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ARCHIV
FÜR
FRAUENKUNDE
UND EUGENETIK/
SEXUALBIOLOGIE UND
KONSTITUTIONSFORSCHUNG
UNTER STÄNDIGER MITARBEIT VON
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Anton, Halle; Prof. Dr. Baisch, Stuttgart; Prof. Dr. Bärsony,
Budapest; Dr. Marie Bernays, Mannheim; Dr. Agnes Bluhm, Lichterfelde ; Prof.
Dr. Brandt, Kristiania; Prof. Dr. Broman, Lund; Prof. Dr. Bucura, Wien; Prof. Dr.
Devoto, Mailand; Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. Dietrich, Vortr. Rat i. Minist. d.
Innern, Berlin; Havelock Ellis, London; Prof. Dr. Eugen Fischer, Freiburg i. Br.;
Prof. Dr. H. Freund, Frankfurt a. M., Prof. Dr. Füth, Köln; Rudolf Goldscheid,
Wien; Prof. Dr. Grotjahn, Berlin; Prof. Dr. Haecker, Halle; Prof. Dr. K. Hegar,
Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Henkel, Jena; Prof. Dr. Hoehne, Greifswald ; Prof. Dr.
von Jaschke, Giessen ; Privatdozent Dr. Kammerer, Wien; Obermedizinalrat Prof,
Dr. E. Kehbrer, Dresden; Prof. Dr. Kermauner, Wien; Prof. Dr. Knauer, Graz;
Geh, Rat Prof. Dr. Kossinna, Gross-Lichterfelde; Prof. Dr. Külz, Altona; Geh.
Hofrat Prof. Dr. v. Lilienthal, Heidelberg; Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Martius,
Rostock; Prof. Dr. A. Mayer, Tübingen; Geh. Hofrat Prof. Dr. Menge, Heidelberg;
Prof. Dr. Mombert, Freiburg i. Br.; Geh. Hofrat Prof. Dr. Opitz, Freiburg i. B.;
Dr. Placzek, Berlin ; Prof. Dr. Polano, München: Prof. Dr. Poll, Berlin; Geh.
Med.-Rat Prof. Dr. Posner, Berlin; Sanitätsrat Dr. Prinzing, Ulm; Prof Dr.
Reifferscheid, Göttingen; Dr. Barbara Renz, Breslau; Dr. Rohleder, Leipzig ;
Prof. Dr. Sergi, Rom; Geh. Hofrat Prof. Dr. Seitz, Erlangen; Geh. Med.-Rat
Prof. Dr. Sellheim, Halle a, S.; Geh. Med.-Rat Prof, Dr. Sommer, Giessen;
Prof. Dr. Spann, Brünn; Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sudhoff, Leipzig;
Prof. Dr. Stratz, den Haag; Prof. Dr. Strohmayer, Jena; Prof.
“Dr. Tandler, Wien; Hofrat Dr. Theilhaber, München; Prof. Dr,
Westermarck, Helsingfors; Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Winter,
Konigsberg; Prof. Dr. M. Winternitz, Prag ; Prof. Dr.Wyder,
Zürich; Ministerialrat Prof. Dr. Zahn, München: Prof. Dr.
Zangemeister, Marburg a. L.; Prof. Dr. Ziemke, Kiel.
HERAUSGEGEBEN VON
DR MAX HIRSCH
BERLIN
BAND IX
LEIPZIG - VERLAG VON CURT KABITZSCH
—
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten.
Druek der Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G.. Würzburg.
Inhalt des IX. Bandes.
Originalarbeiten:
Elster, Dr. Alexander, Eugenetische Lebensbeseitigung
Greil, Prof. Dr. Alfred, Keimesfürsorge .
Hirsch, Dr. Max, Sexualwissenschaft und — ——
— Nachruf auf Iwan Bloch
Kraus, Prof. Dr. Fr., Geschichte und Wesen des Konetitationeptobleme
Krische, Dr. P., Zur Soziologie des Geschlechtslebens 5
Mathes, Prof. Dr. Paul, Die Ba der Soxualkonstitution für die
Gynäkologie K a
Mühsam, Prof. Dr. Richard, Die ‘Sexualkonstitution. in der Chirursis
Oppenheim, Dr. Stefanie. Die sekundären Geschlechtsmerkmale am
menschlichen Schädel . $
Peritz, Prof. Dr. G., Über die Wechselbeziehungen von Keimdrisen SE
Nervensystem
Posner, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. C., Die Bezualkonstitution ı in der Andrologie
Weil, Arthur, Sexualwissenachaft und Sexualreform in den Vereinigten
Staaten .
Wissenschaftliche Rundschau:
RassenhygieneundGeburtenregelung. Von Dr. Helene Stöcker
Sexual-hygienische Bedeutung der Prostituierten-Tuberku-
lose. Von Dr. W. Samson
Diagnose und Therapie der Sterilität. Von Dr. E H. Pirkner
Erfolgreiche Transplantation von Affentestikeln auf den
Mann, mit Darstellung der histolog. Beobachtungen.
Von Dr. E. H. Pirkner . . . peg
Versuche der Bestimmung der Kbnutzung des Seiblichen Or-
ganismus im Zusammenhang mit der Geburt und der
allgemeinen Konstitution. Von Dr. Bublitschenko .
DasFrauenproblem inkommunistischen Gemeinwesen älterer
und neuerer Zeit. Von Margarete Weinberg .
Ab- und Entartung der Konstitution durch Deet
nosen und Keimesfürsorge. Von Prof. L. Haberlandt
Zur Wertung von Deszensus und Prolaps bei der ländlichen
Arbeiterfrau. Von Dr. Hans Kritzler
Entstehung der geschlechtlichen mt Von Prof. Dr
C. Fries ae aan Tante al Be de et ee ee Sr Ze a rt
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204
IV Inhalt des IX. Bandes.
Sexualwissenschaftliches Beiheft:
Barth, E., Geschlecht und Stimme . ;
Crzellitzer, Über die zn der r Göburtenreihenfolge für die Qualitat
der Kinder . ;
Hirsch, Dr. Max, Mitteilungen aus einem Sch wurserichläverfahtenn —
einen Arzt wegen Fruchtabtreibung und fahrlässiger Tötung
Hartmann, Die biolog. Grundlagen der Sezualkonstitution . i
Hirschfeld, Über Intersexualität beim Menschen
Hübner, Sexualkonstitution und Rechtsleben
Krische, Zur Soziologie des Geschlechtslebens —
Kretschmer, Über die psychologischen Grundlagen der Besuälkönsiitutich
Kronfeld, Die Bedeutung der Untersuchungen von Ernst Kretschmer
über Körperbau und Charakter für die Sexualwissenschaft .
Derselbe, Zusammenfassender Bericht der non über Konstie
tution und Sexualität . ;
Thomalla und Kronfeld, Filnrdokumente zur Sesualwissenschaft
Verhandlungen der ärztlichen Gesellschaft für Sexual-
wissenschaft und Eugenetik in Berlin . . . . . 148,
Seite
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Iwan Bloch 7.
Ein Nachruf‘),
Wir stehen an der Bahre eines Mannes, von dem man mit ge-
rechtem Urteil sagen darf, dass er den Besten seiner Zeit genug
getan. Iwan Bloch, dessen sterbliche Hülle wir heute begraben,
hat nicht nur für die Gegenwart gelebt. Sein Werk, gross und ab-
geschlossen, wurzelt in der Vergangenheit und strahlt in die Zukunft.
Mit dem Instinkt des Forschers hat er auf den Wissensgebieten, die er
betrat, Wertvolles und Bleibendes geschaffen. Mochte er am Ausbau
desjenigen Gebietes arbeiten, dem er Namen und Inhalt gegeben
hat, der Sexualwissenschaft, mochte er den forschenden Geist rück-
wärts richten in die Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin
oder mochte er als Freund der Bücher sich in Druckwerke und
Urkunden vertiefen.
Alles geben die Götter, die Unendlichen
Ihren Lieblingen ganz.
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen ganz.
In diesem Sinne darf Iwan Bloch ein Liebling der Götter
genannt werden. Mitten auf das lange schmerzenreiche Kranken-
lager der letzten Wochen sind ihm die reichen Freuden des 50. Ge-
burtstages gelegt worden, an dem ihm Freunde und Vertreter der
Wissenschaft gesagt haben, was er ihnen bedeutet. Das zu wieder-
holen, ist hier nicht der Ort. Heute gilt es Abschied zu nehmen
und ihm Dank mitzugeben in die Gründe der Ewigkeit. Den Dank
seiner Freunde und den Dank der Wissenschaft, welche verhüllten
Hauptes an seiner Bahre trauert. Max Hirsch, Berlin.
1) Gesprochen an der Bahre des Toten am 23. November 1922.
Arehiv für Frauenkundo. Bd. IX. HA. 1. l
Keimesfürsorge.
Von
Prof. Dr. Alfred Greil,
Innsbruck. Anatomie.
Unermesslich ist die Belastung und Schädigung des Volks-
körpers durch die angeborenen Erkrankungen und krankhaften Zu-
stände, die Hemmungs- und Fehlbildungen, Wucherbildungen und
Gewächse, Geistes- und Sinnesstörungen, das artwidrige 'Triebleben,
die Schwächezustände aller Art, die gesteigerte Anfälligkeit und Ge-
fährdung für Krankheitserreger und Vergiftungen der Nachkommen
gesunder Eltern. Unsummen von Volksvermögen werden für die
Aufzucht, Pflege und Bewachung dieser geistig und körperlich ver-
krüppelt mit abnorın entstandenen oder in vollendetem Zustande ge-
schädigten Organen geborenen, langsam dahinsiechenden „Kultur-
menschen“, der Gesellschaftsfeinde und gefährlichen Menschentypen
geopfert. Unrettbar sind die zu spät in ärztliche Behandlung kommen-
den, in tiefer Bewusstlosigkeit von Krämpfen durchtobten, noch voll-
kräftigen oder durch unstillbares Erbrechen und dauernden Speichel-
fluss — bis 2 Liter pro Tag — ganz verfallenen, blutleeren oder
durch Gehirnblutung plötzlich bedrohten, infolge von Netzhaut-
blutungen dauernd erblindeten, vollkommen gelähmten, halluzinie-
renden, gesund in. die Ehe getretenen Hochschwangeren oder die
frisch, auffallend leicht entbundene, bedrohliche Verschlimmerung der
Beschwerden aufweisende Gattin eines vollkräftigen Mannes, die
Tochter gesunder Eltern, die Schwester gesunder Geschwister. Un-
erschöpflick mannigfaltig sind die Leichenbefunde, die schweren
Schädigungen der Stoffwechselorgane, der Leber, Niere, Nebenniere
und Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse und Milz, des Herzmuskels
und Gehirns bei Mutter und Kind. — Um so dringlicher und nutz-
bringender werden die Aufwendungen für die Aufdeckung nnd Ver-
hütung so schwerer Familienübel, solch sozialen Auswurfes, der
Verluste an sozialer Arbeitsfähigkeit werden. Diese wichtigsten sozial-
hygienischen Vorkehrungen der Vererbungshygiene können nicht
2] Keimesfürsorge. 3
rasch und grosszügig genug ins Werk gesetzt werden, weil sie zu-
gleich blühende Mütter, gesunden, artgemässen Keimzellen entsprosste
Keimlinge, die entstehenden Keimdrüsen der Früchte wie die Eizellen
der Mütter zu schützen haben. |
Die Befunde an den ausgestossenen Keimlingen der ersten
Wochen, älteren Fruchtsäcken, an den in allen Entwicklungsstuien
mit der mannigfaltigsten Ab- und Entartungen der Keimblätter und
Fruchtanhänge, Organschädigungen Frühgeborenen, an den überkräftig
entwickelten, hilflos dahingerafften Säuglingen, den nach kurzem
fabelhaftem Aufblühen verfallenden, oder nach wenigen Monaten
normalen Gedeihens erblindenden, vollkommen erlahmenden, in tief-
ster Verblödung verfallenden, geradezu verendenden Kindern hoch-
stehender Kulturmenschen, die Leichenbefunde an den in allen
Schwangerschaftsmonaten von der dritten Woche an jählings oder in
: schleichendem Siechtume nach schwerem Leidenswege der Schwanger-
schaftsvergiftung erlegenen Mütter weisen eine unerschöpfliche
Mannigfaltigkeit auf. Das erste, alamierende Auftreten dieser Ab-
und Entartungen, der erstmalige Erwerb der artwidrigen Entwick-
lungsbedingungen muss verhütet werden, denn vererbte Folge-
erscheinungen dieser verhängnisvollen erworbenen Eigenschaften
können bestenfalls nur eingedämmt werden.
Schwangerschaftsvergiftungen entstehen durch übermässige
Wucherung der in die Gebärmutterschleimhaut eingebetteten Keim-
blasenwand, des Trophoblast. In diesem beispiellosen Nährboden
treibt dieses winzige (0,5 mm) rasch sich vergrössernde Bläschen
nach allen Richtungen Sprosse vor, wurzelt sich ein, zerreisst das
umspinnende Blutgefäss-Kapillar-Netz. Alle diese radienartig sich
plump verästigenden, durch Querbalken verbindenden und schwarm-
artig perifer auflösenden Fortsatzbildungen bringen das umgebende
durchwucherte Gewebe zum Zerfalle, eröffnen Blutgefässe, so dass
die Keimblase des Menschen zum Unterschied von sämtlichen Säuger-
keimen von vielen Haftzotten gehalten in einem langsam durch-
rieselten mütterlichen Blutbade schwimmt. Wie die nackte Keim-
blasenwand und die Zottengrenzschichte — der Trophoblast — ins
Keimblaseninnere ein zähflüssiges, quellendes, milchglasartig durch-
scheinendes, beim Kochen dicht ausfallendes Lösungsgemisch —
Trophoplasma — abscheidet, so produzieren auch jene 'soliden
äussersten, noch nicht von fötalen Blutgefässen durchzogenen Aus-
wüchse dasselbe Gemisch. So vorteilhaft das zähflüssige Nährlösungs-
gemisch für den Aufbau und die freie Raumentfaltung, den Ober-
flächengewinn des Keimlinges ist, so schädigend wirkt eine über-
mässige Einmischung dieses für eine erwachsene Mutter vollkommen
1*
4 Alfred Greil. [3
blutfremden, altersfremden, geschlechts und individualfremden
Lösungsgemisches in die mütterliche Blutbahn. Wie sich der Darm
auf ungewohnte Nahrung einstellt, so verarbeiten auch die blut-
bildenden Organe der Mutter diese von den noch nicht von den
fötalen Gefässen durchzogenen Spitzen- und Wurzeltrieben der sich
verzweigenden und vermehrenden Zotten abgeschiedenen zustands-
fremden Stoffe, insbesondere Schleim und schleimige Substanzen von
hoher Quellbarkeit. Wenn aber von unzähligen, frei flottierenden,
unförmig gestalteten Zottenauswüchsen, die beim Spitzenwachstuın
nicht aufgebraucht werden, von wurzelartig die Schleimhaut durch-
wühlenden, mütterliche Gefässe umscheidenden und eröffnenden Aus-
wüchsen, Tapeten und Wandverdickungen der mütterlichen Blut-
räume beständig, schliesslich von einer Fläche von 4 Quadratmeter
diese quellenden Stoffe eingemischt werden, so versagen die akti-
vierten mütterlichen blutbildenden Organe. Der Eintritt dieser
quellenden Substanzen in die Grenzschichten von 26 Billionen mütter-
licher Zellen, in vollausgebildete Gehirn-, Leber-, Nieren- und Gefäss-
zellen steigert in kleinen förderlichen Dosen den Umsatz; auf die
Dauer verlieren jedoch die Zellen die Herrschaft über ihre Ein- und
Ausfuhr und es kommt gerade an den am meisten beschäftigten und
beanspruchten Stoffwechselorganen zu schweren Schädigungen des
Zellstoffwechsels. Für einen zu fast 96% aus Wasser bestehenden
Embryo, einen sich rasch verzweigenden Zellenstammbaum, für so
oft wiederholte Zellteilungen ist die Zusammensetzung des quellenden
.Trophoplasmas ebenso nutzfähig, wie für erwachsene, besonderen
Einzelverrichtungen angepassten Gewebszellen und teilungsunfähig
gewordene Zellarten schädlich. In vielen Fällen flocken sich die
eingemischten Trophoplasma- und die Blutkolloide gegenseitig aus;
es kommt je nach der stets verschiedenen Zusammensetzung und
Zusatzgeschwindigkeit des Trophoplasmas zu Ausfällungen in der
Blutbahn, zu schweren Ernährungsstörungen, welche namentlich in
der Leber und Niere grosse Verheerungen anrichten können. Die
Leber sondert zu zähflüssige Galle ab, diese wird in den feinsten
Gallenwegen eingedickt; es bersten diese Haargefässe und das Blut
wird durch Monate mit Gallensäuren und gallensauren Salzen über-
mässig beladen. Es quellen die Zottenbüschel in den Kapselräumen
der Niere und verlegen die Ursprungstätten der Harnbildung; es leidet
die Ernährung der Nierenschläuche; die Niere versagt in schleichend
zunehmendem Masse, bis die bedrohliche Zurückhaltung harnfähiger
Stoffe zu völliger Harnlosigkeit führt. Der Eintritt quellender
Kolloide verändert die Durchlässigkeit sämtlicher Zellstrukturen
insbesondere aber der Leber und Nierenzellen für Zucker; — durch
4] Keimesfürsorge. 5
Nebennierenreizung gesteigert. Am gefährlichsten werden aber
für das Kind die Trümmer der mitten aus gesteigerter Tätigkeit durch
Ernährungsstörungen oder direkte Zellschädigungen teilweise zer-
fallenden mütterlichen Stoffwechselorgane. Die Leber wird auf die
Hälfte eingeschmolzen, fettig entartet befunden ; Nieren-, Nebennieren-,
Speicheldrüsen-, Haut- und Milchdrüsen-, Gehirntrümmern, Zellbestand-
teile und halbfertige Produkte der Zelltätigkeit werden vom mit-
geschädigten Zottentrophoblast wahllos durchgelassen, treten ins fötale
Blut ein und schaffen durchaus artwidrige Entwicklungsbedingungen.
Vielfach stimmen die Leichenbefunde bei Mutter und Kind überein.
Unzählige mit dem Leben Davongekommene offenbaren die schweren
Schädigungen aller Organe, die unerschöpflich abwechslungsreiche
Art der Vergiftung in verschiedene Alterstufen, bei Beanspruchungen
— liegen in Couveusen, in den Anstalten für verkrüppelte und
schwachsinnige Kinder, in Blinden-, Taubstummen- ‘und Besserungs-
anstalten, Gefängnissen-, Irren- und Siechenhäusern, endigen als
Selbstmörder und Desperados. Gerade die kräftigsten, vollwertigen,
für den sozialen Organismus leistungsfähigsten, werdenden Mütter,
insbesondere die Erstgeschwängerten sind der Vergiftung am meisten
ausgesetzt; viele offenbaren bei dieser eingreifendsten Leistungs-
probe des weiblichen Körpers bis dahin vollkommen unerkannte
mütterliche oder grossmütterliche Vergiftungen. Einkindersterilität
der Mütter ist oft mit voller Unfruchtbarkeit des Kindes zugleich
erworben. Blutbildende Organe, Keimstätten und das Gehirn werden
stets am schwersten betroffen. Bei einer folgenden Schwangerschaft
einer in ihrer Gesamtheit, nicht nur in den Eierstöcken ge-
schädigten Mutter brechen die Vergiftungserscheinungen — Kopf-
schmerz, Schwindel, Ohnmacht, Erbrechen, Speichelfluss, Sodbrennen,
Magendruck, Sehstörungen, Mattigkeit, Zuckungen, juckende Haut-
ausschläge, Schweisse, Durchfälle, Atemnot, Aufquellung, abnorme
Gewichtszunahme, Harnverhaltung, Gelbsucht, um so frühzeitiger und
heftiger aus. Die monatelang in ihrer Entstehung geschädigten
Nachkommen können ganze Familien verseuchen und durch Paarung
mit andersartig Geschädigten eine unabsehbare Mannigfaltigkeit an-
geborener Erkrankungen und krankhafter Zustände schaffen. Syphilis,
Tuberkulose und Alkohol erlangen erst durch diese ererbten, die
Widerstandskraft schwächenden bzw. den Nährboden vorbereitenden
Schädigungen ihre volle, von Fall zu Fall verschiedene Wirksamkeit.
Bei jeder Schwangerschaft besteht die Möglichkeit zu schwerster
Schädigung vollwertiger Keimlinge, zum Erwerbe tiefgreifendster
Störung körperlicher und geistiger Leistungen. Ärzte, insbesondere
Irren-, Schul- und Gerichtsärzte haben daher bei der Beurteilung
6 Alfred Greil. [6
von angeborenen konstitutionellen, krankhaften Zuständen aller Art,
insbesondere von Geistesstörungen und Schwachsinn, abnormem Trieb-
leben in erster Linie über die Schwangerschaft der Mutter Erhebungen
zu pflegen, erst in zweiter Linie in der weiteren Verwandtschaft, der
Aszendenz und den Kollateralen. Stets ist nach den Bedingungen
des ersten Auftretens der Erkrankung in gesunden, unbescholtenen
Familien zu fahnden. Nur in reinen, frischen Fällen lässt sich die
Keimlingsschädigung von der Schädigung der Ei- und Samenbildung
abgrenzen. Es ist aber auch im artgemässen Entwicklungsgange
vollkommen unmöglich, den tiefgreifenden Einfluss der Frucht-
ernährung auf den Entwicklungsgang, deren gewaltige Erfolge gegen
das Befruchtungswerk abzugrenzen. Die Säuger stammen von eier-
legenden Kloakentieren ab, die dotterarm geworden sind. Es war
für die Entwicklung des Gehirnes, der Sinnesorgane und der Haut
ein unabsehbarer Gewinn, als die Keimlinge sich nicht mehr im
Wasser, sondern am Lande, in der Sonne, im nutzstoffreichem, Lösungs-
gemisch der innersten Hülle (Amnios) entwickelten. Noch viel grösser
war der Erfolg, als sie sich in der Höhlung der Gebärmutter und
einzig der Erfolg der Menschwerdung: der Einbettung der winzigen
Keimblase mitten in die Schleimhaut selbst, in ein langsam durch-
rieseltes Blutbad. Sämtliche Organe, in erster Linie das Gehirn haben
ihre Weiterentwicklung, den Erwerb ihrer besonderen Bauart und
Leistungsfähigkeit, ihre eigenartige Vollendung durch diese Art der
Fruchternährung erlangt. Diese Wirkung ist der Befruchtung gleich-
zustellen. Die ganze dotterschwere Eikugel der Vögel wird als Erbe
bezeichnet, deren Menge und Beschaffenheit der Dottermitgift wirken
entwicklungsbestimmend, so muss auch der Ersatz für die weitest-
gehende Dotterverarmung, die Fruchternährung ins Erbe einbezogen
werden. Ei-, Samen- und Fruchtbildung (in der Gebärmutter) bilden
eine unlösbare Erbschaft. Alles Angeborene ist ererbt. Ebenso tief-
greifend beeinflussen aber auch Überschuss, Mangel, oder abnorme
Mischung des mütterlichen. Nutzstoffangebotes den Formwechsel und
sämtliche Formerwerbungen des Keimlinges. Die Fruchternährung
dient nicht dazu, um einen festabzesteckten Bauplan auszuführen,
sondern sie beherrscht den stets umstandshedingten Erwerb sämtlicher
Gebilde. Ebenso wie es bei den vor 20.000 Generationen lebenden
Urmenschen nicht im einzelnen bestimmt war, dass ihre heutige
Nachkommenschaft durch die Art ihres Zusammenwirkens, des Ge-
meinschaftsdenkens, -fühlens und -schaffens, in Ausnützung der Um-
weltsbedingungen, der Bodenschätze, der Pflanzen- und Tierwelt, der
Siedelungs-, Wander- und Transportgelezenheiten einen so reich ge-
gliederten Volkskörper bilden werden, dass Gestirnbahnen berechnet, Ge-
6) - Keimesfürsorge. 7
hirnbahnen aufgedeckt, motorlose Flugzeuge und Mikroskope, Mörser
und drahtlose Verständigungsmittel erfunden und gebaut, — Religionen,
Tragödien und Opern ersonnen werden, ebensowenig ist in der Keim-
zelle das Werk der Entwicklung irgendwie im einzelnen starr vorge-
zeichnet. Alles muss erst beim Zusammenwirken der Abkömmlinge
erworben werden, alles wird durch die jeweiligen sich zum Teil erst
während der Bildung ergebenden, örtlichen Umstände bestimmt. Darin
besteht die Grossartigkeit und die Gefährdung der Entwicklung; darin
wurzelt die Macht und die Verantwortung des Arztes.
Ursache der Ab- und Entartung der Nachkommenschaft gesunder
unbescholtener Eltern, des ersten Auftretens schwer Erkrankter und
Verbrecher, verhängnisvoller Krankheitsbereitschaft sind die durch
die Kulturentwicklung (Überkultur), die Ausschaltung der ursprüng-
lichen Fortpflanzungsverhältnisse bedingten Abänderungen der Be-
dingungen der menschlichen Entwicklung. Nur der Rückblick auf
die stammes- und kulturgeschichtliche Entwicklung, die Erkenntnis
ihrer grundsätzlichen Übereinstimmung mit den Gesetzmässigkeiten
der Keimesentwicklung ermöglicht die Aufdeckung und Verhütung
der Gefährdung.
Alle Säuger stammen von eierlegenden Vorfahren ab, die um
grosse, dotterschwere, durch den Eileitermuskelschlauch vorwärts-
. gedrängte, befruchtete Eier, Eierklar und Kalkschalen bzw. Horn-
schalen abschieden. Dieser Vorgang ist durch die Einschränkung
des Eiwachstumes im derben, bindegewebsreichen Eierstock, mit der
Entfaltung der Milchdrüsen und Nebennieren abgeändert worden. Das
am Ende der Brunst ausgepellte, winzige (0,3—0,06 mm grosse), lang-
sam durch den Flimmerstrom des Eileiters vorwärtsgerollte Säugerei
erreicht die Stätte‘ dieser Abscheidung erst nach deren Abklingen
5—8 Tage nachher. Durch die Ansprüche der rasch aufquellenden,
beim Schwein auf 1 Meter Länge heranwachsenden Keimblase, wird
die bereits abgeschwollene Schleimhaut zur Wucherung gebracht.
Scharf auf die Anlagerungsfläche des Keimschildes beschränkt ent-
stehen auch noch bei den Menschenaffen mächtige Schleimhautpolster,
während zwischen den Keimblasen, z. B. bei Hunden, Kaninchen,
eine ganz geringfügige Schwellung besteht. Wird durch heftige
Bewegung — Sprung vom Tische oder stürmische Liebesspiele des
Gatten — das befruchtete menschliche Ei aus dem Eileitertrichter
in die Bauchhöhle gebeutelt, so entwickelt sich die winzige (0,5 mm)
Keimblase auch am Bauchfellgrunde (Douglas) oder an der Vorder-
fläche des Mastdarmes, auf kargem Nährboden in artgemässer Weise.
Ebenso wie die heranwachsende Eizelle im Eierstocke durch ihre
Ansprüche die mächtige Entfaltung der sie kapselartig umgebenden
8 Allkrod Greil. [7
Nährzellenschichte (Eifollikel) fördert — wie ferner die Eierstöcke
durch. ihre Abfallquote den Gesamtumsatz fördern — Grosskunden
vergleichbar, die an Zahlungsstatt neue Filialen errichten —
so beherrscht auch der wachsende Keimling bei sämtlichen Wirbel-
losen und Wirbeltieren mit Fruchternährung durch seine Ansprüche,
die Absättigung der hohen Umsatzfähigkeit, den Nährboden. Die
Säugerentwicklung würde in rasendem Tempo erfolgen, wenn das
arterielle nutzstoffreiche Nabelvenenblut nicht mit Körpervenenblut
vermischt sämtlichen Organen zugeführt würde — mit Ausnahme
der sich überaus mächtig entwickelnden Leber, welche ganz ähn-
lich wie der Mutterkuchen durch Zufuhr unvermischten Blutes ent-
steht und so überaus rasch heranwächst. So sind auch der Ent-
wicklung einer in einer 0,01 mm dünnen Umhüllung liegenden
Säugerkeimblase in den gefährdeten ersten Wochen dadurch gewisse
artgemässe Schranken gesetzt, dass die Einpflanzung und Einbettung
in die Schleimhaut nicht am Höhepunkt der Brunst, in eine aufs
dreifache hochgeschwellte Schleimhaut mit vollgepfropften Drüsen
und prall erweiterten Blutgefässen erfolgt, sondern in einen von
seinem Nutzstoffreichtum entspannten abgeschwollenen, aber immer-
hin noch reich durchbluteten, reaktionsfähigen Nährboden. Diese
Umsatzbedingungen sind ohnedies unvergleichlich günstiger als bei
den wochenlang allmählich das Eierklar aufzehrenden Vorfahren
(Protamnioten), so dass eine hochgeschwelite, blutreiche mit Zucker
(Glykogen), Fetten (Cholesterin, Lezithin, Neutralfett), Eiweisstoffen
und Salzen (Elektrolyten) vollgesättigte Schleimhaut ein artwidrig
überstürztes Wachstum einleiten würde. Naturvorgänge dürfen indess
nie nach menschlichen Zweckmässigkeitsgründen beurteilt werden;
die Einschränkung des Eiwachstumes hat zwangsläufig das ver-
spätete Eintreffen der Keime nach Ablauf der Brunst bewirkt,
welches sich im Kampfe ums Dasein als vorteilhaft erwiesen hat.
Lebend gebärende, fruchternährende Haifische und Echsen gewähren
den dottenbeladenen, kleine Keimscheiben bildenden Keimlingen
sowohl nach Menge wie Beschaffenheit bei weitem nicht so nutzstoff-
reiche Nährlösungen. Die Abscheidung der Gebärmuttermilch der
Widerkäuer ist verschieden vom Brunstausfluss und wird erst durch
den Reiz der wachsenden Keimblasen angeregt.
Zufällig bei Operationen, von Verunglückten und Selbst-
mörderinnen gewonnene artgemässe menschliche Keimlinge der
zweiten und dritten Woche weisen nur in der Umgebung des winzigen
Keimlinges Schwellung und Blutreichtum, Drüsenfüllung der Schleim-
haut auf; im übrigen basteht keine mensuelle Schwe’lung. Diese
Normalkeime sind artgemäss am Ende der ersten Woche nach Beginn
8] Keimesfürsorge. 9
der Menses (zur Zeit der grössten Begierde und wie die Schwänge-
rungen durch Kriegsurlauber beweisen, auch der grössten Empfäng-
lichkeit des Weibes) befruchtet und ca. 8 Tage nachher in eine
frisch verheilte Wundfläche, eine ruhende Schleimhaut der Zwischen-
zeit eingebettet. Diese erfährt in ihrer Gesamtheit durch die Anwesen-
heit eines 0,5 mm Keimes keine Veränderung. Erst infolge der
Trophoplasmaeinmischung quillt die Schleimhaut sowie andere
mütterliche Organe etwas auf.
Die Menstruation des Menschen ist somit ebenso wie die ihr voll-
kommen entsprechende Brunst der Säuger — wahrscheinlich hatten
die Urmenschen vor 20000 Generationen ebenso wie die Eskimo-.
weiber nach älteren Berichten noch eine Frühjahrsbrunst nach langer
Wintersterilität — eine weibliche Affäre geworden, eine Entspan-
nung sämtlicher Stoffwechselarten der Abkömmlinge eierlegender
Vorfahren. Die Gebärmutterabscheidung leitet sich zwar vor der
Eihüllenbildung ab, hat aber ihre ursprüngliche, der Fortpflanzung
dienende Leistung eingebüsst. In dem Masse, als die Dotterbildung so
weitestgehend eingeschränkt wurde, nahm die Eileiter- und Gebär-
mutterabscheidung zu. Jedes Tier erlangt durch die Ansprüche seiner
Keimdrüsen seine volle Geschlechtsreife und hat auf der Höhe dieses
Umsatzes das Bestreben seine Geschlechtszellen auszustossen (Detu-
meszenztrieb). Die (250—)500 Millionen Samenzellen eines einzigen
Auswurfes würden zur Kugel zusammengeballt das 5 fache Volumen
einer monatlich ausgestossenen, grösstenteils aus Dotter bestehenden
Eizelle — einer Zwillingsschwester — ausmachen. Dieses Missver-
hältnis gegenüber der Samenentleerung und der eierlegenden Vor-
fahren wird durch die Menstruation gedeckt. Deshalb hat sich diese
Abscheidung erhalten, obgleich sie für die Fortpflanzung wertlos,
durch unvergleichlich vorteilhaftere Einrichtungen ersetzt wurde, die
Schritt für Schritt mit dem Wachstum des Keimlinges von diesem
beherrscht, erworben werden — auch nicht mehr anreizend wirkt.
Die Kulturentwicklung hat einen Zustand herbeigeführt, welcher
beim Urmenschen sicherlich noch nicht bestand: die Häufung und
Abkürzung des mensuellen Wellenganges und dessen Zusammen-
treffen mit der Schwangerschaft. Bei keinem Freiwild laufen Brunst-
wellen durch die Trächtigkeitsperiode. Durch diese Abänderung wird
die Entscheidung der Frage ermöglicht, ob die von äusseren Um-
ständen (Jahreszeiten) unabhängig gewordene Menstruation, die im
Durchschnitte 28tägige Welle durch eine Stauung angesammelter
Produkte der blutbildenden Drüsen entsteht, oder aber die Folge
einer tatsächlich periodisch ungleichen Tätigkeit dieser Organe, vor
allem der Leber, Schilddrüse, Milz, des Hirnanhanges und Knochen-
10 | Alfred Greil. [9
markes ist. Der Embryo würde im ersteren Falle eine solche Stau-
ung sicherlich nicht aufkommen lassen; es wäre vollkommen aus-
geschlossen, dass Schwangere während jeder Schwangerschaft in
genauer Periodik aus einem Nebenhorn der Gebärmutter oder aus
der Nase bluten. Dieser Zustand kann nur durch einen rasch auf-
tretenden, vom Fötus nicht so rasch zu bewältigenden Überschuss,
also eine wirkliche Periodik, durch vermehrte Abscheidung der Blut-
bestandteile bewirkt werden, für welche sich aus dem zellulären und
zellenstaatlichen Leben bei Wirbellosen und Wirbeltieren mancherlei
Analogien anführen liessen. Dieser Wellengang wird in vorbildlicher
Weise vererbt, betrifft auch Männer, namentlich jenseits des Über-
gangsalters (monatliche Schwindelanfälle, Mastdarm-, Nieren-
blutungen). Sämtliche Eier der Mutter sind auf die Welle eingestellt,
alle Keimblätter, Primitiv- und Dauerorgane der: Keimlinge machen
die Welle mit, vor allem der Trophoblast. Bei der fünften Welle
setzen die Kindsbewegungen ein, bei der zehnten. Welle erfolgt die
Geburt. Vergiftungserscheinungen, Aborte fallen auf Wellengänge.
Das fünfmonatliche Töchterchen kann bereits einen regelmässigen
Wellengang beginnen. Monatliches Nasenbluten, Hautausschläge
gehen mitunter der ersten Menstruation voran, oder ersetzen sie.
Auch solche nie menstruierte, ältere Virgines werden schwanger: ein
neuerlicher Beweis, wie überflüssig die menstruelle Hochschwellung
der Schleimhaut für die Einbettung des Keimlinges ist. So sind
sämtliche Organe von ihrer Entstehung an, sämtliche Zellen, alle Zu-
wachszonen, alle Zellorgane und deren Zuwachszentren auf die Wellen
schon während der Fruchtentwicklung eingestellt und erreichen ihre
Höchstleistungen nicht in gleichmässiger Ausdauer sondern in be-
stimmten Zeiträumen. Viele Frauen fühlen sich nie so wohl, so
schaffensfreudig, wie während der Menses.
Während des Abschwellens der Brunst wuchert die entspannte Nähr-
zellenschicht der ausgelösten, ausgepellten Eizelle (0,3 mm) — die aufgeplatzte,
haselnussgrosse, geborstene Blasenwand (Granulosa) entspannt und von einem
dichten Gefässnetz umsponnen mästet sich diese Zellschicht, bildet Dotter-
farbstoffe aus und wandelt sich so zum kirsch- bis walnussgrossen sog.
gelben Körper. Allmählich verfetten und verfallen die übermästeten Zellen
und werden durch derbe Narbengewebswucherung ersetzt. Diese Erscheinung
hat weder bei eierlegenden noch bei fruchternährenden Formen ursächliche
Beziehungen zum Eintritte der Brunst. Der Eileiter der Vögel ist zur Zeit
der Lösung des ersten Eies bereits auf das zwanzigfache seiner Länge herange-
wachsen, mächtig verdickt und vollbereit zur Eierklarabscheidung; der gelbe
Körper entsteht aber erst nach der Eiablage. Die Häufung der mensuellen
Wellen hat es mit sich gebracht, dass die Bildung des gelben Körpers — die
Lipoidmast der geplatzten Granulosa — durch eine folgende Welle sozusagen
aufgefrischt, ein bereits im Abklingen begriffener Vorgang neu entfacht wird.
10] Keimesfürsorge. 11
So kommt es, dass der gelbe Körper der vorhergehenden Eilösung während des
Anschwellens der nächsten Welle aufblüht, weil ihm ein zunehmend ge-
steigertes Nutzstoffangebot dargereicht wird. Es teilen sich also die heran-
reifende Eizelle, der geplatzte Follikel der vorhergehenden Welle und die
Gekärmutterschleimhaut in den Überschuss. Sobald aber die letztere infolge
der Biutaustritte und der Ernährungsstörungen des Gewebes in ihren ober-
flächlichen Schichten zerfällt und das weite offene Ventil einer blutenden
Wundfläche eröffnet wird, sinkt mit einem Schlage das hohe Nutzstoffangebot
und der aufgeblühte, gelbe Körper verfällt in kurzer Zeit. Die Abbaustoffe
der übermästeten, verfetteten Zellen dienen der Narbenbildung des mächtig auf-
schiessenden Bindegewebes und werden zum geringen Teile auch im grossen
Kreislaufe den verschiedensten Zellarten als Bausteine zugeführt. So über-
nimmt also bei der Entspannung des Stoffwechsels der gelbe Körper gewisser-
massen die Rolle eines dotterschweren Eies. Bei besonders mächtigem Auf.
blühen und Blasenbildung (Abscheidung eines grauweissen Gallertkernes) kann
sogar die Gebärmutterabscheidung überflüssig werden; der gelbe Körper fängt
so viel ab, dass es nicht zur äusseren Brunst kommt; es unterbleibt das Rindern
der Kühe, tritt aber sofort ein, wenn von der Scheide aus die deutlich fühl-
bare Blase zerquetscht wird. Auch beim Menschen sind solche Fälle be-
obachtet. Andererseits kann durch Unterwertigkeit des Eifollikels bei mangel-
hafter Ausbildung eines gelben Körpers die Blutung besonders stark und an-
dauernd werden. Eine knapp vor der Menstruation ausgeführte Kastration
kann zu einer verfrühten Blutung führen. Diese Anteilnahme des gelben
Körpers an der Entspannung einer folgenden Welle ist also eine durchaus
nebensächliche Erscheinung. Von einer ‚Drüsenwirkung‘‘, behufs ‚„Vorberei-
tung der Eieinbettung‘, kann überhaupt keine Rede sein. Der so tief in der
Vorgeschichte wurzelnde, in unzähligen Geschlechtsfolgen vererbte Wellengang
sämtlicher Stoffwechsel- und Erfolgsorgane wird nicht von einer so nebensäch-
lichen Lokalreaktion beherrscht. Dagegen sprechen also vor allem folgende
Gründe: das Eintreten der ersten Brunst bei eierlegenden und fruchternähren-
den Tieren ohne gelbe Körper; — der Wellengang während der Schwanger-
schaft ohne Ausbildung von gelben Körpern bei unterbrochener Eibildung, die
beim Menschen, Hunden und. Katzen nach totaler Kastration beobachtete
oftmals vollkommen regelmässig eintretende Brunstfolge — sowie der Wellen-
gang beim Manne, insbesondere die periodische Beschwerden nach den Wechsel-
jahren bei beiden Geschlechtern.
Die Kulturentwicklung hat nun in ca. 30% eine Durchbrechung
der für sämtliche Säuger geltenden Gesetzmässigkeit der zeitlichen
Folge: Brunst-Eilösung und Befruchtung herbeigeführt. Beim Kultur-
menschen kann die Eilösung und der Entwicklungsbeginn in allen
Zeiten des Wellenganges erfolgen. Damit wurde die Naturwidrigkeit
der Keimeinbettung in der Hochspannung der folgenden mensuellen
Welle ermöglicht, welche dem Kulturmenschen vorbehalten erscheint.
Alle mit den schwersten Keimblättermissbildungen, unförmigen Wuche-
rungen der Keimblasenwand (Trophoblast) der Zotten ausgeworfenen
menschlichen Keimlinge sind in der zweiten Hälfte der Zwischenzeit
befruchtet, vor oder während der folgenden mensuellen Welle ein-
gebettet worden. Das enorme Angebot an hochwertigen Nutzstoffen
12 Alfred Greil. (11
(Glykogen, Lezithin, Cholesterin, Neutralfett, Eiweisskörper, Eiweiss-
lipoid- und Eiweisseifengemische, Arsen, Jod, Kali, Phosphor, Schwefel
usw.) hat artwidrig überstürztes Wuchern des hochreaktionsfähigen
Keimes entfacht. Gleichzeitig wurde aber auch die Trophoplasmaein-
mischung in die Schleimhaut erhöht. Bestandteile und Abbauprodukte
dieses Lösungsgemisches reizen die Muskulatur und bewirken die
Ausstossung. Ein Normalkeim ist um diese Zeit bereits drei Wochen
alt und tritt mit artgemäss erworbenen Grundlagen, Keimblättern und
Primitivorganen, mit pulsierendem Herzen in die erste Welle ein.
Die Zahl der Herzschläge (wahrscheinlich ca. 120) dürfte in diesen
Tagen erhöht, das Wachstum der Zottenspitzentriebe etwas gesteigert
sein, wird aber durch die rasch fortschreitende Zottengefässbildung
wieder eingeholt. Jene übermässigen Wucherungen eines zu früh,
lange vor Ausbildung der Gefässe von der Welle überraschten, ganz
unfertigen, in der kritischen Entwicklungsphase begr.ffenen Keim-
linges hingegen werden nia mehr eingeholt, die peripheren. soliden oder
aufgesplitterten Wucherungen und damit auch die erhöhte Tropho-
plasmaabscheidung und -einmischung dauern Monate an. Bei jedem
Wellengang wird die Wucherung aufs neue entfacht und wirkt durch
die anfangs den Zellstoffwechsel fördernde Einmischung von Tropho-
plasma auf die Blutbildungsorgane — insbesondere die Plasmadrüsen
— (Leber, Schilddrüse, Hirnanhang, Milz, Knochenmark) umsatz-
steigernd zurück, wodurch wiederum die Trorhoblastwucherung ge
steigert wird. So ergeben sich verhängnisvolle Wechselwirkungen,
welche schliesslich zu lähmenden zerstörenden Wirkungen überleiten.
Wenn schon in der zweiten Woche die Krämpfe einsetzen, in der
dritten Woche, knapp vor Beginn der Herztätigkeit des Keimlings
infolge von Gehirmn- und Kehlkopfschwellungen in tiefster Bewusst-
losigkeit der Erstickungstod der Mutter erfolgt, und die Zotten-
wucherungen voll Vakuolen gefunden werden, so ist vor allem un-
zeitgemässe Einbettung als Ursache anzugeben. Die Wirkung der
Trophoplasmaeinmischung auf die blutbildenden Organe, die Er-
höhung des mensuellen Wellenganges ist so nachhaltig, dass sogar
nach vollständiger Entfernung der Gebärmutter einer unerkannt Früh-
schwangeren — wegen Muskelgewächsen — genau zur Zeit des ersten
Wellenganges Krampfanfälle und andere Schwangerschaftsbeschwer-
den der Kastrierten ausbrechen. — Epilepsie und Veitstınz, Haut-
ausschläge treten auch während der Menstruation besonders intensiv
auf —. Es sind sogar 56 Tage nach der Geburt, zur Zeit der ersten
wiedereintretenden Menstruation Krampfanfälle mit tiefer Bewusst-
losigkeit beobachtet worden. Sicherlich bedeutet jeder Wellengang
während der Schwangerschaft auch ohne offenkundige Beschwerden
12) Keimesfürsorge. 13
für Mutter und Kind, insbesondere aber für das Zottenwachstum
und die periphere Ausbreitung dieses Impfgewächses eine kritische
Periode (Aktivierung der Plasmadrüsen, sowie des gelben Körpers).
Orthodoxe Jüdinnen konzipieren nach den Niddahvorschriften am 12.
(5 4-7) Tage nach dem Eintritte der Regel und berechnen daher das Ende der
Schwangerschaft nach 265 Tagen — begrenzt ist stets das Schwangerschafts-
ende — durch die zehnte. Welle; der Entwicklungsbeginn kann bei wahlloser
Konzeption variieren, die Verschiedenheit von Länge und Gewicht der Neu-
geborenen, auch konstitutive Unterschiede sind z. T. darauf zurückzuführen.
— Es bedeutet zweifellos einen rassenhygienischen Vorteil, den Erwerb eines
"Rassenmerkmales, bestimmter Rasseneigentümlichkeiten, wenn auch der Ent-
wicklungsbeginn rituell festgelegt wird. Der durch die Enthaltsamkeit bzw. Er-
wartungspannung gesteigerte Orgasmus dürfte es bedingen, dass wie bei manchen
Säugern die Kohnbitation die Eilösung, das Aufplatzen des blasenförmigen
Eifollikels bestimmt. Es ist also anzunehmen, dass die Befruchtung wenige
Stunden nach der Kohabitation erfolg. Der Keimling tritt dann in einem
wenigstens in den Grundlagen artgemäss festgelegten Zustande, allerdings
noch fünf Tage vor Beginn des Blutkreislaufes in die Höhe der ersten Welle ein.
Die Entstebung des Bindegewebskernes, der Haargefässe der Zotten ist in den
ersten Anfängen. Zweifellos bewirkt die bereits durch geringgradige aber an-
dauerpde, unaufhörliche Trophoplasmaeinmischung des 2 mm Durchmesser
aufweisenden Keimlinges etwas gesteigerte Blutbildung, das hohe Nutz- und
Wuchsstoffangebot eine erhebliche periphere Wucherung und Trophoplasma-
einmischung ins mütterliche Blut. Es kommt also sicherlich zu ciner leichten
Aktivierung von Mutter und Kind, entschieden in höherem Grade, als bei einer
Befruchtung am 4.—9. Tage, wenn der Keimling sich in eine vollkomınen
ruhende Schleimhaut eingebettet hat, das Herz schon während des Anstieges
des Wellenganges pulsiert und ein reich entfaltetes Zottengefässnetz bereits
an der Entspannung der Welle teilnimmt, das Spitzenwachstum sofort von dem
Bindegewebskern und den Gefässschlingen der Zotten eingeholt wird. Zweifellos
haben die Juden ihre hohe Geschwulstdisposition — vielleicht auch einen
grösseren Bindegewebsreichtum der Eierstöcke — ihre Neigung zu Stoffwechsel-
krankheiten (Zuckerharnruhr, Fettsucht, Gicht), zu Nervenleiden, aber auch
vorteilhafte Tuberkuloseresistenz dieser durch unzählige Generationen fort-
gesetzten genau bestimmten Entwicklungsweise zu verdanken. Bucharische Juden
Zentralasiens unterscheiden sich dadurch in besonders auffälliger Weise von
den unter denselben Bedingungen lebenden Mohamedanern (Sarten, Turk-
menen, Chiwinsen), deren Koran keine derartigen Bestimmungen aufweist. Igel
haben durch eine derartige artgemäss gewordene Trophoplasmaeinmischung
aus 5—7 Fruchtsäcken eine beispiellose Giftfestigkeit erlangt. Zungen- und
Schnauzenbisse von Kreuzottern und Sandvipern haben keine Wirkung; der
Igel zermalmt den Kopf der Giftschlange und frisst sie, ebenso wie spanische
Fliegen, deren Auszug an der Haut verrieben, zehnmal so grosse Tiere tötet.
Mäuse haben ihre hohe Geschwulstempfänglichkeit durch die Entwicklung in
einem Blutbad und das Schmarotzertum an menschlichen Nahrungsmittel-
beständen erworben.
Die zweite Naturwidrigkeit der menschlichen Entwicklungsweise
ist die andauernde Samenaufsaugung nach allzuoft wiederholten Bei-
14 Alfred Greil. [13
schlafe. Die bei der Maus acht Stunden nach dem Belegakt, beim
beginnenden Zerfalle der Samenzellen eintretende enorme Einwande-
rung angelockter weisser Blutzellen legt Zeugnis vom Nutzstoffgehalt
der Entleerung ab. Jedes Säugerweibchen wehrt im Freileben das
Männchen nach erfolgter Befruchtung. Der „Kulturmensch“ hat
sogar den Beischlaf während der Geburt fertiggebracht. Das enge
Zusammenleben der Geschlechter steigert auch bei gefangenen Tieren
die Begierde. So taumelt der Kulturmensch ‚vom Begierde zum Ge-
nuss und verschmachtet im Genusse nach Begierde“. Wie alle anderen
Verrichtungen ist auch das Sexualleben eine Konstitutionsprobe, es
offenbart individuelle Unterschiede des Trieblebens der Erregbarkeit,
welche abnorme Entwicklungsbedingungen schaffen können. So ist
auch die Menstruation (Eintritt, die Dauer und Stärke der Schleim-
hautschwellung und -abscheidung, die Zwischenzeit) auch bei sonst
gesunden Menschen erheblich verschieden und gleiches gilt sicher-
lich auch für die Geschlechtstätigkeit des Mannes. Es können Wellen
von abnormer Höhe zusammentreffen, auf welche nicht nur die Ge-
schlechtszellen, sondern auch die Abscheidungen eingestellt sind,
woraus artwidrige Wachstumsförderungen des Keimlinges in kriti-
schen Perioden folgen. Das Weib kann durch übermässige Samen-
aufsaugung geradezu sterilisiert werden, verändert seine Konstitution,
das Knochenwachstum, den Gesichtsausdruck, die Stimme und
Sprache. Goethes Wort — als Mädchen nicht zurücke — wird auch
durch die Trophoplasmaeinmischung namentlich bei männlichen Föten
in unabsehbarer Weise bestätigt. Auch das Zitat — Ihr habt Ver-
nunft und braucht sie allein um tierischer als jedes Tier zu sein —
wird dadurch verständlich, dass unvernünftige Lebensweise, Ahnungs-
losigkeit der Gefährdung von Mutter und Kind durch die Schwanger-
schaftsvergiftungen ein abnormes Trieb- und Affektleben der Nach-
kommen bewirken. Das Ei bleibt nur wenige Stunden vollwertig.
Die Kulturentwicklung hat Unbeschäftigten oder körperlich
wenig Beanspruchten ein Schmarotzen an den Produkten der Nah-
rungsmittelbereitung ermöglicht, welches bei Junggeschwängerten
infolge der Einnistung eines so beispiellos wuchsfähigen Keimes ein
artwidriges Angebot schaffen kann. Dadurch kann namentlich in den
ersten drei Wochen das Keimblättergleichgewicht, die Grundlage der
ganzen Organisation durch Wucherungen des Trophoblast schwer be-
droht werden. Überimpfte gut- und bösartige Gewächse von geringer
oder höherer Wuchsfähigkeit können durch Fütterung (Hanf, Milch,
Zucker, Eier) sogar in auslesender Weise beeinflusst werden. Wie
sehr muss die menschliche Keimblase (der Trophoblast) von der
Beschaffenheit, dem Nutzstoffreichtum des benetzenden und um-
14] Keimesfürsorge. 15
spülenden mütterlichen Blutes abhängig sein, und durch ihren Ver-
brauch die Aufnahmstätigkeit der Darmwand, die Umsetzungen des
samten blutbildenden Apparates beeinflussen ! Die — früher — während
der italienischen Flitterwochen in Kaviar und Ölfischen, Eierspeisen,
Konfekt und schweren Mehlspeisen — Creme — und süssen Weinen
schwelgenden Erstgeschwängerten hatten keine Ahnung, in welche
Gefahren sie sich selbst und ihr Kind stürzten. Die Hungerblockade
hat die Schwangerschaftsvergiftungen wesentlich eingeschränkt. Es
sind aber Fälle vorgekommen, in denen, Frauen sich für die Schwanger-
schaft besondere Zubussen (Eier, Milch) zu verschaffen gewusst
haben —- sie kamen mit schweren Vergiftungen in ärztliche Be-
handlung.
Es sind Fälle N in denen Männer in der Eihölung nach
schweren Krankheiten — Typhus, Scharlach, Rotlauf — infolge des
gesteigerten Stoffumsatzes ihrer Samenbildung, der Steigerung der
Leistungsfähigkeit ihrer Samenzellen schwere Schwangerschaftsver-
giftungen verursacht haben. Auch jahreszeitliche Schwankungen
können unter Umständen beim Zusammentreffen mit anderen art-
widrigen Zufällen die Trophoblastwucherung und Trophoplasmaein-
mischung beeinflussen. Der Verlauf von Hautausschlägen una
Geisteskrankheiten deckt in sinnenfälligster Weise eine unabhängig
vom mensuellen Wellengang verlaufende Periodik auf, welche vom
Keimling in ganz anderer Weise registriert werden kann.
Ein fünfter Faktor ist die Ausschaltung der ursprünglichen
Bedingungen und Verhältnisse der geschlechtlichen Auslese: die
wahllose Paarung. Die Zucht und Pflege der Haustiere hat deren
Variabilität erheblich gesteigert, doch tritt diese Variationsbreite
weit hinter die Folgen der Kulturentwicklung zurück. Neben der
Verschiedenheit der äusseren Lebensbedingungen hat in gesunden,
nicht durch Schwangerschaftsvergiftungen belasteten Familien, die
Möglichkeit ungleicher Zellteilungen bei der Vermehrung der Ur-
geschlechtszellen beider Eltern einen unabsehbaren Einfluss aus-
geübt. Ungleiche Zellteilungen treten allenthalben bei gesteigertem
Stoffumsatz bei den verschiedensten Zellarten ein und bilden eines
der wichtigsten Mittel zum Erwerb der Ungleichheit von Gestalt, Bau
und Leistung der Gewebe. Während bei allen übrigen Geweben diese
Ungleichheiten in innigsten Wechselwirkungen die Erreichung
höherer Gesamtleistungen, des Zusammenwirkens der Teile, der Kon-
stitution bewirken, bedingen die Ungleichheiten der Ei- bzw. der
Samenzellen individuelle Verschiendenheiten der Nachkommen. Die
Keimstätten entstehen auch beim Menschen an denjenigen Orten des
T mm Embryos, welche die günstigsten Stoffwechselverhältnisse dar-
16 Alfred Greil. [16
bieten: über den mit nutzstoffreicher Nährlösung gefüllten Urnieren-
kammern genau so umstandsbedingt wie die Trophoblastwucherung
‘im umspülenden mütterlichen Blute oder die Leber am Zusammen-
flusse grosser arterielles nutzstoffreiches Blut führender Gefässe.
Bei Einlingen wie bei eineiigen Zwillingen, Drillingen oder Vierlingen,
deren Zahl erst am 8. Entwicklungstage entschieden wird — ab
hängig vom Nutzstoffangebot — kommt genau so umstandsbedingt die
Entstehung von 2 oder 8 Keimdrüsen zustande, in denen unter den
obwaltenden günstigen Stoffwechselbedingungen eine absolut gleiche
Teilung der Ur- und Vorgeschlechtszellen fast ausgeschlossen ist. Das
Eiwachstum und die Samenbildung merzt zwar unzählige nicht voll-
wertige Zellen aus. Die flinksten Samenzellen erreichen zuerst das
Ei. Wie es grosse, mittlere und kleine Blutzellen derselben Art gibt,
schlängeln sich in unter den 250000000 Samenfäden einer Ent-
leerung auch vereinzelte grosse und kleine in einer überwiegenden
Mehrheit normaler herum. Bei nervösen Menschen wurden auch
doppelköpfige und doppelschwänzige Samenzellen in grösserer
Zahl vereinzelt gefunden. Zweikernige Eizellen sind an reifen
Follikeln noch nie beobachtet worden. Es besteht die Möglichkeit,
dass geringgradige Variationen durch das Zusammentreffen
gleichsinnig abweichender Geschlechtszellen nicht ausgeglichen
sondern erhöht werden, dass mit dem Ausgleiche der geschlecht-
lichen Verschiedenheit, der Entstehung einer vollwertigen Keimzelle
auch besondere Leistungen, z. B. der Zellvermehrung, der Tropho-
plasmabildung gesteigert werden könnten. Die äussere vom mütter-
lichen Blute benetzte Keimblasenwand müsste diese Eigenart in erster
Linie offenbaren. Es erscheint jedoch vollkommen ausgeschlossen,
dass auf solche Weise unter normalem Stoffangebote der zur Ent-
stehung von Schwangerschaftsvergiftungen nötige Grad der Über-
produktion von Trophoplasma erreicht werden könne. Gröbere Ab-
weichungen, etwa Befruchtung durch zweischwänzige Samenzellen
müssten ferner auch zugleich an den inneren Gebilden der Keim-
blase, am Embryo und Dottersacke erkennbare Wirkungen ausüben.
Das Schicksal der Nachkommenschaft gesunder Geschlechtszellen
wird oft durch artwidrige Wartezeit (Spätbefruchtung) besiegelt.
Schon im Eileiter können artwidrige Entwicklungsbedingungen
(Brunst, chronische Entzündungen) herrschen, nach der Ein-
bettung kann jeder, auch vorbildlich artgemässe Keimling durch
abnormes Stoffangebot zu den schwersten Ab- und Entartungen ge-
bracht werden. Mit dieser Erkenntnis übernimmt der Arzt eine unge-
ahnte Verantwortung, deren Tragweite durch die Ablehnung der
Keimplasma- und Mosaiktheorien der Entwicklung, die Aufdeckung
16] Keimesfürsorge. 17
der durchaus umstandbedingten Erwerbsweise sämtlicher Organe, des
gesamten Formwechsels bestimmt wird. Wie die gesamte Kulturent-
wicklung der Menschheit der Erfolg des Zusammenwirkens und der
Umweltsbildungen ist, wie es in den Urmenschen keineswegs vorher-
bestimmt war, dass ihre Nachkommen alle die heutigen. Folgen des
gemeinsamen Schaffens, Denkens, Fühlens und Handelns bestimmte
Kulturauswüchse, Kultursiechtum aller Art, Kulturentartungen auf-
weisen werden — alles hätte auch ganz anders werden können —
ebenso ist das Siechtum, die Verkrüppelung des Kindes in der Keim-
zelle gesunder Eltern nicht vorherbestimmt. Nur zu oft hat Überkultur
zu günstige Lebensbedingungen Völker vernichtet; derselbe Vorgang
wiederholt sich in einem noch viel grossartigeren, doch
ebenso umstandsbedingten Werdegange binnen weniger Monate
der Keimlingsentwicklung. Die Wechselwirkungen zwischen Kultur-
und Keimesentartung sind fast unentwirrbar.
In der heutigen menschlichen Gesellschaft leben aber unzählige,
durch mütterliche, vielfach vollkommen unbeachtet gebliebene, ver-
nachlässigte Schwangerschaftsvergiftungen in ihrem gesamten Körper-
bau und den verschiedensten Verrichtungen Abgeänderte, welche bei
ihrer wahllosen Paarung Zustände offenbaren, die ihrem individuellen
Leben keineswegs hinderlich sind. Es besteht die Möglichkeit, dass
sich gleichsinnig Veränderte — Aktivierte — zusammenfinden und
durch die allzeit möglichen ungleiche Zellteilungen bei der Ge-
schlechtszellbildung neue Mannigfaltigkeit der Vereinigung des ver-
einten Wirkens der väterlichen und mütterlichen Zellorgane und
Bestandteile ergeben. So können Aktivierungen, welche zudem im
gesamten Stoffwechselapparat der Mutter gleichsinnig bestehen, er-
heblich gesteigert werden. Der mütterliche Körper wird in solchen
Fällen besonders stark auf die Trophoplasmaeinmischung reagieren
und es können sinnenfällige Schwangerschaftsvergiftungen entstehen,
welche in unbeachteten Vergiftungen der Mutter bzw. Schwieger-
mutter begründet sind. Dann kann das Kind von einer schweren
Schädigung ereilt werden, von welcher die Eltern oder Grosseltern
noch verschont geblieben sind, Mutter und Kind unfruchtbar ‚werden.
Aber auch in diesen Fällen sind dem Arzte noch nicht die Hände
gebunden. In seine Hand ist es gelegt, eine rechtzeitig erkannte
abnorme Aktivierung einzudämmen, besonders dann, wenn, der Körper-
bau der Eltern auf Überwertigkeit der Geschlech*szellen schliessen
lässt, alles zu verhindern, was den gefährdeten Keimling zu über-
mässigem Trophoblastwachstum veranlassen könnte. Mit der Er-
kennung und Verhütung der ersten Gewächse der Keimblasenwand
werden unabsehbare Folgeerscheinungen verfindert. |
Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 1. 2
18 Alfred Greil. (17
Aus den dargelegten Erkenntnissen ergeben sich folgende sozial-
bzw. vererbungshygienische Vorkehrungen:
A. Aufklärung in Schulen und Beratungsstellen, Unterweisung
von Hebammen und Pflegepersonen:
1. Über das Wesen und die Bedeutung der Menstruation.
2. Über die ersten Entwicklungsvorgänge und die Entwicklungs
bedingungen, die Gefährdung des Keimlinges als Impfgewächs.
3. Über die Notwendigkeit, die Konzeption auf die erste Woche,
höchstens die ersten 12 Tage nach Beginn der Menses zu beschränken,
völlige Enthaltsamkeit bis zum 24. Tag; dann Befruchtungsmini-
mum (2—-4%). Vermeidung übermässiger und besonders nutzstoft-
reicher Nahrung. Nahrungseinschränkung während der mensuellen
Wellen, gegebenenfalls Hungertage; Hautpflege, Schwitzbäder, Körper-
bewegung, Regelung des Stuhlganges.
4. Über das Wesen und den Erwerb der Schwangerschaftsver-
giftungen, deren erste Anzeichen (S. 4) und Vorläufer, deren Be-
deutung für Mutter und Kind.
B. Errichtung von Konstitutionsambulatorien zur
Aufdeckung und Verhütung von Konstitutionsanomalien, angeborenen
Erkrankungen und krankhaften Zuständen, zur Ermittelung in Gang
befindlicher Schwangerschaftsvergiftungen und zur Kontrolle und
Behandlung ihrer Folgeerscheinungen. Es gliedern sich daher die
Frauenabteilungen dieser Anstalten in vier Sektionen, welche bio-
chemisch geschulten Ärztinnen ein reiches Arbeitsfeld eröffnen:
I. Schwangerenuntersuchung, Führung von Personalblättern
in 4—2 wöchentlichen, während und zwischen den mensuellen
Wellen vorzunehmenden Untersuchungen mit folgender Einteilung:
1. Anamnese: Alter; Kindheit, Pubertät, Menses, frühere
Schwangerschaften, Infektionen und andere Krankheiten. Geschwister,
Eltern, mütterlicher Schwangerschafts- und Geburtsverlauf; Aszen-
denz, Kollateralen. — Letzte Menses, Kohabitationen, bisheriger
Schwangerschaftsverlauf, -beschwerden und -störungen ; Kindsbewe-
gungen, Menses.
2. Untersuchung der Genitales: Schwellungszustände des äusseren
Genitales; Uterusstand ; kindliche Herztöne, Beschaffenheit Frequenz;
Mamma.
3. Untersuchung des Körperbaues, der Körperoberfläche, allge-
meines Konstitutionsschema; Abnormitäten, Infekte.
4. Gewicht, Bandmass (Thyreoidea [Halsumfang]); Abdomen,
Wade, Knöchel), Blutdruck, Pulsfrequenz, Temperatur; Augenhinter-
grund; Nagelfalzgefässe.
18] Keimesfürsorge. 19
5. Reaktionsproben : Erb, Chvostek, Sehnenreflexe, Dermographis-
mus, Adrenalin, Amylnitrit, Thyreoidpräparate.
6. Harnprobe; Menge, spez. Gew. Reaktion; Gefrierpunkt, Sta-
lagmometrie; chemisch: Eiweiss, Zucker, Azetonkörper, Azetessig-
säure, Rest-N-, Harnstoff, Ammoniak-N-, Kreatinin, Kreatin, Indikan;
Harnsäure, Aminosäuren ; Urobilin, Urobilinogen , Trockenrückstand;
Elektrolyte. Sediment: hyaline, granulierte Zylinder, Blut.
7. Blut durch ausgiebigen Aderlass gewonnen: Blutbild: Ver-
teilungsgleichgewicht der Blutzellrassen und -arten, abnorme Zell-
formen, Jugendformen; physikalisch: spezifisches Gewicht, Kryo-
skopie, Refraktometrie, Stalagmometrie, Hämokrit, Gerinnungsge-
schwindigkeit, Leistungsfähigkeit, Senkungsgeschwindigkeit und osmo-
tische Resistenz der Blutkörperchen; chemisch: CO,-Gehalt, Globulin-
fraktion des Gesamteiweisses, Fibrinogen ; Gesamtpurine, N- der ge-
bundenen, der freien Purine; Rest-N-, Harnstoff, Harnsäuren, Amino-
säuren; Indikan, Kreatinin, Kreatin; Alkaligehalt; Zucker, Azeton-
körper, Gallensäuren, Bilirubin, Haematin, Methaemoglobin ; Lipoide;
Blutasche; Fermente; spezielle serologische Proben: Abderhalden,
Dialysier-Interferometrie, antitryptischer Titer; Kobralysə.
8. Funktionsproben: Niere: Dilutions-Konzentrationgvermögen,
Phloridzin, Jodkali, Phenolsulphonphatleinprobe; Leber: Galaktose-,
Lävulose-, Dextrosebelastung.
9. Therapeutische Ambulanz: Aderlass mit nachfolgender In-
fusion von Lockescher Lösung mit 6°/,, Jodkalizusıtz; Heissluftbäder,
Diuretika, Purgantia, Kolostrumpumpe; Seruminjektionen mit Normal-
schwangeren- oder Pferdeserum; MgSO,-, Ca Cl, Injektionen und
Ca-präparate peroral. Organotherapie (Schilddrüsen, Adrenalinprä-
parate je nach Befund), Diät: Eier-, Fleischverbot; Vegetabilien,
Gemüse, Früchte, Reis, Salzgemische, Säuerlinge. Nach Befund salz-
arme Trocken-Brei-Kost. Haferkur, Bettruhe, mensuelle Hungertage.
