für Individualpsychologie folgenden 
Satz: »Es ist, glaube ich, eine verkehrte Konstruktion, wenn man dem 
Prmmitiven wie dem Kinde als ursprüngliche Attitüde eine Neigung zur Al- 
beseelung zuschreibt, die erst durch die erfahrungsgeborene Beschränkung 
allmählich nur auf Lebewesen, schließlich nur auf Menschen beziehen lerne.« 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 415 


Mit dem Verständnis des Satzes war gleichzeitig folgendes Bild gegeben, 
das ich sofort festhielt: »Eine dickflüssige, kreisförmig ausgegossene Masse, 
die sich allmählich gegen den Mittelpunkt zu zusammenzieht, ohne eine Spur 
zu hinterlassen. Das Ganze geschieht auf einem Tisch, von dem ich jedoch 
nur die Tischplatte sehe, die mit einem sehr alten dicken Tuch bedeckt ist, 
ein Teppichgewebe, das einmal vielfarbig gewesen sein muß, dessen Farben 
aber so vollkommen verblaßt sind, daß ich sie nicht mehr ausnehmen kann. Nur 
fühle ich ordentlich die Weichheit des Materials, auf welchem die Substanz 
aufliegt. Das Ganze geschieht im dreidimensionalen Raum, die Substanz 
selbst ist farblos wie aufgelöstes Gelatine.« Diese Vorstellung soll die Be- 
schränkung von der Allbeseelung allmählich auf Lebewesen und schließlich 
auf den Menschen illustrieren. Das ganze Bild wird umständlich in Szene 
gesetzt, nur um den Sinn des Wortes »allmähliche Beschränkung« zu 
illustrieren. ` ` 

Nr. 55. Ich spreche mit einer meiner Vpn. über Denkpsychologie, wobei 
sie sagt: »Jetzt nachdem die moderne Denkpsychologie eine Fülle von 
Problemen und Anregungen aufgeworfen hat, ist es leicht weiterzu- 
arbeiten.« Gleichzeitig hat die Vp. folgendes Bild: »Von unsichtbarer Hand 
wird braune Erde wie aus einem Trichter aufgeworfen. Die Erde ist durch- 
setzt mit vielen ovalen, braungefleckten Kieselsteinen, die nach allen Rich- 
tungen fliegen. Es ist als höbe ich solch einen Kieselstein auf und drehte ihn 
in der Hand herum. Ich denke dabei, den müßte man jetzt nurmehr schleifen, 
bearbeiten.« Hier sehen wir deutlich, daß das Bild vor allem durch das Wort 
»aufgeworfen« ausgelöst worden war. 


Eine besonders lose Verbindung, welche zwischen der in der Aufgabe 
geforderten Darstellung des Gedankens und dem sinnlichen Bild besteht, 
zeigt Nr. 56. 

»Wie würden Sie die Hegelsche Philosophie charakterisieren.« 

»Erstens Entwicklung, gemeint ist die geistige Entwicklung. Dabei kommt 
ganz flüchtig, aber nicht ohne Wert für das geistige Geschehen, ein optisches 
Bild. Es sollte versinnlichen Ausgang und Ende dieses Entwicklungsprozesses, 
und ich würde jetzt sagen, Ausgang vom Begriff, Begriff ist mir symbolisiert 
durch eine Kugel. Das Ende ist durch das zweite Bild symbolisiert, und 
zwar durch ein Feld, ein Ährenfeld. Das erste Bild geht von links nach rechts, 
ich kann es nicht zeichnen, es ist ein sphärisches Gebilde, das in sich ab- 
geschlossen, kugelhaft ist, von da aus geht es herunter, ich würde sagen 
ein Raum, wo Fließen stattfinden kann, ein Raum, der von Energiestrahlen 
durchfahren ist, es geschieht etwas in der Richtung 'von links oben nach 
rechts unten. Und nun biegt sich die Sache um und ich sehe das Andere, 
das rechts ist, das Andere ist wie eine Pflanze. Das erste Bild ist ein physi- 
kalisches, das zweite stammt aus dem Gebiet des Biologischen. Das Ende 
Religion, Kunst, Wissenschaft ist symbolisiert durch die Feldfrüchte. Das 
Bild von den Feldfrüchten soll die Ergebnisse symbolisieren. Die Frucht geht 
durch den Halm hinauf, das ist alles, was ich sagen kann. Die beiden Bilder 
stoßen aneinander und gehen grobgeleimt zusammen. Es sind zwei Stücke 
aus verschiedenen Stilen, das erste symbolisiert den Anfang, vom Begriff 
geht es aus, das zweite Bild steht für Endergebnis, dies besteht in ob- 
jektiven geistigen Gebilden, sie sind das Endziel, das Entwicklungsziel. Das 
Ganze ist eine grobe Kontamination.« 


416 Auguste Flach, 


Hier war der Gedanke bloß der auslösende Anlaß zu einer Bildent- 
stehung. Hegel hatte den Entwioklungsgedanken ausgelöst. Das Bild vom 
Ährenfeld symbolisierte dann irgendeine Entwicklung. Wir sehen einen 
Fall, wo assoziative Zusammenhänge immer mehr von dem ursprünglichen 
Gedanken abführen. Das Bild vom Ährenfeld hat nur eine indirekte Beziehung 
mehr zu Hegel, die über den Entwicklungsgedanken. Entwicklung ist im 
weitesten Sinn des Wortes verstanden und von der Entwicklung her gesehen 
ist das Bild vom Ährenfeld ein Gleichnis. Daß die Vp. von einer Kontamination 
spricht, war richtig gesehen. 

Die unter a) bis d) gegebene Aufzählung verschiedener Arten 
von Fällen, in denen ein abstrakter Sinn veranschaulicht wird, 
macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Immerhin lassen 
sich an diesem Beispiele die tiefgehenden Unterschiede zeigen, 
welche zwischen diesen illustrierenden Vorstellungen und dem 
symbolischen Schema bestehen. In allen hier zitierten Fällen, 
welche wir als Denkillustrierung bezeichnen wollen, geht 
die Beziehung zwischen dem abstrakten Gedanken und der 
ihn repräsentierenden Vorstellung auf irgendeine zufällige 
Assoziation zurück. Dort wo eine symbolische Beziehung 
zwischen Bild und Gedanken vorliegt, besteht sie darin, daß 
an irgendeinem Gegenstand oder an einer Situation, welche in 
passiver Wiedergabe aus der Wahrnehmung reproduziert ist, 
der abstrakte Gedankengehalt demonstriert wird und so eine 
Iilustration erfährt. Während wir das symbolische Schema als 
ein aktives Gestalten und Neuschaffen des Gedankens, als 
eine Erscheinungsweise des produktiven Denkens erkannt haben, 
sind die Phänomene, welche wir als Denkillustrierung bezeich- 
nen, durchwegs reproduktiver Natur. Aus der Wahrnehmungs- 
welt wird irgendein konkreter Gegenstand oder eine Situation 
als etwas Fertiges übernommen; durch teilweise Zuordnung zu 
der Eigenbedeutung dieses konkreten Gegenstandes erfährt der 
abstrakte Gedankengehalt eine Illustration. Diese Art der Ilu- 
strierung unterscheidet sich auch noch darin von der Darstellung 
des Gedankengehaltes im symbolischen Schema, daß es nicht 
immer die wesentlichsten; für den Gedanken konstitutiven 
Momente sind, welche hier dargestellt werden. Das sinnliche 
Bild einer Denkillustrierung enthält viele Details, die dem 
Wahrnehmungsgegenstand als solchem anhaften und aus seiner 
Eigenbedeutung kommen. Diese werden in das Bild mit hin- 
eingenommen, trotzdem sie für die Sinndarstellung bedeutungs- 
los sind und keine Symbolfunktion haben. Daher kommt es, 
daß das anschauliche Bild einer Denkillustrierung teilweise 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 417 


inadäquat ist und teilweise überschüssige Details enthält. Es 
zeigt nur eine partielle Sinnerfüllung und ist nur teilweise 
von dem abstrakten Gedankengehalt her determiniert2®). 


Wir haben unsere Unterscheidung zwischen dem symbo- 
lischen Schema und der Denkillustrierung auf der Verschieden- 
heit des Verhältnisses gegründet, in welchem in beiden Fällen 
die Darstellung zum Sinngehalt, das Zeichen zum Bezeich- 
neten steht. Die Beziehung der Darstellung zum Dar- 
gestellten ist im Falle des symbolischen Schemas eine ganz un- 
mittelbare. Ein und dieselben ideellen Beziehungen sind es, 
welche den darzustellenden Gedankengehalt und auch das Bild 
aufbauen. Ja das Bild bleibt, ohne daß wir es durch abstrakte 
Bestimmungen immer wieder darauf beziehen, unverständlich. 
Wir können in diesem Falle, wo zwischen dem Zeichen und 
dem Bezeichneten wohl der unmittelbarste tiefste innere Zu- 
sammenhang besteht, im Sinne Karl Bühlers*?) von An- 
zeichen oder Zusammenhangszeichen sprechen. 


Im Falle der Denkillustrierung ist diese Beziehung eine in 
gewissem Sinne zufällige indirekte, keine unmittelbare, sondern 
eine vermittelte. Es ist nicht der abstrakte Sinngehalt, 
aus dem das sinnliche Bild unmittelbar erfließt. Das be- 
grifflich Wesentliche z. B. des »Tausches« Nr. 50 wird nicht 
als solches, sondern an einem individuellen, konkreten Fall er- 
faßt. Sei es nun ein Gleichnis oder ein Beispiel, es ist immer 
die Besonderung, an der und durch welche wir bei der Denk- 
illustrierung zum Erfassen des Allgemeinen, der Idee gelangen. 


22) Wir unterscheiden zwischen Schema und bildhafter Vorstellung in dem 
prinzipiellen Sinn, wie Kant (»Kritik der reinen Vernunft«) Bild und Schema 
einander gegenübergestellt hat: »Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen 
Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne 
ich das Schema zu einem Begriff. In der Tat liegen unseren reinen, sinn- 
lichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemata zugrunde. 
Das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Ein- 
bildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) 
ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach 
die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer 
vermittels des Schemas, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen 
und an sich demselben nicht völlig kongruieren. 

23) Karl Bühler, Über den Begriff der sprachlichen Darstellung. 
Psycholog. Forschg. Bd. III S. 282 ff. 


Archiv für Psychologie. LII. 27 


418 Auguste Flach, 


Nicht zu verwechseln mit dem symbolischen Schema ist das 
Phänomen, welches man bisher in der Literatur als schematische 
Vorstellung beschrieben hat. Diese ist eine unbestimmte Vor- 
stellung, welche dadurch, daß sie nicht alle konkreten Merk- 
male aufweist, imstande ist, ebenso wie der Begriff die 
Art, den Typus zu repräsentieren. Als Beispiel zitiere ich 
die Angaben einer Vp. von Messer®): »Es war weder Löwe 
noch Tiger, am meisten war das zottige Fell im Bewußtsein.« 
Eine andere Vp. Messers »hatte die Gesichtsvorstellung 
eines runden Tisches, eines unbestimmten bloß schematisch. 
Wieviel Füße er hatte, davon habe ich keine Ahnung«. Um den 
Begriffsgehalt darzustellen, orientiert sich die schematische 
Vorstellung an den konkreten Exemplaren der Gattung. Der 
Begriffsgehalt wird an den konkreten Exemplaren abgelesen, 
die Methode, welche zur Anwendung kommt, ist die Abstraktion. 


Ganz anders liegen die Verhältnisse für das symbolische 
Schema. Dieses ist nicht das Abbild eines bestimmten Konkreten 
Gegenstandes, in dessen Darstellung etwas fehlt. Das was hier 
dargestellt wird, ist ein abstrakter Sachverhalt. 
Beziehungen werden dargestellt, so wie sie von uns erlebt 
werden, als dasjenige, was für uns einen abstrakten Gedanken- 
gehalt konstituiert. Von diesem Gesichtspunkt allein ist dieses 
anschaulich Gegebene zu verstehen, sind diese einander durch- 
dringenden sinnlichen und begrifflichen Elemente aufzulösen. 
Wenn wir von einer symbolischen Schematisierung eines Ge- 
dankengehaltes sprechen, so meinen wir »Schematisch« nicht im 
Sinne von verschwommen, schemenhaft, sondern schematisch 
heißt für uns: die Grundzüge, den Grundriß der Sache ent- 
haltend.. Darum kann das symbolische Schema niemals als 
Abbild irgendeines individuellen Wahrnehmungsgegenstandes 
aufgefaßt werden. 


Der Sinn des Gegenstandes wird in diesem Schema dar- 
gestellt, und dieser Sinn kann uns wahrnehmungs- 
mäßig niemals gegeben sein; den können wir nur 
denken, oder aber wir können wahrnehmungsmäßiges Material 
heranziehen, um ihn gleichnisweise zu verdeutlichen. Darum 
ist das symbolische Schema so viel ärmer an ausgeführtem 


24) Messer, A., Experimentellpsycholog. Untersuchungen üb. das Denken 
S. 54. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 419 


Detail und steht für viel mehr als die schematische Vorstellung. 
Diese ist an die konkrete Beschaffenheit des Wahrnelimungs- 
objektes gebunden, während das symbolische Schema durch 
einen intuitiven Akt schöpferischer Synthese den begrifflichen 
Gehalt direkt veranschaulicht. 


Fast jede bedeutendere Arbeit der modernen Denkpsychologie 
in den letzten Jahren nimmt irgendwie zu der Frage Stellung: 
»Welche Rolle spielt die Vorstellung im Denkverlauf?%« Wann 
ist sie für das Denken notwendig? Wann fördert sie das 
Denken? und Wann ist sie nur ein für den Prozeß als solchen 
belangloses Begleitphänomen? Die meisten Forscher sind zu 
dem Resultat gekommen, daß der Denkverlauf unabhängig ist 
vom Auftreten sinnlicher Vorstellungen, ja daß diese, sofern 
sie auftreten, den Prozeß stören oder verzögern 25). Man kann 
sich immer wieder davon überzeugen, daß in allen Fällen, wo 
diese Beobachtungen gemacht wurden, .nicht das produktive 
Denken untersucht worden war. Es handelt sich da immer 
nur um reproduktive Assoziationsverläufe, in deren Folge Denk- 
illustrierungen aufgetreten sind. 


So weist z.B. Messer auf die häufige »Insuffizienz« von 
optischen Vorstellungen gegenüber dem gemeinten Gedanken 
hin. Als Beispiel führt er an: »Wenn etwa beim Reizwort 
‚Gehör‘ einer Vp. die Gesichtsvorstellung des eigenen Ohres, 
bei ‚Lyrik‘ die Gesichtsvorstellung einer Buchseite mit vier- 
zeiligen Strophen auftaucht.« Die von Messer zitierten Fälle 
decken sich durchaus mit dem, was wir als Denkillustrierung 
beschrieben haben. In allen solchen Fällen stimmen wir mit 
Messer vollkommen überein, wenn er konstatiert, daß hier 
die Gesichtsvorstellungen nur als bedeutungslose Nebenphäno- 
mene auftauchten und ihnen bestenfalls die Aufgabe zufiel, 
»Gegenständliches« zu repräsentieren, d. h. in unserer Termino- 
logie, daß das, was dargestellt wurde, nicht das Wesen des ab- 
strakten Gedankens oder ein Sachverhalt war, die be- 
sondere innere Beziehung eines Gegenstandes zum anderen, 


25) Henry Watt, Experimentelle Beiträge zu einer Psychologie des 
Denkens, Arch. f. d. ges. Psychologie Bd.4. Watt kommt zu dem Resultat: 
»Die Veranschaulichung bedeutet bei Denkversuchen immer eine Hemmung, 
eine Verlangsamung« Ernst Dürr, Beiträge zur Erkenntnispsychologie, 
Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. VI: »Das Denken ist ein vorstellungsloses 
Verstehen.« 

27* 


420 Auguste Flach, 


sondern es kam nur zur Sachvorstellung schlechthin, 
das individuelle, konkrete Ding selbst wurde reproduziert. 


Im Verlaufe unserer Untersuchungen sind wir zu der Über- 
zeugung gekommen, daß es verschiedene Arten von Veranschau- 
lichungen gibt, die nicht gleichartig und für den Denkverlauf 
nicht gleichwertig sind. So haben wir das symbolische Schema 
in seiner Eigenart erkannt und dieses von der bloßen Denk- 
illustrierung unterschieden. Das was das symbolische Schema 
als Denkvorgang charakterisiert, ist die Tatsache, daß’ hier 
nicht wie in den Fällen von Denkillustrierung etwas wahr- 
ne-mungsmäßig Gegebenes, von vornherein Fertiges einfach re- 
produziert wird, sondern es werden Beziehungen erlebt, aus 
deren simultaner Zusammenschau der Gedanke als das Zentrum 
dieses Beziehungssystems mit Notwendigkeit sich ergibt. 


2. Die »Diagramme«., 


Es gibt eine spezifische Art von Vorstellungen, welche einen 
gedanklichen Sachverhalt veranschaulichen und vertreten, und 
welche unter der Bezeichnung »Diagramme« in der Literatur 
mehrfach beschrieben worden sind 28). 


Das sind jene Fälle, wo zeitliche oder andere Anordnungs- 
beziehungen, z. B. eine bestimmte Zahlenreihe oder die Tage 
der Woche, die Monate des Jahres, Epochen der Geschichte 
durch eine geometrische Figur eine graphische Darstellung er- 
fahren. 


Ich füge hier als Beispiele verschiedene Diagramme bei, 
welche ich dem genannten Buch von Th. Flournoy entnommen 
habe: 


26) Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its deve- 
lopement, London 1883; Th. Flournoy, Des phenomönes de Synopsie, 
Genève 1893; G. E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des 
Vorstellungsverlaufes, Leipzig, II. Teil; Botju Schanoff, Die Vorgänge 
des Rechnens, Pädagogische Monographien, herausgegeben von Meumann, 
Bd. 11 Jahrg. 1911; Hennig, »Über Diagramme«, Zeitschr. f. Psychologie 
u. Physiologie der Sinnesorgane Bd. 10. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 421 





Diese Beispiele legen die Frage nahe, ob das, was hier vor- 
liegt ‚von derselben Art ist wie die symbolischen Schemata, 
oder inwiefern es sich von diesen unterscheidet. 

Was das Diagramm mit dem symbolischen Schema auf den 
ersten Blick gemeinsam hat, ist die Tatsache, daß auch hier 
ein abstrakter unräumlicher Gegenstand wie eine Zahlenreihe, 
die zeitliche Aufeinanderfolge von Tagen der Woche, Monaten 
des Jahres usw. entweder durch eine Punktkonstellation oder 
durch gerade Linien oder Kurven eine sinnlich anschauliche 
Darstellung erfährt. Dieselbe psychologische Funktion, welche 
sich nach Flournoy im Diagramm manifestiert, wird wahr- 
scheinlich auch das symbolische Schema aus sich hervorgehen 
lassen: »Pour introduire de l’ordre et de la clarté dans des 
matières non spaciales ?7).« Wenn wir den nackten Tatbestand 
ins Auge fassen, der für den Erwachsenen gegeben ist, wenn 
er eine Zahlenreihe oder die Monate des Jahres, die Tage der 
Woche in einer bestimmten Anordnung als Diagramm gegen- 
wärtig hat, so werden wir sagen: »Hier liegt gar nichts anderes 
vor als eine bestimmte Lokalisation im Vorstellungsraum. Diese 
Lokalisation dient als Haftpunkt, als Fixierung und Orien- 


27) Flournoy, Des phénomènes de Synopsie S. 150. 


422 Auguste Flach, 


tierung für unser Gedächtnis, spielt aber weiter in unserem 
Denken keine Rolle. 


Es sind also ähnliche Fälle von Denkillustrierung, wie wir 
sie im Kapitel über die räumliche Gegebenheit als Fixierung der 
Aufgabenstellung beschrieben haben. 


G. E. Müller?) stimmt mit Schanoff®#), der zahl- 
reiche Versuche gemacht hat, um den Wert der Diagramme für 
die Vorgänge des Rechnens festzustellen, darin überein, daß 
die Lokalisationen nur »als Haftpunkte dienen, mit deren Hilfe 
das Individuum sich Zahlen einpräg«. G.E.Müller sagt 
ausdrücklich: »Für das Rechnen selbst scheine das Diagramm 
nicht von wesentlichem Belang zu sein, da die betreffenden 
Diagrammstellen immer erst nach vollbrachter Rechenoperation 
auftauchen.« Diese Tatsache allein, daß an der geometrischen 
Figur nicht produktiv gedacht wird, unterscheidet das Dia- 
gramm wesentlich von dem symbolischen Schema. 


Man hat sich vielfach die Frage vorgelegt, ob die Dia- 
gramme durch eine physiologische oder psychologische Theorie 
zu erklären seien. Man hat das Unbewußte zur Erklärung 
herangezogen und die Frage erörtert, wann und wie sie ent- 
standen sind. Flournoy ist (a.a. O.) auf Grund der Unter- 
suchungen, die er an einer großen Fülle von Tatsachenmaterial 
angestellt hat, zu der Überzeugung gekommen, daß wir die 
Entstehung der Diagramme in die frühe Kindheit zurückver- 
legen müssen: »tel fait l’audition colorée s’expliquera à peu 
pres complètement par les aventures passées du moi Conscient.« 
In dieser Zeit sollen sie sich durch Assoziation gebildet haben. 
Nach Flournoy sind die Diagramme samt und sonders durch 
Assoziation entstanden, und zwar hat er auf drei solcher Asso- 
ziationsmöglichkeiten hingewiesen: 


»Trois principes d’association me semble necessaire (sinom 
suffisante) pour expliquer, soit par leur concours, soit par leur 
interference, la diversit& des phenomenes synesthetiques. De- 
signons les par les termes d’association habituelle, priviligiee 
et affective.« 


Wir wollen vor allem die beiden ersten Prinzipien, die 


28) G. E. Müller a. a. O. 
29) Botju Schanoff a. a. O. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 423 


»Association habituelle et priviligiee« einer näheren Betrach- 
tung unterziehen. Die Assoziationshabituelle beruht auf der 
Wiederholung. Zwei Dinge, die man gewohnt war, gleichzeitig 
wahrzunehmen, werden sich in unserem Bewußtsein verbinden 
und ein unlösliches Ganzes bilden. »Bien des faits de Syn- 
esthesie reconnaissent évidemment cette cause, telle que la ten- 
dence de certaines personnes & se figurer les mois et les jours 
en colonnes semblables à celles de l’almanach ou du calandrier.« 
Die Association priviligiee ist diejenige, durch welche in un- 
serem Gedächtnis gewisse Dinge eng verbunden sind, nur weil 
uns vielleicht ein einziges Mal ihre Verbindung lebhaft ge- 
troffen, und, wie Flournoy sagt, eine unzerstörbare Spur 
in unserem Nervensystem zurückgelassen hat. Solch dauernde 
Spuren entstehen oft durch die Leichtigkeit oder Schwierigkeit, 
mit welcher der Erwerb von Kenntnissen für die kindliche In- 
telligenz verbunden war. Eine bestimmte. Anordnung, in welcher 
der Lernstoff seinerzeit geboten wurde, oder etwaige Gedächtnis- 
hilfen, die das kindliche Denken herangezogen hat, bleiben oft 
dauernd fixiert und kommen in bestimmten Diagrammformen 
zum Ausdruck. Unter diesen hier angeführten Umständen ent- 
stehen Diagramme auf rein assoziativer Grundlage dadurch, daß 
unter Benützung konkreter Gegenstände zeitliche Beziehungen 
oder andere Anordnungsbeziehungen veranschaulicht werden. 
Solche Gegenstände können Stundenpläne sein, Kalender, 
Ziffernblätter von Uhren, BRechenmaschinen, Multiplikations- 
tabellen, mit Ziffern versehene Maßstäbe usw. In allen diesen 
Fällen wird die spezielle räumliche Anordnung, welche sich 
am konkreten Gegenstand vorfindet, übernommen, auf den 
Vorstellungsraum übertragen und bildet die Grundlage für 
die Gestaltung des Diagrammes, für die Reihenfolge, 
in welcher die Zahlen, die Tage oder Monate usw. im Diagramm 
ständig angeordnet werden. 