10. Internat für Dauerkontrolle und -behandlung leichterer Fälle.
Hochschwangere und solche mit Haematin-, Bilirubin Befund ım
Blutserum, praeeklamptischen Symptomen werden den Kliniken, Ge-
bäranstalten bzw. Sanatorien, überwiesen. Privatpflege untersagt.
I. Abteilung für Stillende und Säuglinge: postpartale Nach-
wirkungen der Vergiftungen, Beobachtung zur Zeit der mensuellen
Wellen, Gewächsmetastase;, Säuglingsblatt: Körperstatus, Länge, Ein-
holung des Geburtsgewichtes; Gewichts-, Wachstums-, Temperatur-
kurve; Gelbsucht; Funktionsstörungen; Reaktionen auf die Ernäh-
rung und heisse Bäder; Blutprobe aus Schädelsinus (Blutzellen, Ge-
rinnungsgeschwindigkeit, Globulinfraktion, Harnstoff, Harnsäure,
Kreatinin, Zucker, Gallenfarbstoff, Gallensäure, Ca, Co, evtl. Harn-
2%
20 Alfred Greil. [19
proben); Zahnen, Gehen, Sprache; körperliche, geistige Entwicklung ;
Infektionskrankheiten ; Mastitis, Genitalblutungen, Hodenschwellung.
III. Abteilung für Frauen und Kinder: Aufdeckung von Konsti-
tutionsanomalien, des Energie, Stoff- und Formwechsels, insbe-
sondere der Plasmadrüsen und des: Gefässsystemes, Geistes- und
Sinnesstörungen, Insuffizienzen, Wachstumskurve, Pubertät, präcox,
abnormes Triebleben, Gewächse.
IV. Abteilung für Nullipare und Nichtschwangere:
1. Konstitutionsschema; Körperbau, Masse, Gesicht, Schädel,
Körperoberfläche, Haut, Gefässe, Behaarung, Drüsen, Eingeweide,
Zeitpunkte, Pubertät, Menses; Gewächse.
2. Blut-, Harnproben.
3. Genitale, Mammae, Geschlechtsfunktionen.
4. Neurologisch psychiatrischer Status.
5. Familienanamnese.
Das Nulliparen- und Nichtschwangerenblatt bietet die verläss-
lichen Vergleichswerte für die Führung des Schwangerenblattes. Da-
mit schliessen sich die Kreise. Die Archive dieser Ambulatorien
werden auch für die Konstitutionsforschung von grösster Bedeu-
tung werden, nicht nur vollen Einblick in die Schwangerschafts-
veränderungen und -reaktionen ergeben, welche bisher aus Massen-
untersuchungen zu bestimmten Perioden abstrahiert werden konnten.
Lägen von den heute lebenden Kranken die Schwangerenblätter der
Mütter vor, so wäre eine breite Grundlage der Krankheitsgeschichte
gegeben. In Hinkunft wird aber die Führung dieser Protokolle
die Kontrolle der Vorkehrungen sein, um die höher strebende und
leidende Menschheit an ihrer Achillesferse zu schützen. Kliniker
aller Spezialfächer werden gegenüber den mannigfachen Erkrankungs-
möglichkeiten, angeborenen Erkrankungen und krankhaften Zu-
ständen zunächst vom Ignorabimus befreit, weil auf Grund der ent-
wicklungsdynamischen Erkenntnisse das EE synthetisch,
konstruktiv aufgebaut werden kann.
Die Errichtung der und Eheberatungs-
stellen, die Verhütung der Schwangerschaftsvergiftungen ist die
dringlichste Forderung der Volkswohlfahrtspflege, des Mit-
menschentumes. Solange dieses Grundübel nicht entwicklungs:
dynamisch aufgedeckt war und die Mosaik-Determinanten- und Keim-
plasmatheorien dem Arzte die Hände banden, ihn zum fatalistischen
resignierten Beobachter der Entfaltung krankhafter organbilden-
den Substanzen und Keimbezirke, eines „starr und unabänderlich“
gedachten in die Keimzelle hineingeheimnissten Idioplassons, einer
mystischen genotypischen Konstitution machte, konnte die Kultur-
20] . Keimesfürsorge. | 21
menschheit ahnungslos die Keimlinge unter die denkbar ungünstig-
sten, artwidrigsten Entwicklungsbedingungen versetzen, keimendes
Leben aufs schwerste schädigen und vernichten, blühende Mütter,
vollwertigen Geschlechtszellen entsprosste Embryonen dem sicheren
Tode, Föten elender Verkrüppelung, preisgeben. Ernst Häckeı
hat jene Irrlehren als „Pseudomechanik engster Perspektive‘ leider
umsonst gebrandmarkt. Ihm allein verdanken wir die.Grundlagen
der heutigen Erkenntnisse. Sie sind dem Volke unentgeltlich dar-
zustellen; die Bevölkerung muss so eindringlich aufgeklärt werden,
dass die werdenden Mütter ohne Zwang, womöglich schon vor der
Empfängnis, dankbar die Untersuchungsstätten aufsuchen, welche
ıhnen die Gewissheit verschaffen, die gewaltige Entwicklungsarbeit
unter menschenwürdigen Bedingungen zu verrichten, das keimende
Leben und ihre eigene Existenz und Arbeitsfähigkeit zu beschützen.
Unser Blick ist auf die Zukunft gerichtet. Der vollzogenen
Tatsache angeborener Geistes- und Nerven-, Blut- und Stoffwechsel-,
Sinnes- und Knochenerkrankungen, einer ererbten Veranlagung zur
Gewächsbildung gegenüber ist der Arzt machtlos. Nur eine völlige
Verkennung des Wesens der normalen und artwidrigen Entwick-
lung, der Entstehungsbedingungen der Krebskrankheit lässt Hoff-
nungen auf eine Dauerheilung erwecken. Alle biologischen und
ärztlichen Erfahrungen müssen auf die Ei-, Samen- und Fruchtbil-
dung, auf das so breite Angriffsflächen darbietende Impfgewächs
des Keimlinges angewendet werden, damit uns nicht künftige Ärzte-
generationen schwerer Unterlassungen zeihen. Der Kümmerwuchs
der Kinder von Frauen, welche trotz verabfolgter Röntgenkastrations
dosis geschwängert wurden, diese verhängnisvollen Analogien
mit der Verkrüppelung und Sterilisierung von Jungen röntgen-
bestrahlter Säuger haben Unterberger zum Mahnrufe veranlasst:
„Wehe uns, wenn uns künftige Generationen wegen Missbrauches der
Röntgenstrahlen verfluchen müssen“. Was soll man erst zu der
von einem Physiologen (Haberlandt) vorgeschlagenen „zeitweisen‘
Sterilisierung durch Einpflanzung aktivierter Eierstöcke Schwanzerer
auf Nichtschwangere oder der Einverleibung giftiger Mengen von
Lutein- oder Sperminpräparaten, Adrenalin, Cholinbasen, sagen, welche
doch den gesamten Oozytenbestand in seiner gewaltigen Energie-
speicherung schädigen! Die Ehrfurcht .vor den Errungenschaften
unserer Stammes- und Kulturdifferenzierung, der Grossartigkeit und
Wucht der so tiefgreifend umstandbedingten Keimesentwicklung, die
Ablehnung der Keimplasmatheorie verbietet es dem Arzte, seine
Hand zu solchen Kulturwidrigkeiten zu rühren. In die Hand des
Arztes ist, das Schicksal der Schwangeren, ihres Kindes, der Ge-
22 Alfred Groil, Keimesfürsorge. [21
schlechtszellen des letzteren wie der mütterlichen heranreifenden
Eizellen gelegt. Diese drückende Verantwortung verpflichtet zur
Vorlage folgenden Gesetzentwurfes zur Durchführung
der ärztlichen Schwangeren-, Keimes- und Keim-
lingsfürsorge:
$ 1. Einführung eines ärztlichen Ehe(Paarungs)konsenses. Zur
Sicherung der Erhebungen wird gefordert: a) das eidesstättige Bekennt-
nis der Konstitutionskrankheiten in der Familie — auf Grund eines
Fragebogens mit ärztlichen Erläuterungen, b) das eidesstättige Bekennt-
nis venerischer Erkrankungen, Vorlage ärztlicher Behandlungsscheine
insbesondere der Nachbehandlung bei Lues, sonstiger Infekte und
Intoxikationen, c) der Obduktionszwang auf Verlangen des 'loten-
beschauers, obligatorische Beilage ärztlicher Behandlungsscheine,
d) die Protokolle (Gesundheitsausweise) der Konstitutionsambulatorien.
& 2. Verbot der Kohabitation zwischen dem 12. und 24. Tage
eines vierwöchentlichen Normalzyklus, dem 6.—16. Tage eines drei-
wöchentlichen Zyklus.
Bä Obligatorische Schwangerenkontrolle; Zeitpunkte nach Mass-
gabe der Anordnungen des Eheberaters, des ärztlichen Ehekonsenses,
in den zu errichtenden Konstitutionsambulatorien.
8 4. Drakonische Freiheits und Geldstrafen für Paarungen
ohne ärztlichen Konsens, dessen Abschrift der Matrikel beizulegen
ist. Staatliche Unterstützungen für das Kind nur gegen Vorweis
des ärztlichen Paarungskonsenses.
8 5. Verbot der temporären Sterilisierungz nach Haberlandt
und anderen Verfahren, welche als Verbrechen gegen keimungs-
fähiges Leben zu ahnden sind.
8 6. Anmeldepflicht für Totalkastration und Fruchtabtreibung.
Beim uralten Kulturvolke der Chinesen wird der Arzt von den
Gesunden entlohnt, welche an ihrem Haustore die durchbrochene
Münze hinterlegen. Unsere Kulturdifferenzierung hat Keimesschädi-
gungen von unabsehbarer Tragweite ermöglicht, welche nur dadurch
kompensiert werden können, dass sich ein ansehnlicher "Tel der
_ Ärzteschaft der Prophylaxe widmet und die therapeutisch tätigen Kol-
legen vor dem deprimierenden non possumus bewahrt. So wird sich
allmählich ein Umschwung anbahnen, welcher uns dem vom ersten
grosszügigen Hygieniker Rudolf Virchow in tiefem ethisch-
sozialen Empfinden gesteckten Ziele näher bringt: „Nicht heilen
sondern verhüten.“ Nicht der schwer erkrankte Mitmensch, wohl
aber die höherstrebende und leidende Kulturmenschheit kann von
allen endogenen Konstitutionsfehlern, insbesondere der Krebskrank-
heit geheilt werden Mors auxilium vitae.
Die sekundären Geschlechtsmerkmale am
menschlichen Schädel.
Von
Dr. Stefanie Oppenheim, München.
Eine grosse Zahl sekundärer Geschlechtsmerkmale sind uns aus
der Zoologie bekannt. Unbekannt bleibt jedoch häufig der Zusammen-
hang mit dem Gesamtorganismus des Tieres. So sollen z. B. Katzen
mit gelb-weiss und schwarz geflecktem Fell stets weiblich sein. Die
im Reich der Insekten und Vögel stark variierende Grösse und Farbe
beider Geschlechter, die verschiedene wechselnde Grösse bei Fischen,
Amphibien und Säugern lassen sich je nach der Sexualfunktion des
einen oder andern Geschlechts deuten. Sie sind zum grossen Teil
erforscht. |
Dass die Variabilität dieser Sexualmerkmale im männlichen
Geschlecht grösser ist, ist schon Darwin gelegentlich seiner Unter-
suchung an domestizierten Tieren aufgefallen. So sollen sich z. B.
Muskelvarietäten 1/,mal häufiger bei Männern finden als bei Weibern,
vermehrte Rippenzahl 3 mal häufiger bei den Männern, ebenso ver-
mehrte Zahl der Wirbel. Ja, sogar die quantitative Häufung der
sekundären Geschlechtsmerkmale soll! im männlichen Geschlecht
grösser sein als im weiblichen. Darwin führt diess Erscheinung
darauf zurück, dass das männliche Geschlecht mehr Nahrung zu
sich nimmt, als für den Organismus des Lebewesens notwendig ist.
Neuerdings neigt man zur Ansicht, dass die physische Inanspruch-
nahme des Weibes zu Fortpflanzungszwecken und die schon mit
den Entwicklungsjahren beginnende Einstellung ihrer Physis auf
ihre Sexualaufgabe die mannigfaltige Ausbildung der sekundären
Geschlechtsmerkmale in ihrem Körperbau einschränke. Denn man
ist durch neuere Forschungen immer mehr zur Ansicht gekommen,
dass die Keimdrüsen nicht nur dem Zweck der Fortpflanzung dienen,
sondern dass sie auch noch durch innere Sekretion dem Körper Stoffe
24 Stefanie Oppenheim, [2
zuführen, die zum Aufbau des Individuum und zur Ausprägung
seines Sexualcharakters verwendet werden. Fällt die Funktion der
Keimdrüsen durch Krankheit oder durch operativen Eingriff weg,
so fehlen auch in der Regel mit dem Ausfall der Sexualfunktion die
Charakteristika des männlichen und weiblichen Habitus, es fehlen
die sekundären Geschlechtsmerkmale. |
So hat man bei Säugetieren beobachtet, dass nach Kastration
z. B. der Stier eine andere Schädelform und längere Hörner erhält,
dass. die Hinterbeine eine grössere Länge erreichen, dass bei Ebern
hingegen die Eckzähne nicht zu Hauern auswachsen, dass der
Schädel des Schafes überhaupt kleiner bleibt. Tandler und Gross
sind der Meinung, dass der Kastratenschädel der Säugetiere über-
haupt länger und breiter aber niedriger, sowie das Hirngewicht des
kastrierten Rindes geringer ist. Ja, es sind auch Versuche gemacht
worden, der Kastration die Transplantation der anders geschlechtlichen
Keimdrüsen folgen zu lassen, wonach bei beiden Geschlechtern die
äusseren Geschlechtscharaktere sich völlig in die Richtung des andern
Geschlechts verschieben. Goldtschmidt!) beschreibt in seinem
neuesten Buch ein solches von der Natur ausgeführtes Experiment,
das bisher als einziges bekannt geworden ist. Bei Zwillingsgeburten
von Kälbern nämlich ist 'es sehr selten, dass je ein normales Stier- und
Kuhkalb geboren wird. Wenn beide Individuen nicht dem gleichen
Geschlecht angehören, dann findet sich meist ein normales Stierkalb
mit einem geschlechtlich abnormen Kuhkalb, der sogenannten Zwicke
kombiniert. Denn die Zwillinge sind durch eine Blutgefässanastomose
verbunden, so dass das gleiche Blut beide durchspült. Bei dem männ-
lichen Fetus entwickelt sich der Hoden mit seiner innersekretorischen
Drüse zuerst, bevor der Eierstock des weiblichen Fetus mit der
Hormonenproduktion begonnen hat. So entwickelt sich letzterer Fetus
unter dem Einfluss der männlichen Hormone, der Eierstock differen-
ziert sich nicht weiter und alle sekundären Geschlechtscharaktere,
die noch nicht ausdifferenziert sind, entwickeln sich in männlicher
Richtung.
Beobachtungen an menschlichen Kastraten sind selbstverständ-
lich seltener: Abflachung des Hinterhauptes und Verkleinerung des
Schädels sind nach Kastration bemerkt worden. Allbekannt ist ja,
dass der Bart beim Manne wegfällt, Kehlkopf und Stimme auf der
Stufe des kindlichen Typus verbleibt.
1) Goldschmidt, R., 1920. Die quantitative Grundlage von Vererbung
und Artbildung. Berlin, Springer, Heft XXIV der „Vorträge und Aufsätze über
Entwicklungsmechanik der Organismen (herausgegeben von W. Roux) `
3] Die sekundären Gaschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 25
Auch andere körperliche Veränderungen sind eingehend studiert
worden, die beim Ausfall der Keimdrüsensekretion die Sexualmerk-
male bei Mann und Weib mehr und mehr verwischen, so dass die
beiden normalerweise differenten männlichen und weiblichen Typen
in ihrer Erscheinung sich einander nähern.
Aus dieser kurzen Darlegung geht also die grosse Rolle hervor,
die die Keimdrüsensekretion im menschlichen Organismus zu spielen
hat. Die Keimdrüsen sind also nicht nur Bildner der zukünftigen
Generation, sondern sie sind, gemeinsam mit andern Drüsen des
menschlichen Körpers der normale Ausgangspunkt der Bildung sekun-
därer Geschlechtsmerkmale.
Nur ein Teil dieser sekundären Geschlechtsmerkmale und zwar
nur derjenige, der sich am menschlichen Schädel manifestiert, soll
an dieser Stelle behandelt werden.
Sowohl am männlichen wie am weiblichen Schädel sind eine
ganze Reihe von Eigenschaften bekannt, die ihn deutlich dem einen
oder andern Geschlecht zuweisen. Selbstverständlich wird es immer
Schädel geben, deren Einreihung grosse Schwierigkeiten bereitet, weil
sie Merkmale beider Geschlechter kombiniert an sich tragen. Diese
Ausnahmen müssen vorerst beiseite gelassen werden, bis auch in
diesen Fällen Erkennungszeichen gefunden sind, die einstweilen noch
fehlen, um das Geschlecht eindeutig bestimmen zu können.
Broca, der Begründer der Pariser Schule der Anthropologie,
hat schon den Standpunkt vertreten, dass zur Beurteilung, ob ein
Schädel männlich oder weiblich sei, es der Berücksichtigung des
Gesamteindrucks bedarf, da der eine oder andere Geschlechtscharakter
im Einzelfalle geringer ausgeprägt sein oder fehlen kann. Brocas
Nachfolger Manouvrier hat im Jahre 1882 in einer Arbeit, be
titelt: „Sur la grandeur du front et des principales régions du crâne chez
l'homme et chez la femme‘‘, sein Hauptaugenmerk aut die Sexualdifte-
renz am Schädel gerichtet und nennt in seinen Untersuchungen den
männlichen Schädel einen „Typ parietal‘, den weiblichen einen „Typ
frontal“, das heisst, dass beim Manne die Scheitelgegend, bei der
Frau die Stirngegend stärker ausgebildet ist. Manouvrier kommt
überhaupt zu der Ansicht, dass der Schädel in bezug auf seine Ober-
flächenentwicklung im Verhältnis zur Basis beim Weib grösser ist
als beim Mann.
Auch Rebentisch kommt in seiner Untersuchung ‚Über den
Weiberschädel“ im Jahre 1892 zur Überzeugung, dass im Grössen-
verhältnis des Gesichts zum Gehirnschädel bei den Frauen in 360%
ein bedeutendes Überwiegen des Gehirnschädels vorliegt, bei den
Männern aber nur in 6%, und dass in 800% aller Fälle beim Manne
26 Stefanie Oppenheim. [4
dem allgemeinen Eindruck nach der Gehirnschädel gleichgross wie
der Gesichtsschädel ist. Rebentisch hat ferner, was uns hier am
meisten interessiert, die Schläfenlinien sowie die Warzenfortsätze
untersucht, resp. mit den Worten gross, mittelgross und klein, oder
sehr kräftig bis wenig kräftig ganz subjektiv eingeschätzt; er fand bei
Männern in 64% der Fälle einen grossen Warzenfortsatz, bei Frauen
nur in 180, einen kleinen hingegen in 13% bei den Männern und
in 50% bei den Frauen, mittelkräftige Schläfenlinien in 46% bei
Männern und 3800 bei Weibern, sehr kräftige in 5%0 bei Männern,
aber nur in 2% bei Weibern. In der Grösse und im Gewicht des
Unterkiefers sowohl wie im Schädelgewicht findet Rebentisch
ebenfalls deutliche Sexualverschiedenheiten, die bei europäischen
Schädeln viel mehr zutage treten als bei asiatischen. Für ihn be-
stehen also die hauptsächlichsten Unterschiede in der geringeren
Grösse des weiblichen Schädels, in der geringeren Entwicklung der
Knochenvorsprünge für die Muskelursprünge und -ansätze, im Bei-
Dehalten kindlicher Charaktere, wie geringe Entwicklung des Unter-
kiefers, besondere Gestaltung der oberen Gesichtshälfte und der Stirn
durch die geringere Ausbildung der Stirnhöhlen, im Überwiegen
des Schädeldaches über die Schädelbasis und im Bestehenbleiben der
Stirn- und Scheitelhöcker.
Paul Bartels veröffentlichte im Jahre 1897 in seiner Studie
über ‚„Geschlechtsunterschiede am Schädel“ ähnliche Resultate. Er
findet in der Regel bei den meisten Männern ein Gewicht des Unter-
kiefers, das 13—160 des Gesamtschädelgewichts ausmacht, bei den
Frauen hingegen nur 12—15%. Auch fügt er hinzu, dass das weib-
liche Gesicht in allen Dimensionen kleiner ist als das männliche.
Ein wichtiger Geschlechtscharakter ist für Bartels die Ausbildung
der Arcus superciliares, die knöchernen Augenbrauenbögen, die er
beim Manne in 950%, bei der Frau nur in 13% gefunden hat. Hin-
gegen ist nach ihm die Hinterhauptsbreite beim Weib absolut und
relativ breiter. Zahlenangaben für diese Behauptung fehlen leider.
Auch er fand starke Warzenfortsätze beim Manne in 820%, bei der
Frau nur in 2200 aller Fälle ausgebildet.
Ranke betont mit Nachdruck, dass bei den Frauenschädeln
der altbayrischen Landbevölkerung in der Querrichtung die Wölbung
des Schädeldachs die Breite der Schädelbasis weit beträchtlicher
üherragt, als das bei den männlichen Schädeln der Fall ist.
Dass das absolute Schädelgewicht des männlichen Individuum in
allen Rassen grösser ist als bei der Frau, wurde schon erwähnt.
Die Differenz zwischen den Geschlechtern ist oft recht bedeutend ;
so kann ein mittlerer Unterschied bei den Deutschen von 160 g,
5] Dıe sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel, 27
bei Aino, der Urbevölkerung Japans, von 134 g bestehen. Ähnlich
verhält es sich mit dem Gehirngewicht und dem Volum des Schädel-
innenraumes, der Kapazität. Und doch betonen Waldeyer u. a.
mit Recht, dass die Frau im Verhältnis zum Gewicht ihres Körpers
das schwerere Gehirn besitzt. Da diese Erscheinung auch beim Kinde
vorkommt, fand der Satz: „Die Frau stehe dem kindlichen Typus
näher als dem männlichen‘ Eingang in die Wissenschaft. Er besteht
etwa mit derselben Berechtigung, wie die Fundamentalgesetze der
Anthropo-Soziologie von De Lapouge, der z. B. als das „Gesetz
der Intellektuellen‘ folgenden Satz aufstellt: „Unter der Kategorie
der intellektuellen Arbeiter sind die absoluten Schädeldimensionen
insbesondere die der Schädelbreiten grösser‘. Beispiel: Bismarck,
gebildete Engländer.
Überhaupt ist die Verquickung der physischen mit den psychi-
schen Vorgängen des menschlichen Organismus lange Zeit Gegen-
stand höchsten Interesses gewesen. Nicht zum wenigsten haben die
Möbiusschen Spekulationen auf dem Gebiet der Sexualdifferenz
dazu beigetragen, einige Verwirrungen anzurichten. So sagt der Autor
in seinem „physiologischen Schwachsinn des Weibes‘: „Körperlich
genommen, ist, abgesehen von den Geschlechtsmerkmalen, das Weib
ein Mittelding zwischen Mann und Kind, und geistig ist sie es,
wenigstens in vielen Dingen auch. Im einzelnen gibt es freilich
Unterschiede. Beim Kind ist der Kopf relativ grösser als beim Manne,
beim ‘Weibe ist der Kopf nicht nur absolut, sondern auch relativ
kleiner. (Dass dies unrichtig ist, hat Verf. bereits erwähnt.) Ich finde
nicht selten bei mittelgrossen Weibern einen Kopfumfang von 51 cm.
So etwas kommt bei Männern nicht vor, die geistig normal sind,
nur bei krankhaft Schwachsinnigen, Idioten. Jene Weiber aber sind
in ihrer Art ganz gescheit.“
Fast alle diese genannten Autoren haben am Schädel die Grössen-
unterschiede zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gemacht; sie
haben die gefundenen Differenzen beschrieben anstatt berechnet,
und zwar indem sie die Merkmale vergleichsweise gegeneinander ab-
wogen. Dass diese Forschungen uns nicht sonderlich gefördert haben,
lag an der bisher gebräuchlichen Methode. Denn bis heute ist noch
keine eindeutige Bestimmung der Geschlechtmerkmale am Schädel
möglich. Es genügt z. B. nicht, anzugeben, dass das männliche Ge-
biss kräftiger, der männliche Unterkiefer grösser ist als der weib-
liche, sondern wir wollen zahlenmässig wissen, was in Wirklichkeit
charakteristisch für beide Geschlechter innerhalb der einzelnen
Rassen ist. |
28 Stefanie Oppenheim. [6
a
Nach längeren Studien an Primatenschädeln bin ich zu der An-
sicht gekommen, dass die Ausbildung der Muskulatur aus-
schlaggebend ist für verschiedene sexuelle Veränderungen am Schädel.
Um in Kürze anzudeuten, welche Veränderungen ich meine, verweise
ich auf die verschiedene Ausbildung eines männlichen und eines
weiblichen Gorillaschädels, an welchen diese Modifikationen am ekla-
tantesten in die Augen springen. Es handelt sich sowohl um die
Wirkung der Kau- als auch der Nackenmuskulatur auf den Schädel.
Die Skelettmuskulatur unseres Körpers übt bekanntlich auf das
allgemeine Knochenwachstum einen Reiz aus. Die knöcherne Unter-
lage steht also in bestimmter Korrelation zu ihrer Muskulatur. Daher
sind auch Schädel, an welchen eine kräftige Muskulatur angesetzt
hatte, was sich an den Ursprungs- und Ansatzstellen am Schädel
nachweisen lässt, weitaus schwerer als Schädel, an welchen eine
schwache Muskulatur nur geringe Muskelmarken hinterliess. Wir
erhalten einen Begriff von der Schwere und der verschiedenen Aus-
bildung der Muskulatur, wenn wir z. B. Orang-utan und Mensch
gegenüber stellen: Die Kaumuskulatur des Orang-utan wiegt im
Durchschnitt 478 g
die des Menschen nur 148 g
Die Gesamtmuskulatur des Orang-utan wiegt 14300 g
diejenige des Menschen aber 24 000 g
Die Kaumuskulatur des Orang-utan macht also 3—31/,0%
der Skelettmuskulatur aus, die menschliche Kaumuskulatur hin-
gegen nur 0,60% seiner gesamten Skelettmuskeln. Diese grossen Unter-
schiede der Muskeln des Kopfes sprechen sich deutlich aus in der
starken Knochenauflagerung eines Orangschädels gegenüber dem
reliefarmen Schädel eines Menschen.
Bei dem männlichen und weiblichen Gorillaschädel fällt folgendes
auf: Beide gehören der gleichen Rasse an. Der männliche zeichnet sich
durch starke Sagittal- und Okzipital- Knochenkämme, durch einen
grösseren Unterkiefer und dementsprechend grösseres Gebiss aus. Ferner
ist die Hinterhauptschuppe stark abgeplattet und zeigt Spuren eines
Muskelreliefs, das auf eine sehr stark ausgebildete Nackenmuskulatur
schliessen lässt. Anders beim weiblichen Schädel, wo Knochen-
auflagerungen, auch Aussenwerk genannt, völlig fehlen, das Gebiss
kleiner ist und das Hinterhaupt eine Wölbung und nur wenig Muskel-
relief zeigt. Hier haben wir zwei typische Vertreter für den Ge-
schlechtsunterschied am Schädel. Die grosse Sexualdifferenz, die
einzig durch die Ausbildung der Muskulatur hervorgerufen ist, fällt
stark in die Augen. Dass auch das Gewicht der beiden Schädel ein
7) Die sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 29
verschiedenes sein muss, wodurch ein weiteres Geschlechtsmerkmal
gegeben ist, ist klar. `
Ganz verschieden von den Vertretern der grössten Anthro-
pomorphen verhalten sich die Schädel der Schimpansen. Beide Schädel,
sowohl der männliche wie weibliche, haben infolge des gleichförmigen
Gebisses eine weit weniger sexuell differenzierte Muskulatur; es
fehlen die Knochenauflagerungen in beiden Geschlechtern gänzlich,
die Schädel sind stärker gewölbt als die der Gorilla, und sind konse-
quenterweise nahezu gleich gross und gleich schwer. Der Sexual-
charakter am Schädel ist also beim Schimpanse weit weniger aus-
geprägt als beim Gorilla. Dadurch wird die Bestimmung seiner
Zugehörigkeit zum einen oder andern Geschlecht ausserordentlich
erschwert. Auch die Schädelkapazität zeigt bei Schimpanse einen
geringeren sexuellen Unterschied als bei Gorilla.
Am menschlichen Schädel hat man bisher wenig Gewicht auf
die sexuell-differenzierte Ausbildung der Kau- und Nackenmuskulatur
gelegt. Die Beobachtungen an den Anthropomorphen führten aber
zu der Frage, ob nicht auch für die sexuelle Differenzierung des
nenschlichen Schädels die Muskulatur von Bedeutung sei. Ähn-
lich wie bei Schimpanse macht aber die Feststellung der feineren,
nicht wie bei Gorilla auf der Hand liegenden Unterschiede Schwierig
keiten, diese genau zu fixieren. Und doch lässt sich durch Messung
und Berechnung gewisser mit der Muskulatur zusammenhängender
Merkmale die sexuelle Differenzaldiagnose des menschlichen Schädels
vervollständigen. P TE TE E
Der Ausgangspunkt dieser Untersuchungen blieb, wie gesagt,
der Schädel. Zum Vergleich der Unterschiede resp. zur genaueren
Feststellung der Richtigkeit der Befunde wurden die Messungen auch
auf den Lebenden ausgedehnt, um am Kopf des Jugendlichen Wachs-
tum und Wachstumsstillstand, am Kopf des Erwachsenen die ver-
schieden starke Geschlechtsausbildung der Muskulatur zu beobachten.
Die zum Vergleich beigezogenen Lebenden bestanden aus 821
Individuen, darunter 169 deutsche Soldaten, auch 20 jüdische, ferner
127 Krankenschwestern aus zwei verschiedenen katholischen und
protestantischen Schwesternschulen, sowie 35 jüdischen; dann 192
Knaben im Alter von 15—19 Jahren aus Züricher Mittelschulen und
333 Mädchen im gleichen Alter, ebenfalls aus Züricher Mittelschulen.
An Schädeln standen mir 134, ihrem Geschlecht nach bekannt, zur
Verfügung; sie wurden in Paris im Museum des Jardin des Plantes
und im Musde Broca vor Kriegsausbruch untersucht. Es waren
Neu-Caledonier, Magyaren, Walachen, Rumänen und Franzosen.
20 Stefanie” Oppenheim. [8
Zur Beobachtung am Schädel wurden diejenigen Messpunkte ge-
wählt, die am besten über die Ausdehnung der Muskulatur, resp. über
die durch diese bedingte mehr oder weniger starke Knochenauflage-
rung am Schädel auszusagen imstande waren. Das war in erster `
Linie für die Kaumuskulatur die Distanz der beiden Lineae temporales
inferiores, die in der Gegend der Kranznaht am kleinsten zu sein
pflegt. In dieser Gegend wurde sie auch gemessen. Je höher nun der
Temporalmuskel am Schädel hinaufreicht, 1. desto grösser ist über-
haupt seine Ausdehnung, und 2. desto kleiner ist die Distanz zwischen
den beiden Messpunkten der sich gegenüber liegenden Schläfen-
muskeln. Mit anderen Worten, je niedriger die gefundene Zahl, also
je kürzer die Distanz, desto besser ist die Schläfenmuskulatur aus-
gebildet. Über die Ausbildung der anderen Kaumuskeln orientieren
uns am Gesicht die Jochbogenbreite und die Unterkieferwinkelbreite;
auch die kleinste Stirnbreite kann uns dazu verhelfen, das Gesamt-
bild zu komplettieren. Über die Nackenmuskulatur erhalten wir ein
annäherndes Bild aus der knöchernen Unterlage des Hinterhauptes.
Hier kommen besonders die Warzenfortsätze in Betracht, an denen
fünf kleine und grosse Muskeln sowohl ansetzen wie entspringen.
Mir schien die mehr oder weniger starke Ausbildung der Warzen-
fortsätze von prinzipieller Bedeutung und zwar nicht nur die grösste
Entfernung der beiden Warzenfortsätze von einander (a) (diese Linie
würde etwa der grössten Hinterhauptsbreite entsprechen), sondern
auch ihre kleinste Entfernung von einander (b), die auf den Spitzen der
beiden Warzenfortsätze zu suchen ist. Durch diese beiden Masse
und ihre relativen Werte sind wir imstande, zu erkennen, ob die
Warzenfortsätze stark oder schwach ausgebildet sind, denn je grösser
die Differenz zwischen der grössten und kleinsten Breite der Warzen-
fortsätze, desto besser ist der Warzenfortsatz des betreffenden Schädels
entwickelt. Diese Tatsache berechtigt zu dem Schluss, wie schon
vorhin gesagt wurde, dass die Muskulatur der Unterlage entsprechend
mehr oder weniger stark ist Auch die Schädellänge und -breite
wurde gemessen, war aber nur von sekundärer Bedeutung.
Beim Lebenden waren diese Masse ebenfalls deutlich abtastbar, so
dass sie zum Vergleich herangezogen werden konnten. Die Kau-
muskulatur des betreffenden Individuum wurde mittels eines harten
Stückes Brot in Tätigkeit gesetzt, und das Individuum dabei an-
gewiesen, solange tüchtig zu kauen, bis die obere Grenze des sıch
durch den Kauakt bewegenden Temporalmuskels in der Kranznaht-
gegend ermittelt war. Die Warzenfortsätze können beim Lebenden
bei erschlaffter Muskulatur deutlich durch die Weichteile abtuschiert
9] Die sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 31
und ihre Grösse sowie ihre Entfernung voneinander mittels Taster-
zirkels genau bestimmt werden.
Von der Frage nach dem Geschlecht waren aber die Fragen
nach der Rasse und dem Alter nicht zu trennen, denn je mehr sich
im Laufe der Arbeit die Fragestellung vertiefte, um so wichtiger
schien es, die Zusammenhänge dieser drei Faktoren zu untersuchen.
Der charakteristische Knochenbau trat in den einzelnen Gruppen
deutlich zutage. Aber auch der Einfluss der Schädelform war dabei
unverkennbar. Die ausgesprochen langschädeligen Neucaledonier
weichen z. B. von den anderen mehr kurzschädeligen Rassen in ver-
schiedenen Punkten stark ab; es ist dabei nicht unwahrscheinlich, `
dass die Rassenprimitivität die Sexualunterschiede in bezug auf den
Schädelcharakter stärker betont. Bei den 5 Schädelgruppen, die ich
untersuchte, ist der weibliche Längenbreitenindex höher als der
männliche. Eine Ausnahme bilden die Neucaledonier (LBJ =
ő 72,4, 2 71,0), was der Regel bei den zivilisierten Rassen und auch
meinen sonstigen Untersuchungen widerspricht. Wir finden näm-
lich auch bei Gorilla den höheren Längenbreitenindex beim muskel-
starken Männchen (& 82,4, ? 80,0), bei den muskelschwachen Hylo-
batiden hingegen das umgekehrte Verhalten (& 79,0, 9 82,0). Die
in der Regel geringere Schädellänge des Weibes ist durch die kleinere
Stirnhöhle, schwache oder fehlende Protuberantia occipitalis externa
wie überhaupt durch geringere Knochenauflagerungen in der Okzi-
pitalgegend hervorgerufen. Feinere nicht durch Beobachtung oder
Messmethoden allein genügend charakterisierte Merkmale habe ich
durch Berechnungsmethoden festzulegen versucht. Dazu benutzte
ich die in der Anthropologie gebräuchliche Methode der Berechnung
der Typendifferenz, die das gegenseitige Verhältnis zweier
Gruppen zueinander charakterisiert und deren Formel lautet D=
100 (M,—M,) S z = wobei M, den Mittelwert des einen Gruppen-
merkmals, M, den Mittelwert des andern Gruppenmerkmals, sowie
c, die stetige Abweichung des einen Mittelwertes und ø, die stetige
Abweichung des andern Mittelwertes der beiden Gruppen darstellt.
Ist das Resultat eine hohe Zahl, so ist damit der Beweis der Ver-
schiedenheit der beiden verglichenen Gruppen oder Rassen erbracht.
Ist das Resultat eine niedrige Zahl, so spricht das für eine Ähn-
lichkeit zwischen den beiden verglichenen Gruppen. Diese Formel
lässt sich übrigens ebensogut auf die beiden Geschlechter, wie auf
zwei Gruppen anwenden; ich habe sie dann nicht :Formel der per
sondern der Sexualdifferenz genannt.
32 Stefanie Oppenheim. [10
Auch das individuelle Alter muss berücksichtigt werden. Jugend-
lichen noch im Wachstum begriffenen Individuen fehlen die mar-
kanten Merkmale, alten Individuen gehen sie wieder durch physio-
logischen Knochenschwund verloren, so dass eine Orientierung über
das Alter unerlässlich ist, will man sich nicht dem Verdacht, eine
Reihe von Fehlerquellen im Verlaufe der Arbeit angesammelt zu
haben, aussetzen. Die Untersuchungen der Knaben und Mädchen
führten besonders zu interessanten Aufschlüssen, und hier zeigte
sich der grosse Wert der Berechnungen, die weder durch Beob-
achtung noch durch einfache Messung oder Indexbestimmung ersetzt
werden können. Ich benutzte hierzu die Berechnung der mittleren
_ Typendifferenzen D,, D,, .... . Dp, dividiert durch die Anzahl (p)
der Merkmale, gemäss der Formel: Dm = 1/p (D; + Də... . Dp)
= l/p3D. Ich habe für diese Berechnungen 3 Indizes, die aus
Massen des Gehirnschädels zusammengesetzt sind (Gruppe A), einer
Gruppe von 4 Indizes gegenübergestellt, die jeweils ein Mass des
Gesichts- zu einem Mass des Gehirnschädels in Beziehung (Gruppe B)
bringen. Für diese beiden Indexgruppen wurde die mittlere Typen-
differenz gesondert berechnet (vgl. S. 13 und S. 14). Die mittleren
Typendifferenzen der Indexgruppe A der 15—19 jährigen Knaben
nehmen, wie aus meiner Berechnungen hervorgeht, ständig von 80 bis
154 zu; die Differenz zwischen 16-, nahezu 18 jährigen ist geringer (sie
bertägt 72,5) als zwischen 17- und 19 jährigen (die 88,7 beträgt), a. h.
also, dass das Wachstum vermutlich im Alter von 17—19 Jahren ein
intensiveres ist als im 17. Jahr. Ähnlich ist die Zunahme in der
Indexgruppe B, vielleicht um etwas kleiner, dafür aber wie es
scheint in den einzelnen Altersstufen konstanter.
Anders bei den Mädchen, bei welchen von einer Abnahme der
Differenz mit zunehmendem Alter gesprochen werden kann (von
135 auf 80). Dass bei diesen Zahlen auch Zufälligkeiten im Spiele
sind, geht aus den Tabellen hervor; denn wir haben es nicht mit
einem homogenen Material zu tun. In den Schweizer Schulen, in
welchen diese Messungen vorgenommen wurden, sind wohl in der
Hauptsache Schweizerinnen, es finden sich aber auch einzelne Indi-
viduen englischer, russischer, jüdischer, portugiesischer und anderer
Herkunft darunter, die äusserlich akklimatisiert, dennoch ein von
der Mehrzahl der Schülerinnen auffallend verschiedenes Element
hereintragen, das nicht ohne Einfluss auf die Mittelwerte bleiben
kann. Ausserdem zeichnen sich die Schweizer nahezu durchwegs
durch schlechte Beschaffenheit des Gebisses aus, was wiederum von
Einfluss auf die Kaumuskulatur ist.
|
Wë
11] Die sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 33
Immerhin als Ganzes betrachtet, geben die Zahlen ein über-
raschendes Bild, das uns die Wachtumsverschiedenheiten während
der Entwicklungszeit, vielleicht zum ersten Male in Zahlen, wieder-
zugeben imstande ist. Es ist bekannt, dass die Entwicklungsjahre
der Mädchen früher abschliessen als die der Knaben; nicht bekannt
ist aber, dass dieser Prozess auch bis in Einzelheiten, wie es Schädel-
resp. Kopfmerkmale sind, zu verfolgen ist. Hier wird das zunehmende
Hirn- und Gesichtswachstum der Knaben durch nahezu kontinuier-
liche Zahlenzunahme, der frühe Stillstand des Schädelwachstums
der Mädchen durch Gleichmässigkeit resp. Abnahme der Zahlen-
grössen deutlich. Während also ein Wachstum des Schädels bei den
Knaben mit 19 Jahren noch nachweisbar ist, hat es bei den Mädchen
schon mit 15 Jahren seinen Abschluss gefunden.
.Irotzdem ist der Sexualcharakter am jugendlichen Kopf noch
nicht ausgeprägt. Vergleicht man nämlich den im Wachsen be-
griffenen Menschen beiderlei Geschlechts miteinander (nach der
Formel der Sexualdifferenz), so zeigt sich ein gegenüber dem Er-
wachsenen durchaus anderes Ergebnis, was in den geringeren. Zahlen-
werten der Jugendlichen deutlich zum Ausdruck kommt. Hingegen
haben die Warzenfortsätze schon von früher Jugend an eine typische
Ausprägungsform und bilden ein Erkennungszeichen für einen
männlichen oder weiblichen Schädel, weil die gefundene Differenz-
zahl schon während des Wachstums sehr hoch ist (161,5). Demnach
dürfte also die Ausbildung der Nackenmuskulatur als Kennzeichen
für den männlichen und weiblichen menschlichen Schädel von
grösserer Bedeutung sein als die Kaumuskulatur, denn die Indexwerte
für Unterkiefer- und Schläfengegendausbildung sind im Jugendalter
noch gering (zwischen 25 und 82).
Während unter den von mir untersuchten Schädelgruppen die
mittlere Typendifferenz bis auf 551 steigt, fand sich unter den er-
wachsenen Lebenden als höchste Zahl 137 im weiblichen und 99
im männlichen Geschlecht. Das ist ja auch ganz klar, denn selbst-
verständlich stehen sich nord-, süd-, west-, ost- und mitteldeutsche
Soldaten untereinander und auch diese den deutsch-jüdischen Soldaten
näher, als die Schädelgruppen untereinander, die Vertreter der
verschiedensten Rassen, wie Magyaren, Neucaledonier, Rumänen,
Walachen, Franzosen und Russen sind.
Aber diese Untersuchungen an Erwachsenen gewinnen erst an
Interesse, wenn wir die Geschlechter miteinander vergleichen. Auch
hier ist die Sexualdifferenz bei den Schädelgruppen ausgeprägter,
als bei den erwachsenen männlichen und weiblichen Deutschen.
Die Verschiedenheiten sind so auffallend, dass wir auch hier wie bei
Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. |. 3
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Die sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel.
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38 Stefanie Oppenheim, Sekundäre Geschlechtsmerkmale am menschl. Schädel. [16
Fast durchgehend beträgt der Abstand zwischen den Geschlech-
tern mit überraschender Konsequenz 6—7 Einheiten. Die absoluten
Zahlen der Lebenden sind höher um den Betrag der Hautdicken,
der Abstand aber nahezu der gleiche.
Hiermit sind also Zahlen gefunden, die ein Kriterium für den
Unterschied der Geschlechter bilden; sie geben einen Anhaltspunkt
im Zweifelfall, wenn es gilt einen Schädel als männlich oder weib-
lich zu diagnostizieren. Liegt die aus den vier gewählten Muskel-
massen gefundene Zahl bei Schädeln unter 110 resp. über 114, bei
Lebenden unter 116 resp. 123, bei Jugendlichen unter 116 resp. 118,
so haben wir es zweifellos mit einem weiblichen resp. männlichen
Schädel zu tun.
Eugenetische Lebensbeseitigung.
Von
Dr. Alexander Elster, Berlin.
Das moderne politische Geschehen, insbesondere der Weltkrieg —
die Fortschritte der biologischen Erkenntnisse — und die Arbeiten
für das neue Strafgesetzbuch — diese drei Momente sind es, die das
Problem eugenetischer Lebensbeseitigung und namentlich das krimi-
nalpolitische Problem der Abtreibung erneut in die ernste wissen-
schaftliche Debatte werfen. Der Weltkrieg, der Hekatomben der
besten, eugenetisch tüchtigsten Menschen hinweggerafft hat, lässt uns
weniger ängstlich als früher über die Vernichtung lebensunwerten
Lebens denken; die Vererbungslehre, namentlich der Mendelismus,
erhebt, bei aller hier dringend gebotenen Vorsicht, doch das Haupt
mit einem gewissen Anspruch, in bestimmten Fällen die Indikation für
Minderwertigkeit des Nasciturus geben zu können; die Bemühungen
um die Strafrechtsreform legen immer wieder die Pflicht nahe, für.
so gewichtige Dinge wie die Bestrafung der Abtreibung und die
Verkürzung eines lediglich zur absoluten Qual gewordenen Daseins
eine möglichst glückliche Lösung zu finden. Dabei ist dann immer
wieder der Hinweis auf die Tatsache geboten, dass das praktische
Leben viel rascher mit solchen Problemen fertig ‚wird als der Staat
oder die Wissenschaft. Die Abtreibungen nehmen dauernd zu, ihre
Bestrafung nimmt im Vergleich zu der Häufigkeit der vorkommenden
Fälle ab; der 8218 St.G.B. erweist sich nahezu als eine lex imperfecta;
die Technik schreitet fort und kümmert sich, je mehr sie fortschreitet,
um so weniger um rechtliche Hemmungen; und — schliesslich —
der ethische Gesichtspunkt ist viel stärker schattiert, als es nach
dem Wortlaut des Strafgesetzes den Anschein haben könnte Max
Hirsch hat durchaus recht, wenn er (in seinem Vortrag bei den
Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynä-
kologie) betonte, dass der Zeugungswille und nicht das Strafgesetz
40 Alexander Elster. E
der einzige wirkliche Regulator der Geburtenzahl ist und dass ein
Ausgleich der quantitativen Verluste der Bevölkerungsziffer nur
dadurch erreicht werden kann, dass man sich ‚endlich auf den Boden
der qualitativen Geburtenpolitik stellt. Viele denkende Ärzte haben
sich mit eindrucksvollen Gründen solcher Auffassung angeschlossen.
Der Jurist ist ebenfalls nicht mehr durchweg so engherzig und
formalistisch, dass er mit Scheuklappen nur auf den Buchstaben des
Gesetzes blickt, das wirkliche Leben abər als quantité négligeable
betrachtet. Sehr förderlich für die tiefere Einsicht in alle die
schwierigen juristisch-medizinischen Probleme ist eine neuere Schrift
von Dr. Ernst Wachtel (Bamberg) „Sonderfälle der
Fruchtabtreibung“ (Monographien zur Frauenkunde und
Eugenetik, Sexualbiologie und Vererbungslehre, herausgegeben von
Dr. Max Hirsch, Berlin, No. 3, Leipzig 1922, Verlag von Curt
Kabitzsch), auf die hier zunächst näher eingegangen ‚sei.
Der Verfasser, der Jurist ist, aber auch offenbar recht gute
Einblicke in ärztliche Probleme besitzt, setzt sich in seiner Schrift
die Aufgabe, zwischen den beiden einander diametral entgegen-
stehenden Ansichten über die strenge Bestrafung bzw. Vie Straf-
losigkeit der Fruchtabtreibung „einen Mittelweg zu finden, der den
wirklichen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen und Zuständen
unserer Zeit entspricht. Unter Zugrundelegung der Berechtigung
der Abtreibungsbestrafung soll versucht werden, die dem geltenden
Recht anhaftenden Härten dadurch zu beseitigen, dass für grosse,
bestimmte Gruppen — Sonderfälle — Straffreiheit verlangt wird.“
Ich bekenne als meine Ansicht, dass das der allein richtige Weg ist,
und muss sagen, dass dem Verfasser die Lösung! seiner Aufgabe — von
Einzelheiten des Problems abgesehen — im wesentlichen durchaus
gelungen ist. Er geht mit Recht von dem in unserem Kultur- und
Wirtschaftsleben bestehenden Widerstreit zwischen frühem Er-
wachen des Geschlechtstriebs und später Heiratsmöglichkeit aus,
weist auf die hohe Zahl der kriminellen: Aborte hin und stellt sich,
unter Abweisung entgegenstehender Ansichten, auf die Seite der-
jenigen, die für den Regelfall und grundsätzlich an der Strafbarkeit
der Abtreibung festhalten. Dem ist durchaus beizustimmen, selbst
wenn man, wie Wachtel, den Fötus nicht als Rechtsubjekt,
sondern als Rechtsobjekt, als Teil der Mutter ansieht, die katholi-
sche Seelentheorie hier ablehnt und das Recht des Fötus wesent-
lich als ein Recht der Mutter festlegt. Hierbei freilich entgeht
Wachtel nicht einigem Widerspruch mit seinen eigenen Dar-
legungen. Wenn der Naseiturus wirklich nur portio mulieris ist, dann
müsste die Schwangere selbst ein Recht, nicht etwa wie ein Selbst-
3] Eugenetische Lebensbeseitigung. 4]
mörder, wohl aber wie ein Selbstverstümmelter haben, d. h. es würde
sich nur um einen Verstoss gegen öffentlich-rechtliche Ansprüche,
nicht aber um Tötung irgendwelcher Art handeln. Wachtel darf
nicht gut die Einstellung als ‚„Tötungsdelikt“ ablehnen (S. 13)
und dann (S. 19) von der „Vernichtung eines rechtlich geschützten
Wesens, des Fötus‘‘ sprechen. Man muss vielmehr offen die Zwie-
spältigkeit des Nasciturus als eines teilweise als Subjekt teilweise
als Objekt (pars matris) zu wertendes Etwas zugeben und die straf-
rechtliche Abwehr aus den verschiedenen Erwägungen der Inte
gritätsverletzung der Mutter und der Tötung eines : werdenden
Menschen zu verstehen suchen. Richtig ist dagegen .die grundsätz-
liche Betonung auf Seite 14 des Buches: „Unter Sonderfällen der
Abtreibung sind solche Fälle zu verstehen, in denen zwar der Tat-
bestand der Abtreibung gegeben ist, Gründe aber, die eine Be-
strafung rechtfertigen würden, nicht vorhanden sind.“
Das führt auf den Kernpunkt der Frage. Solche Gründe können
Strafausschliessungsgründe sein oder auch Schuldausschliessungs-
gründe, die also ein Delikt als gar nicht vorliegend bezeichnen. Dalıin
gehört die Theorie des Notstandes, mit der sich Wachtel
eingehend, aber meines Erachtens mit unrichtigem Ergebnis
befasst. Unter anderem ist es Mittermaier, der den ärztlich
indizierten Eingriff bei der Beseitigung oder Tötung der Leibesfrucht
aus der strafrechtlichen Notstandslehre herleitet. Was Wachtel
dagegen vorbringt, überzeugt mich nicht. Im §54 St.G.B. heisst es:
„Bine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Hand
lung ausser dem Falle der Notwehr in einem unverschuldeten, auf
andere Weise nicht zu beseitigenden Notstande zur Rettung aus
einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben des Täters oder `
eines Angehörigen begangen worden ist.“ Richtig ist die Betonung
Wachtels, dass das Recht der Mutter das ‚höhere gegenüber dem
Recht des Fötus ist. Daraus aber gerade muss man entnehmen, dass
dieses Recht, wenn es zu seiner Wahrung der Beihilfe eines Arztes
bedarf, diese Beihilfe mit in die Sphäre des Rechts hereinzieht und
der Bestrafung entzieht (auch wenn der Arzt nicht — im Sinne des
854 St.G.B. — mit der Schwangeren verwandt ist!) Was Wachtel
aber insbesondere veranlasst, das Notstandsrecht nicht auf die ärzt-
liche Operation bezüglich der Leibesfrucht als anwendbar zu erachten,
ist die Forderung des $ 54, dass es sich um eine gegenwärtige
Gefahr handele. Diese sei, meint Wachtel, in der Regel, wenn es
zu einem auch gut indizierten ärztlichen Eingriff kommt, nicht
gegeben. Diese Ansicht des Verfassers halte ich für verfehlt und
stimme der von ihm abgelehnten Auffassung des Reichsgerichts durch-
42 Alexander Elster.! (4
aus zu. Nach letzterer Auffassung ist Gegenwärtigkeit der Gefahr
schon dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit des Eintritts der
Gefahr besteht, welche diese nach dem erfahrungsmässigen Verlauf
der Dinge als nahe und nicht vermeidbar erscheinen lässt (R.G.St.
Bd. 36, S. 339). In dieser Entscheidung heisst es sehr richtig u. a.,
dass „da, wo durch die Entbindung einer Schwangeren Gefahr für
Leib und Leben droht, die Gegenwärtigkeit dieser Gefahr nicht
um deswillen zu verneinen ist, weil das schädigende Ereignis — die
Entbindung — zur Zeit der Anklagetat noch nicht unmittelbar
bevorstand, und es wird darauf hingewiesen, dass da, wo Leib oder
Leben der Schwangeren bereits durch das Bestehen der Schwanger-
schaft gefährdet war, es der Annahme einer gegenwärtigen Gefahr
nicht entgegenstehe, wenn die Entbindung auch erst nach Monaten
zu erwarten sei.“ Freilich muss, wie das Reichsgericht hinzufügt,
die Beseitigung der Gefahr nicht auf andere Weise möglich sein;
denn das — möchte ich sagen — gehört als Moment zur Gegenwärtig-
keit der Gefahr. „Gegenwärtig“ ist ja nicht das gleiche wie „dring-
lich“, es ist etwas, dem man ‚entgegenzuwarten‘ hat, etwas Drohendes,
das mit grosser Wahrscheinlichkeit, aber_unbestimmt wann ein-
tritt. Durch das blosse Bestehen einer Schwangerschaft kann das
Leben der Schwangeren gegenwärtig geschädigt sein, wie die
ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts annimmt, und gegen-
wärtig ist etwas, was trotz augenblicklicher Gefahrlosigkeit „unmittel-
bar in eine Verletzung umschlagen kann“ (Ebermayer , Kommen-
tar zum Strafgesetzbuch 2. Aufl. S. 235). Das eben liegt in dem Be
griff der „Gefahr“ und Wachtel gesteht ja selbst zu (S. 26), „es
wäre ein törichtes Verlangen, wollte man fordern, dass die Operation
(Perforation) erst dann vorgenommen werden dürfte, wenn es sich
wirklich während der Geburt zeigt, dass nur auf diese Weise die
bestehende Gefahr für die Schwangere gelöst werden kann; viel-
mehr ist der Arzt berechtigt, eine Frühgeburt einzuleiten, um die
Perforation durchführen zu können, wenn die Verhältnisse die Wahr-
scheinlichkeit der Unmöglichkeit der Geburt ersehen lassen“. Über
den nun folgenden im allgemeinen sehr beifallswürdiren Ausfüh-
rungen Wachtels bleibt dieser Schatten der meines Erachtens
irrigen Auffassung über das Notstandsrecht liegen, und auch hin-
sichtlich der Stellung des Arztes als berufensten Nothelfers hätte
ich dem Verfasser mehr Wagemut im Sinne Bindings und weniger
Zaghaftigkeit nach dem Buchstaben des Gesetzes gewünscht. Der ‚Arzt,
der mit Einwilligung der Schwangeren den nach ıeigener bester Über-
zeugung indizierten Eingriff vornimmt, handelt als kunstzeübter und
um deswillen einzig möglicher Ausführender des massgeblichen
5] Eugenetische Lebensbeseitigung.“ 43
Willens der Schwangeren, derjageradedadurcherstrecht-
lich massgebend wird, dass der berufene Fachmann
die Indikation stellt!
Sehr zutreffend kritisiert dann Wachtel die Unzulänglichkeit
des Strafgesetzentwurfes von 1919 in der Abtreibungsfrage, wenn
er (S. 44) sagt: „Im Interesse einer klaren Rechtsnorm wäre es dem-
nach erwünscht gewesen, nicht bloss negativ von der Schwanger-
schaftsunterbrechung ohne Einwilligung zu sprechen, sondern auch
ausdrücklich diese Operationen für straflos zu erklären. Dass Straf-
losigkeit der Wille des Gesetzes (scil. Gesetzentwurfs) ist, auch in
den Fällen, wo die Nothilfe des § 22 nicht ausreicht, ergibt sich
wohl zweifelsfrei aus der Denkschrift zu dem Entwurf von 1919
(S. 231); aber es darf nicht vergessen werden, dass diese, wenn sie
auch amtliches Material darstellt, nie Gesetz ist und kein Richter
an sie gebunden ist.“ In dem Entwurf fehlt hier in der Tat ein wich-
tiges Glied zwischen der Bestrafung der Abtreibung als solcher und
der Bestrafung der Nothilfe gegen den Willen der Schwangeren,
und es genügt nicht, wenn die Denkschrift (S. 231), immerhin beacht-
licherweise!, sagt: „Nothilfe ist nach $ 22 Abs. 3 gegeben, wenn
die Tötung der Frucht oder des in ‘der Geburt begriffenen Kindes
unter pflichtmässiger Berücksichtigung der sich gegenüberstehenden
Interessen erfolgt, um von der Schwangeren die gegenwärtige, nicht
anders abwendbare Gefahr eines erheblichen Schadens abzuwenden,
den die Schwangere zu tragen rechtlich nicht verpflichtet ist, und
wenn die Handlung nicht gegen den Willen der Schwangeren be-
gangen wird.“
Ob unter solchem „erheblichen Schaden, den die Schwangere
zu tragen rechtlich nicht verpflichtet ist‘, gegebenenfalls auch die
Geburt lebensunwerter Kinder zu verstehen ist, steht ebenso dahin,
wie ja jegliche eugenetische Einstellung dem Entwurf in diesen
Paragraphen fremd ist — ganz abgesehen davon, dass der zitierte
Satz ja eben nur in der Denkschrift und nicht im Entwurfe selber
steht. Das neue Strafgesetz sollte sich, was Max Hirsch zum ersten
Male 1913 gefordert und begründet hat, dem eugenetischen Problem
ernstlich zuwenden — so schwierig es auch bei dem gegenwärtigen
Stande der biologischen Wissenschaft noch sein mag, mit einiger
Sicherheit vorherzusagen, was man töten wird.
Damit beschäftigen sich dann auch Wachtelg Ausführungen
weiter (S. 47 ff.), und zwar in vorzüglicher, kenntnisreicher und vor-
sichtig kritischer Art. Er betont sehr richtig, dass man sich darüber
klar sein muss, wieviel gesunde Früchte eventuell geopfert werden
müssen, um die kranken nicht zur Welt kommen zu lassen. Die
44 Alexander Elster. [6
Degenerationswahrscheinlichkeit bei syphilitischen, epileptischen,
schwachsinnigen Eltern ist gross, bei Tuberkulösen z. B. gar nicht
erheblich. Die Statistiken aus Trinkerfamilien und über die Nach-
kommen luetischer Eltern sind erschreckend, andererseits gibt es
(statistisch nicht erfassbare) Erfahrungen, nach denen von schwäch-
lichen Eltern stammende, anfangs schwächliche Kinder sehr produk-
:tive und wertvolle Glieder der menschlichen Gesellschaft und des
Staates geworden sind. Mit Recht legt auch Wachtel — wie alle
sorgsamen Beurteiler dieser Probleme — das Hauptgewicht auf die
Verhütung des Missbrauchs der eugenetischen Indikation; er kommt
zu dem Ergebnis, dass in den Einzelfällen, in denen nach Anschau-
ung der medizinischen Wissenschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit
die Geburt eines Minderwertigen zu erwarten ist, die eugenetische
Indikation gestattet sein muss, dass aber dafür neben dem Facharzt
noch ein beamteter Arzt zu hören ist.
Eine Abart der eugenetischen Indikation zur Schwangerschafts-
unterbrechung ist die sozialmedizinische bzw. unter Umständen auch
die sog. ‚rein soziale Indikation“, auf die Wachtel dann noch
im 3. Hauptteil seiner Schrift eingeht. Man kann eine solche Indi-
kation als eine eubiotische bezeichnen und sie so in die Nähe der
eugenetischen bringen, muss sich jedoch über die grundlegenden
Unterschiede klar sein. Denn Eubiotik darf hier nicht mit Wohl-
leben übersetzt werden, sondern muss auf gesundheitliches
Wohlergehen bezogen werden. Insoweit muss sich die soziale Indi-
kation der Schwangerschaftsunterbrechung entweder als sozial-
medizinische darstellen, oder sie gehört gar nicht in den
Rahmen unserer Betrachtung. Denn so sehr auch der Arzt im Einzel-
fall als Mensch und: Arzt versucht sein mag, rein sozial zu indizieren,
so muss er sich darübar klar sein, dass er damit seine Aufgaben
überschreitet — falls eben nicht das medizinische Moment dabei
eine Rolle spielt. Das wird jedoch meistens der Fall sein; denn
es wird kaum eine wirkliche Verelendung geben, die nicht auch
gesundheitlich von verderblichem Einfluss ist. So wird die sozial-
medizinische Indikation von den meisten Autoren mit Recht als ein
Teil der medizinischen dargestellt, und Wachtel erkennt dies Dinge
klar und stellt sie gut und mit überlesener Kritik dar. Seine Be
tonung, dass die sog. soziale Indikation nur yon Fall zu Fall ge
stattet sein kann, ist richtig und drückt eben dadurch schon das
ärztlich-medizinische Moment aus, während für generelle juristische
und gesetzgeberische Festlegung der. Begriff der sozialen Indikation
untauglich ist. Denn er ist überhaupt nur aus dem Gesichtspunkt
der qualitativen Bevölkerungspolitik diskutierbar und schon damit
7] Eugenetische Lebensbeseitigung. 45
ist erneut das medizinische Moment betont. Dies ist auch das Wesent-
liche bei der oben erwähnten sorgenden Frage, ob man mit einiger
Wahrscheinlichkeit sagen könne, wie wert oder unwert das
sein werde, was man durch Schwangerschaftsunterbrechung töte.
Aber auch hier ist das medizinische Moment das richtunggebende:
denn wenn man auch nicht weiss, was man vernichten wird, so weiss
man doch, was für lebende Parentes man dadurch in
ihrer Gesundheit und ihrem Zeugungswillen
schützt.
„Da der Staat heute nicht in der Lage ist, durch ausreichende
Fürsorge für die Schwangeren, Gebärenden und Kinder in Asylen,
durch Stillgelder und Erziehungsunterstützungen aller Art helfend
einzugreifen, drängt sich die Frage auf, ob es nicht Pflicht des
Staates ist, die Schwangerschaftsunterbrechung auf Grund sozialer
Indikation zu gestatten“ (Wachtel S. 62). Dieser Gedanke ist
nicht vertretbar; solange der Einzelne seine Willensfreiheit hat
und solange Tüchtigkeit und Fleiss noch in der Lage sind, des
Menschen wirtschaftliches Los zu bessern, solange kann man so
nicht mit dem Staate rechten. Nur wer krank ist, darf so denken,
und da tritt ja dann die sozialmedizinische Indikation in ihr Recht;
jener Gedanke ist also keineswegs ein Grund für die soziale Indi-
kation. Ebenso lehnt ja Max Hirsch mit Recht die rein soziale
Indikation für den Arzt ab und weist sie, wenn sie überhaupt
möglich erscheint, den Vormundschafts und Armenbehörden zu.
Es ist also meines Erachtens Wachtel nicht zuzustimmen,
wenn er die Gestattung der sozialen Indikation de lege ferenda
fordert; nur sozialhygienisch oder sozialmedizinisch — so freilich
weit und grosszügig gefasst — ist sie zu fordern.
Ganz anders ist die Pflicht des Staates zu beurteilen für die
Gestattung der Abtreibung, wenn die Schwängerung durch
ein Verbrechen (Notzucht oder dergleichen) geschah. Wachtel
stimmt in, dieser Hinsicht Spinner zu, der (in Gross’ Arch. LX)
sagt: „Die Bestrafung der Abtreibung einer durch Verbrechen er-
zeugten Frucht ist ein Rechtsmonstrum“. Ich möchte noch kräftiger
sagen: Die durch fremdes Verbrechen Geschwängerte zu zwingen,
die Frucht auszutragen, das Kind zu gebären, ist eine Barbarei
schlimmster Sorte, deren sich der Staat niemals schuldig machen
dürfte. Völlig zutreffend sagt Wachtel (S. 76): „Hat der Staat
nicht die Ausführung des Verbrechens hindern können, so muss er
wenigstens die Folgen des Verbrechens wieder gut machen.“ Das
ist eine durchaus eugenetische Forderung — von ihrer humanitären
Unerlässlichkeit ganz abgesehen. So nimmt es wunder, wenn
46 Alexander -Elster. [8
Wachtel (8. 79) hypothetisch meint, die Bedenken müssten jedoch
zurücktreten, wenn der Staat und die Gesellschaft ein wirklich grosses
Interesse an der Geburt des Kindes hätte; der Verfasser weist ja
dieses Interesse aus eugenischen Erwägungen bezüglich des Kindes
zurück; aber diese kommen doch erst in zweiter Linie hinter eugeni-
schen und humanitären Gründen bezüglich der Mutter, deren Recht
hier unbedingt vorgehen muss! — Natürlich ist auch hier alle
Vorsicht gegen Missbrauch geboten, was sich durchführen lassen
muss; insbesondere ist nicht leichthin der Tatbestand der Notzucht
anzuerkennen, wenn die Geschwängerte irgendwie willentlich bei
denı Koitus mitgewirkt hat und nur ihr Wille anders als mit Gewalt
oder Drohung gebrochen worden war. Immerhin: in den Fällen, in
denen wirklich verbrecherisch der Koitus aufgenötigt war, muss
auch die Beseitigung der Frucht erlaubt sein.
Zum Schluss seiner interessanten und beachtenswerten Schrift
fasst dann Dr. Wachtel die Ergebnisse seiner Darlegungen in
einen ausführlichen Gesetzesvorschlag zusammen, dessen wichtigste
Sätze folgendermassen lauten:
„Nicht strafbar ist der durch einen Arzt mit Einwilligung der
Schwangeren vorgenommene, die Leibesfrucht tötende Eingriff, wenn
er vom Standpunkte der ärztlichen Wissenschaft berechtigt war...
Erfolgt die Unterbrechung der Schwangerschaft, um die Geburt
eines minderwertigen Kindes zu verhüten, so kann die Indikation
hierzu nur durch einen Spezialarzt gestellt werden. Dieser hat noch
einen beamteten Facharzt zur Indikationsstellung zuzuziehen ....
Tötung der Leibesfrucht einer Schwangeren mit deren Einwilligung
ist nicht rechtswidrig, wenn gegenwärtige Lebensgefahr von der
Schwangeren auf andere Weise nicht abgewendet werden kann.“
Diese Betrachtungen über die erlaubte und unerlaubte Ver-
nichtung des keimenden Lebens wären in eugenetischer Hinsicht
unvollständig, wenn man sie nicht in eine gewisse Parallele zu dem
Problem der Euthanasie setzte. Ich will dieses andere Problem,
das Problem der Tötung dessen, der sein Leben als unwert ansieht und
auf Grund sozialmedizinischer Indikation es vorzeitig geendet zu
sehen wünscht (unheilbar Kranke oder schwerst Verwundete), hier
nicht ausführlich besprechen, möchte nur darauf hinweisen, dass
die Klärung beider Probleme — der Eugenese und der Euthanasie
— durch eine Vergleichung erleichtert wird. Auch bei der Euthanasie,
die durch die schöne Schrift von Binding und Hoche „Dio Frei-
gabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (2. Aufl. Leipzig
1922 Felix Meiner) restlos klargestellt und mit überlegenem Menschen-
tum erörtert ist, handelt es sich um eine humanitär-kulturelle, z. T.
S e —
Te _ -a
9] Eugenetische Lebensbese:tigung. 47
stark eugenische Forderung, bei der es behufs Beseitigung schwer-
wiegender Bedenken nur darauf ankommt, ebenso starke Sicherungen
gegen Missbräuche festzusetzen wie bei der Fruchttötung. Er-
leichtert wird die Entscheidung hier, weil man ziem-
lich genau wissen kann, was man tötet, die Prognose also fast absolut
gesichert werden kann, und weil das Objekt des Eingriffs zugleich
das Subjekt der Entschliessung sein kann; erschwert wird sie
andererseits dadurch, dass es sich um eine volle Menschenseele handelt
und dass die Ärzte hier mit grösserer Berechtigung als bei der
Schwangerschaftsunterbrechung das Gefühl eines „Scharfrichter-
tums“ haben, zu dem sie — die ja sonst all ihr Streben auf Erhal-
tung des Lebens richten — sich nicht herzugeben ınüssen. Aber
auch da werden Formen und Kautelen gesucht und gefunden werden
können, die diese Bedenken zu verringern oder ganz zu beseitigen
vermögen. Wenn — mit e Lilienthal — die Eugenetik „die
Sorge für die möglichst grosse Zahl möglichst gesunder Menschen“
bedeutet, so gehört — alles in allem von höherer Warte betrachtet —
die Euthanasie eng zu diesem Komplex von Problemen, der eine
gewisse einheitliche Lösung verlangt.
Wissenschaftliche Rundsehau..
Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
Rassenhygiene und Geburtenregelung. Es ist kein Zweifel:
was der V. Internationale Kongress für Geburtenregelung in London
brachte und was von der ganzen britischen Presse auch entsprechend
gewürdigt worden ist, bedeutet eine entscheidende Entwicklung in
Fragen der Geburtenhygiene, der bewussten Regelung der mensch-
lichen Fortpflanzung.
Um eines der Resultate, die der Öffentlichkeit den tiefsten Ein-
druck machten, vorweg zu nehmen: eine geschlossene Versammlung
von Ärzten, meist Mitglieder der Kgl. Britischen Medizinischen Ge-
sellschaft, fasste — mit 161 von 164 Stimmen — die folgende Reso-
lution: „Die Versammlung der Ärzte auf dem V. Internationalen
Kongress für Geburtenregelung stellt fest, dass Geburtenregelung
durch hygienische geburtenverhütende Methoden absolut zu unter-
scheiden ist von Unterbrechung der Schwangerschaft und ihren
physiologischen, rechtlichen und moralischen Erscheinungen. Der
Kongress ist der Überzeugung, dass die besten geburtenverhütenden
Methoden keineswegs der Gesundheit nachteilig sind oder zur Sterili-
tät führen. |
Ferner stellt die Medizinische Sektion des Kongresses fest,
dass sie es für eine Angelegenheit von höchster Bedeutung hält, dass
die Versorgung mit hygienischer geburtenverhütender Unterweisung
eine anerkannte Pflicht des ärztlichen Berufes wird. Diese Unter-
weisung sollte insbesondere von allen Hospitälern und öffentlichen
Gesundheitszentralen gegeben werden, an die sich die ärmsten
Klassen und diejenigen um Hilfe wenden, die durch vererbte Krank-
heiten oder sonstige Defekte leiden.“
Es kann kein Zweifel sein, dass damit in der Tat eine Bresche
gelegt ist in eine Mauer von Vorurteilen, die gerade in einer Frage
von so grundlegender Bedeutung, wie die der menschlichen Fort-
—— und Höherentwicklung, unendlich viel Schaden angerichtet
aben. | i l
Nietzsche, — neben Galton vielleicht einer der. bewuss-
testen Kämpfer für eine Aufwärtsentwicklung sagt einmal: „Das Ge-
bot: Du sollst nicht töten! ist eine Naivität im Vergleich zu dem
anderen: Du sollst nicht zeugen!“ Es beginnt erst heute als ein sitt-
liches Problem erkannt zu werden. Auch wenn nach der Erfahrung
2] Wissenschaftliche Rundschau. 49
les Weltkrieges leider niemand mehr glauben kann, dass das Gebot:
„Du sollst nicht töten“ eine „Naivität“ sei — so werden wlı
doch ernstlich Nietzsches Auffassung zustimmen, dass die Er-
kenntnis der Bedeutung der Beherrschung der menschlichen Fort-
pflanzung zu den wichtigsten Stadien in der Kulturentwicklung der
Menschheit gehört. Daher verdient es der V. Internationale Kongress
für Geburtenregelung, seinen Verlauf und die Bewegung selbst näher
ins Auge zu fassen.
Die Bewegung ging aus von der Malthusschen Lehre, dass die
Zahl der Bevölkerung in viel schnellerem Masse wachse als die Nah,
rungsmittel -— was bei ungestörtem Wachstum zu Verarmung und Not
führe. Aber anstatt sich mit einem Heiratsverbot zu begnügen und im
übrigen die Verzeihung der aus regeliosem Geschlechtsleben sich er-
gebenden Konsequenzen vertrauensvoll dem lieben Gott zu überlassen,
wie der selige Malthus es zynisch-verlegen vorschlug, -— sind die
N eummalthusianer -- (diesen Namen gab der holländische Minister
van Houten -- und die Lehre verkündeten die englischen Ärzte
Dr. Charles und George Drystale) der Meinung, dass hier die
menschliche Vernunft und Wissenschaft --- immer noch des Menschen
allerhöchste Kraft — einzusetzen habe. Aber blieb diese Lehre (für
die Männer und Frauen wie Charles Bradlaugh und Anni
Besant Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ins Gefäng-
nis gingen, was ihnen ermöglichte, in glänzenden Verteidigungsreden
vor Gericht der Welt zum erstenmal die Bedeutung dieses Kampfes
gegen die Verarmung klar zu machen), auch lange auf bestimmte iXreise
beschränkt, —- allein die Tatsache, dass in gleichem Schritt mit der
Verbreitung der Lehre auch die Kindersterblichkeit fiel -— musste
zu denken geben. Besonders sichtbar war das in Holland, wo die
Gesetze und die öffentliche Meinung gestatteten, dass von Ärzten,
insbesondere von Dr. Rutgers, geleitete Unterweisungsstätten in
hygienischer Geburtenverhütung eingerichtet wurden und die Kinder-
sterblichkeit auf ein auffallend geringes Mass herabsetzten. Denn»
diese Grundregel, die für den Eingeweihten selbstverständlich ist,
muss für den Laien immer wieder hervorgehoben werden: überall
wo die Geburtenziffer sinkt, sinkt auch die Kinder-
sterblichkeit, wächst die Zahl der Überlebenden.
Das bedeutet also, dass keineswegs — in absehbarer Zeit jeden-
falls — damit das fruchtbare Wachstum, die Entwicklung der Be-
völkerung getroffen wird, wenn an Stelle der „unfruchtbaren Frucht-
barkeit“, die wir heute in den unteren Klassen und manchen weniger
kultivierten Ländern haben mögen -— die bewusste Gestaltung der
Fortpflanzung tritt. Ä
Manche anderen Motive als die Malthus-Lehre sind im Laufe
der letzten Jahrzehnte dazu gekommen : Medizin-, Sozial- und Sexual-
wissenschaft, Eugenik, erhoben ihre Ansprüche. Dazu die trostlosen
Folgen des Krieges in den meisten Ländern, die Vermehrung der
Geschlechtskrankheiten, Unterernährung, Hungersnot. usw. helfen, um
der Bewegung eine breitere Basis zu sichern --- sie auch denen als an-
nehmbar und notwendig erscheinen zu Rassen, die Malthus gänzlich
auf sich beruhen lassen wollen.
Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 1. 4
50 Wissenschaftliche Rundschan. [3
Der IV. Internationale Kongress für (teburtenregeluung fand kurz
vor dem Kriege in Deutschland in engster Verbindung mit (der ‚„Inter-
nationalen Vereinigung für ‚Mutterschutz und Sexualreform“ statt,
deren Organ „Die Neue Generation“ ich seit siebzehn Jahren heraus-
zugeben die Freude habe. — Der V. Kongress der Bewegung findet
das englische Urgan „The New-Malthusian‘ umgewandelt in eine „Neue
Generation“ und die Organisation in eine „Neue Generationsliga" --—
wohl ein Beweis, dass zwei Bewegungen, jede in einem andern Lande
und charakteristisch für jedes dieser Länder -- doch amı Ende, durch
die Macht der allgemeinen Entwicklung gedrängt --- in eine Linie
zusammenlaufen, wenn auch Abweichungen und Besonderheiten ge-
nug bleiben mögen. Vielleicht ein kleiner Trost für die nationalisti-
sche Empfindsamkeit mancher ‘Kreise, dass hier die ,„Sieger“-Völker
auch nichts Besseres zu finden wussten als Name und Art der „Be-
siegten‘ zu akzeptieren.
Möge es eine fruchtbare zukünftige Zusammenarbeit verh. is-en !
Is wäre unpsychologisch erwarten zu wollen, dass dieser inter-
nationale Kongress, der wohl keineswegs aus lauter überzeugten Pazi-
fisten bestand, nicht. noch Spuren des vergangenen aber noch nirgends
restlos überwundenen Weltkrieges au sich getragen hätte. Das angio-
amerikanische Element herrschte in hohem Grade vor; das konti-
nentale war aus Valuta- und sonstigen Kriegsfolgegründen nur in ver-
einzelten Exemplaren aus Schweden, Deutschland und Italien vertreten.
Frankreich, das klassische Land der Geburtenregelung fehlte leider
ganz, — So dass es für das Empfinden des kontinentalen Meuschen
oft mehr ein Kongress der Anglo-Amerikaner als ein wahrhaft. inter-
nationaler im alten weltumfassenden Sinne war. Eine solche Er-
fahrnug zwingt nuwillkürlich, sich zugleich zu vergegenwärtigen.
wieviel Millionen diese anglo-amerikanische Einheit umfasst - - die
-— vereint -— den allergrössten Einfluss auf die Entwicklung der
bisher bewohnten Erde auszuüben vermöchten.
Aber -- das ist nun interessant zu beobachten --- serade in der
Frage der Geburtenregelung bestehen ausserordentlich verschiedene
Bedingungen für England und Amerika. Der alte englische bürger-
liche Freiheitsgeist hat auch hier offenbar -— trotz aller Neigung zu
sexueller Heuchelei, die man England nachsagt - eine Stätte indi-
vidueller Gewissensfreiheit gerettet in Fragen der persönlichsten
Lebensgestaltung. Wie es auch während des Krieges vor allem die
englischen Kriegsdienstgegner waren, die zu Tausenden die sitt
liche Freiheit des Gewissens — selbst der Übermacht des Staates
gegenüber -— hochhielten.
In England, insbesondere in London, werden z. B. gegenwärtig
öffentlich in Säuglingsberatungsstellen unter ärztlicher Aufsicht An-
weisungen zur Geburtenverhütung an die Mütter gegeben. In Deutsch-
land z. B. würden, fürchte ich, trotz der Not der Zeit, sich Vorwände
genug finden, um ähnlichen Unternehmungen sehr bald die Wirkungs-
möglichkeit zu nehmen. Man braucht nur an die Kreise zu denken,
die vor dem Kriege und während des Krieges in einem Gesetzentwurf
ein Verbot aller Schutzmittel forderten. Nur mit Mühe und Not
konnte seine Annahme durch eine kleine Anzahl mutiger Ärzte, die
Ze
4] Wissenschaftliche Rundschau. 5l
vor den Konsequenzen, vor allem in Hinblick auf die damit drohende
Zunahme der Geschlechtskrankheiten warnten, verbindert werden.
Ähnlich steht es in Amerika. Die Einrichtung einer solchen
Unterweisungsstelle für elende, überlastete Mütter führte zur Ver-
haftung der klaren, bewundernswert energischen ämerikanischen Vor-
kämpferin der Bewegung Mrs. Sanger in New York. Nach ihrer
Freilassung führte sie den Kampf gegen ein Gesetz, das die Dis-
kussion und Unterweisung in diesen Fragen zu verbieten schien,
mit solcher Energie weiter, dass das Interesse an diesem Problem
heute nicht nur ‘Amerika, sondern selbst Japan, China, Indien er-
füllt. Dass die Bewegung heute auch diese Länder der grössten
Geburtenzahl -- und damit der grössten Sterblichkeit — ergriffen
hat, das ist vielleicht einer der ausschlaggebendsten Faktoren für
einen Weltsieg dieser Forderung. Bisher war der stete Einwand
aller Geburtenpolitiker, die das Problenı nicht vom individuell-humani-
tären Standpunkt einer durch zu schnelle Aufeinanderfolge der Ge-
burten erschöpften Mutter, sondern vom Interesse des Staates
aus betrachten: „Wenn die alten Kulturvölker Europas ihre Kinder-
zahl beschränken, werden sie die Beute der östlichen -— kinderreichen
Völker des Ostens, der gelben Rasse werden!“
Ganz gleich, wie man zu «diesem Argument stehen mag: die
Begründung von Gesellschaften zur Geburtenregelung in; Japan, Indien
und China, das leidenschaftliche Interesse in der Presse und der
Gesellschaft dieser Länder für das Problem macht es jedenfalls un-
tauglich als Waffe gegen die Geburtenregelung aus europäisch-
nationalistischen Gründen. Der Kongress hat sich ein historisches
Verdienst erworben auch dadurch, dass dieser grosse Abschnitt der
Entwicklung klar zum allgemeinen Bewusstsein gebracht wurde.
Persönlichkeiten von anerkannter Bedeutung im geistigen Leben
Englands haben dem Kongress ihre Unterstützung geliehen: Prof.
Keynes, der Vorkämpfer gegen den Versailler Frieden war Vor-
sitzender der medizinischen Sektion, Mr. Wells,’ der bekannte
Schriftsteller und Vorkämpfer für die Abrüstung in Washington -vor
einigen Monaten leitete die öffentliche Versammlung und gab einen
Empfang in seinem Hause mit dem wundervollen Blick auf West-
ninster und die Themse -- Havelock Ellis, der geniale Sexual-
forscher war einer der Vizepräsidenten. Auf dem Bankett, das als
Jahrhundert-Gedenkfeier an Francis Place abgehalten wurde,
sprachen neben Wells und Dr. Drysdale, dem Sohn des Be-
eründer der Bewegung, Prof. Dr. Robert Michels, Basel,
Prof. Westermarck, Harald Cox und von amerikanischen
Professoren Wilberfox u. a., die besonders .den Wiederbeginn der
internationalen Zusammenarbeit begrüssten.
Diese Zusammenarbeit ist noch nicht. überall reibungslos herzu-
stellen. Das hat gerade auch dieser Kongress gezeigt, auf dem ich
in einem Referat über „Krieg und Geburtenregelung‘“ die Notwendig-
keit wahrhafter internationaler Gesinnung, die Anerkennung der
Heiligkeit des menschlichen Lebens als Grundgesetz der mensch-
lichen Gesellschaft forderte, die der Verschwendung und Vergeudung
menschlichen Lebens durch Krieg und unfruchtbare Frucht-
A8
52 Wissenschaftliche Rundschau. [5
barkeit Einhalt tun muss, wenn die menschliche Kultur nicht in
Selbstzerfleischung zugrunde gehen soll.
Aber diese Zusammenarbeit hat nun wieder begonnen -- und
die persönliche Berührung muss ohne Zweifel klärend, fördernd
wirken. Die „Nationale und Internationale Sektion“ nahm deshalb in
diesem Sinne in ihre Resolutionen die Aufforderung an alle Regie-
rungen auf, den Vorschlägen der Rassenhygiene nach dem Ausschluss
Untüchtiger von der Fortpflanzung durch Geburtenregelung Gehör
zu schenken, die Kenntnis der Geburtenverhütung besonders unter
der ärmeren Bevölkerung zu fördern, wie durch die Förderung inter-
nationaler Gesetze und Zusammenarbeit. die nationalen Rivalitäten
auszuschliessen.
Wie eng Menschen- Ökonomie und Völker- Ökonomie ver-
knüpft ist, haben einsichtige Soziologen schon vor dem Kriege wissen-
schaftlich nachzuweisen sich bemüht. Nun, wo wir alle eine so
gründliche Belehrung durch den Augenschein erfahren haben, sollte
es die gemeinsame Arbeit aller sein, die etwas von menschlicher
Kultur erwarten, dafür zu kämpfen, dass diese beiden grössten Feinde
der menschlichen Persönlichkeit: Krieg und unfruchtbare Fruchtbar-
keit -- aus der Welt geschafft werden.
Zu dieser hohen Aufgabe hat der V. Internationale Neu-
malthusianer Kongress für Geburtenregelung einen wertvollen Beitrag
geleistet — und es ist zu hoffen, dass noch manche klärende, segens-
reiche Wirksamkeit von ihm ausgeht.
Dr. Helene Stöcker, Berlin.
Sexual-hygienische Bedeutung der Prostituierten-Tuber-
kulose !). Während wir sonst bei unseren Massnahmen zur Bekämpfung
der Tuberkulose ängstlich bestrebt sind, alle Infektionsquellen zu ver-
stopfen, und eine ganz? Reihe von vorbeugenden Massnahmen vor-
schreiben, um Gesunde zu schützen, die wenn auch nur kurz vorüber-
gehend und gelegentlich in Berührung mit Tuberkulösen kommen,
sind für diejenigen, welche in irgendeine Sexualgemeinschaft mit
Tuberkulösen kommen, sei es ehelich oder ausserehelich, ganz be-
sonders durchgreifende Vorsichtsmassregeln ausgearbeitet, um eine
Übertragung der Krankheitserreger zu vermeiden.
Die gewerbsmässige Prostituierte, welche infolge des höchst er-
feichbaren Grades sexueller Promiskuität als besonders gefährlich
und auch gefährdet hinsichtlich der übertragbaren Geschlechtskrank-
heiten betrachtet werden muss, wird deshalb seit alten Zeiten durch.
Gesetzesvorschrift einer besonderen ärztlichen Präventivkontrolle
unterzogen. Die Tuberkulose ist hierbei von dem Gesetzgeber bisher
nicht berücksichtigt worden, obgleich schon im Jahre 1905 Spil-
mann-Nancy auf dem internationalen Tuberkulose-Kongress in Paris
— —— ——
1) Siehe dieses Archiv. Bd. 8. 8. 249.
6] Wissenschaftliche Rundschau. 53
die Ansicht vertreten hat, dass die Tuberkulose der Prostituierten
als 'venerische Krankheit zu betrachten sei, da nach seiner Schätzung
französischer Verhältnisse etwa 40% dieser Frauen der Tuberkulose
erliest. Es darf heute als sicher gelten, dass die Mehrzahl aller
Menschen in den grossen Städten frühzeitig in der Kindheit mit
Tuberkelbazillen infiziert wird, diese Infektion aber ohne ernstere
Erkrankung unter Zurücklassung eines gewissen Immunitätszustandes
überwindet. Dieser letztere bedingt einen gewissen Schutz, der,
wenn er durchbrochen wird, zu einer im späteren Alter auftretenden
Erkrankung führt. Gewisse Schulen neigten zu 'der Auffassung, dass
die Durchbrechung dieses Schutzes stets durch gewisse Ursachen
von innen her erfolgt: durch die aus ihrer Latenz aufgerüttelten
Krankheitserreger, also durch endogene Reinfektion. Heute
weiss man, dass neben diesem Weg eine grosse Bedeutung der exo-
genen späten Reinfektion zukommt, d. h. der Neuinfektion
von aussen her, auf deren Verhütung die Mehrzahl unserer Be-
kämpfungsmassmahmen sich aufbaut. Hierbei spielt auch die Erreger-
menge insofern eine Rolle, als relativ grosse Bazillenmengen, so-
genaunte massige Infektionen, den Ausbruch der Krankheit be-
günstigen.
Es ergibt sich, dass hier praktisch ausserordentlich u
volle Fragen von einer Reihe von Faktoren abhängig sind, welche
sich zum Teil auf das zeitliche und quantitative Eindringen der
Tuberkelbazillen in den Körepr, zum anderen Teile un den Zustand
des befallenen Organismus zur Zeit dieses Eindringens beziehen.
Ich bitte hierbei zu beachten, dass Infektion und Erkrankung als
(durchaus verschieden zu trennen sind. Verschärft werden die Vor-
bedingungen zur Erkrankung durch wiederholte Infektionen der ge-
nannten Art. Doch haben die auf exakter biologischer Tuberkulin-
reaktion basierenden Untersuchungen gezeigt, dass auch ein ein-
maliges Eindringen der Krankheitserreger in den menschlichen Körper
zu ihrer Ansiedlung genügt, und diese Ansiedlung hat sich in be-
sonders gut beobachteten Fällen auf Tag und Stunde nachweisen
lassen.
Das Problem der Tuberkuloseinfektion durch die berufsmässige
Prostituierte ist nun gerade durch den besonders innigen Kontakt im
Sexualverkehr und durch die hierbei günstigsten Bedingungen für die
Massivität der Infektion je nach Massgabe der vorhandenen Krank-
heitskeime charakterisiert. Es ist auch leicht. zu verstehen, dass es
sich bei der grossstädtischen Bevölkerung, bei welcher über 90%
bereits in der Kindheit tuberkuloseinfiziert sind, fast durchgängig
um die exogene, massige, späte Reinfektion handelt.
Begünstigend für die Tuberkuloseübertragung auf die Klientel
der Kontrollmädchen wirkt die Beschreitung aller Infektionswege,
wie sie durch die Mannigfaltigkeit und Intensität des Kontaktes
hedingt ist.
Ich brauche an dieser Stelle nicht näher auf die Bedeutung der
verschiedenen Ansteckungswege einzugehen und kann mich mit dem
Hinweise begnügen, dass sowohl der direkten Schmier- und Schmutz-
infektion als auch der Tröpfcheninfektion Tür und Tor in intensivster
E
54 Wissenschaftliche Rundschau. ` | [7
Weise geöffnet sind. Bei der oft erstaunlichen UTnsauberkeit der
Mädchen hinsichtlich ihres Körpers und ihrer Wohnung, um deren
Sanierung sich mangels Kenntnis der Erkrankungsfälle niemand
kümmert, darf auch die Staubinfektion nicht vergessen werden. Was
die eigentlichen Ansteckungsquellen der tuberkulösen Prostituierten
anbelangt, so können die verschiedensten Organe des Körpers, wofern
sie von der Krankheit befallen sind, zu einer Ausstreuung und
Übertragung der Krankheitserreger führen. Voraussetzung ist nur,
dass es sich um eine Form der Tuberkulose handelt, bei welcher die
Bazillen aus den Krankheitsherden auch an die Oberfläche und damit
auch in die Aussenwelt gelangen, also um eine sogenanute offen:
Tuberkulose.
Von sexualhygienischer Bedeutung sind hier alle diejenigen
Krankheitsherde, die im wie auch immer gearteten Sexualverkehr
die Infektion vermitteln können. Hierher gehören zunächst die
Tuberkulose der Genitalorgane, der Haut, der Mundhöhle, de:
Rachens und der Tonsille.
Allen diesen Tuberkuloseformen kommt aber praktisch eine ganz
untergeordnete Bedeutung zu, weil ihr primäres Vorkommen relativ
selten ist und ein Teil von ihnen mit einer'besonderen Bazillenarmut
einhergeht. Wir können uns daher ersparen, sie hier näher zu be-
trachten.
Die ganz überragende Bedeutung der Lungentuberkulose und
ihrer etwaigen Komplikation mit der Kehlkopftuberkulose geht aus der
zahlenmässigen Erhebung hervor, wonach in dem für die uns be-
schäftigende Frage wichtigen Alter zwischen 15 und 60 Jahren die
Tuberkulose aller anderen Organe zusammen mit 5,7% gegenüber
der Lungentuberkulose mit 93.400 steht (berechnet auf 100 Tuber-
kulosefälle in Deutschland 1907). Ä
Das ist auch der Grund, aus dem ich mich in meinem Buche über
„Prostitution und Tuberkulose“ 1) auf das Studium der TLungentuber-
tuberkulose beschränkt habe, weil mit der Erfassung der lungen-
tuberkulösen Mädchen die für die praktische Bekämpfung der Tuber-
kulose wesentliche Arbeit getan ist. Bleibt noch hinzuzufügen, dass
meine Untersuchungen hierüber sich auf die eingeschriebene Prosti-
tution in Berlin beschränken, die Ergebnisse also nicht ohne weiteres
auf die geheime, die kasernierte und die in anderen Städten sich
findende Prostitution anwendbar sind.
Über Art und Umfang der Lungentuberkulose unter den in Frage
kommenden Personen existieren exakte, auf ärztliche Untersuchungen
gegründete Angaben bisher weder in der deutschen noch in der
ausländischen Literatur, wenn auch auf die ausserordentliche sexuell-
hygienische Bedeutung dieser Dinge mehrfach kurz hingewiesen
worden ist.
Ich habe im Laufe der Jahre 1300 Mädchen auf der Untersuchungsstation
der Berliner Sitlenpolizei unter Anlage eines Krankenjournals in jedem einzelnen
Falle und unter genauester Registrierung aller Einzelheiten der Anamnese und
des Status durchuntersucht. Aus diesem grossen Material, das an anderer
Stelle klinisch und sozialmedizinisch ausführlich dargelegt ist, hebe ich hier
1) Verlag Georg Thieme, Leipzig 1921.
8] Wissenschaftliche Rundschau. 55
folgende Punkte hervor: Es fanden sich im ganzen nahezu 12% mit aktiv
tuberkulösen Krankheitserscheinungen behaftete Personen. Von diesen gehörten
beinahe drei Viertel den leichteren Stadien an, der Rest den mittelschweren und
schwersten. Von im ganzen nahezu 300 tuberkulös Frkrankten haben etwa
ein Viertel bis ein Drittel eine ansteckende Form der Lungentuberkulose. Einen
erossen Teil von diesen war dies auch aus bereits früher durchgemachten
Krankenhaus- und Heilstättenkuren bekannt. Ja, die polizeilichen Stationen
der deutschen Grossstädte kennen die Namen der kranken Mädchen genau, müssen
sie aber, wofern sie nicht an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit leiden,
weiter ungehindert ihrem Beruf nachgehen lassen.
Interessant war auch die Tatsache, dass als Infektionsquelle für die
Mädchen der lungenkranke Vater oder lungenkranke Geschwister in dem gleichen
Umfange in Frage kommen wie ein lungenkranker Ehemann oder Bräutigam,
dass also auch hier die exogene, massive, späte Reinfektion von entscheidender
Bedeutung war.
Auch die Behauptung, dass die an Tuberkulose erkrankten Mädchen durch
ihr krankes Äussere nicht mehr begehrt würden, liess sich an Hand des über-
wiegend günstigen Allgemeinzustandes in überzeugender Weise entkräften. Diese
Annahme Irifft nur für gewisse terminale Stadien der Frkrankung zu. Die
überwiegende Mehrzahl verhält sich trotz :fortschreitender und auch vor-
geschrittener häufig ansteckender Erkrankung über Jahre äusserlich relativ
gut, dem chronischen Charakter der Krankheit entsprechend. Diese bilden daher
auch hinsichtlich der Zeit ihrer Infektionsfähigkeit eine ausserordtliche Gefahr.
Auch das hauptsächlich betroffene Lebensalter zwischen 20 und 30 Jahren
entspricht dem im allgemeinen für die Krankheit am meisten gefährdeten.
Werfen wir noch kurz einen Blick auf die, wenn ich so sagen
darf, besonderen Berufsschädlichkeifen und Krankheiten, welche die
Entstehung der Tuberkulose bei den Kontrollmädchen begünstigen,
so steht an erster Stelle die ungeheuere Exposition ihres Körpers,
wie für die Geschlechtskrankheiten, so auch für die Tuberkulose.
Paralysiert wird diese Exposition bis zu einem gewissen Grade durch
die überraschend hohen Einkünfte, die eing besonders gute Ernäh-
rung ermöglichen. Ich darf auf Einzelheiten in meiner Arbeit ver-
weisen. |
Erwähnen will ich nur das beachtenswerte Ergebnis meiner
Untersuchungen, dass die Lues sich unter diesem hinsichtlich der
allgemeinen Durchseuchung einzig dastehenden Menschenmaterial als
im ganzen die Prognose die Tuberkulose nur um ein geringes ver-
schlechternd erwiesen hat, keinesfalls liess.sich ein sünstizer Ein-
fluss derselben auf die Tuberkulose nachweisen, wie dies früher von
vielen Autoren behauptet wurde.
Ebenso waren die Erhebungen über den Alkoholismus insofern
interessant, als ich nicht den Nachweis erbringen konnte, dass
dem Alkohol eine direkte, die Tuberkulose bezünstigende Wirkung
allein zukommt. Ja, es liess sich nicht ganz die Deutung von der
Hand weisen, dass die starken Säuferinnen hinsichtlich der Tuber-
kulose etwas besser gestellt sind als die Nüchternen, ein Ergebnis.
dass Bertholet, Lausanne und Orth in Berlin an ihren
Sektionsmaterial, die Leipziger Ortskrankenlkasse an ihrer Statistik
ebenfalls erhielten. Das Ergebnis ist nicht ganz eindeutig.
Die Frage ist, was kann geschehen, um der Tuberkuloseaus-
breitung durch die berufsmässige Prostitution entgegenzuwirken ?
56 Wissenschaftliche Rundschau. [9
Wenn ich hierauf zum Schluss noch eine Antwort geben darf, so
glaube ich, dass man nicht umhin können wird, die Mädchen. in irgend-
einer Form auf das Vorhandensein dieser Krankheit zu untersuchen, und
die Kranken, insbesondere die ansteckenden, durch ein Heilverfahren
vor Siechtum und Not, die Allgemeinheit vor den Folgen der Tuber-
kuloseausbreitung zu schützen. Es liegt mir fern, hier die Frage
des Reglementarismus und Abolitionismus zu berühren. Der beste
Weg liegt vielleicht in der Mitte: Loslösung der Untersuchung von
allen veralteten Polizeimassnahmen, dafür ausschliessliches Handeln
nach sexuallygienischen und medizinischen Gesichtspunkten !'.
Zwang nur da, wo den unerlässlichen Forderungen der Volksgesund-
heit bewusst zuwidergehandelt wird. Fort mit allen überflüssigen
schikanösen anstands- und ordnungspolizeilichen Vorschriften! Aber
gleich unannehmbar scheint es mir, bisher bewährte ärztliche Mass-
nahmen unter dem Eindruck der neuen Zeit in Bausch und Bogen
fallen zu lassen, besonders wenn dies aus parteipolitischen Gesichts-
punkten geschieht. Diese haben mit Volksgesundheit nichts zu tun
und müssen haltmachen vor den Krankenbetten derjenigen, die von
der grossen Volksseuche dahingerafft werden.
1. W. Samson, Berlin.
IG Kapitel IX meines Buches, wo sich detaillierte Angaben über die
Präventiv-Kontrolle tuberkulöser puellae finden.
III. Kritiken.
Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden.
Garre, Küttner, Lexer: Handbuch der praktischen Chirurgie. Be-
gründet und bearbeitet von E. von Bergmann, P. von Bruns, J. von
Mikulicz. Fünfte umgearbeite Auflage. IV. Band: Chirurgie der Wirbel-
säule und .des Beckens. Mit 347 teils farbigen Textabbildungen. Preis
geheftet 360 Mk.; in Leinwand gebunden 435 Mk. XII. 1142 S. Verlag
von Ferdinand Enke, Stuitgart 1922.
Der vorliegende Band des altberühmten Handbuches bietet dem Gynäko-
-logen reich Belehrung. Es ist nützlich, dass er diese dann und wann von Ver-
iretern anderer Fächer, der Chirurgie oder der inneren Medizin, zu erhalten
sucht. So schützt er sich vor FKinseitigkeit und Beschränkung.
Steinthal hat die Chirurgie des knöchernen Beckens geschrieben und
sagt viel Beachtenswertes : über die Beckenabzesse und ihre Wege, über die
teschwülste des Beckens, über die Unterbindung der Beckengefässe, deren
Strömungsverhältnisse durch ein Schema anschaulich gemacht werden.
Schede-Kümmel-Graff behandeln die Chirurgie der Nieren und
Harnleiter. Steeckel die der weiblichen Harnorgane. So ist Wiederholung
nicht immer zu umgehen, duch muss anerkannt werden, dass die Autoren sie auf
geringes Mass beschränken. Die Unterschungsmethoden, die Harnleiterver-
letzungen, Wanderniere, Hydro- und Pyonephrose, Nierentuberkulose, Geschwülste,
Beckennieren sind in der Hauptsache den Chirurgen zur Aufgabe gefallen.
Dem Gynäkologen blieben die reichen Abschnitte der weiblichen Harnröhre und
nd Harnblase, des Harnleiters in seinen gynäkologischen Beziehungen und der
Niere in ihren Zusammenhängen mit Schwangerschaft (Pyelitis gravidarumn, Nieren-
dekapsulation und Eklampsie, Nephrektomie und Schwangerschaft).
Ienle gibt die Chirurgie des Rückenmarks und der Wirbelsäule, Zucker
kandl die der männlichen Harnblase, Rammstedt die der männlichen
Harnröhre, Schlange die der Prostata, Bramann-Rammstedt die des
Hodens und seiner Hülle, Rammstedt die des Penis.
So bietet das Werk ein vollkommenes und geschlossenes Bill der Chirurgie
der Wirbelsäule und des Beckens, dargestellt von den besten Kennern der Sache.
Druck und Ausstattung (Papier und Abbildungen‘ sind vorzüglich und ent-
sprechen den Traditionen des Verlages. Max Hirsch, Berlin.
Maria Montessori: Mein Handbuch. Grundsätze und Anwendung meiner
neuen Methode der Selbsterziebung der Kinder. Verlag von Julius Hoffmann,
Stullgart.
Dr. Montessori schildert in ihrem „Handbuch“ die Erziehungsmethode,
wie sie in den von ihr gegründeten „Kinderheimen“ mit gutem Erfolg angewandt
wird.
"rage
65 Kritiken. [2
Man ist in «der Hygiene des Körpers durch die Ausbreitung und die
vrössere Allgemeinverständlichkeit der Wissenschaft em Riesenstück vorwärts
gekommen, während die Hygiene des Geistes bei weitem nicht mit ihr Schritt
gehalten hat. Es ist ein gesünderes und schöneres Geschlecht herangewäachsen,
aber der Geist ist durch regellose und willkürliche Erziehung von früher
Jugend an versklavt und kann nicht zu der Entfaltung kommen, die ihm seiner
Anlage nach eigentlich vorgeschrieben ist. Es ist das Ziel Dr. Montessoris.
dieser seelischen Knechtschaft des Kindes zu steuern.
Sie beginnt mit ihrer Erziehungsmethode beim zweijährigen Kinde, Die
Grundlagen für diese Methode sind in erster Linie: „Organisation «der Arbeit
und „Freiheit des Kindes. Sie gibt in ihrem Werk eine ausführliche Be:
schreibung der „Kinderheime“, die behaglich und sauber eingerichtet sind vun
wo die Kinder uneingeschränkte Alleinherrscher sind. Dieses ist „die Umwelt
des Kindes, die man ihm schafft, damit es Gelegenheit hat, seine Fähigkeiten
zu entwickeln“. -- Die Technik ihrer Methode lässt sich in drei Teile zerlegen:
l. Erziehung der Muskeln, 2 Erziehung der Sinne,
3. Sprache. j
Das sich selbst überlassene Kind macht ungeordnete Bewegungen und hält
seinen Körper niemals still. Es ist das Ziel der Muskelerziehung,
Ordnung in diese Bewegungen zu bringen und dem Kinde eine Beschäftigung
zu geben, bei der es sein Belürfnis nach Bewegung befriedigen kann und bei
der es zu den Betätigungen hingeleitel. wird, denen es zustrebt. Es lernt in
dem „Kinderheim“ vor allem sich selbst an- und ausziehen, sich alleine
waschen, den Haushalt führen, es wird mit Gartenarbeit, kleinen Handarbeiten,
Turnen, gyinnastischen Übungen usw. beschäftigt. Das Kind lernt dadurch,
sich im Gleichgewicht zu halten und seine Bewegungen miteinander in Ein-
klang zu bringen.
Während man das unbeaufsichtigte Kind seine Eindrücke durch zu-
sammenhanglose und zufällige Erfahrungen gewinnen lässt, wird das metho-
disch erzogene Kind von frühester Kindheit an an systematisches Denken
durch selbständiges Beobachten und Erfahrungen, die es sich obne äusseren
Kiınfluss erworben hat, gewöhnt. Dr. Montessori zeigt in ihrem Werk eine
grosse Anzahl photographisch dargestellter Übungen zur Erziehung der
Sinne. Das Kind muss Stäbe, Prismen, Tolztafeln, geometrische Figuren
usw. von verschiedener Länge, Dicke und Höhe in einer bestimmten Reihenfolge
ordnen, es muss bunte Farbenspulen nach Farbennüancen zusammenstellen,
es werden ihm kleine Glocken mit den Tönen der Tonleiter gegeben, die es nach
dem Gehör an die richtige Stelle zu stellen hat usw. und erhält so spielend
ein grosses Verständnis für Menge, Gleichheit, Unterschied und Abstufung
und schult unbewusst sein Denken für spätere grössere Aufgaben. Das Kind
ist bei alledem sich vollständig selbst überlassen. Die Lehrerin hat dem Kinde
die Übung zu zeigen und es bei seinen Arbeiten zu überwachen, niemals aber
einen Febler zu berichtigen, da das Ziel der Übung nicht darin besteht, dass
die Gegenstände richtig geordnet sind, sondern dass das King „sich selbst
übt“. Ein so vorbereitetes Kind lernt spielend Lesen und Schreiben, da Geist
und Hand schon lange dafür geschult sind.
Hat das Kind nach langer Übung einen Unterschied in den Eigenschaften
von Dingen erkannt, so wird ihm erst jetzt die Bezeichnung der Figen-
schaft resp. das Ding selbst in einem Wort genannt. Während die Kinder im
allgemeinen ihren Wortschatz une ihre Sprache gewissermassen „chaotisch”
gewinnen, erwirbi das so erzogene Kind die Sprache durch eigene geistige
Krwerbungen. į
Der moralische Wert dieser Erziehungsmethode ist unverkennbar. Um
den Erfordernissen ihrer geistigen Entwicklung gemäss leben zu können,
müssen sich die Kinder das, was sie dazu brauchen, mit allen Mitteln
erkämpfen. Gibt man ihnen das, was sie gebrauchen, so hört der Kampf auf,
3] Kritiken. 59
und es tritt ein Gefühl der Ruhe, Güte und Sicherheit ein. Durch Wegräumung
aller Hindernisse wird das Kind in eine Bahn gelenkt, aus der es im Vollbesitz
seiner geistigen und körperlichen Entwicklungsfähigkeit und durch Feststellung
seiner individuellen Anlagen als nützliches Mitglied der menschlichen Ge-
sellschaft hervorgeht! Kronfeld, Berlin.
Anna Kappstein: Ehekunst. Felsen-Verlag in Buchenbach, Baden 1922.
Eine lebenskluge und lebenserfahrene Frau von tiefem Gemüt spricht aus
diesem Buche zu uns, ehrend, was ihr das Leben von dem soziologisch ernstesten
Lebensproblem der Ehe erschloss. Schon «der Titel ,„Fhekunst‘“ verrät, wie
klar Verf. die Gestaltungsschwierigkeiten dieses feinempfindlichsten und doch
für die Mehrzahl der Menschen wunumgänglichsten Paktes zweier Menscheu
erkennt, wie klar sie die Vorbedingungen überschaut, «die erfüllt werden und
bleiben müssen, um die anfängliche Hochstimmung durch Jahre und Jahrzehnte
lebendig zu erhalten, soll das anfänglich oft genug blinde Teidenschaftshbegehren
nicht schneli verrauchen, sondern zu einer Freundschaft und Kameradschaft
mitumfassenden Liebesinnigkeit werden. In sorgsam gewählten Einzelkapiteln,
deren jedes ernsten Studiums wert ist, zeigt Verf. Wege und Ziele, Notwendig-
keiten und Gefahren, die beachtet oder geinieden werden müssen, wenn anders
das feinempfindliche Gebilde der Ehe nicht dauernden Schaden jeiden soll. Wie
lebenswahr, um nur eine Vorbedingung herauszugreifen, die Erkenntnis von dem
oft so unheilvollen Einfluss der lieben Verwandten mit ihren rücksichtslusen
Daueransprüchen, die besonders verhängnisvoll werden, wenn die Frau nicht
in erster Linie sich als Gattin fühlt. Mögen recht viele — Frauen wie Männer —
aus dem inhaltreichen Buche Belehrung suchen und nutzbringend im Tügendasein
verwerten. Placzek, Berlin.
Herbertv. Bomsdorf-Bergen und Uve Jens Kruse: Ein Kompass
zur Menschenerkenntnis. Felsen-Verlag in Buchenbach, Baden 1922.
Jung und Kretschmer scheinen Schule gemacht zu haben, doch
während diese noch vorsichtig tastend cine charakterologische Typenkunde
vorbereiten, glaubt Kruse, auf deren Ergebnissen fussend, schon eine Charakter.
kunde entwickeln zu können mit durchgreifenden Grundzügen in Knappster
Formel. Viel Wahres, viel Bestechendes, doch schon ein „Kompass zur Menschen:
erkenntnis?“ Verf. selbst muss von seinen Gegenpaaren: „Autobiose und Hetero:
liose, sowie Symbiose und Antibiose” erklären, dass sie wohl seelisch und
körperlich erkennbar und nachweisbar sind, doch unendlich mannigfaltig sich
mischen, und selbst bei den angeblich untrüglich beweisenden Eigenarten des
Körperbaues dürften verhänguisvolle Irrtümer nicht ausbleiben. Diese müssen
um ao zahlreicher sich einstellen, wenn ein Psyehophysiognomik von der
Phantasterei zu Hilfe genommen wird, wie sie von Bomsdorf als Er-
g£änzung liefert. Gall redivirus! Mit all den Schwächen seiner längst über
wundenen Lehre, wenn auch von Bomsdorf seine Lehre auf 20 jähriges
Studium und Erprobung stützt. Anerkennenswert ist aber des Verfassers offenes
Bekenntnis, dass die physiognomischen Male nur Mulmassungen, nie Gewiss-
heit aussprechen können, dass jedes Zeichen durch andere aufgehoben werden
kaun, daher dieser Teil des Buches beständige wache Überprüfung, also eigene
Mit- und Weiterarbeit verlangt. Ist es dann also schon ein „Kumpass zur
Menschenerkenntnis“, als den ihn Kruse bezeichnet? Zur Zeit sicherlich
noch nicht, daher nur für kritische Leser brauchbar, die aber sicherlich manel
fördernde Anregung daraus schöpfen werden. Placzek, Berlin.
Justus Thiersch: Carl Thiersch, sein Leben, Mit 4 Bildnissen. Verlag
von J. A. Barih, Leipzig 1922.
In diesem Buche, in welchem Pietät des Sohnes das Lebensbild des Vaters
zu zeichnen versucht, tritt dem Leser nicht nur eine starke Persönlichkeit
in weitem Wirkungskreise gegenüber, sondern auch ein fast 50 jähriger Aus
60 Kritiken. [4
schnitt aus dem poetischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Leben
der Zeit. Am anziehendsten sind die Abschnitte, in denen die reine Menschlich-
keit des grossen Chirurgen uns in seinen Worten und Handlungen sich zeigt.
Max Hirsch, Berlin.
Ernst Haeckel: Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die
Eltern 1852/1856. Halbleinenband 560 Mk. Verlag von K. F. Koehler, Leipzig 1921.
Es ist überaus reizvoll und belehrend, die Jugendentwicklung von Menschen
kennen zu lernen, welche auf der Höhe des Lebens durch geniale Leistungen
weit hervorragen. Besonders, wenn es sich um Menschen handelt, welche
den ihnen eingeborenen Trieb zu beobachten, zu vergleichen, zu sammeln
und zu ıwfleilen auf sich selbst und ihre eigene Entwicklung anwenden. Die
Briefe Haeckels an seine Eltern ‘gewähren einen Einblick in die Kämpfe
des Jünglings um Beruf, Religion und Weltanschauung. Man sieht mit Ver-
wunderung, wie der spätere Monist in seiner Jugend ein Mensch von tiefer
christlicher Frömmigkeit, zwar nicht im Sinne des Kirchenchristentums, wohl
aber in dem der Religion Christi gewesen ist. Man spürt auch, wie die Zu-
nahme der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zwar gewaltige innere Auf-
regungen verursacht, aber vorerst den Glauben nicht erschüttert. So sind die
Anfänge angedeutet, aus denen sich später Haeckels Weltanschauung ent-
wickelt hat. Max Hirsch, Berlin.
Münz: Die jüdischen Ärzte im Mittelalter. Fin Beitrag zur Kulturgeschichte
des Mittelalters. Verlag von J. Kauffmann, Frankfurt a. M. 1922.
Wir sprechen vom „dunklen“ Mittelalter und wollen damit seine Unwissen-
heit, seinen Aberglauben, seinen geistigen und sittlichen Tiefstand bezeichnen.
Aber nicht das Mittelalter ist dunkel, sondern unsere Kenntnisse über es sind
dunkel. Und je öfter wir hineinleuchten in seine Wesenheit, um so mehr hellt
sich das Dunkel auf, und wir sehen mit Erstaunen, dass im Mittelalter reges
geistiges Leben herrschte. Nicht nur als Mittler antiker Kultur, sondern auch
in selbständiger originaler Schöpfungsart. Es ist Sudhoffs unvergängliches
Verdienst, die Bedeutung des Mittelalters für die Naturwissenschaften durch
jahrzehntelanges Quellenstudium erkannt und dargestellt zu haben. In seinen
Spuren wandelnd hat Diepgen vor kurzem die Leistungen «des Mittelalters
für «deu Fortschritt der Medizin geschildert. Seiner Darstellung gibt das vor-
liegende Werk eine wirkungsvolle Ergänzung. Neben den Insassen der Klöster
sind jüdische Gelehrte als Übersetzer der wissenschaftlichen Werke der Araber
und Griechen Vermittler der Kultur zwischen Morgenland, Antike und Abend-
land gewesen. In fast allen Kulturstaaten standen jüdische Ärzte in einfluss-
reichen Stellungen an den Höfen der Fürsten und Prälaten, der Könige und
der Päpste. Im Orient, in Spanien, in Frankreich, Deutschland und der Türkei.
in «Polen und in Halien. Ausgezeichnet durch Sprachkenntnisse des
Hebräischen, Arabischen, Spanischen, Griechischen und Lateinischen. Tüchtig als
Übersetzer, als Praktiker und als selbständige Denker. Unter vielen anderen
seien genannt Israeli, der eine Diätetik, Maimonides, der im Auf-
trage der ägyptischen Regierung ein Werk über ‚Gifte und ihre Heilung“ ge-
schrieben bat, Gersonides, von Reuchlin und Kepler hochgeschätzt,
Amatus Lusitanus, der die Rippenresektion gemacht und die Prostata
bougiert hat usw. Auch eine „ärztliche Ethik“ des Israeli ist überliefert und
eng mit der religiösen Pflicht verbunden, wie allgemein die Heilkunde als
wichtiger Faktor der Ethik betrachtet wurde. In dem berühmten Gesetzeskoin-
pendium (Schulchan Aruch) des Joseph Karo sind die ärztlichen Pflichten er-
läutert, und im Gesetzeswerk (Mischna Thora) des Maimonides sind Lebens-
und Gesundheitsregeln zu religiösen Normen erhoben.
Erbliche Befähigung (Rudolf Virchow), psychologische und äussere
Umstände führten die Juden damals wie heute in grosser Zahl dem ärztlichen
5] Kritiken. 61
Berufe zu. Im Mittelalter trotz Anfeindung und Verfolgung durch die Kirche und
ihre Häupter, durch Predigermönche und religiöse Fanatiker.
Max Hirsch, Berlin.
Dresel: Soziale Fürsorge (Sozialhygienischer Teil): Eine Übersicht für
Studierende und sozial Tätige. Zweite neubearbeitete und vermehrte Auflage.
Verlay von J. Karger, Berlin 1922.
Das Buch hat verdientermassen seinen Weg gemacht und erscheint jetzt
in zweiter Auflage. Es ist in seinen legislatorischen Teilen den veränderten
Zeitverhältnissen angepasst. An dieser Stelle sei besonders auf die Abschnitte:
Mutterschaftsfrage, Geburtenrückgang, Prostitution, Ehezeugnisse hingewiesen.
In allen diesen und auch den anderen Fragen werden die Probleme aufgerollt.
Erschöpfende Darstellung ist nicht gegeben, auch nicht beabsichtigt. Das Buch
gibt, wie der Untertitel sagt, nur eine Übersicht. Darum kann auch die schier
unübersebbare Literatur nur in ganz wenigen Vertretern erwähnt werden.
Darin liegt für den Studierenden und sozial Tätigen. für welche es bestimmt
ist, ein Vorteil. Sie kommen an die Fragestellungen unmittelbar heran und
erhalten den Eindruck des Wesentlichen. Max Hirsch, Berlin.
Einrichtungen auf dem Gebiete der Volksgesundheits- und Volkswohl-
fahrtspflege im Freistaat Sachsen 1922. Herausgegeben vom Sächsischen
Landesgesundheitsamt. Dresden 1922.
Dieses schön ausgestattete Werk ist Festgabe des sächsischen Landes-
gesundheitsanites bei Gelegenheit der Jahrhundertfeier der (Gesellschaft Deut-
scher Naturforscher und Ärzte in Leipzig. Frauenkunde und Sexualbiologie
sind enger mit den Anfängen der Gesellschaft verbunden, als selbst Einge-
weihte wissen. Aus der chirurgisch-medizinischen Akademie zu Leipzig ist
1832 das Werk ihres ersten Leiters Seiler ‚Die Gebärmutter und das
Ei des Menschen in den ersten Schwangerschaftsmonaten' hervorgegangen,
in welchem die Veränderung des Eis von dem Platzen_des Graafschen
Follikels bis zu den Veränderungen durch die Konzeption und die Bildung
der Eihäufe geschildert wird. Ferner die Entdeckung «der Richtungskörper
der Eizelle durch Carus, sowie das bis in unsere Zeit gelesene Buch von
Amon über ‚Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege‘ und
das erste sächsische Lehrbuch der Hebammenkunst von Grenser.
In 22 Kapiteln ist zusammengefasst, was auf dem Gebiete der Volks-
gesundheits- und Volkswohlfahrtspflege in Sachsen bis 1922 geleistet worden
ist. An dieser Stelle sei besonders auf die Einrichtungen der Fürsorge für
Mütter und Säuglinge, der Kranken- und Entbindungsanstalten, der Be-
kämpfung der Krebskrankheif, der Fürsorge für Geschlechtskranke hingewiesen.
Das Werk ist ein Denkmal deutscher Kulturarbeit, ein Stolz und Trost in
schwerer Zeit. Max Hirsch, Berlin.
Otto Köhler: Der: Säugling. Seine Entwicklung, Pflege und Ernährung.
Mit Vorwort von Prof. Martin Thiemich. 11 Abb. 2. Aufl. 6 Mk. Verlag
von Hirzel, Leipzig 1921,
Das gut ausgestattete, flott und eindringlich geschriebene Büchlein ist
(durchaus empfehlenswert. Bei einer neuen Auflage könnten einige Unstimmig-
keiten beseitigt werden. (Z. B. S. 6: „Nach der Abnabelung bekonimt das Neu-
geborene sein erstes Bad“; hingegen S. 7: „Das Kind darf deshalb zunächst
nicht gebadet, sondern nur gewaschen werden.)
G. Tugendreich, Berlin.
62 Kritiken. [6
Ad. Czerny: Der Arzt als Erzieher des Kindes. 6. neu durchgesehene
Auflage. 112 S. 21 Mk. Verlag von Deuticke, Leipzig-Wien 1922.
Die bekannte weit verbreitete Schrift des Berliner Kinderarztes bedarf
keiner erneuten Empfehlung. Mit ungewöhnlich scharfer Beobachtung und auf
(rund reicher Erfahrung werden typische Charakterbilder des Kindes ge-
zeichnet, und ihre Erkennung und Behandlung in fesselndem Vortrag gescehullert.
Die ‘Pädagogik, die grossenteils leider noch immer recht gleichgültig, wenn
nicht gar ablehnend der ärztlichen Mitarbeit an Erziehungsfragen gegenüber
steht, mag aus diesem Buche ersehen, wie wertvolle Hilfe ihr der Arzt leisten
kann. Tugendreich, Berlin.
J. Rutgers: Das Sexualleben in seiner biologischen Bedeutung .als ein
Hauptfaktor der Lebensenergie für Mann und Weib, für die Pflanzen
nnd für die Tiere. Verlag von R. A. Giesecke, Dresden 1922,
Von dieser Arbeit, die aus 6 Teilen bestehen wird, sind bis nun zwei
erschienen. Diese Arbeit ist nicht nur für die Sexuologen, sondern auch für alle
Intellektuellen, die sich für diese Frage interessieren, geschrieben. Im Vorworl
wird die Absicht dieser Publikation in den folgenden Worten zum Ausdruck ge-
bracht: „Die vorliegende Arbeit ist weder eine Sexualhygiene, noch eine sexuelle
Moral; sie will erst durch eine bessere Einsicht in das Wesen des Sexuallebens
für beide einen festen Boden schaffen.‘ Weiter geht aus der Vorrede hervor,
dass nach Rutgers das Kennzeichnende des sexuellen Lebens die Hervor-
bringung einzelliger Organismen ist. Darin ist der hauptsächliche Unterschied
mit der vegetativen Entwicklung enthalten, welcher Unterschied die Ursache der
anatomischen und physiologischen Gegenstreitigkeiten ist, die psychisch den
sittichen Kampf zur Folge hat. Die erste Ablieferung ist der Anatomie ge
widmet. Im zweiten Kapitel stellt er sich die Frage, ob die Geschlechtsdrüsen
als Tumoren oder als Drüsen betrachtet werden sollen. Da nach ihm das Kenn:
zeichnende der Drüsen die Absonderung Stoffwechsels- und Degenerations-
produkte, das Kennzeichnende der Tumoren die lokale, übermässige Produktion
frischer Zellen ist, meint er, die Geschlechtsdrüsen eher als eine Art Tumoren
auffassen zu müssen, das Ovarium ganz, die Testis aber als eine Mischung
eines Tumors und Drüse, da die Ausscheidung der Zelle geschieht, wie man das
bei den Drüsen findet. Es stellt sich dann auch heraus, dass die Testes aus
der Verwachsung eines epithelialen Tumors mit dem Abscheidungssystem einer
embryonalen Drüse entstehen. Weiter bespricht er in diesem Teil die Embryo-
logie und Organochemie der Geschlechtsdifferentiation mit einem Anhang über
den Hermaphroditismus, die Bildung neuer Zellen in den Geschlechtsdrüsen, die
in den Pubertätsjahren anftritt, indem er mit einem Kapitel über die hygieni-
sche Pilege der äusseren Geschlechtsorgane endigt.
Der zweite Teil, der noch nicht ganz erschienen ist, ist «er Physiologie
gewidmet. Darin betont Rutgers, dass man die sekretorische Funktion der
tieschlechtsdrüsen nur dann verstehen kann, als man die mit der Darm- und
Nierenfunktion vergleicht. Diese drei haben grosse Verwandtschaft, werden durch
analoge Blutgefässe und Nervenstämme versorgt, sind für dieselben äusserlichen
Kınflüsse, Medikamente usw. empfindlich. Ihre enge Verwandtschaft geht auch
daraus hervor, dass bei den Fischen und Vögeln für diese drei Absonderungs
systeme nur eine Ausfuhröffnung besteht.. Danach bespricht er den Unterschied
der Absonderungsprodukte dieser Organe, wobei er darauf hinweist, dass der
Darminhalt eine Mischung ‚Abfall- und Drüsensekretionsprodukten ist, die Niere
nur Abfall, die Geschlechtsdrüsen nur Sekretionsprodukte absondert. Weiter
behandelt er den Mechanismus der drei Sekretionen. Ferner bespricht er die
Physiologie der Erektion und des Orgasmus, mit Betonung des Unterschiedes
hierin beim Mann und Weib. Danach setzt er den Zweck des sexuellen Lebens
auseinander ımd macht klar, dass neben der Fortpflanzung das sexuelle Leben
7] | Kritiken. 63
in seinen psychischen Äusserungen als Wollust und Liebe für den Menschen von
allerhöchstem Werte ist. |
In den folgenden Kapiteln behandelt er die Nachteile sexueller Enthaltsam-
keit, die Frage des Geschlechtsverkehrs in der Schwangerschaft, die materiellen
Hindernisse, die Begattung schwierig oder unmöglich machen.
Die bis jetzt erschienenen Teile sind in vielen Hinsichten sehr wichtig.
Rutgers bringt teilweise ganz neue Auffassungen ‘und versucht viel mehr als
bisher getan ist, die verschiedenen Funktionen miteinander in Zusammenhang
zu bringen und miteinander zu vergleichen. Mit Interesse kann man den
iolgenden Teilen entgegen sehen. Dr. H. C. Rogge, Berlin.
Max Hirsch: Die Gattenwahl. Ein ärztlicher Ratgeber bei der Eheschliessung.
Verlag von (!urt Kabitzseh, Leipzig 1922.
Das unter Förderung des Landesausschusses für hygienische Volksbelehrung
herausgegebene Büchlein kommt zu rechter Zeit. Wenn auch nur langsam,
so bricht sich doch allmählich die Erkenntnis immer mehr Bahn, dass die Fort-
pflanzung unseres Volkes vom Verantwortungsgefühl der Ehepartner der Nach-
kommenschaft gegenüber, d. h. von hygienischen, gesundheitlichen Massnahmen
getragen sein muss. Hirsch fasst «ie ärztlichen Erfahrungen, die in grund-
legender und mehr rein wissenschaftlicher Form in dem bekannten Senator-
Kaminerschen Werke „Krankheit und Ehe‘ wohl zum erstenmal, und zwar
hauptsächlieh für Ärzte gesammelt worden waren, in kurzen auch für den Laien
leicht fasslichen, aber nichts desto weniger eindrucksvollen Kapiteln unter Be
rücksichtigimg auch der nenesten Forschungsergebnisse zusammen und bringt
sie jedem in die Ehe eintretenden Menschenpaar als ausserordentlich nützliche
Gabe dar. Nach den einleitenden 3 Kapiteln über die Ehe (die be ener Neu-
auflage vielleicht als besondere Einleitung der übrigen Kapitel gesondert voran-
gestellt werden könnten), bespricht Hirsch kurz und treffend die für die
Vererbung, für Wohl und Wehe einer Familie wichtigsten Krankheiten, wie Ge:
schlechtskrankheiten, Tuberkulose, Erkrankungen der wichligsten Organe,
ılarunter Geisteskrankheiten, Epilepsie, Stoffwechsel- und Blutkrankheiten, Ver.
giftungen wie Alkoholismus, Morphinismus, Berufskrankheiten, die Abartungen
des Geschlechtstriebs. Den Schluss bildet ein kurzer Hinweis auf die Be-
deutung von Familientafeln, Stammbäumen, Heiratszeugnis und Eheberatung.
Nicht nur der Laie kann aus dem Büchlein viel lernen, auch dem praktischen
Arzt wird es in geeigneten Fällen ein willkommener, zur raschen Orientierung
ılienender Ratgeber sein. Westenhöfer, Berlin.
E. Kehrer: Ursachen und Behandlung der Unfruchtbarkeit nach modernen
Gesichtspunkten. Zugleich ein Beitrag zu den Störungen des sexuellen
Lebens, besonders der Dyspareunie 113. S. Verlag von Th. Steinkopff,
Dresden und Leipzig.
Es gibt Themata, die ‚in der Luft liegen‘. Das will wohl besagen, dass
eine Summe von Arbeiten und Erfahrungen vorliegt, auf Grund deren ein Gegen-
stand neu untersucht und beurteilt werden kann. Das gilt augenblicklich von der
Sterilitätsfrage. Unter anderm hat Referent in der Oberrheinischen Ge:
sellschaft für Gynäkologie und auf der Leipziger Naturforscher-Versammlung dies«
wichtige Frage behandelt und ist von dem Gedanken ausgegangen, dass viele
Unklarheiten in unserer nicht genügenden Kenntnis der Physiologie der Zeugung
ıhren Grund haben. Auch Kehrer geht in seiner ausführlichen Schrift, in der
man die meisten wichtigen Einzelheiten berücksichtigt findet, von demselben Ge-
danken aus. Er untersucht aber weniger die körperlichen, als die psychisch-
nervösen Vorgänge bei der Zeugung. Das ist ein ziemlich unsicherer Boden, weil
man ausschliesslich auf die subjektiven Angaben der ratsuchenden Frauen ange-
wiesen ist, die gerade in bezug auf geschlechtliche Dinge und bei Personen, die
"ee
64 Kritiken. [8
steril sind oder steril zu sein fürchten, nicht ohne weiteres zuverlässig er-
scheinen dürfen. Kehrer behauptet, dass die Ejakulation beim Manne möglichst
mit dem höchsten Orgasmus bei der Frau zusammentreffen muss, wenn der Bei-
schlaf fruchtbar sein soll; er entwirft von dem völligen, mangelhaften oder
mangelnden Zusammentreffen Kurven und beurteilt danach die Konzeptions-
aussichten. Das ist schwer zu prüfen und im übrigen -— die graphische Dar.
stellung abgerechnet — nicht neu. So sagt (1859) Eichstedt in seinem Anf-
satz über Zeugung: „Beim Weibe erreicht das Wollustgefühl ebenso wie beim.
Manne seinen Gipfel“, es hält über ‘den Moment der Ejakulation an; der Koitus
bewirkt (worauf Eichstedt mit Recht hinweisti eine erhebliche Form:
veränderung der Gebärmutter, wobei „durch denselben auch das Weib den
Gipfel des Wollustgefühls erreicht.“ —- Das Ausbleiben in «der Koinzidenz des
beiderseitigen Orgasmus ist nach Kehrer das Wesen der lyspareunie des
Weibes, unter welchen Begriff er alle Störungen der Vita sexualis zusammen-
gefasst. Monate- und jahrelanges Fehlen des Orgasmus soll eine Ursache mannig-
faltiger pathologischer Störungen der Beekenorgane, vasomotorischer Beschwerden
und psychischer Erscheinungen sein. Kine Schwängerung ist dann zwar nich!
ausgeschlossen, aber erschwert, und ausgeschlossen, wenn anatomische oder
physiologische Konzeptionsbehinderung dazu kommt. Beweisendes Beobachtungs-
material bringt Kehrer nicht bei, weshalb seine Behauptung, 70°. aller Frauen,
die gynäkologischen Rat einholen, litten unter Dyspareunie, nicht überzeugend
wirkt. Er nimmt als die häufigsten Formen an: völlige geschlechtliche Anästhesie,
Herabsetzung der Libido, Ausbleiben der Voluptas, des Orgasmus während der
Ejakulation, Ursachen der Dyspareunie können psychische Einflüsse sein, so
Psychasthenie, Angst vor Schwangerschaft, Infektion, vor Schmerzen, Aver
sionen, sadistische, homosexuelle Neigungen u. a. m. — Bei der kurz abze:
handelten Ätiologie der männlichen Sterilität nimmt Kehrer 30—40°.« aller
Fälle, die meist auf Gonorrhöe beruhen, in Anspruch, was nach neueren Erfah:
rungen zu hoch gegriffen ist. Die anatomischen Ursachen der weiblichen Steri-
lität sind übersichtlich aufgeführt. Bei den Stenosen behauptet Kehrer, sie
kämen häufiger am inneren als am äusseren Muttermund vor, zur Unfracht:
keit führten sie aber erst, wenn die Dyspareunie mit ihren Folgezuständen lang-
lauernder sexueller Blut- und I,ymphüberfüllung hinzukommt. — Auffällig sind
Kehrers Auseinandersetzungen betreffs der Frage Sterilität und Uterusmyom:
ın der Mehrzahl aller Fälle sollen beide koordinierte Folgen einer mehrjährigen
schweren Störung der Vita sexualis sein, ja es soll sogar möglich sein, auf Grund
(ler Grösse eines Myoms die Zeitdauer der Dyspareunie genau zu bestimmen.
Es erscheint erklärlich, wenn Kehrer hinsichtlich der Behebung der
Sterilität der sexuologischen Aufklärung und Psychotherapie das Wort. redet.
Kine Vorbereitung auf (en sexuellen Akt ist nötig — körperliche und geistige Scho-
nung, Musik, Anregung der Phantasie -—- wünschenswert sexuelle Liebe und Har-
monie, wobet eine „Selbsthilfe“ beim unvollständigen Zusammentreffen der Orgas-
men empfohlen wird. Der Akt soll nur erfolgen, wenn sich die erotische Bereitschaft
durch äussere Benetzung bei Frau und Mann zuvor bemerkbar gemacht hat.
Gilt es, die Libido anzuregen, so kann der Kongressus in Seitenlage oder in
anderer Stellung succubus versucht werden. Vor Massage, Klitorisreizung,
Aphrodisiacis wird gewarnt. — Bei der Therapie anatomischer Hindemiss- be
ton. Kehrer die Wirksamkeit der Laminariadilatation bei Stenosen, die in
hallyährigem Abstand wiederholt werden darf. Mit Recht weist er bei Hypo-
plasien auf den Wert lokaler Ilyperämisierung durch Abrasio, Pelvi.hernne,
(Galvanısafion hin. Nach der Besprechung der Sterilitäts-Operationen äussert sieh
Kehrer skeptisch über die bisherigen Ergebnisse der künstlichen Befruchtung.
die ihm nur in Verbindung mil der Auslösung eines weiblichen Orgasmus auf dem
Wege der psychischen Beeinflussung dureh den Arzt oder der Hypnose aussichts-
voll erscheint. _ H. Freund, Frankfurt a. M.