Schon etwas komplizierter sind jene Fälle, wo ein Sach- 
verhalt dadurch in einem Diagramm dargestellt wird, daß den 
in Frage kommenden 'Wahrnehmungsgegenständen bestimmte 
Stellen im Vorstellungsraum zugeordnet sind, und diese Stellen 
entsprechend den räumlichen oder zeitlichen Beziehungen, in 
denen die konkreten Gegenstände zueinander stehen, verbunden 
werden, so daß das Ganze den Eindruck eines Systems macht, 
das auf den ersten Blick dem symbolischen Schema täuschend 
ähnlich sieht. Ich will hierfür ein Beispiel geben, welches 


424 Auguste Flach, 


G. E. Müller) aus »Lemaitre«, »L’adolescent« zitiert. Der 
Anlaß zur Entstehung dieses Diagramms war folgender: »Der 
betreffende Knabe sagte sich in einer Nacht, wo er von 10 Uhr 
bis Mitternacht schlaflos im Bette gelegen hatte, beim Schlagen 
der Mitternachtstunde: »Mitternacht schlägt und ich habe diese 
beiden Stunden noch nicht geschlafen.« Hierbei erschien vor 
seinem geistigen Auge eine im Zimmer seiner Mutter befind- 
liche Uhr mit der Stellung der Zeiger auf Mitternacht und mit- 
samt dem Kamin, auf welchem sie zu stehen pflegte, und er 
erblickte zugleich (unter dem Einfluß der Tendenz zur räum- 
lichen Symbolisierung) eine ein wenig gekrümmte Linie, die 
als Repräsentartin der von 10 bis 12 Uhr verflossenen Zeit von 
links her schräg nach jener Uhr emporstieg. Kurz darauf fügte 
sich zu diesem Bruchstück eines Tagesdiagrammes éin zweites 
hinzu, in dem die Vorstellung des Eßtisches der Familie in Ver- 
bindung mit der Vorstellung einer diesem Tische anliegenden, 
sich nach rechts unten senkenden Diagrammlinie auftrat, 
welche die Zeit von 12 bis 2 Uhr darstellte. Später trat dann 
noch ein drittes Bruchstück eines Diagrammes auf, indem der 
Knabe das Fenster seines Zimmers in Verbindung mit einer 
nach rechts unten absinkenden, die Morgenstunde 6—7 Uhr 
(aie Zeit des Aufstehens) darstellenden Linie innerlich erblickte. 
Im Laufe der Zeit wurden nun diese Bruchstücke eines Tages- 
diagrammes mit gewissen Abständen nebeneinander nach vorn- 
hin lokalisiert, durch verbindende Linien in Zusammenhang 
zueinander gebracht, indem zugleich die Bilder noch weiterer 
konkreter Gegenstände im Diagrammfelde und im Zusammen- 
hang mit der Diagrammlinie auftraten, so daß schließlich ein 
durch Bilder konkreter Objekte reichlich illustriertes 
Tagesdiagramm vorlag, dessen rechtshin verlaufende Diagramm- 
linie von der Stelle von 6 Uhr morgens ab (von der Höhe des, 
Zimmerfensters) stark abfiel bis zur Stelle von 8 Uhr, dann 
sich erhob bis zur Mittagsstelle (bis zur Höhe des weiter rechts 
erscheinenden Eßtisches), hierauf wieder absank bis zur Stelle 
von 6 Uhr abends und dann abermals anstieg bis zur Mitter- 
nachtsstelle (bis zur Höhe jener auf einem Kamin stehenden 
Uhr). In diesem Diagramm waren die Bilder der konkreten 
Gegenstände, welche den näheren Verlauf der unter dem Ein- 


30) G. E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vor- 
stellungsverlaufes III. Teil S. 119. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 425 


fluß der Tendenz zur räumlichen Symbolisierung sich ent- 
wickelnden Diagrammlinie mitbestimmt hatten, zur Zeit der 
Untersuchung im allgemeinen noch erkennbar.« 


Dieser Fall zeigt, wie die Symbolisierung des Zeitverlaufes 
dadurch erfolgt, daß der Knabe Gegenstände aus der Wahr- 
nehmungswelt heranzieht, die er in seiner Vorstellung genau 
in derselben Reihenfolge anordnet, in der er gewohnt war, sie 
zu bestimmten Tageszeiten wahrzunehmen. So gelingt es ihm, 
mit ihrer Hilfe den Gedanken an die verschiedenen Tageszeiten 
zu illustrieren. 


Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den historisch - geo- 
graphischen Diagrammen, von denen G.E.Müller berichtet: 
»Für die historischen Ereignisse der Altertums benützt Vp. 
eine besondere Zeitlinie. Entsprechend der Tatsache, daß die 
frühesten Ereignisse der alten Geschichte, die er seinerzeit ge- 
lernt hat, sich hauptsächlich auf Ägypten bezogen, die folgen- 
den Ereignisse dagegen vorzugsweise der griechischen Ge- 
schichte und die späteren ausschließlich der römischen Ge- 
schichte gehörten, ist diese Zeitlinie in der Weise auf der Land- 
karte festgelegt, daß sie in Ägypten beginnt und nach links 
oben gehend den Peloponnes und die Gegend von Rom durch- 
schneidet. Der Nullpunkt (der Zeitpunkt der Geburt Christi) 
liegt etwa bei Rom.« 


Hier wird eine bestimmte Epoche der Geschichte dadurch 
charakterisiert, daß die Vp. sich die Stellen im Vorstellungs- 
raum lokalisiert, welche die betreffenden Länder auf der Land- 
karte innehaben. Die einzelnen Stellen werden durch Linien 
verbunden. Damit ist die Epoche nicht als solche in ihrer 
sachlichen Bedeutung charakterisiert, sondern sie wird 
nur indirekt bezeichnet durch die Stellen auf der Landkarte 
durch ein für sie selbst äußerliches sachfremdes Merkmal. 


Es hat sich somit gezeigt, daß sich das Diagramm von dem 
symbolischen Schema wesentlich unterscheidet, und zwar da- 
durch, daß es nicht im Verlauf und zur Unterstützung pro- 
duktiven Denkens auftritt. Diese Phänomene sind vielmehr 
reproduktiver Natur. Die anschauliche Darstellung wird aus 
der Wahrnehmungswelt übernommen oder bildet sich in An- 
lehnung an eine wahrgenommene Ordnung. Dieser ganze Prozeß 
ist ein rein assoziativer. Dementsprechend besteht zwischen 
dem Gedankengehalt und seiner Darstellung, wie in allen Fällen 


426 Auguste Flach, 


von Denkillustrierung, so auch hier das Verhältnis einer äußer- 
lichen Zuordnung. Irgendeine räumliche oder zeitliche Aufein- 
anderfolge abstrakter Gegenstände, wie Zahlen, Tage, Monate 
usw., findet eine Entsprechung dadurch, daß ihr be- 
stimmte Stellen im Vorstellungsraum zugeordnet werden. Diese 
Zuordnung kann gelegentlich eine so feste sein, daß eines für 
das andere eintreten kann; trotzdem wird es nie, wie im Falle 
eines symbolischen Schemas, zu einer Identifizierung beider 
kommen können, auch wenn z. B. bei einem Zahlendiagramm 
»die Zahlen als Diagrammstrecken vorgestellt werden „und dem- 
gemäß die Diagrammstrecke, welche die Stellen zweier Zahlen 
trennt, als Repräsentantin der Differenz beider Zahlen nach 
ihrer Größe und nach ihrem Zahlenwert aufgefaßt wird und 
gelegentlich dazu übergegangen wird, das Verhältnis der Dia- 
grammstrecken, die zwei gegebenen Zahlen oder Zahlendiffe- 
renzen entsprechen, zu erfassen, um über dieses Verhältnis der 
Zahlen oder Zahlendifferenzen selbst Auskunft zu erhalten«. 
Immer bleibt das Bewußtsein bestehen, daß es sich 
hier um eine Vertretung handelt, um ein »allgemeines 
Mittel der Transformation von Zahlenvor- 
stellungen in Vorstellungen räumlicher Stellen °! 
zum Zwecke einer leichteren Orientierung. 


Nachdem wir die Entstehung durch Assoziation zur Grund- 
lage unseres Diagrammbegriffes gemacht haben, haben wir im 
Diagrammbegriff und dem Begriff des symbolischen Schemas 
zwei Grenzbegriffe, zwischen denen sich das ganze große Ma- 
terial, welches bisher als »Diagramme« bezeichnet worden war, 
einordnen läßt. Die richtige Einordnung unter die eine oder 
andere Kategorie wird oft erst dann möglich sein, wenn wir 
etwas Näheres über die Genese des speziellen Falles erfahren 
haben. Das ist vor allem in jenen Fällen wichtig, wo das Dia- 
gramm aus dem von Flournoy aufgestellten dritten Prinzip, 
dem Prinzip der »assoziation affective« hervorgegangen ist. 


Unter der Association affective versteht Flournoy die- 
jenige Verbindung, welche zwischen zwei. Vorstellungen zu- 
stande kommt, nicht auf Grund ihrer qualitativen, Ähnlichkeit 
und auf Grund ihres regelmäßigen oder häufigen Zusammen- 


31) G. E. Müller, Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vorstellungs- 
verlaufes III. Teil Ä 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 427 


treffens im Bewußtsein, sondern dadurch, daß ihnen ein ana- 
logerGefühlswertanhaftet. Auf diese affektive Asso- 
ziation ist es zurückzuführen, daß fast in allen Tages- 
diagrammen der Sonntag immer ausgezeichnet erscheint, daß 
er gewöhnlich licht oder weiß gedacht wird. Hierher gehört 
die Sonderstellung, welche die Ferien in vielen Jahresdia- 
grammen innehaben und alle diejenigen Fälle, wo Sympathie 
oder Antipathie bei der Gestaltung eines Diagrammes eine 
Rolle spielen. In diesen Fällen finden wir, daß individuelle, 
affektiv betonte Erlebnisse eine bestimmte Auffassung des 
Sinngehaltes: »der Sonntag«, »das Jahr« ausgelöst haben, 
welche im Diagramm zum Ausdruck gekommen ist, und sich 
auch so erhalten hat. Das sind die Phänomene, welche sich 
nicht auf Assoziation zurückführen lassen, und welche die 
Spuren des kindlichen Bedeutungserwerbes noch deutlich er- 
kennen lassen. Ich möchte als Beispiel ein Jahresdiagramm 
anführen, über dessen Entstehung die betreffende Person noch 
nähere Angaben zu machen in der Lage ist. 


Unsere Vp. im Protokoll Nr. 60 hat ein Jahresdiagramm und erlebt die 
Monate des Jahres noch heute immer in folgender Anordnung im Raum 
lokalisiert: 


— 


KA ⸗ 


Jur 


En SOC p een u 
Ma: Apri Marz Febr Jan. Der Nou Okt Sept 


Fig. 12. 


Der September liegt an der äußersten Ecke rechts, von wo aus die 
folgenden Monate wie an einer geraden Linie von rechts nach links sich 
anschließen. Der Jänner kommt ca. in der Mitte der Linie zu liegen, aber 
ohne Cäsur mit einer helleren Beleuchtung wie die Monate vor ihm. Die 
Helligkeit nimmt dann zu. Nach dem Mai hört die gerade Linie auf, der 
Juni liegt etwas höher, der Juli noch mehr, ein leerer Bogen führt vom Juli 
bis zum August. Der Bogen wird jedesmal ausgeführt, sobald an diesen Teil 
des Jahres gedacht wird. Der August liegt am Ende des Bogens, viel höher 
als der September, zu dem er wieder den Abschluß bildet. 


428 Auguste Flach, 


Nr.61. Ein weiteres Beispiel gibt uns eine andere Vp. Sie hat folgen- 
des Jahresdiagramm: 





Fig. 18. 


. Auf die Frage, warum hier 3 Monate fehlen, sagt die Vp.: »Das war 
für mich in meiner Jugend immer eine uninteressante Zeit. Jänner, Februar, 
März, das war die Zeit, die überwunden werden mußte, die Zeit zwischen 
Weihnachten und Ostern. Zu Weihnachten und zu Ostern da bin ich immer 
zu den Eltern nach Hause gefahren, und vom April an konnte man sich 
schon auf die Ferien freuen (die Kurve steigt an). Die Ferien Juli, August, 
das war immer der Höhepunkt. Darauf freue ich mich noch jetzt immer.« 

Es geht aus den Angaben der Vp. klar hervor, daß auch 
dieses Diagramm, das in die frühe Kindheit zurückgreift, auf 
affektiver Grundlage entstanden ist. Zum Unterschied von 
unserem ersten Beispiel ist es das Jahr der Ferien und Fest- 
tage. Von diesen Gesichtspunkten her wurde der Sinn: »Das 
Jahr« vom Kinde aufgebaut, und von da aus ist das Diagramm 
auch aufzulösen, ist der Höhepunkt und sind die beiden aus- 
gezeichneten Punkte im Diagramm zu verstehen. 


Über das Fehlen der drei Monate und den Bogen, der die 
leere Verbindung herstellt, gibt die Vp. selbst Aufschluß. Auch 
hier wird der Bogen jedesmal ausgeführt, so oft die Vp. an 
das Diagramm denkt. 


Ich bin überzeugt, daß viele solche Phänomene, die wir auf 
den ersten Blick als Diagramme ansprechen würden, sich bei 
näherer Betrachtung als symbolische Schemata herausstellen 
werden. Viele werden noch die primitive Auffassung erkennen 
lassen, die Art und Weise, wie sich das Kind diesen Gedanken 
zurechtgelegt hat, und andere werden nur deshalb so unver- 
ständlich sein, weil es uns nicht gelingt, die Spuren aufzu- 
decken, die weit in die frühe Kindheit zurückreichen. Es 
bleibt wie in unseren Beispielen dann nur das graphische Bild 
zurück, welches für die betreffende Person als Diagramm 
fungiert. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 429 


Vielleicht wird es gelingen, durch systematische Unter- 
suchungen vieler solcher Diagramme mehr Einblick in die Be- 
deutungserlebnisse des Kindes zu gewinnen. Daß es aber Fälle 
wie die oben zitierten gibt, hat mich bewogen, darauf hinzu- 
weisen, daß man die Entstehungsgeschichte eines solchen Phä- 
nomens wird kennen müssen, um entscheiden zu können, ob im 
speziellen Fall ein Diagramm oder ein symbolisches Schema 
vorliegt. 


3. Die »autosymbolischen Phänomene«. 


Herbert Silberer hat in seinem Buch »Der Traum«, 
Stuttgart 1919, unter der Bezeichnung »Autosymbolische Phä- 
nomene« eine Gruppe von bildhaften Vorstellungen beschrieben, 
welche man bisher unter dem Titel »Hypnagogische Hallu- 
zinationen« gekannt hat. Sie stimmen mit den von uns be- 
schriebenen insofern überein, als auch sie einen abstrakten Ge- 
dankengehalt in sinnlich anschaulicher Weise zur Darstellung 
bringen. l 


Diese Darstellung erfolgt im Halbschlaf und drückt das aus, 
was man kurz vorher in schlaftrunkenem Zustand gedacht hat. 
Silberer beschreibt diesen Zustand folgendermaßen: »Ich 
liege schläfrig im Bette. Irgendein Gedanke beschäftigt mich, 
die Schlaftrunkenheit nimmt nach und nach überhand, der 
Geist trübt sich, der Gedankenfaden reißt ab. Statt des Ge- 
dankens steht wie mit einem Zauberschlag ein Bild vor mir, 
plastisch, zum Greifen wahr. Statt Bild würde ich für die 
subjektive Empfindung vielleicht treffender sagen ‚eine Wirk- 
lichkeit‘, eine Szene, die ich als Wirklichkeit erlebe. Die Leb- 
haftigkeit des Gesichtes überrascht mich, rüttelt mich aus dem 
schon beginnenden, aber noch nicht eingetretenen Schlaf wieder 
auf. Ich falle in den Wachzustand zurück und erkenne, daß 
das soeben Erlebte, also die hypnagogische Halluzination, ein 
bildlicher Ausdruck eben jenes Gedankens gewesen ist, den ich 
in der überwältigenden Schlaftrunkenheit verloren hatte« Wir 
können unter diesen Erscheinungen eine Unterscheidung machen, 
die Silberer nicht macht. Ich möchte zu diesem Zwecke vor- 
‘erst zwei seiner autosymbolischen Protokolle zitieren und ver- 
suchen, an diesen Beispielen das Unterscheidende herauszu- 
stellen. 


430 Auguste Flach, 


Beispiel VIO. »Ich denke über das Wesen der trans- 
subjektiv (für alle Menschen) gültigen Urteile nach. — Szene: 
Ein mächtiger Kreis (oder eine durchsichtige Sphäre) schwebt 
in der Luft; und die Menschen reichen mit ihren Köpfen in 
diesen Kreis hinein. — Deutung: In diesem Symbol liegt so 
ziemlich alles ausgedrückt, was ich mir dachte. Die Gültig- 
keit des transsubjektiven Urteils betrifft alle Menschen ohne 
Ausnahme: Der Kreis geht durch alle Köpfe. Diese Gültigkeit 
muß ihren Grund in etwas Gemeinsamen haben: Die Köpfe ge- 
hören alle derselben homogen aussehenden Sphäre an. Nicht 
alle Urteile sind transsubjektiv, mit den Leibern und Glied- 
maßen befinden sich die Menschen außerhalb (unterhalb der 
Sphäre) und stehen als getrennte Individuen auf der Erde. 

Beispiel IX. »Ich suche mir den Zweck gewisser meta- 
physischer Studien, die ich eben zu betreiben gedenke, zu ver- 
gegenwärtigen. Dieser Zweck besteht, so denke ich mir darin, 
daß man sich auf der Suche nach den Daseinsgründen zu immer 
höheren Bewußtseinsformen oder Daseinsschichten durch- 
arbeitet. — Szene: Ich fahre mit einem langen Messer unter 
eine Torte, wie um ein Stück davon zu nehmen. — Deutung: 
»Die Torte des Symbols war eine Doboschtorte, also eine Torte, 
bei welcher das schneidende Messer durch verschiedene 
Schichten zu dringen hat (die Schichten des Bewußtseins und 
Daseins). 

In Beispiel 8 haben wir ein richtiges symbolisches Schema 
vor uns. Hier handelt es sich um die ideelle Bewältigung, die 
geistige Verarbeitung eines abstrakten Gedankens durch die 
konkrete Darstellung. Es ist bezeichnend, wenn der Er- 
wachende sagt: »In diesem Symbol liegt so ziemlich alles aus- 
gedrückt, was ich mir dachte«, und wenn er in weiterer Deutung 
des Bildes an jedem Bildbestandteil die symbolische Funktion 
aufweist, die er hat, indem durch ihn ein konstitutives Merk- 
mal des transsubjektiven Urteils dargestellt wird. 

Hier liegt also ein Phänomen vom Typus des symbolischen 
Schemas vor. Es ist für diesen Typus charakteristisch, daß 
wir in dem konkreten Erlebnis eine sachgemäße Lösung des 
Problems vor uns haben, gleichgültig, ob es sich um die Klar- 
stellung eines abstrakten Sinnes handelt oder wie so oft in 
diesen Fällen, um eine Situation, aus der man herausfinden will. ` 

Anders liegt der psychische Sachverhalt in Beispiel 9. Hier 
wird das Bild rein assoziativ durch die Perseveration des 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 431 


Wortes »Daseinsschichten« ausgelöst. Die Daseinsschichten 
werden durch die Schichten der Doboschtorte symbolisiert. Da- 
mit wird nichts zur Klärung oder gar zur Lösung des Problems 
beigetragen. Es ist nichts als eine einfache Illustrierung des 
Gedachten, welche infolge Ermüdung durch Perseveration ent- 
standen sein mag, vielleicht dadurch, daß der Impuls von der 
abstrakten, begrifflichen auf die konkret anschauliche Sphäre 
irradiiert ist. 

Dort, wo das Bild, wie im Fall 9, nur die Illustrierung der 
Aufgabenstellung oder der fatalen Situation bringt und nichts 
zur Lösung beiträgt, möchte ich genau so wie im Wachen nur 
von einer Denkillustrierung sprechen. 


Wir sehen an diesen Beispielen, daß auch diese Bilder, wie 
sie aus den hypnagogen Zuständen vor dem Einschlafen hervor- 
gehen, sich scheiden lassen in solche, wo ein volles Erfassen und 
Gestalten eines abstrakten Gedankens im produktiven Denken 
gegeben ist, und solche, wo bloß eine assoziative, reproduktive 
Wiedergabe aus der Wahrnehmungswelt in unserer Termino- 
logie, eine Denkillustrierung vorliegt. Genau in derselben Weise 
lassen sich die übrigen Beispiele des Silbererschen Buches 
analysieren. 


VI. Das Entstehen des symbolischen Schemas aus 
dem „Sphärenbewußtsein“. 


Es hat sich im Verlauf unserer Versuche gezeigt, daß es 
einen ganz bestimmten seelischen Zustand gibt, welcher für 
das Auftreten symbolischer Schemata besonders geeignet zu 
sein scheint. Es ist eine ganz merkwürdige seelische Situation, 
wo die Vp. etwas ganz Bestimmtes meint, dieses Gemeinte auch 
im Erleben irgendwie gegenwärtig hat und wo doch die Präzi- 
sierung und Formulierung dessen, was hier gegeben ist, nicht 
gelingen wil. Messer war der erste, der für diesen Zu- 
stand die Bezeichnung »Sphärenbewußtsein« eingesetzt hat und 
welcher bestimmte Aussagen seiner Vp. veröffentlichte, die 
auf ein solches Erlebnis hinweisen. Eine Vp. Messers (Vp. 
II) beschreibt ihr Erlebnis folgendermaßen: Eigenartiger Zu- 
stand, in welchem man genau weiß, in welchen Bereich von 
Gedanken ein Wort gehört. Eine andere Vp. von Messer 


432 Auguste Flach, 


sagt etwas Ähnliches. Sie spricht von einem »Keim« einer 
optischen Vorstellung: »Weiß nicht, was das werden sollte, 
hätte ich gewartet, so "hätte sich das gezeigt.« Eine unserer 
eigenen Vpn. spricht im Protokoll Nr.58 in einem analogen 
Falle von einer »summarischen Vorstellung«, in der bereits 
alles enthalten ist. »Ich habe hier so ein Wissen um eine An- 
schauungsbild, das erst herausentwickelt werden müßte, da- 
durch, daß sich die Aufmerksamkeit darauf richtet. Man 
weiß, darin steckt alles, sieht es nicht, aber 
trotzdem ist es eine Anschauung. Ich würde sagen 
eine summarische Anschauung, es ist so, als wüßte 
ich das Bild ganz an der Peripherie meines Sehfeldes, ganz 
weit, je mehr ich mich nähere, je mehr Einzelheiten kann ich 
herausholen.« 

Die Vp. in Nr. 58 beschreibt mit diesen Worten das Sphären- 
bewußtsein als solches, wie sie es erlebt, noch ehe es zu irgend- 
einer bestimmten Sinnerfassung auf Grund dieses Erlebnisses 
gekommen ist. Eine Fülle von Gegebenheiten, mehr oder we- 
niger anschaulich, drängen sich der Vp. gleichzeitig auf, sie 
weiß, darin steckt alles, Ess muß das Gesuchte daraus 
hervorgehen. 


Wenn wir uns einmal im Zustand einer solchen Erfassung 
aus dem Sphärenbewußtsein heraus selbst beobachten, so werden 
wir sagen, es ist fast unmöglich, das sprachlich auszudrücken, 
was wir in diesem Augenblick erleben. So Verschiedenes ist 
darin eingegangen; Gefühlsmäßiges, motorische Ansätze, ein 
vages Wissen, wie sich dieses Etwas, das wir meinen, unter be- 
stimmten Bedingungen verhalten würde, Urteilsmäßiges, ein 
flüchtiges Vergleichen und Unterscheiden, das an schwach an- 
schauliche Gegebenheiten sich. heftet, Lust, Unlust, Wert- 
gesichtspunkte ... Und all das wird doch erlebt als Ganzes, 
aus dem ein einzelnes Moment nicht herausgelöst werden kann, 
denn sonst würde dieses Moment sich abheben gegenüber den 
anderen und so das Ganze verfälschen, vergrößern, die Do- 
minante verschieben. Alle diese Momente gehören in dieser 
einzigartigen Potenzierung irgendwie zusammen als eines, eine 
seelische Einheit 32). 