9) Kritiken. 65
Johannes M. Verweyen: Redlichkeit als Kulturforderung. 19 Seiten.
Preis 5 Mk. Verlag von Paul Hartung, Hamburg 1922.
Eine gedankenreiche, von hohem sittlichem Geiste erfüllte Schrift, ein
wertvoller Einblick in das Wesen und die individuelle sowie soziale Bedeutung
der Redlichkeit. Auch der Arzt wird dieses tapfere, herzhafte Büchlein des
Bonner Professors der Philosophie mit grosser Freude lesen. Verweyen gibt
dann unter anderem ein vorzügliches Urteil über die Psychoanalyse, das nach
meiner Ansicht den Kern derselben trifft. Als Psychotherapie, sagt Verweyen,
vertraut die Psychoanalyse der reinigenden, seelisch aufbauenden Macht unbe-
dingter Redlichkeit, welche alle sogenannten verdrängten Vorstellungen und
Triebe ans Tageslicht des Bewusstseins aufsteigen lässt, um sie mit Hilfe
einsichtigen Erfassens zum Abklingen zu bringen. Die Erkenntnis ihrer. Ent-
stehung und ihres Zusammenhanges ist geeignet, beruhigend zu wirken und
eine gewisse Angst vor dem Rätselhaften zu bannen. Auf Selbsterkenntuis, die
schon den ältesten griechischen Weisen als Bedingung des _ geistig-sittlichen
Wachstums erschien, ist die Psychoanalyse gerichtet, sozusagen auf eine Prüfung
von „Herz und Nieren‘. Sie verhilft in ıhrer Weise zu jenem Finen, das vor
allem nottut, zur inneren Abrechnung des Menschen mit sich selbst, die kein Ver-
schleiern und keine Täuschung duldet. — Offensichtlich bildet das redliche
Eingeständnis der Anwesenheit aller Gefühle und Triebe die erste Voraus
setzung zu ihrer Beherrschung und richtigen Lenkung. Ich stimme Verweyen
in dieser Kennzeichnung der ersten, grundlegenden Aufgabe der Psychoanalyse
zu; darüber hinaus ist es aber von ausschlaggebender Bedeutung, ob der Or,
ganismus die Fähigkeit zur Sublimierung besitzt, die Mög ichkeit in sich trägt,
durch glückliche individuelle, intrapsychische und soziale Konstellation aller in
Betracht kommenden Verhältnisse niedere in höhere Energien zu transforınie: en,
Auf die Psychoanalyse hat die Psychosynthese zu folgen; damit sind die Auf-
gaben und Grenzen der Psychoanalyse gegeben.
Otto Juliusburger, Berlin,
Siemerling: Hypnotismus und Geistesstörung. Arch. f. Psych. Ba. 65.
H. 1—3. S.1.
Den in den letzten Jahren wieder häufiger und in vielen Fällen.recht un-
kritisch z. T. von Laien ausgeübten hypnotischen Massnahmen entspricht es,
dass sich die Mitteilungen über dadurch bedingte Schädigungen häufen. Jetzt
erhebt auch ein so erfahrener Kenner der Materie wie Siemerling seine
warnende Stimme und berichtet aus den letzten zwei Jahren über fünf Fälle,
bei denen hypnotische Prozeduren in bemerkenswerter Weise schädigend auf
das betreffende Individuum gewirkt haben. In zwei Fällen handelt es sich um
hypnotische Versuche zu Heilungszwecken bei schon bestehender Geisteskrank-
heit, die nicht nur, wie selbstverständlich, keine Heilung, sondern Verschlimme-
rung des Zustandes durch Auslösung von Erregungszuständen brachten. In den
drei weiteren Tällen handelt es sich um geistige resp. nervöse Störungen im
Anschluss an hypnotische Versuche, darunter einmal bei einem bis dahin ge-
sunden jungen Mann, der aktiv als Hypnotiseur auftrat! Einmal entwickelte
sich eine starke Hörigkeit. Mit Recht weist Siemerling darauf hin, dass
die Hypnose, mag man sich ihr Zustandekommen und ihr Wesen denken, wie man
will, ein psychisches Trauma sei, dem man noch lange nicht jeden Menschen
aussetzen darf. König, Bonn.
Sigmund Freud: Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht,
Paranoia und Homosexualität. Intern. Zeitschr. f. Psychoanal. 1922.
VIII. Jabrg. H. 3.
Wer diege Arbeit Freuds studiert, muss leider ersehen, dass er nichts
an seiner Lehre ändert. Auch die normale Eifersucht sieht er tief im Un-
bewussten wurzeln, in den frühesten Regungen der kindlichen Affektivität, sieht
Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 1. 5
"FT
en
—
66 Kritiken. [10
sie aus dem Ödipus-Komplex oder Geschwister-Komplex der ersten Sexual-
periode entstehen. Er sieht sie sogar bei manchen Personen bisexuell erlebt,
neben dem Hass gegen den männlichen Rivalen auch Trauer um den unbewusst
geliebten Mann. Bei einer anderen Form der Eifersucht, der projizierten,
glaubt Freud, dass der Eifersüchtige sein Gewissen dadurch erleichtere,
wenn er den eigenen Antrieb zur Untreue auf die andere Partei überträgt, der
er die Treue schuldet. Endlich sieht er aber in der wahnhaften Eifersucht eine
„vergorene Homosexualität“. Gewiss ist mit der Anerkennung der höchst-
wahrscheinlichen organischen Bedingtheit der Homosexualität das Rätsel noch
nicht gelöst, mit dieser mehr als eigenartigen Ausdeutung ihrer etwaigen
psychischen Entstehungsbedingungen wird es kein nüchtern denkender Be-
obachter weiter geklärt finden. .Placzek, Berlin.
Kehrer: Erotische Wahnbildungen sexuell unbefriedigter weiblicher
Wesen. Arch. f. Psych. Bd. 65. H. 1—3. 8S. 815.
An sechs genau analysierten „Wahnkrankheitsfällen‘‘ weiblicher Wesen
zwischen Pubertät und Klimakterium — die sehr interessanten Einzelheiten
können referierend nicht wiedergegeben werden — sucht Kehrer die psycho-
logische Genese der Wahnbildungen klarzulegen. Er findet eine Beschränkung
der Wahnschöpfungen auf den „Heiratserhöhungswahn‘ einerseits und den
„sexualethischen Verachtungswahn‘ andererseits. In allen Fällen lässt sich ein
inneren Kampf zwischen der nach Anlage und Entwicklung von Charakter und
Temperament abnormen Persönlichkeit mit dem Lebenskonflikt der Sexualität
nachweisen. Eine scharfe Grenzlinie zwischen Selbstentwicklung und Reakiiv-
entwicklung lässt sich dabei nicht ziehen. König, Bonn.
G. Steiner: Psychische Untersuchungen an Schwangeren. Arch. f. Psych.
Bd. 65. A. 1-3. 8. 171.
In sehr interessanten Untersuchungen beschäftigt sich Steiner mit dem
psychischen Zustand von Schwangeren. Sein Material von 80 Schwangeren der
Universitätsfrauenklinik in Heidelberg, meist ledige aus ungebildeten Ständen,
sucht er zweckmässig zu ergänzen durch Befragung ihm bekannter schwangerer
Frauen der gebildeten Stände. Er bespricht die in fast allen Fällen vorhandene
Geruchsüberempfindlichkeit, die nächsthäufigere Geschmacksüberempfindlich-
keit — Geräuschüberempfindlichkeit hat er viel, viel seltener und Licht-
überempfindlichkeit hat er nie beobachtet. Es handelt sich dabei, wie aus
dem Zusammenhang mit den ohne äussere Anregung unter den Erscheinungen
des subjektiven Zwanges auftretenden Gelüsten und den ebenfalls recht
häufigen Ekelgefühlen, die nahe Beziehungen zur Hyperemesis gravidarum
haben, hervorgeht, nicht um eine tatsächliche Steigerung der Sinnesempfindung,
sondern um eine scheinbare, nur um eine stärkere subjektive Gefühlsbetonung.
Auf Grund: dieser dissoziierten Änderung der Gefühlsbetonung kommt es auch
häufig zu Affektverschiebungen. Ausserdem besteht aber auch in der Schwanger-
schaft ein sehr lebhafter Stimmungswechsel. In all diesen der Schwangerschaft
eigenen Veränderungen finden sich nicht die geringsten Ansätze zu dem, was wir
als Graviditätspsychosen bezeichnen könnten. Zum Schluss regt Steiner in
dankenswerter Weise die Frage an, ob man in der modernen Neigung, Geburten
in Hypnose oder Dämmerschlaf vollziehen zu lassen, nicht einen Schlag gegen die
Natur sehen müsste, der verhängnisvolle Folgen in den seelischen Beziehungen
zwischen Mutter und Kind mit sich bringen könne. König, Bonn.
v. Grabe: Über Zwillingsgeburten als Degenerationszeichen. Arch. f.
Psych. Bd. 65. H. 1—3. S. 79.
Auf Grund von anamnestischen Forschungen bei der Aufnahme neuer weib-
licher Kranker (685) kommt der Autor zu der Anschauung, dass in den Familien
der Geisteskranken viel mehr Mehrlingsgeburten vorkommen, als in denen der
11] Kritiken. 67
Gesunden. Zur Kontrolle verwendete er die Familien von 283 weiblichen
Pflegepersonen und kommt zu einem Verhältnis von 685:206 bzw. 283:47,
das ist fast 30% zu 16,6%. König, Bonn.
KarlAbraham: Äusserungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes.
Heft 4. Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse 1921.
Wer noch so ernst sich bemüht, psychoanalytischen Veröffentlichungen
gegenüber sich ruhig abwägend zu verhalten, kommt bei so mancher Leistung
in Gefahr, die Objektivität zu verlieren. Das ist hier der Fall. Der weibliche
Kastrationskomplex! Schon das jüngste Mädchen fühlt sich durch den Mangel
äusserer Genitalien benachteiligt und kann das grösstenteils sein Leben lang
nicht verwinden. Vermöge des identifizierenden Denkens werden die Vor-
stellungen „Kot und „Penis“ verbunden. ‚Auf diese Gleichsetzung gründet
sich beim Knaben die Angst vor dem Verlust des Gliedes, das sich vom Körper
lösen könnte, wie der Kot sich von ihm löst. Beim Mädchen aber entsteht die
Phantasie, auf dem Wege der Defäkation ein Glied zu gewinnen — es sich also
selbst zu schaffen — oder es als Geschenk zu erhalten, wobei gewöhnlich der
Vater, als Beatus possidens, der Schenkende ist."
Wenn später die Kleine den Vater zum Liebesobjekt erhebt, tritt sie in
dasjenige Stadium ihrer Libidoentwicklung ein, welches durch die Herrschaft des
weiblichen Ödipuskomplexes sein Gepräge empfängt. Wenn sie sich später mit
der Mutter identifiziert, wird aus dem Penisneid der Neid auf den Kinderbesitz
der Mutter. Weil der Vater dem Kinde weder ursprünglich, noch später ein
männliches Glied hat schaffen können, dafür nimmt das Unbewusste der er-
wachsenen Tochter noch später Rache; nicht freilich am Vater, sondern an dem
Manne, der die Rolle des Vaters übernahm. Also statt der Liebeseinstellung mit
genitalem Ziel eine sadistisch-feindliche Einstellung.
Als neurotisches, durch den Kastrationskomplex bedingtes Symptom be-
zeichnet Abraham die Enuresis nocturna der weiblichen Neurotiker. Natür-
lich knüpft sich an diese abenteuerliche Deutung auch ein dogmatischer Leitsatz.
„Frauen, welche zur Enuresis nocturna neigen, sind regelmässig mit starken
Widerständen gegen die weiblichen Sexualfunktionen behaftet. Das infantile
Begehren nach der Fähigkeit zum männlichen Urinieren verknüpft sich mit der
uns bekannteu Verwechslung von Urin und Sperma, von Miktion und Ejaku-
lation. Daraus geht die unbewusste Tendenz hervor, den Mann beim sexuellen
Verkehr mit Urin zu benässen‘“ (sic!). Natürlich kann sich die Libido auch weit
weg von der Genitalregion verschieben, zur Nase, dem Auge. Für die Zuneigung
mancher Frauen für verstümmelte Männer ist natürlich auch die Kastrationsidee
verantwortlich, weil diese Männer ja ein Glied verloren haben.
Statt jeder eigenen Kritik zu diesen mehr als seltsamen Ideengängen zitiere
ich nur, was einer der geistvollsten Analytiker Stekel zu diesen Auswüchsen
in seinem neuesten Buche sagt: „Dass solche Ausführungen neben der Auslösung
tomerischen Gelächters die Analyse lächerlich machen und empfindlich
schädigen, brauche ich nicht des näheren auszuführen. —
Placzek, Berlin.
Franz Boas: Kultur und Rasse. 2. Auflage 256 S. 8°. Geh. 25 Mk.;
Geb. 40 Mk. Verlag von W. de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig 1922.
Sind höhere Leistungen ein sicherer Beweis höherer Rassenbegabung? Ist
das heutige Verhalten höherer Rassen sicher in Zukunft dasselbe? Sind die
Kennzeichen der weissen Rasse einer höheren Entwicklungsstufe eigen und
stehen sie also im Zusammenhange mit höherer geistiger Begabung? Wenn jeder
Menschentypus mehr als eine Sprache entwickelt hat, sind dann die Leistungen
der Rasse eindeutig durch ihre Begabung bestimmt? Müssen niedere Körper-
formen von niederen geistigen Anlagen begleitet sein? Ist das höhere Hirngewicht
Beweis tür höhere Begabung? Die Behandlung dieser und ähnlicher Fragen
5*
—
68 Kritiken. (12
führt den Verf. dazu, denen beizutreten, die jene Fragen verneint haben, sorfit
die Einheitlichkeit des Menschengeschlechts behaupten. Woher also die Ver-
schiedenheit der Leistungen? Da die Menschentypen „plastisch‘‘ seien, be.
trachtet der Verf. ihre Veränderung durch die Umwelt, überhaupt den Einfluss der
Natur, den ein so scharfsinniger Denker wie Hume leugnete, andere doch zum
Teil anerkannten. Der Verf. fordert nun, in den geschichtlichen und gesellschaft-
lichen Zuständen den Anlass der verschiedenen geistigen Leistungen aufzusuchen.
Geistige Vorzüge einzelner Rassen seien höchstens unterstützendes Element der
Kulturentwicklung, sicher nicht bestimmende Ursache; auch durch die Charakter-
züge zeigen sich die Kulturarmen nicht verschieden von den höher Gebildeten; die
Rassenunterschiede seien immer klein im Vergleich zu den Individualunter-
schieden. In seiner Anthropogeographie meint Ratzel, die Menschheit er-
scheine als Einheit, in der die Verschiedenheiten weit hinter dem Gemeinsamen
zurücktreten (l. 470 u. II. 56). Sehr unsicher sei es, das Wesen eines Volkes
aus seiner Naturumgebung konstruieren zu wollen, besonders, da man oft nicht
wisse, wie lange das Volk in seinen gegenwärtigen Wohnsitzen ist. Doch war
Ratzel nicht so skeptisch wie Hume. Sehr zweifelhaft sei, wieweit die
Kulturkapazität verschiedener Erdteile durch ihre verschiedenartige ‚Ausstattung
mit nutzbaren Pflanzen und Tieren bestimmt würde. Der milde ionische Himmel,
meint Hegel, habe sicher viel zur Anmut der Homerischen Gedichte beige-
tragen, doch kann er allein keine Homere erzeugen, auch erzeugt er sie nicht
immer; unter türkischer Botmässigkeit erhoben sich keine Sänger. Mit Hegels
Ansicht jedoch, dassin der kalten und in der heissen Zone der Boden weltzeschicht-
licher Völker nicht sein könne (Philos. der Geschichte), ist Th. Waitz ungefähr
einverstanden. Der geistreiche Oskar Peschel äussert sich in seiner Völker-
kunde nicht ganz einheitlich, meint aber, dass in bezug auf Denkvermögen die
Gleichheit der Menschenart nicht zu bezweifeln sei; das psychische Einerlei der
Menschennatur sollte fernerhin nicht mehr bestritten werden. Wenn er trotz-
dem die geschichtliche Stärke zum grossen Teil auf den Fähigkeiten beruhen
lässt, die Verschiedenheit der Begabung der Menschenrassen nicht verkannt
wissen will, die Anlagen eines natürlichen Weckers bedürfen lässt, von einer
wechselnden Begabung der Rassen spricht und jede Religionsschöpfung einen
Ausdruck der Rassenbegabung nennt (335 f. der 3. A.), so klingt das an die
Überzeugung von Th. Waitz an, der in der Anthropologie der Naturvölker
(1. 384 der 2. A.) seine Musterung der Völker mit den Worten schliesst: redet
man von Anlagen vor aller Kultur, so hindert nichts, anzunehmen, dass sie gleich
waren; dagegen in einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte, so muss man
sagen, dass die Begabung nach Zeiten verschieden ist und durchaus nichts Fest-
stehendes. Ebensowenig steht auch die Linie der Entwicklung fest. Es ist z. B.
ganz unbewiesen, dass alle Völker durch den Totemglauben hindurch müssen.
Von gleichen Erscheinungen wird nicht selten zu sagen sein duo cum faciunt
idem non est idem; sie haben verschiedenen Grund.
Wenn Penck das Alter des Menschen in Europa auf mehr als 100 000
Jahre schätzt, von denen nur 6—7000 durch wirkliche „Geschichte‘‘ ausgefüllt
sind, so muss man wohl zugeben, dass unsere Rassenbeobachtungen der Gründ-
lichkeit entbehren, so dass auch die wirkliche Reinheit einer Rasse kaum je
sicher festgestellt werden kann. Der Geschichtsphilosoph Th. Lindner nennt
z. B. Semiten und Indogermanen nicht Rassen, sondern nur Gruppen innerhalb
der grossen mittelländischen weissen Rasse. Ein Geschichtsbetrachter weist
darauf hin, dass auch Geschwister sehr verschieden begabt sein, also aus der-
selben Wurzel verschiedene Sprösslinge kommen können. Die berühmten
Griechen fanden bei ihrer Einwanderung schon Bewohner vor.
Von Schädelkundigen und Psychiatern erhalten wir keine ganz gleich-
artigen Belehrungen, wohl aber die Anweisung, von dem Hirngewicht und der
Kapazität des Schädels keine sicheren Aufklärungen zu erwarten. Aller-
dings zeigt die Natur (mythologisch gesprochen) mit der verschiedenen Aus-
13) Kritiken. 69
stattung des männlichen und weiblichen Geschlechts, dass sie den Geschlechtern
verschiedene Aufgaben gestellt hat, über deren Rang zu streiten ebenso wunder-
lich wie überflüssig ist. Byron, der auf bürgerliche reputation nicht eben
ängstlich bedacht war, sagte mal:.... das schlimmste Weib, das je gelebt,
würde noch einen Mann von ganz erträglichem Ruf abgegeben haben. Sie sind
alle besser als wir, und ihre Fehler müssen ihren Ursprung bei uns haben
(Tagebücher und Briefe von Ed. Engel). Bei pathologischen Befunden ist
das Gewicht des Gehirns zuweilen über Durchschnitt. Ein erwachsener epi-
leptischer Geisteskranker hatte 2850 g, ein Idiot 2400; ein geistig normaler Maurer
1945, ein einfacher Arbeiter 1925. A. Baer, der den Verbrecher in anthropo-
logischer Beziehung studiert hat, verbietet uns, aus der Grösse des Schädel-
raumes !auf den Kulturgrad eines Volkes zu schliessen (S. 441 der Ausgabe von
1893). Dagegen sind, nach G. Buschan, geistig niedriger stehende Rassen
mit geringerem Hirngewicht ausgestattet als Kulturvölker. Der grosse Liebig
hatte aber angeblich, allerdings mit 70 Jahren (also bei sog. Iavolution) nur
ein Hirngewicht von 1325 g, Dante von 1320 g (oder „nach Berechnung‘
1420 g); Gauss mit 78 Jahren 1492 g, Cuvier (mit 63) 1861 g; Byron (36)
1807 g. Für den mitteleuropäischen Mann im Alter von 20—49 ist (nach
Marchand) der Durchschnitt 1397, die Frau 1270. Nach Davis hat die
kaukasische Rasse ein mittleres Hirngewicht der Männer von 1367, der Hindu
1253; hohes Hirngewicht haben bei kleiner Statur die Chinesen, im Durch-
schnitt 1332, die Indianer 1266, die Neger 1244. Bei allen Völkern ist das
mittlere Hirngewicht der Weiber etwas geringer als das der Männer. Freilich
ist auch schon das Gewicht der Neugeborenen etwas verschieden. Nach
C. Granier ist die Frau etwa 7 mal weniger verbrecherisch als der Mann,
ausser, wenn sie Arbeitsrivalin des Mannes ist (ähnlich Lombroso). Der Verf.
selbst führt an, dass (von Manouvrier) als Mittelwert von 35 bedeutenden
Männern eino Kapazität von 1665 ccm festgestellt wurde, während 110 Durch-
schnittsmenschen nur 1560 ergaben. Andererseits zeigten 45 Mörder 1580 ccm.
Erhebliche Veränderungen des geistigen Lebens der Völker erfolgen keineswegs
immer auf Grund von Begabung oder Induktion und Logik, sondern oft nach
blosser Stimmung — worauf Historiker wie Lecky und J. Burckhardt
aufmerksam gemacht haben. Sollen die Leistungen nur auf geschichtliche Schick-
sale und gesellschaftliche Zustände zurückgehen, so wird uns das Verständnis
freilich oft ebenso sauer gemacht, wie im andern Fall. Denn die Begabung
wäre analog dem, was für die Sprache W. v. Humboldt die unergründliche
Tiefe der Individualität nannte. Aber wie wäre anderseits aus Schicksal und
gesellschaftlichen Zuständen z. B. die Fülle und Schönh:it unserer deutschen
Musik zu erklären, oder die einmalige Ausbildung des echten Monotheismus durch
Verfasser des Alten Testaments, wenn wir den von E. Renan zu Hilfe ge-
nommenen „Instinkt“ nicht gelten lassen? Noch scheint nichts Besseres ge-
funden, als die obige Formel von Th. Waitz, die von einer nicht ursprüng-
lich festgelegten und verschiedenen, sondern wechselnden Begabung spricht und
dem Geschichtsforscher ausser der Abschätzung der Umwelt eine sorgfältige
Induktion aus Tatsachen zur Pflicht macht, wie O. Lorenz die Geschichts-
forscher ermahnt, die Ereignisse aus menschlichen Motiven zu erklären.
K. Bruchmann.
Gustav Jung: Die Geschlechtsmoral des deutschen .Weibes im Mittel-
alter. Eine kulturhistorische Studie. 252 S. gr. 4°. 40 Mk. Eithnologischer
Verlag, Leipzig 1921.
Nach der Einleitung folgen die Abschnitte: Germanische Vorzeit. Vom Be
ginn der Völkerwanderung bis zum Untergang des Merowingerreiches. Bis
zum Anfang der Kreuzzüge. Die Frau in der Zeit des höfischen Lebens. Bürgerin
und Bäuerin bis zum Anfang der Reformation, Das Weib auf den Bahnen der
70 Kritiken. [14
Unnatur (Nonne, Dirne). Rückblick 228f. 241--252 ausführliche Inhaltsangabe
und Verzeichnis von Namen und Sachen.
Alles in allem sicht es so 'aus, dass man zwar gegen manche gesellschaft-
lichen Erscheinungen der Geschlechtermoral strenger, gegen andere aber lässiger
wurde. Die gute alte Zeit hatte auf diesem Gebiet auch nicht wenig Ungutes.
Sollte, nach Rankes Ausdruck, in jeder Generation die wirkliche moralische
Grösse der in jeder anderen gleich sein, und es in der moralischen Grösse
gar keine höhere Potenz geben, so würde es gerade uns jetzt Lebenden sehr
übel anstehen, wenn wir der Vergangenheit deswegen Vorwürfe machen wol:ten,
weil sie ziemlich willig auf die Stimme der Natur achtete und gegen ihre
Antriebe nachsichtig war. Manche Gewohnheiten nehmen sich verblüffend aus
und zeigen Ähnlichkeit mit andern Zeiten und Völkern. So manche lustige
Einzelheit, z. B. über das Kloster Gnadenzell, enthält das Buch, zu dem der
Verf. sehr umfassende Vorarbeiten gemacht hat. Diejenigen, die den sog. Frauen-
dienst, wäre er auch nur schriftlich oder dichterisch gewesen, nicht mögen, werden
aus dem Buche manche Begründung ihrer Abne’gung en'nehmen können. Das
Verzeichnis von Namen und Sachen ist für bequeme Benutzung erwünscht.
> K.Bruchmann.
Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung.
515 S. 8°. Brosch. 175 Mk.; Halbl. 250 Mk. Sibyllen- Verlag, Dresden 1922.
Als Leverrier 1846 den Ort angab, an dem ein noch unbekannter
Planet (der Neptun) gesucht werden musste, der die Uranusbahn beeinflusste, war
er als vorwärts gewendeter Prophet auf dem mathematisch-physikalischen Gebiet
erhetlich besser daran, wie unsere rückwärts gewendeten Propheien auf dem
biologischen. Obgleich der Verf. sich sagt, dass die erste Entwicklung des
Menschen viel Problematisches habe, bietet er uns das von ihm entworfene
Bild zur Prüfung an. Da gab es den Ur-Ostaffen. Von ihm stammt ein anderer, in
einer schwächeren und einer stärkeren Form, das ist der Pithekanthropogon&us
(= P.A.G.). Er war nicht mehr Baum-, sondern schon wesentlich Bodenliier,
während die früheren Vorläufer des Menschen Baumtiere waren. Aus jener
stärkeren Form gingen Gorilla und als Neues der Mensch hervor. Der P.A.G.
hatte schon menschenähnliche (gewölbte) Schädcelbildung, frei von Knochen-
kämmen, von Raubtiergebiss usw., lief vierfüssig. Von ihm stammt homs primi-
genius, dann h. Trinilis (= Pithekanthropus erectus), Neanderthalensis, Aurig-
nacensis, recens. Der h. primigenius war körperlich und geistig getreues Abbild
seines tierischen Vorläufers, die Körperaufrichtung zunächst noch unvollständig,
wie beim P.A.G. Die erste Entwicklung habe sich auf gerölligem Felsboden ab-
gespielt, wo es wohl viel Steine, aber wenig Bäume gab. Auf dem abhängigen
Boden genügte oft statt des Werfens der Steine das Wälzen zur Abwehr.
Der erste Mensch ist dasjenige Wesen, dessen Entwicklung erstmalig unter das
Prinzip der Körperausschaltung trat. Nicht durch Gehirn und Beine
ist ein Tier zum Menschen geworden, sondem durch den Cbergang vom tierischen
Entwicklungsprinzip zum Menschheitsprinzip. Damit das nicht:wie ein idem per
idem aussieht, hören wir, den Anstoss zu diesem Übergang gab die ausser-
körperliche Abwehrmethode. Die Tiere sind so in die Umwelt eingepasst, dass
für ihre Existenz die Summe ihrer körperlichen Eigenschaften genügt. Sie ent-
wickeln z. B. nach dem Fluchtprinzip die Beine zum Laufen und Klettern,
oder nach dem Kampfprinz'p ihre Zähne zum Beissen. Ler Mensch schaitet seinen
Körper zum Teil aus und ersetzt dessen Leistungen durch Werkzeuge, in deren
Benutzung (Stein) von Anfang an seine Wehrhaftigkeit lag. Die körperliche An-
passung begann dem Werkzeug zu weichen. Auf dieses ist die menschliche
Entwicklung gestellt. Die Anpassung des Körpers wird ersetzt durch Aus-
schaltung. Zu ihr gesellt sich später auch als Werkzeug anderer Art Sprache und
„Vernunft“, Moral, Wissenschaft und Ästhetik. Durch die ausserkörperliche
Anpassung erfährt der Mensch eine Befreiung von der Naturbeschränktheit, eine
15] Kritiken. 71
Einbusse an Instinkten. Die Möglichkeit zu alle dem beruht auf der Hand.
Sie macht den Menschen zum Menschen. Aber nun braucht ja doch der Affe
auch die Hand? Bei ihm steht aber das „Werkzeug“ in keinerlei positiver
Beziehung zu seiner Entwicklung. Durch die Körperausschaltung ist der Mensch
wesensverschieden vom Tier; seine Entwicklung ist nicht eine Steigerung der
tierischen, sondern von anderer Art. Aus der Einheit dieses Prinzips folgt auch
die Einheit des Menschengeschlechts. Es war zuerst ohne Sprache und Feuer.
Es entstand mit einem Schlage, geboren „mit dem Augenblickderständi-
gen Übung der Steinabwehrmethode.'‘ Bei ihr büsste der Mensch den Kletter-
fuss ein, weil er sich aufrichten musste, um die Steine zu wälzen und zu werfen.
Verf. hält die Existenz des Tertiärmenschen für unwiderruflich belegt. Er
könne ja ohne Feuer gelebt haben.
Alles also aus dem unscheinbaren Entwicklungsprinzip der Körperaus-
schaltung hervorgegangen. So ganz durch Zufall? Nein. Sondern ohne den
Zwang des Kampfes wäre das nie gekommen. Im langen, harten Daseinskampf
wurde die Abwehr mit Steinen geübt und langsam verbessert. In Wirklichkeit
war der Urmensch nicht der Jäger, sondern das gehetzte Wild. Mit der Ge-
burt des Menschen ging nun freilich ein tiefer Riss durch die organische Welt,
der Mensch und Tier für immer trennte. Der Mensch bedeutet einen Umschlag,
nicht eine Steigerung gegen das Tier. Aber wenn auch die Natur zwei grund-
verschiedene Entwicklungsprinzipien in der organischen Lebenswelt geschaffen
hat, so müsse man doch zugestehen, dass der Mensch im Affen schon ideell angelegt
gewesen und insofern nicht ein Zufallsprodukt zu nennen sei. Die mechanistische
Entwicklung besitze auch Zielstrebigkeit, sei zugleich tendenziös-fortschrittlich.
Ein sinnvolles Geschehen sei anzunehmen. Ja, wir könnten dem Geschick nicht
dankbar genug sein, dass der Mensch zur Menschwerdung den Weg eingeschlagen
hat. Da die Kulturentwicklung aufwärts gehe, so werde der Pessimismus eines
Schopenhauer entlarvt, seiner falschen Voraussetzung beraubt und mache
geradezu einem blühenden Optimismus Platz.
Da es an Platz fehlt, so füge ich nur hinzu, dass ich auch glaube: duo cum
faciunt idem non est idem. Der Affe, der mal Steine wirft oder sonst braucht,
ist nicht das Wesen, in dem der Mensch schlummert. Analogien gibt es bei den
Tieren, aber nicht Identitäten. Wenn wir auch nicht aufhören werden, die
kontinuierliche Entwicklung erkennen zu wollen, so wird man doch wohl
viele tierische Analogien als solche einschätzen. Die zähen Bemühungen, im
Tiere Menschliches zu finden, sind trotz allem darauf verwendeten Scharfsinn
wenig überzeugend. Auch die neuerdings betriebene Affenbeobachtung, die
mit gespanntem Blick auf die Sensation der Tierwerkzeuge und -Sprache harrt,
scheint leider in der Hauptsache aussichtslos. Die zuerst begierig aufgenommene
Mutation von de Vries, die uns sprunghafte Entwicklung von blastogenem
Ursprung, ohne Übergangsformen, und allmähliche Entwicklung aus individuellen
Variationen verhiess und damit die Aufsuchung jener Allmählichkeit zu er-
sparen schien, wird, noch davon abgesehen, dass sie für botanische Vorgänge
gedacht war, leider nicht mehr ohne Bedenken hingenommen. Sonst wäre es
sehr erwünscht, ihre Anwendung auf Tiere und Menschen systematisch zu ver-
versuchen. Schade, dass der Verf. sich nicht mit Steinthals Arbeiten über
den Ursprung der Sprache bekannt gemacht hat, zumal sie nicht (wie bei
Wundt in vielen und sehr dicken Büchern mitgeteilt sind.
K. Bruchmann.
Ludwig Baur: Metaphysik. 502 S. 8°. Geh. 40 Mk.; Geb. 50 Mk. Verlag
von J. Kösel und Fr. Pustet, Kempten 1922.
Eine Metaphysik? Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Aber es ist
nicht so schlimm. Das Werk des Prof. Baur ist aus Vorlesungen entstanden,
die er seit vielen Jahren den katholischen Theologen der Tübinger Universität
gebalten hat. Das erste Buch, Allgemeine Metaphysik oder Ontologie, zerfällt in
die Lehre vom Sein, Wirken, Werden und der Ursächlichkeit; das zweite Buch
72 Kritikon. [16
ist metaphysischen Fragen der Natur gewidmet (Teleologie, Stoff und Form,
Begriff des Lebens); das dritte Buch, metaphysische Fragen der Psychologie
(Tätigkeiten, Ursprung, Unsterblichkeit der Seele; Seele und J.eib); im vierten
Buch wird das absolut Seiende (natürliche Gotteslehre) abgehandelt (Beweise
für das Dasein Gottes). Verf. ist wesentlich an dem bedeutendsten und offiziellen
e La: —
— BA? E =
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Philosophen der Katholischen Kirche orientiert, also an Thomas von Aquino, geb.
1225, gest. 1274 in einer Abtei zwischen Neapel und Rom. Aber auch die
sog. scholastische Philosophie wird vielfach berücksichtigt und zu Fragen der
modernen Naturwissenschaft Stellung genommen. So z. B. beim Begriff des
Lebens, bei Fragen des Mechanismus und Vitalismus, der Pflanzenseele, der
Tierseele. Oft leitet der Verf. seine eigne Stellungnahme ein durch eine ge-
schichtliche Skizzierung, schliesst mit ‘literarischen Angaben. Manche Fragen
werden der Dogmatik überlassen. Verf. befleissigt sich einer einfachen, deutlichen
Sprache. Wer in die oben angedeutete Gedankenwelt Einblick gewinnen will,
hat dazu in diesem Werke ausführliche Gelegenheit. K. Bruchmann.
Ernst Barthel: Goethes Wissenschaftslehre in ilırer modernen Trag-
weite. Verlag von Friedrich Cohen, Bonn 1922.
Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung. Philosophiech- Anthroposophtscher
Verlag, Berlin 1921.
Karl Julius Schröer: Goethe und die Licehe. Goetheanum - Bücherei.
Der kommende Tag-Verlag, Stuttgart 1922.
Je weiter wir zeitlich von Goethe abrücken, um so gewaltiger erscheint
uns der Mann, sein Leben und sein Werk. Und wir fangen an, den Ausruf
Schillers: „Dieser Mensch, der Goethe‘‘ in seiner Bedeutung und in seiner Tiefe
zu ahnen. Mit viel mehr Berechtigung als die meisten andern, welche die
offizielle Weihe der Fakultäten erhalten haben, darf Goethe ein Naturforscher
genannt werden. Nur wenigen ist der Trieb zu schauen, zu beobachten, zu
sammeln, zu vergleichen so eingeboren wie ihm. Nur wenige haben ihn so in der
Breite und der Tiefe betätigt wie er. Chemie, Physiologie Biologie, Anthropologie,
Botanik und Zoologie, Physik, Astronomie und Geologie haben ihn angezogen.
Und jeder einzige seiner bedeutenden Funde hätte heute genügt, ihm ein Ordi-
nariat für dieses Gebiet einzutragen. In manchen seiner Arbeitsmethoden und
seiner Lehren ist er seiner Zeit vorausgeeilt und grundlegend geworden. In der
Pflanzenlehre, in der die Veröffentlichung demnächst neuer erstaunlicher Funde
Goethescher Beobachtung bevorsteht, in der Knochenlehre, der vergleichenden
Anatomie, der Vererbungslehre.
Goethe, den Barthel das ‚Phänomen universalen Gesamtdenkens‘ nennt,
„gem die Welt des Intellekts und die Welt der irrationalen Wirklichkeiten zu-
gleich erschlossen ist‘, steht infolge dieser Begabung der Wissenschaft anders
gegenüber als der zünftige Forscher. Ihm ist die Wissenschaft nicht ein von
aussen dargebotener Komplex bestimmter Lehren, sondern eine aus dem Innern
quellende Notwendigkeit der Natur. Um dieser Sonderheit willen ist es eine
fruchtbare Aufgabe der Philosophie unserer Zeit, die Wissenschaftslehre
Goethes in ihren Gründen aufzuhellen und ihre Bedeutung für das Denken in
kommenden Perioden menschlicher Entwicklung zu untersuchen. Dieser Aufgabe
hat sich Barthel in 4 Abschnitten seines Buches, in den Kapiteln Erkenntnis-
theorie, Methodologie, Naturphilosophie und Metaphphysik unterzogen.
Auf dem Boden und in engster Berührung mit den naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen ist Goethes Philosophie und Weltanschauung entstanden. Auch
hier Aufstellung neuer grundlegender Prinzipien wie Polarität, Dualität, Sym-
metrie, deren objektiver Wert viel später erkannt worden ist. Indem Goethes
Gredankenwelt eine Einheit darbietet von Forscher- und Denkertum, erscheint
er als ein wissenschaftliches Vorbild und Ideal. Dieses Zusammenwirken von
Natur- und Geisteswissenschaften, lange Zeit abgelehnt und vergessen, scheint
in der Gegenwart zu neuem Leben wach zu werden.
Dass es Erkenntnisgebiete gibt, die Goethes Denkweise verschlossen ge-
17] Kritiken. 73
blieben sind, dies festzustellen tut dem Riesengeiste Goethes keinen. Abbruch.
Aber Steiner deutet die Stellen auch an, an denen die moderne Wissenschaft
hinter Goethe zurückgeblieben ist. Er spricht von der Armut der gegenwärtigen
Ideenwelt und stellt ihr den Reichtum der Goetheschen entgegen. Goethe hat
seine Weltanschauung nicht in einem geschlossenen System aufgezeichnet,
sondern in seiner Persönlichkeit gelebt. Steiner kennzeichnet die be-
stimmenden Kräfte, welche Goethes Weltanschauung das Gepräge geben. Fr
schildert Goethes Stellung innerhalb der abendländischen (Gredankenentwick-
lung, seine Anschauungen über Natur und Entwicklung der Lebewesen, über
Entwicklungsgeschichte der Erde,"über die Erscheinungen der Farbenwelt, seın
Verhältnis zu Plato und Hegel und behandelt so fast ausschliesslich Goethes
Naturideen. Das aber ist das besondere, das grossartige, natürliche, dass Goethes
Naturanschauung zugleich sein Weltbild ist. |
So erklärt sich Goethes objektiver Idealismus. Und durch ihn auch sein
Verhältnis zur Liebe. Was Goethe die Liebe ist, sucht Schroer in zwei Ab-
handlungen über Stella und Marianne Willemer darzulegen und glaubt nichts
Geringeres als einen urgermanischen Zug in Goethes Verhältnis zur Liebe zu
entdecken. Was sagen dazu die Fanatiker der sog. Germanentheorie, die Lessing,
der den Nathan geschrieben hat und mit Moses Mendelsohn befreundet war, einen
Slavo-Judäer nenen und von Goethe, dessen reines Menschentum sich nicht recht
in den Rahmen deutsch-völkischer Tendenz einzwängen lässt, behaupten, dass
er weit mehr Semit als Deutscher sei. Die Semiten brauchen sich dessen
nicht zu schämen. Max Hirsch, Berlin.
Lena Voss: Goethes unsterbliche Freundin. (Charlotte von Stein). Eine
psychologische Studie an der Hand der Quellen. Mit 8 Tafeln. Verlag von
Klinkhardt und Biermann, Leipzig 1921.
Unter den vielen Versuchen, das Problem, welches Goethe durch seine
Liebe zu Charlotte von Stein der Welt dargeboten hat, zu lösen, scheint mir
dieser hier am meisten gelungen. Liebe und Freundschaft, Trennung und Wieder-
vereinigung werden nicht aus dem Wesen der beiden allein, sondern aus .all-
gemein sexualbiologischen und sexualpsychologischen Bedingungen erklärt. Kurz
das Problem wird auf eine Formel gebracht: die Sexualität. Die Frau — eine
spirituell erotische Natur, Goethe ein sinnlich leidenschaftliches Tempera-
ment. In den ersten Jahren beide innig verbunden durch gemeinsames Streben
nach Vervollkommnung. Aber „an der Trank des Geschlechtes, an dem männ-
lichen Unvermögen einerseits, ohne die Erfüllung sinnlicher Leidenschaft, die
Liebe der Seelen in dauernder Innigkeit zu erhalten, andererseits an der weib-
lichen Unduldsamkeit dieser männlichen Veranlagung gegenüber, scheitert eins
der edelsten Bündnisse, das es je zwischen Mann und Frau gegeben hat.“ Die
Verf. hält sich frei von Lob und Tadel. In wohltuendem Gerechtigkeitsgefühl
und tiefdurchdrungen von der Aussergewöhnlichkeit b:ider Menschen will sie
verstehen, versucht sie zu erklären. So findet sie auch für die oft hässlichen
Äusserungen der ersten Jahre nach dem Bruche versöhnende Worte. Das
Christianenerlebnis Gocthes betrachtet sie als innerlich notwendigen Nachklang
oder nachträgliche Ergänzung der scelischen Licbesekstase zu Charlotte. Char-
lotte selber aber sah darin nichts als einen moralischen Rückgang, eine Untreue,
eine Undankbarkeit gegen sie. Warum? Weil ihr die ausgereifte sexuelle Geniali-
tät fehlte, welche die Bedürfnisse und Pflichten der Geschlechter klar erkennend
erfasst. Aber am Abend ihres Lebens — so scheint es dem Ref. — hat sie
doch viele Zeichen des Verstehens gegeben. Und Goethe hat keine Stunde seines
Lebens vergessen, was Charlotte ihm bedeutet. „Tag und Jahre sind ver-
schwunden, Und doch ruht auf jenen Stunden, Meines Wertes Vollgewinn.“ Man
kann mit der Verf. die Liebe Goethes zu Frau v. Stein als den metaphysischen
Zwang eines um menschliche Vollendung ringenden Genius und als das Be-
dürfnis des Geschlechtes nach physischer Ergänzung betrachten.
Max Hirsch, Berlin.
74 Einladung.
Einladung.
Am 15. und 16. März (Donnerstag und Freitag), 7'!/, Uhr abends, findet im
Hygienischen Institut der Universität Berlin (Dorotheenstr. 8a) eine
2tägige Sitzung der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und
Eugenetik in Berlin statt.
Thema:
Konstitution und Sexualität.
Referenten:
1. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Fr. Kraus, Berlin: Geschichte und Wesen des
Konstitutionsproblems.
2. Prof. Dr. R. Goldschmidt, Dahlem: Die biologischen Grundlagen der
sexuellen Konstitution.
3. Privatdozent Dr. E. Kretschmer, Tübingen: Die Psychologie und Patho-
logie der sexuellen Konslitution.
4. Prof, Dr. Hübner, Bonn: Sexual-Konstitution und Rechtsleben.
Ausserdem werden folgende Einzelvorträge gehalten:
1. Prof. Dr. Mathes, Innsbruck: Die Sexualkonstitution in der Gynäkologie.
2. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Posner, Berlin: Die Sexualkonstitution in der
Andrologie.
8. Prof. Dr. R. Mühsam, Berlin: Die Sexualkonstitution in der Chirurgie.
4. Prof. Dr. G. Peritz, Berlin: Keimdrüsen und Zentralnervensystem.
5. Dr. Hirschfeld, Berlin: Die intersexuelle Konstitution des Menschen.
Es ist beabsichtigt die Vorträge zu einer Monographie zusammenzustellen.
Zuschriften an den Vorsitzenden
Max Hirsch, Berlin W 30, Motzstr. 34.
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Sexualwissenschaft und Konstitutions-
wissenschaft‘).
Von
Max Hirsch, Berlin.
Meine Damen und Herren!
Die ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Euge-
netik, in deren Namen ich Sie hier zu begrüssen die Ehre habe,
begeht in diesen Tagen die 10. Wiederkehr ihres Gründungs-
tages. Es darf als eine mutige und kluge Tat betrachtet werden,
dass unter Führung von Albert Eulenburg Ärzte sich
zusammenschlossen, um der Erforschung sexueller Probleme zu
dienen. Klug, weil sie der Erkenntnis entsprang, dass es nicht
mehr angeht, dass ärztliche Heilkunde und medizinische Wissen-
schaft der Erörterung von Fragen des Geschlechtslebens ausweichen.
Mutig, weil die Sexualwissenschaft bis dahin verkannt und miss-
achtet war, weil sie sich in Konventikel und philanthropische Ver-
eine zurückziehen musste und in ihnen ein verschämtes Dasein
fristete. Weil sie abseits stehen musste von den geweihten Stätten
der Forschung und der Wissenschaft. Ä
Vielerlei Gründe sachlicher und ‚persönlicher Art mögen
dafür genannt werden können. Wesentlich scheinen mir nur zwei zu
sein. Der eine ist gefühlsmässiger Art und entspringt der
Scheu der Menschen, von Dingen des Geschlechtslebens zu sprechen.
Einer Scheu, welche im Gegensatz steht zu dem tiefen Eingreifen
der Sexualität in das menschliche Leben. Jedoch sie besteht, ist
in Denkgewohnheiten fest verankert und kann nicht besser gekenn-
zeichnet werden als durch die Worte Goethes: „Man darf das nicht
vor keuschen Ohren nennen, was keusche Herzen nicht entbehren
können.“ Diese Zurückhaltung, welche von Heuchelei und Prüderie
1) Rede, gehalten bei Eröffnung des Kongresses der Ärztlichen Gesellschaft
für Sexualwissenschaft (Verhandlungsthema: ‚Sexualität und Konstitution‘‘) am
15. März 1923,
Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 2. 6
76 Max Hirsch. [2
scharf unterschieden werden muss, macht es dem Sexualforscher zur
Pflicht, Forschung und Vortrag so zu gestalten, dass der Ernst des
Inhalts die Hemmung des Gefühls überwindet.
Wichtiger ist der zweite Grund. Wie jedes Wissensgebiet, so hat
auch die Sexualwissenschaft zwei Betrachtungsweisen, eine
kulturwissenschaftliche und eine naturwissenschaftliche. Die erstere,
welche vorwiegend historisch-philosophisch-psychologischer Art ist,
hat bis vor kurzem fast allein die Sexualwissenschaft beherrscht.
Sie umfasst nahezu ein Jahrhundert. Am Anfang dieses Zeitraumes
steht das klassische Werk von Julius Rosenbaum über die
Geschichte der Lustseuche im Altertum nebst ausführlichen Unter-
suchungen über den Venus und Phalluskult, Bordelle. Novoog
Inkeıa der Skythen, Päderastie und andere geschlechtliche Aus-
schweifungen der Alten. Und an der Schwelle unserer Zeit stehen
zwei Werke. Das eine von Iwan Bloch über das Sexualleben
unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. Das andere
von Otto Weininger über Geschlecht und Charakter mit seinen
beiden Hauptabschnitten über die sexuelle Mannigfaltigkeit und über
die sexuellen Typen. Alle drei Werke, staunenswert wegen der Ge-
lehrtheit ihrer Verfasser, sind historisch-kritischer und psychologisch-
philosophischer Forschung entsprungen und nehmen intuitiv und
spekulativ mancherlei von dem voraus, was die biologische For-
schung heute erschlossen und bestätigt hat.
Diese kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise ist seit den
Tagen von Spencer,Schelling, Hegel, HerbartundLotze .
bei Naturforschern und Medizinern wenig beliebt. Aber auch die
rein klinische, von Krafft-Ebbing eingeleitete Behandlung der
Sexualpathoiogie, welche fast ausschliesslich auf Empirie aufgebaut
gewesen ist, konnte dem exakten Naturforscher keine Neigung ab-
gewinnen.
Mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ist in der sexualwissen-
schaftlichen Betrachtungsweise ein Wandel eingetreten. Eingeleitet
durch die anfangs verkannten und verspotteten Untersuchungen von
Brown-Séquard über die Wirkung von Organsäften, mächtig
angeregt durch das Aufblühen der Lehre von der inneren Sekretion,
durch die Wiedergeburt der Vererbungswissenschaft und besonders
durch die Forschungen von Steinach und Goldschmidt, ihrer
Vorgänger und Nachfolger. Damit hat die Sexualwissenschaft den
Boden der exakten biologischen Forschung gefunden, welche, wie
schon bemerkt, vieles von dem erklärt und begründet, was Speku-
lation, Empirie und historisch-kritische Betrachtung vorher erkannt
haben. Damit aber auch hat die Sexualwissenschaft die Berechtigung
3] Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft. 7
erlangt, ale vollgültiges Fach in den Kreis der Naturwissenschaften
und Medizin aufgenommen zu werden.
Mit dieser Feststellung soll die historisch-kritische Betrachtungs-
weise durchaus nicht als überlebt und überflüssig oder gar als un-
- gültig und falsch gekennzeichnet werden. ‚Sie wird ihre Geltung
bewahren und ist gerade in dem letzten Jahrzehnt durch Sudhoff
und seine Schule auf den ihr gebührenden Platz gestellt worden.
Aber noch mehr. Neuerdings beginnt die Biologie mit den
spekulativen Geisteswissenschaften Fühlung zu nehmen. Eine
neue Naturphilosophie ist in Vorbereitung. Nicht von der Art der-
jenigen, welche vor 100 Jahren in Schelling ihre Orgien ge-
feiert hat. Welche, durch kein Wässerlein exakter Forschung getrübt,
aus abstrakten philosophischen Überlegungen hervorgegangen ist.
Sondern von der Art eines Hartmann, Driesch und Becher,
welche hindurchgegangen ist durch emsige Spezialforschungen auf
allen Gebieten der Naturwissenschaften und der Medizin.
Gerade auf dem Gebiete der Sexualwissenschaft nun haben die
beiden Weisen der Naturbetrachtung sich zuerst getroffen. Seitdem
Kant Methode und Richtung wissenschaftlicher Forschung und
menschlicher Erkenntnis festgelegt hat, kann auch für die exakten
Naturwissenschaften kein Zweifel mehr bestehen, dass ihre Arbeit
nicht Selbstzweck ist, sondern dass ihre Erfahrungstatsachen nur
dazu dienen, Bausteine zu einem Weltbilde zu sein. Dadurch sind
Naturwissenschaft und Philosophie untrennbar miteinander ver-
bunden und aufeinander angewiesen. Eine Allianz, die, wie Jodl
sagt, „schon im Altertum bestand, die in den Anfängen der neueren
Philosophie zu einer Reihe der grössten Triumphe des menschlichen
Geistes geführt hat, und deren Ersetzung durch Gleichgültigkeit oder
offene Feindschaft. dem Fortgange tieferer Welterkenntnis im 19. Jahr-
hundert ausserordentlich viel geschadet hat.“ —
Wenn wir es heute unternehmen, die Beziehungen von Sexu-
alität und Konstitution zu besprechen, so ist das ein Zeichen
dafür, dass die Fragestellungen der Sexualwissenschaft und der
klinischen Medizin aus gleichen Quellen schöpfen und in gleiche
Richtung weisen. Ja, bei näherem Zusehen zeigt es sich, dass die
Sexualitäts- und Konstitutionsprobleme so eng miteinander verbunden
und so unlösbar ineinander verflochten sind, dass getrennte Be-
trachtung eine Unmöglichkeit wäre. Dafür ein paar Beweisgründe.
1. Die wichtigste Teilung der Konstitutionen, welche fast die
ganze Welt der Lebewesen durchzieht und auch dem Laienauge
6*
78 | Max Hirsch. [4
sichtbar ist, ist die Zweiteilung in männlich und weib-
lich. Sie ist im Augenblick der Geschlechtsbestimmung gegeben,
kommt zur vollen Entwicklung im Alter der Reifung und findet in
der Pathologie vielfachen Ausdruck. Mit dieser elementaren Fest-
stellung ist die enge Verbindung von Sexualwissenschaft und Kon-
stitutionswissenschaft gekennzeichnet. |
2. Der Ablauf der gesamten körperlichen und see-
lischen Entwicklung zeigt die enge Verbindung von Sexuali-
tät und Konstitution.
In den Lebensperioden, in welchen die Entwicklung schnell
und sichtbar vor sich geht, in Pubertät und Klimax, pflegt auch
über Sexualität und Konstitution die Entscheidung zu fallen. | Puber-
tätseinknickung der Persönlichkeit (Kretschmer)]. Und zwar
meist so gleichsinnig, dass beide auf eine gemeinsame Ursache zurück-
geführt werden müssen. Diese ist im Genotypus zu suchen.
Demnach sind beide, Sexualität und Konstitution, als ein miteinander
verbundener Spezialfall der Vererbung zu betrachten. In
dem Sinne, dass im Augenblick der Befruchtung sowohl die Ge-
schlechtszugehörigkeit als auch die Konstitution entschieden sind.
3
ə. Dazu kommt, dass konstitutive Störungen, insbesondere
seelischer Art, in den Zeiten sexueller Evolution und Involution
manifest zu werden pflegen.
4. Ebensowenig wie es eine absolute Männlichkeit und eine
absolute Weiblichkeit gibt, ebensowenig gibt es eine absolute
Scheidung der Konstitutionen. Sexualität und Konstitution weisen in
ihren Erscheinungsbildern, ihren Phänotypen, eine Kette von
Übergangsformen auf, welche in engen Beziehungen und Abhängig-
keiten zueinander stehen und welche am bekanntesten im Eunuch-
oidismus und Infantilismus zutage treten. Ihre Entstehung dürfte
nicht nur durch die Annahme qualitativer Erbanlagen erklärt werden
können, sondern auch im quantitativen Verhältnis der Anlagen,
in Geschwindigkeit und Energie ihrer Entwicklung begründet sein.
Diese quantitative und dynamische Betrachtungs-
weise steht, wie die Untersuchungen von Goldschmidt zeigen,
im Einklang mit den Gesetzen der Vererbungslehre, welche
der gemeinsame Mutterboden der Sexualitäts- und Konstitutions-
probleme ist.
5. Sie lässt auch Erklärungsmöglichkeiten offen für die Beein-
flussung von Sexualität und Konstitution durch Bedingungen der
Umwelt, wie Klima, Ernährung, Arbeit usw., denen beide unter-
worfen sind und für welche die ärztliche Beobachtung reiche Er-
—
ö] Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft. 19
fahrung bietet. So wenig wir vergessen dürfen, dass diese Modi-
fikationen nur den Phänotypus treffen und den Genotypus un-
berührt lassen, so bedeutungsvoll sind sie doch für das Leben des
Individuums und der Gemeinschaft. Gerade in den wichtigsten Ein-
schnitten der individuellen Entwicklung, in den Evolutions und
Involutions-Zeiten, in Pubertät und Klimax, machen sich die Ein-
flüsse der Umwelt auf Konstitution und Sexualität hemmend oder
fördernd besonders geltend. So entscheidend demnach für Sexualität
und Konstitution die Erbanlagen sind, so wird der Arzt doch die
funktionelle Anpassung im Ursachenkomplex nicht ver-
gessen dürfen und wird die rein genotypische Auffassung von
Tandler zu der vielumfassenderen personellen von Kraus er-
weitern müssen, welche die gesamten Organisationsverhältnisse des
Individuums betrifft und an der Erhaltungswahrscheinlichkeit ge-
messen wird. Damit ist die grosse gemeinsame Bedeutung der Sexual-
wissenschaft und Konstitutionslehre für die ärztliche Heil-
kunde hervorgehoben.
6. Und schliesslich noch ein Gemeinsames. Sexualwissen-
schaft und Konstitutionswissenschaft sind keine scharfumgrenzten
Spezialgebiete medizinischer Forschung. Unter ihrem Zeichen ver-
einigen sich viele Fächer der Medizin und Naturwissenschaften. Sie
sind ein sichtbarer Ausdruck der Wandlung, welche medizinische
Forschung und ärztliches Denken vollzogen haben, und welche bot aller
Schätzung spezialistischer Kleinarbeit doch deutlich das Bestreben
zeigt, weiter auszugreifen, in Nachbargebiete einzudringen, andere
fernerstehende Wissensgebiete sich nutzbar zu machen und die Er-
gebnisse zu einem Gesamtbilde zusammenzufügen.
T. Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft sind aber
auch Spiegel jener Wandlung, welche von Zelle und Organ über beide
hinaus deu Zellsystemen, dem Körperbau und der Person zustrebt.
Diesem Entwicklungsgange, welcher durch eine erweiterte Ursachen-
und Bedingungslehre, durch Bakteriologie und Serologie befruchtet
wurde, ist es zu danken, dass Sexualität und ıKonstitution nicht mehr
wie ehedem verschwommene Begriffe sind, nicht mehr beherrscht
von den dunklen Vorstellungen der Krasenlehre oder wie zu Roki-
tanski Zeiten der Humoralpathologie, sondern dass sie, obzwar
erkenntniskritisch immer nur Fiktionen im Sinne Vaihingers,
sich aufbauen auf dem realen Boden der Lehre von der Zelle, indem
wir bei aller umfassenden Betrachtung doch alle Zustände und Vor-
gänge anatomischer und funktioneller Art an Zellen und Zellver-
bände gebunden denken.
80 Max Hirsch, Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft. [6
Diese Wandlung vom Lokalismus zum Konstituti o-
nalismus darf als eine Reformation der ärztlichen
Heilkunde betrachtet werden. Sie führt von der Beschränktheit
des Spezialistentums zu jener ärztlichen Heilkunst, welche dem ganzen
Menschen gilt. Und welche — von Natur- und (Geisteswissen-
schaft befruchtet — im Schwunge einer grossartigen Entwick-
lung über den Menschen hinausgreift und ihn hineinstellt in den
Mittelpunkt alles kosmischen Geschehens. Darinnen als Prinzip, als
Grundkraft der Eros waltet. Der Eros nicht in der beschränkten
Bedeutung von Neigung und Trieb der Geschlechter zueinander,
nicht als Amor, Venus und Cupido, sondern als kosmisches Prinzip
im Sinne der Alten (Hesiod und Empedocles), denen Liebe und
Freundschaft, Hass und Streit, Anziehung und Abstossung, Spannung
und Entspannung die Grundkräfte alles Geschehens sind. Sie binden
die Einzeldinge und trennen die Vielheit. Sie walten auch als
immanente Kraft in Konstitution und Sexualität.
Geschichte und Wesen desKonstitutionsproblems'').
a
Von
Prof. Dr. Fr. Kraus, Berlin.
Meine Damen und Herren!
J. Mit der Erfassung von „führenden“ Symptomen und von
Symptomenkomplexen beginnt die klinische Erkenntnis.
Auch heute hat die m ono symptomatische Periode, in welcher
als Krankheit z. B. einst die „Fieber“ zusammengeschlossen wurden,
noch nicht völlig ausgespielt: Man denke nur an die „genuine“ Hyper-
tonie, die Thrombopenie u. a.
Herrschend aber ist gegenwärtig die (auch in Zukunft nicht zu
unterschätzende, ja ganz unentbehrliche) lokalistische klinische
Diagnostik. Diese verlegt sich darauf, Symptomenkomplexe in Be-
ziehung auf ein besonderes Organ rasch „gegenständlich“ zu be-
greifen, die „Krankheit“, so wie man etwa ein Ding oder dingliche
Gruppen wieder erkennt, in ihrer Gesamtheit zu überblicken und den
gattungsmässigen Zusammenhang mit äusseren und inneren Bedingungen
aufzudecken.
Eine Zeitlang ist dabei das Interesse an gewissen äusseren
Bedingungen einseitig im Vordergrunde gestanden; vor allem das an den
pathogenen Organismen und an gewissen Giften. Durch Anerkennung
der Disposition, vor allem aber durch die exakte Begründung der
Immunbiologie hat seither die Bakteriologie längst ihren, sagen wir
begreiflichen jugendlichen, Überschwang ausgeglichen und selbst höchst
wichtige, ins Bereich des Konstitutionellen fallende Umorganisationen
aufgedeckt. |
Es war aber zum Teil gerade der einst übertriebene Ätiologis-
mus, welcher Hueppe, Gottstein und besonders Martius auf die
alte Lehre von der Konstitution zurückgreifen liessen. Natürlich
!) Vortrag, gehalten in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Eugenetik in Berlin am 15. III. 1923.
82 Fr. Kraus. [2
unternahm es Martius weiterhin, und zwar mit grösstem praktischen
Erfolg, die Konstitutionslehre klinisch umfassend auszubauen.
2. Ich selbst bin auf anderem Wege wieder dazu gelangt.
Eine von mir als notwendig erkannte funktionelle Denk-,
Diagnostizier- und Behandlungsweise unter Zusammenfassung von
Stoff-, Kraft- und Formwechsel führte mich dazu, die klinischen
Symptome als bestimmte Kombinationen ungleichartiger, sowohl gleich-
zeitiger, als aufeinander folgender Veränderungen, immer im Zusammen-
hang mit äusseren Gleichzeitigkeiten und Folgen, zunächst analytisch
zu beurteilen. Synthetisch lenkte aber diese funktionelle Betrachtungs-
weise von selbst auf den Gesamtorganismusals Problem, nicht mehr
bloss auf das der Organleistungen. Ethnologische und öko-
logische Fragestellungen mussten sogar in den Mittelpunkt gestellt
werden. Die „Krankheit“ ist nicht mehr, auch nicht mehr im Virchow-
schen Sinne, ein Ontologisches. . Wir Ärzte haben als Personen in
Beziehung zu kranken Personen zu treten. In diesem Zusammen-
hang geht für mich die Konstitutionsforschung über in Personen-
forschung. Mit dem Begriff des (Gesamt-) Organismus kommt weiter-
hin vor allem noch derjenige der Individualität zur Wirkung. Die
praktische Frage ist nur: Wie kommen wir wissenschaftlich und, wie
ich will, naturwissenschaftlich an die Individualität heran?
Vorweg genommen sei: Ich suche sie in der mittleren Linie
zwischen der Ganzheit des Organismus und dessen Einzeln-
organen, und somit in den Beziehungen der Gesamtheit aller Ent-
wicklungsbedingungen, bzw. der arteigenen Verknüpfung von Ent-
wicklungsansätzen (genotypische Konstitution, „originäres“
Ganze) zu den verwirklichten Charakteren der Person, zum Phäno-
typus.
Es kann aber (unter teilweisem oder gänzlichem Verzicht auf
die naturwissenschaftliche Betrachtung) noch anderes versucht werden
und wurde auch anderes versucht. Man ist nicht immer und nicht
überall ausgegangen, wie ich, von der Person im Sinne der
generellen Morphologie, d.h. zunächst ausserhalb des Gegen-
satzes von Psychischem und Physischem, bzw. von Subjekt und
Objekt: sondern von einem Ichhaften als dem Erlebenden, als
Inbegriff der seelischen Funktion jeder Art des Erlebens, und dieses
Ich hinsichtlich seiner Verschiedenheit von den Ichen anderer Menschen
nannte man dann seine Persönlichkeit oder Individualität. Diesem
Ich werden intellektuelle „Funktionen“ und „affektive“ Erlebnisse zu-
geschrieben. Je nach den Prävalenzunterschieden der Funktionen
3] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 83
wurden die Persönlichkeiten in Gruppen zusammengeordnet und der
Begriff des Typus gewonnen.
Obwohl die „normale“ Psychologie Funktionsverschiedenheiten
der Zahl oder der Zusammensetzung hier nicht anerkennt, ist man
gerade für die „konstitutionellen Typen“ vielfach von ausgeprägt
pathologischen (psychiatrischen) Modellen ausgegangen. Um doch
eine Brücke zur somatischen Klinik zu gewinnen, bemühte man
sich diese Typen auch durch den (äusseren) Habitus zu stigmati-
sieren, bzw. man versuchte aus den Ergebnissen von (meist morpho-
logischen) Norm-Untersuchungen auf den individuellen Cha-
rakter, das Temperament usw. zurückzuschliessen. Diese ge-
mischten Typen entsprechen jedoch nicht etwa einfach denjenigen
der differentiellen Psychologie, sondern jeder Autor wechselt
wohl die seinigen für sich. Viel glücklicher schon sind andere Typen-
bildungen, denen ein gemischter somatisch-psychischer „Status“ zu-
grunde gelegt wurde.
Ich kann nun natürlich gar nichts dagegen einwenden, wenn dieses
neue klinische Gebiet aus divergierenden Richtungen und mit den
verschiedensten Mitteln erschlossen wird. Nur dagegen kehre ich mich
grundsätzlich, dass der Kreis der einschlägigen Erscheinungen als
der empirischen Methode und der naturwissenschaftlichen
Forschungsweise gar nicht zugänglich erachtet und „bei dem
Versagen der heutigen Medizin“ nur auf den Weg „innerer Zer-
gliederung“ verwiesen werde. Zeigt sich doch selbst ein psychisches
Phänomen biologisch „erklärbar“ unter Anerkennung der die psychi-
schen Probleme nicht selbst enthaltenden Hypothese, dass gewisse
nervöse und protoplasmatische Verbindungen zwischen gegebenen
Zentralorganen und Rezeptoren oder Effektoren, sowie bestimmte
physiologische Grundphänomene bestehen.
3. Darin stimmen wohl Alle überein, dass die Konstitutionsbiologie
durchaus aus dem Gesichspunkte der Entwicklung von Art und
Individuum zu verstehen ist. Der Anlagenbestand (die genotypische
Konstitution) stellt das vom Anfang der Individualitätsphase her
sämtliche ontogenetische Stufen verbindende systematische Glied, ein
allen Teilen auch des entwickelten Körpers gleicherweise innewohnendes
originäres Ganzes dar. Nicht diskret vorgestellte Gene, sondern das
ganze genotypische System ist verantwortlich für alle phäno-
typisch realisierten Merkmale. Ein Gen ist für sich nicht imstande,
zu existieren und etwas zu bewirken. Allerdings kann An- und Ab-
wesenheit eines speziellen Gens im System eine besondere spätere
Reaktion, ja die ganze Reaktionsnorm bestimmen und umstimmen. Auch
84 Fr. Kraus. [4
sind die Charaktere unabhängig voneinander vererbbar. Aber tatsächlich
vererbt wird immer ein System und der individuelle Organismus ist
die „Gestalt“ der immer wieder zum System geschlossenen Anlagen.
Mit den Begriffen des Biosystems und der Gestalt werden wir uns
noch weiter zu beschäftigen haben. Das Idioplasma kann als ein
inneres Erregungs- und Betriebswerk gelten. Es hat nach-
weislich Art- und Individualeigenheit. Dasselbe Spiel der Naturkräfte,
welches die Kombination dieses Erregungswerkes bewirkte, sichert ihr
auch die Bedingungen für eine stetige Energiezufuhr von aussen, für
das „Wecken“ vorrätiger Energien im Inneren, Reize und Dauer. Die
Kombination manifestiert sich ursprünglich im Einheitlichen, mehr
Homogener, entfaltet sich aber nachher zu Verschiedenem, wobei je-
doch der Epigenese ein reiches Feld bleibt.
Erblich übertragen werden nicht äussere (phänotypische)
Merkmale, sondern diegenotypische Reaktionsnorm, aufäussere
Einflüsse in bestimmter Weise zu reagieren. Gar nicht genug kann
betont werden, dass genotypische Konstitution einer-, Reize- und Lebens-
bedingungen andererseits hierbei von gleicher Wichtigkeit sind. Jede
Zustands- und Leistungseigenschaft stammt von innen und aussen.
Anlagenbestand und Lebenslage bestimmen in wechselseitiger Bedingt-
heit die Entwicklungsarbeit, welche die ganze Individualitätsphase
hindurch fortdauert. Der Genotypus verbindet das art- und in-
dividualgemässe Organisationsgesetz, indem letzteres weiter wirkt
mit den im fertigen Organismus realisierten Prozessen.
Die Ganzheit, auf welche wir auch im „Phänotypus“ treffen, ist
einerseits ein Überbleibsel der orginären, vielfach beruht sie aber
(als sekundäre) auch auf integrativer Wechselbeziehung (Korrelation)
der differenzierten Teile des Organismus, d. h. dessen, worauf im
Biosystem z.T. der Begriff der Undverbindung passt. Neben dem
Übersummativen (dem „Gestaltlichen“) ist ebenso auch die autonome
Mannigfaltigkeit des Summativen (vgl. unten) zu berücksichtigen. Hier
eben muss die früher erwähnte mittlere Linie gefunden werden.
Abänderungen können auf Modifikationen durch die zufällige
Konstellation der Umweltbedingungen beruhen (Kondition, Somation),
oder erbliche Variationen darstellen. Die erblichen Abänderungen
sind wiederum solche normaler oder solche pathologischer Natur,
stets aber Abänderung von Rassecharakteren infolge 1. von Mutabili-
tät der Artzelle durch Neukombination zweier (im weitesten Wort-
sinn) artverschiedener Idioplasmen oder durch eine solche wegen
direkter Veränderung des Keimplasmas (sprunghafte Mutation);
2. vielleicht doch auch unter dem Einfluss der Lebenslage auf den
Genotypus.
5] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 85
Auch klinisch müssen unbedingt genotypische Konstitution und
Modifikation mehr als bisher auseinander gehalten werden. Die ärzt-
liche Praxis hat allen Fragen der Eugenik und Euthenik volles
Augenmerk zuzuwenden. Aber abgesehen von der Kompliziertheit des
Mendelismus in seiner Anwendung auf den Menschen bestimmt das
erwähnte doppelte Bedingtsein der persönlichen Beschaffenheit des
Menschen und die Fortdauer der Entwicklungsarbeit nach Organisa-
tionsgesetzen, welche die genotypische Reaktionsnorm mit den in der
Person realisierten Prozessen während der ganzen Individualitätsphase
verbunden halten, heute die meisten Konstitutionspathologen, originäre
und sekundäre Körperverfassung praktisch aus denselben Gesichts-
punkten zu betrachten. Sie werden theoretisch gerechtfertigt dadurch,
dass sich die Keimzelle in Wirklichkeit auf dem Wege über die Wieder-
herstellung des Organismus selbst wiederherstellt, dass also zwischen
Anfang und Ende der Entwicklung an einer Stelle derselben eine
rückläufige, die Bedingungen zur Keimzellenentstehung von neuem er-
langende Reaktion einsetzt (A. Cohen-Kysper). Kontinuierlich ist
also ein entwicklungsfähiges Biosystem mit charakteristischen „Ge-
stalt“eigenschaften (vgl. unten), in deren Rahmen alle einschlägigen
Umwandlungen, die Wiederherstellung des Gesamtorganismus, wie die
rückläufige Ei-Differenzierung ablaufen.
4, Beim Suchen nach der mehrfach erwähnten mittleren Linie
zwischen der Ganzheit des Organismus und den Organen hatte ich selbst
am weitesten zu kommen geglaubt, wenn ich, hinausgreifend über die ver-
meintlichen Grenzen des Lebens, ausging vom Begriff des physischen
Systems und von den allgemeinen Gesetzen, welche in der Reaktion
eines jeden solchen Systems zum Ausdruck kommen. Das System ist un-
teilbar in den an seine Zusammensetzung gebundenen Leistungen, es ist
dynamisch einheitlich. Zustände des Gleichgewichts oder des statio-
nären Geschehens werden hier immer dann erreicht, wenn für das
System als Ganzes die arbeitsfähige Energie jeweils ein Minimum,
die Entropie ein Maximum geworden ist, und die Skalaren (oder
Vektoren), auf deren Gruppierung es ankommt, nicht in Einzelgebieten
für sich bestimmte Beträge und Lagerungen annehmen, sondern durch
ihre Gesamtgruppierung wechselweise zueinander ein dauerndes Ge-
bilde ergeben. Das Geschehen an jeder Stelle hängt deshalb grund-
sätzlich von den vorhandenen Bedingungen auch in allen übrigen
Orten des Systems ab.
Zustände vollkommenen Gleichgewichts interessieren uns hier
kaum. An Erregbarkeit und an Erregung eines inaktiven und auf
die Dauer mehr oder weniger invarianten Organismus (nach Art eines
86 -= Fr. Kraus. 6
Nullinstruments) durch wechselnde aktive Reize kann die funktionelle
Denkweise nicht ihr Genüge finden: der Organismus ist vielmehr ein,
immer zu erhöhter Arbeit bereites, Aktionszentrum mit stationären
Prozessen, periodisch-stationärem Geschehen und unterbrechenden
dynamischen Verläufen. Beim stationären Geschehen macht das System
fortwährend denselben Vorgang durch, ohne Veränderung einer seiner
Systemeigenschaften (Beispiel: Strömung einer Flüssigkeit in Röhren
bei konstantem Zu- und Abfluss). Plötzlicher Wechsel der Bedingungen
bedeutet den dynamischen Vorgang und eine Änderung der System-
eigenschaften. Kann jedoch der dynamische Verlauf in einen zweiten,
den nunmehr veränderten Bedingungen gemässen, stationären Zustand
übergeführt werden, resultiert unter Umständen, bei jeweils ge-
gebener Zeit zum Erreichen des neuen stationären Geschehens, eine
ganze Reihe von durch einen dynamischen Verlauf verknüpften
stationären Zuständen, die, je geringer relativ die Bedingungsände-
rungen sind, immer benachbarter und immer weniger unterscheidbar
werden (quasi stationäre Abfolge).
Solange es existiert, setzt jedes organische System in jedem
Augenblick seine inneren Bedingungen mit den Kräften des Mediums
ins Gleichgewicht. „Reize“ sind (im Sinne von Avenarius) Komple-
mentärbedingungen, die zu dem schon vorhandenen vitalen Bedingungs-
komplex hinzukommen müssen, um den, die betreffende Lebenser-
scheinung eindeutig bestimmenden, Bedingungskomplex zu vervoll-
ständigen. Nie handelt es sich aber bloss, gleichförmig oder
einfach der Reizintensität entsprechend, um eine durch den
Reiz erfolgte Störung im dynamischen Gleichgewicht des Systems,
woran sich nach obigem Schema weitere Änderungen schliessen,
welche dasselbe in sein altes oder ein anderes Gleichgewicht zurück-
führen.
An jeden Reflex geknüpft, finden wir vielmehr als individuell-
charakteristisch zwischen den Etappen: Rezeptor, Nerv, Zentrum,
Nerv und Effektor den verschiedenen quantitativen Faktor der
beweglichen Erregung als wesentlichste, das Erleben bezeich-
nende Seite des Vorganges. Der Reizeffekt ist im zusammengesetzten
Organismus nicht einfach proportional der Reizintensität, erkann verhält-
nismässig kleiner gehalten werden oder gross ausfallen. Im Einklang damit
fehlt im Organismus (angesam melte) Erregung nie gänzlich, ein gewisser
„Tonus“ ist immer anzunehmen, und von diesem bis zur heftigsten
Erregung gibt es kontinuierlich alle Übergänge. Von der individuellen
Einstellung (Einstellbarkeit) und Verteilung des quantitativen Erregungs-
faktors hängt (vgl. unten) die faktisch erreichte Wärmetönung der
Transformationen im Organismus, resp. die Isothermie der stationären
7] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 87
Reaktionen ab und die Anwendbarkeit des Gesetzes der Massen-
wirkung auf sie. Die grosse Bedeutung der Unabhängigkeit des
quantitativen Faktors der Erregung von der Reizintensität, die uns
noch beschäftigen wird, sei schon an dieser Stelle nur durch zwei
Beispiele beleuchtet. Wir können das leiseste Flüstern so stark „er-
leben“ wie das lauteste Getöse. Die muskuläre Anstrengungsfähigkeit
beruht nicht (nicht ausschliesslich) auf dem Kohlehydratvorrat im
Muskel: Die „Asthenischen“ verbrauchen übermässig Sauerstoff, also
‚ auch Kohlehydrat, und müssen trotzdem die Arbeit alsbald abbrechen,
vor der Erschöpfung des vorhandenen Glykogens.
5. Viel wichtiger als die Frage des aufs Erleben gerichteten Be-
merkens (Bewusstsein), des Gefühls und des Triebs ist zu-
nächst diejenige nach der möglichen oder nicht möglichen Auflös-
barkeit der Erlebnisse in Wahrnehmungen oder „Gestalten“ (vgl.
unten). Im Falle der Unaufiösbarkeit spreche ich schlechthin vom
„Tonus“, d. h. von einem gewissen Erregungsgrad wechselnder Stärke
(besonders im gesamten Nervensystem). Änderungen dieses Tonus
spielen sich besonders entsprechend der Verwandtschaften und Bah-
nungen der subkortikalen Organe ab, einige verharren annähernd in
ihrem gewöhnlichen Zustande. Der Rinde fehlen übrigens derartige -
auf gewisse Elemente sich erstreckende Erregungen, die der Auf-
lösung im obigen Sinne unzugänglich sind, durchaus nicht. Der Tonus
subkortikaler Zentra, welche grade unter besonderen eventuell patho-
logischen Bedingungen von höher geordneten nicht mehr regulierend
beeinflusst sind, kann sehr hoch steigen, er kann dann olıne jede
Assoziation in den Kortex vordringen („uns ist ganz kannibalisch
wohl, als wie fünfhnndert Säuen“) u. a. m.
Speziell unter „persönlicher Sphäre“ hat man im allgemeinen
zu verstehen die von den inneren Organen ausgehenden, meist nicht
streng lokalisierten, sondern von grossen körperlichen, zuletzt von
einer „kompakten Ausgedehntheit“, herrührenden Reize und ihre Spuren,
welche zusammen die „innere Erfahrung“ bilden. Diese Spuren haben’
besonders im Wachzustande eine Tendenz zu beständiger Reproduk-
tion; die wichtigsten Bedürfnisse des Organismus, vom Lebensbeginn
an, zum Ausdruck bringend, beeinflussen sie die Richtung der meisten
Körperreaktionen. Die spontanen, d. h. die nicht unmittelbar von
Aussenreizen abhängigen Reaktionen haben enge Beziehungen zu
dieser persönlichen Sphäre.
Es ist schon die Rede gewesen vom phänotypischen Ganzen und dem
Eigenleben der Teilsysteme der Person, vom kollektiven und distri-
butiven Verhalten des entwickelten Organismus. Ebensowenig wie
BR Fr. Kraus. [8
in der Welt, herrscht im Gesamtorganismus volle Harmonie. Die
wichtigsten Ketten der Lebensvorgänge ziehen jeweils die übrigen
Teilsysteme nach sich und an sich, das distributive Verhalten schliesst
das kollektive ein, nicht umgekehrt. Das Ganze der Person ist immer
bis zu einem gewissen Grade unvollendet, mit jeder Körperhandlung
in Zusammenjochung oder in Auflösung und Umbildung begriffen. Die
Kerne für die Personbildung sind psychophysisch neutrale Konsti-
tuenten der Organisation. Von dieser Herstellung des Syzygiums
ist zu unterscheiden die individuell-charakteristische (reflektorische)
Konzentration des unanalysierbaren Tonus und diejenige bei
analysierter Wahrnehmung („Gestalt“bildung, assoziativ-symbolische
Reflexe).
6. Um dem Tonus im obigen Sinne eine exakte Grundlage zu
geben, trenne ich die animalischen und die vegetativen Leistungen
des Biosystems scharf im prägnanten Sinne; ich unterscheide zwei
Betriebstücke, den oxydativen Chemismus und die Grenz-
flächenpotentiale, welche beide natürlich im Protoplasmabetrieb
wesentlichem Zusammenhang und wechselseitige Abhängigkeit auf-
weisen.
In jedem System gehen konstruktive Veränderungen, welche, inner-
halb seiner Ausgleichsbreite, durch Reaktion auf einen äusseren Ein-
fluss zustande kommen, derart vor sich, dass die wiederholte Reaktion
auf den gleichen äusseren Einfluss mit kleinerem Zwang vor sich geht
(Cohen-Kysper). Das spezielle Beispiel des sich kontrahierenden
quergestreiften Muskels zeigt ferner, wie im Zuckungsablauf eine spätere
Phase sich in eine frühere zurückverwandelt, aus welcher die zusammen-
gezogene, als zum äussersten Ende differenzierte Phase von neuen leicht
entsteht (ähnlich wie bei der Ontogenese ein Teil des Organismus, das
Ei, auf eine Phase zurückgreift, aus welcher das Ganze des Organis-
mus von neuem sich entwickelt). Man erkennt in diesen formalen
Vorstellungen die Paradigmata der Übung, der „Verjüngu ng“,
der Erholung. Ich habe seinerzeit eine unmittelbar anf den oxyda-
tiven Chemismus zu beziehende Wiederherstellung der Plasmastruktur
der kolloiden kontraktilen Substanz als Vorbereitung der Muskel-
jeistung, als diese Erholung sicherndes Mass der Konstitution
bezeichnet. In jüngster Zeit konnte ich mit Zondek nachweisen,
wie auch in diesem Falle der oxydative Chemismus vom Elektro-
Jytturgor abhängt.
Ich und Zondek vermochten ferner experimentell zu zeigen und
auch klinisch wahrscheinlich zu machen, dass eine Lebenserschei-
nung, wie der Herzschlag, sich mechanisch (in der Kontraktionskurve)
9] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 89
völlig gleichförmig präsentieren kann, obschon, wiederum physikalisch-
chemisch oder bioelektrisch beurteilt, der Vorgang als sehr verschieden
sich herausstellen kann, und dass gerade in einschlägigen An- .
passungen das Konstitutionelle sich ausdrückt.
Etwas Bewegliches, Bewegtes musste der Tonus (schon nach den
Untersuchungen von Bethe, Uexküll u. A.) sein. An die Stelle eines
hypothetischen (Nerven-) „Fluidums“ mit den Eigenschaften mannig-
faltigen Druckes (Nerventonus) konnte ich und Zondek den
gleichfalls im Versuch prüfbaren geweblichen Binnendruck im
Protoplasma überhaupt (Turgor), diesen wichtigsten Motor aller
Flüssigkeits- und Stofftransporte, setzen. Da es sich vor allem um
wechselnde Beladung der Grenzflächen in der Plasmastruktur mit zwei
antagonistischen Ionen-Kombinationen handelt, kann man für den
Tonus auch schlechthin Elektrolytturgor setzen. Jener Nerventonus
war hauptsächlich gemessen worden am Muskeltonus, welch letzterer
sich kundgibt im Spannungsgrad der Muskelfasern, im Widerstand
gegen künstliche Streckung. In Wirklichkeit beeinflusst der ein art-
und individualeigenes Ganze bildende Elektrolyt, derart beständig in
Strömung erhalten, dass Gefässapparat und parallelgestaltete Proto-
plasmadynamik ebenso den Elektrolyttransport beherrschen wie beide
vom Elektrolytverkehr abhängen, alle Zustands- und Leistungseigen-
schaften des Organismus.
Glieder des erwähnten vegetativen Systems im weiteren Sinne
sind: Grenzflächen (Membranen) der Plasmastruktur, dem Kolloid-
elektrolyt zugehörig, ferner der Salzelektrolyt, eine Kombination anta-
gonistisch wirkender Kationen, weiters Puffer, Hormone, bestimmte
endo- und exogene Reizstoffe und Gifte, sowie ein Triebwerk von
Katalysatoren. Zusammengefasst, aber nur im regulatorischen Sinne,
wird alles dies durch den vegetativen Nerv. Die Bewegungserschei-
nungen in diesem vegetativen Betriebsstück werden, abgesehen von
kontraktilen Elementen, gelenkt vor allem durch elektrische Grenz-
flächenpotentiale.
Die speziellen Beziehungen des vegetativen Nervensystems zum
Elektrolyt werden beleuchtet durch die Zondekschen Analogien und
Substitutionsmöglichkeiten.
Das vegetative System im obigen weiteren Sinne, als sehr aus-
gedehntes und wohl auch reichlich vorhandenes Überbleibsel des während
der Ontogenese nicht organ-spezifisch differenzierten und fixierten Idio-
plasmas, sonach auch im Phänotypus noch der Repräsentant des orginären
Ganzen und allen Reizen in nicht einseitiger Richtung zugänglich,
mit seiner automatischen Tätigkeit, in welche Rezeptionen bzw. ani-
malische Reflexe ununterbrochen aber nur sekundär hineinspielen, mit
90 Fr. Kraus. [10
seiner experimentell immer mehr nachweislichen Bedeutung für die
ontogenetische Personbildung und die Perioden der Individualitäts-
phase, mit seiner Selbststeuerung und den beiden Maximumskalen der
Erregung (Ambivalenz), mit seinem Einfluss auf den oxydativen Chemis-
mus und dieStoffverteilung, als die „Unruh“ des Organismus mit der Takt-
gebung durch seine zwei Ionengruppen, als Wiederherstellungsapparat
der Arbeitsbereitschaft, als Bindeglied zwischen dem Ganzen der Person
und den Organen: dieses vegetative Betriebsstück ist das System, die
physische „Gestalt“ alles individuellen Erlebens. Denn es stellt
die verfügbare Substanz dar, aus welcher die Rezeptionen (animali-
schen Reflexe) für das stationäre und quasistationäre Geschehen den
von der Reizintensität nicht einfach abhängigen quantitativen
Faktor der Erregung, den nichtauflösbaren und auflösbaren Tonus
schöpfen. „Gestalt“ bedeutet hierin nicht einfach Form im morpho-
logisch-physiologischen Sinn, sondern Zustände und Vorgänge, deren
charakteristischen Eigenschaften und Wirkungen aus solchen ihrer
summierbaren Teile nicht zusammensetzbar sind. Solche „Ge-
stalten“ sind seinerzeit von v. Ehrenfels zunächst für die Psycho-
logie aufgewiesen worden.
Diese Auswirkung der Durchtränkungsspannung in (Elektrolyt-)
Tonus, Tonuserzeugung, Tonusbewegung, Tonusverbrauch möge historisch
gerichtete Kollegen an den Tonus der Stoa erinnern, welcher durch
Verdichtung und Verdünnung den Dingen die innere Intensität ihres
Wesens und Lebens und Beseelung geben sollte, sowie die ältesten
nicht immer klaren, geschweige exakten Konstitutionsvorstellungen
der Antike ins Gedächtnis rufen.
T. Wollte man praktisch das Konstitutionelle in dem besonderen
(angeborenen oder auch erworbenen) Dauerzustand sehen, sofern der-
selbe eine vorhersehbare, inviduelle oder doch bloss einer Gruppe von
Menschen eigentümliche, abweichende Reaktion auf äussere
und innere Reize zur Folge hat, muss man, wenn man überhaupt
etwas sagen will, doch eine Einschränkung machen. Die nämlich auf
den quantitativen Faktor der Erregung bzw. dessen Ver-
teilung. Das alte Tonusparadigma, der quergestreifte Muskel, zeigt,
dass hierin an sich durchaus nichts Hypothetisches liegt. Am
Rückenmarkspräparat erscheint der motorische Effekt im allgemeinen
entsprechend der Reizintensität. Ganz anders erweist sich der Reaktions-
verlauf, wenn am Rückenmarksstück der vom Gehirn abgetrennte
Nucleus ruber noch vorhanden ist. In der Enthirnungsstarre folgt am
untersuchten Muskel auf den Reiz der zugehörigen Muskel keine
Zuckung, sondern „Haltung“. Zur Reizgrösse kommt also ein vom
11) Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 91
Organismus selbst aufgesparter, durch den Reflexgeweckter
(in diesem Falle positiver, in anderen Fällen negativer) Faktor hinzu.
Diese tonussteigernde und tonusverteilende Wirkung des Nucleus ruber
kommt z. B. auch bei Paralysis agitans irgendwie zur Geltung, wo
doch letzterer selbst vom Krankheitsprozess nicht direkt ergriffen ist,
sondern weil affizierte übergeordnete regulierende Zentren im
Streifenhügel (Globus pallidus, Nucleus basalis) in ihrer Funktion zurück-
treten. Die Klinik muss hier, wie oft anderwärts, die überlieferten Tat-
sachen der Physiologie in logischen Schlüssen weiter verfolgen, bis das
unserem besonderen Standpunkt unerlässliche Verständnis ge-
wonnen scheint. Wir müssen mit G. E. Stahl die Lehren der Physiologie
betreffend den Tonus des quergestreiften Muskels mit den uralten
ärztlichen Anschauungen über Tonus und Atonie der Eingeweide, der
Haut usw. in Einklang bringen. Wir müssen, entgegen Stahl und
Haller, auch geringe, dauernde unbewusste Erregungen für die will-
kürliche Muskulatur, wie das für Herz und Eingeweide seit alters an-
genommen worden, in Betracht ziehen. Wir müssen mit Bichat,
und noch weitergehend als dieser, der lebendigen Substanz selbst alles,
was mit Kontraktilität zusammenhängt, zuschreiben und, wie ich es
tue, den Kolloidelektrolyten und den alle Gewebe durch-
dringenden Flüssigkeitsstrom (Elektrolyt) verantwort-
lich machen für Turgor und Tonus. Vorallem muss uns hierbei
die Strecke vom Ende der Arterien bis zam Beginn der Venen be-
schäftigen, weil da ebenso der geschlossene Blutkreislauf wie der Gewebs-
strom reguliert wird.
„Mildern Sie Ihre Sprache, Professor,“ höre ich da den richtigen
Berliner Praktiker etwa meines Alters sprechen. „Zugeben will ich,
dass die stärkere Berücksichtigung des Gesamtorganismus resp. der
Person eine gewisse Reform bedeutet. Aber, als ich meine Medizin
anfing, war z. B. der Diabetes mellitus eine Konstitutionskrank-
heit; da kam die grosse Entdeckung von Mering und Minkowski:
nun wurde er eine Organ krankheit. Im „Fortschritt“ zeigen Sie uns
jetzt Habitustypen, der eine junge Mensch. gleicher Art wächst sich
zum Kriegshelden aus, der andere wird mit ähnlichen Körpermassen,
wie Sie esnennen, ein Kümmerling: ich sehe und weiss nicht warum. In
der „Kasse“ habe ich jetzt einen Arbeiter, der am Wochenende im Sport
ganz gut abschneidet, während er an den Werktagen stets über Müdig-
keit und kardiale Beschwerden klagt. Ich helfe mir damit, dass der
Mensch aus Leib und Seele besteht, und dass das angegebene Unver-
mögen des „Patienten“ sich anzustrengen, psycho-(thymo-}gen ist
(Hass gegen die Fabrik usw.)....“
„Nun sehen wir uns“, antworte ich, „doch einmal diesen besonderen
Archiv für Frauenkundo. Bd. IX. H. 2. 7
92 Fr. Kraus. [12
Krankheitsfall da an, wegen dessen Sie mich heute konsultieren. Der
40 jährige Mann leidet an ähnlichen Beschwerden, wie einige seiner
Geschwister. Er ist ein wenig korpulent. Hatte in der ersten Lebens-
hälfte oft Halsentzündung. Seine Haut ist sehr empfindlich, die Füsse
sind immer kalt, naclı kühlem Bad erwärmt er sich schlecht. Viele Gase
im Leib, saueres Aufstossen, Stuhlverstopfung. Die gewöhnlichen Ur-
sachen für ein „organisches“ Herzleiden lassen sich nicht ermitteln,
im Krieg war der Patient nicht. Er stellt „Nervosität“ gewöhnlicher
Art strikt in Abrede. Seine Klagen verweisen u. a. besonders auch
auf das Herz. Nicht selten bestehen Extrasystolie oder Herz,krampf“,
gelegentlich kommt es zu Ohnmacht; öfter hat der Patient Palpita-
tionen. Der Blutdruck ist auffallend niedrig, aber der Puls nicht
„matt“. Über die Herzgrösse haben die bisherigen Consilarii ver-
schiedene Ansichten geäussert. Mittels des Röntgenschirms unter-
sucht, erweist sich das Zwerchfell hochstehend, die Lungenfelder sind
dunkel. Die Aorta ist kaum beginnend sklerotisch konfiguriert, das
Herz erscheint quergelagert, unzweifelhaft gross, schlaff, verkleinert
sich stark beim Valsalvaversuch, wird im Inspirium lang und spitz aus-
gezogen. Die Töne sind normal. Aschner stark positiv‘. Wir
einigen uns auf Jdie Diagnose: Vagotonie, nachdem anderweitig in
Betracht kommende Aflektionen ausgeschlossen worden sind.
„Je nun, in der Bibliothek meines Vaters fand ich“, meint der
Kollege, „als Student die Neurologie von Longet. Davon war ein
sehr grosser Teil dem Sympathikus gewidmet, und der Autor rechnet
noch nicht einmal ihm alles zu, was zu ihm gehört. In den theore-
tischen und praktischen Kollegien hörte, ich dann aber sehr wenig
vom Sympathikus. In besseren Tagen erlaubten es meine Verhältnisse,
die „Ergebnisse“ zu kaufen. Da fand ich, dass Langley das vegetative
Nervensystem „wieder“ entdeckte. Also gut, heute wird nochmals der
Sympathikus in der Medizin Trumpf. Warum nennen Sie aber unseren
heutigen Fall nicht lieber Vagusneurose, ein mir schon geläufiger, wenn
auch früher in der Praxis wenig bedeutender Name? Es wäre leichter
zuzulernen, dass bei einer „funktionellen Neurose“ das Herz grösser
und schlaff werden kann, dabei auch wirklich krampfähnliche Zu-
stände aufweist — als diese verwickelte Konstitutionslehre, welche
noch dazu unsere therapeutischen Aussichten eher verringert (denn
wie soll Konstitutionelles, besonders angeborenes, heilen ?).“
„Eine Vagotonie ist keine blosse Neurose“, muss ich antworten.
„Sie sollten bedenken, Kollege, dass das erwähnte vegetative System (im
weiteren Sinne)ontogenetisch schon da ist, bevor es sympathische Nerven,
die hier überhaupt bloss als Regulatoren fungieren, gibt. Entzündung ver-
läuft auch im entwickelten Organismus am nervenlosen Gewebe. Die
9 we mee r
13) Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems, 93
effektorischen Nerven des vegetativen Systems sind zum Teil anders mit
ihren Erfolgsorganen verknüpft, als z. B. motorischer Nerv und quer-
gestreifter Muskel. Im vegetativen System gibt es direkt nervöse und
leitungslose Verbindung (Fernempfang und Fernsendung). Die Ein-
wirkung auf die Erfolgsorgane kann, auch unter pathologischen Ver-
hältnissen, vom Nerven her auf die Kolloidelektrolyte und von der Säfte-
masse her auf die Aussen- und Binnenelektrolyte der Gewebe erfolgen.
Es gibt nicht bloss einen Diabetes; wir kennen viele „Äquivalente“
des anaphylaktischen Shocks, einige des Morbus Basedowii. Und end-
lich — warum sollte es keine Konstitutionstherapie geben?“
8. Analysierbar ist die vor der Krankheit schon vorhandene
Konstitution, bzw. die als Disposition oder als konstitutionelles Moment
in Krankheiten selbst sich geltend machende Körperverfassung sowohl
morphologisch, wie nach Leistungen. Über das Verhältnis
dieser beiden Betrachtungsweisen wäre noch folgendes zu sagen.
Die Forderung zusammengesetzter und doch durch Einheit cha-
rakterisierter Gebilde, die mehr sind als ihre Teile, scheint auf den
ersten Blick den Grundlagen der exakten Naturwissenschaft zu wider-
sprechen. Eine frühere Psychologie, z. B. noch die Wundtsche, hat denn
auch „Gestalten“ im Sinne von v. Ehrenfels (vgl. oben) ausschliess-
lich aus der Produktionskraft höherer geistiger Tätigkeit
herleiten wollen und gerade darauf hin dem Seelenleben Gesetze sui
generis zugesprochen. Darin wurzelt ja auch der unfruchtbare Streit,
ob der ganze Lebensprozess sich auf anorganisches Geschehen zurück-
führen lasse oder ob seiner einheitlichen Geschlossenheit wegen der
Organismus seine Teile ganz und gar nicht wie die Posten einer
Summe enthalten könne, sondern auch für sich von Anfang an völlig
aufein psychisches Gestaltproblem zurückzuführen sei. Unsere
Berliner Psychologenschule (Köhler, Wertheimer, Koffka) weist
aber, wie es nach obigen Ausführungen von mir stets vertreten worden,
mit Recht darauf hin, dass auch in der Physik Gestalten im obigen
Sinne aufweisbar sind: jeder geschlossene elektrische Stromkreis ist
ein schlagendes Beispiel eines solchen physischen Systems.
Unser Organismus besteht nun, nach dem Früheren, weder bloss
aus Undverbindungen selbständiger Teile, noch sind seine Zustände
und Verläufe sämtlich nur im totalen Zusammenhang aufweisbar.
Um die richtigen Konsequenzen auch für das Konstitutionelle zu
ziehen, muss man sich nur klar sein, worauf der Begriff des Teils
in dem hier gemeinten „Gestalt“bereich, worin das Geschehen an
- jeder Stelle grundsätzlich von den gegebenen Dingen auch an allen
übrigen Orten des Systems abhängt, wirklich noch angewendet werden
7%
94 Fr. Kraus. [14
darf. Keines der in solcher Gestalt auftretenden physischen Gebilde
entwickelt ihre Struktur frei, immer handelt es sich um eine Ver-
bindung von unveränderlichen Bedingungen, welche das Gestaltmaterial
räumlich binden („physische Topographie des Gestaltbezirkes“ nach
Köhler). Ein elektrischer Leiter z. B. muss doch als derselbe gelten,
ob er geladen, ob ein Strom hindurchgeht oder nicht. Die über-
summativen Eigenschaften eines gestalteten Binnensystems erlauben
also keinen direkten Schluss auf übersummative Eigenschaften der
physischen Topographie. Ausgenommen letztere würden selbst durch
die Gestaltkräfte dynamisch oder quasistationär mitverschoben. Man
kann selbst so weit gehen, anzunehmen, dass man für gestaltetes
Material nahezu beliebig bedingende äussere „Formen“ willkürlich
herstellen könnte. Ganz ebenso stellt nun aber auch der fertig
entwickelte Phänotypus (Habitus), von den beweglichen Proto-
'plasmen abgesehen, vielfach eine summative Gruppierung dar, auf
welche der Begriff: Teile in seiner gewöhnlichen Bedeutung arzu-
wenden ist. Man kann auch aus der physischen Topo-
graphie der Person nur mit Zurückhaltung auf das Ge-
staltgeschehen ihres Biosystems und damit auf ihr Er-
leben und ihren Individualcharakter schliessen. Man
denke nur gerade an das Beispiel der Geschlechtsbestimmung:
Von zwei sonst vegetativ sich vermehrenden Infusorien, an denen auch
der geübteste Mikroskopiker keinerlei Dimorphismus wahrnimmt, ge-
winnt eines im Momente der — aus welchen Gründen, doch wohl aus
solchen des Systems? — erfolgenden Kopulation erst auch äusserliche
männliche Formcharaktere. Ein quergestreifter Muskel und das
Herz sind ferner ähnlich der Form nach differenziert, die Gestalteigen-
schaften weichen sehr voneinander ab. Eine grössere ontogenetische
Umorganisation endlich als z. B. die der Pubertät vermag man sich
kaum vorzustellen. Kann man aber aus der veränderten Morphe
schliessen auf die gleichzeitige Charakterbildung; ja kann man sich
nicht sehr gut zurechtlegen, dass der objektiv fassbare erotische
„Rausch“ auch ohne dies alles hervorrufbar wäre, ebenso, wie es
doch wiederum Menschen gibt, welche mit „hervorragendem“ Penis
und spermaführenden Hoden usw. ausgerüstet, niemals eine sexuelle
Regung empfunden haben?
In der Frage der Durchschnitts- und Normalanatomie möchte
ich nicht weitergehen, als zu sagen, dass Norm und Individuum erst
durch unsere Betrachtungsweise, nicht ihrem Wesen nach, zu wirk-
lichen Gegensätzen werden. Die formale Beschreibung des mensch-
lichen Körpers mit systematischer Ordnung der Merkmale behält
auf alle Fälle ihren Wert. Aber die ätiologische Untersuchung,
15] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 95
welche neben der morphologischen einherzugehen hat, wird dereinst
vielleicht wirklich das Individuum ganz auf das genotypische System
zurückführen lassen. Bis dahin muss eine gewisse Unzulänglichkeit
jedes einzelnen Normbegrifis für sich doch wohl festgehalten werden.
Literatur.
F. Martius: Medizin der (Gegenwart. I. Meiner, Leipzig 1923.
F. Kraus: Allgemeine und spezielle Pathologie der Person. Thieme, Leipzig 1919;
Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege: Innere Medizin. Barth,
Leipzig 1921; Med. Klinik 1922, Nr. 48.
A. Coben-Kysper: Mechanische Analyse der Veränderungen vitaler Systeme.
Leipzig 1910; Mechanische Grundgesetze des Lebens. Leipzig 1914; Vortrag,
Gesellschaft deutscher Naturfreunde und Ärzte. Leipzig 1922.
W. Köhler: Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand.
Vieweg, Braunschweig 1920 (dort einschlägige naturphilosophische und psycho-
logische Literatur).
Die Bedeutung der Sexualkonstitution für die
Gynäkologie').
Von
Professor Dr. Paul Mathes, Innsbruck.
Die heutige Kulturmenschheit ist von einer Mannigfaltigkeit
und Vielgestaltigkeit, die alle Vorstellung übertrifft. Unter den vielen
Millionen, die heute leben, gibt es nicht zwei völlig identische
Wesen, wir können uns noch unvorstellbar viele Millionen hinzu-
denken, ohne dass es wahrscheinlich wäre, dass sich auch unter
diesen ein völlig identisches Paar findet. Und doch muss der Kon-
stitutionsforscher sich bemühen einzelne Typen auszusondern. Es
geschieht dies mittels eines Denkprozesses, durch den wir gemein-
same, wesentliche Merkmale der Einzelwesen abstrahieren und sie
als Typenmerkmale zusammenfassen, während wir andere minder
wesentlich erscheinende unterschiedliche Merkmale vernachlässigen
und von diesem Denkprozesse ausschalten. Die Schwierigkeiten, die
sich dieser Denktätigkeit entgegenstellen, sind gross, denn die Ver-
schiedenheit liegt nicht nur im Nebeneinander der Einzel-
wesen, sondern auch im Nacheinander und. das in doppelter
Hinsicht. Erstens kann bei einem Einzelwesen dessen charakte-
ristische Erscheinung (Phänotypus) während seines Lebens so stark
wechseln, dass man den Eindruck hat, er habe sich vollständig ver-
ändert; das ist es, was den Bemühungen mit 'der genotypischen Defi-
nition des Begriffes Konstitution durchzudringen so grosse Hinder-
nisse bereitet hat und noch bereitet. Zweitens ist die Menschheit als
Gattung, wie jedes organische Gebilde, in einem fortschreitenden
Entwicklungsprozess begriffen. Wiedersheim hat in seinem
einst viel gelesenen, jetzt augenscheinlich wieder in Vergessenheit ge-
ratenen Buche über den Bau des Menschen eine grosse Zahl solcher
1) Vortrag, gehalten in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Eugenetik in Berlin am 16. März 1923. |
ee
2] Die Bedeutung der Sexualkonstitution für die Gynäkologie. 97
wandelbarer Merkmale zusammengestellt und viele neu gefunden.
Von diesen Merkmalen sind die wesentlichsten die, die durch die
Erwerbung des aufrechten Ganges bedingt sind und noch mehr viel-
leicht die immer mehr zunehmende Vorherrschaft des Grosshirnes
über die primitiveren Abschnitte des Gehirnes.
Es ist selbstverständlich, dass auf diesem Entwicklungswege
einzelne Menschen, ganze Völkerstämme und Rassen
vorauseilen, andere wieder zurückbleiben. Die ersten wollen wir
nach Leistung und Bau Vertreter der Zukunftsform, die anderen
ebenso Vertreter der Jugendform nennen. Weil es aber auch
Menschen gibt, bei denen Entwicklungshemmungen in mehr oder
minder ausgedehntem Masse und in wechselnder Stärke mit allge-
meinen Kümmertum und Schlaffheit der Gewebe verbunden sind,
wollen wir jene als Vertreterinnen der „prallen“ Jugendform
bezeichnen im Gegensatze zu diesen, die ich asthenische Hypo-
plasten nennen zu dürfen bitte. Zur prallen Jugendform gehört
ausserdem wesentlich eine eindeutige hohe sexuelle Diffe-
renzierung, und dieser Typus scheint mir mit dem pyknischen
Typus Kretschmers identisch zu sein.
Dem Programm unserer Tagung entsprechend greife ich aus den
Entwicklungshemmungen, die den ganzen Körper oder nur Teile von
ihm betreffen können, nur die heraus, die mit der Geschlecht-
lichkeit im weitesten Sinne des Wortes zusammenhängen und
deren Entstehung wir dadurch verständlich machen können, dass wir
eine mangelhafte Entwicklungsfähigkeit der Sexualchromo-
somen, der Geschlechtsdifferenziatoren, annehmen. Es
lässt sich gut vorstellen, dass die Geschlechtschromosomen in einer
befruchteten Eizelle einmal fehlen; es wird dann zur Entwicklung
eines Einzelwesens kommen, dessen Organe sich geschlechtlich nicht
differenzieren, das sich asexuell entwickelt und das nur Spezies-
merkmale im Sinne von Tandler trägt. Ein solcher Fall von
asexueller Entwicklung ist, wie gesagt wohl denkbar, er wird in
Wirklichkeit aber nicht vorkommen. Hingegen sind die Fälle sehr
häufig, in denen man annehmen muss, dass Geschlechtschromosomen
in der befruchteten Eizelle zwar vorhanden gewesen, dass sie aber
mit geringer Entwicklungsenergie ausgestattet alsohypoplastisch
gewesen sind. Es resultieren daraus Einzelwesen mit sexueller Hypo-
plasie im weitesten Sinne des Wortes, bei denen sowohl die seelischen
als auch die körperlichen Zeichen der Geschlechtlichkeit verkümmert
sind. |
Wie Sie gestern aus den Ausführungen des Herrn Hartmann
entnommen haben, ist jede befruchtete Eizelle bisexuell angelegt,
98 Paul Mathes. [3
d. h. sie enthält Differenziatoren für beide Geschlechter, aber diese
sind in verschiedener Menge vorhanden. In annähernd der Hälfte
aller menschlichen Eier, die zur Befruchtung kommen, überwiegt das
Enzym, das die Organe zur Differenzierung im männlichen Sinne
zwingt, in annähernd der anderen Hälfte überwiegt der Differen-
ziator für das weibliche Geschlecht. Es ist nun von vornherein
ganz unwahrscheinlich, dass das absolute Minus an Geschlechts-
enzym bei Hypoplasie der Geschlechtschromosomen beide Sorten
von Geschlechtsdifferenziatoren in der Weise betrifft, dass nicht
auch die Relation von männlichen und weiblichen Prinzipe zu-
cinandet gestört werde. Die Folge davon wird sein, dass in solchen
Fällen von Verkümmerung der Geschlechtlichkeit überhaupt
auch die eindeutige und volle Differenzierung in `
männlich und weiblich unvollkommen ist, mit anderen Worten wir
finden bei sexuellen Hypoplasten, aber auch bei solchen, die im
allgemeinen den Eindruck voller geschlechtlicher Reife machen,
Merkmale beider Geschlechter zum mindesten angedeutet, das sind
die sogenannten Intersexuellen. Bemerkungen in dieser Hinsicht
finden sich vielfach in der Literatur.
Es ist ferner in solchen Fällen von mehr oder minder starker
sexueller Hypoplasie mit Intersexualität meist so, dass die Ge-
schlechtschromosomen nicht die einzigen Anlageteile sind, die mit
mangelhafter Entwicklungsbereitschaft ausgestattet sind. Wir finden
bei sexuellen Hypoplasten mit mangelhafter sexueller Differenzierung
höhergradige Entwicklungshemmungen in grösserer oder geringerer
Zahl, Entwicklungsstörungen, die die Responsivität dieser
Wesen im Sinne Grotes beeinträchtigt, d. h. sie sind den An-
forderungen, die das Leben an sie stellt, nicht gewachsen; das be-
trifft vor allem die mangelhafte Funktion des vegeta-
tiven Nervensystems, das auf einer Stufe der Entwicklung
stehen bleibt, wie sie der Kindheit eigentümlich ist, der Kindheit
mit ihren grossen Affektschwankungen und mit den sonstigen Eigen-
tümlichkeiten ihres Affektlebens, mit der Übererregbarkeit der vege-
tativen Zentren, leichtes Erröten, Erblassen, Missempfindungen in
den inneren Organen, Neigung zu Erbrechen, zu Diarrhöen usw.
Wenn diese Erscheinungen ein gewisses Mass übersteigen, so sind wir
berechtigt, von solchen Wesen im Gegensatz zu den durchaus respon-
siven Vertreterinnen der prallen Jugendform, als von Hypo-
plasten zu sprechen, von asthenisch-ptotischen Hypo-
plasten, wenn die Gewebe weder die Prallheit der responsiven
Vertreterinnen der Jugendform besitzen noeh die Dichte der Gewebe,
die der Zukunftsform eigentümlich ist; von asthenisch-pto-
4) Die Bedeutung .der Sexualkonstitution für die Gynäkologie. 99
tischen, sexuellen Hypoplasten, wenn die Geschlechtlich-
keit im ganzen mangelhaft entwickelt ist und von intersexuellen
asthenisch-ptotischen Hypoplasten, wenn auch die ein-
deutige geschlechtliche Differenzierung eine unvollkommene ist. Die
letzte Gruppe vor allem ist es, die den Gynäkologen am meisten
interessiert, weil bei diesen Wesen das vegetative Nervensystem
nicht nur aus der Quelle der Hypoplasie die nötige Widerstandskraft
nicht besitzt, sondern weil sein vegetatives Nervensystem den dis-
harmonischen Impulsen der zweideutigen Geschlechtlichkeit wehrlos
ausgeliefert ist.
Der Vortragende nimmt nun an einer Reihe von Abbildungen solcher
Wesen zunächst eine Analyse ihrer Körperbeschaffenheit vor, aus der hervor-
gcecht, dass die körperlichen Merkmale der individuellen, der sexu-
ellen Hypoplasie und der Intersexualität ein buntes Gemisch von
Figerschaften darstellen, das entwirren zu können lange Übung und scharfe
Beobachtung erfordert. Unter den vorgeführten Bildern sind besonders zwei Fälle
markant: ein Fall einer Eunuchoiden (Tandler), für deren Erscheinung
die Zeichen der mangelhaften sexuellen Differenzierung das Bestimmende sind;
was sie zur Eunuchoiden stempelt, sind unwesentliche Züge in ihrer Er-
scheinung. . Der zweite Fall ist ein sogenannter männlicher Schein-
zwitter, d. h. eine genotypisch weibliche, körperlich und seelisch fast durch-
wegs weiblich geartete Hodenträgerin. Ihr ganzes geistiges, körperliches und
vegetatives Leben war durch den Besitz der Hoden, die zu tragen sie verurteilt
war, gehemmt. Sie bot körperlich das Bild des Status asthenico-ptoticus im
höchsten Grade, sie war seelisch im Zustande schwerster Hemmung und Depres-
sion, in ihren Geweben fehlte alle Spannung, es mangelte das pulsierende l,eben.
Die Hoden wurden entfernt; sie zeigten reichlich Zwischenzellen, eine deut-
liche Spermiogenese, doch waren die Spermien nicht weiter als zu klumpigen
Gebilden ohne charakteristische Form gediehen. Zehn Monate nach der Operation
war die Frau wie umgewandelt, ein frisches, lebensfrohes :Weib, das im Begriffe
war sich mit einem Manne zu verehelichen, der sie und den sie liebgewonnen
hatte; ein 6 cm langer Scheidenblindsack genügte den beiderseitigen körperlichen
Ansprüchen vollständig. Die schwere Depression war geschwunden, ihr früheres
Leben erscheine ihr nur wie ein schwerer, böser Traum. Die Prallheit ihrer
Körpergewebe hatte so zugenommen, dass die früher vorhandenen Zeichen des
Status asthenico-ptoticus so gut wie verschwunden waren; die früher reichlich
vorhandenen Bartstoppeln an Kinn und Oberlippe waren auf ein ganz geringes
Mass reduziert, die Stimme war deutlich höher und weniger rauh geworden.
Finige wenige intersexuelle Stigmen, wie mangelnder Schenkelschluss, etwas
derbere Gesichtszüge, und ein unter der Haut durchschimmerndes deutlicheres
Muskelrelief der Oberschenkel waren, wenn auch gemildert, bestehen geblieben.
Die Intersexualität macht das Weib weniger fruchtbar; ich
glaube nicht zu irren, wenn ich sage, dass die Intersexualität die
häufigste Ursaache der weiblichen Sterilität ist. Dies geht aus bei-
folgender Tabelle hervor. 100 Frauen der geburtshilflichen Klinik, die
durch Geburten ihre Fruchtbarkeit bewiesen hatten, wurden 100
Frauen der gynäkologischen Klinik gegenübergestellt, die ohne nach-
100 Paul Mathes. [5
weisbare krankhafte, insbesondere ohne entzündliche Veränderungen
im Bereiche des Genitale, steril geblieben waren. Als Indikator für
evtl. vorhandene Intersexualität wurde die Behaarung der Unter-
schenkel angenommen. Die Zahl der Kreuze über den Stäben gibt
die Stärke der Behaarung an. 1
+ + HH
Geburtshilfe 49 31 15 5
— —
Gynäkologie 18 34 30 18
Was nun das klinische Bild der Störungen anbelangt, denen die
Intersexuellen ausgesetzt sind, so wird es beherrscht ‘durch die
mangelhafte Leistungsfähigkeit des vegetativen Nervensystems, in
das auch das ganze Affektleben projiziert werden muss. Die Stö-
rungen äussern sich in der Form des asthenischen a wie ich
diese Zustandbilder seinerzeit genannt habe.
Die Zeit ist weit vorgeschritten, ich will Ihnen, meine Damen und
Herren, zum Schlusse nur noch eine Krankengeschichte erzählen,
aus der Sie das Wesentlichste herauslesen und vielleicht selbst ent-
nehmen können, dass meine Vermutung richtig ist, wenn ich den
schizoiden Typus Kretschmers mit dem intersexuellen
Typus identifiziere.
Ein junges Mädchen mit 24 Jahren, gross, rotblond, pigmentarm, von auf-
fallender, „interessanter‘‘ Schönheit, mit intelligenten, markanten Zügen, „klarem
Auge“ (d. h. es fehlt die Übergangsfalte der Jugendform am oberen Augenlid,
so dass oberer und unterer Rand des Lides parallel verlaufen und frei sichtbar
sind), mit leichtem Schnurrbart, breiten Schultern, mit leichten Zeichen des
Status asthenico-ptoticus oder vielleicht der Zukunftsform am Rumpfe, mit
atypischer Behaarung am Bauche mit mangelhaftem Schenkelschluss, mit starker
Behaarung am Anus, der Rückseite dar Ober- und der Vorderseite der Unter-
schenkel, kommt in die Sprechstunde mit der Klage über heftige Krämpfe bei der
Menstruation, die seit 11/, Jahren bestehen, sie fühle sich auch sonst nicht wohl,
schlafe schlecht, habe schreckhafte Träume, keinen Appetit und sei im Gegen-
satze zu früher zu keiner Arbeit recht fähig, sie werde häufig von Schmerzen
im Kreuz und Unterbauch geplagt. Sie ist ausserordentlich intelligent, die
Klarheit ihrer Angaben würden jedem Manne Ehre machen bis auf einen Punkt und
das ist der, dass sie angibt, sich in einer Ballnacht vor Di Jahren erkältet
zu haben.
Die Untersuchung ergibt die typischen Zeichen — Erregbarkeit
ddes vegetativen und des spinalen Nervensystemes, ein defloriertes Hymen, eine
mässig grosse retroflektierte Gebärmutter, einen engen Halskanal, eine kurze
spitze Portio und eine im oberen Anteil etwas enge Vagina, sowie einen engen
Schambogen, die Douglasfalten etwas verkürzt und sehr empfindlich. Es wird
manche Gynäkologen geben, die auf diesen Befund hin mit grosser Geschäftigkeit
den Üterus aufgerichtet, ein Pessar eingelegt oder den Uterus festgenäht und den
Zervikalkanal dilatiert hätten. Ich knüpfe an die Erzählung von der Ballnacht
—R—
6] Die Bedeutung der Sexualkonstitution für die Gynäkologie. 101
an und erfahre, dass sie bei der Tanzunterhaltung die Bekanntschaft eines ganz
jungen Mannes gemacht habe, der sie vom ersten Blick an -sehr interessiert
hätte, ihm sei es ähnlich gegangen. Es knüpft sich eine nähere Bekanntschaft an,
ohne dass es zunächst zu Kohabitationen gekommen wäre, die nächste Men-
struation war mit Krämpfen verbunden. Nach ihrer Erzählung hat der um ein
Jahr jüngere Mann alle Eigenschaften des gefährlichen Don Juan (also des Inter-
sexuellen), der durch seine körperliche Schönheit und durch sein flottes, sinn-
liches Wesen die Frauen berückt und fesselt. Bald ist es zu intimem Geschlechts-
verkehr gekommen; obwohl sie sich jedesmal körperlich und seelisch dagegen
aufbäumt, erliegt sie den Künsten ihres Verführers immer wieder und wird, trotz-
dem sie 'von sich behauptet, eine kalte Natur zu sein, bei den Kohabitationen
schliesslich jedesmal von so ungeheurer Wollust geschüttelt, dass sie selbst
angibt, es mache ihr diese hochgradige Erregung einen krankhaften Eindruck,
sie leide darunter, sie werde dadurch gepeinigt, das typische Verhalten der
Irtersexuellen, wenn sie der Gewalt des Mannes schliesslich erlegen sind. Ich
sondiere weiter mit der Frage, ob sie den jungen Mann heiraten könne und wolle.
Diese Zumutung wehrt sie aufs Heftigste ab, sie könne das niemals tun, sie hätte
kein Vertrauen zu ihm. Nun weiss ich genug und rate ihr dringend, das Ver-
hältnis abzubrechen und jeden Gedanken an den gefährlichen Verführer mit
aller Gewalt zu unterdrücken, nur er wäre die Schuld an ihren körperlichen
und seelischen Schmerzen. Sie verspricht es zu tun, es wird der Entschluss
dadurch erleichtert, dass sie genötigt ist, sich durch längere Zeit entfernt von
der Heimat und von ihm in Innsbruck aufzuhalten. Die nächsten zwei Men-
struationen sind schmerzlos. Es naht die Osterzeit, zu der sie für mehrere Tage
nach Hause zu reisen gedenkt. Ich warne sie eindringlich davor und rate ihr,
sich zum mindesten von dem jungen Mann ferne zu halten; sie verspricht es
zu tun, und hält sich für stark genug.
Ich höre darauf lange nichts von ihr, bis ich sie schliesslich aufsuche,
um Näheres zu erfahren. Ich treffe sie in einem ähnlichen Zustande an wie
damals, als sie mich das erstemal besuchte, die Dymenorrhöe ist wieder auf-
getreten, der asthenische Anfall ist wieder in voller Blüte. Mit Tränen in den
Augen gesteht sie mir, dass sie nicht die Kraft gehabt habe, ihren Vorsatz
durchzuführen, sie zweifle an sich und wisse nicht, wie das enden sollte. Ich
habe später nichts weiter von der Kranken gehört, sie hat sich einer weiteren
Behandlung entzogen, vielleicht hat ihr ein anderer die Gebärmutter angenäht
und die Zervix dilatiert, sie stammt aus einem begüterten Hause.
Seit ich darauf achte, kommen mir solche Fälle immer häufiger
vor, wenn auch nicht in so dramatischer Aufmachung wie der eben
geschilderte Fall. Es genügt bei mancher Intersexuellen vollständig,
dass sie nur den Gedanken fasst, es könnte ein Mann, der zufällig
ihre Wege gekreuzt hat, ihr näheres Interesse erwecken und sie sich
selbst in die Zwangslage versetzt sehen, eine Entscheidung treffen
zu müssen, damit sekundär eine Dymenorrhöe auftrete mit allen Be-
gleiterscheinungen eines mehr oder minder heftigen asthenischen
Anfalles. Der erste Affekt, der den asthenischen Anfall auslöst, ist
dor Zweifel, diesem folgt die Angst und dann schliesslich ein Ge-
fühl des Abscheues und des Ekels. Ich glaube, nicht zu weit zu
gehen mit der Annahme, dass das Erbrechen, das dann häufig die
102 Paul Mathes, Die Bedeutung der Sexualkonstitution für die Gynäkologie. [7
Dysmenorrhöe begleitet, in dieser zuletzt genannten Affektqualität
seine Ursache hat.
Eine stark intersexuelle, rothaarige Lehrerin von 28 Jahren klagt über
Dysmenorrhöe, die vor einem Jahre auch wieder im Anschluss an eine Er,
kältung‘“ aufgetreten ist; sie gibt an, seit 5 Monaten während der Menstruation
von Erbrechen geplagt zu sein. Auf meine bisherigen Erfahrungen gestützt,
steure ich nach körperlicher Untersuchung, die bis auf die typischen Stigmen
ein negatives Resultat ergibt, direkt auf mein Ziel los mit der Frage, ob sie
an eine eheliche Bindung denken. Sie ist darauf wie mit Blut übergossen, sie
bejaht zögernd meine Frage und kann sich vor Verwunderung und Erstaunen
nicht fassen, wieso ich denn auf diesen Gedanken gekommen sei, es treffe
meine Vermutung vollständig zu; ich dürfte aber ja nicht glauben, dass schon eine
körperliche Annäherung erfolgt sei, was ich ihr unbedingt zugeben konnte, sie war
Virgo; es genüge, sagte ich ihr, allein der Gedanke an eine seelische Annäherung.
Ich sage ihr weiter, der ärgste Feind der Liebe sei der Zweifel und sie solle
in Zukunft in diesen Dingen vorsichtig sein, sie begäbe sich damit jedesmal in
die Gefahr körperlich und seelisch zu erkranken, denn sie gehöre zu den
Frauen, denen es überhaupt nicht leicht würde, den richtigen Mann zu
finden. Auch das gibt sie mir zu mit der erstaunten Frage, ob sie denn für
mich ein offenes Buch sei, in dem ich zu lesen (vermöchte.
Diese eine Krankengeschichte enthält Anhaltspunkte genug um
zu ermessen, was der asthenische Anfall der Intersexuellen für die
Gymäkologie, besonders für die sog. kleine Gynäkologie zu be
deuten bat, ich muss es Ihrer Phantasie überlassen die nötigen
Konsequenzen für die Beurteilung anderer typischer gynäkologischer
Krankheitsbilder zu ziehen, ich muss es Ihrer logischen Überlegung
anheimstellen, nach welchen Grundsätzen sie die Behandlung solcher
Fälle einrichten wollen. Die Grundlage für Überlegungen in dieser
Richtung muss des Bestreben sein, das persönliche Wesen der
Kranken, ihre Konstitution, mit allen zur Verfügung stehenden
Mitteln der klinischen Diagnostik zu erforschen und immer daran
zu denken, dass es das Genitale ist, das wie ein Spiegel —
im Affektleben des Weibes reflektiert.
Die Sexualkonstitution in der Andrologie').
Von
Geh. Med.-Rat Professor Dr. C. Posner, Berlin.
Mit voller Absicht habe ich zur Kennzeichnung der folgenden
Betrachtungen das Wort „Andrologie“ gewählt, so ungewohnt
es vielfach dem Ohre klingen mag. Es soll damit das Seitenstück
oder Gegenbild zur „Gynäkologie“ ausgedrückt werden, und zwar
nicht sowohl zu jener schulmässigen Gynäkologie, welche sich vor- `
wiegend oder sogar ausschliesslich mit den Erkrankungen des weib-
lichen Genitalapparats befasst, als vielmehr zu der neueren, als
„Frauenkunde‘“ bezeichneten Lehre ?), deren Gebiet die Gesamt-
heit der für das Weib charakteristischen Lebens. und Krankheits-
erscheinungen bildet. Dabei muss von vornherein zugestanden werden,
dass eine Andrologie in dem weiten, hierdurch gezogenen Rahmen
erst in der Bildung begriffen ist. Der Frauenarzt ist immerhin schon
lange gewohnt, bei seinen Schutzbefohlenen das Ganze zu berück-
sichtigen und zu beachten, wie Körper und Seele auf die eingreifenden
Reize antworten, welche Menstruation, Schwangerschaft, Geburt,
Wochenbett, Klimakterium und Krankheiten ausüben. Wir haben
denn auch vernommen, dass es geschärfter Beobachtung gelingt, be-
stimmte Typen der Sexualkonstitution gegeneinander abzugrenzen 3)
— schon das Bestehen der gynäkologischen Kliniken bot hierzu ge-
eignete Unterlagen. Beim Manne liegen die Dinge wesentlich schwie-
riger. Die Geschlechtsvorgänge — Entwicklung, Reife, Rückbildung
— sind, oder besser gesagt: scheinen nicht so bedeutungsvoll und
beherrschend. Und wenn man hier von. sexuellen Erkrankungen
spricht, so denkt man gemeinhin einerseits an die Störungen, welche
1) Vortrag, gehalten in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Eugenetik in Berlin am 16. März 1923.
2) Vgl. Max Hirsch, Was ist Frauenkunde? Zeitschr. f. Gyn. 1912.
») Vgl. P. Mathes, Die Konstitutionstypen in der Gynäkologie. Klin.
Wochenschr. 1923. II. 7., sowie den in der gleichen Sitzung gehaltenen Vortrag
desselben.
104 C. Posner. [2
im Gefolge einer venerischen Infektion auftreten, andererseits an
rein funktionelle Abweichungen von der Norm — mit ersteren
beschäftigt sich der Dermatologe und Urologe, letztere bilden die
Domäne des Seelen- und Nervenarztes; nur wenige Forscher haben,
als wirkliche Sexualpathologen, mit gleicher Hingebung und
Kenntnis die Gesamtheit dieser Zustände verfolgt, und bestimmte
Institute oder Studienanstalten hierfür bestehen bisher nur durch
private Initiative. So befinden wir uns denn hier erst am Anfang
eines Weges, den andere Disziplinen seit Martius und Kraus
richtunggebenden Arbeiten längst betreten und mit Glück verfolgt
haben und wir können vorläufig kaum mehr als die Linien bezeichnen,
auf welchen auch wir das Ziel suchen müssen.
In dem Bestreben, die „Pathologie der Person‘ gerade
in sexueller Hinsicht zu erforschen, d. h. Erbanlagen und Folgen
äusserer Einflüsse, Teilerscheinungen und Gesamtbild, Soma und
Psyche, voneinander zu sondern und zueinander in Beziehung zu
setzen, dürfen uns nicht allgemeine „Klinische Eindrücke‘, nicht
theoretische Konstruktionen leiten !). Wir müssen meines Erachtens
vorerst damit beginnen, von einfachen, aber leicht erfassbaren Zu-
standsbildern auszugehen, sie auf ihre Bedeutung für das Konsti-
tutionsproblem hin zu prüfen um dann erst später aus solcher
Sammlung genauer, morphologisch oder funktionell begründeter, Be-
obachtungen das Rüstzeug für eine Synthese zu gewinnen; andern-
falls laufen wir Gefahr, ein Spiel mit Schlagworten zu treiben und
ein unbekanntes X durch ein nicht minder unbekanntes Y zu ersetzen
Am deutlichsten lässt sich vielleicht, wie wir auf diesem Wege
fortschreiten können, zunächst einmal an einem landläufigen Bei-
spiel zeigen. Alltäglich begegnet uns eine, das männliche Genitale
betreffende Missbildung, die meist lediglich von dem Gesichtspunkt
einer rein örtlichen Anomalie betrachtet wird: ich spreche von
dem Offenbleiben der Urethralrinne, der Hypospadie —- man
schätzt, dass jeder 300. bis 400. Mann diese Variante aufweist, von
der man bekanntlich, je nach der Lokalisation verschiedene Grade
(glandäre, penoskrotale, perineale H.) unterscheidet. Wie kommt
diese Missbildung zustande? Vielfach wurde angenommen, dass es
sich um eine intrauterin erworbene, also lediglich angeborene
Störung handle — aber zahlreiche Beobachtungen lassen es doch
unzweifelhaft erscheinen, dass oft wenigstens hier eine vererb-
1) Vgl. hierzu Lubarsch, Die Konstitutions- und Dispositionslehie. Die
Naturwissenschaften, 1921. IX. H. 41. Ein Eingehen auf die Frage, wie eigent-
lich der Begriff „Konstitution“ zu definieren sei, lag nicht im Plane dieser Er-
örterungen.
3) Die Sexualkonstitution-in der Andrologie. 105
bare Anlage wirkt. Wir kennen ausgesprochene Hypospasten-
Familien; am schlagendsten ist wohl eine, von einem englischen
Autor mitgeteilte Beobachtung 1), bei welcher die Hypospadie durch
6 Generationen an im ganzen 21 Mitgliedern festgestellt wurde. Der
Fall ist noch besonders bemerkenswert deswegen, weil er, und zwar
von einem so kritischen Beurteiler wie Orth?2), als Beispiel für
die Möglichkeit einer Telegonie oder Imprägnation ange-
sehen wurde: die Ehefrau eines der hypospastischen Männer hatte von
diesem zwei hypospastische Söhne (die wiederum hypospastische Nach-
kommen hatten), dann aber, in zweiter Ehe, von einem normalge-
bauten Mann nochmals vier Söhne mit Hypospadie, denen abermals,
neben normalen Knaben, noch drei mit derselben Missbildung be-
haftete entstammten. Ich erwähne dies nur nebenbei, ohne auf die
Frage der Telegonie hier eingehen zu wollen — da wir die Ahnen-
tafel des zweiten Ehemannes nicht kennen, bleiben natürlich auch
andere Möglichkeiten offen. Klar ergibt sich jedenfalls, dass hier die
Hypospadie als dominante Erbanlage im Sinne der Mendel-
schen Regeln auftrat — es kommt in solchen Familien auch das
typische Überspringen von Generationen vor. Nun haben ja gewiss
die geringen Grade dieser Variante mit der Sexualkonstitution im
strengen Wortsinne nicht viel zu tun; aber es darf doch nicht über-
sehen werden, dass von den leichtesten Formen bis zur Ausbildung
eines Pseudohermaphroditismus alle denkbaren Übergänge vorkom-
men. A. Rumpel?) spricht gewiss mit Recht von einer „einheit-
lichen Kette morphologischer und genetischer Missbildungen“. Und
damit tritt denn diese, scheinbar ganz örtliche Anomalie in den
Zusammenhang, den wir hier suchen. Wir haben es mit einer
Konstitutionsvariante zu tun, die bald nur das äussere Genitale be-
trifft, bald aber den gesamten Organismus mit allen seinen körper-
lichen und seelischen Geschlechtseigentümlichkeiten in Mitleiden-
schaft zieht. Es wäre wichtig, genau festzustellen, ob in den Hypo-
spadie-Fumilien auch bei weiblichen Mitgliedern eine entsprechende
Anomalie sich zeigt, oder ob es sich hier um eine geschlechts-
gebundene Vererbung handelt.
Auch einige andere Erscheinungen am äusseren Genitalapparat
dürfen hier erwähnt werden. Kurz erinnern möchte ich an die
1) Lingard, Lancet 1884. I. S. 703.
2) Vgl. dessen Artikel „Angeborene und ererbte Krankheiten und Krank-
heitsanlagen* in „Krankheiten und Ehe“, herausgegeben von C. v. Noorden und
S. Kaminer. II. Aufl. S. 31. Leipzig, G. Thieme 1916.
®) A. Rumpel, Über identische Missbildungen, besonders Hypospadie bei
eineiigen Zwillingen. Frankf. Zeitschr. f. Pathol. 1921. XXV.
—
106 C. Posner. [4
als Varicocele bezeichnete Schwellung der Venen des Samen-
stranges und des Skrotums. Bier!) hat sie bereits als Zeichen einer
allgemeinen Venenschwäche, also einer Anomalie der Gesamtkonsti-
tution angesprochen. Die häufig zu machende Beobachtung, dass
sie mit andern Varikositäten, namentlich aber mit Hämorrhoiden
einhergeht, spricht gewiss in diesem Sinne — auch von den Hämor-
rhoiden ist ja bekannt, dass sie selbst oder die Disposition dazu ver-
erbbar sind. Ist ihre Beziehung zum Sexualleben vielleicht nicht
allzu eng, so scheint mir in diesem Betracht um so ‚wichtiger die sog.
Induratio penis plastica — das Auftreten schwieliger,
fibröser Verdickungen am Rücken des Gliedes, zwischen den Corpora
cavernosa, ein Leiden, welches die Potentia coeundi in hohem Masse >
beeinträchtigt. Seitdem ich im Jahre 1899 die Aufmerksamkeit der
Deutschen Ärzte hierauf gelenkt habe?) ist eine erhebliche Zahl von
Fällen bekannt geworden?) und man ist sich jetzt darüber einig,
dass aus der Ätiologie die banalen Bedingungen — Gonorrhöe,
Syphilis, Trauma — auszuschliessen sind. Die Bindegewebsneu-
bildung entsteht ‚von selbst‘“ — d. h. wir wissen nicht weswegen.