32) Messer meint mit dem Sphärenbegriff nicht nur dieses unbestimmte 
Gegenwärtighaben eines Gedankengehaltes, sondern auch jene Fälle, wo wir 
im bloßen Verstehen eines Wortes hinweisen auf einen bestimmten Sach- 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 433 


Das, worauf wir in diesem Erleben gerichtet sind, das, was 
wir meinen, ist uns nicht als etwas von vornherein Bestimmtes 
scharf umrissen gegeben, wie in einer Definition, oder als ein 
bestimmt geformter Komplex, wie es die Wahrnehmungsrepro- 
duktionen sind, auf die wir uns in unserem Gedächtnis stützen. 
Eine ganze Fülle von Momenten klingt auf einmal an. In diesen 
Momenten ist das Gesuchte dadurch gegenwärtig, daß wir 
alle diese Momente alsirgendwie zusammenge- 
hörig erleben. Diese Zusammengehörigkeit wird dadurch 
erlebt, daß alle diese Momente eine bestimmte, seelische 
Haltung in uns auslösen. In dieser seelischen Hal- 
tung findet die Besonderheit dieses Momenten- 
komplexes ihre Entsprechung. Wir können das 
Wesen desjenigen, was von uns als zusammengehörig empfunden 
wurde und damit gleichzeitig diesen Komplex nun näher be- 
stimmen, indem wirunsere Haltung variieren. Das 
geht innerhalb ziemlich enger Grenzen, ohne daß diese Ent- 


verhalt. Wenn wir z. B. den Satz lesen, daß die Säugetiere, die Vögel und 
Fische, rotes Blut haben, so werden wir die Begriffe Säugetiere, Vögel, Fische 
nicht ausdrücklich im Bewußtsein realisieren, sondern nur in einem signitiven 
Akt im Sinne Husserls (Husserl, Logische Untersuchungen) darauf hin- 
weisen. Im Falle dieses hinweisenden Meinens sind wir auf einen bestimmten 
Sachverhalt gerichtet; dieser wird an irgendeiner Stelle im Vorstellungsraum 
lokalisiert, auf die wir im Sprechen bloß hinzielen. Wir wissen, dort liegt 
das Gemeinte, wir könnten es realisieren, tun es aber nicht, sondern arbeiten 
mit diesem Komplex oder mit der betreffenden Stalle, als wäre es die Sache 
selbst. Dergleichen findet man oft in vollkommen automatisch verlaufendem 
Denken oder dort, wo wir bloß an unser Gedächtnis zu appelieren brauchen, 
um zu verstehen, was hier gemeint ist. Wir zitieren als Beispiel für solch 
einen automatischen Verlauf Protokoli Nr. 59. 
»Was meinen wir mit der Immanenz des Todes.« 

Antwort: »Daß der Tod zum Leben gehört, daß er eben auch ein Lebens- 
vorgang ist. Von mir eine Wendung nach links in den Raum ist etwas, als 
als ob dort etwas Totes gefunden werden könnte. Das habe ich aber nicht 
gesehen. Es liegt gleichsam parat dort, wennich os brauchen 
würde, könnte ich mich hinwenden, um dort eine An- 
schauung zu erhalten« 

Die Vp. läßt sich an diesem Wissen genug sein, ohne es explizite zu 
realisieren, ohne selbst hinzusehen, es genügt ihr, daß sie weiß, wenn sie 
hinsehen wollte, könnte sie dieses Wissen realisieren. 

In allen Fällen des signitiven Meinens handelt es sich im strengen Sinne 
nicht um eine Sinnerfassung aus dem Sphärenbewußtsein heraus. 

Wir haben darum in unseren Begriff vom Sphärenbewußtsein diese Fälle 
nicht mit hineingenommen. 

Archiv für Psychologie. LI. 28 


434 Auguste Flach, 


sprechung gestört werden würde. Sobald wir aber unsere ein- 
fühlende Attitude über die gewisse Variationsbreite ihres 
Geltungsbereiches hin aufrechtzuerhalten versuchen, werden wir 
spüren, das geht nicht, hier besteht keine Entsprechung mehr, 
hier beginnt bereits ein anderer objektiver Sinn, dem eine 
andere Haltung wesensgemäß ist 33). 


Auf diese Weise kommen wir dazu, durch diese Variationen, 
durch dieses Suchen, Probieren, Ertasten, das jeder aus eigenem 
Erleben kennt, die Grenzen festzustellen, welche der Variation 
unserer Haltung durch den ihr entsprechenden objektiven Sinn 
gezogen sind. Gleichzeitig ist uns dieser objektive Sinn auf 
diese Weise erlebnismäßig durch die Grenze der Variationsbreite 
möglicher Attituden gegeben. Ich möchte hier zwei unserer 
Beispiele, Nr.9 »Bach«, Nr. 24 »Demut«, besprechen, bei denen 
die Vp. aus dem Sphärenerlebnis durch Variation ihrer ein- 
fühlenden Haltung zur Sinnerfassung gekommen ist. 


Wir sehen an diesen beiden Beispielen: eine durch 
die Aufgabenstellung ausgelöste Gerichtetheit auf den objek- 
tiven Sinn »Demut« und »Bach«. Der objektive Sinn selbst 
ist nicht als ein begrifflich bestimmter gegeben, sondern er 
ist gegenwärtig als eine ganz komplexe Gegebenheit, in welche 
die Vp. sich einfühlt; die Vp. erlebt eine bestimmte seelische 
Attitude, welcher dieser von ihr zu erfassenden Eigenart ent- 
spricht und diese zur Darstellung bringen soll. In Nr. 24 vari- 
iert die Vp. ihre einfühlende Haltung und kommt im Erkennen 
der Grenze, welche diesen Variationen gesetzt ist, dazu, den 
Geltungsbereich dessen zu bestimmen, was wir »Demut« nennen. 


In Nr. 9 zeichnet die Vp. ein bestimmtes Ornament als 
Symbol für die Bachsche Musik. Dieses Ornament zeichnet 
sie, während sie eine bestimmte Bachsche Musik akustisch 
gegeben hat, in die sie sich offenbar einfühlt. Sobald ihr die 
Fugen einfallen, sagt sie sofort, daß dieses Ornament für die 
Fugen nicht mehr gilt. Die bestimmte Attitude, welche sich 
im ersten Ornament ausprägt, und welche eine bestimmte Auf- 
fassung der Bachschen Musik darstellt, läßt sich auf die 
Fugen nicht ausdehnen. Die Fugen werden durch ein anderes 
charakteristisches Ornament symbolisiert. 


33) Vgl. auch Betz, Psychologie des Denkens S. 71. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 435 


Dieses sphärische Erleben eines bestimmten Gedankengehalts 
ist nicht vielleicht etwas, was vereinzelt vorkommt; jeder von 
uns hat es schon erlebt, wenn man daran war, sich an einen 
vergessenen Namen zu erinnern, oder wenn es einem so gar 
nicht gelingen wollte, etwas zu sagen, was man »auf der Zunge« 
hatte. William James) schildert das Suchen um einen 
vergessenen Namen sehr treffend, indem er sagt: »Nimm an, 
wir versuchten, auf einen vergessenen Namen zu kommen. Der 
Zustand unseres Bewußtseins ist ein ganz besonderer. Es ist 
eine Lücke darin, aber keine bloße Lücke. Diese Lücke ist stark 
tätig. In derselben ist eine Art von Schemen des Namens. Er 
zieht uns nach ganz bestimmter Richtung, gibt uns auf Augen- 
blicke das prickelnde Gefühl der Nähe und läßt uns dann 
zurücksinken ohne das ersehnte Wort. Wenn ein falscher Name 
uns vorgeschlagen wird, beginnt die wunderlich bestimmte Lücke 
unmittelbar in Aktion zu treten und weist den falschen Aus- 
druck zurück. Er paßt nicht in ihre Form, und die Lücke für 
ein Wort erscheint dem Bewußtsein gar nicht gleich der für 
ein anderes, so leer von Inhalt sie beide scheinen mögen, wenn 
man sie als Lücken beschreibt. Wenn ich vergebens versuche, 
mir den Namen »Spalding« ins Gedächtnis zurückzurufen, so 
ist mein Bewußtseinszustand ein ganz anderer, als wenn ich 
mich umsonst bemühe, mich auf den Namen ‚Bowles‘ zu be- 
sinnen.« r 


Hier kommen wir auf den richtigen Namen dadurch, daß 
wir verschiedene Namen probieren, von denen die falschen zu- 
rückgewiesen werden, d.h. in unserem Sinn: Es werden die- 
jenigen zurückgewiesen, welche in die gegenwärtige seelische 
Haltung nicht passen. Diese seelische Haltung aber 
wird durch das Gesuchte irgendwie determiniert. 


Ähnlich beschreibt Müller-Freienfels35) die Situation, 
in welcher wir uns befinden, wenn wir »einen Namen sagen 
wollen, der uns auf der Zunge liegt und den wir doch nicht 
aussprechen können. Es ist dann in der Seele eine ganz be- 
stimmte Richtung, die sich negativ dadurch kennzeichnet, daß 
jeder andere Namen, den ich heranbringe, sofort verworfen 


34) William James, Text book of psychologie S. 163. 
35) Müller-Freienfels, Das Denken uni die Phantasic, Leipzig 
1916, S. 179. 
28* 


436 Auguste Flach, 


wird«. Alle diese Aussagen stimmen darin überein, daß der 
gesuchte Sinn in dieser sphärischen Gegebenheit irgendwie 
gegenwärtig sei. Er erweist sich als wirksam, indem alles nicht 
Passende verworfen wird, und kommt auch darin zum Aus- 
druck, daß die Vp. das Gefühl hat, »in jedem Fall die Ein- 
stellung realisieren zu können, sei es durch Visualisierung, sei 
es durch Umschreibung mit Worten, sei es durch Aufsuchung 
eines konkreten Falles«. 

»Dieses Gefühl«, sagt Müller-Freienfels, »in jedem 
Falle die Einstellung realisieren zu können, spricht dafür, daß 
ich das, worauf ich in der Einstellung gerichtet bin, das, was 
ich realisieren könnte, doch irgendwie habe.« 


Aus diesen Erlebnistatsachen: 1. den Umstand, daß die 
mannigfaltigen Gegebenheiten als in gewissem Sinne 
zusammengehörig erlebt werden; 2. aus dem Be- 
wußtsein, die seelische Haltung, die durch diese Ge- 
gebenheiten in uns hervorgerufen wird, in jedem Falle reali- 
sieren zu können; 3. aus dem WissenumdieGrenz- 
bestimmung der Variationsbreite möglicher At- 
tituden geht hervor, daß allen sphärischen Er- 
leben das Wissen um einen objektiven Sinn die 
Intention auf einen Gegenstand innewohnt. 


Und damit stellen wir uns in Gegensatz zu allen jenen 
Forschern, welche das Sphärenerlebnis als ein Gefühl auf- 
gefaßt haben. »Das Gefühl kann noch alles mit allem ver- 
binden«, sagt Cassirer. »Es enthält daher keine ausreichende 
Erklärung dafür, daß bestimmte Inhalte sich zu bestimmten 
Einheiten verknüpfen.« Wenn wir sagen, daß wir durch Varia- 
tion der einfühlenden Haltung den objektiven Sinngehalt er- 
fassen können, so ist es klar, daß sich die Einfühlung nur 
auf die subjektive Weise des Erfassens bezieht, daß aber das, 
was damit erfaßt wird, kein Gefühl ist. Das, was hier er- 
kannt wird, ist das Wesen eines Sachverhaltes, etwas Gegen- 
ständliches, Objektives, worauf wir gerichtet sind, das man 
irgendwie gegenwärtig hat, dem aber jene extreme Ichbezogen- 
heit fehlt, die jedes Gefühl vor allem charakterisiert. Karl 
Bühler®°s) hat dieses Erleben eines Gedankens in der Sphäre 
sehr treffend als »psychische Gegenstandsordnung« bezeichnet. 


36) Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der 
Denkvorgänge, Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. 9. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 437 


Ich verweise auf unser Kapitel I, wo wir die von 
W. Betz’) gegebene Darstellung der Hungergegend zitieren. 
Aus dieser geht klar hervor, daß es etwas Gegenständliches 
ist, das erlebt wird: »Hier achte ich nicht im geringsten auf 
eventuelle Gefühle und Empfindungen in mir. Ich betrachte 
diese Raumgegend beim Nachdenken über den Hunger gerade, 
als ob der Hunger wie eine greifbare Sache in dieser Gegend 
vorhanden wäre.« 


Dieser objektive Sinn ist uns in der Sphäre nicht explizite 
in begrifflich bestimmter Weise gegeben; es ist ein ganzer Sinn- 
bereich, der anklingt, wo alle Gegebenheiten irgendwie auf den 
gemeinten Sinn bezogen sind, und zwar meistens indirekt asso- 
ziativ durch »Mitgegebenheiten« im Sinne Charlotte Büh- 
lers®) oder als Konkretisierungsmöglichkeiten im Beispiel- 
und Anwendungsfalle. Aus allen diesen kann der Gedanke sich 
aufbauen, ohne noch in einem von ihnen klar zum Ausdruck 
zu kommen. Durch Variation der einfühlenden Haltung wird 
der allem sphärischen Erleben zugrunde liegende objektive Sinn, 
der von uns als Zielstrebigkeit und Richtungsbewußtsein erlebt 
worden war, vollständig präzisiert. 


Dort, wo diese Präzisierung in sinnlich anschaulicher Weise 
sich vollzieht, entsteht das, was wir ein symbolisches Schema 
genannt haben. Das ist namentlich im Stadium der wortlosen 
Gerichtetheit der Fall, wo wir uns bemühen, das Wesen eines 
Sachverhaltes, das wir eben innerlich erleben, das wir mehr 
oder weniger anschaulich doch irgendwie haben, darzustellen, 
mit Worten zu charakterisieren. Da kommt es oft vor, daß 
der Gedanke in seinen Grundzügen rein schematisch aus der 
sphärischen Umhüllung hervortritt. 


Z. B. in Nr. 19 schildert die Vp. die Art und Weise, in 
der sich ihr im Augenblick das Wesen der Kontinuität dar- 
stellt: »Ein sich Verlieren durch das Unaufhörliche, aus Mangel 
an Verfolgungsmöglichkeit. Zuerst kam so ein Gefühl des Nicht- 
aufhörenden, an das hat sich das Bild geschlossen, dann erst 
kam die Formulierung. « Hier sehen wir sehr schön, wie sich 
aus dem Sphärenbewußtsein das Bild herauskristallisiert, dann 
erst folgt die Formulierung. 


37) W. Betz, Psychologie des Denkens, Leipzig 1918. 
38) Charlotte Bühler, Über Gedankenentstehung. 


438 Auguste Flach, 


Dort, wo diese Bilder aus »Ausdrucksnot« hervorgegangen 
sind, wo inmitten dieser mannigfaltigen Gegebenheiten die Vp. 
um die richtige Präzisierung ringt, finden wir oft merk- 
würdige Wortneubildungen auftreten. Eine Vp. Messers rea- 
giert auf »Uhr—Zeitweisend« und sagt: »Sofort das Bewußt- 
sein dessen, was ich sagen wollte, aber ich hatte kein Wort 
dafür; da mir keines einfiel, bildete ich eines« Die Vp. im 
Protokoll Nr.19 »Kontinuität« charakterisiert das, was sie er- 
lebt, durch das Wort »Fortsätzlichkeit«. 

Ebenso Protokoll Nr. 25: 

Wie würden Sie das Wesen der Gotik als geistiger 
Bewegung charakterisieren? 

»Himmlischkeit.« 

Aus dem Bedürfnis, diese Fülle des sich andrängenden Er- 
lebens möglichst in Worte zu fassen und adäquat zum Aus- 
druck zu bringen, entstehen diese Wortneubildungen, welche 
ein Versuch sind, die große Mannigfaltigkeit des aufgetauchten 
Materials begrifflich und sprachlich zu bewältigen. 

Sehr schön erkennen wir in denjenigen Fällen, wo das 
Schema aus dem Sphärenbewußtsein hervorgeht, den produk- 
tiven Charakter dieser Denkerlebnisse. Es ist gleichsam ein 
Kristallisationsprozeß. Aus der Fülle an Gegebenheiten, welche 
den Sinnbereich der Sphäre zusammensetzen, treten durch die 
Schematisierung des Gedankengehaltes nur die für den Ge- 
danken wesentlichen, ihn aufbauenden Momente in sinnlich an- 
schaulicher Weise klar hervor. 


- Die Bedeutung des dargestellten Phänomens des symbolischen 
Schemas für das Verständnis der Denkvorgänge liegt darin, 
daß sich hier ein Einblick in den Prozeß des produktiven 
Denkens eröffnet. In bestimmten Fällen, wo es sich nicht um 
einfache reproduktive Wissensaktualisierung handelt, stellt das 
symbolische Schema eine besondere Art und Weise der Sinn- 
erfassung dar. Diese Art und Weise ist dadurch charakte- 
risiertt, daß der Sinngehalt als ein bestimmter 
Komplex von Beziehungen spontan erfaßt wird. 
Damit stellt sich das symbolische Schema neben die beiden 
Fälle, welche Karl Bühler beschrieben hat, die indirekte 
Erfassung und das Regelbewußtsein. 


Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 439 


Der Denktypus der indirekten Erfassung ist dann gegeben, 
wenn das »Was« des Meinens durch Platzbestimmtheiten inner- 
halb einer Ordnung ausgedrückt wird). Der Gegenstand ist 
indirekt bestimmt nicht durch die ihm zukommenden Merk- 
male oder Eigenschaften, sondern durch seine Beziehungen zu 
anderen Gegenständen, die mit ihm in jene Ordnung hinein- 
gehören. 


»Eine Form der direkten Sinnerfassung hat Bühler“) be- 
schrieben in dem, was er das ‚Regelbewußtsein‘ nennt. Auch 
hier ist uns der Sinn als eine bestimmte Ordnung gegeben. Diese 
Ordnung wird uns bewußt in der ‚Methode der Aufgaben- 
lösung‘.« 

Als eine spezielle Domäne des Regelbewußtseins hat Karl 
Bühler das Gebiet der Gestaltqualitäten charakterisiert. 
»Wenn ich auf den Linienkomplex einer kompliziereten mathe- 
matischen Figur hinschaue, erst nichts mit ihnen anzufangen 
weiß und mir dann plötzlich ‚aufgeht‘, was es mit ihnen für 
eine Bewandtnis hat, was ist mir da ‚aufgegangen‘? Offenbar 
der Sinn der Figur, und dieser Sinn ist in allen Fällen etwas 
Gedankliches. In vielen nichts anderes als ihr Gesetz. Man 
braucht dabei nicht gleich an ein exaktes und die Figur voll- 
kommen wiedergebendes Gesetz denken, es wird oft nur ein 
Teil dieses Gesetzes oder eine rohe Bildungsregel der Figur 
sein, aber sie geht, was uns hier allein interessiert, in 
einem Regelbewußtsein auf, das dann jene eigenartige Durch- 
leuchtung des sinnlichen Bildes erzeugt, deretwegen man von 
einem Aufgehen (eines Lichtes) spricht. Etwas Ähnliches liegt 
vor, wenn ich plötzlich die Konstruktion einer Maschine oder 
den Plan eines Bauwerks verstehe.« 


Das von uns beschriebene symbolische Schema zeigt in be- 
stimmtem Sinn das Spiegelbild zu dem Linienkomplex, an dem 
plötzlich ein Gedankliches, eine Gesetzmäßigkeit erfaßt wird. 
In unseren Fällen ist es so, daß aus dem Gedanken heraus das 
anschauliche Schema hervorspringt. 

Wenn wir in einer sinnlich gegebenen Mannigfaltigkeit, wie 
sie z. B. in futuristischen Bildern vorliegt, plötzlich einen 


39) Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der 
Denkvorgänge, Arch. f. d. ges. Psychologie Bd.9 S. 127. 

40) Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der 
Denkvorgänge, Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. IX S. 341. 


440 A.Flach, Über symbolische Schemata im produktiven Denkprozeß. 


gegenständlichen Sinn finden (man kann auch sagen .hinein- 
sehen), so haben wir das Konkrete und Räumliche zu einem 
abstrakten Gehalt in Beziehung gesetzt. Im Falle des sym- 
bolischen Schemas ist es umgekehrt: Wir haben uns abstrakte 
Beziehungen in der Form von räumlichen und konkreten Rela- 
tionen zum Bewußtsein gebracht. 

Beiden Fällen ist aber das gemeinsam, daß das Verständnis 
eines Gedankens durch das unmittelbare Erfassen der Kon- 
stellation von Beziehungen erfolgt, die ihn aufbauen. 


(Eingegangen am 20. März 1925.) 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und 
wie sie wirkt. 
Das Grundkapitel in der Psychologie der Sprache, 


Von 
Christian Rogge (Neustettin). 


Vorbemerkung. | 


Die nachstehende Abhandlung war schon längere Zeit nieder- 
geschrieben, da kam mir Harald Höffdings Buch: »Der Be- 
griff der Analogie«, Leipzig 1824, zu Gesicht. Ich nahm es mit 
der Erwartung in die Hand, auch als Sprachpsychologe Be- 
lehrung zu finden, um so mehr als ich vor langen Jahren die 
Psychologie des Verfassers mit großem Gewinn studiert hatte. 
Leider muß ich sagen, daß mich die Lektüre nicht wenig ent- 
täuschte: gewiß, dieselbe Schärfe und Weite des Blicks, wie 
das weise abwägende Urteil, und ein großer Reichtum an Ideen, 
wie man es bei Höffding gewohnt ist, aber was ich suchte, 
fand ich so gut wie gar nicht. 

Man mag sagen: Höffding hat eben für den Sprachforscher 
nicht geschrieben; aber damit ist die Sache doch nicht abgetan. 
Sein Werk hat, um es mit Friedrich Nietzsche zu sagen 
(W. 2, 18ff.), den Fehler, daß es vom gegenwärtigen Menschen 
ausgeht und durch eine Analyse desselben dem Ziele zustrebt, 
als ob der Mensch der letzten vier ‘Jahrtausende, den wir un- 
gefähr kennen, der Mensch von Ewigkeit her wäre, immerdar 
derselbe, während er doch in langsamer Entwicklung geworden, 
auch sein Erkenntnisvermögen geworden ist, und darum alles 
Philosophieren historisch vorgehen muß. 

Daß unsere Zeit diesem Zuge auch wirklich folgt, ersieht 
man an der lebhaften Arbeit der prähistorischen Wissenschaft; 
aber die geschichtlichen Dokumente der Paläontologie sind stumm 


442 Christian Rogge, 


und vermögen uns über Denken und Empfinden des Menschen der 
Urzeit nichts zu sagen. Wenn wahr ist, was doch wohl niemand 
bezweifelt, daß der Mensch zum Menschen erst wurde durch die 
Sprache, daß Sprachwerdung Menschenwerdung ist, so kann hier 
allein die Sprachwissenschaft helfen, insofern sie sich als Psycho- 
logie des sprechenden Menschen ausweist und so die Sprache 
als älteste Geschichtsquelle ausnutzt. 

In diesem Sinne möchten die nachstehenden Ausführungen 
verstanden werden. 

Sie bilden eine Art Gegenstück zu dem Artikel: »Der wirk- 
liche Wert der Lautphysiologie .. .c, Monatschrift f. Psychiatrie 
u. Neurol. 1924, S. 307—319: dort die physiologische, hier die 
psychologische Seite der Sprache. Der Psychologe wolle freund- 
lichst bedenken, daß ein Sprachforscher zu Worte kommt, der 
seine Aufstellungen naturgemäß sprachwissenschaftlich 
ausreichend begründen muß. 

Wem die sprachhistorischen Belege etwas unbequem er- 
scheinen, der sei gebeten, zum Teil über sie hinwegzusehen und 
sich an die Sache zu halten, die dargelegt werden soll: daß 
die Analogie der Sprache ein Spiegel der Ideen- 
Assoziation ist, daß der Wortangleichung immer 
eine Sachangleichung vorausgeht. 