Nun ergibt sich aber bei der Anamnese mindestens in sehr vielen
Fällen, einmal dass Gicht, andere Male dass Diabetes bei dem
Patienten selbst oder in seiner Familie vorhanden ist. Spricht dies
schon für Mitwirkung eines konstitutionellen Faktors, so wird dies
noch deutlicher durch eine Beobachtung, die ich zuerst durch Neu-
mark‘) mitteilen liess und die seither öfters bestätigt wurde: mit-
unter triffi die plastische Induration mit der Dupuytrenschen
Kontraktur (an der Palmar- sowie auch an der Plantarfaszie °))
zusammen. Diese Kontraktur steht nun ihrerseits zur Gicht wie zum
Diabetes in engen Beziehungen, — welcher Art, mag hier unerörtert :
bleiben. Es berechtigen uns diese Erwägungen, auch die plastische
1) Vgl. hierzu Haberland, Die konstitutionelle Disposition zu chirurgischen
Krankheiten. Berl. klin. Wochenschr. 1921. Nr. 20.
2) C.Posner, Ein Fall von „Plaque indurée“ am Penis. Berl. klin. Wochen-
schr. 1899. Nr. 24.
3) Vgl. besonders O. Sachs, Plastische Induration der Corpora cavernosa
penis. Handb. d. Geschlechtskrankheiten, herausgegeben von Finger, Jadas-
sohn, Ehrmann, Grosz. Wien 1911. S. 571ff. Ferner z.B. Sonntag, Über
Induratio penis plastica. Arch. f. klin. Chirurgie. 117. S. 612. Werth und
Scheele, Induratio penis plastica. Dtsch. Zeitschr. f. Chirurgie. Bd. 121. H. 3.
1) H. Neumark, Plastische Induration des Penis. Inaug.-Diss. Leipzig 1906
und Berl. klin. Wochenschr. 1906. 40. Gleichzeitig Waelsch, Münch. med.
Wochenschr. 1906. 40.
5) O. Stein, Induratio penis plastica und Dupuytrensche Kontraktur. Wien.
klin. Wochenschr. 1909. Nr. 52.
5] Die Sexualkonstitution in der Andrologie. 107
Induration in die Konstitutionsanomalien einzureihen, und mit aller
Reserve und ohne späteren Korrekturen dieser Auffassung vorzu-
greifen, sie als Teilerscheinung einer allgemeinen Disposition des
Bindegewebes aufzufassen, für die man, wenn man will, den Bartel-
schen Ausdruck „Fibrosis“ gebrauchen mag 1). Gerade in bezug
auf den Diabetes darf wohl an seine engen Beziehungen zum Binde-
gewebe, wie sie z. B. in der mit ihm so oft einhergehenden allgemeinen
Sklerose, besonders aber in derjenigen der Pankreasinseln sich zeigen,
erinnert werden °).
Wenn ich bei früherer Gelegenheit darauf hinwies, dass die
Induratio penis plastica durch ihre Lokalisation und öfter auch
durch ihre histologische Beschaffenheit an den Penisknochen mancher
Säuger erinnert, so liegt hierin keineswegs ein Widerspruch gegen
die Annahme einer Konstitutionsvariante im Sinne einer Binde-
gewebsbereitschaft — man kann sich sehr wohl vorstellen, dass der
betroffene Ort, das Septum intercavernosum, durch die Phylogenese
zu solchen Bildungen, die früher sogar zweckmässig waren, be-
sonders disponiert .ist.
Weit tiefer als die bisher angezogenen Beispiele aber greifen
in das eigentliche Problem der Sexualkonstitution die Veränderungen
ein, denen wir an den Anhangsorganen der Samenwege, insbesondere
an Vorsteherdrüse und Samenblase begegnen. Freilich be-
treten wir auch hier noch schwankenden Boden — wissen wir doch
noch wenig von der Physiologie und gar erst von der pathologischen
Physiologie der genannten Organe. Allenfallsd sind wir über die Be-
deutung der von ihnen gelieferten Sekrete unterrichtet; sie dienen
teils zur Verflüssigung des Samens, teils zur Belebung ‘der Spermien,
teils wohl auch zu deren Schutz gegenüber dem 'schädlichen Vaginal-
inhalt; ich erinnere auch an eine früher von mir geäusserte Ver-
mutung, dass die Prostata, deren Sekret der spezifische Samen-
geruch anhaftet, ein Homologon der Brunstdrüsen mancher Säuge-
tiere (Igel z. B.) bilde. Aber sollte damit ihre Aufgabe erschöpft sein ?
Es scheint doch, als bsstünde ein engerer Zusammenhang mit dem
gesamten Geschlechtsleben des Mannes. Die auffallende Tatsache, dass
sie sich erst zur Zeit der Reife entwickeln, dass sie nach frühzeitiger
Entfernung der Keimdrüse nicht zur Ausbildung gelangen, ja, nach
späterer Kastration. sich wieder zurückbilden, legte, im Einklang
mit unseren sonstigen Erfahrungen über Ausfallserscheinungen die
1) Bartel, Status thymico-lymphaticus und Status hypoplasticus. Leipzig,
Fr. Deutike. 1912.
2) A. Weichselbaum, Die Veränderungen des Pankreas bei Diabetes.
Wien 1910.
Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 2. 8
108 l C. Posner. [6
Annahme nahe, dass es sich auch hier um eine Beeinflussung durch
innere Sekretion handle — eine Annahme, die ich selbst früher
auch vertreten habe!). Ausser älteren Versuchen von Steinach
sprachen in diesem Sinne namentlich die von Serralach und
Parès?) erzielten Ergebnisse: Sie fanden nach Abtragung der
Prostata und der Samenblasen ein sofortiges Stocken der Spermio-
genese, welche nach Einspritzung von Prostataextrakten dann wieder
in Gang kam. Auch der Einfluss, den solche Extraktinjektionen
auf den Gesamtorganismus äussern, durfte so gedeutet werden. Blut-
drucksenkung und anaphylaktische Erscheinungen wurden als be-
weisend angesehen, namentlich als Götz1?) eine Verwandtschaft in
der Wirkung von Prostata-, Hoden-, Ovarial- und Mammaauszügen
fand. Noch neuerdings haben französische Autoren {Legueu,
Pousson) besonders starke Wirkungen von Auszügen aus hyper-
trophische Vorsteherdrüsen beobachtet?) Dennoch ist ein’ Zweifel
an der Deutung dieser Befunde berechtigt. Die Versuche mit Organ-
extrakten sind zu einer Zeit angestellt, in der man die Wirkungen
der Proteinkörper noch nicht kannte — es ist nicht sicher, ob hier
spezifische oder unspezifische Reize obwalteten. Vor allem aber
sind Rob. Lichtensterns) Tierversuche zu beachten :: Operierte
er ganz junge Tiere, so ergab die Entfernung der Vorsteherdrüse
und der Samenblase keinerlei Einfluss, weder auf die Spermiogenese
noch auf die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Die
Frage ist demnach noch nicht völlig geklärt; von neueren Autoren
erwähnt z. BB Weil‘) die Prostata gar nicht unter den Drüsen
mit innerer Sekretion und Waldeyer?) sprient sich mit grösster
Reserve aus. Für das vorhin erwähnte Verhalten gibt Wehner®)
1) C. Posner, Die normale und pathologische Physiologie der Prostata.
Comptes rend. du Ier Congr. internat. d’Urol. Paris 1908, sowie Berl. klin. Wochen-
schr. 1908.
2) Serralach et Parès, La sécrétion interne de la prostate. Comptes rend.
du Ier Congr. internat. d’Urol. Paris 1908, sowie Guyons Annalen 1911.
3) A. Götzl, Über eine biologische Beziehung zwischen Prostata und Ge-
schlechtsdrüsen und den letzteren untereinander. Fol. urol. VI. 1911. —. Der-
selbe und Hada, Wechselbeziehungen zeichen Hoden und Prostata. Prag.
med. Wochenschr. 1914. 32.
$4) Vgl. u. a Doubois et Boulet, C. r. Soc. biol. LXXIV. 14.
5) R. Lichtenstern, Untersuchungen über die Funktion der Prostata.
Zeitschr. f. Urol. X. 1.
HA Weil, Innere Sekretion. 11. Aufi. Berlin, Springer 1922.
1) v. Waldeyer-Hartz, Allgemeine Anatomie der endokrinen Drüsen.
Arch. f. Frauenkunde. VII. 1921.
°) Wehner, Altes und Neues über die Folgen der Unterbrechung der
Snmenwege für Hoden und Prostata. Zeitschr. f. urol. Chirurgie. 1921.
7] Die Sexualkonstitution in der Andrologie. 109
daher eine ganz andere, allerdings recht teleologisch anmutende Er-
klärung: nach seiner Meinung beruhe die Aplasie oder Rückbildung
der Prostata bei Mangel an Samenproduktion einfach darauf, dass
ihre Funktion durch das Fehlen eines Angriffsobjektes überflüssig
werde — also eine Inaktivitätsatrophiee Welcher Art nun auch
die gegenseitigen Beziehungen sein mögen — ihre Existenz können
wir nicht leugnen; die klinische Beobachtung legt hierfür beredtes
Zeugnis ab. Denn wenn auch in praxi das Urteil oft dadurch er-
schwert wird, dass wir es mit Männern zu 'tun haben, bei denen eine
voraufgegangene gonorrhoische Infektion eine dauernde Verände-
rung der Anhangsdrüsen hinterlassen hat, so bleiben doch genug
Fälle übrig, in denen nie eine Erkrankung vorgekommen war und die
dennoch deutliche Erscheinungen von seiten der Prostata auf-
weisen. Es sind das meist jugendliche Männer, die mit der Doppel-
klage kommen, dass einerseits Libido und Potenz nachlassen, anderer-
seits aber häufige Samenverluste sie ermatten. Im einfachsten Falle
findet man dann Keimdrüse und Anhangsorgane anscheinend gut
ausgebildet, aber als wesentliches Ergebnis eine „Atonie der
Prostata“ (Porosz, Marcusel)), dadurch erkennbar, dass bei
jedem Pressen oder rektalem Fingerdruck reichliches Sekret sich
entleert, entweder von normaler Beschaffenheit (Prostatakörner,
Lipoide, auch Spermien), oder auch die Zeichen einer „aseptischen
Prostatitis“ aufweisend. Man begnügt sich dann vielfach mit der Ver-
legenheitsdiagnose einer „sexuellen Neurasthenie“, einem
unbestimmten Begriff, unter dem sich jedenfalls vielerlei sehr ver-
schiedenes verbirgt. Untersucht man nun genauer, so ergeben sich
nicht bloss nervöse Symptome, sondern auch sonstige Zeichen von
Schwäche, etwa im Sinne von Stillers Habitus asthenicus oder
vom Status hypoplasticus — Tiefstand der Eingeweide, Blutarmut,
kleines Herz, Costa decima fluctuans, Phosphaturie, auch wohl Al-
buminurie, die natürlich von der von mir vor Jahren beschriebenen
Hemialbumosuria spuria scharf zu unterscheiden ist. Dies alles
berechtigt uns, auch diese Fälle in die Rubrik der Konstitutions-
anomalien einzureihen. Das wird noch deutlicher, wenn, wie das
oft vorkommt, bereits Erscheinungen von Hypogenitalismus ange-
deutet oder ausgesprochen wird (Hypoplasie der Keimdrüsen, Klein-
heit des Gliedes, mangelhafte Behaarung des Körpers usw.) — Kümmer-
reformen im Sinne von Kraus-Brugsch. Es kann dabei auch
zu einer völligen Aplasie (oder Atrophie) der Prostata kommen, die
ja bekanntlich in extremen Graden genau die gleichen Symptome
macht, wie die Hypertrophie — dass auch sie zu den ererbten
1) Vgl. M. Marcuse, Atonie der Prostata. Med. Klinik. 1912. Nr. 45.
NS
110 C. Posner. [8
Anomalien gehören kann (nicht muss!) wird z. B. durch einen,
von meinem Sohn beschriebenen Fall!) wahrscheinlich gemacht,
in dem sie mit Syndaktylie einherging. Ob auch diesogen. Prostata-
hypertrophie, die wir ja jetzt vorwiegend als eine, von den
Urethraldrüsen ausgehende Geschwulstbildung auffassen, etwas hier-
mit insofern zu tun hat, als vielleicht eine besondere Keimanlage
die Disposition hierzu gibt, möchte ich zur Diskussion stellen ?);
hier wird die Familienforschung, namentlich auch mit Rücksicht
darauf, ob etwa bei weiblichen Blutsverwandten ein gehäuftes Vor-
kommen von Geschwülsten im Genitaltraktus beobachtet wird, von
Interesse sein. |
- Über die etwaige Beteiligung der Samenblasen an endokrinen
Vorgängen sind wir bisher noch gar nicht unterrichtet. Bei der
funktionellen Schwäche der Prostata sind sie wohl regelmässig be-
teiligt, dafür spricht die Häufigkeit der Pollutionen und das Auf-
treten echter Spermatorrhöe. Übrigens erwähne ich, dass im Säuge-
tierreiche Prostata und Samenblasen in einem gewissen Wechsel-
verhältnisse insofern stehen, als sie sich gegenseitig vertreten können ;
genetisch ist zwischen beiden keinesfalls ein durchgreifender Unter-
schied festzustellen, und ich habe sogar zeigen können, dass manche
in Handel befindliche „Prostatatabletten“ gar nicht aus der Vorsteher-
drüse, sondern aus der Samenblase gewonnen sind.
Nun aber: die Keimdrüsen selbst. Liegt nicht in ihnen
die eigentliche konstitutionelle Grundbedingung des gesamten Sexual-
lebens? Geben sie nicht, durch Entsendung ihrer Hormone in den
Körperkreislauf, überhaupt erst zu dessen Ausbildung Anlass? ‘Es
ist hier nicht notwendig, die Wandlungen im einzelnen zu verfolgen,
welche die Lehre von der Sexualität in den letzten Jahren durch-
gemacht hat — Wandlungen, die auch heut noch keineswegs zu einem
Abschluss geführt haben. Nur wenige, für unsern besondern Zweck
wichtige Punkte seien hervorgehoben. Zunächst, dass die Spermio-
genese, die man früher für den allein entscheidenden Faktor ange-
sehen hat, keine unentbehrliche Bedingung für die sexuelle Reife
darstellt: wir können ‘jetzt, durch Samenuntersuchung und Hoden-
punktion am Lebenden nachweisen, dass es voll ausgebildete Männer
mit allen Geschlechtsmerkmalen gibt, bei denen es nicht zur Aus-
bildung von Samenfäden kommt?). Hier haben wir also eine höchst
wichtige konstitutionelle Organschwäche, die freilich aus naheliegen-
1) ll. L. Posner, Über Prostataatrophie. Zeitschr. f. Urol. VII. 4.
2) Vgl. hierzu z. B. Borst, Geschwülste. Die Naturwissenschaften. 1921.
H. 41. S. 819.
3) C. Posner, Über angeborene Azoospermie. Arch. f. Frauenkunde. 1920.
9] Die Sexualkonstitution in der Andrologie. 111
den Gründen weder ererbt noch vererbbar sein kann. Aber wiederum
gehen von hier aus zahllose Personalvarianten aus; wir finden
mitunter die Hoden und Prostata solcher Individuen hypoplastisch ;
wir sehen bei Kryptorchen, die ebenfalls oft der Spermiogenese ent-
behren, bereits Übergänge zum ausgesprochenen Hypogenitalismus
und Intersexualismus, und hieran schliessen sich dann in allmählichen
Abstufungen Fälle von Pseudo- oder auch echtem Hermaphroditismus
an. Ganz besonders aber ist zu beachten, dass doch die Sexualkon-
stitution überhaupt nicht einseitig und ausschliesslich von der Keim-
drüse bedingt wird, gleichgültig, in welche Teile derselben man die
inkretorischen Funktionen verlegt. Gerade hier finden wir ja die
schlagendsten Beispiele für das fein abgestimmte Wechselspiel des
gesamtenendokrinen Systems, innerhalb dessen die Hoden
gleichermassen gebend und empfangend teteiligt sind, jenes
Systems, welches um ein Wort von Fr. Kraus anzuwenden, dem
Körper seine ‚„Konstitutionsharmonie‘“ verleiht. Solange dies richtig
funktioniert, ist diese Harmonie gegeben, Störungen an einer Stelle
ziehen die ganze Konstitution in Mitleidenschaft. So hat denn auch
der Androloge die Pflicht, sich nicht bloss um örtliche Anomalien
der Hoden (und des Genitalapparats) zu kümmern, sondern die
Beziehungen zu diesem (Gesamtapparat zu berücksichtigen. Wenn,
um nur einige Beispiele anzuführen, eine Dys- oder Hypofunktion
der Hypophyse (bzw. des Zwischenhirns) das Zustandsbild der
Dystrophia adiposo-genitalis bedingt!); wenn umgekehrt ein Teratom
der Zirbeldrüse genitale Frühreife?), ein Hypernephrom
ebenfalls Hypergenitalismus?) hervorruft, wenn wir beim Status
thymolymphaticus Eunuchoidismus®), bei Riesenwuchs
Atrophie der Geschlechtsdrüsen 5) beobachten, so liegt ja hier der
konstitutionelle Faktor ‚klar zutage — wir sehen hier deutlich die
Korstitutionsanomalien, auf deren Boden dann die Konstitutions-
krankheiten erwachsen ê). Gerade hier lässt sich auch das Zusammen-
wirken von endo- und exogenen Bedingungen wahrscheinlich machen,
!) Gottlieb, Die Pathologie der Dystrophia adiposo-genitalis. Lubarsch-
Ostertag, Ergebnisse XIX. 2. S. 516.
2?) E. Boehm, Zirbeldrüsenteratom und genitale Frühreife. Frankf. Zeitschr.
f. Pathol. XXII. S. 121.
3) E. Leupold, Beziehungen zwischen Nebenniere und männlicher Keim-
dıüse. Jena, G. Fischer. 1920.
1) C. Hart, Konstitution und endokrines Salam Zeitschr. f. angewandte
Anatomie und Konstitutionslehre. Bd. 1.
5) Bird, Ein Fall von Riesenwucbs mit — der Geschlechtsdrüsen.
Arch. f. klin. Chirurgie. 1914. Bd. 103.
°) Pfaundler. Über den Konstitutionsbegriff. Klin. Wochenschr. I. 17. 1922.
112 C. Posner. [10
wie dies recht deutlich das Beispiel des Eintretens einer Pubertas
praecox im Verlauf einer En cephalitis epidemica!) illustriert.
Eben diese Beobachtungen ermahnen uns aber auch, dem Nerven-
system eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Denn wenn
wir noch so fest von der erotisierenden Wirkung der Sexualhormone
überzeugt sind, so ist doch einerseits zu bedenken,.dass ihre Pro-
duktion, wie die aller Inkrete, von den vegetativ-nervösen Zentren
geregelt und beherrscht wird?), andererseits aber, dass auch die
Psyche auf Störungen der Keimdrüsenfunktion in recht verschieden-
artiger Weise reagieren kann. Wenn ich mich vorher gegen den
Missbrauch der Diagnose „sexuelle Neurasthenie“ aussprach, so sollte
damit gewiss nicht gesagt sein, dass wir den nervösen Anteil an der
Sexualkonstitution geringschätzen oder vernachlässigen wollen — es
gilt vielmehr, ihn in jedem Einzelfall genau abzuwägen und den
Zusammenhang mit etwaigen Organerkrankungen zu prüfen, die man
gelegentlich wohl, wo (z. B. bei Prostatitis) die nervösen Fern-
wirkungen stark in den Vordergrund treten, übersehen mag.
Mir scheint, gerade mit Rücksicht auf manche, von psychiatri-
scher Seite mitgeteilte Erfahrungen über den seelischen Zustand der
Eunuchoiden 3), dass wir heut noch nicht dahin gelangt sind, für den
Mann ganz bestimmte Typen der gesamten Sexualkonstitution auf-
zustellen, denen jedes einzelne Individuum sich zwanglos eingliedern
liesse. Wir müssen vielmehr den im Eingange dieser Betrachtungen
angegebenen Weg der’ Detailforschung verfolgen; wir müssen uns
bemühen, allgemeine und örtliche Funktionsstörungen zu trennen;
wir müssen vor allem die Erblichkeitsforschung so weit ausbilden,
dass wir überkommene Anlagen als solche erkennen und in ihrem
Verhalten dem Gesamtorganismus gegenüber richtig bewerten können.
Dann werden wir auch, was ja unser Endziel sein muss, neue (e-
sichtspunkte für unser praktisch-ärztliches Handeln ge-
winnen. Vorläufig besteht in dieser Hinsicht wohl noch eine ge-
wisse Gefahr: leicht kann man zu einem therapeutischen Nihilismus
verleitet werden: denn je mehr wir eine gegebene Anomalie als
konstitutionell auffassen, um so geringer scheint die Aussicht,
sie zu beseitigen, die auf ihrem Boden erwachsenen Krankheiten zu
heilen. Aber es hat sich doch bereits gezeigt, dass die Berücksichti-
1) F, Stern, Über Pubertas praecox bei epidemischer Enzephalitis. Med.
Klinik. 1922 23.
*) Vgl. z, B. Toenniesen, Die Bedeutung des vegetativen Nervensystems
für die Wärmeregulation und den Stoffwechsel. Klin. Wochenschr. 1923. 12.
3) Vgl. Fritz Fränkel, Der psychopathologische Formenreichtum der
Eunuchoiden. Zeitschr. f. d. ges. Neurologie und Psychiatri. LXXX. 5. 1922.
u) Die Soxualkonstitution in der Andrologie. 113
gung der Konstitution bei der Prophylaxe wie bei der Behandlung
wertvolle Dienste leisten kann !); eine Substitutionstherapie z. B., be-
stehe sie in der Anwendung von Organextrakten oder in chirurgischen
Massnahmen, ist rationell begründet und weiteren Ausbaues fähig.
Und wenn wir andererseits auf manche örtliche Behandlung ver-
zichten und uns begnügen müssen, den Gesamtorganismus somatisch
und psychisch in Angriff zu nehmen, so bedeutet dies eine Be-
schränkung, in der erst recht der Meister sich zu zeigen vermag!
Literatur.
Angesichts der nahezu unübersehbaren Fülle von Mitteilungen, welche sich mit
dem Problem der Konstitution, insbesondere der Sexualkonstitution beschäftigen, babe
ich mich darauf beschränkt, nur einige Stichproben anzugeben, von denen aus der
Leser sich leicht weiter unterrichten kann. Die grundlegenden Werke von Martius,
Kraus, Stiller, J. Bauer, Kretschmer, Goldschmidt, Johannsen,
Biedl, Tandler und Grosz, Steinach, M. Hirschfeld u. a. besonders zu
zitieren, hielt ich für überflüssig, da ihr Studium bei jedem, der sich mit den
hier erörterten Fragen befasst, als selbstverständlich vorausgesetzt werden muss.
Von wichtigen Arbeiten allgemeinen: Inhalts erwähne ich, ausser den im Text
angeführten, etwa noch: K. H. Bauer, Vererbung und Konstitution, Dtsch. med.
Wochenschr. 1920. 20.— Derselbe, Das konstitutionelle Problem in der Chirurgie.
Ebenda 1922. 40. — L. Borchardt, Das konstitutionelle Problem in der inneren
Medizin. Med. Klinik. 1921. 27. — Derselbe, Hypogenitalismus und seine Ab-
grenzung vom Infantilismus. Berl. klin. Wochenschr. 1918. 15. — Derselbe,
Allgemeine klinische Konstitutionslehre. Ergebn. der inn. Med. u. Kinderheilk.
Bd. 21. 1922, — Werth, Konstitution und endokrines System. Münch. med.
Wochenschr. 1922. 11.— Asher, Prinzipielle Fragen zur Lehre von der inneren
Sekretion. Klin. Wochenschr. 1922. 3.
ı) Vgl. z. B. Payr, Konstitutionspathologie und Chirurgie. Arch. f. klin.
Chirurgie. 1921. Bd. 116.
Wissensehaftliche Rundschau.
Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
Diagnose und Therapie der Sterilität. In zwei unserer be-
deutenden Krankenhäuser in Chikago und New York, ist in jüngster
Zeit die von Rubin in New York erfundene Methode der Unter-
suchung der Durchgängigkeit der Fallopischen Tuben auf ihre prak-
tische Verwertung hin geprüft worden, wodurch nicht nur der Dia-
gnose eine neue Pforte geöffnet, sondern gleichzeitig der Therapie
der Sterilität eine neue Handhabe gegeben worden ist.
Mit dieser neuen Methode werden wir dem Postulat Kehrers
gerecht, welches er schon im vorigen Jahrhundert —
hat: „Unter manchem Unrechte, das dem weiblichen Geschlechte ge
schieht, ist das gewiss eines der folgenschwersten, dass man bei
Sterilität der Ehe fast immer der Frau die Schuld beimisst. Die An-
nahme ist in jedem Einzelfalle erst zu beweisen.“ (Zitiert von
Carl Mayrhofer in seiner „Sterilität:des Weibes‘ im Handbuche
der Frauenkrankheiten von Billroth, Stuttgart Verlag von Ferdi-
nand Enke, 1882, in welchem wir eine sehr umfassende Erläuterung
dieses Gegenstandes, die noch heute wertvoll ist, nachlesen können.)
Deshalb sehe ich davon ab, auf Mayrhofers Einteilung und Atio-
logie der Sterilität näher einzugehen; sie unterscheidet eine steriiitas
ex impotentia gestandi, ingravescendi und concipiendi, die ersteren
im Uterus, letztere in den Ovarien begründet.
Es ist uns jetzt die'Möglichkeit gegeben, in zweifelhaften Fällen
diesen Beweis zu erbringen oder die Frau von dem Verdachte frei-
zusprechen.
Rubins Technik ist folgende: Die Untersuchung ist unter
den strengsten aseptischen Kautelen vorzunehmen. Die Patientin
wird entkleidet und in ein steriles Operationsgewand gehüllt, in die
Steinschnittlage gebracht. Vagina und Zervix werden sorgfältig
reinigt und letzterer mit einer Ringzange gefasst. Als Kanüle wird
ein Keyes-Ultzmann mit Perforation an der Spitze und mehreren
an den Seiten verwendet. Dass Gas neben der Kanüle durchdringt
und aus der Zervix herausquillt, kann man dadurch verhindern,
dass ein urethraler Gummiansatz über die Kanüle gezogen und so
angepasst wird, dass er das os externum genau abschliesst. Das Kaliber
der Kanüle hängt von der Grösse des Zervixkanals ab, dessen Richtung
sowie Grösse der Uteruskavität man vorher mittels einer Sonde be-
stimmt. Ein Manometer oder eigens konstruiertes Glas-Siphonometer,
2] Wissenschaftliche Rundschau. 115
welches von einem glasgeblasenen Zylinder umhüllt ist, wird mit
dem Utzmannkatheter verbunden, nachdem man sich überzeugt hat,
dass das Lumen der Kanüle frei ist. Letzteres geschieht dadurch,
dass man die Kanüle in eine sterile Lösung taucht und den Durchtritt
von Gasblasen beobachtet. Der Katheter wird dann in die Uterushöhle
eingeführt und das Gas (Oxygen oder Kohlensäure) langsam angedreht,
so zwar, dass es etwa 15 Sekunden braucht, um die Quecksilbersäule
bis auf 100 mm zu erheben. Die Gasmenge kann. man am Siphonometer
ablesen; jede Gasblase entspricht ungefähr 37 cem.
In einer Serie von Fällen zeigte sich bei offener Tube im Durch-
schnitt eine Druckhöhe von 118, bei geschlossenen Tuben von 176 mm
am Manometer. Wendet man Oxygen an, so sollen nicht mehr als
300 ccm eingeführt werden, weil Oxygen langsam resorbiert wird
und im Übermasse Drucksymptome im rechten, oberen Quadranten des
Abdomens hervorbringt, welche sich als Schmerzen in der rechten
Schulter kundtun. Kohlensäure kann in grösserer Menge insuffliert
werden, weil sie schneller resorbiert wird.
Darauf wird die Patientin in aufrechter Stellung mit dem Fluoro-
skop angesehen, wobei gewöhnlich das Gas sichtbar wird im rechten
oberen Quadranten; wo es die Leber vom Zwerchfell trennt. Eine
geringere Menge ist auch sichtbar im linken subphrenischen Raume.
Mit zunehmender Erfahrung kann man von dem Quecksilber-
stande am Manometer vorhersagen, ob es sich um offene oder ge-
schlossene Tuben handelt, doch zur sicheren Diagnose ist fluoro-
skopische Beobachtung notwendig.
Eine Vereinfachung dieser Technik ist in der Klinik des Womans
Hospital in Detroit nach den Angaben von Dr. H. D. Furniss von
den Hospitalärzten Dr. H. Henderson und Dr. T. G. Amos mit
Erfolg ausprobiert worden, wobei die Fluoroskopie überflüssig wird.
Die Technik ist zunächst dieselbe wie beschrieben, nur füllen
diese Autoren die Vagina mit Borsäurelösung und verbinden eine
mit 50 cem gefüllte Spritze Kohlensäure mit dem Manomeier. Et-
waiges Undichtsein am Os externum gibt sich durch Gasblasen in
der Borsäurelösung leicht zu erkennen. |
Während Rubin und Peterson bisher nur soviel haben
sagen können, dass eine oder beide Tuben offen sind, ist es den
Autoren, Henderson und Amos, wie sie bereits in Surgery,
Gynekol. and Obstet. 33:567 im November 1921 berichtet haben, ge-
lungen festzustellen, welche Tube affiziert 'war. Zu dem Zwecke aus-
kultiert der Untersuchende das untere Abdomen, während die In-
jektion (Insufflation) vorgenommen wird. Zunächst ist nichts zu
ören. Dann, wenn das Gas in die Tuben eindringt, hört man auf
der Seite, wo sich die Tube zuerst öffnet, ein kleinblasiges Rassel-
geräusch von hohem Timbre, welches etwa Borborygmen zu ver-
gleichen wäre. Dasselbe ist deutlich zu hören in dem Quadranten,
welcher der sich öffnenden Tube entspricht, und ganz entfernt auf
der anderen Seite, wenn sich nur eine Tube öffnet. Mitunter wird
das Geräusch bei verstärktem Drucke in der Gasspritze auf beiden
Seiten im Unterbauche hörbar; in dem Falle hat sich die andere
Tube ebenfalls geöffnet. In einem Falle hörten die genannten Autoren
116 Wissenschaftliche Rundschau. 3
zunächst nur rechts ein niedriges Rasselgeräusch. Bei Erhöhung
des Druckes wurde plötzlich links ein hoher, schriller, zischender Ton
gehört und beide Geräusche blieben nebeneinander bestehen, bei Fort-
setzung der Insufflation. Aus der Beobachtung zogen sie den Schluss,
dass die rechte Tube weit offen, die linke nur stenosiert war.
Da diese ersten Beobachtungen zunächst nicht durch Laparotomie
oder anderweitig bestätigt wurden, wurde'der Bericht damals nur als
„vorläufig“ veröffentlicht und auf den Wert aufmerksam gemacht,
welchen die Methode auch für die Therapie haben. müsste. Seitdem
ist das Verfahren auch praktisch gründlich erprobt worden.
Artur H. Curtis, Chikago, veröffentlicht aus dem patho-
logischen Laboratorium und der gynäkologischen Abteilung des St.
Luke Hospitals, Chikago, in der spanischen Ausgabe des Journal
American Med. Association, am 1. März 1923 (9:270) Beobachtungen
bei Operation von 300 Patientinnen in den letzten zwei Jahren, wo
makroskopisch und bei Palpation, abgesehen von leichten Adhäsionen
nichts nachgewiesen werden konnte und die Frauen sämtlich steril
u. waren. Oft handelte es sich nur um Narbenstenosen einer
chleimhautentzündung, welche höchstens durch Sondierung auf dem
Operationstische hätte nachgewiesen werden können, ein ziemlich
grobes Verfahren. Dr. Curtis machte es sich nun zum Grundsatze
in allen geeigneten Fällen von Laparotomie in die Tuben mittels
einer Luerschen Spritze Luft einzublasen, was vier Indikationen
erfüllte: Obstruktionen wurden dadurch erkennbar, welche sich auf
andre Weise nicht entdecken liessen. Kleine Stenosen, auf diese Weise
entdeckt, konnten mit verstärktem Drucke ausgeglichen werden. Die
anatomischen Grenzen wahrscheinlicher makroskopischer Obstruktionen
konnten mit grösserer Bestimmtheit festgestellt werden. Schliesslich
ist es möglich zur Vervollständigung plastischer Operationen an den
Tuben die Durchgängigkeit des rekonstruierten Lumens nachzuweisen.
Es (wird dann an einer Anzahl operierter Patientinnen gezeigt, wie die
teilweise geschlossenen Tuben gelegentlich der Operation durch In-
sufflation durchgängig gemacht und die Patientinnen später schwanger
wurden. Auch Fälle werden besprochen, in denen das Verfahren
zeigte, dass Undurchgängigkeit erwiesen war und die Operation ver-
geblich gewesen wäre. Der diagnostische und therapeutische Nutzen
dieses Verfahrens ist damit deutlich erwiesen.
Rongy und Rosenfeld erwähnen in einem Artikel, mitge-
teilt in The American Journal of Obstetrics and Gynecology, im
Mai 1922, als Gegenanzeige der Insufflation akute Infektionen der
Vagina oder Beckenorgane. Vorsicht ist ferner geboten, wenn eine
Patientin bei chronischen Beschwerden über Schmerzen klagt. Bei
Herzkrankheit, besonders des Myokards, kann der Druck des Gases
die Herztätigkeit ernstlich beeinträchtigen durch Verdrängung des
Zwerchfells. Curtis macht in seiner Mitteilung (l. c.) darauf auf-
merksam, dass das Verfahren darauf Bedacht nehmen muss, dass
es nur dann angewendet werden kann, nachdem alle vorausgegangenen
Zeichen einer etwaigen Infektion verschwunden sind, und dass die
Kranke sich nicht kurz nachher einer venerischen Infektion aussetzt.
Sehr interessante Ergebnisse haben die Arbeiten Murray
Wissenschaftliche Rundschau. 117
L. Brandts in der gynäkologischen Klinik des Mount Sinai Hospitals
in New York gezeitigt. Er untersuchte 55 Kranke und teilt seine
Erfahrungen in dem Journal American Medical Association mit
(Spanische Ausgabe 9:285, 286 1. März 1923). Die Patientinnen
waren im .Durchschnitt 27 Jahre alt und vier Jahre verheiratet ohne
noch schwanger geworden zu sein. "In der Mehrzahl der Fälle wurde
die Insufflation mehrere Male vorgenommen. In 28 Fällen waren
die Tuben durchgängig, in 22 nicht. In weiteren fünf zunächst
negativen Fällen zeigten bei Wiederholung der Probe die Tuben
sich durchgängig. Also in 40% der Fälle primärer Sterilität erwies
sich Undurchgängigkeit der Tuben als Konzeptionshindernis.
In 24 der 33 Frauen, in welchen die Tuben durchgängig Be
funden wurden, zeigten die Untersuchungen des Semen 16 mit zahl-
reichen, beweglichen und wohlgeformten Spermatozoen. In 8 fehlten
sie oder waren nur spärlich und wenig beweglich vorhanden !).
Die angewandte Technik war die von Rubin angegebene mit
Carbon dioxyd, die fluoroskopische Untersuchung folgte unmittelbar
nach der Operation.
Bei offenen Tuben wurde der Druck nicht über 110 mm Queck-
silber erhöht. In einigen Fällen 'genügten 50 mm um das Gas durch-
treten zu lassen. |
In einigen Fällen war es notwendig, den Druck bis zu 140
und 160 zu erhöhen. In diesen Fällen klagten die Patientinnen über
typischen Schmerz in der rechten Schulter unmittelbar nachdem
sie vom Untersuchungstische aufstanden oder. doch kurz nachher. Es
ist pin positiv diagnostisches Zeichen, wenn man die Kranke beim Auf-
sitzen auf dem Tische nach Beendigung der Untersuchung die Hand
zur rechten Schulter erheben sieht.
Der Schmerz kann damit gedeutet werden, dass der Druck hin-
reichend war, um visköse Sekrete'zu dislozieren, oder eine Knickung
der Tube auszugleichen, oder vielleicht einige feine, velamentöse
Adhäsionen am Fimbrienende zu überwinden. Dei Wiederholung
der Insufflation in diesen Fällen, war ein weniger hoher Druck
nötig als in der ersten Untersuchung.
Die gynäkologische Untersuchung der 28 Fälle in welchen die
Tuben bei der ersten Untersuchung durchgängig waren, ergab: drei
— negativer Befund. Neun — scharfe Anteflexion des Uterus. In
sieben — Retroversion. In sechs — Ovarienhypertrophie. In einem
Falle infantilen Uterus; in einem Parametritis und in einem Endo-
zervizitis.
In fünf Fällen, in welchen zunächst keine Durchgängigkeit fest-
zustellen war, wurden die Tuben nachher durchgängig. Bei einer
dieser Kranken bestand heftiger Schmerz in der Unterbauchgegend
bei zwei Proben. Beim dritten Versuche stieg der Druck nicht über
120 und sank auf 80 (für die andere Tube). Es wurde beim Durch-
treten des Gases nicht über Schmerz im Abdomen geklagt, jedoch
trat nachher der typische Schmerz in der Schulter auf.
1) Die gebräuchliche Untersuchungsmethode ist die, dass die Frauen kurz nach
stattgehabtem Koitus zur Klinik kommen, und das Semen direkt der Vagina ent-
nommen wird. i
e
118 Wissenschaftliche Rundschau. [5
Daraus war zu erkennen, dass in geeigneten Fällen die Methode
therapeutisch wirksam sein muss. eitere Beobachtungen liegen
noch nicht vor, um feststellen zu können, ob diese Patientinnen
schwanger wurden.
Unter den 22 negativen Fällen befanden sich 10, bei’denen die
gynäkologische Untersuchung makroskopisch keine pathologische
Läsion ergab, welche die Tubenokklusion erklärt hätte.
In einem Falle, wo die Insufflation bei einem Druck von 140
gelang, stellten sich sehr heftige abdominale Schmerzen ein und die
Patientin musste zwei Tage das Bett hüten. Sie kehrte nach drei
Monaten zurück ohne menstruiert zu haben und wurde drei Monate
schwanger gefunden.
Der Autor kommt zu folgenden Sätzen: In 400% von 55 Fällen
primärer Sterilität wurden bei Anwendung des Rubin Verfahren
die Fallopischen Tuben verschlossen gefunden. In 60% waren sie
durchgängig.
In 24 der 33 guten Fälle wurde eine Untersuchung des Sperma
vorgenommen. 16 Männer zeigten Vollpotenz, bei 8 fand man Oligo-
nekrospermie oder Azoospermie. Das Kohlendioxydgas ist das
Gas der Wahl zur Insufflation der Tuben.
Eine negative gynäkologische Untersuchung ist kein Beweis der
Undurchgängigkeit der Tuben.
Man soll das Rubinverfahren dreimal wiederholen, ehe man
erklärt, die Kranke könne nicht konzipieren.
Die Operationen an den Genitalorganen zur Ermöglichung der
Schwangerschaft. haben keine Berechtigung, ehe man nicht die Tuben-
durchgängigkeit festgestellt hat. Die Tubeninsufflation kann in ge
eigneten Fällen therapeutisch verwendet werden, um okkludierte
Tuben durchgängig zu machen.
Dr. E. H. Pirkner, Brooklyn-New York.
„Erfolgreiche Transplantation von Affentestikeln aut
den Mann, mit Darstellung der histologischen Beobach-
tungen.“ In den meisten in der Literatur berichteten Fällen lesen
wir, dass der Pfropf entweder abgestossen wurde oder resorbiert
worden ist. Zum Erfolge ist es aber wesentiich, dass das aufgepflanzte
Gewebe vaskularisiert wird und als lebendes Gewebe funktioniere.
Aus der seit Brown-Sequard (1809) angewachsenen Literatur,
kennen wir die doppelte Aufgabe des Testikelgewebes: die Sekretion
der tubuli seminiferi allein bestimmt für die Fekundation, und die-
jenige der interstitiellen Drüse, deren Hormon als Geschlechtsstimu-
lans wirkt und die Ursache des Geschlechtstriebes und der Ge-
schlechtsmerkmale ist, jedoch ohne geschlechtliche Funktion.
Die Möglichkeit der Verpflanzung des Zwischengewebes war
durch zahlreiche Tierversuche bewiesen worden, entweder in dem-
selben Individuum (autoplastisch) oder bei derselben Spezies (homo-
plastisch) oder auf eine andere Spezies übertragen (heteroplastische
Operation). Das Nichtgelingen der Pfropfung, entweder infolge Ab-
stossung oder baldiger Resorption, oder mindestens Schwierigkeit der
Vaskularisation mochte auf ungünstiger Technik, auf der Tatsache
U.
6) Wissenschaftliche Rundschau. 119
der Heterogenie, der Einpflanzung in einer ungeeigneten Region,
oder auf einer Kombination dieser Ursachen berühen.
‚Während Voronoffs experimentelle Transplante von Tier
auf Tier, besonders von jungen auf alte Tiere derselben Spezies
glänzende Resultate zu verzeichnen hatten, liessen die gewünschten
Erfolge beim Menschen im Stiche Dr. Frank G. Lydston in
Chikago war einer der ersten, welchem es gelang Testikelgewebe
von Knaben auf Männer zu verpflanzen und die Beweise der Vas-
kularisation später exzidierter Teile der Pfropfung und die histo-
logischen Befunde erklärten den klinischen Erfolg. Lydstonserster
Bericht erschien 1914, seitdem schrieb er wiederholt über den Gegen-
stand, zuletzt in dem Illinois Medical Journal, Juli 1922. (Chikago).
Da menschliches Material nicht gut zu erlangen war, beschränkte
Thorek (Chikago) sich auf die Benutzung von Testikeln einer
Affenart, deren Blut dem menschlichen am nächsten kommt und
hat bereits zahlreiche Erfolge mit einer von ihm als „Laternen-
Methode“ bezeichneten Technik erreicht. Die Transplante erwiesan
sich an mehrere Monate nach der Operation herausgeschnittenem
Interstitialgewebe als gut vaskularisiert und mit voller Funktion.
Es zeigte sich Rückbildung der Tubuli seminiferi, aber Proliferation
der interstitiellen Elemente. (American Journal of clinical Medicina.
Bd. 9. 1922.) E. H. Pirkner, Brooklyn-New York.
Versuche der Bestimmung der Abnutzung des weib-
lichen Organismus im Zusammenhang mit der Geburt und
der allgemeinen Konstitution. Zur Altersbestimmung wurde die
von Dr. Nadeschdin vorgeschlagene Methode. benutzt: Unter-
suchung der Falten und Runzeln vor dem Tragus (nach Reis,
bearbeitet von Nadeschdin), hinter der Ohrmuschel, auf Hals
und Stirn, an den inneren Augenwinkeln, zwischen Nase, Ober-
lippe und Kinn, der Farbe ‘und Elastizität der Haut von Gesicht und
Händen, des Zustands der Zähne und anderer Merkmale der äusseren
Abnutzung, unter Berücksichtigung der durchgemachten Krank-
heiten und anderer Umstände, die ein schnelleres Alter bedingen
können. Diese Merkmale der äusseren Abnutzung sind von
Dr. Nadeschdin zu einem System ausgearbeitet und zu semioti-
tischen Tabellen zusammengestellt worden, an Hand derer sich das
Alter objektiv feststellen lässt.
Im ganzen wurden untersucht 145 Fälle aus den Abteilungen für
Wöchnerinnen, für Gynäkologie, für Hausschwangere, für puerperale
Erkrankungen und für physische Behandlungsmethoden. Bei der
Zusammenstellung der untersuchten Fälle ergab sich folgendes: es
entsprachen ihrem Alter auf Grund der bei ihnen entdeckten An-
zeichen 9%0 der Frauen; 42%0 sahen älter, 4900 jünger aus. Die
Schwankungen zwischen Älter- und Jüngeraussehen waren für alle
Frauen nach der einen und der anderen Richtung im Durchschnitt
die on und entsprachen 1,7 Jahren.
eim Ordnen des Materials nach verschiedenen Gesichtspunkten
kam Verfasser zu folgenden Resultaten: Schwangerschaft macht die
120 Wissenschaftliche Rundschau. [7
Frau jung. Die Zahl der Jüngeraussehenden vergrössert sich mit
der Anzahl der Schwangerschaften, die der Älteraussehenden dagegen
sinkt (dies trifft allerdings nur für Frauen zu, die nicht mehr als
6 Schwangerschaften durchgemacht haben).
Anzahl der Schwangerschaften
mehr als
6
o|lıl2|/slals
°/o der Älteraussehenden . | 75 | 39,3 | 39,3 | 41,2 | 30 | 28 |25 44,4
Dia der Jüngeraussehenden | 25 | 46,4 | 50 58,8 | 60 | 57,1 | 66,7 56,4
Do der ihrem Alter ont- i
sprechenden . . . . 0 | 14,8 | 10,7 0 10 | 14,8 8,3 0
f
Bei der Bestimmung des Verwelkungsgrades fand) Verfasser, dass
bei den Älteraussehenden die Neigung zum Altern geringer als
mittelmässig war, und dass umgekehrt bei den Jüngeraussehenden
mit dem Steigen der Schwangerschaftsanzahl auch der Grad der
Verjüngung ein grösserer ist. (Die mittlere Schwankung nach den
Richtungen von Ältern und Verjüngung = 1,7 Jahren.)
Keine
Schwan-
1 | 2 8 d
gerschaft
Die mittlere Jahreszahl des | |
Alterns auf 1 Frau . | 17 [15 |16 |16 115 |08 |17} 20
Die mittlere Jahreszahl der |
Verjüngung auf 1 Frau’ 1,1 | 15 | 1,2 | 1,9 | 2,1 | 25 | 1,4 3,0
Nach einigen wenigen Beobachtungen sieht übrigens die Frau während
der Schwangerschaft (besonders im 9. Monat) gealtert aus. Des-
gleichen sieht in vorgerückten Jahren die Multipara älter aus als
sie ist; dies liesse sich jedoch vielleicht durch die Kinderfürsorge
und durch die vielen anderen erschöpfenden Faktoren erklären, denen
die Mutter einer grossen Familie stets ausgesetzt ist. Die Kombination
von Aborten mit Geburten soll die Verwelkung beschleunigen,
während das prozentuale Verhältnis der Jüngeraussehenden dabei
ungefähr das gleiche bleibt. Der Grad des Alterns übersteigt bei
Frauen, die abortiert haben, den Durchschnitt. Verfasser versucht
nun, sich auf den Grad der Verwelkung des weiblichen Organismus
infolge Schwangerschaft, Geburt und Aborte stützend, das allgemeine
Abwelken mit den durch den Geburtsakt bedingten lokalen Ver-
änderungen (an Damm und Bauchdecken) in Zusammenhang zu
bringen. Es stellte sich dabei heraus, dass unter den Frauen mit
Deszensus und partiellem Scheidenvorfall sich eine grössere Zahl
Jüngeraussehender befand (72,200). Das prozentuelle Verhältnis der
jünger aussehenden Frauen sinkt bei denjenigen, die Geburten in
höherem Alter durchgemacht haben. Mit vorgerückterem Alter ver-
8] Wissenschaftliche Rundschau, 121
ringert sich auch die Zahl der Frauen mit intaktem Damm im Ver-
gleich zur Zahl derjenigen, die an einer Insuffizienz des Perineums
leiden. Je mehr Geburten — desto mehr leidet der Damm: auf eine
Frau mit genügendem Damm kamen im Durchschnitt 2,1 Geburten,
— mit beginnender Scheidensenkung 2,4 Geburten, — mit voll- -
ständigem Scheidenvorfall 3,2 Geburten, — und mit vollem Vor-
fall 5,9 Geburten. Zwischen allgemeiner Konstitution und Damm-
zustand bestand folgender Zusammenhang: am seltensten leidet der
Damm (39,3% unter dem Durchschnitt) bei Frauen adipöser Kon-
stitution (entsprechend dem ruhigeren Temperament), häufiger als
Mittel bei Frauen nervöser (48,4%0) und glandulärer (48,5%) und
am häufigsten bei denen muskulärer (66,7 ee Konstitution. Was
die Nationalität. anbetrifft, so findet sich die Insuffizäenz öfter bei
Russinnen (42,50% häufiger als Mittel), bei Frauen anderer Natio-
nalitäten —40%. Bezüglich der Haarfarbe leidet der Damm am
häufigsten bei Brünetten (66,7%), seltener bei Dunkelblonden (41,200)
und noch seltener bei Blondinen (37,5%). Am seltensten trifft man
einen ungenügenden Damm bei physisch arbeitenden Frauen (28,6%),
bei Frauen aus intelligenteren Klassen dagegen bedeutend häufiger
als der mittlere Durchschnitt beträgt (54,9%). Die Damminsuffizienz
sowie die Bauchdeckenausdehnung nach Geburten 'wurde meistenteils
bei denjenigen Frauen beobachtet, die jünger aussahen als sie tat-
sächlich waren, und zwar je jugendlicher sie aussahen, desto aus:
gesprochener waren diese Veränderungen. Die Schwangerschafts-
striae sind besonders deutlich bei älter aussehenden Frauen, wogegen
sich mässig ausgeprägte Narben häufiger bei den jünger aus-
sehenden finden. Bei diesen ist auch öfter eine geringere Resistenz
der Bauchdecken anzutreffen.
Die lokalen Merkmale der Abnutzung des weiblichen Organismus
verhalten sich zueinander folgendermassen : einen genügenden Damm
beobachtete man öfter als einen ungenügenden bei denjenigen Frauen
bei denen keine Striae vorhanden waren, und umgekehrt kam
der ungenügende Damm desto öfter vor, je mehr die Striae ausge-
sprochen waren. Zwischen Perineuminsuffizienz, Varizes, Dehnung
der Bauchdecken und Abschwächung des Tonus der Bauchmuskeln
liess sich ein direkter Zusammenhang nachweisen, und zwar traf
man die Insuffizienz des Perineums häufiger bei Frauen mit Varizes
oder mit Dehnung der Bauchwand und Schlaffheit der Bauchmuskeln.
Dr. Bublitschenko, St. Petersburg.
Das Frauenproblem in kommunistischen Gemeinwesen
älterer und neuerer Zeit. Lange bevor Plato als Theoretiker den
idealen Staat wenigstens für die zur Herrschaft berufene Klasse
auf kommunistischer Grundlage errichten wollte, hatte Lykurg an
seinen Spartanern die praktische Durchführung mancher von jenem
aufgestellten Forderungen erprobt. In dem auf seiner Gesetzgebung
fussenden Gemeinwesen, dem er einzig durch die Macht der Er.
ziehung die mit den erforderlichen Voraussetzun ausgestattete
Bürgerschaft zu geben gedachte, war — so berichtet Plutarch —
122 Wissenschaftliche Rundschau, [9
zunächst mittels ausserordentlicher Massnahmen der Ungleichheit
des Landbesitzes entgegengetreten, sodann durch nicht minder ziel-
bewusst erdachte Anordnungen der Lust an jeglicher Zurschau-
stellung von beweglicher Habe vorgebeugt worden, so dass der An-
reiz zum Erwerb von Gütern, die keinem lebensnotwendigen Bedarf
dienten, fortfiel.e. Als wichtig vor allem anderen wurde erachtet,
dass die für eine denkbar anspruchslose und entbehrungsreiche
Lebensweise bestimmte spartanische. Bevölkerung mit kräftigem,
widerstandsfähigem Körper ausgestattet zur Welt gebracht werde.
Sollte aber auf die physische Ertüchtigung der künftigen Mütter
grosse Sorgfalt verwendet werden, so musste die Erziehung der
Mädchen und Jungfrauen für nicht weniger belangreich gelten, als
die des männlichen Geschlechtes. Durch Übungen im Laufen, Ringen,
Werfen der Wurfscheiben härtete man die weibliche Jugend ab, damit
die in einem starken Körper erzeugte Frucht kraftvoll aufkeimen
und gedeihen, dieser selbst aberıdie zur Geburt erforderlichen Kräfte
erlangen und die Schmerzen leicht und ohne Gefahr überstehen
möchte. Zur Ausrottung von Verweichlichung, Verzärtelung und
anderen weibischen Eigenschaften wurden die Mädchen ferner daran
gewöhnt, gleich den Knaben den feierlichen Aufzügen nackt beizu-
wohnen und so an gewissen Festen in Gegenwart der Jünglinge
zu tanzen und zu singen, eine Einrichtung, welche nach der Versiche-
rung unseres Gewährsmannes keineswegs der Schamhaftigkeit Ab-
bruch getan, wohl aber innerhalb der Jugend einen Wetteifer in
bezug auf gute Leibesbeschaffenheit erzeugt haben soll. Den zu kraft-
voller Schönheit und männlicher Gesinnung erzogenen Frauen kann
im spartanischen Volksleben keine untergeordnete Stellung ange-
wiesen worden sein; auch wird es ihnen an Selbstgefühl und geistiger
Regsamkeit nicht gefehlt haben, zu deren Betätigung genügende
Gelegenheit geboten war, wenn die Männer ins Feld zogen und ihnen
das Regiment im Hause überliessen. Dafür zeugt sowohl jene miss-
billigende Äusserung des Aristoteles über der spartanischen Weiber
angemasste Herrschaft und ausgelassene Freiheit, sowie die ihnen
von den Männern gezollte Verehrung, als auch jene von Plutarch
erzählte Anekdote, wonach auf die Ausserung: „ihr Lakedämonie-
rinnen seid die einzigen Frauen, die über ihre Männer herrschen“,
die also angeredete Spartanerin zur Antwort gab: Ja, wir sind auch
die einzigen, die Männer zur Welt bringen. Die Verheiratung der
Spartaner, die den Männern vom 30. Lebensjahre an gestattet war,
und zu den Bürgerpflichten zählte — Junggesellen unterlagen einer
beschimptenden Strafe und entbehrten ausserdem aller Ehrerbietung
und Hochachtung, die ältere Männer sonst von jüngeren fordern
durften — geschah durch Brautraub; 'die Vollziehung der Ehe sowie
die späteren Zusammenkünfte der Gatten fanden vorschriftsmässig
unter dem Schleier der Heimlichkeit statt, die einerseits Enthaltsam-
keit und Mässigung bewirken, andererseits durch ihren, besonderen
Reiz die Fruchtbarkeit befördern sollte. Da die Verbindung nicht
nur den Hausgenossen der Braut, sondern auch den Kameraden des
Ehemannes verborgen bleiben musste, war an ein wirkliches Gemein-
schaftsleben des Paares nicht zu denken, die Beziehungen blieben
10) Wissenschaftliche Rundschau. 123
offenbar lediglich geschlechtlicher Natur. Ehe und Häuslichkeit
waren für den Mann schon deshalb getrennte Begriffe, weil er zur
Teilnahme an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten der Männer ver-
rflichtet blieb, zu welchen jeder Bürger seine bestimmte Beisteuer
liefern musste. Eine Gewöhnung an das häusliche Leben war ihm
auch gar nicht erst anerzogen, der Knabe vielmehr schon vom sieben-
ten Lebensjahre an bis zur Heerespflichtigkeit der staatlichen Er-
ziehungsanstalt überwiesen worden. Somit erschöpften sich die An-
sprüche des Mannes an seine Gattin darin, dass sie die Mutter
seiner Kinder wurde. Für die Entscheidung darüber, ob diese übe.-
haupt aufzuziehen seien, war bekanntlich ihre körperliche Tauglich-
keit ausschlaggebend; kein Wunder, dass auf sie besonderer Wert
gelegt wurde, der Vater sie unter Umständen sogar höher achtete,
als die Echtheit der Abstammung aus seinem eigenen Blute. Wenig-
stens galt es dem Spartaner, entsprechend der Lehre Lykurgs, dass
der Nachwuchs möglichst. von den besten Volksgenossen, nicht aber
unterschiedslos von jedem Bürger erzeugt werden sollte, als durchaus
erlaubt und billigenswert, einen Stellvertreter zum Verkehr mit seiner
Ehefrau zuzulassen, und das von ihm stammende Kind als sein
eigenes anzuerkennen. Dieser Brauch bestand zu einer Zeit, da man
den Ehebruch für ein unerhörtes, in Sparta übrigens unbekanntes
Laster hielt, mag aber doch wohl mit seiner Durchbrechung des Be-
griffs einer ausschliesslichen geschlechtlichen Zusammengehörigkeit
der Ehegatten zur Verwilderung der Sitten beigetragen haben, und
für die Ausschweifung mitverantwortlich sein, die später unter den
spartanischen Frauen eingerissen sein soll. Es lässt sich wenigstens
recht gut denken, dass ein derartiges Verfügungsrecht des Ehemannes
über ihren Körper die nach Lykurgs Vorschriften zu männlicher
Gesinnung und Tüchtigkeit erzogene Frau dazu gebracht habe, dieses
Recht in erster Reihe einmal sich selbst beizumessen, eine Folgerung,
die um so sicherer zur Auflösung der Einehe führen musste, als diese
eben keinerlei Befestigung durch Ausbau des Familienlebens erhalten
hatte. a
Ausdrücklicher Verzicht auf Ehe und Familienleben bildete auch
die Grundlage für den Kommunismus verschiedener religiöser Sekten
sowohl aus vorchristlicher Zeit als aus derjenigen des Urchristentums.
Er war nicht durchweg mit asketischen Forderungen verbunden, wie
beispielsweise bei den Essäern, einem am Judentume festhaltenden
Geheimbunde, dessen in Gütergemeinschaft lebende Mitglieder ver-
streut in Stadt und Land wohnten und sich lediglich durch neu-
aufgenommene Erwachsene oder durch Adoption von Kindern ver-
mehrten ; in anderen Fällen zog eine lebensfreudigere Weltanschan-
ung die gleiche Folgerung und führte alsdann, wie bei den Adamiten,
einer im 2. und 3. Jahrhundert in Nordafrika aufgetretenen christ-
lichen Sekte, zur offenkundigen Weibergemeinschaft.
Es ist freilich, um den richtigen Massstab für die dadurch ge-
schaffenen Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu gewinnen,
notwendig, sich von Fall zu Fall zu vergegenwärtirren, welche Formen
der Eheschliessung, beziehungsweise des Geschlechtsverkehrs vorher
in den von der Neuregelung betroffenen Gemeinwesen geherrscht
Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX H 2. d
124 Wissenschaftliche Rundschau. [11]
hatten. Beispielsweise richtete Mazdak, ein im 5. Jahrhundert nach
Christi Geburt unter dem Sassanidenkönige Kawad aufgetretener
Reformator, der im neupersischen Reiche für Kommunismus und
Weibergemeinschaft eingetreten sein soll, seine Lehre, dass Eigen-
tum und Ehe als menschliche Einrichtungen dem Willen der Gott-
heit nicht entsprächen, an eine Bevölkerung, nach deren Sitten
die der Familie abgekaufte Frau Eigentum des Mannes wurde, während
der nicht zum Kaufobjekt gewordenen freier geschlechtiicher Verkehr
gestattet war.
Der im Christentume wurzelnde Kommunismus späterer Zeit
hat sich stets auf Kap. 2. 44 der Apostelgeschichte St. Lucä be-
rufen, wo geschrieben steht: alle aber, die gläubig waren geworden,
waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Offenbar zu Un-
recht; denn die Verwirklichung einer derartigen auf den Konsum
gerichteten wirtschaftlichen Gemeinschaft von Anhängern gleichen
Bekenntnisses bildeten im Laufe der späteren Entwicklung erst die
Klöster, während bei den ersten Christen anscheinend selbst das
Merkmal der gemeinsamen täglichen Mahlzeiten gefehlt hat, und nur
eine Verteilung des Überflusses an privatem Besitz stattfand. Auch
von einer Neuordnung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern
kann keine Rede gewesen sein, vielmehr deutet die Tatsache einer
besonderen Witwenfürsorge seitens der Gemeinde darauf hin, dass
man die Ehe auch als wirtschaftliche Gemeinschaft durchaus aner-
kannte und in dem Verlust des Ehemannes zugleich denjenigen des
Familienvaters und Ernährers sah. Es bestand also gewissermassen
ein Kommunismus der Verantwortlichkeit für Notleidende, und er
wurde in solcher Weise betätigt, dass es deren in der Gemeinde
keine gab. — Im Mittelalter beherrschte die Vorstellung einer
bevorstehenden Weltherrschaft der Gläubigen, die sich mehr oder
weniger intensiv mit der Erwartung eines Schlaraffenlebens verband,
die christlichen Sektierer und beeinflusste den Aufbau ihres auf
dem Ideale klösterlicher Gemeinschaft fussenden Zusammenlebens,
wie es sich in den verschiedensten Abwandlungen bei Katharern,
Waldensern, Patarenern, Begharden, Libertinern, Brüdern und
Schwestern vom freien Geiste ausbildete. Man kann wohl sagen,
dass dabei alle Möglichkeiten geschlechtlichen Zusammenlebens von
der völligen Enthaltsamkeit bis zur schrankenlosen Freiheit der
Hingabe aller an alle erschöpft worden sind, wenn auch die radi-
kalsten Elemente dieser Sekten stets auf den Widerstand der Mehr-
heit ihrer Anhänger stiessen, und bei gänzlicher Abspaltung ihr
Zusammenhang nur von kurzem Bestande war. Weltliche Gemein-
wirtschaft aber, wie sie bisher nur im Bereich der Gedanken und
Wünsche aufgebaut worden war, gelangte zu vorübergehender Ver-
wirklichung erst, als um die Reformationszeit. die kommunistischen
Regungen der Zeitgenossen neben ihrer religiösen Verwurzelung
auch aus philosophischen, sozialpolitischen und wirtscha’tlichen Be-
gründungen Nahrung erhielten. Als das klassische Beispiel eines
mit allen dabei unausbleiblichen Nebenerscheinungen verbundenen
Versuchs, die Utopie des Kommunismus in «die Tat. umzusetzen, gilt
von jeher die Herrschaft des „Königs von Zion“ Johann von Leyden,
12] Wissenschaftliche Rundschau. 125
die dieser als Wanderprophet und Führer der Wiedertäufer im Jahre
1534 zu Münster sich angemasst hatte. Man weiss freilich, dass die
Berichte über die tatsächlich durch gewaltsame Neuordnung des Ge-
meinwesens dort hervorgerufenen Zustände mit Vorsicht zu benutzen
sind, da sie durchweg von Zeitgenossen stammen, welche der Gegen-
partei jener religiösen Bewegung angehörten. Immerhin erscheint
es glaubwürdig genug, dass die Verordnung des Johann von. Leyden,
„ein Mann solle nicht mehr an ein Weib gebunden sein, sondern
möge soviel Weiber wie er wolle zur Ehe nehmen“, grosse Ver-
wirrung innerhalb der Bevölkerung angerichtet und zu Ehestreitig-
keiten schlimmster Art geführt habe. Es lässt sich auch wohl
denken, dass die neue Freiheit von beiden Geschlechtern schnell genu
missbraucht und im Laufe der Zeit bis zur völligen Zügellosigkeit
ausgebeutet worden ist, wenn auch der Beweggrund des „Propheten“
ein verständiger, der eigentümlichen Lage der Bevölkerung ent-
sprungener gewesen sein mag: die Gesetzmässigkeit der Vielehe
sollte eben in der vom Feinde belagerten infolge des männer-
mordenden Krieges an einem Überschuss weiblicher Insassen kranken-
den Stadt die Ausartung der geschlechtlichen Beziehungen ver-
hüten und damit jener Verwilderung der Sitten vorbeugen, die not-
gedrungen zur Weibergemeinschaft schlechtweg geführt hätte. Di:
strengen Strafen, die man auf Ehebruch und Verführung einer
Jungfrau gesetzt hatte, bedurften einer solchen Ergänzung, wenn
zu Münster unter den von Monat zu Monat schwieriger sich ge-
staltenden Verhältnissen die Ordnung gewahrt werden sollte An-
geblich stand es übrigens den Frauen zu, sich ihre Männer, Vormünder
oder Schützer selbst zu wählen, wodurch der ökonomische Gedanke
des Gesetzgebers hinreichend beleuchtet würde. Immerhin —- bei
allem Verständnis für diese Kriegsmassnahme wird man annehmen
dürfen, dass ihre Auslegung und Durchführung allmählich von den
lauteren Beweggründen des Gesetzgebers nur noch wenig erkennen
liess. Weiss man doch, dass auch unter glücklicheren Bedingungen
die Lehren der Wiedertäufer, selbst wo sie von der Vielweiberei
absahen, genug Verwirrung in die Ehen ihrer Anhänger trugen,
indem sie deren Lösbarkeit durch nachträgliche Zweifel an ihrer
Rechtmässigkeit Vorschub leisteten, das eheliche Zusammengehörig-
keitsgefühl bei den Männern durch Hinweis auf das Beispiel der
Apostel lockerten, den Frauen aber, die mit nicht wiedergetauften
Männern verheiratet waren, Gewissensskrupel einflössten oder ihnen
die Lehre von der geistigen Ehe zwischen Wiedergetauften in un-
reinem Sinne auslegten. — Mystische Vorstellungen von der Ehe
verbreitete auch Thomas Münzer, der übrigens in seiner kleinen
kommunistischen Gemeinde zu Mühlhausen niemals Vielweiberei oder
ähnliche Neuerungen befürwortet hat, dem Ehegatten jedoch — nach
Luthers Aussage — nur dann ein Anrecht auf die geschlechtliche
Gemeinschaft mit seiner Frau zubilligen wollte, wenn ihm durch
göttliche Eingebung oder Offenbarung zuvor die Gewissheit ge-
worden sei, dass er mit ihr einen heiligen Sohn oder eine solche
Tochter zeugen werde. — Den extremen Kommunisten unter den
Täufern liess anscheinend die Gegnerschaft zur katholischen Kirche
9*
126 Wissenschaftliche Rundschau. [13
und zum Mönchtum keine Wahl zwischen den beiden gebotenen Mög-
lichkeiten, das Frauenproblem zu lösen. Da sie das Zölibat verwarfen,
Ehe und Familienleben abschaffen wollten, mussten sie sich zur
Weibergemeinschaft bekennen, wie es bei den Züricher Sektierern
geschah und besonders bei den Brüdern und Schwestern des Freien
Geistes, die auch in Böhmen Eingang gefunden hatten. Dass man diese
Freiheit nicht mit Zügellosigkeit gleichsetzen wollte, lässt sich aus
einschränkenden Befugnissen erkennen, die dem Vorsteher zustanden.