Es liegt uns fern, dem Urteil des geneigten Lesers vor- 
zugreifen und ihm zu sagen, was die nachfolgenden Erörterungen 
an Psychologie zu bieten vermögen. Aber Einiges darf doch 
wohl hervorgehoben werden. Die heutige Psychologie, vor allem 
soweit sie physiologisch zu Werke geht, nimmt außer der Ähn- 
lichkeits-Assoziation, der inneren, die man übrigens auf wenig 
Fälle zu beschränken sucht (s. Th. Ziehen, Physiol. Psychol. 
8. Aufl. S.187), eine äußere oder Kontiguitäts-Assoziation an; in 
der Sprache, d.h. also im sprachlichen Denken — und Denken und 
Sprechen läßt sich nicht trennen — gibt es nachweisbar nur 
eine Assoziation der Ähnlichkeit. Alle Assoziationen aber am 
Wort vollziehen sich biologisch, je nachdem das Sprachgeschehen 
dem Auge des eigentlich sprachschaffenden oder dem Ohre 
des aufnehmenden Menschen gehorcht, allgemein in doppelter 
Weise: sie sind Sprachsprechvorgänge, indem sie erfolgen ent- 
weder unmittelbar unter dem Eindrucke dessen, was das Auge 
leiblich und auch geistig erschaut, oder Sprachhörvorgänge unter 
dem Eindruck dessen, was das Ohr, den Wortklang verarbeitend, 
tut, um zur Sachvorstellung des Sprechers zu gelangen und in 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 443 


seiner Art Neues hervorzubringen. Diese Unterscheidung eines 
doppelten Sprachschaffens, von ungemeiner Bedeutung für allen 
Sprachwandel, aber bisher von der Wissenschaft ihrem Wesen 
nach noch nicht erkannt, wird im folgenden kurz entwickelt 
und muß u. E. auch für die Psychologie grundlegend sein; man 
kann sich davon leicht überzeugen, wenn man den Wandlungen 
einer zwanglos fortlaufenden Unterhaltung folgt, wo ein Wort 
das andere gibt, je nachdem die Sachbemerkung eines Mit- 
sprechers oder ein gehörtes Wort den springenden Faden fort- 
leitet. Goethe hat das schon fein durchschaut; sagt er doch: 


Wort und Bilder, Bild und Worte 
Locken uns von Ort zu Orte, 
Und die liebe Phantasei 

Fühlt sich hundertfältig frei. 


Was Ziehen S. 202 und 188 als Anzeichen der Ideenflucht 
beibringt, ist vom sprachlichen Standpunkt aus krankhafte Hör- 
angleichung. Daß die Sprachwissenschaft mehr als die physio- 
logische Psychologie (Ziehen S. 176) berufen ist, über die Ent- 
stehung und das Wesen des Begriffs mitzureden, wird unten 
S. 467 gelegentlich gestreift, und über logisch und prälogisch 
(Höffding S. 7ff.) mag man bei den Naturvölkern nachfragen, 
wird aber nicht vergessen dürfen, daß die Hauptfingerzeichen 
in der Sprache zu suchen sind. So und ähnlich kann die Psycho- 
logie im Leben der Sprache die Ausbeute finden, die Wilhelm 
Wundt dort suchte, aber doch eigentlich vermißte, weil er 
nicht genug Sprachforscher, d. h. Sprachpsychologe war. 


Was Analogiebildung ist, wird im allgemeinen wohl als eine 
ausgemachte Sache betrachtet. Sieht man genauer zu, so er- 
kennt man bald, daß weder der Begriff der Analogie ein fest 
umschriebener ist, noch über die Auswirkung derselben all- 
gemein geltende oder wissenschaftlich wie praktisch bewährte 
Anschauungen bestehen. Wir möchten zuerst vom Wesen der 
Analogie handeln, indem wir, soweit es hier der Raum gestattet, 
der Entstehung des Begriffs und seiner Schicksale in der alten 
Grammatik, d. h. der Griechen und Römer und der ausschließ- 
lich in ihren Bahnen wandelnden Grammatik, und ebenso in 
der modernen, durch die vergleichende Sprachforschung beein- 


444 Christian Rogge, 


Aubten Grammatik nachgehen ’). Ist so die Unterlage geschaffen, 
zu erfassen, was die Analogie wirklich ist, so wird sich ebenso 
in allgemeinen Zügen sagen lassen, wie sie im Sprachwandel 
wirkt. 


L Zur Geschichte der Analogie. 
a) Entdeckung der Analogie und ihr Wandel in der alten Grammatik. 


Man wird ausgehen von der Etymologie des Ausdrucks dva 
Aöyov »auf den Sinn, das Gedachte hin, sinngemäß«; dvd zur 
Bezeichnung des Grundes (Gerth-Kühner, Ausf. Gr., Synt. 
"Bd. 1 S. 474), was sonst xará auszudrücken pflegt; daher in der 
Grammatik dasselbe, was später xarà oúreoi, z. B.: tria capita 
coniurationis . . . percussi sunt Liv., weil man im Sinne hat: 
drei Menschen sind getötet, capita also — homines ist. Dies dya 
iöyov gab dann nach dem Muster von oúuuctoos »gleichmäßig, 
angemessen« ein Adjektiv dvdAoyos und ein Adverb dvaldyws 
her. Plat. Phäd. 110 D las noch J. Bekker ävydioyov, während 
man heute åvà Adyo» trennt. Als Synonyma aber verbindet Plat. 
Tim. 69, B dvdioya xal ouuuerga, woraus wir, da oduuerpos die 
ältere Bildung ist, den Schluß machen, daß dieses für dvdAoyos 
als einheitliche Bildung aus dvd Adyov zum Muster gedient hat ?). 
Doch von solchen Dingen später mehr! Aus dvdioyos entspringt 
dann ävaloyla, wie aus oduueroos entstand ovuusrola; man vgl. 
Pl. Tim. 69: ó deös v Exdorw te aùt® noös abrd xal nods Allnla 
ovuuerpias Evenoinoev, Öoas te xal ny Övvaröv N» Gvdloya xal 
oduueroa elvaı, d.h. kurz: »ein Gott schuf für jedes Ding in 
sich ein angemessenes Verhältnis der Teile zueinander, schuf 
solche Beziehung auch für das Verhältnis von Dingen zu ein- 
ander«. So kommt es denn, daß dvakoyileodaı heißt: eine Schluß- 
folgerung machen vom Einen auf ein Anderes, das irgendwie 
wesensähnlich ist, wie wir ja logisch noch heute von einem 
Analogie-Schluß, anthropologisch von Analogie-Zauber sprechen. 
Bezeichnend ist es für das sachrichtige Denken der Griechen 


1) Eine ausführliche Geschichte des Analogiebegrifis dürfte ein dringen- 
des Bedürfnis der modernen Sprachforschung sein; hat doch der Begründer 
derselben, W. v. Humboldt, gemeint, daß in einer Sprache alles auf Ana- 
logie berahe; G. v. d.Gabelentz, Die Sprachw. 2. Aufl. S. 216 Anm. 

2) Auch ovuusroos hat gleichen Ursprung: was où» uérow ist; auch hier 
muß eine feste Wortform die Adjektivbildung bewirkt haben. 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 445 


und ihr scharfes Beobachten, daß sie dieses dvaloyllsodaı »Dinge 
auf ihre Ähnlichkeit hin miteinander in Verbindung bringen« 
auch auf die Tiere anwenden. So läßt Xenophon als erfahrener 
Jäger Memor. 2, 1, 4 den Sokrates sagen, die Rebhühner ver- 
lören im Augenblick der Begattung das Vermögen, die ihnen 
drohende Gefahr zu erkennen (2£loraodaı tod ra dewa dvaloyl- 
coa); die Erinnerung an ähnliche Fälle sei also ausgeschaltet. 
— Damit wolle man vergleichen, was Fr. Nietzsche Bd.5 
S.152 über »die Herkunft des Logischen« sagt: »Woher ist die 
Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiß aus der Un- 
logik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß. 
Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir 
jetzt schließen, gingen zu Grunde... Wer z.B. das Gleiche 
nicht oft genug aufzufinden wußte, in Betreff der Nahrung oder 
in Betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam sub- 
sumierte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte geringere 
Weahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem 
Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang 
aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang 
— denn es gibt an sich nichts Gleiches — hat erst alle Grund- 
lage der Logik geschaffen.<e So also Analogie ein biologisches 
Grundgesetz. Die menschliche Denklogik aber entsteht durch 
die Sprache (s. unten S. 467 ff.). 

Begegnet so dvaloyia zunächst bei den Philosophen, bei 
Aristoteles noch öfter als bei Plato, so ist es, da Sprach- 
forschung ja philosophischen Ursprungs ist, besonders insofern 
man früh nach dem Verhältnis von Name und Begriff zur Sache 
fragte, gar nicht wunderbar, daß dvaloyia auch auf sprachliche 
Untersuchungen übertragen wurde. Dies geschah durch die 
Stoiker, voran durch Chrysipp; aber wohlgemerkt, es geschah 
im philosophischen Sinne, nicht im eigentlich grammatischen. 
Die Stoiker suchten von der Sprache her das Wesen der Dinge 
zu ergründen, waren daher auf das Verhältnis des Wortes zur 
bezeichneten Sache aus und unterschieden danach Fälle, wo der 
Name der Sache entsprechend, — analog war, und solche, 
wo nicht Analogie, sondern Anomalie herrscht. Man fand 
z.B. eine Anomalie darin, daß ein Plural wie ’Adrvaı, Zvod- 
xovoaı eine nöles bezeichnete, also für einen Singular eintrat, 
oder das sprachlich ausgedrückte Geschlecht dem natürlichen 
widersprach, z. B. ein Knabe oder auch ein Mann gihe téxvoyv 
angeredet, ein weibliches Wesen neutral benannt wurde. 


446 Christian Rogge, 


Aber da solche Untersuchungen nur philosophischer Erkenntnis 
dienten, so sind, genau genommen, die Stoiker nicht, wie man 
gewöhnlich liest?), die Schöpfer des grammatischen Terminus der 
Analogie. Sie sind es nur gewesen, welche die Veranlassung 
dazu gaben, daß diese Fachbezeichnung von der Grammatik an- 
genommen und für das Verhältnis auch von Wort zu Wort, 
nicht wie bis dahin nur von Wort zur Sache gebraucht wurde. 
Bezeichnend dafür ist, daß die alexandrinischen Grammatiker 
die Analogie als Fachausdruck für ihre sprachlichen Untersuchungen 
zunächst nicht anwendeten °. Wenn sie aber den Namen nicht 
haben, so haben sie doch die Sache, wenden, wie K. Reisig, 
Vorles. ü. lat. Sprachw. S.7 es als das Wesen der sprachl. 
Analogie findet, das Analogieverfahren an als »den grammatischen 
Weg zur Auffindung des Sprachgebrauchs«, bei Homer be- 
sonders. Wir können uns auch eine Vorstellung davon machen, 
wie sie dabei vorgingen, und es ist wichtig für eine Feststellung 
dessen, was Analogie wirklich ist, sich zu vergegenwärtigen, 
daß sie dabei nicht bloß die gleiche Flexionsweise der Wörter 
im Auge hatten, das Verhältnis einer Wortform zur andern, 
sondern zu allermeist an die Wortbedeutung dachten, welche 
die analoge Form hervorruft, an die res quae verbis dicuntur 
(Varro de ling. lat 10, 68). Aus diesem Grunde, so dürfen wir 
nach Varro annehmen, sah Aristophanes v. Byz. dyadös 
und xaxös, dyadol und xaxoi als gleichgebildet.an; wir könnten 
in seinem Sinne xalös, aloyods, &o94ds mitanreihen. Den Spuren 
seines Lehrers Aristophanes folgte Aristarch, an Schärfe 
des Verstandes und Feinheit der Psychologie den Lehrmeister 
überragend. Er sucht, wie wir sehen?), um den Wortgebrauch 
bei Homer festzulegen, Wortformen von gleicher oder ähnlicher 
Bedeutung und gleicher Art auf. So z. B. schreibt er Ilias 
3, 270 xedov »sie gossen (das Wasser auf die Hände der Opfern- 
den) nach dem Muster von zwioyo» »sie mischten Weine, — eben- 
falls für die Opferhandlung, und M 159 verlangt er zum Plur. 


1) So auch bei W. Kroll, Gesch. der klass. Philol. (Leipzig, Göschen 1909) 
3.36, wo daher der Übergang von den Stoikern zu den Alexandrinern un- 
vermittelt erscheint. 

2) So nach Steinthal, Gesch. der Sprachw. bei d. Gr. u. Röm. 447 A 
gegen Nauck, der dem Aristophanes ohne ausreichenden Beweis ein Buch 
xeoi avaloylas zuschreibt, gleich Kroll a. a. O. 

3) Die Beispiele bei K.Lehrs, De Aristarchi stud. Hom. u. bei H. 
Steinthal, Gesch. der Sprachw. b. d. Gr. u. Römern S. 449 ff. u. sonst. 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 447 


des Neutr. ߣAea gegen den ihm gewohnten Sprachgebrauch auch 
den Plur. des Verbs, d&ov; es geschieht, weil es 156 heißt 
yıpdödes ds nintov Eoale, »gleich Schneeflocken fielen die Ge- 
schosse«, d. h. weil es hier im Zusammenhange der Rede wirk- 
lich auf den Ausdruck der Vielheit auch bei ߣ4ea ankommt. 
Wer, was hier nicht geschehen kann, ins Einzelne den Gründen 
nachgeht, auf welche hin Aristarch über eine Lesart die 
Entscheidung trifft, der muß meist staunen über die geniale 
Sicherheit des Forschers. 

Das Verfahren aber, das Aristarch hier anwendet, ist das 
der Analogie. Der Name für die Sache kommt in der Grammatik 
wiederum von den Stoikern, von Krates aus Mallos, der, von 
Hause aus stoischer Philosoph, sich ebenfalls mit Homer-Erklärung 
abgab und als Vertreter der pergamenischen Schule den Alexan- 
driner Aristarch mit seiner Entscheidung nach den Ähnlich- 
keiten dvdloya bekämpfte, indem er hervorhob, wie im Sprach- 
gebrauch die dvwualia herrsche. 

So die Analogiebildung auf Grund der Sinnähnlichkeit. 
Die Schüler und Nachfolger Aristarchs, zumeist Geister 
geringen Maßes, suchten, was der Meister in sachsicherem Sprach- 
gefühl von Fall zu Fall geübt hatte, auf feste Regeln und 
Formeln zu bringen, genötigt durch die Gegnerschaft der Ano- 
malisten. So stellten sie denn xa»öves in großer Zahl auf, womit 
das entstand, was wir Paradigma nennen, und Analogie war 
nunmehr, was entsprechend einem Paradigma gebildet war. Dies 
der Weg, auf dem es zu der Grammatik kam, die bei allen 
Kulturvölkern des Westens noch heute gilt, die Aristarch 
als Lehrgebäude noch nicht kannte Analogie ist nun 
grammatische Regel, die im Deklinieren, Konjugieren, 
Komparieren usw. nach vorliegenden Mustern geübt wird. So 
kann man es bei den lateinischen Grammatikern (hrsg. von H. 
Keil) lesen; z.B. wenn es bei Charisius (4. Jahrh. n. Chr.) 
heißt: analogia — regula sermonis (456) oder bei Servius 
(5. Jahrh.) declinatio nominum inter se omni parte similium 
(435) usw. 

Und von Donat her hat dann die Grammatik der Neuzeit 
für Latein und Griechisch die Methode, das Regelmäßige und 
die Ausnahmen zu bestimmen, unbesehen übernommen. Wie bei 
Donat selbst (um 350 n. Chr.) verschwindet der Name der 
Sache zumeist wieder; in der viel gebrauchten Grammatik von 
Zumpt z. B. findet sich, soviel ich sehe, die Analogie nicht 


448 Christian Rogge, 


beachtet. Bei Reisig, wie erwähnt (6), wird sie etwa mit dem 
Sprachgebrauch gleichgestellt, und so auch sonst. Analogie be- 
zeichnet, wie Curtius (Zur Krit. der neuesten Sprf. S. 38) sagt, 
im Sinne der Alten und der ihnen folgenden Grammatik die 
Regel, und wenn man dann zwar, weil Regel das war, was 
vorher Analogie, nicht mehr von Analogie zu sprechen pflegte 
so gebrauchte man doch für Abweichungen von der Regel, wo 
ein Ausbiegen in eine andere Bildungsweise vorlag, gern den 
Ausdruck »falsche Analogie«. Auf zweierlei kommt der Wandel 
des Analogieprinzips, der mit der Ausbildung der Grammatik 
eintrat, im wesentlichen hinaus: Aristarch, der eine Grammatik 
nicht kannte, verglich, wenn er nach der Regel suchte, die 
einzelne Form mit einer andern, bildete daher, wie erwähnt, 
z. B. oiöv »der Schafe« nach dıy@v »der Ziegen<; die zünftigen 
Grammatiker dagegen fragten, wie sich die Wortform dem 
grammatischen Schema einreihte Und zweitens: Aristarch, 
dem Sprachgefühl folgend, entschied über den Einzelfall, indem 
er zusammenbrachte, was der Sachbedeutung nach ihm auf 
Grund seiner Homerlektüre als zusammengehörig erschien; die 
Grammatiker dagegen dachten, wo ihnen etwas Abweichendes 
begegnete, an die Aufstellung eines neuen Schemas (Paradigma 
xavöv). Aristarch betonte N. 103 dow» »der Schakale« auf 
der Vorletzten, nach dem Muster von Avxw» »der Wölfe«, weil 
für sein sprachliches Denken Wölfe und Schakale psychologisch 
verknüpft waren, wie denn ja auch N. 103 3ow» mit Avxwr 
vereint vorkommt; Grammatiker aber wie Pamphilus wollten 
nach Yno@r, xvvcoy auch Ywar bilden, während andere mit dor 
und sonstigen vokalstämmigen Substantiven ein neues Paradigma 
ansetzten (Towes, duwes)}). 


b) Die Analogie der modernen Grammatik. 

Hier erscheinen die alten Gegensätze Analogie — Anomalie, 
Regel-Ausnahme — in neuer Beleuchtung; leider nicht mit fort- 
schreitender Klärung des Sprachvorganges. Die Römer gaben 
das griechische dvaAoyla durch proportio wieder. Dadurch scheint 
Steinthal(Gesch.S. 447,495) zu einer mathematischen Auffassung 
geführt zu sein, indem er proportio im Sinne von Gleichung — 
Proportion verstand; daß Varro, an den anschließend sich 
Steinthal so äußert, auch gleicherweise dachte, ist schwer 


1) Steinthal, Gesch. d. Sprachw. S. 479. 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 449 


zu glauben. Herm. Paul, der Schüler Steinthals, sieht in 
der analogischen Neuschöpfung allen Ernstes die Auflösung einer 
Proportionsgleichung (Princ. ® 106; 97). Wer diese Ausdrucks- 
weise zurückübersetzt in die früher übliche, der erkennt, daß 
es nichts anderes bedeutet als: ein Wort wird nach einem Para- 
digma flektiert. Nicht viel Anderes will es besagen, wenn 
Wundt (D. Spr. Bd. 1 S. 464) behauptet, wir trügen paradigma- 
tische Vorstellungsreihen als latente Kräfte in uns, oder wenn 
G. v. d. Gabelentz (D. Sprw. ꝰ S. 63) meint, die Formung 
der Wörter geschehe als unbewußte Abstraktion aus vielfacher 
Erfahrung und Übung, und die Wirkung dieser unbewußten 
Abstraktion sei Analogie. — Man wird sagen müssen, daß hier 
dasselbe Hindrängen auf Regel und Schema vorliegt wie bei 
den alten Grammatikern mit ihrem Kanon; ja, wenn die Ana- 
logie in der Art einer mathematischen Gleichung verstanden 
wird, so geht das im Grunde abstraktionsweise noch über den 
Schematismus der Alten hinaus. 

Wie die Analogie als Regel und Norm des Sprachgebrauchs, 
so erscheint auch die Durchbrechung desselben, die Anomalie, 
wieder bei den modernen Sprachforschern junggrammatischer 
Richtung, und zwar zunächst auch als falsche Analogie, um 
dann den Zusatz der »falschen« zu verlieren. Bestimmender 
Führer in der Sache war hier Wilh. Scherer, der (Zur Gesch. 
d. dtsch. Spr. 1868 S. 177) die Anregung gab, man sollte doch 
einmal die Formübertragung oder Wirkung der »falschen Ana- 
logie«, wie sie bei Bildungen nach der Art von yéłaju pilnu 
doxiuwuı, dem Muster der Verba auf ¿u folgend, eingetreten, im 
allgemeinsten Zusammenhange erörtern und namentlich die Ein- 
schränkungen feststellen, innerhalb deren dieser Vorgang sich 
halten müsse. S. 473 ist dann nachtragsweise von der Art der 
Formübertragung die Rede und ebenso von analogen Vorgängen 
wie Umdeutung, Mißverständnis, falscher Folgerung, die aber 
nach Scherer von der Formübertragung zu sondern wären. 
Scherer selbst wandert da wie Schleicher in den Spuren 
Darwins und läßt die Form a über b durch die tatsächliche 
Übermacht siegen, die auf der Häufigkeit des Gebrauchs beruht, 
wieder eine abstrakte Allgemeinheit, mit der sich im Einzelfalle 
kaum etwas anfangen läßt. H. Hirt, der in Griech. Laut- 
und Formlehre (S. 71) die beste Übersicht über das, was man, 
Wundt eingeschlossen, in neuster Zeit über Analogie denkt, 


kurz und knapp beibringt, ist der Meinung, man solle aus 
Archiv für Psychologie. LII. 29 


450 Christian Rogge, 


praktischen Gründen den Ausdruck falsche Analogie beibehalten, 
wenn er auch psychologisch nicht berechtigt sei; er versteht 
sie zutreffend dahin, daß durch die Analogiebildung Formen 
hervorgebracht werden, die vom Sprachgebrauch abweichen und 
daher zunächst von manchen als falsch empfunden werden; also 
eine regelrecht gehende Analogie und eine falsche, die doch 
wieder keine ist. Dazu nehme man, was G. v.d. Gabelentz 
(D. Sprw. °? S. 63) allgemein von der Analogie sagt, das 
Analogiebedürfnis wirke oft störend, mißleitend; das Wort habe 
fast einen revolutionären Klang, wie denn F. Brunot (Gramm. 
hist. d. l. langue franç. * 62, 244) von einer action perturbatrice 
de l'analogie spricht. 

Noch verwickelter wurde die Frage der Analogie, als die 
Junggrammatiker mit ihren Lautgesetzen auftraten. Hirt fährt 
a. a. O. etwas unvermittelt fort: »Die Analogiebildungen be- 
wirken nun die meisten Ausnahmen von den Lautgesetzen.« 
Sie bilden, wie Delbrück, Grundfr. S. 99 sagt, den störenden 
Faktor gegenüber den Lautgesetzen; so auch F.Sommer (Lat. 
Laut- u. Formlehre ? S. 33): »Vor allem ... beeinträchtigen 
die gewaltigen Einflüsse der Analogie, die sich auf allen Ge- 
bieten des Sprachlebens geltend machen, die Wirksamkeit der 
Lautgesetze.< Folgerichtig war es da nur, wenn H. Osthoff 
ein physiologisches und ein psychologisches Moment in der sprach- 
lichen Formenbildung unterschied. (Virchow u. Holtzendorff, 
Vorträge S. 327. H. Paul bemerkt nun dazu (s. Wechßler, 
Gibt es Lautges. S.73 Anm. 2): »Die Grenze zwischen Laut- 
wandel und Analogie ist so scharf zu ziehen wie nur irgendeine 
in der Welt. Freilich Osthoffs Gegenüberstellung eines phy- 
siologischen und eines psychologischen Moments geht im Aus- 
druck fehl, insofern auch die physiologische Seite der Sprach- 
tätigkeit psychologisch bedingt ist. Aber die Scheidung bleibt 
darum doch bestehen«, und so wird denn geschieden zwischen 
Veränderung der Laute ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung — 
was man gemeinhin eben mechanischen Lautwandel nennt — 
und Veränderung, veranlaßt durch deren Bedeutung. Hier also 
Physiologie und doch Psychologie, worauf denn oft von psycho- 
physischen Sprachvorgängen gesprochen wird. Eine wichtige 
Rolle spielte die Analogie in dem Streit um die Lautgesetze, 
den die Junggrammatiker hatten mit den Vertretern der alten 
Richtung, besonders mit G. Curtius. Dieser, durch seine vor- 
nehme, ruhige Art den Gegnern überlegen, zeigt sich doch etwas 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 451 


stark im Alten befangen und hat so leider in bezug auf die 
Anwendung des Analogieverfahrens den Fortschritt gehindert. 
Das geschah, indem er einerseits (Zur Krit. S. 38) geltend machte, 
die Analogie der neuen Herren sei die alte Sache der »falschen 
Analogie«, die durchaus logisch gedacht wäre, und andererseits 
(S. 41), es sei schwer, Analogiebildungen mit Sicherheit fest- 
zustellen. Von verschiedenen Seiten her ließen sich Stimmen in 
ähnlichem Sinne vernehmen, eindringlich zur Vorsicht mahnend 
(so selbst Scherer u. Joh.Schmidt), da die Wirkung der 
Analogie zufällig und unberechenbar sei. Sprach doch V. Henry 
in seinem Buch Étude sur l’Analogie 1883 von ihr als von 
einem chapitre intéressant de töratologie, was nichts Geringeres 
besagte, als daß es sich da handle um eine Lehre von den Miß- 
geburten der Sprache. Damit war man also wieder bei dem 
Standpunkt angekommen, den früher im Sinne der Alten A. 
Lobeck einnahm, wenn er de pathologia sermonis schrieb. Und 
bezeichnend ist, daß der Amerikaner W.D. Withney, der, ob- 
gleich in Deutschland sprachwissenschaftlich geschult, in seiner 
»Sprachwissenschaft« (deutsch von J. Jolly 1874) die Forschung 
gegenüber deutschem Wesen auf den Boden des gesunden 
Menschenverstandes zurückbringen möchte, in seinen Vorlesungen 
von der Analogie überhaupt nicht spricht‘). Kein Wunder unter 
diesen Umständen, daß die Junggrammatiker, deren Haupt- 
verdienst vermutlich einmal darin wird gesehen werden, auf das 
alte Prinzip der Analogie die allgemeine Aufmerksamkeit wieder 
hingelenkt zu haben, nach ihren schönen Siegeszügen in den 
»Morphologischen Untersuchungen«< nach und nach selbst be- 
denklich wurden und neue Eroberungen mit der Zeit hier so 
gut wie ganz aufgaben. Eigentlich bläst in den Morphologischen 
Untersuchungen Osthoff, neben Brugmann der Hauptkämpfer 
für die neue Sache, schon 1879 in seinem bekannten Vortrage 
über das psychologische und physiologische Moment zum Rück- 
zuge, wenn es S.22 heißt: »Die Zufälligkeiten der Analogie- 
bildungen sind schon einmal unlängst von einer Seite?) als 
Moment geltend gemacht worden, um die Bestrebungen der mit 


1) Man hätte das S. 65 erwartet, wo jede Neuerung in der Sprache auf 
den Willensakt eines Einzelnen zurückgeführt wird, der sie erdachte und 
durch seinen Vorgang in Umlauf brachte; wie man sieht, der Rationalismus 
des 18. Jahrhunderts. Die Erscheinungen der Analogie ‚rechnet er nach 
Curtius, Kritik S. 38 gelegentlich anderswo zu den blunders. 

2) Gemeint: von Curtius in den >»Studien«. 

29* 


452 Christian Rogge, 


dem Analogieprinzip operierenden Sprachforscher zu diskreditieren. 
In der Tat herrscht gegenüber der unausweichlichen Gewalt, 
mit der die physiologischen Gesetze der Sprache auftreten, 
einige Freiheit der Bewegung bei der assoziierenden Sprech- 
und Sprachumformungstätigkeit.«e Woher aber bei diesen jungen 
naturwissenschaftlichen Forschern auf den Spuren Darwins 
und Thomas Buckles gegenüber den Alten, die Wilh. 
v. Humboldt folgend, dem Idealismus kantischer Richtung an- 
hingen, diese Unsicherheit schon im Augenblick lebhaften An- 
griffs? Sie kam daher, daß man über das Analogieprinzip, welches 
man anwenden wollte, im Unklaren wart). Und es ist Paul 
(Prinz. ® S. 96—107), Wheeler (Analogy and the scope 1887) 
und W. Wundt (D. Sprache ! S. 424 ff., insbes. 447 ff.) nicht ge- 
lungen, in der Sache Klarheit zu schaffen. 


Der Fehler liegt, wie ein Rückblick auf die Entwick- 
lung des Kampfes um die Analogie zeigt, darin, daß man 
diese Erscheinung in alter wie in neuer Zeit zu sehr als 
eine bloße Sache der sprachlichen Formgebung ansieht und 
dabei aus dem Auge verliert, wie alle Sprachbezeichnung 
doch alsSachbezeichnung muß genommen werden und alle 
Sprachforschung zugestandenermaßen doch Sachforschung 
sein soll. Bei den Alten mit ihren xayvóves, bei ihren Nachfolgern 
mit der grammatischen Regel, wie bei den Modernen mit der 
mathematischen Gleichung verschwindet der individuelle Einzel- 
fall, wie ihn das Leben und die Erfahrung der Sprachschöpfer 
mit sich bringt, ganz im dunkeln Nebel). Aus einer Sachlehre 
ist mehr oder weniger eine bloße Wortlehre geworden. Wir 
müssen also, um das Wesen der Analogie richtig zu erfassen, 
zu den Philosophen, besonders Plato, zurücklenken, wo Ana- 
logie als eine reine Sachbezeichnung, mit ovuuerogia 
synonym, das Verhältnis ähnlicher Dinge und Vor- 
gänge zueinander bezeichnete, wobei wir im Auge zu be- 


1) Bei diesem Mangel an Zuversicht verschwindet denn auch mehr und 
mehr die Analogie, und mag man auch die Wirkung derselben noch so 
sehr betonen, so z. B. Sommer, Lat. Laut- u. Forml. ? S. 33, die An- 
wendung des Prinzips geschieht nur gelegentlich. 

2) Auch H. Sweet, der grundsätzlich auf das Greifbare aus ist, bleibt 
doch bei Allgemeinheiten stehen, indem er New engl. Gramm. Bd. 1 S. 187 
analogy als group influence versteht oder S. 189 als instrument of change 
und von der »preponderance« und »the greatest number« spricht. — So 
dringt man nicht zum individuellen Sprachleben vor. 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 453 


halten haben, daß Männer wie Aristarch, die das Verfahren 
der Philosophen auf die Sprache übertrugen, zuerst an die Be- 
deutung, also an die Sachvorstellung eines Wortes dachten, 
wenn sie seine analogischen Beziehungen und damit den Sprach- 
gebrauch feststellen wollten. 

Was ist es aber eigentlich mit der Analogie der Philosophen ? 
Man wird nicht fehl gehen, wenn man sagt: hier waren weit 
und scharf sehende Männer dem Grundgesetz des menschlichen 
Denkens und Empfindens auf der Spur. Wir bringen von Natur 
in dem bunten Vielerlei der uns umgebenden Welt das, was uns 
gleich oder ähnlich erscheint, denkend in Verbindung; die Philo- 
sophie nennt diese psychologische Verknüpfung, durch welche 
aus dem Chaos der Dinge erst ein überschau- und durchdenk- 
barer Kosmos geschaffen wurde, Ideenassoziation. Solcher Asso- 
ziation der Sachvorstellungen nun entspricht in der Welt der 
Sprache eine Assoziation der Worte, jenes von den alexandrinischen 
Grammatikern nach dem Vorgange der Philosophen ebenfalls 
Analogie genannte Gesetz des Sprachwandels; Analogie also 
Angleichung der Wörter und Ausdrücke, die auf 
Grund verwandten Sachgehalts psychologisch mit- 
einander verknüpft werden. So sind es also nicht die 
einzelnen Wörter als solche, die sich attrahieren, wie Paul 
sagt (Prinz. ® S. 96), sondern zuvörderst die Sachen und 
demzufolge erst die Wörter. Der Mensch aber setzt je nach 
seinem Erleben die Dinge und Vorgänge immer in neue Be- 
ziehungen, weil er sie wieder und wieder anders und in ge- 
wandeltem Lichte sieht, was dann ohne weiteres auch ein ver- 
ändertes Verhältnis der Wörter zueinander mit sich bringt. 
So erklärt sich auch, was bisher noch nicht erkannt wurde, 
überhaupt erst, weshalb die Sprache sich ändert. Doch damit greifen 
wir schon in unsern zweiten Hauptabschnitt hinüber, der in 
Kürze aufzeigen soll: 


II. Die Wirkung der Analogie. 


1. Analogiebildungen, so stellte sich uns heraus, sind 
Sprachvorgänge, bei denen auf Grund psycho- 
logischer Verknüpfungein Wort an ein anderes an- 
geglichen wird. Damit ist ausgesprochen, daß wir die Ein- 
teilung in grammatische (grammatikalische) und begriffliche Ana- 
logie, wie sie nach Wundts Vorgehen jetzt scheint üblich zu 
sein, ablehnen müssen. Begrifflicher Art, wenn man darunter 


454 Christian Rogge, 


solche versteht, bei denen die Sachvorstellung entscheidet, sind 
sämtliche Analogiebildungen; auch die stofflichen und formalen 
bei Paul; all diese Unterscheidungen haben den Mangel, daß 
sie nicht von der Sache selbst, dem wahren Wesen des Analogie- 
vorganges, hergenommen sind. 

Dahin dürfte es auch gehören, wenn man, wie Hirt?) und 
andere Gelehrte, zwischen einer Art festen Bestandes einer 
durch Überlieferung übernommenen Sprache und einer solchen, 
die durch Assoziationsbildungen in Fluß gesetzt wird, eine scharfe 
Grenzlinie zieht. Das Erlernen der Sprache beim Kinde ist 
nicht, wie man es sich leicht nach der leider üblichen Aneignung 
einer fremden Sprache in der Schule vorstellt, ein reines 
Wortlernen, sondern in viel höherem Maße ein Sachlernen. 
Und mit den Sachvorstellungen werden im allgemeinen auch 
die Assoziationen übermittelt, welche für die Schaffung wie für 
den Gebrauch eines Wortes bislang Geltung hatten, sodaß also 
ein wesentlicher Unterschied zwischen Überliefertem und Neu- 
gebildetem nicht besteht. Das wird nur bestätigt, wenn Kinder 
beim Erlernen der Sprache bald eigene Assoziationen ausführen, 
insbesondere, wie man sagt, starke Analogisten sind. Dies scheint 
rein formaler Art zu sein, ist es jedoch nicht, sondern findet» 
seine Erklärung immer erst aus dem Sachzusammenhange heraus; 
den das Kind beherrscht. Wenn ein kleines Mädchen sagt: »Wir 
lauften«?), so hält es sich ganz im Rahmen der Ausdrücke, die 
es für Bewegung aufgenommen: er rennte (rannte), hopste, hüpfte, 
tanzte usw.; die Bildungen laufe — lief, haue — hieb, stoße 
— stieß sind ihm noch nicht überliefert. »Karl hat mich ge- 
haut«, hört man in der Kinderstube, weil es für den Sachvor- 
gang hieß — >er hat geprügelt, Prügel gekriegt, geklopft usw.«; 
gehauen und geschlagen kommen für das Kind noch nicht vor. 
»Die Sonne hat gescheint«, sagt das Kind, weil es hörte: »es 
hat geblitzt, geleuchtet, geflimmert usf.« Wer, wie man oft lesen 
kann, dialektisches scheinte mit weinte in Verbindung bringt 
mißkennt den Sachzusammenhang der Analogiebildung. 

Eine sprachliche Neubildung wird, genau genommen, erst voll 
verstanden, sobald das Wort gefunden ist, an welches die An- 
gleichung erfolgte. Wenn Paul (Prinz. ® S. 97) Proportionen 
aufstellt wie diese: Tag : Tages : Tage = Arm : Armes : Arme 


1) Laut- u. Forml. ° S. 74. 
2) Lazarus, Leben der Seele II ? S. 175. 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 455 


= Fisch : Fisches : Fische, so setzt er psychologische Ver- 
knüpfungen voraus, die keine Wirklichkeit haben; anders wenn 
man reiht: Tages, Jahres, Monats usw.; Armes, Beines, Fußes; 
Fisches, Frosches, Krebses. Zu einer Gleichung animus: animi 
— senatus? (Paul S. 106) würde Varro, wenn er die mathe- 
matische Form der proportio verstanden hätte, gewiß ein sehr 
verdutztes Gesicht gezeigt haben. Den Sachzusammenhang für 
senati erkennen wir bei Plaut., Cas. 536. Sed eccum egreditur 
senati columen, praesidium popli: >sieh, da kommt die Säule des 
Senats, die Schutzmacht des Volkes heraus<. Senat und Volk 
als Gegensatz von Regierung und Regierten werden im Vor- 
stellen verbunden, darum wird senati nach populi gebildet. Aber 
ebenso oft verknüpfte das römische Denken senatüs, magistratüs, 
consulatüs, auch wohl tribunatüs, und so kommt es, daß, wie 
Quintil. 1, 6, 27 sagt, nicht zu entscheiden sei (incertum 
sit), ob es richtiger senatus oder senati heiße. Ob senatüs un- 
mittelbar mit magistratüs oder mit consulatüs zusammen gefühlt 
wurde, mag immerhin dahingestellt bleiben; hier können wir 
uns begnügen, wenn wir die Reihe festgestellt haben, zu der 
die Wortbildung gehört. Und das darf wohl bei dieser Gelegenheit 
gesagt werden: für unser Sprechen und Denken schließen 
sichdieWörternachReihenundStreckenzusammen, 
nicht nach Gruppen, wie man zu sagen pflegt. Nicht immer 
erfolgt in der Richtung, die mit einem Beispiel eingeschlagen 
wird, eine Fortsetzung in derselben Art; senati steht als Genitiv- 
bildung allein und zieht magistratus, consulatus doch nicht nach 
sich. Ebenso ist es mit tumulti zu tumultus !). Hier haben wir 
Angleichung an belli, insofern es den Kriegslärm, den Aufruhr 
bezeichnet; das erhellt aus Stellen wie Sall. Cat. 59, 5 quas (sc. 
cohortes veteranas) tumulti causa conscripserat. Aber dieses 
Ausbiegen aus der Regel bleibt nicht ganz allein: bei Enn. 
Trag. 204/5: ... quid hoc tumulti est? ... quid in castris 
strepiti est? wird mit strepiti ein zweiter Fall angereiht, auf 
Grund der Sinnähnlichkeit zu tumultus. Eine lange Reihe hin- 
gegen haben wir bei den Tätigkeitsbegriffen auf —tus, —sus; 
sie nehmen vermutlich ihren Ausgangspunkt bei den Bildungen 
auf —u, —um, die Supina heißen, wie man bei J. Wacker- 
nagel, Vorles. über Synt. 1920 S. 280 ablesen kann: iussu >zu 


1) Anders die Angleichung annis »der Alten« st. anus an matris, mulieris 
Ter. Haut. 286; 270 u. 281. 


456 Christian Rogge, 


befehlen« und >auf Befehl«; dann exercitus, passus, usus, metus 
usw. Scheint so eine Form wie senati vereinzelt, isoliert zu sein, 
wie man sagt, in Wirklichkeit steht es doch damit anders; denn 
senati ist ja verbunden mit populi, und als drittes könnte man 
vulgi dahin rechnen. Volle Isolierung gibt es für eine 
Wortform im Bestande einer Sprache überhaupt 
nicht. 

>Alle Analogiebildungen sachlich begründet«, 
sagten wir; dem könnte man diejenigen Fälle entgegenhalten, 
die, wie es wohl heißt, durch Systemzwang erfolgen, die para- 
digmatischen oder stofflichen nach Pauls Benennung. Auch hier 
entscheidet aber die Sachgrundlage..e Wenn im Ahd. aus gibis 
ein gibist wird, so haben wir an die gegensätzliche Unterscheidung 
du gibst — ihr gebt, gebet zu denken; so erbringt die 2. Pers. 
Plur. das —t auch für die 2. Sing., und ebenso schwand das 
auslautende t bei gebent »sie geben«, weil gebent zeitlich in 
Gegensatz zu si gäben trat. Nicht anders ist es, wenn wir 
heute sagen sie sangen für früheres sungen; der Zwang 
dazu wird deutlich, wenn es etwa hieß: >er sang, bald sangen 
alle«. 

Überhaupt darf man sich im Sprachleben das Paradigma 
nicht als das Ursprüngliche denken, wie es nach der Grammatik 
naheliegt, wenn da in bezug auf Kasus und Numerus von 
Defektiven gesprochen wird, oder wenn es überhaupt heißt, ein 
Wort werde abgewandelt (flektiert, gebeugt, durchdekliniert oder 
-konjugiert). In Wirklichkeit ist jede Kasusform ein selb- 
ständiges Wort: der Nominativ gibt die Benennung her, die 
»injoıs, wie Aristoteles erkannte, der Genitiv ist ursprünglich 
attributiv oder adnominal, Dat. und Akkus. sind adverbal; so 
gehört also jede Kasusform eines Wortes zu verschiedenen Wort- 
klassen. Lateinisch risui esse »ausgelacht werden« war gewiß 
früher vorhanden als risus »Gespött« (bei Horaz). Zu frugi, 
sine fruge, ad frugem gab es doch wohl nie einen Nominativ!). 
Wie der Wandel immer vom sinnverwandten Wort herkommt, 
zeigt sich, wenn st. artüs »Gliederce nach ossa »die Knochen« 
artua gebildet wird, dann aber auch ossua wieder umgekehrt 
nach dem Muster von artua; ja selbst ossubus scheint nach 


1) Das frux bei Ennius Anm. 319, 412 ist vermutlich als eine gewalt- 
same Augenblicksschöpfung des Dichters anzusehen, die nie allgemeinere 
Geltung hatte. 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 457 


artubus gewagt zu sein (Neue Forml. d. lat. Spr. Bd. 1 S. 378) 1). 
Wir dürfen daher nicht mit Neue (S. 371) die Bildung auf 
ibus bei den u-Stämmen als Abweichung von der Regel ansehen. 
Die Bildung —ubus war immer selten; aber wir müssen das 
—ibus zu verstehen suchen, z. B. passibus von passus »Schritt« 
zu pedibus, dem Fußmaß, stellen, fructibus zu frugibus, artibus 
von artus zu ossibus. Und wenn Cicero von portus »Hafen« 
neben portubus auch portibus bildete, so wird ihm fluminibus 
im Sinne gelegen haben, ebenso wie ihm, wenn er partus und 
fontes paarte, gewiß partibus nach fontibus auf die Zunge kam; 
eine Verwechslung mit partibus zu pars wird ja durch den Zu- 
sammenhang der Rede verhindert. Im Griechischen wurde der 
Genitiv auf ov bei den a-Stämmen kaum als eine Abweichung 
vom Paradigma empfunden. Curtius (Gr. $ S. 38) erklärt 
die Endung noch aus Zusammenziehung ’Aroeldöov (’Argelöao, 
Hirt (Formi. ? S. 341) als Herübernahme des ov von der 
zweiten Deklination. Ganz richtig, aber wie ist sie da zu denken ? 
Erklärlich wird uns reaviov zu vearias erst, wenn wir an Wechsel- 
formen wie vearioxov (veavioxos), ueıwpaxlov (ueiodxıov) Epnßov 
(čpnßos) denken; ix&rov (ixerns) nach évov (EEvos); und ’Aro&ıdov 
nach Meveildov, dem Atriden, wie Pıhoxtýrov nach Zloavriov 
(Joıdvuos, wie der Held nach seinem Vater heißt); Z/&ooov (II&oons) 
verstehen wir nach Mnödov (Mnjöos), daran anschließend Zxúðov 
CCævonc). Und so lief die Bildung von Fall zu Fall fort, bis die 
Regel da war, aber auch dann noch führt der Faden der Sinn- 
verwandtschaft von Beispiel zu Beispiel weiter. Für den 
rechten Grammatiker und Sprachforscher wird es zu einem wirk- 
lichen Verständnis des Sprachgeschehens darauf ankommen, sich 
möglichst vom Paradigma loszumachen und vielmehr seine 
Aufmerksamkeit auf den individuellen Einzelfall und 
seine psychologische Verflechtung zu richten. 


Nun zur Einteilung der Analogievorgänge! Wenn wir 
den Einzelfall aus seinem Zusammenhange mit andern Bildungen 
zu erklären suchten, so zeigte sich, daß Neubildungen entweder 
vereinzelt blieben oder kleinere und größere Nachfolge fanden, 
kurze oder lange Reihen hinter sich herzogen. Gleichgültig, ob 
das eine oder das andere eintrat: beide Male bildete die Neu- 


1) Vgl. Plaut., Men. 855: ut ego huius membra atque ossa atque 
artua comminuam für die Sachverknüpfung, die von Sommer, Lat. Laut- 
u. Form]. * S. 405 nicht beachtet ist. 


458 Christian Rogge, 


schöpfung ein Abweichen vom Sprachgebrauch, erbrachte einen 
neuen Typ, und was folgte, war Fortleitung oder Wahrung 
desselben, also formell genommen, nichts Neues. So würden 
wir scheiden in typenbildende undtypenwahrende oder 
ursprüngliche und abgeleitete Analogie, was der sonstt 
üblichen Bezeichnung primär und sekundär entsprechen würde. 
Wir sagen zu Häupten und zu Füßen, während es der Regel 
nach Häuptern oder Haupten heißen müßte; Häupten als 
Gegensatzbildung zu Füßen steht als Kasusbildung allein 
da. Wer in Berlin hört die Äster, wird es erklären nach 
Biester; denn man hört dort neben »Du Biest!« ebenso >Du 
Aasle Die Menscher nach die Weiber; das Mensch wie 
das Weib. Zu vergl. lat. genetrix — meretrix !), gegen genitor, 
conditor usw. Im 18. Jahrhundert kam das Simplex die Kebse 
für Kebsweib wieder auf, und nach den Kebsen wurde dann 
auch gesagt die Weibsen und später auch die Mannsen. 
Wenn H. Paul (D. Gr. Bd.1 S. 240, Bd.2 S.65) die nasalis 
sonans auf den Plan ruft, um Mannsen, Weibsen aus mhd. 
mannes name, wibes name zu erklären, so ist das der Gipfel in 
der abgewirtschafteten Lautmechanik. — Bei Homer finden 
sich zu nodswnov die Formen rooswnara, roosanacı, sie sind 
leicht deutbar nach öwuara, öuuaoı; bei Homer nur plur. ðu- 
para, dies mehrfach — Antlitz, Blick. Ebendaher wird auch ver- 
ständlich öveioara »Traumgesichter«; dy@voıs bei Späteren, weil 
hois (ha), nolkuoıs (nöleuos), auch wohl, weil Bildungen der 
Einzelbezeichnungen ’OAdunua, "Tod ua vıräav im Ohr mit anklangen. 

Das Gefühl der Regel tritt immer erst ein, wenn 
sichmehreregleichartige Bildungen zueinerReihe 
zusammenschließen; es ist also dem Wesen nach nichts 
Verschiedenes, ob dywvoıs St. dy@woı oder ob St. ’Arpeldao, veavia 
durchgehend die Genitivform auf — ov — eintritt. Der Gram- 
matiker fand in dem Heraustreten aus der Reihe das Unregel- 
mäßige, ovvexdooun nannte er’s, weil für ihn trotz des Ausweichens 
(&xdooun) die Form ein Mitläufer (vv = doouos) zu seinem Para- 
digma war. Mit gleichem Rechte wurde der abseits der Regel 
stehende Einzelfall als falsche Analogie bezeichnet. Hätten die 


1) Auf dieser Spur und weil sie an generis (genus), generalis dachten, 
kamen die späteren röm. Grammatiker, Pedanten ohne Sprachgefühl, zu der 
Form Genetivus, die man trotz Lachmann zu Lukrez meiden sollte. 
Für unser Sprachgefühl gehört Genitiv in die Reihe: ‘primitiv, sensitiv, 
positiv, faktitiv, und zu Nominativ. 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 459 


Junggrammatiker das Wesen der Assoziationsbildung vollkommen 
klar gemacht, so würde es ihnen nicht schwer geworden sein 
zu begründen, weshalb sie das »falsch« wegließen, und zu ver- 
stehen, weshalb darin doch etwas Richtiges liegt: die Unter- 
scheidung der typschaffenden und typwahrenden 
Analogie. Wer bei Frz.v. Kobell in den »Pälzischen Ge- 
schichten« zuerst die Mädcher st. die Mädchen liest, wird 
sich in seinem grammatischen Gefühl unangenehm berührt fühlen, 
falls er nicht sofort, wie es in der Pfalz wirklich geschah, die 
Form nach dem Muster von Töchter, Mütter versteht; findet er 
weiter Perdcher, Täubcher und dann auch Briefcher — 
was selbständig nach Bücher gebildet sein könnte, weiter 
Blümcher, Bouquektcher, Gläscher, so werden ihm 
die Bildungen als etwas ganz Natürliches erscheinen. — Ein 
ungewohntes Ohr wird anstoßen, wenn es in der Volkssprache 
vernimmt »meiner Fraus Bruder, meiner Mutters Bruder«, und 
doch ist es nur die Fortsetzung des hochdeutschen Mutters 
Bruder, Tantes Schirm, wo Vaters Bruder, Onkels 
Schirm die Vorbilder hergaben. Und von dorther kam dann das 
Genitiv-s bei den femininen Eigennamen wie Kunigundens, Mariens, 
Klaras usw. (Bei Paul, Gr. Bd. 2 S. 156 fehlt die Erklärung.) 