Zu denjenigen Sekten, die Kommunismus und Einehe zu ver-
binden wussten, gehören die Böhmischen oder Mährischen Brüder,
Nachfolger der Taboriten, deren Mehrzahl bei allem Radikalismus
in: bezug auf gemeinwirtschaftliche Forderungen die Weibergemein-
schaft verworfen hatte. Freilich blieb bei der Ve erfassung ihrer Ge
meinden wenig Raum für wirkliche Gemeinschaft der Ehegatten oder
gar für ein Familienleben. Auch galt den Mährischen Brüdera de:
ehelose Stand als der heiligere. Die in ihm verharrten, wohnten ge-
trennt in Brüder- und Schwesterhäusern, durch gemeinsame Arbeit
vereint. Die Ehen wurden ohne individuelle Neigung auf Anord-
nung der Gemeindevorsteher geschlossen und dienten ausschliess-
lich der Fortpflanzung. Haushaltung und Kindererziehung waren
Aufgaben der Gemeinschaft; nur in den ersten beiden Lebensjahren
verblieb das Kind der Mutter. Die Mitwirkung der Frauen bei der
Jugenderzichung war aber deswegen’ nicht geringer, nur widmeten
sie ihre Kräfte nicht den eigenen Kindern, "sondern dem gesamten
Nachwuchs der Gemeinde. Übrigens auch demjenigen Anders-
gläubiger, denn die Schulen der mährischen Täufer genossen eines
guten Rus auch scheinen die wiedertäuferischen Frauen in Mähren
als besonders gute Hebammen, Säugammen und Kindswärterinnen
gegolten zu haben, deren Dienste man ausserhalb ihrer Gemeinde
gleichfalls gern in Anspruch nahm. Innerhalb derselben lag ei
weiblichen Senioren ob, für Witwen, Waisen und Kranke zu sorgen,
und durch ihre Anwesenheit bei den Hochzeiten Anstand und gute
Sitten zu wahren. Das grösstenteils auf Traditionen der Böhmischen
Brüder beruhende Gemeinschaftsleben der Herrnhuter Gemeinde hat
dann den Frauen. eine ähnliche Stellung angewiesen; wenigstens
weist das Bild, das Frau von Ntaël nach einem Besuch in Dinten-
dorf bei Erfurt von dem Leben der dortigen Gemeinde entwarf,
ganz die nämlichen charakteristischen Züge auf. Hervorgehobe.
wird hier noch die ausserordeytliche Sauberkeit der Strassen und
Häuser, dio gleichartire Tracht der Frauen, und die Sitte, durch die
Farbe eines um den Kopf geschlungenen Bandes Verheiratete, Jung
frauen und Wittwen voneinander zu unterscheiden. Bewirbt sich
ein Mann um ein Mädchen, so meldet er es der Vorsteherin über Juns
frauen und Witwen; die Entscheidung wird dadurch herbeireführt,
dass man in der Kirche das Los zieht, um zu erfahren, ob seine
Wahl die richtige ist. Gleichfalls nach dem Vorbilde der Mährische«
Wiedertäufer sollen die Perfektionisten oder Bibelkommunisten ihr
Gemeinschaftsleben eingerichtet haben, das sie vor etwa 90 Jahren
am Oneidaflusse im Staate New York besannen. In dieser Gemeinde,
die übrigens nie mehr als 300 Mitglieder umfasst hat, scheinen jedoch
14] Wissenschaftliche Rundschau. 127
später moderne Rassezüchtungsgedanken auf die Regelung der
sexuellen Probleme eingewirkt zu haben; ihnen zuliebe wurde die
Paarung älterer Angehörigen des einen Geschlechtes mit jüngeren
des anderen begünstigt, vermutlich auch das Band der Einehe ge-
lockert. Der Verzicht auf den Kommunismus ist im Jahre 1879
erfolgt.
Unverfälschte Bewahrung der mährischen Traditionen bleibt.
dagegen das Kennzeichen der in Süd-Dakota lebenden Huterischen
Brüderschaften, deren Mitglieder nach Robert Liefmanns Schilderung
noch heute in ihren Bruderhöfen oder Haushaben gemeinsam wohnen,
— Familie ihre besondere Schlafstube zuweisen, aber sonst alle
täumlichkeiten gemeinsam benutzen. In der Kindsmutterstube, die
jede Frau vor der Entbindung bezieht, kommen die Kinder zur Welt:
sie werden mit 21/, Jahren der mütterlichen Obhut entzogen und der
sogenannten „kleinen Schule“ überwiesen, einer Art Kindergarten,
den die Huterischen schon seit über 300 Jahren besitzen. Hier
werden sie von Schulschwestern und Schulmüttern behütet, die die
Gemeinde mit diesem Amte betraut; abends gibt man sie den Eltern
zurück; mit sechs Jahren beginnt der pflichtgemässe Besuch der
grossen Schule. Einige der Huterischen Gemeinden, die im Welt-
kriege nach Kanada ausgewandert sind, haben dort wiederum 4
Bruderhöfe errichtet, offenbar also auch dort ihre seit Jahrhunderten
bewährten Lebensformen beibehalten. Nicht ganz so ausgesprochen
wie bei ihnen herrscht der Kommunismus in der grössten auf seinen
Grundsätzen fussenden Gemeinde Amerikas, der 1843 gegründeten
Amanagemeinde Hier hat jede Familie ihr Haus für sich, das
freilich der Gemeinde gehört, und jeder Teil einer solchen seinen
eigenen Wohnraum ; der Hausrat ist Privateigentum. Doch erstreckt
sich die Abgeschlossenheit des Familienlebens nicht auf Bereitung
und Genuss der Mahlzeiten, die vielmehr gemeinsam in den eigens
dazu vorgesehenen Küchenhäusern verzehrt werden. In jedem Dorfe
gibt es deren 4—16; jüngere Frauen stellen darin unter Aufsicht
einer älteren die Mahlzeiten her, die gut und reichlich ausfallen ;
sio besorgen auch den Gemüserarten, der sich neben jedem Küchen.
hause befindet. Bei den Mahlzeiten wie beim Gottesdienste sitzen
die Mitglieder der Gemeinde nach Geschlechtern getrennt. Den
Frauen, die sowohl im landwirtschaftlichen 'Betriebe wie in Fabriken
nur leichte Arbeit zu verrichten haben, ist grösste Einfachheit der
Kleidung vorgeschrieben, und kein Schmuck zu tragen erlaubt. Ein
schwarzes Kopftuch verhüllt ihr Haar. Dem religiösen Charakter des
Gemeinschaftslebens entspricht auch die Auffassung, dass Ehelosigkeit
gottgefälliger sei als eheliches Leben, ohne dass jedoch ein Ehe-
verbot besteht. Nur dürfen Männer nicht vor dem 24. Jahre hei-
raten und müssen nach Bekanntgabe ihres Fntschlusses, in die
Ehe zu treten, mit seiner Ausführung ein Jahr warten. Die Ehe mit
einem Niehtmitgliede der Gemeinde bewirkt zeitweiligen Ausschluss.
— Ehelosigkeit ist dagegen bisher unumstösslicher Grundsatz der
von Angehörigen der Shakersckte gegründeten Gemeinden, dio gleich-
falls auf eine langjährige Entwicklung zurückblicken und sich im
Gegensatze zu so vielen anderen, in der crsten Hälfte des vorigen
ex
128 Wissenschaftliche Rundschau. [15
Jahrhunderts entstandenen bis zur Gegenwart als lebensfähig er-
wiesen haben. Ihre Ablehnung der Ehe wird teilweise religiös
begründet, teilweise durch die Behauptung gerechtfertigt, nur so
seien die Mitglieder der Sekte von Sonderinteressen, wie sie d.e
eigene Familie bedingt, freizuhalten und den Gemeinden die innere
Harmonie zu bewahren ; eine Behauptung, die wie wir gesehen haben
durch das lebendige Beispiel der Huterischen Bruderschaften wider-
legt wird. Denn diese Gemeinden, die mit kurzen Unterbrechungen
seit nunmehr 400 Jahren einen vollkommenen Kommunismus durch-
führt haben, die einzigen in der Welt, in denen der kommunistische
Gedanke so tief verwurzelt gewesen ist, dass ihre Mitglieder nach
Aufgabe der Gemeinschaft wieder zu ihr zurückgekehrt sind und
sich dabei besser befunden haben, als vordem, wussten ihn von
jeher mit der Einehe zu verbinden; sie blieben daher — trotz ihrer
Neigung zur asketischen Weltanschauung — nicht wie die Shakers
darauf angewiesen, lediglich durch die Erziehungsarbeit an ihnen
anvertrauten Kindern Aussenstehender für die notwendige Ergänzung
ihres Mitgliederbestandes zu sorgen. Ihre,Existenz, deren Zukunft
gesicherter erscheint, als die der letztgenannten Gemeinden, liefert
zwar keinerlei Beweis für die Durchführbarkeit des Kommunismus in
grossem Massstabe und an einer Bevölkerung, der das starke Band ge-
meinsamen religiösen Bekenntnisses und einheitlicher Weltanschauung
fehlt, wohl aber dafür, dass jener, wo er überhaupt lebensfähig ist,
keineswegs die Verneinung des geschlechtlichen Lebens oder seine
in. Zügellosigkeit ausartende Bejahung unter Aufhebung der Ehe
zur Voraussetzung haben muss, vielmehr mit der Einehe sehr wohl
vereinbar ist. Ob er auch ohne diese dauerhafte Zustände innerhalb
eines Gemeinwesens verbürgen könnte, ist eine Frage, für deren
Beantwortung bisher keinerlei praktische Erfahrungen vorliegen.
Denn auch jener im 17. Jahrhundert zu Paraguay in 31 von
Indianern bewohnten Niederlassungen organisierte Jesuitenstaat,
dessen Lebensdauer sich auf über 150 Jahre erstreckte und wohl
gleichfalls als ein erfolgreiches, freilich auf besonderen, ungewöhn-
lichen Voraussetzungen beruhendes kommunistisches Experiment
gelten darf, hatte die Einehe zur Grundlage und machte sie den
Eingeborenen nach vollendetem 17. beziehungsweise 15. Lebensjahre
zur Pflicht. Der Staat lieferte jedem Paare die notwendige Aus-
staftung und ein Stück Land; die den Massen geistig weit überlegene
kleine Schicht ihrer Beherrscher, der spanischen Jesuiten, überwachte
Erziehung und häusliches Leben — offenbar zur Zufriedenheit der
Beherrschten, die, als man sie von ihrer Obrigkeit „befreit“ hatte,
um Rückkehr der ausgewiesenen Jesuiten baten. Deren Versuch eines
autoritären Kommunismus ist das grösste bisher durchgeführte kom-
munistische Experiment, das die Weltgeschichte kennt — wenn man
vom russischen Bolschewismus absicht, der beiläufig gesagt die Stel-
lung der Frau nicht wesentlich" beeinflusst zu haben scheint; die
Bilanz der ungeheuerlichen seelischen und körperlichen Leiden, die
er ihr zugefügt hat, ist freilich um so schwerer zu ziehen, weil sich
diese an die durch die langen Kriegsjahre verursachten unmittelbar
anschliessen. Margarete Weinberg, Berlin.
HI. Kritiken.
Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden.
R. Schroeder: Lehrbuch der Gynäkologie. Für Studierende und Ärzte.
Mit 324 teils farbigen Abbildungen im Text und $ farbigen Tafeln. Verlag
C. F. W. Vogel, Leipzig 1922.
Als ich in Band VIII, Heft 1, Seite 54 und 55 dieses Archivs das altbewährte
Handbuch der Frauenkrankheiten von Karl Schroeder-Hofmeier be-
sprach, welches ein halbes Jahrhundert Gynäkologie umspannt, da habe ich die
gegenwärtige Epoche ‘der Gynäkologie als die biologisch-soziologische bezeichnet
‚und gesagt, dass — neben allen Vorzügen des Hofmeierschen Handbuches —
doch die Abendröte der abgelaufenen Periode, der chirurgisch-lokalistischen,
noch zu stark in Farben stehe und die Morgenröte der neuen Zeit heller leuchten
könnte. Dmals habe ich nicht wissen können, dass das gynäkologische Lehrbuch,
welches diese Forderung erfüllte, schon geschrieben, wenn auch noch nicht
erschienen war. Das vorliegende Buch des jungen Kieler Ordinarius Robert
Schroeder weicht in Stoffeinteilung, Stoffanordnung, Auffassung und
Bearbeitung von den bisherigen, fast zu Schemen gewordenen Lehrbüchern ab.
Und zwar so grundlegend, dass der eine Teil der oben gestellten Forderung,
die biologische Betrachtungsweise, als erfüllt bezeichnet werden darf. Meister-
haft sind die „normale Physiologie des Genitale“ und die Anomalien des
menstruellen Zyklus dargestellt. Wer wäre auch berufener dazu gewesen als
gerade dieser Autor, der an der Neuorientierung in der Funktion der Genital-
organe hervorragend beteiligt ist. Aber doch mit einer Einschränkung. So vor-
züglich und kompendiös die Störungen der endokrinen Drüsen beschrieben
sind, so scheinen mir doch die klinischen Krankheitsbilder zu sehr durch die
Brille dos Gynäkologen gesehen oder besser zu sehr nur mit dem Blick auf die
Genitalien beschrieben. Ich vermute, dass das absichtlich geschehen ist, viel-
leicht deswegen, weil es sich um ein Lehrbuch der Gymäkologie handelt.
Dennoch aber glaube ich, dass das nicht richtig ist. Diese auf endokrinen
Störungen beruhenden klinischen Bilder sind Konstitutionstypen oder, wenn
man will, Konstitutionsanomalien, welche, soweit sie genotypischer Art sind.
unter dem Gesichtswinkel von Vererbung und Auslese, soweit sie erworben sind,
unter dem der Konstitutionspathologie betrachtet werden müssen. Da wäre also
eine eingehendere allgemeine klinische Würdigung am Platze gewesen, welche deut-
lich zu verstehen gibt, dass die genitalen Befunde eben nur Teilerscheinungen
von Allgemeinzuständen sind und keine lokalen Störungen sui generis. Da
hätte deutlicher und energischer gesagt werden müssen, dass es sich nicht
um gynäkologische Krankheitsbilder handelt. Da hätte der Schritt vom Lokalis-
mus zum Konstitutionalisnus und Personalismus (Kraus) so entschieden
sein müssen, dass der Studierende und der Arzt erkennt, «ass die Fach-
grenzen der Gynäkologie weit ‚überschritten sind. Wie notwendig das ist und
wie es gar nicht anders geht, haben die jüngst stattgefundenen Verhandlungen
der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft in Berlin über „Sexualität
130 Kritiken. [2
und Konstitution‘ erwiesen. In diesem Zusammenhange hätte der Autor auch
Gelegenheit gehabt, die Physiologie und Pathologie des weiblichen Geschlechts-
lebens zu behandeln. Es geht nicht mehr an, dass die Fachlehrbücher der
Gynäkologie der Erörterung dieser Fragen ausweichen. Denn sie bilden einen
bedeutenden Faktor in der Biologie und Pathologie des Weibes und begegnen
dem Arzt als Ursachen der mannigfachsten körperlichen Störungen und Be-
schwerden im Bereich der Genitalorgane. Mit ihnen muss der Studierende
ebenso bekannt gemacht werden, wie mit der Gonorrhöe, der Syphilis, der
Tuberkulose, der Aktinomykose, Echinokokkenerkrankung der Gemitalien, ja
noch weit mehr, weil sie überaus häufig und eingreifend als Ursachen in Be-
tracht kommen.
Dasselbe gilt von den gewerblichen Erkrankungen der Frau, welche
durchaus nicht, wie man so oft hört, auf den Prolaps ‘beschränkt sind. Die he-
ruflichen Ursachen spielen in der Ätiologie «der Genitalerkrankungen der Frau
eine wichtige Rolle. An ihnen darf der Unterricht im Zeitalter der Frauen-
berufsarbeit nicht mehr vorübergehen.
Wenn Schroeder diese Lücken in zukünftigen Auflagen ausgefüllt haben
wird, so wird sein sonst so vorzügliches Lehrbuch allen Anforderungen der (iegen-
wart gerecht sein. Dann wird es dem Leser eine lückenlose Biologie und
Pathogenese der weiblichen Genitalorgane geben.
Und noch eine Bitte. Ohne Fremdworte geht es gewiss nicht ab in einem
medizinischen Lehrbuch. Ich bin auch weit entfernt, den öden Sprachfanatismus
derer gutzuheissen, welche jedes Fremdwort töten wollen. Die Sprache ist ein
lebender, in steter Entwicklung und ewigem Fliessen befindlicher Organismus,
aus dem Teile nur dann herausgenommen werden dürfen, wenn die Lücke voll-
wertig ausgefüllt werden kann. Solche Fremdkörper aber — und dazu manche
recht hässlicher Art — finden sich in der Ausdrucksweise dieses Buches. Ich
finde z. B. auf 5 Seiten bei sehr weitherziger Wertung: frustrane ÜUteruskon-
traktionen, konstalieren, larvieren, Medikamentation, Perzeption, mature und
(mature Geburt, eklatant, passieren.
Da wäre also noch ein Feld verdienstvoller Betätigung. Die wunder-
vollen Bücher über die deutsche Sprache von Fritz Mauthner, Eduard
Fngel, Moskowskı sollten auch von Merdizinern gekannt werden. Aber
davon ist in der letzten Zeit ja schon mehrfach die Rede gewesen.
Max Hirsch, Berlin.
Lahm: Die patholagisch-anatomischen Grundlagen der Frauenkrankbheiten.
24 Fortbildungsvorträge aus dem Gesamtgebiet der Gynäkologie. Mit 71 Ab-
bildungen auf 12 Tafeln und im Text. Verlag von Theodor Steinkopf, Dresden
und Leipzig 1922.
Was den Reiz und grossen Vorzug dieses Buches bedingt, das ist die
innige und ständige Beziehung, in welcher die pathologisch-anatomischen Dinge
zu den Erfahrungen der Klinik gehalten werden. Diese Verknüpfung von Theorie
und Praxis macht das Buch dem Praktiker besonders wertvoll. Ich glaube nicht.
dass die gynäkologische Literatur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit
ein Lehrbuch hat, dessen Stoffanordnung so ausgezeichnet den Bedürfnissen
des ärztlichen Praktikers entgegenkommt. Anäatomisches Substrat, Pathogenese,
klinisches Bild, Grundzüge rationelter Therapie, Abbildungen, tabellarische Zu-
Ssarmmenstellungen und Übersichten — alles ist klar zusammengefügt und cin-
heitlich aufgebaut. Von einem Autor, der den Stoff beherrscht und in vielen
Hinsichten eigene Wege geht. Ich wiederhole: ein ausgezeichnetes Buch.
Max Hirsch, Berlin.
Peritz: Einfübrung in die Klinik der inneren Sekretion. Mit 31 Abbildungen.
Verlag von S. Karger, Berlin 1922.
Der Verf. hat sich zum Ziel gesetzt, einem weiteren Kreise von Ärzten
und Studierenden die Übersicht über die Störungen zu ermöglichen, welche von
3] Kritiken. 131
den Drüsen mit innerer Sekretion ausgehen können. Wer die inkretorische For-
schung der letzten beiden Jahrzehnte erfasst. hat, wird die Grösse dieser Auf-
eabe, aber auch ihre Schwierigkeiten ermessen können. Diese beruhen nicht so
scht in der Darstellung des Chemismus der einzelnen Drüsen (Üllypophyse,
Nebennieren, Keimdrüsen, Schilddrüse, Epithelkörperchen, Thymus usw.) und
seiner Äusserungen, als vielmehr in der Umreissung der durch ihn bedingten
Symptomenkonmplexe und Reaktionstypen. Die Kliniker haben es beim kranken
Menschen eben niemals mit einer einzelnen Drüse und ihren Störungen zu tun,
sondern mit einem pluriglandulären System, dessen Einzelheiten so vielfältig
und oft noch dunkel ineinander greifen, dass die vom Verf. angestrebte Syste-
matisierung von vornherein unlösbaren Schwierigkeiten unterworfen ist. Diese
kommen denn auch — das ist kein Tadel, sondern ein Mangel, der in der
Unzulänglichkeit unserer bisherigen Kenntnisse begründet ist — in der Unge-
nauigkeit der Abgrenzungen und der Vielfältigkeit der Wiederholungen zum Aus-
druck.
Die Schwierigkeiten werden dadurch vergrössert, dass der Verf. — getreu
der Lehre und dem ärztlichen Denken der Krausschen Schule — von der
monosymptomaüschen und organizistischen Betrachtung zu Konstitutionalismus
und Individualismus vorzudringen und die inkretorischen Krankheitsbilder denen
der Konstitutionspathologie anzupassen, ein- und überzuordnen unternimm'.
Hierbei musste Verf. unvermeidlich an der vorerst noch unüberwindbaren
Schwierigkeit scheitern, Typen der Körperform von scharfer Prägung heraus-
zuarbeiten, wie es etwa der Psychiatrie annähernd gelungen ist.
Verf. ist sich dieser Schwierigkeit selber sehr wohl bewusst und betont
wiederholt die Unmöglichkeit der Systematisierung. Er sucht beides zu über-
winden, indem er auf dem Gebiet der inneren Sekretion in dem gestörten pluri-
glandulären System jeweilig einer Drüse den Primat zuzuschreiben bemüht ist
und aus dem Blickfeld ihres Chemismus Symplomenkomplex und Habitus zu
klären und zu vereinen sucht. Seine Bemühung, der Schwierigkeiten Herr zu
werden, äussert sich weiter in der Überordnung, welche er dem Infantilismus,
dem Status thymolymphaticus und der Spasmophilie verleiht. Auch des
Verf, Bestreben, genotypische Konstitution und Modifikation zu trennen, verdient
volle Anerkennung.
Habitus und Konstitution sind verschiedene Dinge. Jener ist etwas ana-
tomisches, diese etwas funktionelles. Sie kann einen bestimmten Typ haben,
braucht es aber nicht. Die funktionelle Betrachltungsweise, wie sie Verf. mit den
Frgebnissen der innersekretorischen Forschung übt, führt zum Verständnis der
klinischen Konslitutionstypen. Dieses dem ärztlichen Praktiker zu ermöglichen
ist die vorliegende Schrift vorzüglich geeigmet. Max Hirsch, Beriln.
Mulzer: Kompendium der Haut- und Geschlechtskrankheiten. Mit
Einsehluss der wichtigsten nicht venerischen Erkrankungen der Harn- und
Geschlechtsorgane. Mit 120 Textabbildungen. Verlag von Ferdinand Enke,
Stutigart 1923.
Dieses Buch ist ganz auf die Bedürfnisse des praktischen Arztes zuge-
schnitten. Sowohl in seinem allgemeinen Teil, welches sieh vorwiegend mil
Therapie beschäftigt, als auch besonders in dem speziellen Hauptteil, welcher
die Haut, Harn- und (eschlechtskrankheiten in alphabetischer Anordnung
behandelt. Max llırsch, Berlin.
Hermann Hoffmann: Die individuelle Entwicklungskurve des
Menschen. Ein Problem der medizinischen Konstitutions- und Vererbungs-
lehre. Verlag von Julius Springer, Berlin 1922.
Verf. geht von den Experimenten Goldsehmidts über die Vererbung
des Geschlechtes bei Schmetterlingen, welche zur Theorie der Entstehung der
Intersexualität aus dem quantitativen Verhältnis der beiden Geschlechtsanlagen
132 Kritiken. [4
geführt haben, aus und macht den Versuch, darauf eine dynamische Betrachtungs-
weise des medizinischen Konstitutionsproblems aufzubauen. Die evolutiven
und involutiven Konstitutionsanomalien sollen aus der Geschwindigkeit und
Frergie der Entwicklung bestimmter Anlagen und ihrer Gegenpartner erklärt
werden. Das wird an psychiatrischen Konstitutionstypen schizoider und zykloider
Art erläutert. Verf. glaubt, aus der vergleichenden konstitutionellen Betrachtungs-
weise, welche nicht nur die Art, sondern auch die Energiemenge jeder einzelnen
Anlage zu ergründen sucht, Nutzen für die menschliche Konstitutionsforschung
zu gewinnen. Max Hirsch, Berlin.
V. Haecker und Th. Ziehen: Zur Vererbung und Entwicklung der
musikalischen Begabung. Verlag von J. A. Barth, Leipzig 1923.
Bei den enormen Schwierigkeiten, die der Erbforschung bezüglich des
Menschen entgegentreten (unzulängliches Material, zu kurze Beobachtungsmög-
lichkeit usw.) ist es besonders verdienstvoll, wenn die beiden Hallenser
Forscher — ein Zovloge und ein Psychologe — es in jahrelanger mühsamer
Arbeit unternommen haben, die Vererbung und Entwicklung der musikalischen
Begabung wissenschaftlich exakt zu erforschen. Die Exaktheit der methodo-
logischen und terininologischen Arbeitsweise ist für ähnliche Arbeiten vorbildlich.
Haecker und Ziehen geben in der vorliegenden Arbeit eine umfang-
reiche Übersicht über die Erblichkeitsverhältnisse, die Entwicklung, die Kom-
ponenien und die korrelativen Beziehungen der musikalischen Beanlagung auf
Grund von 1100 Fragebogen, deren Ausfüllung ihnen ein verwertbares Material
von 5000 Personen zuführte. Der Wert der Angaben wird dadurch erhöht, dass
sie hauptsächlich von akademischen Lehrern, Ärzten, Geistlichen, Juristen und
Lehrern stammen, sowie durch oft fünfmalige Rückfrage und persönliche Unter-
suchung und Nachprüfung mit experimentell — psychologischen Methoden
ergänzt und präzisiert wurden. Leider haben gerade. Virtuosen, Kapellmeister und
Komponisten die Fragebogen relativ selten ausgefülit.
Die Hauptergebnisse der Verfasser seien kurz (meist im Wortlaut) vermerkt:
1. In diskordanten Ehen [Ehen mit musikalischer Veranlagung nur des
Mannes palropositivi oder nur der Frau (matropositiv) bei mangelnder mausi-
kalischer Veranlagung des anderen Teiles] überwiegen bei ungewöhnlich mausi-
kalischen .---: )- Nachkommen die männlichen, b>sonders in matropositiven Ehen;
die weniger, aber doch über dem Durchschnitt masikalischen (-+) - Nach-
kommen solcher mafropositiver Ehen sind jedoch vorwiegend weiblichen Ge-
schlechts.
2. In diskordanten Ehen ist die positive Belastung wirksamer als die negative.
3. Weibliche Individuen zeigen seltener (-|--4-)-Veranlagung, vererben sie
aber. wenn auf Grund besonderer Umstände eine solche vorliegt, in besonders
wirksamer Weise, und zwar auf das empfänglichere bzw. entfaltungsfähigere
männliche Geschlecht ‘bezieht sich zunächst nur auf diskordante Ehen).
4. Fälle, die mit dem Mendelschen Vererbungsmodus absolut unver-
einbar wären, haben sich nur in ganz verschwindender Zahl gefunden. (Falsche
Berichte? Eheirrungen?) `
>. Das Material der Verfasser verträgt sich am leichtesten mit einem in
bestimmter Weise modifizierten Pisum-Typus. Die anderen Typen, Zea-, Avena-,
Dorset-Suffolk-, Abraxas-, Drosophila-Typus, sind, die letzteren trotz bestimmter
Hinweise auf Geschlechtsbedingtheit, abzulehnen.
6. Vielleicht bevorzugt die mütterliche € 1-4): oder (-F)-Belastung im Sinne
einer gleichgeschlechtlichen Vererbung die Töchter etwas vor den Söhnen, insofern
inehr (Töchter als © 4+-j-Söhne auftreten (IS. 67). Daher kommt in matro-
positiven Ehen ein Konflikt der hereditären Momente zustande, auf dem wohl
die Variabilität der Vererbungsverhältnisse z. T. beruht,
4
5] Kritiken. 133
7. In den positiv-konkordanten Ehen (Ehen mit ausgesprochener musikali-
scher Veranlagung des Mannes und der Frau) kommen etwa 40% (+4--)- und
fast 40% (--)-Nachkommen vor; (M)-Nachkommen (mit etwa mitlelmässiger
Begabung) sind spärlich, (—)-Nachkommen (unmusikalisch) und selbst (=)-Nach-
kommen (gänzlich vnmusikalisch) fehlen nicht; männliche (=) - Nach-
kommen sind, wie auch im allgemeinen, viel seltener als weibliche. (Über
die Einteilung der verschiedenen Stufen der musikalischen Veranlagung siehe
Seite 6.)
8. Das Hinzukommen eines zweiten posiliven Elters bedingt bei den Nach,
kommen vor allem ein starkes Abwandern von (+) nach (++).
9. In negativ-konkordanten Ehen (Ehen, bei denen beide Eltern (—) oder
(=) sind) ergeben sich auffälligerweise relativ viele (-+)- und sogar (+--)-Nach-
kommen. (6 Erklärungsmöglichkeiten siehe Seite 96.)
10. Die Untersuchung der A sz end enz der positiven und negativen Fälle
bestätigt im allgemeinen die vorausgehenden Resultate.
11. Die musikalische Begabung wird in eine sensorielle, ıetentive, synthetische,
motorische und ideative Komponente zerlegt. Daneben ist zwischen produk-
tiver und reproduktiver Begabung zu unterscheiden. Die rhythmische Begabung
und die Gefühlsbetonung nehmen Sonderstellungen ein. (Bezüglich des Ver-
haltens dieser Komponente siehe Seite 112 ff.)
a) Spaltung der motorischen und sensorischen Komponente kann durch
Hereditätsverhältnisse bedingt sein.
b) Das Material der Verf. enthält 50 männliche und 14 weibliche f von
angeblichem absoluten Tongedächtnis (f= Fälle).
ch Bei 34% aller komponierenden musikalisch veranlagten Individuen
wird absolutes Tongedächtnis angegeben.
d Töchter sind vielleicht für positive rhythmische Belastung empfäng-
licher als Söhne (Erziehungseinflüsse? S. S. 137).
e) Auch bei kompositorisch begabten Individuen liegt keineswegs immer
DD-, sondern verhältnismässig oft DR-Veranlagung vor (wobei D die
dominierende, R die rezessive Anlage einer Keimzelle bedeutet).
f) Die positive Belastung kompositorisch begabter Individuen stammt bei
etwa 2/, von Vater- und Mutterseite, desgl. bei etwa ?/, nur von Vater-
und bei (ie nur von Mutterseite (S. 143).
12. Die Entwicklung der musikalischen Begabung zeigt 2 Gipfel, deren Pe.
deulung eingehend besprochen wird (S. 151 ff.).
13. Die musikalische Entwicklung kann der sprachlichen sens. strickt.
vorangehen (S. 157).
14. In manchen Fällen scheint die musikalische Veranlagung erst gegen
Ende der Pubertät manifest zu werden.
15. Iu den stark positiv belasteten (--+-)-Fällen pflegt die musikalische
Begabung besonders früh manifest zu werden (nicht ausschliesslich durch Um-
welteinfluss zu erklären).
16. Beim männlichen Geschlecht besteht wahrscheinlich eine Korrelation
zwischen musikalischer und zeichnerischer Begabung, eine noch grössere
zwischen musikalischer und dichterischer; beim weiblichen Geschlecht sind
diese Korrelationen unsicher; zeichnerische rezeptive Begabung scheint beim
weiblichen Geschlecht gegenüber dichterischer zu überwiegen (S. 17h.
17. Eine sichere Korrelation mit mathematischer Begabung hat sich nicht
nachweisen lassen (auffallend hoher Prozentsatz der mathematischen Begabung
bei .negaliv-musikalisch veranlagten männlichen Individuen).
18. Unter den psychopathischen Konstitutionen scheint sich die depressive
am häufigsten mit hoher musikalischer Begabung zu verbinden.
Die Verfasser betonen, dass die Untersuchung vorzugsweise auch methodo-
logische Ziele verfolgt hat, und dass sio bezüglich der sachlichen Ergebnisse
selbst noch viele Zweifel hegen. Zum Schlusse sei noch der ausführlichen
Literaturangaben Erwähnung getan.
134 Kritiken. [6
Die Verfasser setzen die Untersuchungen fort und bitten die Fachgenossen
dringend, ihnen kasuistisches und literarisches Material zur Verfügung zu
stellen. (Fragebogen sind von den Verfassern unter der Anschrift: Halle a. S.
Universität erhältlich. Arnold Hirsch, Berlin.
Moser: Über Schizophrenie bei Geschwistern. Arch. f. Psych. Bd. 66.
H. 1. S. 52.
Der Autor hat 50 Fälle von Geschwisterpsychosen, von denen 33 der
Katatonie, 17 der Dementia paranoides angehörten, einer Untersuchung unter-
zogen, besonders mit Hinblick auf die Bedeutung der Heredität und die Frage,
ob sich Besonderheiten zur Aufstellung von Unterformen finden liessen. Aus den
Ergebnissen verdient hervorgehoben zu werden, dass erbliche Belastung in 61°u
nachgewiesen war, während er die tatsächliche Heredität höher einschätzt.
Besonders gross war der Anteil des Alkoholismus, und zwar in 40,1%. Ferner
zeigle sich, dass die Tendenz der Geschwister derselben Reihe an derselben
Unterform zu erkranken, eine recht grosse war und dass die Prognose ungünstiger
war als bei Nichtverwandten. König, Bonn,
Fel. v. Luschan: Völker, Rassen, Sprachen. Mit zahlreichen Abbildungen.
192 S. 8° Weltverlag, Berlin 1922.
Diese Wanderung um den Erdball beginnt mit Neu-Holland (Australien)
und führt über Amerika, Afrika, Asien, Indonesien, Ozeanien nach Europa. Dem
tertiären Menschen begegnen wir dabei nicht, so temperamentvoll man auch
schon von ihm spricht. Als Urheimit des Menschen kommt Amerika nicht in
Frage; aber wo der paläolitische Mensch (== h. neandertalensis sive primigenius)
entstanden ist, wissen wir nicht. Sprache, Beherrschung des Feuers usw. können
unsere Vorfahren auch unabhängig voneinander zu verschiedenen Zeiten und an
verschiedenen Orlen erworben haben. Die gesamte Menschheit, so glaubt auch
der Vert, besteht nur aus einer einzigen Spezies: homo sapiens. Es gibt
keine an sich minderwertige Rasse, auch nicht die der Neger ist es. Die als
ursprünglich anzunehmende Deckung von Sprache und „Rasse ist jetzt nur
sehr selten. Eine Gleichheit z. B. zwischen arischer Rasse und Sprache ist
abzulehnen (93. 159). Finheitsbegriffe wie Rasse, Araber, Türke zeigen sich
oft bei schärferem Zusehen als stark zusammengesetzt. Noch wissen wir nicht,
wie aus dem anscheinend ursprünglich einheitlichen Menschen die so grosse
heutige Verschiedenheit entstanden ist. Die Wanderungen früherer Zeiten Kam
man sich gar nicht zu häufig, weit und merkwürdig vorstellen. Sie wurden
z. T. unterstützt durch andere Erdformationen, als sie heute bestehen. In jenen
Irühen Zeiten gab es sehr wahrscheinlich überraschenden Verkehr zwischen
jeizt ganz gelrennten Ländern. Der Verf. hat selbst viele und weite Reisen ge-
macht und eine Menge wissenschaftlicher Forschungen angestellt, für die er
nalürlich auch mit der ungeheuren anthropologischen Literatur bekannt sein
musste. Das kommt dem wissbegierigen Leser zugute. Er erhält ein interessantes
Bild von dem gegenwärligen Stande unserer Erkenntnis der Erdbewohner und
ihrer so sehr verwickelten Bewegungen. Z. B. werden Afrikas Völker und
Sprachen schemafisiert 38 f), die Verhältnisse Vortderasiens zusammengefasst.
(III), wobei die Hethiter nieht fehlen, die so erstaunlichen Ozeanischen
Kulturen (Polynesien, Melanesien, Mikronesien) beurteilt, die Kelten gemustert
(G80; die slawischen Wanderungen mutmasslich von Inner-Asien hergeleitet
(157). In Vorderasien erinnert (99) ein Esel an den Bileams, bei dem man
sagen kann facit indignatio (zwar nicht versum, aber: loquentem — wodurch die
Statistik der sprechenden Tiere erfreulich erweitert wird.
Vielleicht kann das inhaltreiche Buch von Hans Günther: Rassenkunde
des deutschen Volkes, München 1922 hier erwähnt werden; vgl. Münch. med,
Wochenschr. Nr. 51 (22, XI. 1922) S. 1767. K. Bruchmann, Eerlin.
TE
Bier ur ré
7] | Kritiken. 135
Lucian und Christine Schermann: Im Stromgebiet des Irrawaddy.
(Birma und seine Frauenwelt.) Verlag von Oscar Schloss, München.
Der Leiter des Münchener Museums für Völkerkunde und seine Gattin
geben in diesem Hefte eine wohltuend von dem Stil und Inhalt der gewöhnlichen
Reisebeschreibungen abweichende Schilderung asialischer Stämme und speziell
ihrer Frauen, die das Interesse der an der wissenschaftlichen I'rauenkunde inter-
essierten Kreise wohl verdient. Überall finden wir verständnisvolles Eingehen auf
die weibliche Psyche. Tracht, Beschäftigung, generative Tätigkeit und Kunst.
Dr. K. Huber gibt dem Werkchen eine hübsche Sammlung von Frauengesängen
aus Birma bei, die seinen Wert für die Frauenkunde erhöht.
Arnold Hirsch, Berlin.
Erich Wulffen (Dresden): Das Weib als Sexualverbrecherin. Verlag von
Dr. P. Langenscheidt, Berlin.
Im Jahre 1910 erschien Erich Wulffens grosses Werk „Der Sexual-
verbrecher‘‘. Was ich damals im ‚„Neurologischen Zentralblatt‘ schrieb, wieder-
hole ich jetzt bei meinem Hinweise auf die neue wissenschaftliche Leistung
Wüulffens: „Das Weib als Sexualverbrecherin‘. Wir hatten bei der Auffassung
und Beurteilung des Verbrechers vielleicht eine Überbetonung seiner Bedingt-
heit durch das Milieu, insbesondere durch die Wucht der ökonomischen Ver-
hältnisse vorgenommen. Nun wendet sich die Spirale unserer vertieften Er-
kenntnis und lässt wieder einen scharfen Akzent auf die biologisch-anthropologi-
schen Faktoren, auf die immanent wirkenden Kräfte des antisozialen Indi-
viduums legen. Wie ich den ‚„Sexualverbrecher‘, so spreche ich auch Wulffens
nenes grosses Werk „Das Weib als Sexualverbrecherin“ als eine bedeutsame
Fortsetzung und Vertiefung Lombrosischer Gedanken aus. Im Besitz .gründlicher
und umiassender biologischer, psychologischer, kriminalistisch-juristischer und
psychiatrischer Kenntnisse hat Wulffen das Bild der Sexualverbrecherin ge-
zeichnet. Indem er mit Recht den Einseitigkeiten und Abirrungen der „Freu-
dianer‘ ablehnend gegenübersteht, hält er fest an dem unverlierbaren Kern der
Sexualpsychologie, die den Forschungen Freuds ihre wesentliche Bereiche-
rung, sowie den grossartigen Entdeckungen Steinachs ihre Vertiefung und
ihren Ausbau verdankt. Freilich kann ich Wulffen nicht folgen, wenn er sagt,
dass die Unzulänglichkeit der Mitarbeit des Weibes am Geschicke der Mensch-
heit niemals so offenbar geworden sei, wie in unserer Zeit, dass wir starren
Blickes in das Chaos, in das Nichts der Gegenwart schauen sollen, den Glauben
an die Macht der Evolution preiszugeben haben. Hier muss ich Wulffen
entschieden widersprechen, doch davon an anderer Stelle. Hiervon abgesehen,
begrüsse ich Wulffens Werk „Das Weib als Sexualverbrecherin‘ als be-
deutsames Ergänzungswerk zu seinem „Sexualverbrecher". Kein ärztlicher Sach-
verständiger, kein Psychiater — aber auch kein Richter und Verteidiger —
sollten cin Gutachten erstatten, ohne sich in das Werk Wulffens vertieft zu
haben. Freilich müssten sie dann auch meine alte Forderung erfüllen, sich in der
Anthropologie, Biologie, Psychologie und Psyehiatrie gründliche Kenntnisse zu
verschaffen. Heute ist es eine Qual für den gewissenhaften und streng wissen-
schaftlich gesinnten Gutachter vor Gericht zu wirken; möge die Zeit nahe sein,
wo Persönlichkeiten von der Art Wulffens keine Aumahmeerscheinungen sind.
Wer dese Zeit herbeiführen will, Jurist und Psychiater, vertiefe sich in die
Werke Wulf£fens. Otto Juliusburger, Berlin.
Wilhelm Stekel: Impulshandlungen (Wandertrieb, Dipsomanie, Klepto-
manie und verwandte Zustände). Verlag von Urban und Schwarzenberg,
Berlin und Wien 1922.
Auch dieser Band des gross angelegten Werkes „Störungen des Affekt- und
Trieblebens“ zeigt die gleichen Vorzüge und Mängel des Verfassers wie die
früheren Bände — Vorzüge in dem allenthalben sich offenbarenden, umfassen-
E
136 Kritiken. [8
den Literatur- und Erfahrungswissen, Mängel in der unverändert einseitigen
Stellungnahme zu kaum begonnenen, höchst anfechtbaren, zweifelhaften Lehren.
Staunend sieht man, wie überzeugt Verf. von seiner Traumdeutung ist. Staunend
hört man, welch seltsame Symbolisserungen er in jedem Wort, in jeder Hand.
lung zu finden vermeint. Staunend sieht man, wie er durch seine phantastische
Andeutungsart dazu kommt, allenthalben Inzestgedanken zu entdecken, schlumm-
mernde Inzestgedanken und gemeingefährliche kriminelle Regungen von Kindern
gegen ihre Eltern wachzurufen. Traurig wäre es um die Menschheit bestellt,
wenn nur ein Teil dieser angeblichen Feststellungen zuträfe Nur bei so
einseitig verrannter, wissenschaftlicher Stellungnahme kann man zu der Über-
zeugung gelangen, mit solchen Mitteln Heilung zu bringen, nur so zu dem
Leitsatz kommen, „dass eine spätere Zeit es lernen wird, wie man durch
analytische und anagogische Tätigkeit die Verbrecher heilt‘ (!!). Leider verbietet
es der zur Verfügung stehende Raum, eingehend kritisch zu dem Werke Stellung
zu nehmen, was der trotz aller Ausstellungen ungewöhnlich schöpferische Geist
durchaus verdient, — notwendig schon deshalb, weil Steckel ja nicht von
Finzelerfahrungen berichtet, sondern sofort deren Allgemeingültigkeit dogmatı-
siert, wie krass auch seine Auffassung allem Erfahrungswissen widersprechen
mag. Man lese den Leitsatz: „Trinker leiden an einer schweren Paraphilie
(Sadismus, Nekrophilie, Pädophilie, Zoophilie usw.), sie sind fast alle latent
Homosexuelle, sie haben eine Inzestfixierung (Eltern, Kinder, Geschwister
Grosseltern, Tanten usw.), in leichteren Fällen leiden sie an unglücklicher
Liebe. Sie haben ihr Ziel nicht erreichen können oder nach dem Besitz ver-
loren .. ..“ Ist es wohl möglich, zu solcher Trinker-Charakterisierung noch
ernst Stellung zu nehmen? Und dabei urteilt derselbe Verfasser über noch
ungeheuerlichere Verstiegenheiten z. B. Sadgers durchaus kritisch. Noch
seltsamer ist die folgende Ausdeutung: „Zu den alltäglichen Diebstählen ge-
hört das Behalten von Bleistiften, die wohl selten zurückgegeben werden, was
mitunter eine sexualsymbolische Handlung verrät.‘ Nun wissen wir also, weshalb
Menschen Bleistifte stehlen!
Man höre: „Raufbolde sind meist Homosexuelle, die sich immer wieder
ihre Männlichkeit beweisen wollen und zugleich nach Gelegenheit suchen, mit
Männern zusammenzustossen.‘ Sic! Sogar eine Schachparapathie hat Stekel
entdeckt. Der König wird ein Symptom des Vaters!!
Soviele Bedenken auch das Werk herausfordert, der Sexualforscher, sofern
er es mit entsprechendem Vorwissen studiert, wird daraus wertvollste Anregungen
schöpfen, wenn er auch die häufige Weitschweifigkeit, die ausgedehnte Wieder-
gabe von Psychoanalysen -— eine Analyse, das Erlebnis, ist allein 87 Seiten —
nur mit grosser Überwindung studieren kann. Placzek, Berlin.
Friedrich Jodl: Der Monismus und die Kulturprobleme der Gegenwart.
Vortrag gehalten auf dem ersten Monistenkongress am 11. September 1911
zu Hamburg. 2. Aufl. Verlag von Alfred Kröner, Leipzig 1922.
ss ist immer wieder Belehrung und Genuss, diese kristallklare Rede des
Wiener Philosophen zu lesen. Den der Weg von den Geschichts- und Geistes-
wissenschaften zum Monismus; von der Naturwissenschaft zur Kulturwissen-
schaft; von den grossen Schöpfungen des objektiven (reisies in Recht und
Sitte, Religion und Philosophie, zum Einzelmenschen und dem Verständnis
der Naturbedingtheit seines Denkens und der Einheit seiner Organisation ge-
führt hat. Zwei Arten der Weltbetrachtung, über deren Zusammengehörigkeit
heute ein Zweifel nicht mehr bestehen darf. Max Hirsch, Berlin.
Bartholomäus Carneri: Briefwechsel mit Ernst Haeckel und Friedrich
Jodi. Herausgegeben von Margarete Jodl. Verlag von K. F. Koehler, Leipzig 1922.
Was die Mediziner und Biologen an diesen Briefwechsel besonders fesselt,
ist, zu sehen, welche Ausstrahlung, aufwühlende und entscheidende Wirkung
9] Kritiken, 137
Haeckel auf seine Zeitgenossen von den "Oger Jahren an ausgeübt hat.
In Carneri entstand dem Darwinismus und dem Monismus der Vorkämpfer
auf dem Gebiete der Philosophie und Ethik. Von der neuen Biologie führt ihn
der Weg zu einem neuen ldealismus. Die Briefe sind reich an menschlichen
Zügen. | Max Hirsch, Berlin.
Hans Driesch: Geschichte des Vitalismus. 2. Aufl. 213 8. 8°. 90 Mk.,
geb. 126 Mk. Verlag von Joh. Ambr. Barth, Leipzig 1922, |
Hat auch Driesch nicht die Absicht sachlich-geschichtlicher Vollständig-
keit. so weiss er doch, wie wertvoll geschichtliche Betrachtung, besonders
des Bedeutenden ist. Dies zeigt sich, wie zu erwarten war, in seiner eigenen
Darstellung, die aus Geschichte und Kritik zur positiven Lehre überführt. Die
4 Hauptteile sind 1. der ältere Vitalismus, 2. die Kritik und die materialistische
Reaktion, 3. der neuere Vitalismus, 4. der ‚Neovitalismus“. Von Aristoteles
bis in die Gegenwart führt uns Driesch. Wir sehen die mannigfaltigen
und anziehenden Bemühungen um die trotz allem noch nicht entschiedene
Sache. Sie wird durch die gewöhnliche Definition von Vitalismus (Lehre,
dass bei den Lebensvorgängen ausser den physikalischen und chemischen
Kräften noch eine besondere übersinnliche Macht mitwirkt) nicht vollständig
bezeichnet. Am Schluss teilt uns Driesch mit, das er von der Tat-
sächlichkeit der Phänomene, welche Telepathie, räumliches Hellsehen,
Materialisation u. a. m, heissen, überzeugt ist. Die Aussagen der sogen.
Parapsychologie und Paraphysik seien nicht bedeutungslos, vielmehr beide
wichtig für die Formung auch einer Weltanschauung. Zu diesem Ausblicke
(S. 208) und gegen ihn kann man das wohldurchdachte Buch von M. Dessoir
vergleichen: Vom Jenseits der Seele, die Geheimwissenschaften in kritischer
Betrachtung. 3. Aufl. 1919. Wenn Driesch (133) sagt, Rob. Mayers Satz
von der Erhaltung der Energie haba trotz seiner Inhaltsarmut die Naturwissen-
schatten in wahre Verzückung versetzt, so kann diese Form leicht den An-
schein einer gewiss nicht gewollten Geringschätzung des Mannes erregen, der
andern Gesichtsbetrachtern als Galilei des 19. Jahrhunderts erschien.
K. Bruchmann.
Friedrich Dahl: Vergleichende Psychologie oder die Lehre von dem
Seelenleben des Menschen und der Tiere. Mit 25 Abbildungen im Text.
110 S. 8°. Preis brosch. 35 Mk., geb. 62 Mk. Ferlag von Gustav Fischer, Jena 1922.
Auch der Verf. findet, dass wir in einer Welt von Wundern leben. Die so
olt erstaunlichen Leistungen der Tiere sind nun inf Vergleich mit den mensch-
lichen teils unter- teils überschätzt worden. Der Mensch müsse sich endlich
einmal abgewöhnen, in allen Punkten etwas vor dem Tiere voraushaben zu wollen
(71). Aber auch den Tieren sind mystische Fähigkeiten nicht änzudichten
‘59. 98). Manche ihrer Leistungen sind nicht mit Bewusstseins-Vorgängen ver-
bunden, andere als maschinenmässiger Automatismus nicht denkbar (46), wenn
ihnen Verstand auch meist fehlt (56. 84). Bei dieser vermittelnden Beurteilung,
die dem Menschen und Tiere sein Recht lassen will, sucht Verf. manche Tier-
verrichtung mechanistisch zu erklären (57), oder führt sie auf ein angeborenes
Bedürfnis zurück (46). Leben die Tiere mit Arbeitsteilung zusammen, so ent-
stehen die Bienen- und Ameisenstaaten, die Verf. mit dem Menschenstaat ver-
gleicht (80). Ganz erstaunlich ist Gedächtnis und Beobachtungsgabe mancher
Tiere (63. 87); das logische Denken aber sei nur dem Menschen eigen (86).
Fortschritt und Unterschied des beiderseitigen Denkens veranschaulicht eine
Tafel des Verf. (92). Auch auf das religiöse Gefühl geht Verf. ein (97f.). Er
erwähnt die bekannten Ansätze zum Werkzeug beim Affen (851. Wenn oft be-
hauptet wird, dass nur der Mensch sich der Werkzeuge bediene, so sei das
unrichtig. Auch das Fangnetz der Spinne, der Trichter des Ameisenlöwen seien
Werkzeuge, hier zum Fangen der Beute. Fragt sich nur, wie man ‚Werkzeug‘
definiert. K. Bruchmann.
138 Kritiken. [10
Gina Lombroso: Die Seele des Weibes. Deutsch von Marie Kurella. 301 S.
8°. Brosch. 40 Mk., geb. 60 Mk, Siebener-Verlag, Frankfurt a. M. 1922.
G. L., Medizinerin, Tochter von C. Lombroso, fragt in ihrem inter-
essanten Buche zunächst: Hängt die „Tragik“ der Frauen ab von Dummheit,
Roheit, Dünkel, Ungerechtigkeit der Männer? Sie antwortet: Nein; sie hat
ihren Grund in der Mission des Weibes, in dessen besonderen Neigungen (4. 25.
198. 228). Ihr Denken wird beeinflusst durch ihr Fühlen. Ihre Intelligenz be-
steht fast ganz aus Leidenschaft und Intuition (229). Sie ist intuitiv (153. 163).
der Mann deduktiv, wenn auch nicht wenige Frauen ausgesprochen männlichen
Intellekt haben (165. 197; ihr Verhältnis zur Logik 126. 176ff.). Gegensatz zu
Intuition ist „Vemunft“ (36. 78). Intuition ist hauptsächlich die Möglichkeit,
die Wirkung einer Handlung auf eine andere Person vorauszusehen, ehe noch
die Handlung geschehen ist (30). Sie ist eine der Grundlagen für den „Altro-
zenlrismus‘ (= Altruismus), der die Frau beherrscht, während der Mann ego-
zentrisch ist. Die Frau sucht den Mittelpunkt ihrer Freuden, Hoffnungen, De.
strebungen nicht in sich selbst, sondern in einer oder mehreren Personen, die
sie liebt und von denen sie geliebt sein möchte. Zu den altrozentristischen
Trieben gehört aufs engste die Mutterschaft (119. 199), obgleich die Frau ın
Wahrheit eigentlich gar keinen Anlass hat, sie zu wünschen (105. 12. 19).
Aber sie hat nun diese Liebe zum Konkreten, zu lebenden Wesen (126. 130).
Obgleich es sicher Frauen von bedeutendem Intellekt gibt (197 f.), schätzt man
doch diesen nicht so hoch ein, wie beim Manne. Warum? Der Grund ist ein
sozialer Instinkt. Die Gesellschaft will nämlich, ‚dass ihre Heldin schön und
gut sci“ (198), will bewundern, dass die Frau ihre (so oft gepriesene) Anregung
zu Dichtung, Musik usw. bewährt (201). Die soziale Mission des Mannes ist eine
andere als die der Frau (228. 233). Die verschiedene Bewertung ruht nicht
auf Ungerechtigkeit, sondern auf der Ungleichheit des natürlichen Wesens und
der natürlichen Mission (208. 272. 294), wie denn schon bei der Liebe Männer
und Frauen sich verschieden geberden (214 f. 243). Es ist verkehrt, zu wollen,
“lass Frauen und Männer sich möglichst gleich werden. G. L. ist natürlich für
die Ehe, gegen den widerlichen Widersinn der sogen. freien Liebe (246). Ja „das
Recht auf Liebe entspricht ganz genau dem Recht auf Diebstahl, Unterschlagung...
dem Recht, eine begehrte Sache auf irgendeine Weise zu erreichen“ ... . (260,
Mir scheint, dass die Verf. ihre richtige These durchaus überzeugend he-
wiesen, auch viel Richtiges sonst über Männer und Frauen gesigt hat. Von den
Kompensntionen, die der Frau von Natur und Gesellschaft geboten werden und
unzureichend seien, will G. L. jn einem anderen Buche reden. Ein interessantes
Beispiel wie eine Frau angeblich auf einen sehr scharfen und ziemlich trockenen
Denker anregend gewirkt hat und dafür verhbimmelt wurde, ist Mrs. Taylor:
vgl. J. St. Mill, Autobiography London 1873 und Alex. Bain, J. St. Mill,
a Criticism, London 1882. S. 163 ff. . K Bruchmann.
Else Stroh, Selbstverwirklichung. Eine Formenlehre der Liebe und des
Lebens. 119 S. 210 Mk. Verlag von Eugen Diederichs, Jena 1922.
Im Ich tindet die Verf. ein Analogon des Weltalls. Dies ist Finheit, offenbart
sich aber in Vielheit; ähnlich das Ich. Das grosse und kleine Leben ist Gestalt
und Strömung, Sein und Werden. Von dem punkthiften Ich aus will die Welt
erfasst sein. Ohne Polarität (Verbundenheit durch Wechselberührung) ist nun
kein Leben denkbar. Wie alles\bLeben zur Gestalt hindrängt, so auch zu seinem
letzten Ziele, dem Tode. Gibt es eine Idee der Ideen, so ist es nur die des
Lebens selbst (86). Nur dieses selbst, kein Grübeln und \Wägen, bringt hinfort
in der philosophischen Erkenntnis weiter. Wir leben aber nur, insofern wir
lieben (31. 9%. Das Bild der Welt wird nur durch Liebe möglich. In dem
Buche sollen wir sehen, wie eine Frau dureh Liebe zu ihrer Philosophie ge-
kommen ist. Es gibt auch keine nur-physische Weltbetrachtung; die Erde ist
auch Geist, Idee. Wie ist nun eigentlich Liebesleben? Im Anfang des Buchs,
11] Kritiken. 139
der aus 10 ziemlich gefühlvollen Briefen an ihn besteht, sagt sie: mir leuchtet
das herrlichste Bild der Liebe als eine vollkommene Freundschaft vor, ein
stetes ruhiges Zusammenleben, das aber im eigentlichsten Sinne keine Ehe ist
(17). Indessen bei diesem Gedanken, der selbst in dem Deutschland, wie es seit
dem Herbst 1918 geworden ist, nicht ohne Glanz bleiben und hier und da sein
Ec.ıo finden wird, bleibt es weiterhin nicht. Es wird nicht gefordert, dass es
bei dieser himmlischen Liebe sein Bewenden hat. Sie schreitet vielmehr zur
Synthesis des Kindes fort. „Es gibt einen Punkt, von dem aus alles Liebesleben
heilig wird.‘ Ob’ die Verf. nicht zu stark idealisiert, wenn es auch bei Goethe
(1775) heisst .. . ach, der heiligste von unsern Trieben, warum quillt aus ihm
die grimme Pein? Allerdings setzt die Verf. hinzu, erst in'der Ehe erhalte die
Liebe ihre feste Gestalt. Traurig, dass dies Thema noch immer nicht erschöpft
Let. Aler noch trauriger, wenn wir bereits Bescheid wissen, aber nicht wissen,
dass wir die Sache schon gänzlich erkannt haben. Ist übrigens sicher ver-
ständlich, was ein sonnenwirbelnder Hymnus ist (80) ?
K. Bruchmann, Berlin.
Kehrer: Über Spiritismus, Hypnotismus und Seelenstörung, Aberglaube
und Wahn. Zugleich ein Beitrag zur Begriffsbestimmung der Hysterischen.
Arch. f. Psych. Bd. 66. H. 3 u. 4. S. 381.
Wie es so oft bei Kehrer vorkommt, weitet sich ihm unter der Hand das
Thema, es eröffnen sich Ausblicke in femerliegende Gebiete, neue Probleme
werden angeschnilten und im Vorb:igehen Fragen aufgeworfen, die eigentlich
nur mehr in ganz losem Zusammenhang mit den bearbeiteten Krankheitszuständen
stehen. So ist es auch in dieser Arbeit. Der Begriff der Dämmerzustände wirt
kritisiert, der Hysteriebegriff erörtert, eine neuartige somatisch bedingte para-
noische Reaktion gezeigt, auf die konstitutionellen Wurzeln der Haftpsychosen
hingewiesen u. v. a.
Das Ergebnis seiner Forschungen, die er an einer Reihe glänzend analy-
sıerier Krankheitsbilder demonstriert, fasst er «dahin zusamınen, dass sich
unter den psychogenen Ausnahmezuständen auf seelischem Gebiete spiritistische,
d. h. Psychosen abtrennen lassen, welche durch länger dauernde Beschäftigung
mut dem Spiritismus in demselben Sinne „verursacht sind wie die Haft-
psychosen „durch“ den Haftkomplex. Den Ausdruck ‚spirilistische‘ oder „me—
diurmistische‘‘ Psychosen lehnt er als zu allgemein und ungenau ab. Er unter
scheidet zwei Kategorien, erstens Fälle, bei denen die spiritistischen Vorgänge
die wesentliche Krankheitsursache abgeben und zweitens diejenigen, bei «denen
spiritistische Inhalte einen entscheidenden Einfluss auf die Symptomgestaltung
von in der Hauptsache durch andere Ursachen bestimmten Seelenstörungen aus-
üben. Auffallend ist, dass es sich bei seinen Kranken stets um alleinstehende
Frauen in den Rückbildungsjahren handelt. Zum Schluss zeigt er an zwei
Fällen wie hypnolische Beeinllussungsideen überwertige Bedeutung erlangen.
König, Bonn.
Wollenberg: Röntgensterilisierung und Libido. Arch. f. Psych. Bd. 66.
H. 3 u. 4. S. 439. -
An der Hanıd eines ihm zur Beurteilung überwiesenen Falles beschäftigt
sich Wollenberg mit der Frage, ob von der Röntgensterilisierung eine
Wirkung auf die Libido zu erwarten ist. Auf Grund einer Umfrage bei einer
Reihe namhafter Gynäkologen und der Beobachtungen von Albrecht kommt
er in Übereinstimmung mit «dem lelzigenannten zu der Anschauung, dass von der
Röntgenkastration nur dann eine günstige Beeinflussung des krankhaft ge-
steigerten und entarteten Geschlechtstriebes zu erwarten s'i, wenn es sich um eine
init der zyklischen Eierstocksfunktion parallel gehende Periodicität der sexuellen
Übererregbarkeit handle. Da dies in dem konkreten Fall nicht vorlag wurde der
Eingriff abgelehnt. König
Da
Archiv für Frauenkünde. Bd. IX. H. 2. 10
Bonn.
140 Kritiken. [12
Charlotte Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens. Heft 1 der „Quellen
und Studien zur Jugendkunde. Verlag von Gustav Fischer, Jena 1922.
Dieses Buch wird absichtlich dem berühmt gewordenen, von Siegmund
Freud bevorworteten „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens‘ (Internalio-
naler psychoanalytischer Verlag) gegenübergestellt, als charakteristische und
typische Aufzeichnungen der wirklichen Backfischseele. — Das hier beige-
brachte Material, welches in meist recht kindhafter und ungeschminkter Form
die Seelenbedrängnisse eines Mädchens aus der Pubertätszeit zum Ausdruck
bringt, und zwar als Erlebnisse mit Mitschülerinnen und Lehrerinnen, deren
honiosexuelle Orientierung aber noch keineswegs ins Bewusstsein eingetreten
ist. Die Niederlegung solchen Matenals mag als Dokumentierung gewisser
Grundlegungen von Wert sein, verspricht aber den „Quellenstudien‘“ nichts, die
eben nachgerade auf die psychologische Stoffdurchdringung im Sinne Freuds
durchaus angewiesen sind. H. Koerber, Berlin,
Ilse Reicke: Frauenbewegung und Erziehung. Verlag von Rösl & Co.
Miinchen 1922.
Das Buch enthält im Hinblick auf die Frauenbewegung cine Übersicht und
eine Forderung: jene verfolgt die Entwicklung bis auf unsere Zeit, in welcher
cine Zerlegung des Problems in wirtschaftliche, kulturelle, staatspolitische,
psychologische und biologische Teilfragen erkennbar wird; diese bezieht sich
auf die Erziehung der weiblichen Jugend und erstrebt für die Frau der Zukunft
jene Fntfaltung, von welcher allein, nachdem die ihr zuerkannte pohlische
Gleichberechtigung neue Möglichkeiten an Stelle der rein männlichen Orientierung
völkischer Lebensgemeinschaft denkbar macht — eine welterneuernde, weltum-
gestaltende, welterlösende Wirkung ihres Einflusses erhofft werden kann.
IIse Reickes Schriften zeichnen sich durch vornehme, aufrechte
und vorurteilsfreie Gesinnung aus. Ihren Gedankengängen zu folgen ist er-
freulich auch dann, wenn sie Zweifel oder gar Widerspruchslust erregen, zumal
die Schreibweise fast durchweg fesselt, nur selten einmal das Künstlerblut ver-
leugnet, das der Verfasserin von Vater und Mutter vererbt wurde Der dar-
stellende Teil des Buches, welcher beiläufig gesagt etwa dessen eine Hälfte
ausfüllt, ist eine verdienstvolle willkommene Leistung, die ihm angegliederte
Besprechung des unter Hans Blühers Führung stehenden Antifeminismus
zeugt von vorbildlicher Unparteilichkeit, die unseres Erachtens sogar zu weil
vcht, da Blüher auf Grund mancher Ausserungen zur Sache der Frau das Recht
verwirkt hat, von ihren berufenen Vertreterinnen ernst genommen zu werden.
— Als Grundlage für Ilse Reickes FErziehungsprogramm wird inter-
essanterweise die neue Erkenntnis über Besonderheit und Eigenart der Frau
herangezogen, die der psychiatrischen Ärztin Dr. Mathilde von Kem.
nitz zu danken ist. Dass die entscheidenden Stellen aus ihrem Buche „Das
Weib und seine Bestimmung‘ im Wortlaute angeführt werden, erleichtert das
Verständnis der Schlussfolgerungen auch solchen Lesern, die sich mit den Ge-
dankengängen dieser Forscherin noch nieht bekannt gemacht haben. Auf diese
hier näher einzugehen, müssen wir uns versagen; es genüge die Feststellung,
dass in dem Werke auf Grund exakter wissenschäaftlicher Forschungsergebnisse
die typisch weibliche Veranlagung mit der männlichen verglichen und als End-
ergebnis nicht «die Minderwertigkeit, wohl aber die Andersarligkeit der Frau
in allen ihren Einzelheiten dargestellt wird. Dass diese Besonderheit in einem
nur auf die männlichen Bedürfnisse zugeschnittenen Geistesleben nicht zu ihrem
vollen Rechte gelangen, weder in ihren Bedürfnissen vol befriedigt, noch in
ihren Wirkunesmöglichkeiten gebührend gefördert werden kann, — diese Fr
kenntnis bildet gewissermassen die Keimzelle für die Erziehungsforderungen,
welche den letzten Teil des Reiekeschen Buches ausfüllen. Sie werden
zweifellos nicht unwidersprochen bleiben: um nur ein Reispiel zu nennen, wird
die Stellungnahme der Verfasserin zur Konfessionsschule, die nach ihrer Mei-
e
Ba
13] | Kritiken. 141
nung mit der Einheitsschule durchaus vereinbar ist, keine ungeteilte Zustimmung
finden. Auch steht ihre Ansicht, dass die Erziehung des dem Kindesalter ent-
wachsenen Mädchens ausschliesslich in Frauenhänden liegen soll, in schärfstem
Gegensalze zu der Auffassung angesehener Vertreter der auf pädagogische
Zwecke angewandten Psychologie, welche gerade in dem zukunftentscheidenden
Alter der Geschlechtsreife die Einseitigkeit einer nur gleichgeschlechtlichen
erzieherischen Einwirkung — sowohl an Knaben — als auch ap Mädchen.
schulen vermieden sehen wollen. Aber was schadet es denn, wenn bei der Er-
örterung dieser oder jener Teilfrage die Geister aufeinanderplatzen? Wichtig
ist vor allen Dingen, dass das Interesse wachgerufen und gefesselt wird; wichtig
ist, dass in Zeiten der Umwälzung und Neubildung die Aufmerksamkeit auf
unlängst gewonnene Erkenntnisse gelenkt wird, die zur Revision eingewurzelter
Ansichten drängen; wichtig ist auch, dass eine Kulturerscheinung wie die
Frauenbewegung durch neue Zielsetzungen in steter- Fühlung bleibt mit den
neuenistandenen kulturellen Problemen der Menschheit. In dieser Richtung
liegt die Daseinsberechtigung des Büchleins, dem wir recht zahlreiche und auf-
merksame Leser wünschen. Margarete Weinberg, Berlin.
Helene Stöcker: Liebe. Verlag von Rösl & Co., München 1922.