Immer ist bei einer neuen Wortform die Frage, ob sie, an 
ein geschaffenes Muster angelehnt, innerhalb einer Reihe er- 
scheint oder eine wirkliche Neuschöpfung ist und nach Um- 
ständen andere gleichartige Bildungen hervorruft und eine Reihe 
schafft. J. Grimm führt (Gr. Bd. 2 S. 179) als Adjektivbildungen 
auf: eichen, tannen, golden, silbern, eisern, ehern, 
kupfern..., in dem richtigen Gefühl, daß all diese Formen 
gleicher Art sind, und fährt dann fort: »Mit paragogischem 
Plural — er sind... geleitet: hölzern, dörnern, hörnern, 
brettern, gläsern; und diese —ern sowohl als die in 
silbern, kupfern usw. für —ern nehmend, hat man mißgegriffen 
und ein unorganisches beinern, steinern, thönern ... eingeführt.« 
Auch hier empfand Grimm richtig; er erkannte, daß es sich 
um eine abweichende Formation handelt, aber er bezeichnet sie 
als unorganisch, als einen Mißgriff; man versteht, er meint das- 
selbe, als wenn man sonst von falscher Analogie (ovvexdoou:n) 
spricht. In Wirklichkeit haben wir das stets zu beobachtende 
Walten der Analogie, aber mit bleiern (Blei), blechern (Blech), 
steinern, gläsern... setzt nach dem Vorbild von silbern, 
kupfern ein neuer Typus ein, der besagte: aus Blei, Blech, 


460 Christian Rogge, 


Stein, Glas, Holz gemacht wie dort aus Silber, Kupfer, mit 
andern Worten: wir haben nach W.Scherer eine Formüber- 
tragung von kupfern, silbern zu bleiern, blechern, 
steinern, hölzern hin’). Es ist derselbe Hergang, wenn 
nach dem Muster von »mich hungert< = >»mich verlangt nach 
Speise« entsteht »mich durstert, mich trinkert« = mich verlangt 
nach Trank« und dann die Reihe (J. Grimm, Gr. Bd. 2 S. 137) 
weiterläuft: mich schläfert, lächert, lüstert, pissert«, wozuausneuerer 
Zeit noch: »mich rauchert«e. Auch hier sieht Grimm wieder 
unorganische Bildungen; ebenso verkennt er die psychologische 
Verknüpfung, wenn er hierher auch zieht >mich jammert«, das 
wie das synonymische >mich dauert« keinen Trieb, kein Ver- 
langen nach etwas ausdrückt; auch »mir wässertderMund« 
ist anderer Art, wie die gleichwertige Sprechweise: mir läuft 
das Wasser im Munde zusammen« zeigt. — Lateinisch sempi- 
ternus findet sicher seine Erklärung, wenn man es der Reihe 
aeviternus (aeternus), hesternus, hodiernus, modernus nach aevi- 
ternus einordnet, das ihm, wie schon bei Lindsay-Nohl (D 
lat. Spr. S. 646) °?) steht, als Muster gedient hat; modernus, wie 
richtig Georges angibt, stammt von modo »eben«, unter An- 
gleichung an hesternus: >was von ebenerst« — »was von gestern 
herstammt«. — Ganz anderer Art ist, was die Grammatiker 
damit zusammenwerfen, das Suffix -erna in der Reihe laterna, 
lucerna, cisterna, caverna, taberna; lucerna nach laterna ge- 
bildet, wie wenn der Berliner Lichterne nach Laterne riskiert. 
Beim Pronomen, um auch dafür eine Probe zu bringen, führt 
im Ngr., indem, wie Goethe sagt, die Einheit den Gegensinn 
der Mehrheit hervorruft, der Weg von ué »mich< zu der Plur.- 
Bildung ucis für ucis hinüber, und von Zuäs, dem Akkus., aus 
entstand Zueis, der Nomin.; lat. enos Lases iuvate, Carm. Arv. 
nach ego; Gegensatz: Kasus der Wirkung gegenüber dem Kasus 
des Urhebers. So der neue Typus uud als nach yo ngr. 2ov 
entstanden war, ergaben sich die Bildungen 2o&, &oeis, &oäs wie 
von selbst 3). 


1) Inwiefern dann edelsteinern, gipsern, diaelektisch goldern etwas anderes 
besagen für das Bedeutungsgefühl als edelsteinen, gipsen, golden, habe ich 
Ztschr. f. Dtschkunde 1923 S. 46 ff. ausgeführt unter »Wortkunde u. Laut- 
symbolik«. 

2) L. ist aber seiner Sache nicht sicher (ebenda A.**), weil er mit der 
Analogie nicht umzugehen weiß. 

3) Vgl. A. Thumb, Handb. d. ngr. Volksspr. § 116 Anm. 2 u. $ 117 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 461 


Besonders wichtig ist es, bei Wortzusammensetzungen 
den Platz ihrer psychologischen Verknüpfung zu suchen. Homer, 
Dias 11, 114 heißt es vom Arzt, daß er sei molly ärıdkws 
div »so viel wert als viele Andere<; aber dävrd£ıuos? Wir 
haben eine Vermischung der beiden Wendungen: ävri noll@v 
(åàvôoðr) »gilt statt vieler (Männer)« und noAlaw (nolld) ws 
»viel wert«, wobei dv! und ddıos sich zu einer neuen Wort- 
einheit zusammengeschlossen haben. — In weiterer Ausführung 
habe ich so Philol. Wochenschr. 1921 S. 762 ff. gezeigt, daß quid 
id tuā röfert entstand aus quid id tuā rë (opus est?) ~ quid id 
tibi röfert? Dem Sprecher kommt, wie er eben die eine Wendung 
herausbringen will, die sachverwandte in den Sinn, und so springt 
er halbwegs auf die andere über und vermischt so beide. refert 
und dvra&ws sind wirkliche Neubildungen, hingegen ist mhd. 
sprichwort, auf das E.Schröder, Ztschr. f. d. A. u. d. Lit. 
1922 S. 43 erneut die Aufmerksamkeit hinlenkt, eine Nach- 
bildung; Schröder selbst möchte das Kompositum imperativisch 
erklären, hegt aber selbst einigen Zweifel zu seiner Sache. Man 
kann ihm zustimmen, wenn er die Herleitung von einem Subst. 
spriche abweist, aber man wird es aus der Reihe der mhd. 
Bildungen wie biwort, klagewort, scheltwort, wispelwort erklären 
müssen, und zwar der Bedeutung nach im engsten Zusammen- 
hang mit biwort, einem Wort, das bei bestimmter Gelegenheit 
bedeutungsvoll gesprochen »wurde«, dann geradezu so viel 
wie unser nhd. Sprüchwort; synonym zu mhd. bispel, das als 
lehrhafte Erzählung auch = ein sprichwort ist. So nun auch 
sprichwort ein Wort, das viele als den Ausdruck einer Erfahrungs- 
wahrheit im Munde haben (sprechent). So heißt es im Mhd. oft, 
wenn Lehren und Erfahrungen angeführt werden: man sprichet, 
spricht (m. seit); diu schrift, daz buoch spr.; ez sprichet (in der 
schrift) — »es heißt« Arm. Heinr. 91, und so wird sprichwort 
doch zu deuten sein als das Wort, welches man häufig spricht, 
auch anführt. Schröder meint, wolle man so erklären, so müßte 
es sprechwort heißen nach scheltwort; müßte? scheltwort selbst 
kommt m. E. gar nicht von schelten her, sondern von dem schon 
ahd. nachweisbaren Subst. schelte, ist aber mit Umdeutung aller- 
dings verbal verstanden, während sprichwort gleich anfangs 
verbal gebildet wurde zum Präs. »man spricht«. Ein anderes 


Anm. 2, wobei man leicht sehen wird, wie obige Erklärung psychologisch 
über Th.s richtige Aufstellungen hinausgeht. 


462 Christian Rogge, 


Wort wurde »sprichwort«, als man es im 16. Jahrhundert an 
Spruch anlehnte (Paul, Gr. Bd. 1 S. 204); die Schreibung 
Sprichwort mit i hat heute keinen Sinn. 

Die Gesamtwirkung der Analogie pflegt man wohl nach 
Schleicher in möglichster Beseitigung der Unregelmäßigkeiten 
zu sehen. Schleicher sieht in ihr ein Streben nach bequemer 
Uniformierung, nach Behandlung möglichst vieler Worte auf 
einerlei Art (D. dtsch. Spr. ® S. 61); Sweet (New engl. 
Gramm. Bd. 1 S. 187) betrachtet sie als the main factor in getting 
rid of irregularities, und H.Ziemer wollte daher für Angleichung 
— der gewöhnliche Name für Analogie — Ausgleichung gesagt 
wissen (Zeitschr. f. Gymnw. 1900 71, 86). Aber von einem Trieb 
zur Gleichmacherei kann kaum die Rede sein, wenn anders 
unsere Auffassung, daß der Analogie immer eine Sachangleichung 
neue Ideenassoziation zugrunde liegt, richtig ist; denn je mehr 
der sprachschaffende Mensch die Welt der Dinge durchdenkt 
und denkbar macht, umso größer muß auch die Zahl der An- 
gleichungen, sachlich wie sprachlich, sein. Deshalb sagt auch 
F.Brunot, der den großen Entwicklungsprozeß des Franzö- 
sischen vom Lateinischen her überschaut, gewiß mit Recht: 
Enfin l’analogie simplifie et embrouille à la fois. (Gramm. hist. 
de la langue fre.* 1899 S. 385) }). 


Und auch eine andere Ansicht bedarf wohl hier einer Be- 
richtigung: daß Angleichungen langsam und allmählich vor sich 
gehen. — Als Assoziationen sind sie Einfälle, Appergüs, wie 
Goethe sagen würde, und darum Kinder des Augenblicks. 
Man nehme z. B. in Kobells Pfälzer Gesch. ein Wort wie 
Parrer, das offenbar nach Paschtor umgeformt ist (S. 182); 
ebenso dort Peife, doch wohl nach Posaune, peifen nach 
piepen; Perdchernach Ponny;pälzisch nach bairisch, 
wo dann wohl auch in mitteldeutscher Weise p zwischen b und p 
gesprochen wird. Setzt sich so die Reihe fort, was ich nicht 
kontrollieren kann, so könnte man von einer Lautverschiebung 
pf zu p sprechen, wie J. Grimm eine solche von p zu f nach- 
weist, und doch wird man nicht bezweifeln, daß bei den an- 
geführten Beispielen der Lautwandel eintrat in dem Augenblick, 
wo der Gedanke an das sinnverwandte Wort mit p auftauchte; 
also Formübertragung von dorther. Ebenso Himbeere (hind- 


1) Dagegen spricht nicht, wenn die sogen. Flexion in den Sprachen 
mit der Zeit eingeschränkt und einförmiger gemacht wird. 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 463 


beere) nach Brombeere, empfangen aus entfangen nach 
umfangen; nennen (got. namnjan nach kennen usw. Man 
wird sich so künftig doch mehr noch, als bisher geschehen, ent- 
schließen müssen, der Analogieforschung auch beim Lautwandel 
Raum zu gewähren, bis man dann... ., doch das bleibt wohl 
vorläufig cura posterior. 

2. Die Erscheinungen des Sprachwandels, die uns bis hierher 
beschäftigten, decken sich etwa mit dem, was man herkömm- 
lich als Analogiebildungen ansieht. Es sind aber, wenn anders 
man einen Überblick über das gesamte Sprachgeschehen haben 
will, noch zwei andere Arten zu überdenken, was denn in aller 
Kürze geschehen soll; zunächst indem wir der Sprechan- 
gleichung, wie die bisher behandelte wird zu nennen sein, 
die Hörangleichung gegenüberstellen; man wolle vernehmen, 
wie! Der Sprachwandel, den wir kennen lernten, vollzieht sich, 
indem der Sprecher auf Grund einer sachlichen Assoziation 
auch die Namen der Dinge einander angleicht. Hier geht also 
die Neuschöpfung den Weg von der Sache, die der Sprecher 
leiblich oder geistig erschaut, zur Lautform der Neubildung 
hin. Die Sache steht dem Redenden in festen Umrissen vor 
Augen, und so stellt sich auch das Wort ein nach dem Satze, 
den der alte Kato für alles gute Sprechen prägte: Rem tene; 
verba sequentur; daher kommt es denn auch, daß der Hörer, 
der mit dem Sprecher in gleicher Sachlage ist, die Neuschöpfung 
ohne Widerstreben, ja als ob es seine eigene wäre, hinnimmt 
und danach sich ein Bild des vom Sprecher Gedachten macht, 
d. h. diesen auf das Gehörte hin versteht. Er geht aber, wie 
sich zeigt, als Aufnehmender und Verstehender den umgekehrten 
Weg wie der Sprechende, vom Lautklang zur vorgestellten Sache. 
Es läßt sich denken, daß bei diesem an sich erstaunlichen Werk 
des Verstehens leicht besondere Schwierigkeiten eintreten. Dieser 
Fall findet sich, wenn das Ohr ein ungewohntes, irgendwie 
fremdartig klingendes Wort aufzunehmen hat; der gemeine Mann 
würde demgegenüber sagen: »Ich weiß nicht, wo ich das hin- 
bringen soll.«e Es pflegt dann aber zu geschehen, was Goethe, 
auch hier mit scharfem Blick, über Hör-, Schreib- und Druck- 
fehler (Ausg. Hmp. Bd.29 S.256)!) sagt: »Niemand hört, als was 
er weiß; Niemand vernimmt, als was er empfinden, imaginieren 
und denken kann.«< Und die Folge ist, daß fremde, seltsam 
klingende Worte in bekannte, sinngebende Ausdrücke verwandelt 


1) In Kunst u. Altert. 1821 Bd. 2 S. 177 ff. 


464 Christian Rogge, 


werden. Damit haben wir das, was wir Hörangleichung 
nennen im Unterschiede von der Sprechangleichung. 

Man sieht: Goethe hat den Sprachvorgang, den 30 Jahre 
später Förstemann für die Sprachwissenschaft sozusagen erst 
entdeckte und Volksetymologienannte (Kuhns Ztschr. 1851 
Bd. 1 S. 1f.) schon beobachtet und — richtig gedeutet, 
während Förstemann ihn unzutreffend als ein Suchen nach 
der Etymologie auffaßte; während auch H. Paul (Prinz. ® 
S. 198 f.) und Wundt (D. Spr. Bd. 1 S. 479ff.), die der Sache 
näher auf den Grund gingen, auch ihrerseits das Wesen der 
Erscheinung nicht erkannten. Die Volksetymologie oder Hör- 
angleichung bildet also einen Akt der Sprachverständigung für 
den Fall, wo der Hörer bei einem fremdartigen Wort die fehlende 
psychologische Verknüpfung sucht, und sobald er sie gefunden, 
die entsprechende Wortangleichung vornimmt, die darin besteht, 
daß dem Wort ein gewohnter Lautklang verliehen wird. Man 
könnte den Vorgang daher auch Klangangleichung nennen; 
nur muß man festhalten, daß es, wie bei aller Verständigung, 
auch hier letzten Endes auf die Sachvorstellung ankommt, um 
die es sich handelt. Dies führt 50 Jahre nach Förstemanns 
Entdeckung in P.B. Beitr. 1901 Kjederquist überzeugend 
aus. Er bringt dafür z.B. die volkstümliche Umformung von 
lateinisch Stipendium in schwedisch stöpeng: dieses als Unter- 
stützungsgeld gedacht, understödja »unterstützen«, peng. 
pengar »Pfennig, Geld«. — Wer aus Rondehl ein Rundteil 
machte, hörte rund und Teil, plattdeutsch Dehl aus dem 
fremden Worte heraus. 

Es mag nicht in jedem Fall gelingen, die Sachvorstellung 
zu finden, die bei einer Hörangleichung gewirkt hat; immerhin 
wird man sagen müssen, daß englische Bildungen wie sparrow- 
gras »Sperlingsgras« und crowfish, wo der Krebs sogar zu den Fischen 
gebracht wird, das Wort handlicher für den Gebrauch gemacht 
haben; daß also für das fremd klingende Wort dasselbe erreicht 
wird, was beim gewohnten naturgegeben ist. Muß ja doch am 
menschlichen Sprechen nichts mehr in Verwunderung setzen, als 
daß für jede Vorstellung, die dem Sprecher auftaucht, gleich 
auch das Wort sich einstellt, ebenso sicher, als wenn ein ge- 
wandter Klavierspieler?!) im Anschlagen der Tasten eine Welt 


1) Besser noch läßt sich die Handhabung einer Schreibmaschine ver- 
gleichen, wie das z.B. S. Stricker, Studien über die Sprachvorstellungen, 
Wien 1880, tat. 





Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 465 


von Tönen schafft, ja, daß für den Menschen, soweit Dinge 
denkbar gemacht sind, Denken und Sprechen in Wirklichkeit 
zusammenfallen und daher die bekannte Stelle im Faust 1922: 

Zwar ist's mit der Gedankenfabrik 

Wie mit einem Webermeisterstück, 

Wo ein Tritt tausend Fäden regt, 

Die Schifflein herüber, hinüberschießen, 

Die Fäden ungesehen fließen, 

Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. 
ebenso wie vom Denken auch von der Sprache gilt. Es 
bleibt sogar zu fragen, ob und wieweit oft die Sprache ihrer- 
seits die Assoziation der Ideen befördert oder auch zuwege 
bringt. Jedenfalls ist die wunderbare Verflechtung der Wörter, 
die im Einzelfall die Ausdrucksbereitschaft hervorbringt und 
verwandte Wörter und Wendungen mitanklingen läßt, eine Folge 
der vielfachen Angleichung, die Worte und Wortstücke im Laufe 
der Zeit erfahren haben, wenn sie oft und gewohnheitsmäßig 
im Verein gebraucht wurden. Bei ungebräuchlichen und fremden 
Wörtern tritt da, um für sie dasselbe zu erreichen, die Hör- 
angleichung, vulgo Volksetymologie, ins Werk. Die alte Zeit, 
die natürlicher fühlte, hat uns im Deutschen so die Lehnwörter 
mit dem vollen heimischen Klange überliefert; sie schreckt selbst 
nicht vor Bildungen wie Armbrust aus arcubalista zurück, während 
die Neuzeit Umformungen wie Trittoar hochmütig belächelt. 
Doch der Raum nötigt hier abzubrechen; wir wenden uns daher 
noch der dritten Form der Analogiebildung zu, der Wort- 
angleichung, die herkömmlich Bedeutungswandel genannt 
wird, um davon aus gleichem Grunde hier nur in aller Kürze 
zu handeln. 

3. Angleichung als reiner Bedeutungswandel; 
Umdeutung. Wörter sind Zeichen für Dinge — verba rerum 
notae Cic. Top. 8, 35 — und können dieser ihrer Natur nach 
auch in einem andern Sinne verwandt werden, als sie vorher 
gedacht waren?!). So tritt dem Wortwandel, bei dem das Laut- 
zeichen auf Grund des Sinnwandels umgeformt wird, einreiner 


1) Man denke an die verschiedene Verwendung einer Fahne zum Winken 
oder ẹls Treusymbol, oder an den wechselnden Gebrauch der Buchstaben: gr. © 
im Lat. als Zeichen der Zahl 100, später zu C geworden; phön.-hebr. ;ı als 
Zeichen des Hauchlauts p im Griech. Hy == ë usw. — Vgl. Chr. Rogge, 
»Wandel der Wortbedeutung als Assoziation«, Ztschr. f. Dtschk. 1924 


S. 201—210. 


Archiv für Psychologie. LII. 30 


466 | Christian Rogge, 


Bedeutungswandel zur Seite; bei dem das Wort seine alte Laut- 
gestalt bewahrt und doch in Wirklichkeit ein anderes, neues 
wird. Man könnte demgemäß geformten undungeformten 
Bedeutungswandel unterscheiden oder formende und umnennende 
Analogie. Die Angleichung aber geht hier der Hauptsache nach 
in gleicher Weise vor sich, nämlich so, daß Sachvorgänge, die 
ursprünglich ungleich waren und als solche durch verschiedene 
Lautgebilde bezeichnet wurden, hinterher als gleich oder ähn- 
lich angesehen und in diesem Sinne — trotz des unverändert 
bleibenden Zeichens — umgenannt wurden. Ehedem wurde bei 
Dunkelwerden ein brennender Kienspan in den Spalt an der 
Wand gesteckt, um dem Zimmer Licht zu geben; hier war an- 
stecken ein bloßes Befestigen des Lichtkörpers, aber im Wechsel 
mit diesem Vorgang hieß es: »Licht anzünden, Licht machen, 
anmachen«, und so ergab sich dasselbe, was wir oft beobachtet: 
anstecken wurde mit anzünden gleichwertig, dies umsomehr, 
weil das wirkliche Anstecken des Spans außer Brauch kam und 
es auch von der Lampe, die auf dem Tische stand, nunmehr 
hieß: >das Licht wird angesteckt«; weiter »ein Feuer wird 
angesteckt«. »Holz, ja ein Dorf wird angesteckt«, sodaß der ur- 
sprüngliche Wortsinn ganz vergessen war. — Wer denkt heute 
noch daran, daß in der Wendung: >»sie hörten auf zu lärmen« 
aufhören mit hören zusammenhängt! Wir verstehen es einfach 
als Gegensatz zu anfangen, mit derselben Wirkung, wie wenn 
es lateinisch incipere und desinere heißt. Luther sagt noch: 
»sie hörten auf vom Lärmen« und läßt uns so erkennen, daß 
>sie hörten auf«, was im Wortsinn = »sie horchten auf« war, 
angeglichen wurde an die Wendung: sie ließen ab von Lärm 
und Tumult«. — Wird uns Sonntags auf die Frage: »Wo ist 
denn Vater?« geantwortet: »Er ist in der Kirche«, so nehmen 
wir das nicht im Sinne einer Ortsbezeichnung, sondern = »er 
ist im Gottesdienst, in der Messe«. Schon im Nibelungenliede 
wechselt als gleichbedeutend zer kirchen gän und zer messe gän. 

Wir müssen dem Leser hier überlassen, weitere Beispiele 
aufzusuchen. Nur einen Fall möchten wir noch besonders her- 
vorheben, weil hier die Sprachforschung wieder in die unmittel- 
bare Nachbarschaft der Philosophie kommt, von der sie einstens 
ausging: es handelt sich um die Begriffsbildung als einen Akt 
des Bedeutungswandels. »Plato wußte, wie Th. Ziehen, 
Physiol. Psychol. ® S. 143 sagt, die Allgemeinvorstellungen 
nicht aus den Individualvorstellungen abzuleiten und griff daher 


Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 467 


zu dem Auskunftsmittel der Rückerinnerung an ein direktes 
Schauen derselben vor der Geburt. Auch der Streit der Nomi- 
nalisten und Realisten brachte keine endgültige Lösung der 
Frage; ob sie von der physiologischen Psychologie gewonnen ist, 
welche die Vorstellung Rose als eine Art arithmetisches Mittel 
aller Rosen ansieht, die jemand zu Gesicht bekommen, bleibt 
wohl ebenfalls zu bezweifeln. Die Antwort erhalten wir von 
der Sprache her in dem Sinne der Nominalisten, die da sagten: 
universalia sunt nomina. Alle Wörter sind ursprünglich Indi- 
vidualnamen, wie wir noch heute leicht erkennen. Sagen wir: 
»die Rose in der Veranda muß Wasser haben«, so ist das Wort 
Rose Individualname, etwa im Unterschied von der Rose im 
Eßzimmer. Anders ist es, wenn wir sagen: »Die Rose ist doch 
schöner als die Lilie.« Hier wird Rose angeglichen an Lilie 
als Blume, als Bezeichnung für den beliebigen Vertreter einer 
ganzen Gattung. Das Wort als Zeichen ist gewissermaßen die 
Aufforderung an den Hörer, sich irgendeine Rose, die er gesehen, 
gleichgültig ob es eine rote, eine weiße oder gelbe gewesen, 
vorzustellen; weil Rose in diesem Falle als Blume überhaupt 
gedacht ist, so erhalten wir Rose als Gattungsname. Heißt es: 
»Wir wollen heute zur Stadt fahren<, wo Neustettin gemeint ist, 
also Stadt und Neustettin gleichwertig und im Wechsel gebraucht 
werden, so haben wir Stadt als Individualname; als Name der 
Gattung dagegen, wenn gesagt wird: »Die Stadt bietet mehr 
Abwechslung als das Dorf<; hier ist Stadt angeglichen an Dorf, 
und wir haben die Reihe Stadt, Dorf, Land (auf dem Lande 
— in der Stadt). Also: universalia sunt nomina. Die Sprache, 
die viele Gedankendinge benennt, denen ein wirkliches, schau- 
bares Dasein nicht zukommt, täuscht uns auch hier vor, daß es 
das in Wahrheit gebe, was wir Art oder Gattung nennen, während 
es tatsächlich nur Einzelwesen gibt?). 


Wir haben, wenn wir zurücksehen, eine zwiefache Analogie- 
bildung zu unterscheiden: | 


1. Sprechangleichung 2. Hörangleichung 
a) mit a) mit 


b) ohne b) ohne | Formwandel. 


| Formwandel 


1) Goethe, Sprüche in Prosa, H. Bd. 19 Nr. 910: »Das Allgemeine und 
Besondere fallen zusammen; das Bes. ist das Allg., unter verschiedenen 
Bedingungen erscheinend.« S. 899: »Was ist das Allgemeine? Der einzelne 
Fall. Was ist das Besondere? Millionen Füälle.« 

80* 


468 Ch.Rogge, Die Analogie im Sprachleben, was sie ist und wie sie wirkt. 


Unsere Ausführungen über die Analogie gehen hin auf das, 
was W.v. Humboldt in genialem Schauen aussprach: »Man 
kann es als einen festen Grundsatz annehmen, daß alles in einer 
Sprache auf Analogie beruht« (s. oben S. 444 Anm.). Gilt dieser 
Grundsatz, wie die Sprachwissenschaft nachzuweisen hat, so 
haben wir, worauf jede Sprachforschung bisher hindrängte, eine 
Gesamtauffassung!) der Sprache, aus der heraus sich alle Neu- 
und Umbildungen, auch Umnennungen bei den Lautzeichen ein- 
heitlich erklären lassen, gewinnen so eine Psychologie des sprach- 
schaffenden Menschen, des sprechenden wie des hörenden. 


1) Eine solche fehlt, wie man sich leicht nach der Gliederung seines 
Werkes überzeugen kann, bei Paul, Prinz. d. Sprachgesch., fehlt auch bei 
Wundt, d. Spr. Mit seiner Definition: >die Sprache ist Ausdrucksbewegung« 
läßt sich, da dies auch von der Sprache der Tiere gilt, nichts anfangen, 
wozu auch Wundt garnicht den Versuch unternimmt. 


(Eingegangen am 20. März 1925.) 


Literaturberichte. 


Friedrich Jodl, Lehrbuch der Psychologie. 2 Bde. 5.u. 6. Aufl. Im 
Verein mit W. Börner, H. Henning, V.Kraft, K.Roretz, W. Schmied- 
Kowarzik, H. Werner besorgt von Carl Siegel. Stuttgart und 
Berlin, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger, 1924. 


Es ist zu begrüßen, daß Lehrbücher mit etwas abweichenden Ein- 
teilungsgrundsätzen und mit Bevorzugung anderer Fachgebiete wieder dem 
Publikum zugänglich gemacht werden. Manches, was im Tagesgetriebe 
iu den Hintergrund gedrängt wurde, kommt wieder stärker ins Bewußtsein 
der Fachleute, und manche gute Anregung kann ihnen entnommen werden. 
Dies gilt auch für Jodls Psychologie, die nach längerer Pause nunmehr in 
neuer Auflage und in einer Form vorliegt, die durch den inzwischen an- 
gewachsenen Wissensstand ziemlich verändert wurde. Die alte Einteilung 
und Gruppierung des Stoffes aber ist erhalten und damit die eingehendere 
Behandlung des Verhältnisses von Leib und Seele und der Frage nach der 
Gliederung der Bewußtseinserscheinungen, anch steht den Gefühls- und 
Willenserscheinungen derselbe reichliche Raum zur Verfügung, dessen Aus- 
ınaß der Wichtigkeit dieser psychischen Phänomen im praktischen Leben 
durchaus entsprechen dürfte. Die Unterscheidung von drei Entwicklungs- 
stufen des Bewußtseins, die mit der Einteilung seiner Grundfunktionen ge- 
kreuzt wird, verteilt Verschiedenes in so vortrefflicher Weise, daß sich das 
Grundsätzliche dieser Einteilung, wenn auch vielleicht in einer etwas anderen 
Form, sowohl wie auch allerhand Einzelgruppierungen dauernd erhalten 
werden. Die ebenfalls von Jodl begonnene Zusammenstellung der Literatur 
am Schlusse der Paragraphen wurde weitgehend ausgebaut. Dabei ist 
namentlich die starke Berücksichtigung der ausländischen (vor allem der 
französischen) Literatur etwas, was allgemein begrüßt werden wird. Eine 
andere Seite dieses Werkes sei ohne wertende Begleitworte angeführt: das 
Fehlen von Abbildungen und damit die Beschränkung der Darstellungs- 
wittel auf die Sprache allein. Ebenso fehlen Formeln, und das Anführen 
von Zahlen ist nach Möglichkeit eingeschränkt. 

Einige kleine Ausstellungen am Schluß. In der sonst sehr gut ge- 
brachten Empfindungslehre wird die Existenz der Kälte- und Wärmepunkte 
nicht erwähnt (S. 271f.). Daß experimentelle Arbeiten vorliegen, die den 
Zusammenhang der höheren Tonlage mit »dem betonten Teil des Rhythmus, 
dem Iktus« (S.334) darlegen, scheint dem betreffenden Bearbeiter entgangen 
zu sein. Die Gestaltpsychologie kommt nicht anf ihre Rechnung. Im 
zweiten Band überwuchert die Erörterung vielfach die nur spärlich er- 
forschten Tatbestände. Dagegen hätten die Untersuchungen der Brüder 
Jaensch einen breiteren Raum verdient und auch denen Kretschmers 
über schizothyme und zyklothyme Veranlagung hätte ich gern einen Platz 
gegönnt. O. Sterzinger (Graz). 


470 Literaturberichte. 


E. Martinak, Meinong als Mensch und als Lehrer. Gedächtnisrede. 
Graz 1925. 


Die Schrift gibt ein abgerundetes Bild des Mannes, der durch fast 
40 Jahre die Pflege der Philosophie an der Grazer Universität übernommen 
und der dort das erste psychologische Laboratorium in Österreich gegründet 
hatte, das Laboratorium, das die Geburtsstätte der Gestaltpsychologie wurde, 
die heute einen Lehrstuhl nach dem andern erobert. Aber auch auf philo- 
sophischem Gebiete war Meinong bahnbrechend. Die von ihm begründete 
Gegenstandstheorie ist nahe verwandt mit der Phänomenologie, die in 
deutschen Landen gleichfalls eine Anhängerschaft nach der anderen findet. 
Die klare, ebenso objektive wie wohlwollende Darstellung des bedeutenden 
Mannes ist jedem, der personalistisch interessiert ist oder auch nur gerne 
Persönlichkeitsschilderungen liest, warm zu empfehlen. 

O. Sterzinger (Graz). 


G. E. Müller, Abriß der Psychologie. Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 
1924. 124 S. 3,80 M., geb. 4,60 M. 


G. E. Müller bietet eine kurze, sehr klar und geschickt geschriebene 
Einführung in seine Psychologie. Typisch für sie ist neben der Auswahl 
die Vorliebe für physiologische Deutungen. Diese Deutungen enthalten 
jedenfalls manchen wertvollen Wink. Daß die Auswahl und vielfach auch 
die Auffassung von neueren Gedanken der Psychologie nicht beeinflußt ist, 
braucht wohl kaum betont zu werden. Trotzdem bietet die Schrift einige 
Einsichten, die man in der rein experimentellen Richtung meist vergebens 
sucht. Eine davon ist mir besonders aufgefallen. Über das Denken sagt 
Müller: »Eine eingehende Erörterung der Verstandestätigkeit kann ohne 
eine nähere Untersuchung darüber, was unter Wahrheit und unter Wirk- 
lichkeit zu verstehen sei, und was das Wesen des Fürwahrhaltens und Er- 
kennens sei, nicht gegeben werden und bleibt daher im wesentlichen der 
Erkenntnistheorie überlassen« (S. 40). Eine Auseinandersetzung mit solch 
kurzen, ein gewaltiges Gebiet umspannenden Abrissen hier zu geben, ist 
unmöglich, weil sie einen größeren Raum als die Darstellung selbst er- 
forderte. Es muß genügen, sie zu charakterisieren. 

Aloys Müller (Bonn). 


Dr. Max Offner, Oberstudiendirektor in Günzburg, Das Gedächtnis. Die 
Ergebnisse der experimentellen Psychologie und ihre Anwendung 
in Unterricht und Erziehung. 4. vermehrte und teilweise um- 
gearbeitete Auflage. Berlin, Reuther u. Reichard, 1924. XXXI 
und 200 S. 4,50 M., geb. 6 M. 


Das Buch von O. hat sich praktisch als so brauchbar erwiesen, daß 
zur Empfehlung der 4. Auflage kaum noch ein Wort nötig ist. Die Er- 
gebnisse der Gedächtnisforschung der letzten 10 Jahre sind eingearbeitet. 
Das Theoretische ist insofern erweitert, als die psychologische Grund-‘ 
auffassung des Verfsssers mehr als bisher in den Deutungen zu Worte 
kommt. Der Versuch Offners, psychologisch zu erklären, berührt selbst 
da sympathisch, wo Begriffe wie Energie u.a. gebraucht werden, die, auf 


Literaturberichte. 471 


das Psychische angewandt, doch reichlich unbestimmt sind. Ich glaube, die 
Brauchbarkeit des Buches könnte dadurch noch erhöht werden, daß erstens 
mehr über Assoziationsreaktionen und Aussagexperimente mitgeteilt würde, 
und zweitens die in der phänomenologischen Literatur verstreuten Be- 
obachtungen und Gedanken verwertert würden. 

Aloys Müller (Bonn). 


A. Hesnard, La Relativit& de la Conscience de Soi. Paris, F. Alcan, 1924. 


A. Besnard, in Deutschland ebenso gut bekannt wie sein älterer 
Bruder O. Hesnard, der Verfasser des großen Werkes über Friedrich 
Theodor Vischer, zeigt sich in diesem Büchlein als ein selbständiger 
Denker, obwohl der Einfluß Bergsons und Freuds nicht zu verkennen 
ist. Für Hesnard stellt das bewußte seelische Leben lediglich einen 
kleinen Teil des ganzen seelischen Lebens dar. Die Bedeutung des Un- 
bewußten sieht er darin, daß es zwischen dem bewußten und dem nur 
organischen Leben vermittelt. Er nennt daher das Selbstbewußtsein relativ. 
Es ist relativ im Verhältnis zum gesamten Seelischen und relativ, weil es 
mit unzulänglichen Mitteln die Wirklichkeit zu erfassen und zu beherrschen 
versucht. Selbst von dem eigenen Körper weiß das Bewußtsein ja nur in 
einer sehr unbestimmten Weise, namentlich durch affektbetonte Erlebnisse, 
etwa des Wohlbefindens oder einer scheinbar unbegründeten Angst. Aber 
gerade diese zuletzt erwähnten Tatsachen zeigen, daß es in der Persönlich- 
keit eine Werkstatt von Bildern gibt, deren Entstehung unser Bewußtsein 
weder zu verfolgen noch zu ändern vermag. Was in unserem Innersten 
vorgeht, das erfahren wir im Grunde nur durch Symbole, deren wir uns 
bewußt werden. Wir bilden um, was aus der Tiefe in unser Bewußtsein 
aufsteigen will, und so entsteht sowohl in der normalen wie auch in der 
pathologischen Psychologie eine Reihe von Irrtümern, die aufzudecken ein 
Hauptgegenstand dieser Schrift ist. Max Dessoir (Berlin). 


Dr. Hugo Dingler, a.o. Prof. an der Universität München, Die Grund- 
lagen der Physik. Synthetische Prinzipien der mathematischen 
Naturphilosophie. 2. völlig neubearbeitete Auflage. Berlin und 
Leipzig, W. de Gruyter & Co., 1923. XIV und 336 Seiten. 8M. 


Unter >Grundlagen der Physik« versteht D. das Problem, die Wege 
zu bestimmen, auf den wir zu den Allgemeinaussagen (Gesetzen) der Physik 
gelangen können. Die »Wege« sind logisch zu verstehen. Es wird gefragt, 
woher die Allgemeinaussagen ihren Geltungsgrund nehmen. Das einzelne 
an der Lösung dieses Problems wird den Psychologen nicht interessieren. 
Ich gehe darum nur kurz auf den Grundgedanken ein. Die Allgemein- 
aussagen könngn nach D. nicht auf die Weise begründet werden, wie es 
bisher geschehen ist. Ihre Geltung kann überhaupt nicht bewiesen werden. 
Sie sind Schöpfungen unseres Willens, der sie zuläßt und dadurch herbei- 
führt. Nie zwingt uns etwas von außen zu einer Verallgemeinerung. Ähn- 
lich ist es mit dem Standpunkte, von dem aus die Allgemeinaussagen er- 
folgen: dem Standpunkte der Einzelaussagen (Aussagen über Einzeltat- 
sachen). Jede solcher Einzelaussagen kann bezweifelt werden. Es liegt in 


472 Literaturberichte. 


dem Gegebenen kein Zwang, sie als geltend anzusehen. Einzig mein Wille 
setzt sie als geltend fest. 

D. hat das Verdienst, einmal den empiristischen Gedanken konsequent 
zu Ende zu denken. Damit hat er erbarmungsloser als irgendein anderer 
die ganze Armseligkeit des Empirismus enthüllt. D. hat ganz recht: auf 
dem empirischen Standpunkte bleibt als einziger Rechtsgrund der Wille. 
Leider will aber sein Buch mehr sein als eine Selbstwiderlegung des 
Empirismus. Ich hoffe, daß es seinem unleugbaren Scharfsinn auf die Dauer 
auch gelingt, zu sehen, daß außer den Empfindungen noch viel mehr un- 
mittelbar gegeben ist. ; Aloys Müller (Bonn). 


Dr. Josef Schwertschlager, Die Sinneserkenntnis. München, Jos. Kösel 
u. Friedr. Pustet, 1924. IX und 300 Seiten. 6M. geb. 7,20 M. 


Das Buch verfolgt eine philosophische Tendenz mit psychologischen 
Mitteln. Der Verfasser bekennt sich zum kritischen Realismus, der also 
das Dasein von Realitäten außerhalb unseres Bewußtseins behanptet. Durch 
die Sinne erkennen wir diese Realitäten. Nun lehrt aber die Naturwissen- 
schaft die Subjektivität der Sinnesempfindungen. Dazwischen sieht Sch. 
einen Widerspruch. Er löst ihn durch zwei Gedanken. Zunächst gibt er 
die Subjektivität der Sinnesempfindungen uneingeschränkt zu. Die Sinnes- 
empfindung ist ihm »Bewußtheit des Reizzustandes eines Sinnesorganes« 
(S. 68). Sie hat darum zwar auch wahre Erkenntnisse zu vermitteln, aber 
ihr Hauptzweck ist biologischer Natur: das Zurechtfinden im sinnlichen 
Leben (S. 42 ff.). Dann macht er zwischen Empfindung und Wahrnehmung 
einen scharfen Schnitt. Die Wahrnehmung ist nicht nur ein Komplex von 
Empfindungen, sondern noch in anderer Weise von der Einzelempfindung 
verschieden. Die Empfindung reicht nicht über den subjektiven Bereich 
hinaus. Die Wahrnehmung aber erfaßt mit Hilfe der Empfindung die ob- 
jektiven Realitäten, indem die Seele sich in der Wahrnehmung der Wechsel- 
wirkung mit einem fremden Gegenstande bewußt wird (S. 112ff.). Die 
Wahrnehmung verläuft in verschiedenen Stufen. Die erste Stufe ist die 
Objektivierung, bei der lediglich eine der Seele fremde Realität gesetzt 
wird. Die zweite Stufe der Projizierung faßt die Gegenstände als räum- 
lich außerhalb des reizaufnehmenden Apparates gelegen. Die dritte Stufe 
der Individualisierung schreibt verschiedene Sinnesempfindungen einem 
einzigen Gegenstande zu. Endlich ergänzt die vierte Stufe der Komplettierung 
die bisherige Tätigkeit der Wahrnehmung, indem sie gewisse Eigentüm- 
lichkeiten hervorhebt, die in den Ergebnissen der anderen Tätigkeiten nur 
mitgegeben sind, so die Ausdehnung, die Beziehungen, die Zahlen. Irgend- 
ein Verstandesakt liegt nicht in der Wahrnehmung. 

Das ist der wesentliche Inhalt des ersten (wichtigsten) Hauptteiles. 
Als Ergänzung und Verifizierung dient der zweite Hauptteil, der in mehr 
populärer Form die einzelnen Sinne und ihre Tätigkeit behandelt. 

Den Überlegungen des Buches fehlt die gegenstandstheoretische Klar- 
heit über gewisse philosophische und psychologische Dinge. Ich stoße mich 
schon an dem Titel. In ihm liegt die alte scholastische Auffassung der 


Literaturberichte. 473 


Erkenntnis. Sie nimmt zwei wesentlich verschiedene Dinge — das Bewußt- 
haben und das Erfassen im Urteil — in einem Begriffe zusammen. Das ist 
durchaus unstatthaft; man darf vom Erkennen lediglich beim Urteil sprechen. 
Mit Wahrheit (8.45) hat die »reine Sinnlichkeit« aber auch gar nichts zu tun. 

Empfindung und Wahrnehmung haben stets notwendig einen Gegen- 
stand, der vom Subjekt verschieden ist. Das ist nicht bloß schlichte psycho- 
logische Tatsache, sondern liegt im Sinne dieser Tätigkeiten als eines Er- 
fassens. Zu Realismus oder Idealismus hat diese Feststellung schlechter- 
dings keine Beziehung. Ob die Farbe vom Subjekt abhängig oder unab- 
hängig ist, sie bleibt stets Gegenstand der Empfindung. Niemals wird 
übrigens in der Empfindung der »Reizzustand eines Sinnesorganes« bewußt, 
sondern es werden Farben, Töne usw. bewußt. 

Gewiß ist die Wahrnehmung mehr als ein Komplex von Empfindungen. 
Aber die Stufen der Wahrnehmung nach Sch. sind teils überflüssig, teils 
ungenau bestimmt, teils unvollständig. Was an der Objektivierung richtig 
ist, liegt im Sinne des Empfindens und Wahrnehmens. Wozu ist eine 
Projektion nötig? Es wird doch nichts im reizempfangenden Apparate 
wahrgenommen, und die Seele ist auch nichts Ränmliches. In der Indivi- 
dualisierung und Komplettierung stecken Komplexbildung, Gestaltwahr- 
nehmung u.a. Daß das Denken bei jeder Wahrnehmung beteiligt ist, kann 
die einfachste Analyse zeigen. Beziehungen und Zahlen können unmöglich 
durch die Sinne erfaßt werden. Denn Beziehungen und Zahlen sind weder 
rot noch blau, weder dick noch dünn, weder warm noch kalt. 

Wenn nun die Naturwissenschaft dazu übergeht, bei einigen Gegen- 
ständen der Empfindung zu zeigen, daß sie vom Subjekt abhängig sind, 
so ist das eine Abhängigkeit innerhalb der unmetaphysischen phänomeno- 
logischen Sphäre und ist kein Realismus oder Idealismus. Würde die 
Naturwissenschaft das Gegenteil beweisen, so müßte der metaphysische 
Idealist dieses Resultat annehmen und könnte doch Idealist bleiben. Den- 
noch hat jene Lehre der Naturwissenschaft Beziehungen zum Realismus. 
Wenn nämlich der metaphysische Realismus durch andersartige Überlegungen 
sichergestellt ist, dann kann der Bealist jene Abhängigkeit mitbenutzen, 
um sich den kritischen Realismus zu erringen. 

Die Einsicht in die angedeuteten Unterscheidungen ringt sich heute 
durch. Es ist zu bedauern, daß das Buch darin wieder Unklarheit zu stiften 
geeignet ist. 

Im einzelnen wäre zu den psychologischen und physiologischen Aus- 
führungen noch manches zu bemerken. Der Verfasser ist offenbar mit dem 
heutigen Stande der psychologischen Forschung nicht vertraut. Alles, was 
heute über Gestalten, Komplexe, Aufbau der Wahrnehmungswelt (besonders 
des Sehraumes), Relationserfassung, Bewegungsauffassung u. a. gearbeitet 
ist, besteht für ihn nicht. Nicht einmal das Literaturverzeichnis führt 
irgendeine dieser Arbeiten an, dafür aber manche gänzlich veraltete psycho- 
logische und philosophische Werke (E. L. Fischer, C. M. Gießler, 
L Glahn, Kleutgen, H. E. Plaßmann, Reddingius, Ritter, 
Schneid, Stöckl, Wolff). Aloys Müller (Bonn). 


474 Literaturberichte. 


Karl Reininger, Über soziale Verhaltungsweisen in der Vorpubertät. 
Heft 2 der Wiener Arbeiten zur pädagogischen Psychologie von 
Charl. Bühler und V. Fadrus. Wien, Burgring 9, Deutscher Ver- 
lag für Jugend und Volk. O. J. (1926). 112 Seiten. Preis 
brosch. B Schilling. 


Reininger hat eine Klasse durchschnittlich elfjähriger Knaben, 
auch unter Zuhilfenahme planmäßiger Eingriffe, studiert. Die Ergebnisse 
seiner Beobachtungen hat R. in der vorliegenden Schrift unter den ver- 
schiedensten Gesichtspunkten dargelegt, z. B. Führung, Massenbildung, 
Übereinander und Untereinander, Miteinander, Gegeneinander. Daß die 
Darbietung eben nur ein Bild jener Klasse gibt, weiß R., obwohl er glaubt 
behaupten zu dürfen, daß es sich um eine Gemeinschaft gehandelt habe, 
wie sie etwa im Durchschnitt vorkommt. In der Zusammenfassung 
sagt R., daß innerhalb einer Gemeinschaft wie der vorliegenden eine Ord- 
nung besteht, die jedem Mitglied mehr oder weniger bewußt ist, jedenfalls 
aber von ihm beachtet wird. Diese Ordnung bestimmt im wesentlichen 
die Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft, die Stellung und das Ver- 
halten der einzelnen Mitglieder zueinander, die Stellung des einzelnen zur 
Gemeinschaft, das Verhalten der Gemeinschaft zu einzelnen, die Stellung 
des Führers in der Gemeinschaft, schließlich die wechselseitigen Beziehungen 
von Führer und Geführten. ;Mit zurückhaltenden Andeutungen einer 
pädagogischen Auswertung schließt R. seine mit viel Liebe und Mühe durch- 
geführte Arbeit. — Ob Großdeutschland übrigens kein deutsches Wort für 
Vorpubertät aufzubieten vermag ? A. Römer (Leipzig). 


Eugen Rosenstock, Soziologie. I: Die Kräfte der Gemeinschaft. 
264 Seiten. Berlin-Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1925. 


Den philosophischen Soziologen wie Dunkmann, Vierkandt, 
Wiese, die >geisteswissenschaftlich« und überwiegend »streng theoretisch« 
eingestellt sind (S. 21), stehen nach R. die »allgemeinen« oder »inhaltlichen« 
oder »universalistischen«e Soziologen gegenüber. Während jene eine 
zwingende Anordnnng der zahllosen »Formen« durch ihre Gliederung in 
wenige »Kräfte« aufzuzeigen bestrebt sind, wollen diese die Gesetze des 
gegenwärtigen oder gar zukünftigen Geschehens ermitteln, ja sie wollen 
reformieren, vor allem die Gesellschaft. Jene sind also die Kräftesoziologen, 
diese die Gestaltungssoziologen (Auguste Comte, Franz Oppen- 
heimer u.a.). — Beide Gegensätze arbeiten aber einander in die Hände: 
»Beide verarbeiten zwischen ihrer Analyse und ihrer Synthese, zwischen 
‚Philosophie‘ und ‚Geschichtsphilosophie‘ die Gebiete bisheriger Wissenschaft, 
um hinter ihre Gestehungskosten zu dringen. Das Kostengesetz der 
Wirklichkeit, wieviel Kraft, was für Kräfte sie kostet, ist das gemeinsame 
Problem aller soziologischen Richtungen.« 

Am Beispiel Saint Simons wird nun gezeigt, was nach R. ein echter 
Soziologe ist, der dem Menschengeist eine neue Laufbahn, die »physiko- 
politische«, eröffnen wollte, nämlich durch das eigene Experiment (an 
Stelle der Bilder aus der Zoologie, >mit denen uns angebliche Soziologen 
plagen« S.39!). Das Experiment Saint Simons aber war sein eigenes 


Literaturberichte. 475 


Leben. So bleibt die Soziologie als Ganzes gebundeu an den Leidensstand 
der Menschheit. »Sie ist keine voraussetzungslose Wissenschaft. Sie weiß 
alles, was sie weiß, aus der ersten Tatsache des Leides« (S. 41). Das Be- 
weisverfahren der Soziologie wird nicht in dicken Büchern seine Triumphe 
feiern können (»die Soziologie ist mithin keine Geisteswissenschaft im 
Sinne aller Universitätsüberlieferung und erst recht keine Naturwissenschaft 
im modernen Sinne« S. 63), sondern nur in gelebter Lückenausfüllung; 
Wissenschaft aber ist sie insofern, als ihr Verlangen auf Vergegen- 
wärtigung des wirklichen Menschen und der menschlichen Wirklichkeit 
geht. Dabei sind vier verschiedene, »auf unvereinbaren Ebenen« liegende 
Ansätze nötig, die >das Koordinatensystem der Wirklichkeit für das sozio- 
logische Denken« bilden: 
Rückwärts | Innen 
Außen | Vorwärts 


Verf. strebt also nach der Darstellung in einem anschaulichen Schema, wie 
auf diesem Gebiet z.B. auch Hugo Lehmann, vgl. dieses Archiv Bd. 50 
8.391, 1925). Das geschichtliche Leben muß dabei nach R. doppelt zer- 
spalten werden, und der Raumbegriff gliedert sich noch einmal in Innen 
und Außen, der Zeitbegriff in Vergangenheit und Zukunft. Für R. ist also 
alle Soziologie nur als mehrstimmige Erkenntnis möglich (S. 58, 246); 
und das Thema der Soziologie ist die Wirklichkeit nach der Definition 
auf S.60: »Wirklich ist nur, was in mehr als einem Raum und in mehr 
als einer Zeit bestimmt wird«. Die Soziologie soll versuchen, »die Noten- 
sohrift zur Melodie des sozialen Lebens zu erfinden« (S. 61). 
A. Römer (Leipzig). 


J. Sadger, Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. 6. Heft der Schriften 
zur angewandten Seelenkunde (Freud). Leipzig und Wien, Franz 
Deuticke. 124 Seiten. 


In zweiter Auflage liegt Sadgers Buch vor, erweitert durch einen 
Nachtrag. Die Theorie der Psychanalytiker, daß die erste Liebe des kleinen 
Mädchens dem Vater, die frühesten infantilen Begierden eines jeden Knaben 
der eigenen Mutter gehören (S. 7), bildet die Grundlage der Untersuchung: 
Sophie Löwenthal fand Befriedigung ihrer Wünsche, soweit sie nicht 
als verpönt verdrängt wurden, durch den Vater, Lenau durch die Mutter, 
die ihn sichtlich vor allen Geschwistern bevorzugte. Aus den kindlichen 
Idealsetzungen, die infolge solcher Kindesliebe bei beiden eintraten (Vater- 
Mutter), erklärt Sad ger das Liebesleben zwischen beiden. Bedeutsam ist 
die Jenseitshoffnung der zwei Liebenden, die ihnen Erfüllung der Sehnsucht 
bringt; etwa ähnlich der Zinzendorfschen Religiosität liegt hier eine indi- 
viduell gefärbte Anschauung vor, die von normalen Jenseitshoffnungen ab- 
weicht. — Mit der Sexualsymbolik (z.B. S. 100: Taschenuhr, Vogel- 
Schießen usw.) konnte ich mich bis heute nicht befreunden. 

A. Römer (Leipzig). 


Oskar Dinglinger, Arbeit-Glaube—Liebe. Das Glaubensbekenntnis 
eines deutschen Christen. 171 Seiten. 4°. Berlin, E. S. Mittler & 
Sohn, 1925. Ganzleinen 10 M. 


476 Literaturberichte. 


Von der Dinglingerschen Schrift, deren Grundgedanken ans der 
Titelformulierung leicht zu entnehmen sind, interessieren an dieser Stelle 
besonders die Ausführungen über die Grundlagen des Glaubens. D.s Glaubens- 
bekenntnis fußt auf den neuesten Ergebnissen der Wissenschaft; in An- 
lehnung an die Welt der Energien (S. 9) nimmt Verf. die Seelenenergie 
als Trägerin des Lebens an. Diese Seelenenergie wird nun gefunden: in 
der unbewußten Tätigkeit des Gehirnverletzten, des Hypnotisierten (nicht: 
Unterbewußtsein, das ja ans Gehirn gebunden ist S.21, 48), im »subjek- 
tiven Ego« Thomson Jay Hudsons, der auf D. stark gewirkt hat. 
Auch wird sie als Träger der ererbten Eigenschaften, der unbewußten 
Empfindungen, Bewegungen und Selbstleistungen, des Instinkts, der Intuition 
und des Gefühls angenommen. Der Glaube, der auf Selbstsuggestion 
— vgl. Wilh. Wirth, Archiv Bd. 43 S.109£.! — oder Suggestion durch 
andere beruht (S.27), hat allein keinen Wert, wenn nicht der Wille hinzu- 
kommt, auf Grund des Glaubens zu handeln. Als Träger der Willens- und 
Glaubensrichtung ergibt die Seelenenergie das Wesen des Menschen; und 
die höchste Tat des vernunftbegabten Geistes ist der Glaube an das 
ewige Leben, der unter Anlehnung an gewisse Vorgänge in der Hypnose 
von D. als Vorbedingung für ein Weiterleben nachdrücklich 
hingestellt wird (S. 50). 

Das Buch, das nicht bloß ein glänzendes Literaturverzeichnis, sondern 
tatsächlich innigste Fühlung mit der neuesten Literatur hat, darf im 
ganzen wie in einzelnen Partien (z.B. Gehirn und Seele S.15, 46; Mensch 
und Maschine S.32; unbewußt und unterbewußt S.15, 21, 47; die Er- 
weiterung der Temperamente über Galenus hinaus zur Zwölfzahl S.38) als 
fruchtbar bezeichnet werden; zugleich bietet es u.a. ein gedrängtes 
Kompendium der Psychologie. Freilich ist erforderlich, daß der Leser ge- 
wissen D.schen Eigenheiten gegenüber zurückhaltend bleibt; ich nenne 
hier als Beispiel das Schematisieren. Zu D.s Sympathisieren mit den 
Kotikschen Versuchen verweise ich auf Dessoirs Bedenken (Vom Jen- 
seits ... 1920 4/5 Aufl. S.118). A. Römer (Leipzig). 


Wilhelm Wundt, Grundriß der Psychologie. 15. Aufl. Leipzig, 
A. Kröner. 


M. Wundt hat das Werk seines Vaters unverändert neu heraus- 
gegeben, hat aber für engste Fühlung mit der Gegenwart insofern gesorgt, 
als er eine ausführliche Ergänzung der Literatur angefügt hat. Diese 
in einem Nachtrag zusammengefaßten, aber auf die einzelnen Paragraphen 
bezogenen Literaturangaben sind von W. Wirth dargeboten. 

A. Römer (Leipzig). 


A- Peiser, Untersuchungen zur Psychologie der Blinden. In Unter- 
suchungen zur Psychologie, Philosophie und Pädagogik, heraus- 
gegeben von Narziß Ach, Bd.4 Heft 1/2 S. 77- 111. Göttingen 
1924. 

Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der Blinden- 
psychologie wendet sich die (1922 abgeschlossene) Arbeit ihrem Thema zu: 

»Wie verhält sich der Blinde dort, wo dem Sehenden sein Distanzorgan, 


Literaturberichte. 477 


das Auge, als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zieles dient?« Dieses 
Problem soll im experimentellen Verfahren unter Vergleichung von Blinden 
und Sehenden gelöst werden, die Experimente sollen höhere, zusammen- 
gesetztere Reaktionsweisen betreffen. Sie gliedern sich in zwei Reihen, in 
»Gewichtsversuche< nach der Konstanzmethode und in Versuche nach der 
Achschen Suchmethode. 

1. Die Beurteilung vonGewichtsunterschieden bei Kasten 
von gleicher Größe. Zwei sehende und drei blinde Versuchspersonen 
wurden verglichen; die blinden Vpn. zeigten nicht die generelle Urteils- 
tendenz, hatten eine größere Unterschiedsempfindlichkeit, aber geringere 
Übungsfähigkeit hinsichtlich derselben und neigten stark dazu, die Auf- 
merksamkeit besonders auf das zuerst zu hebende Gewicht zu richten, wo- 
durch bei der zweiten Zeitlage der »absolute Eindruck« entscheidenden 
Einfluß auf das Urteil gewinnt. 

2. Versuche mit zwei andern Blinden ergaben, daß dieCharpentiersche 
Täuschung (die blinden Vpn. mußten den kleinen und den großen Kasten 
vor dem Versuch betasten) auch bei Blinden statthat, die Täuschung schien 
beharrlicher zu sein als bei Sehenden. 

8. Versuche mit der abgeänderten Achschen Suchmethode (Über 
die Suachmethode vgl. N. Ach, Über die Begrifisbildung, Bamberg 1921). 
Die Versuchskörper unterschieden sich durch Gestalt, Dimension, Farbe (für 
halbblinde Vpn.), Rauhigkeit der Unterfläche (Sandpapier usw.) und die mit 
Brailleschrift geschriebenen sinnlosen Aufschriften. Es stellte sich in den 
verwickelten und mehrfach abgeänderten Versuchen heraus, daß die Blinden 
im Vergleich za den Halbblinden (und Sehenden) »weniger mit dem der 
sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Gegenstand als mit seinem Vorstellungs- 
hild« arbeiteten, mehr als jene >»intellektuelle Kriterien« bei Lösung der 
Suchanfgaben usw. anwandten und weniger leicht auf die >Anschauung« 
rekurrierten. Diese Erscheinung wird als Kompensation verstanden. 

Die Arbeit bietet einen zweifellos sehr wertvollen Beitrag zur Psycho- 
logie des Blinden. A. Busemanz (Einbeck). 


M. Sareyko, Apperzeption und sukzessive Attention als Grundbegriffe der 
Arbeitsschul-Didaktik. (Eine psychologisch-pädagogische Unter- 
suchung an Hand der Suchmethode) In Untersuchungen zur 
Psychologie, Philosophie und Pädagogik, herausgegeben von N. Ach, 
Bd. 4 S. 155—208. Göttingen 1925. 


Der modernen Pädagogik eine psychologische Theorie zu geben, ist 
schwierig: es fehlt beiden in Betracht kommenden Wissenschaften zurzeit 
noch das feste Begriffsgerüst, von dem aus Gedankenbrücken zu schlagen 
wären. Wo doch der Versuch solcher Verknüpfung gemacht wird, ist er 
um so mehr zu begrüßen und mit um so mehr — Vorsicht aufzunehmen. 
Sareyko sucht der genannten Schwierigkeit dadurch auszuweichen, daß 
er einerseits das didaktische Prinzip der Arbeitsschule (Selbsttätigkeit) von 
Gaudig, Kerschensteiner usw. als gegeben übernimmt, anderseits 
eine bestimmte Theorie des Seelischen zugrunde legt, nämlich die Willens- 
und Denktheorie von Narciß Ach. Damit vereinfacht sich seine Aufgabe 
auf die Frage: läßt sich die »Arbeitsschule« durch die Achsche Theorie 


478 Literaturberichte. 


der Apperzeption rechtfertigen? Und wenn ja, welche Folgerungen, Korrek- 
turen der Unterrichtsmethode usw. ergeben sich? 

Die im 1. Teil der Untersuchung beschriebenen Experimente mit 7-, 8- 
und 9jährigen Volksschülern nach der Suchmethode (N. Ach, Über die Be- 
griffsbildung, Bamberg 1921) sollen die Vermutung prüfen, ob >durch die 
sukzessive Attention der apperzeptive Prozeß eingeleitet und weitergeführt 
wird, d.h. stets in dem Sinne fortschreitet, dessen Verwirklichung durch 
die antizipierte Zielvorstellung verlangt wird«. Diese Frage, die übrigens 
durch die Versuche bejaht wird, hat didaktische Bedeutung: Unterricht 
durch Selbsttätigkeit setzt voraus, daß die Aufmerksamkeit der Schüler 
von selbst (eben durch den ausgelösten Willensprozeß) auf das Wesentliche 
gelenkt wird. Die in schwer lesbarer Form (besonders stört ein Übermaß 
von Abkürzungen!) mitgeteilten Versuche schließen sich auch in den Er- 
gebnissen an Achs Arbeit über die Begriffsbildung an und führen diese 
weiter. 

Der 2. (pädagogische) Teil der Untersuchung unterzieht die Herbart- 
Zillersche Auffassung von den psychologischen Grundbegriffen der Didaktik 
einer einlenchtenden Kritik vom Standpunkte der Achschen Willens- und 
Denktheorie aus, ebenso die Zillerschen Formalstufen des Unterrichts. 
Darauf wird von demselben Standpunkte aus eine psychologische Theorie 
der »Unterrichtsmethode und der Lehrformen der Arbeitsschnle« versucht, 
die unter der Annahme der gegebenen Voraussetzungen als wohlgelungen 
bezeichnet werden kann. Die Berufung auf Autoritäten des pädagogischen 
Lagers hätte sich Sareyko in diesem Zusammenhange wohl sparen können; 
aus einer geschlossenen psychologischen Theorie und aus einem klaren 
Bildungsbegriff müßte sich eine didaktische Theorie auch ohne Seitenblicke 
ableiten lassen. Fehlt doch jenen Autoritäten eben das, was der Psychologe 
aus Eigenem heranbringt: die psychologische Fundamentierung der Begriffe. 

Im ganzen darf die Abhandlung als ein wertvoller Beitrag zu einer 
neuen pädagogischen Psychologie bezeichnet werden. 

A. Busemann (Einbeck). 


G. Bacher, Die Achsche Suchmethode in ihrer Verwendung zur Intelligenz- 
prüfung. In Untersuchungen zur Psychologie, Philosophie und 
Pädagogik, herausgegeben von N. Ach, Bd.4 S.209—380. Göttingen 
1925. 


Die praktische Verwendung der Achschen Suchmethode für die Aus- 
lese der Unternormalen wird in der Weise erprobt, daß 14 normale Volks- 
schulkinder im Alter von 7—11 Jahren und 11 etwa gleichaltrige Hilfs- 
schulkinder hinsichtlich ihrer Leistungen in der Suchmethode verglichen 
werden. Die Versuche ergeben eine Korrelation von 0,84 für Altersordnung 
und Leistungen im »Suchen«, nur 0,58 für Altersordnung und Leistungen 
im »Begründen« (bezüglich normaler Kinder); das »Suchen« wird als Leistung 
der praktischen, das »Begründen« als solche der theoretischen Intelligenz 
gewertet. Mit neun Jahren scheint die praktische Intelligenz in diesem 
Sinne besonders schnell zu wachsen, was von der theoretischen nicht gilt. 
(Die geringe Zahl der Vpn. läßt dies »Ergebnis« vorläufig sehr unsicher 
erscheinen.) Auch die Begrifisbildung soll in diesem Alter gute Fortschritte 


Literaturberichte. 479 


machen. — Die Hilfsschulkinder ähnelten in ihrem Verhalten in manchen 
Punkten den 7—8jährigen normalen Kindern, zeigten in anderen (Leistungs- 
konstanz geringer usw.) wesentliche Unterschiede, so daß die Debilität nicht 
als Rückstand in der normalen Entwicklung angesehen werden darf. 

Der Versuch veranschaulicht die Verwendbarkeit der Suchmethode für 
die Zwecke der Analyse des kindlichen bezw. abnormen Denkens und ihre 
Überlegenheit über einfachere Methoden der Intelligenzprüfung, was die 
Unabhängigkeit vom Wissen der Vp. anbetrifft. 

A. Busemann (Einbeck). 


H. Kirek, Über die Bedeutung der sensoriellen Veranlagung für die 
Bildung von Objektvorstellungen, insbesondere auch bei Eidetikern. 
In: Untersuchungen zur Psychologie, Philosophie und Pädagogik, 
herausgegeben von N. Ach, Bd.5 S. 1—86. Göttingen 1925. 


Die Untersuchung soll feststellen, in welcher Weise der Prozeß der 
Begriffsbildung durch den Gedächtnistypus beeinflußt wird. 

1. Vergleichende Versuche mit visuell und akustisch veranlagten Er- 
wachsenen. Der Vorstellungstyp wurde nach dem von G. E. Müller und 
Pilzecker eingeführten Verfahren der Analyse von Teiltreffern und falschen 
Fällen in der Trefferprüfung ermittelt. Der Prozeß der Begriffsbildung 
wurde nach der erweiterten Suchmethode Achs untersucht. Es ergab sich 
in den ersten Versuchen, daß die Visuellen nur schwer von den optischen 
Merkmalen der Versuchskörper absehen und unter Abstraktion von solchen Merk- 
malen Objektvorstellungen bilden (>sensoriell -determinierende Hemmung«); 
ein Urteil im umgekehrten Falle (Zusammenfassung optisch verwandter Ver- 
suchskörper) war nicht nachzuweisen, so daß die Visuellen im Vergleich zu 
den Akustikern im ganzen schlecht abschnitten. Eine neue Versuchsreihe 
verleiht den Versuchskörpern auch akustische Merkmale (Trommel- bezw. 
Gongschlag). Diese Versuche bestätigten das Gesagte und ergaben außer- 
dem eine Förderung der Begriffsbildung, wenn der sensorielle Typus dem 
Empfindungsgebiet der positiv zu abstrahierenden Merkmale entspricht. 
Ganz allgemein ließ sich die Regel aufstellen: Die positive (negative) Ab- 
straktion geht um so schneller vor sich, je größer (je geringer) der Ein- 
dringlichkeitsgrad der zu abstrahierenden Merkmale für die betreffende 
Person ist. — Jedoch schienen die visuellen Vpn. mehr Schwierigkeit zu 
haben, von optischen Merkmalen abzusehen, als die akustischen Vpn. im 
Falle akustischer Merkmale (»visuelle Beobachtungstendenze). 

2. Versuche mit nicht-eidetischen (wie wurde das festgestellt?) Kindern 
mit vereinfachter Methode ergaben, daß sich die »sensorielle Veranlagung 
bei Kindern stärker auswirkt als bei Erwachsenen«. Mit 9—10 Jahren 
scheint die Farbe ihre Vorrangstellung vor der Form zu verlieren. Schon 
Achtjährige bildeten »Objektvorstellangen« im Sinne der Sachmethode (vgl. 
G. Bacher!). 

3. Tattonierende Versuche mit eidetischen Jugendlichen. Die Eidetiker 
zeigten sich in der Suchmethode >unselbständig, labil und kritiklos. Häufig 
verzögerte sich die Bildung der Objektvorstellung beträchtlich«. »Die 
untersuchten Eidetiker waren daher auch zum größten Teile schlechte 
Denker«. 


480 Literaturberichte. 


4. Versuche mit eidetischen Volksschul- und Hilfsschulkindern mit einer 
Methode, deren eine Konstellation die Erzeugung optischer Anschauungs- 
bilder unterstützte, deren andere sie hemmte. Beiläufig wird erwähnt, >daß 
die Zahl der Eidetiker in Hilfsschulen prozentual bedeutend größer« als in 
Normalschulen gefunden wurde. Die Kidetiker erwiesen sich in der die 
Anschauungsbilder begünstigenden Konstellation anderen Kindern beim 
Lösen der Suchaufgaben gewachsen, in der anderen Konstellation dagegen 
und in der Bildung von Objektvorstellungen unterlegen. Dieser Leistungs- 
unterschied war besonders frappant beim Vergleich eidetischer und nicht- 
eidetischer Hilfsschüler. Der Verf. kommt zu dem Schluß, daß die »An- 
schauungsbilder« das abstrakte Denken erschweren, »in extremen Fällen 
geradezu unmöglich« machen. 

Bezüglich weiterer Einzelheiten sei auf die sehr beachtenswerte Unter- 
suchung verwiesen. A. Busemann (Einbeck). 


H. Düker, Über das Gesetz der speziellen Determination. Ein experi- 
menteller Beitrag zur Lehre vom Willen. In Untersuchungen zur 
Psychologie, Philosophie und Pädagogik, herausgegeben von N. Ach, 
Bd. 5 S. 97—174. Göttingen 1925. 


Das von N. Ach (Willensakt und Temperament, Leipzig, 1910) auf- 
gestellte Gesetz: >Je spezieller eine Determination ist, desto rascher und 
sicherer wird die Verwirklichung erreicht«, das von G. E. Müller, 
O. Selz und anderen abgelehnt bezw. angefochten wurde, wird in eleganter 
Versuchsmethodik als gültig erwiesen. Für die Beweisführung ist ent- 
scheidend, daß eine spezielle Determination als nur da vorliegend erachtet 
wird, wo ein und dieselbe Tätigkeitsart auf verschieden eng umschriebene 
Ziele gerichtet ist, so daß die miteinander zu vergleichenden Tätigkeiten 
in einer Ordnung zueinander stehen, welche genau einem begrifflichen 
Ordnungssystem entspricht. (Beispiel: In einer gegebenen Silbe a) einen 
Laut durch einen anderen ersetzen! b) einen Konsonanten durch einen 
anderen Konsonanten! c) den anlautenden Konsonanten durch einen anderen 
Konsonanten! usw.) A. Busemann (Einbeck). 


Vor kurzem erschien: 


Fichtes sämtliche Werke 


Herausgegeben von J. H. Fichte 
8 Bände 


Nachgelassene Schriften 
Herausgegeben von J. H. Fichte 


3 Bände 


Der Preis der 11 Bände in Ganzleinen gebunden G.M. 150.— 
| Die Ausgabe wird nur vollständig abgegeben |) 


Unter den Vertretern des deutschen Idealismus, den Folgern Immanuel 
Kants, steht Johann Gottlieb Fichte an der ersten Stelle. Sein Denken 
hat für unsere Zeit erneut hohe Bedeutung gewonnen: durch die 
Wissenschaftslehre wird er zum Vorgänger der subjektivistischen 
Richtungen der heutigen Philosophie; die Sittenlehre gilt jetzt noch als 
Wegweiser einer Ethik, die von dem Postulat einer übersinnlichen 
Weltordnung ausgeht; die Romantik fußt auf Fichte; seine Natur- und 
Geschichtsphilosophie leuchtet Schelling und Hegel vor. Zumal durch 
die Pädagogik und ihre hohe praktische Auswertung in den „Reden 
an die deutsche Nation" wirkt er aufs stärkste ins Leben der Gegen- 
wart hinein und gewinnt immer mehr die Stelle eines Führers und 
Lehrers des deutschen Volkes. 


Bisher ist nur eine einzige Ausgabe der Werke Fichtes vorhanden, 
die von seinem Sohne in 11 Bänden veranstaltete (Berlin 1845—1846). 
Allein hier findet man die Möglichkeit eines Gesamtüberblicks seines. 
Schaffens, um so mehr, da eine Anzahl der Schriften in den Einzel- 
drucken sehr selten geworden sind. Aber auch diese einzige Ausgabe 
zählt jetzt zu den Seltenheiten. 


Deshalb haben wir uns entschlossen, von dieser Ausgabe in einem 
vorzüglichen photographischen Verfahren einen vollständigen, der 
Vorlage buchstäblich gleichenden Neudruck herzustellen, der jetzt fertig 
vorliegt. Er wird in vielen öffentlichen und privaten Bibliotheken 
eine empfindliche Lücke ausfüllen und der Beschäftigung mit dem 
„deutschesten‘ Denker verstärkte Anregung gewähren. 


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