Aussagen von Frauen über ihr Liebeserleben, welche den Stempel der Un-
verfälschtheit tragen und so eine Bereicherung der Frauenkunde bieten, liegen
bisher nur in geringer Anzahl ‘vor. Man ist in dieser Hinsicht vorwiegend auf
Arbeiten von Männern angewiesen, die freilich auf den Bekenntnissen ihnen
nahestehender oder ihrer ärztlichen Behandlung anvertrauter Frauen und auf
einem starken Einfühlungsvermögen in die weibliche Psyche beruhen mögen,
immerhin aber doch die Bedingtheit einer Nachschaffung aus zweiter Hand
aufweisen und in keinem Falle erschöpfende Auskunft geben. Um so bemerkens-
werter wäre ein Buch wie das vorliegende schon um der Tatsache willen, dass
es von einer Frau geschrieben wurde, auch wenn es nicht durch besondere Vor-
züge künstlerischer Art den Leser zu fesseln wüsste. Die Verfasserin gehört
jener Generation der Kämpferinnen für Frauenrechte an, welche nicht mehr
— wie ihre Vorgängerinnen — wm selbst gesteckter Ziele willen das Weib ın
sich abzutöten bereit sind, sondern zu ihren Forderungen auch die auf Gleich-
berechtigung in der Erfüllung ihrer geschlechtlichen Bestimmung zählen. Das
tiefste Problem dieser modernsten Frau ist die Unvereinharkeit ihres An-
spruchs auf ungehemmte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, dieses höchste
Glück der Erdenkinder, mit der Liebe, die vom Weibe freiwillige Abhängigkeit
fordert. Das echt weibliche Verlangen, sich unterzuordnen, die Überlegenheit
des geliebten Mannes anerkennen zu dürfen, gerät in zwiefachen Konflikt:
einmal mit dem Bestreben, sich selbst nicht zu verlieren, sondern als ganzer
Mensch mit eigenen I,ebenszielen zu behaupten, sodann mit der schmerzlichen
Frkenntnis, dass das Suchen nach dem vollkommen ebenbürtigen Manne für die
seelisch und geistig anspruchsvolle Frau unfehlbar zur Enttäuschung führt. Denn
ihren hochgespannten Forderungen aie seine innere Grösse, ihrem Glauben an
die Einzigkeit und Unzerstörbarkeit der Liebe, ihrem Anspruch auf ein ganzes
menschliches Verhältnis zu dem einmal erwählten Lebensgefährten begegnet. von
seiner Seite jenes Missverstehen, das bereits in der vollkommen abweichenden
Vorgeschichte seines Liebeserlebnisses tief begründet ist, von einer Vorgeschichte,
die die gleichwertige Erwiderung eines ganz echten starken, auf Unendlichkeit
eingestellten Gefühls zur Unmöglichkeit macht. Daher reden und leben Mann
und Frau — selbst die höchstwertigen Vertreter beider Geschlechter in der
Liebe aneinander vorbet — auch wenn sie nicht, wie die von der Verfasserin
geschilderten Liebenden überdies durch Gegensätze der Veranlagung, der Tempera:
mente, Weltanschauungen und Lebensalter am 'restlosen gegenseitigen Ver-
stehen gehindert werden. Vielleicht beeinträchtigt diese Häufung der Kon.
flikte, die freilich den Roman interessanter und abwechslungsreicher gestaltet.
10*
142 Kritiken. [14
ein wenig die Konzentration auf jene tiefste und ernsteste Frage, ob — selbst
unter günstigen Voraussetzungen .— für die Frau die Möglichkeit besteht, Liebe
und Persönlichkeitsentfaltung zu vereinigen, eine Frage, die für die Weiter-
und Höherentwicklung der Menschheit von unabschätzbarer Bedeutung sein
dürfte; sind es doch gerade die Erbanlagen dieser höchststehenden Frauen, die
eine solche verbürgen, besonders wenn sie sich mit denen eines ebenbürtigen
Pariners verbinden. Nun aber begehrt der schöpferisch veranlagte Mann in
der Regel durchaus nicht die ihm kongeniale, sondern weit eher die geistig
untergeordnete, dabei aber unbedingt anpassungsfähige Frau; denn er ist
keineswegs gewillt, die ihm unentbehrliche erotisch-altruistische Hingabe vor-
behaltlos zu erwidern, wie er es der gleichberechtigten geist: und seelen-
verwandten Gefährtin gegenüber schuldig wäre. So bleibt für diese, die das
Opfer ihrer selbst nicht bringen darf, nur der Verzicht auf Erfüllung ihrer
letzten Sehnsucht — bis sich der neuen Frauengattung auch ein neuer Männer-
typus angepasst hat, der es ihr weniger schwer macht, als der heutige, Geistiges
und Sinnliches, Beruf und Ehe, Persönlichkeit- und Weibsein in einem Menschen-
leben zu vereinigen. Der gewaltige Anreger des schönen tiefen Buches ist
Friedrich Nietzsche, der uns nicht nur die Sehnsucht nach den hohen
Menschen empfinden lehrte, sondern auch einen Umriss ihres Wesens bot.
Margarete Weinberg.
Ludwig Bechstein: Hexengeschichten. Herausgegeben von Gustav
Meyrink. 300 S. 8°. Nikola-Verlag, Wien, Berlin, Leipzig, München 1922.
„Bechsteins Märchen‘ sind vielen von uns eine sehr liebe Erinnerung. Vom
selben Bechstein sind „Hexengeschichten‘ zuletzt 18583 gedruckt worden.
Sechs solcher Geschichten hat hier G. Meyrink in nahezu unveränderter
Gesualt wieder abdrucken lassen: Teufelsbuhlschaft. Die Hexenkönigin. Das
Kornseil und die drei Hunde. Der kleine Gabelfahrer. In optima forma. Furia
infernalis. Die Geschichten sind zum Glück nicht bloss (wegen des scheusslichen
Bexenwahns) traurig, sondern auch lustig und zeigen die Kunst des berühmten
Märchen-Erzählers. K. Bruchmann.
L. v. Wiese: Nava: Eine Erzählung aus Ceylon. Verlag von Eugen
Diederichs, 1923.
Fin Büchlein, über welchem der ganze sinnenbetäubende Duft der tropischen
Landsehaft legt. Eine Erzählung, in welcher die ganze Sinnenfülle orien-
talischer Liebe aufrauscht. Und für den Soziologen und Sexualforscher eine
Gelegenheit, die Liebessitten von Morgenland und Abendland zu vergleichen,
das ungleich höhere Menschentum der morgenländischen Dirne zu bewundern
und zu schen, wie das Verhängnis des als Freiwild geborenen Rodiamädchens sich
vollzieht. Der Verf, bekannt als Mann der Wissenschaft, erweist sich hier als
Meister kunstvoller, farbenprächtiger, seelentiefer Erzählung.
Max Hirsch, Berlin.
>
Portigliotti: Die Familie Borgia. Verlag von Julius Hofmann, Stuttgart
1923.
Alexander H., Cesare Borgia, Lucrezia Borgia -- drei Namen, inhaltschwer
genug, um das gewaltigste Stück italienischer Kulturgeschichte und mensch-
lichen Sittenverfalles aufsteigen zu lassen. Das mut historischer Treue und aus-
wiebiger Quellenbenutzung geschriebene Buch bietet dem Sexualforscher, dem
Psychiater, dem Kriminalisten reiches Material. Max Hirsch, Berlin.
Sexualwissenschaftliches Beiheft
nebst Verhandlungsbericht der ärztlichen Gesellschaft für Sexual-
wissenschaft und Eugenetik in Berlin.
Für das sexualwissenschaftliche Beiheft können ausser den Vorträzen der Gesellschaft nur
kurze sexualwissenschaftliche Mitteilungen angenommen werden.
Verhandlungen
- der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Eugenetik in Berlin.
Sitzungen vom 29. April, 27. Mai, 24. Juni, 8. Dez. 1922
und 19. Jan. 1923.
1. Herr G. Loewenstein: Zum Andenken an Alfred Blaschko (siehe
dieses Archiv, Bd. VIII, S. 255):
2. Herr J. Schuster: Iwan Blochs Bedeutung für die Sexnalwissen-
schaft (siehe dieses Archiv Bd. VIII, S. 260):
8. Herr E. Barth: Geschlecht und Stimme.
Eine Stimme erscheint zuerst bei den Insekten, sie ist auf das männliche
Geschlecht beschränkt und dient ausschliesslich der Anlockung des weiblichen
Geschlechts. Erst bei den Vögeln dient sie auch dem Ausdruck aller anderen
Affekte, obgleich sie auch hier, besonders bei den Singvögeln, zum wesentlichen
Teile der geschlechtlichen Erregung Ausdruck gibt.
Auch beim Menschen bestehen deutliche Beziehungen zwischen Geschlechts-
und Stimmapparat: Mutation, Veränderung der Stimme im Klimakterium, Ver-
änderung der Stimme durch Kastration, bei Hermaphroditismus.
In extenso abgedruckt in der Zeitschrift für Hals-, Nasen- und Ohrenheil-
kunde, II. Bd. 1922.
Aussprache Herr Weil: Bernstein und Schläper haben an mehreren
tausend Personen Untersuchungen über die Stimmhöhe angestellt und in den
Sitzung»berichten der Preussischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht.
Sie fanden bei Männern 82,3%. Bässe und 17,7°;o Tenöre, bei Frauen 83,5 °/o
Sopran- und 16,5%0 Altstimmen. Wenn man als männliche Norm den Bass,
als weibliche den Sopran aufstellt, dann sind Tenor und Alt Übergänge zwischen
diesen beiden Sexualcharakteren, und die erstaunlich gute Übereinstimmung der
Zahlen für die beiden Varianten bei den beiden Geschlechtern weist auf eine
ganz bestimmte Gesetzmässigkeit in den Geschlechtsübergängen hin. — Ich fand Ab-
weichungen in der Stimmlage — Bariton bei Frauen, Alt und Sopran bei männ-
lichen Individuen — nie isoliert vor, immer waren sie mit anderen gynandrischen
oder androgynen Merkmalen verbunden.
Herr Koerber: Die biologi: ch-physiologischen Mitteilungen des Redners
lassen sich auch vom Psychologischen her in mannigfacher Weise ergänzen, da
die Psyche ja die Brücke von einem Organsystem zu einem andern bilden kann.
Diesbezügliche Beobachtungen beim Gesunden sind neben vielen andern: Die
Schiecklähmung der Sprache durch einen starken erotischen Affekt, die Flüster-
stimme des Fiebernden bei steigender Sexualerregung, das Stottern bei der
Liebeswerbung. Sexualpathologische Sprachstörungen: Ein in der Kindheit schon
beginnendes Stottern, das meist auf Onanie oder einen sonstigen Sexualkomplex
zurückzuführen ist. Der periodisch auftretende Stimmverlust der Hysterischen,
der als Konversionssymptom der Sexualität (Verdrängung, Selbstbestrafung oder
Kastrationssymbol) anzugehen ist.
144 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [2
4. Herr Stabel: Kurze Demonstration japanischer Bettbücher.
5. Herr J. Schuster: Zur Ätiologie der Algolagnie. (Erschienen
als Nr. 5 der Monographien zur Frauenkunde und Eugenetik).
6. Herr Fritz Levy: Referat über Lundborg: Menschliche Bastard-
typen.
7. Herr Kronfeld: Die Bedeutung der Untersuchungen von Ernst
Kretschmer über Körperbau und Charakter für die Sexualwissenschaft.
Referent gibt eine Übersicht über die wesentlichen Feststellungen der Literatur,
die einen formativen Einfluss der Keimdrüsen auf die körperliche Konfiguration
dartun. Besonders berichtet er über die Typenbildung von Sigaud, Chaillou
und Auliffe!), sowie über die Untersuchungen von Kretschmer. Er stellt
die von Kretschmer?) behaupteten Beziehungen zwischen endoglandulärer
Formel und Körperbau einerseits, T'emperamentsgrundlagen andererseits aus-
führlich dar. Auch gibt er die psychologischen und konstitutionellen Beziehungen
zwischen Temperament und Psychosexualität bei Kretschmer wieder. Er zeigt
die Bedeutsamkeit dieser Forschungen im Hinblick auf die Klärung des Problems
der sexuellen Konstitutionstypen.
Aussprache: Herr Max Hirsch hebt die Bedeutung der Untersuchungen
von Ernst Kretschmer und der Weiterführung seiner Gedanken durch den
Vortragenden Herrn Kronfeld hervor. Sie seien der gegenwärtige Gipfelpunkt
einer Entwicklung, welche die medizinische Wissenschaft in den letzten Jabr-
zehnten genommen habe. Diese sei gekennzeichnet im Anfang durch die Organ-
pathologie, später durch die bakteriologische Ära, welcher sodann über die bio-
logische Betrachtungsweise die Konstitutionspathologie und Konstitutionsphysiologie
gefolgt sei. Das Primat der Konstitution im endokrinen Sinne sei von grosser
Bedeutung für die ärztliche Berufstätigkeit. Es mache dem reinen Organspezia-
listentum ein Ende. Von besonderer Bedeutung sei dieser Vorgang für die
Frauenheilkunde. Man könne sagen, dass zwei Drittel der Klagen, welche in
der frauenärztlichen Sprechstunde vorgebracht würden, nicht organisch, sondern
konstitutionell bedingt seien. Demgemäss dürfe die Behandlung auch keine
lokale, sondern sie müsse eine allgemeine sein und sich gegen die konstitutiven
Mängel und gegen die psychogenen und neurogenen Faktoren richten. Es sei
dringend erwünscht, dass die Konstitutionslehre zur Grundlage ärztlichen Denkens
in Praxis und Unterricht würde. Darin liege die praktische Bedeutung der
Forschungen von. Kretschmer.
Was die Genitalfunktion bei Asthenischen und Eunuchoiden, nach welcher
Herr Weil gefragt habe, betreffe, so stellen diese Frauentypen den grössten
Prozentsatz der amenorrhoeischen, oligomenorrhoeischen und dysmenorrhoeischen
Frauen dar. Diese Typen menstruieren meist sehr spät, oft erst im 18. Lebens-
jahr und später. Nach der ersten Menstruation trete eine längere, oft mehr-
jährige Pause ein, bevor die Menstruation sich periodisch wiederhole. Der
Genitalbefund bei diesen Individuen sei der der ausgesprochenen Hypoplasie:
enge, kurze und straffe Scheide, flache Scheidengewölbe, kleiner harter entweder
spitzwinklig anteflektierter oder retrovertierter Uterus, lange dünne geschlängelte
Eileiter und kleine, atrophische, bisweilen auch zystisch degenerierte Eierstöcke.
Die Asthenischen und Eunuchoiden sind grösstenteils steril. Die wenigen,
welche konzipieren, abortieren leicht. Das sei aus eugenetischen Gründen gut,
denn die Kinder, welche geboren werden, tragen das Erbe der Mütter.
8. Herr Weil: Die biologische Prüfung von Keimdrüsenextrakten.
Die wirksamen Prinzipien der Hodenextrakte sind der Qualität nach noch
8o gut wie unbekannt. Es ist sogar durchaus noch fraglich, ob sie Hormon-
) Morphologie medicale.
®) Körperbau und Charakter.
3] Sexualwissenschaftliches Beiheft. 145
eigenschaft im Sinne der Eiweissfreiheit aufweisen. Ebenso ist fraglich, ob sie
durch die Extraktionsverfahren, die bei den käuflichen Hodenextrakten an-
gewandt werden, in diese übergehen und haltbar bleiben. Referent hat eine Art
pharmakodynamischer Prüfung der Hodenextrakte versucht, und zwar durch
Aufnahme von Dyuamometerkurven. Die Verseuchsperson wusste nicht, ob sie
mit einem Extrakt oder mit einer unwirksamen isotonischen Kochsalzlösung
subkutan gespritzt wurde. Es zeigte sich, dass frische wässrige Extraktionen
die Leistung hoben; die Wirksamkeit derselben erlosch nach vier bis sechs Wochen.
Käufliche Extrakte erzielten im allgemeinen keinen merklichen Einfluss; eine
gewisse Ausnahme scheinen nur die nach Abderhralden hergestellten Extrakte
von Merck zu bilden. Über den Abschluss der Versuche wird noch ausführlich
berichtet werden.
9. Herr Max Hirsch: Mitteilungen aus einem Schwurgerichtsver-
fahren gegen einen Arzt wegen Fruchtabtreibung und fahrlässiger
Tötung.
Herr Max Hirsch, welcher in diesem Verfahren als Sachverständiger tätig
war, hebt einige allgemeine Gesichtspunkte hervor, welche forensisch wichtig sind.
1. Ist der Arzt verpflichtet, Aufzeichnungen über seine Fälle zu machen?
Der Staatsanwalt hat aus der Tatsache, dass bei dem angeklagten Arzt Auf-
zeichnungen nicht gefunden wurden, den Schluss gezogen, dass der Angeklagte
diese vernichtet habe, um die Spuren seiner Eingriffe zu verdecken.
2. Der Vortragende bespricht die Bedeutung der inneren gynäkologischen
Untersuchung für Schwangerschaft. Der Staatsanwalt hat in der Tatsache, dass
der Angeklagte innerlich untersucht habe, obwohl er Grund haben musste, eine
Schwangerschaft anzunehmen, einen Kunstfehler zu sehen geglaubt und ange-
nommen, dass die innere Untersuchung eine fruchtabtreiberische Absicht verrate.
Der Vortragende betont, dass die innere Untersuchung bei Verdacht auf Sehwanger.
schaft nicht nur kein Kunstfehler, sondern eine ordnungsmässige ärztliche
Handlung sei. Schonend ausgeführt, sei sie nicht geeignet, Abort herbeizuführen.
Alle Frauen mit Klagen im Bereich der Unterleibsorgane müssten innerlich
untersucht werden. Dies sei besonders bedeutungsvoll für die frühzeitige Er-
kennung des Unterleibskrebses.
3. In der Anklageschrift ist mehrfach hervorgehoben, dass bei der Unter-
suchung harte Gegenstände eingeführt worden seien, und dass die Scheide mit
Scheren aufgesperrt worden sei, wobei die Frauen angeblich heftige Schmerzen
empfunden hätten. Bei der Verhandlung stellte sich heraus, dass Röhren- und
Sperrspekula eingeführt worden sind, und dass die Portio mit Weattetupfern
ausgewischt worden ist. Niemals ist unmittelbar danach eine Blutung erfolgt.
4. Der Staatsanwalt und ein nichtgynäkologischer ärztlicher Sachverständiger
behaupteten, dass die Einlage von Glyzerintampons geeignet sei, Wehen zu erregen.
Diese Behauptung wurde von den drei gynäkologischen Sachverständigen als
irrig zurückgewiesen. Es gibt überhaupt kein Medikament, welches, vor den
Muttermund bei ungestörter Schwangerschaft gelegt, Fehlgeburt herbeiführen kann.
5. Bedeutungsvoll war ferner die Frage der Kindsbewegungen. Mehrere
Frauen, welche im 4. und 5. Monat schwanger waren, haben dem Untersuchungs-
richter bestimmte Angaben über ihre Kindsbewegungen gemacht. Die Weahr-
nehmung der Kindsbewegung aber in diesem frühen Stadium der Schwangerschaft
ist teils unmöglich, teils unwahrscheinlich. In der Verhandlung haben die Frauen
das widerrufen und gesagt, der Untersuchungsrichter habe das in sie hineingefragt.
6. Mit Bezug hierauf bot der Prozess sehr wichtige Einblicke in das Wesen
der Voruntersuchung und in die Psychologie der Zeugenaussage und erinnert
lebhaft an das Schauspiel von Brieux „Die rote Robe“.
7. Die wichtigsten Belastungszeugen waren ein paar Schwestern des Kranken-
hauses, deren Auftreten allgemein einen überaus ungünstigen Eindruck machte.
146 Sexualwissenschaftliches Beiheft. 4]
Sie stellten Diagnosen auf Eihautreste, ohne die blasseste Ahnung davon zu
haben. Ihre Angaben über die Länge angeblich gesehener Früchte schwankten
zwischen 5 und 20 cm. Sie behaupteten, dass Ausschabungen vorgenommen
worden seien, ohne auf Fragen des Sachverständigen zu wissen, welcher In-
strumente es hierzu bedarf. Sie verfuhren im übrigen selbständig, berichtigten
die ärztlichen Anordnungen und Diagnosen. Alle Sachverständigen bezeichneten
ein solches Verfabren als unzulässig und in ihrem Wirkungskreis als unerträglich
und unmöglich.
8. In rein menschlicher Beziehung bot der Prozess erschütternde Bilder.
Ein ganzer Rattenkönig von Prozessen war ihm vorausgegangen. Es wurden
Frauen bestraft, deren Vergehen Jahre zurücklagen, und welche ınzwischen brave
Frauen und Mütter geworden waren. Zur Zeit der Eheschliessung wussten die
Ehemänner nichts von diesem dunklen Punkt im Vorleben ihrer Frauen und
erfuhren es so zu ihrem und der Familie Unglück. Es trat eine Besitzerstochter
auf, welche von ihren Eltern verstossen war und als Dienstmagd ihr Leben fristete.
Ihre Schwangerschaft rührte von dem ersten und einmaligen Beischlaf her. Sie
wusste nicht, was Scheide ist, sie kannte nicht den Irrigator und war auch
sonst in diesen Dingen völlig unerfahren.
9. Angesichts dieser zerstörenden Wirkungen eines solchen Prozesses auf
bürgerliche Existenz, auf Ehe und Familie steigt wohl die Frage auf, ob der
beabsichtigte Erfolg diesen Einsatz und Aufwand wert ist. Der Angeklagte,
welcher über ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen hat, wurde freigesprochen.
Das Problem der Fruchtabtreibung in seiner juristischen, volkshygienischen, be-
völkerungspolitischen und ethischen Hinsicht ist überaus kompliziert. Das Straf-
gesetz ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss.
10. Herren Thomalla und Kronfeld:;: Filmdokumente zur Sexual-
wissenschaft. (Erstmalige Vorführung).
Herr Max Hirsch als Vorsitzender bittet die Diskussion durch drei Fragen
zu begrenzen: 1. Gibt der Film die wissenschaftlichen Erkenntnisse und prak-
tischen Erfahrungen richtig und in gelungener Form wieder? 2. lst er zu Lehr-
zwecken im Universitätsunterricht zu verwenden? 3. Eignet sich der Film zur
Verwendung im Volkshochschulunterricht und zur Volksbelehrung?
Aussprache: Herr Bornstein (Berlin): Wer selbst wiederholt in der
Lage war, Begleitvorträge zu Lehrfilmen zu halten, weiss, dass es bei diesen
Aufklärungen sehr darauf ankommt, wer vor der weissen Wand steht. Der
Redner muss nicht nur den Stoff beherrschen; wichtiger ist, dass er sich jedem
Hörerkreis anpassen und das für diesen Wichtigste aus dem Wandelbild heraus-
holen kann. Ich habe stets Kritik des Films und des Vortrages verlangt. —
Hätte ich die Ufa veranlasst, jede Filmkritik zu beherzigen und immer das
herauszuschneiden, was dem einen oder dem andern nicht gefällt oder zuviel er-
scheint, es wäre nichts von dem Film übrig geblieben. Die Frage muss stets
lauten: Ist der Film als Ganzes als Unterlage zu einem Aufklärungsvortrage
zu verwenden? -- Bei dem heute gezeigten ist diese Frage zu bejahen. Das
Volk ist intelligent genug, um bei richtiger Erklärung den heiklen Dingen
Verständnis entgegenzubringen, es will aufgeklärt sein. Sorgen wir dafür, dass
diese Aufklärung nicht von unberufener Seite geschieht. —
Herr Heller: Der wissenschaftliche Wert des Films ist hoch einzuschätzen,
die Vorführung in weiteren Kreisen ist ohne völlige Umarbeitung nicht zu
empfehlen. Es wird nicht darauf hingewiesen, dass es sich um eine glücklicher-
weise seltene Degenerationserscheinung handelt. Die Importzigarren rauchenden,
Schnaps trinkenden Frauen, die kokettierenden und einige für das Weib im besten
Sinne des Wortes nicht einmal charakteristischen Äusserlichkeiten kopierenden
Männer sind keine erheiternden Filmkomödianten, sondern Unglückliche, denen
das Schicksal das Vollmenschentum versagt hat. Es muss mit eindringlichem
5] Sexualwissenschaftliches Beiheft. 147
Ernst auf diese Tatsache hingewiesen werden, zumal da die Möglichkeit der
psychischen Kontagion in unserer so viele Degenerationserscheinungen zeigenden
Zeit in Betracht gezogen werden muss. Wenn auch die Wissenschaft auf dem
Standpunkt steht, dass für viele Individuen die Richtung der Geschlechtlichkeit
durch die körperliche und seelische Konstitution bestimmt ist, so darf nicht ver-
gessen werden, dass bei einer grösseren Zahl die Verhältnisse in einem labilen
Gleichgewicht sich befinden. Hier kann eine Vorführung, die es unterlässt, auf
den tiefen Ernst der Frage hinzuweisen, in den Kreisen Unberufener direkt Schaden
stiften. Die ärztliche Gesellschaft für Sexual wissenschaft darf an diesen Tat-
sachen nicht vorübergehen.
Herr P. Friedländer: Beide Filme, sowohl der Steinachfilm wie der
andere Film eignen sich vorzüglich zur Belehrung für die Studierenden. Für
Nichtstudierte, für die Volkshochschule empfiehlt sich die Vorführuug besonders
des ersteren, das konträrsexuelle Empfinden betonenden Films nicht; der Film
$ 175 von Magnus Hirsch fena hat seiner Zeit weder belehrt, noch grosses
Interesse erwirkt.
Herr A. Guttmann: Darüber, dass dieser Film für wisseuschaftliche und
Lehrzwecke ausgezeichnet geeignet ist, kann kein Zweifel sein. Als Vorstands-
mitglied der Volkshochschule Gross-Berlin möchte ich, Gast dieser Gesellschaft,
auch dies sagen: Der Film ist auch für Volksbildungszwecke, vor allem Volks-
hochschulen, geeignet, falls ein fachmännischer Vortrag ihn einleitet und be-
gleitet und falls ferner einige, nur für biologisch Geschulte verständliche, für
Laien aber irreführende Stellen gestrichen, anderes — vor allem soziologisch
Wichtiges — eingefügt wird.
Herr A. Wittkovaki: Die Fragen des Herrn Vorsitzenden, ob die vor-
geführten Filme sich zu Lehrzwecken eignen und in diesem Sinne an den Uni-
versitäten vor Studierenden zu verwenden seien, sind unbedingt zu bejahen.
Dagegen möchte ich die letzte Frage über die Verwendung an Volkshochschulen -
vor einem Laienpublikum ebenso wie Herr Professor Heller ablehnend beant-
worten, da bei einem derartigen Hörerkreis nicht die jedem Verständnis nötigen
Voraussetzungen vorliegen und auch kaum durch einen begleitenden Vortrag
geschaffen werden können.
Auf die Erwiderung des Herrn Kronfeld bemerke ich, dass für mich
jedwede Beurteilung der Leistungen der Ufa bei diesen Filmen ausserhalb jeder
Betrachtung steht und ich mit meinen Ausführungen nur eine Beantwortung der
vom Vorsitzenden an die Versammlung gerichteien Fragen bezweckte. Im
übrigen fasse ich meine Ansicht noch einmal zusammen: die beiden ersten
Fragen sind unbedingt zu bejahen, die letzte, die Verwendung des Films im
Hochschulkurs, ist abzulehnen.
Herr Thomalla (Schlusswort) dankt für die empfangenen Anregungen.
Er bat, zwischen den gezeigten Filmen insofern zu unterscheiden, als der erste
mit Vortrag eines Fachwissenschaftlers nur in Volkshochschulen und vor speziell
Interessierten gezeigt werden solle. Zudem sei er noch nicht abgeschlossen.
Dem jedesmal Vortragenden sei es unbenommen, seinen Vortrag einzurichten,
wie er wolle, eventuell auch ungeeignet erscheinende Stücke fortzulassen. Die
weiterhin gezeigten beiden Teile III und IV des sogenannten „Steinach-Films“
seien dagegen fertig abgeschlossen und würden ohne Vortrag im Kinotheater
als belehrender Abendprogrammfilm laufen. — Thomalla berichtete von den
ungebeuren Schwierigkeiten und Kosten der Lehrfilmberstellung, die es zur
zwingenden Notwendigkeit macht, an die breiten Volksmassen im Kino heran-
zukommen, um so die Mittel zu weiterer kulturell wichtiger Arbeit zu gewinnen.
Das unter seiner Leitung stehende medizinische Filmarchiv habe wichtige
hygienische Lehrfilme wie „Geschlechtskrankheiten“, „Säuglings- und Krüppelpflege*,
‚„Pockenbekämpfung“ usw. hergestellt und noch ein reiches Arbeitsfeld vor sich.
148 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [6
Stete sei an die Fılmindustrie der Ruf ergangen, zur Bekämpfung von Kino-
Schund und Schund-Kino mit wissenschaftlichen und belehrenden Filmen an das
Publikum heranzutreten. Jedesmal aber, wenn ein neuer Lehrfilm herauskommt,
würde in oft nicht freundlicher, manchmal geradezu gehässiger Kritik dagegen
von bestimmten Seiten Stellung genommen, obwohl alle bisherigen Aıbeiten an
medizinischen Filmen nur unter allerschwersten, in die Millionen gehenden Opfern
der herstellenden Firma möglich waren. Besonders die ältere Generation müsse
endlich das baltlose Vorurteil gegen alles, was vom Film kommt, fallen lassen.
Es gehöre natürlich ein gewisser Mut der Verantwortung dazu, so völlig Neu-
artiges zu wagen, wie biologische oder sonstige Belehrung durch das Kino-
Theater den Laien zu vermitteln. Aber man müsse doch dem modernen, sicher
wirkungsvollsten und anschaulichsten Publikationsmittel, dem Film, dieselben
Rechte einräumen, wie dem gesprochenen oder gedruckten Wort mit oder obne
Illustration. Und vor allem solle und müsse man auch mehr Zutrauen zu der
Reife und dem Bildungswillen des grossen Publikums haben.
11. Herr Krische: Zur Soziologie des Geschlechtslebens gelangt im
nächsten Heft zum Abdruck.
Aussprache: Herr Koerber: Die soziologischen Einflüsse auf das
triebhafte Geschlechtsleben scheinen mir vom Redner überschätzt zu werden.
Was namentlich die Frigidität der Frau anbetrifft, so dürften alle Er-
wartungen einer Aufbesserung durch gesellschaftliche oder familiäre Einrich-
tungen einschliesslich der Ehereform sich als trügerisch erweisen; und auch die
zur Argumentierung herangezogenen Ausführungen der Dr. M. von Kemnitz
(Erotische Wiedergeburt) dürften durch die biologisch zu nennende Tatsache hın-
lällig werden, dass nämlich die Frigidität der Frau ein schicksalsmässiger Zu-
stand resp. eine Hemmung der psychosexuellen Entwicklung ist, die bestenfalls
nur «durch eine psychotherapeutische Behandlung, am besten eine psycho-
analytische, Aussicht hat, behoben zu werden.
Herr Hirschfeld vertritt den Standpunkt, «dass das rein biologische im
Liebesleben im wesentlichen von dem soziologischen unabhängig ist. Das indi-
vidualistisch-biologische ist sieh in allen Zeiten gleich geblieben, die sozio-
logischen Hemmungserscheinungen haben aber nie und nirgends bisher das
sextnlbiologtsche Problem zu lösen verstanden, und zwar heute weniger denn je.
Herr Streiber bemängelt, dass Referent idie Begriffe „biologisch‘
und „psychologisch gewissermassen in Antithese bringt. Abgesehen davon,
dass die Psyche selbstverständlich eine biologische Teilfunktion darstellt, so
ist, auch wenn der Herr Referent biologisch-körperlicher Typus setzt, die Psyche
ın funktionellem Zusammenhang mit dem "Typus zu betrachten. Bei einer
starken sexnellen Anziehung zwischen zwei Körpertypen können die seelischen
Qualitäten der betreffenden Individuen keineswegs ganz ausser acht gelassen
werden. Herr Streiber erinnert an die körperlichen Stigmata der Psycho-
pathen in Verbindung mit ihrer unabänderlichen psychischen Reaktionsweise
auf äussere Anlässe. (Hier sind der Psvehoanalyse ihre Grenzen gesetzt Im
übrigen wird auf das Buch von Kretschmer: „Körperbau und Charakter“
verwiesen.
Herr Krische weist Im Schlusswort darauf hin, dass Müller-Lyers
Siufensystem natürlich wie jeder Schemitismus künstliche Caesuren treffe,
während die tatsächliche Entwicklung in der (Gesellschaft wie in der Natur überall
in Übergängen erfolge. Obwohl unpsychologisch und darum gewiss flach und
heute bereits überholt, habe Müller-Lyer doch das Verdienst, eine besonders
klare und übersichtliche Systematik der soziologischen Phasen geschaffen zu
haben. Wenn im Sexuellen eine Entwicklung, Verfeinerung abgelehnt werde,
bedeute dies ein Bekenntnis zu etwas Absolutem, das sich jeder Wechsel-
wirkung entziche. Biologisch, psychologisch und sozivlogisch sowohl, wie er-
7) Sexualwissenschaftliches Beiheft. 149
kenntniskritisch und vom positivistisch-philosophischen Standpunkt lehne man
einmütig und grundsätzlich jedes Absolute ab, das nur in. metaphysischen
Spekulationen oder in Forderungen, ‘welche nicht die Logik sondern eine ver-
meintliche Lebenspraxis stelle (Philosophie Als-Ob) Platz finde. Die finale oder
ideologische Einstellung habe er ausdrücklich abgelehnt. Die Feststellung einer
Steigerung des Bewusstseinsinhalts im Verlaufe des menschlichen Werde-
ganges werde aber sowohl biologisch (Gehirnforschung) wie psychologisch
(Psychoanalyse), wie soziologisch vertreten und gehöre wohl somit zu den
besonders stark fundierten wissenschaftlichen Ergebnissen von Allgemeinwert,
die um so wertvoller sind, je mehr die exakte Wissenschaft sich in Tausende von
Verästellungen von Spezialforschungen verliert und den nach dem Lebenssinn
verlangenden Menschen schliesslich nichts mehr zu sagen weiss.
So sehr sich auch die Wissenschaftler der Individualforschung gegen sozio-
logische Einsichten sträuben mögen, der Mensch sei mun einmal nicht ein isoliertes
Individuum sondern ein geselliges Wesen, und wenn erst einmal die Soziologie
so alt wäre wie die Medizin, würde sich erweisen, dass sie ihr im Dienste
der Wahrheitsermittelung und der Förderung menschlicher Kultur nicht nachstehe.
Sitzungen vom 15. und 16. März 1923.
Thema: Sexualität und Konstitution.
Herr Max Hirsch, Berlin: (Eröffnungsrede): Sexualwissenschaft
und Konstitutionswissenschaft (siehe dieses Archiv Bd. IX, S. 75):
Herr Fr. Kraus, Berlin: Geschichte und Wesen des Konstitutions-
problems (siehe dieses Archiv Bd. IX, S. 81):
Herr Hartmann, Dahlem: Die biologischen Grundlagen der Sexual-
konstitution.
Ausgehend von den Mendelschen Erbregeln erklärt Ref. eingehend an
Hand von Lichibildern den Befruchtungs- und Vererbungsprozess sowie den Erb-
gang einiger geschlechtsgebundener Erbanlagen. Die Entstehung der Geschlechter
ist bedingt durch Bestehen zweier Arten von Samenzellen, aber nur einer Art
von Eizellen. Für die Geschlechtsbildung ist der Gehalt an x-Chromosomen
massgebend. Ein Ei, das von einem nur 1x-Chromosom enthaltenden Spermium
befruchtet wird, wird männlich, während 2x-Chremosomen im Spermium bei der
Befruchtung ein weibliches Individuum bedingen. Hierin liegen die Zusammen-
hänge mit der geschlechtsgebundenen Vererbung. Während der x-Chromosomen-
Mechanismus als Geschlechtsdifferentiator wirkt, übertragen die gelegentlich
vorkommenden y-Chromosomen keine geschlechtsbestimnienden ‚Eigenschaften.
Jede Art Chromosomen ist als Erbträger für bestimmte Gene anzusehen.
Ref. erklärt sodann den Mechanismus und die physiologischen Bedingungen bei
der Fnistehung der Zygotischen Intersexe. In jeder Keimlage sind die Po-
tenzen für beide Geschlechter vorhanden, vielleicht ist sogar jede Zelle bisexuell.
Die Geschlechtsdrüsen sind bei intersexuellen Typen verändert, und zwar erfolgt
der Umschlag von der normalen Differenzierung zur intersexuellen Variante
stets auf einer bestimmten Entwicklungsstufe, die für die Abweichung bestimmend
wird. Die Intersexe bei Kreuzung gewisser geschlechtlich ungleichwertiger
Rassen, sind berechenbar. Zum Schluss bespricht Ref. die hormonale Inter-
sexualität, die bei Wirbeltieren durch Transplatation experimentell zu erzeugen
ist, während dahingehende Versuche ‘bei Insekten negativ verlaufen sind. Ref.
zeigt Lichtbilder abnorm (Intersexuell) ‘differenzierter Geschlechtszellen und
ihrer Entstehung.
Herr Kretschmer, Tübingen: Über die psychologischen Grund-
lagen der Sexualkonstitution.
Die konstitutionellen Triebanlagen wirken in die höheren seelischen Struk-
turen aus. Solche Anastomosenbildung verschiedener Triebgebiete kommen
150 Sexualwissenschaftliches Beibeft.
vorzüglich beim Sexualtrieb und seinen Varianten vor. Bei Konstitutionsanomalien
des Geschlechtstriebes sind solche Triebirradiationen häufig, z. B: bei Sadismus
und Masochismus und den Umsetzungen der Sexualerregung bei den Zwangs-
neurosen. Die Entstehungsmöglichkeit der Triebvariation steigert sich bei höherer
Assoziationsfähigkeit direkt proporlional, was in ‚der Tierreihe nachgewiesen
werden kann. An grossem Tatsacher:mäaterial zeigt Ref. lie energetischen Verwand-
lungen des Sexualtriebes als durch konstitutionelle Zustandsänderungen der
persönlichen Affektivität bedingt. Ref. geht auf die Sexualität der Zyklothymiker
und Schizothymiker ein und bespricht die Verwandlungen des primitiven Triebes
in hochwertige energetische Korrelate religiöser, ethischer und künstlerischer
Art. Zum Schluss gibt Ref. eine Übersicht über die Häufigkeit der verschiedenen
Reaktionstypen bei Sexopathen, speziell der Homosexuellen.
Herr Hübner, Bonn: Sexualkonstitution und Rechtsleben.
Redner bespricht die forensische Bewertung der sexuellen Konstitution.
Auf alle Gebiete der Jurisdiktion erstreckt sich der Einfluss sexueller Motive,
selbst in scheinbar unverdächtige Gebiete wie Disziplinar- und Versicherungsrecht
(Florschütz'. Sie entspringen meistens aus drei Wurzeln: ‚er sexuellen
’rühreife, der Hörigkeit und der sexopathischen Konstitution. Ref. zeigt an
Fällen, dass manchmal zweifelhaft ist, ob Freispruch wegen Unzurechnungs-
fähigkeit erfolgen muss, oder ob durch die pathologische Denkweise der Tal-
bestand des betreffenden Paragraphen nicht erfüllt wird. Ref. gibt interessante
Beispiele dieser Art bei Fällen von Freiheitsberaubung, Kleptomanie und Feu.
schismus. Ref, warnt vor der manchmal vorkommenden Vorspiegelung einer
sexopatbischen Veranlagung durch psychologisch geschulte Delinquenten.
(Vortrag wird im nächsten Heft ausführlich veröffentlicht.)
Herr Mathes, Innsbruck: Die Sexualkonstitution in der Gynä-
kologie (erscheint im Original in Bd. IX, S. 96 dieses Archivs).
Herr Posner, Berlin: Die Sexualkonstitution in der Andrologie
(erscheint im Original in Bd. IX, S. 103 dieses Archivs).
Herr Mühsam, Berlin: Die Sexunalkonstitution in der Chirurgie
(erscheint im Original im nächsten Heft dieses Archivs).
Herr Peritz, Berlin: Keimdrüsen und Zentralnervensystem (erscheint
im Original im nächsten Heft). |
Herr Hirschfeld, Berlin: Über Intersexualität beim Menschen.
Vortragender zeigt, dass die neneren biologischen und psychologischen
Forschungen sowie die Züchtungsexprrimene von Morgan, Goldschmidt
u a. seme seit 2 Jahren von ihm vertretene Meinung von den sexuellen
Zwischenstufen bestätigt haben. Ref. ging aus von der Homosexualität des
Mannes und des Weibes, deren konstitutionellen Charakter Ref. aus der
Typenähnliehkeit und der Konstanz der Triebrichtung bewies. Rei homosexuellen
rauen besteht ein viriler, bei homosexuellen Männern ein fem'niner Einschlag,
was sieh nach der körperlichen Seife als Gynandromorphie, nach der seeli-
schen im Drang nach adäuater Aussenprojektion äussert. Ref. fasst die
latente Anwesenheit der entzegengesetzten Geschlechtscharaktere in jedem ge-
schleehtiieh differenzierten Bion als allgemeine Erscheinung in den Satz
zusammen: der Mensch ist meht Mann oder Weib sondern Mann und Weib.
Der Riedlsehe Satz: propter functiones endocrinas vir et mulier sunt, quod
sunf, hat auch für die Intersexuahtät volle Gültigkeit. Zahlreiche Lichtbilder
ıllustrierten den Vortrag des Ref.
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Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen
und Nervensystem ').
Von
Professor Dr. G. Peritz, Berlin.
Drei Komponenten sind es, welche die sexuelle Funktion be-
dingen: die Geschlechtsfaktoren, die Hormone der Keimdrüsen und
der endogene Reaktionstypus des Nervensystems. Der Zusammen-
klang dieser drei Faktoren oder im Krausschen Sinne „das Syzi-
gium“ bedingt die sexuelle Persönlichkeit, schafft den gesamten sexu-
ellen Reaktionstypus, welcher seinerseits wiederum abhängig ist von
der Gesamtkonstitution und sie auch wieder beeinflusst. Von diesen
drei Faktoren sind die Geschlechtsfaktoren der Erbmasse zugehörig
als dauerhaft und wertbeständig anzusehen. Sie ändern sich während
des ganzen Lebens nicht. Der endogene Reaktionstypus des Nerven-
systems ist in gewissem Sinne beständig. Auch er ist festgelegt
durch die Erbmasse so wie ein Dynamo bestimmt ist durch die
Anzahl seiner Drahtwindungen und den Querschnitt des Drahtes.
Doch können auch exogene Einflüsse diesen Reaktionstypus ver-
ändern. Ich erinnere nur an das Myxödem. Die Hormone der Keim-
drüsen sind dem Wandel der Zeiten am stärksten ausgesetzt. In
der Jugend ist ihre Produktion sehr gering, im Alter fehlt sie voll-
kommen. Nur in der Zeit der Mannbarkeit werden sie in erheblichem
Masse produziert. Bei der Frau scheint es so zu sein, dass in den
Zeiten der Menstruation und der Gravidität die Eierstockhormone
an den Körper nicht abgegeben werden, da auch in dieser Zeit Be-
schwerden auftreten, die denen der Menopause entsprechen: vaso-
motorische Störungen, aufsteigende Hitze usw.
Nach den Untersuchungen Goldschmidts ist anzunehmen,
dass jede Zelle Geschlechtsfaktoren enthält. Wenn dies auch bis jetzt
1) Vortrag, gehalten in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Eugenetik in Berlin am 16. März 1923.
Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX. H.3. II
152 G Peritz. [2
vornehmlich aus den Erscheinungen der Intersexualität bei Schmetter-
lingen hervorgeht, so sprechen viele Tatsachen dafür, dass bei den
Wirbeltieren ähnliche Verhältnisse vorliegen. Die Erfahrung, die
wir bei der Zwittrigkeit des Gimpels, der Fasanen und anderer
Vögel gemacht haben, kann hier als Beweis gelten. Bei ihnen findet
sich auf der einen Seite des Körpers, die das Federkleid des Männ-
chens zeigt, ein Hoden, auf der anderen Seite, mit dem weiblichen
Aussehen, ein Ovarium. Nimmt man hier nur eine Einwirkung der
Hormone auf die indifferenten Zellen des übrigen Körpers an, so
ist es nicht klar, wie die ausgesprochene Halbseitigkeit entstanden
sein soll und erhalten wird. Nur wenn wir annehmen, dass jede
Zelle Geschlechtsfaktoren enthält, und zwar beide Formen, weib-
liche wie männliche, und ferner, dass auf der Seite des Hodens die
männlichen Geschlechtsfaktoren von stärkerer Valenz sind, auf der
Seite des Ovariums aber die weiblichen, so wird es verständlich,
warum streng halbseitig die Hormone der Keimdrüse der betreffenden
Seite zur Auswirkung kommen. Auch beim Menschen können wir die
Wirkung der Geschlechtsfaktoren beobachten. Beim Hirsutismus ent-
wickeln sich unter dem Einfluss eines Nebennierenrindentumors die
sekundären Geschlechtscharaktere des Mannes, während die des
Weibes schwinden. Man hat geglaubt, dass in der Nebennierenrinde
männliche Geschlechtszellen vorhanden sind, die in ihrer Über-
funktion die Hormone der weiblichen Keimdrüse unterdrücken. Doch
scheint der Sachverhalt der zu sein, dass nur ein funktionales
Verhältnis zwischen Nebenniere und Keimdrüse besteht, dass bei der
veränderten Funktion der Nebennierenrinde die Keimdrüsenfunktion
sistiert und dadurch die weiblichen sekundären sexualen Geschlechts-
charaktere schwinden. Durch das Ausserfunktionssetzen der weib-
lichen Geschlechtsfaktoren treten die männlichen Geschlechtsfaktoren
in Funktion und es entwickeln sich die männlichen sekundären
Geschlechtscharaktere, da ja beide Geschlechtsfaktoren in allen Zellen
vorhanden sind. Poll unterscheidet daher zwischen sekundären
Geschlechtscharakteren, die abhängig von der Keimdrüse sind, und
solchen, die unabhängig sind. Die letzteren entwickeln sich stets,
sobald die Keimdrüsenfunktion sistiertt. Beim Menschen sind dies
die männlichen, das beweist die Bartbildung bei der alternden Frau,
das Tiefwerden der Stimme bei ihr und überhaupt, dass ihr ganzes
Wesen männlicher und entschiedener wird nach Eintritt der Meno-
pause.
Während wir beim Hirsutismus die Bedeutung der Geschlechts-
faktoren im Nervensystem nicht feststellen können, lässt sie sich
hei dem Pgseudohermaphroditismus schr gut beobachten. Auf Grund
See — — 5 =
— Äech
3] Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen und Nervensystem. 153
der Goldsehmidtschen Untersuchungen über die Intersexualität
ist man berechtigt, dem Pseudohermaphroditismus als eine Erschei-
nung der Intersexualität anzusehen. Es handelt sich dabei um stärkere
Formen der Intersexualität, bei denen äusserlich schon das Bild des
entgegengesetzten Geschlechtes erreicht ist. So finden wir dann
beim menschlichen Pseudohermaphroditismus, dass die äussere Form
sowohl des Körpers als auch der Genitalien und endlich’ das psy-
chische Verhalten als die stärkeren intersexuellen Merkmale anzu-
sehen sind, während die inneren Genitalien die Überreste des eigent-
lichen Geschlechtes darstellen, die sehr häufig degeneriert oder auf
niedrigster kindlicher Stufe stehen geblieben sind. Wir sehen also
hier, dass das psychische Verhalten nicht den vorhandenen Keim-
drüsen entspricht, welche ja auch infolge ihrer Degeneration kaum
Hormone liefern können. Nach den Goldschmidtschen Vor-
stellungen müssen wir annehmen, dass hier Geschlechtsfaktoren hoher
Valenz des anderen Geschlechtes vorhanden sind, welche auch das
psychische Verhalten bestimmen. Daraus geht aber auch hervor, dass
in gewissem Sinne die Geschlechtsfaktoren selbständige Wirkungen
hervorrufen können ohne Aktivierung durch die Hormone. Einen
ähnlichen Vorgang beobachten wir auch beim Wachstum. Nach
Hertwig kommt der Zelle auch ein endogener Wachstumsfaktor
zu. Die Folge davon ist, dass selbst da, wo die Hypophyse fehlt,
das Wachstum bis zu einer bestimmten Grösse ohne das Hypo-
physensekret vor sich gehen kann.
Die Homosexualität ist von Goldschmidt, Pollund Wolff
als eine Form der Intersexualität angesprochen worden. Natürlich
handelt es sich nur um diejenigen Fälle, die in ihrer äusseren
Form schon dokumentieren, dass ihre Homosexualität echt ist. Hier
tritt die Diskrepanz zwischen hormonaler Einwirkung und Ge-
schlechtsfaktor besonders scharf hervor, so dass Steinach in den
Hoden der männlichen Homosexuellen bestimmte weibliche Zellen,
seine sog. F-Zellen, gefunden haben wollte. Doch nach den Unter-
suchungen von Benda, Stieve u. a. sind diese F-Zellen nichts
anderes, als grosse Leydigsche Zellen. Auch hier wird man an-
nehmen ınüssen, dass in den Körperzellen und auch in den Zellen
des Nervensystems die Geschlechtsfaktoren des anderen Geschlechtes
von stärkerer Valenz sind, als die Geschlechtsfaktoren, die dem
äusseren Geschlecht entsprechen. Stimmen die Messungen von Weil
an Homosexuellen, so ergibt sich daraus, dass bei diesen Menschen
die unteren Extremitäten, ebenso wie bei den Eunuchoiden, be-
sonders lang sind. So könnte man auf eine Minderwertigkeit der
Keimdrüsen schliessen, wie wir sie ja beim Status thymico-Iym-
11*
154 G. Peritz. [4
phaticus so häufig antreffen. Diese Minderwertigkeit der Hormon-
produktion würde den stärkeren Einfluss der entgegengesetzten Ge-
schlechtsfaktoren begünstigen. Hier haben wir also ein ganz be-
stimmtes Konstitutionsproblem vor uns, das bedingt wird auf der
Grundlage der Intersexualität durch die Minderwertigkeit der Keim-
drüsen und durch die stärkere Valenz der Geschlechtsfaktoren im
Nervensystem. Daraus resultiert dann eine ganz bestimmte sexuelle
Persönlichkeit, die des echten Homosexuellen.
Dass es auch einen Mangel der Geschlechtsfaktoren, und zwar
besonders der im Nervensystem geben kann, scheint mir ein Fall
zu beweisen, den ich in jüngster Zeit beobachtet habe. Es handelt
sich um einen jungen Mann von 17 Jahren, bei dem die äusseren
Genitalien sehr stark entwickelt sind, die Hoden prall und gross, da-
gegen ist die Behaarung des Mons veneris typisch weiblich, die
übrigen sekundären Sexualcharaktere fehlen, ebenso fehlt jedes Ge-
schlechtsempfinden, jede Libido. Es kommt zwar bei ihm zu Erek-
tionen, aber nie zu Pollutionen. Irgendetwas Geschlechtliches inter-
essiert ihn nicht. Die Hypophyse ist normal. Wenn man auch hier
annehmen könnte, dass ‚es sich nur um eine späte Entwicklung
handelt, so ist diese Annahme bei der ausserordentlichen Entwicklung
des gesamten Genitalapparates nicht sehr wahrscheinlich. Viel mehr
Berechtigung könnte die Erklärung haben, dass hier tatsächlich
die Geschlechtsfaktoren minderentwickelt sind oder gar fehlen, dass
es sich hier um einen psychisch sexuellen Infantilismus (Kron-
feld) handelt.
Die Bedeutung der Hormone der Keimdrüsen für den Gesamt-
körper und besonders für das Nervensystem können wir auf dreierlei
Weise erschliessen: beim normalen Menschen beim Eintritt der
Pubertät und dann ferner beim Aufhören der Geschlechtsfunktionen
und endlich beim Eunuchoiden, bei dem der Mangel der Keim-
drüsen auch allgemeine Erscheinungen am Körper und besonders
am Nervensystem hervorruft, bei dem es also zu einer allgemeinen
Konstitutionsanomalie kommt.
Das, was das Kind vom Erwachsenen psychisch unterscheidet,
ist nicht seine Intelligenz, denn es gibt kluge und dumme Kinder
genau so, wie es kluge und dumme Erwachsene gibt, sondern viel-
mehr sein Reaktionstyp. Im Vordergrund steht der Mangel eines
Hemmungsapparates und die geringe Ausbildung der Gesamtwider-
stände im Nervensystem. Daraus resultiert sowohl die stärkere Reak-
tionsfähigkeit des Kindes auf alle Reize, seine Ängstlichkeit, Furcht-
samkeit, aber auch seine Suggestibilität und sein Abhängigkeitsgefühl.
Das Kind ist noch im wesentlichen Reflexmensch. Mit dem Eintritt
5] Über die Wechselboziehungen von Keımdrüsen und Nervensystem. 155
der Pubertät ändert sich das Bild. Das kindliche, hemmungslose
Verhalten schwindet immer mehr und mehr und stärker und stärker
bildet sich ein Hemmungsapparat aus. Während der Pubertät
könnte man direkt von einem Kampf dieser beiden Prinzipien
sprechen. Das sympathikotrope Prinzip kämpft mit dem vago-
tropen um den Vorrang. Zwei verschiedene Ichs sind es, einmal das
leicht erregbare des Kindes und zweitens das gebändigte, gehemmte
des Erwachsenen. Und so kommt es, dass in jener Zeit der Mensch
einen ausserordentlich widerspruchsvollen Eindruck macht, weil sich
an ihm bald diese bald jene Seite zeigt und weil dies In-die-Erschei-
nung-treten vollkommen abrupt vor sich geht. Diese Entwicklung
ist eng verknüpft mit der Reifung der Keimdrüsen. Doch tritt uns
der Einfluss der Hormone auf das Nervensystem nicht immer in
gleicher Stärke entgegen. Bald sind diese Schwankungen ` grösser,
bald kleiner, bald gehen sie schneller vorüber und bald wieder
dauern sie länger, und man kann nur eins konstatieren, dass dieser
Entiwicklungsprozess nicht abhängig ist von der Hormonentwick-
lung, sondern vielmehr vom Nervensystem und von seinem Reak-
tionstyp. Von ihm hängt es ab, wie die Entwicklung schliesslich
abläuft. An einer späteren Stelle soll hierauf noch einmal einge-
sangen werden.
Beim Beginn der Menopause tritt uns ein ähnlicher Vorgang
entgegen. Auch hier wieder beobachten wir ein Schwanken im
Nervensystem, eine Unausgeglichenheit, welche sich im vegetativen
Nervensystem bemerkbar macht durch die Labilität des Gefässnerven-
systems als Erblassen und Erröten, als Frieren und Schwitzen.
Dazu kommen auch hier wieder allgemeine nervöse Symptome wie
Unruhe und Aufgeregtheit, Schlaflosigkeit und Verstimmungen. Der
Hemmungsapparat, der beeinflusst wird durch die Keimdrüsen-
hormone, funktioniert nicht mehr gut. Aber wenn wir besonders die
Frauen betrachten, so finden wir diese Störungen nicht bei allen.
Bei einem Teil sind diese Störungen minimal und dauern nur wenige
Monate, bei anderen wieder sind sie ausserordentlich stark und
dehnen sich über viele Jahre aus. Auch hier wieder ist es nicht
die Hormonalkomponente, welche die Grösse der Störungen bestimmt,
sondern wieder der Reaktionstyp des Nervensystems, und man kann
eigentlich sagen, dass es nicht gerade die konstitutionell anormalen
Frauen sind, welche die Störungen des Hormonausfalles besonders
deutlich zeigen, sondern viel eher kräftige Frauen. Hier muss aber
noch auf eine andere Störung hingewiesen werden, welche sich
als Folge des Ausfalls der Keimdrüsenfunktion einstellen kann, das ist
die genuine Hypertonie. Sie geht wahrscheinlich ebenfalls über das
156 G. Peritz. [6
Nervensystem und stellt wohl eine dauernde Reizung des Vaso-
motorensystems dar. Nach meiner Ansicht ist diese Wirkung eine
indirekte, die Wechselbeziehungen zwischen Keimdrüse und Neben-
niere führen bei Ausfall der Keimdrüsenfunktion zu einer stärkeren
Tätigkeit der Nebenniere und zu gesteigerter Adrenalinabsonderung,
deren Folge dann die Blutdrucksteigerung ist. Auch hier lässt
sich keine bestimmte Konstitutionsanomalie bis jetzt feststellen.
Ganz anders liegen die Dinge beim Eunuchoidismus. Ihn kann
man wohl als eine Konstitutionsanomalie erklären. Vielleicht ge-
hört er ebenfalls in die Reihe der Intersexe, als eine der mittleren
Formen. Der Eunuchoidismus ist nicht nur eine Habitusanomalie,
die ausgezeichnet ist durch ihre überaus langen Extremitäten, durch
die abnorme Fettverteilung und durch ein infantiles Becken, sondern
sie ist auch eine echte Konstitutionsanomalie, die sich von allen
Dingen ausdrückt in ihrer Leistungsunfähigkeit und in ihrer Herab-
setzung des Gasstoffwechsels. Dazu kommt, dass sich bei den Eu-
nuchoiden unmittelbar an die Wachstumsperiode das Senium an-
schliesst. Sie haben keine Periode der Mannbarkeit. Als Ausdruck
dieses frühzeitigen Alterns ist das greisenhafte Aussehen der Haut
zu betrachten, weswegen man auch den Enuchoidismus als Gero-
derma genito-dystrophico bezeichnet hat. Hier interessiert uns aber
vor allen Dingen die Bedeutung, welche das fehlende Keimdrüsen-
hormon für die psychische Entwicklung hat, und zwar nicht nur des-
wegen, weil daraus eine ganz bestimmte psychische Persönlichkeit
entsteht, sondern weil auch immer wieder die Frage diskutiert wird,
ob die Schizophrenie ihren Ursprung in einer Keimdrüsendysfunktion
hat. Der Mangel des Keimdrüsenhormons führt zu einem psychi-
schen Infantilismus. Der Reaktionstyp der psychisch Infantilen und
damit auch der Eunuchoiden ist der des Kindes, sie sind heiter,
stets wohlgelaunt, gutmütig und lenkbar, egoistisch, wie die Kinder,
stark suggestibel und haben eine Naivität in der Beurteilung der
Handlungsweise ihrer Mitmenschen, die nur Kindern eigen ist, end-
. lich eine Disposition für angstvolle Affektausbrüche mit erleich-
tertem Überwertigwerden von Begleitaffekten. Dieser psychische In-
fantilismus findet sich nicht nur bei Eunuchoiden, sondern auch
bei den Skopsen, jener Sekte, welche sich aus religiösen Gründen
kastrieren lässt. Auch bei diesen findet Koch einen psychischen
Infantilismus. Selbstverständlich finden sich, wie überall in der
Natur, schwerere und weniger ausgesprochene Fälle beim Eunuch-
oldismus. andere bei denen die Hoden ganz unentwickelt sind,
bei denen doch etwas grössere Hoden festzustellen sind, bei
denen auch Erektionen vorkommen. Infolgedessen findet man bei
7] Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen und Nervensystem. 157
solehen Eunuchoiden auch nur einzelne Symptome des Infan-
tilismus. Besonders stark tritt bei solchen immer ihre Neigung
zum Aufschneiden hervor, ihr Autoritätsglauben und ihr Anleh-
nungsbedürfnis. Vergleicht man nun diese Schilderung mit dem
Bild der Schizophrenie so wird man offen eingestehen müssen,
dass sie keinerlei Berührungspunkte miteinander haben. Aber auch
die Perioden, in denen die Keimdrüsen in Funktion treten oder
sistieren, zeigen keine Beziehungen zur Schizophrenie. Wenn aber die
Schizophrenie auf einer Keimdrüsendysfunktion beruhte, so läge doch
nichts näher, als dass sich da, wo es zu einem Fehlen der Keim-
drüsenfunktion kommt oder die Keimdrüse zu funktionieren auf-
hört, Züge vorfänden, welche zum mindesten eine gewisse Ähn-
lichkeit mit der Schizophrenie hätten. Dass wir bei den Schizophrenen
hin und wieder eunuchoide lange Extremitäten finden, beruht auf
derselben Ursache wie das Vorhandensein eunuchoider langer Ex-
tranitäten bei den Tuberkulösen, nämlich auf dem Vorhandensein
eines Status thymico-IJymphatieus, bei dem die Keimdrüsen sehr
spät in Funktion treten und infolgedessen das Wachstum sehr lange
anhält. Der Mangel des Keimdrüsenhormons drückt sich körperlich
in einem frühen Senium aus und psychisch in einem Infantilismus.
So sieht die Konstitutionsanomalie der Eunuchoiden aus.
Dass dem Nervensystem ebenfalls eine ausschlaggebende Rolle
bei dem gesamten sexuellen Prozess zukommt, ist in dem
letzten Jahrzehnt fast vollkommen übersehen worden, abgesehen
von Freud und seinen Schülern, welche nicht den energetischen
Prozess, sondern das Erlebnis in der Psyche zum Ausgangspunkt
ihrer Betrachtungen machten. Unter dem Eindruck der Entdeckung,
dass das Keimdrüsenhormon das Nervensystem erotisiert, hat man
sich dauernd mit diesem Hormon beschäftigt. Vor allen Dingen
sind die Tierexperimente die ;Ursache dafür, dass man das Nerven-
system als eine zu vernachlässigende Grösse bei dem Erotisierungs-
prozess angėsehen hat. Beim Tier ist das wohl möglich, da der
Reaktionstyp des Nervensystems beim Tiere individuell keine grossen
Variationen zeigt. Anders liegt das jedoch beim Menschen. Hier
ist der endogene Reaktionstyp ein so verschiedener, dass das Hor-
mon in seiner Verbindung mit dem Geschlechtsfaktor ganz neuen
quantitativen und qualitativen Verhältnissen gegenübersteht. Die drei
Komponenten, aus welchen der Reaktionstyp des Nervensystems
resultiert, sind: die gegenseitige Hemmung der Nervenzentren unter-
einander, der innere Widerstand des Nervensystems und der Regu-
lationsmechanismus dieser Funktionen.
Die Zentren, welche die sexuellen Vorgänge vom Gehirn aus
158 G. Peritz. [8
beeinflussen, werden wir in ihrer ersten Etappe da zu suchen haben,
wo auch die übrigen vegetativen Funktionen zentral lokalisiert sind,
in der Gegend des Corpus striatum und des Pallidum. Dekapitiert man
den Frosch, so tritt bei ihm der Umklammerungsreflex hemmungs-
los auf: ein Beweis, dass im Gehirn ein Reflexmechanismus für
diesen sexuellen Vorgang vorhanden ist. Es handelt sich dabei um
einen Hemmungsmechanismus, so dass für gewöhnlich der Reflex
nicht in die Erscheinung tritt; erst wenn in der Brunstzeit das
Hodensekret erregend wirkt, fällt die Hemmung weg und es kommt
zu diesem Reflex. Auch eine andere Tatsache spricht dafür, dass
in der Gegend des Striatums ein Zentrum für die Geschlechtsfunk-
tionen liegen muss. Man nimmt immer an, dass von der Zirbel-
drüse aus die Geschlechtsfunktion angeregt wird und führt dafür
die Tatsache an, dass bei Tumoren der Zirbeldrüse eine frühzeitige
Geschlechtsentwicklung auftritt. Doch ist dieses Symptom nicht bei
allen derartigen Tumoren vorhanden. Meiner Ansicht nach liegt die
Erklärung für die prämature Entwicklung der Geschlechtsfunktion bei
Zirbeldrüsentumoren darin, dass beim Wachstum der Tumoren in
der Richtung gegen das Striatum die Geschlechtszentren gereizt
werden und es so zu einer prämaturen Entwicklung kommt. Wachsen
die Tumoren in anderer Richtung, so beobachtet man keine zu frühe
Entwicklung der Geschlechtsfunktionen. Die Geschlechtsfunktion ist
aber ferner verknüpft mit allen anderen vegetativen Funktionen.
Beim Geschlechtsakt sehen wir eine Rötung der Haut, eine Puls-
beschleunigung, Erhöhung des Blutdruckes und nicht selten in der
Höhe des Orgasmus starke tonische Anspannung der gesamten quer-
gestreiften Muskulatur. Abgesehen davon, dass der ganze Genital-
apparat unter dem Einfluss des Sympathikus und Parasympathikus
steht, spricht auch die enge Verknüpfung mit all den angeführten
vegetativen Funktionen dafür, dass diese Zentren in dieser Gegend
zu suchen sind. Übergeordnet diesen Zentren ist das gesamte Gross-
hirn. Von jeder Stelle aus kann man fast annehmen, dass diesen
Zentren Reize zugeführt werden. Welchen Einfluss das Auge auf
die Erregung dieser Zentren hat, braucht nicht ausgeführt zu werden.
Das gleiche trifft auch für den Akustikus zu. Dass beim Menschen
der Geruch eine starke Rolle spielt, ist ja doch auch etwas allgemein
bekanntes. So sehen wir also, «dass Errerungswellen von den ver-
schiedensten Seiten des Grosshirns kommen können, umgekehrt aber
auch hemmende Vorstellungen. Zu diesen Zentren gehört dann end-
lieh noch ein spinales Zentrum in den untersten Teilen des Rücken-
marks. Damit haben wir in grossen Züren die Lokalisation der
Geschlechtsfunktionszentren im Nervensystem festrelest. Nicht aber
9] Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen und Nervensystem. 159
auf sie allein kommt es an, sondern auf ihre energetische Ver-
knüpfung untereinander. Alle Zentren gleicher Funktion im Nerven-
system, die in den verschiedenen Etagen übereinandergeschaltet sind,
stehen auch in der Ruhe untereinander in Abhängigkeit. Huglin
Jackson hat zuerst die Theorie ausgesprochen, dass die Zentreu
im Nervensystem sich gegenseitig hemmen. Ich habe diese Theorie
dann weiter ausgestaltet und zu zeigen versucht, dass die Zentren
gleicher Funktion in den verschiedenen Etagen des Zentralnerven-
systems so gestaltet. sind, dass sie sich gegenseitig hemmen, also
das Zentralnervensystem ist in seinem ganzen Aufbau ein Hem-
mungsorgan; es ist zugleich aber auch für die Reize der Aussen-
welt ein Widerstandsorgan. Hemmung und Widerstand sind aber
nicht dasselbe. Ein Beispiel mag das zeigen. Hemmen zwei elek-
trische Elemente von der Kapazität 5, die gegeneinander geschaltet
sind, sich gegenseitig und ein zweites Elementenpaar von der Kapa-
zität 1, so sind zwar beide Systeme in sich gehemmt und stromlos.
Schickt man aber einen elektrischen Strom von gleicher Stärke durch
jedes der beiden Systeme, so beträgt der Widerstand in dem letzt-
genannten System nur ein Fünftel von dem ersten. Das zeigt, dass
Hemmung und Widerstand zwar zusammengehören, dass sie aber
verschieden sind und verschieden in ihrer Auswirkung.
So wie alle Zentren untereinander sich hemmen, sind auch die
vorher genannten Zentren der Geschlechtsfunktion gegeneinander
ausgeglichen und gehemmt. Das muss als der normale Zustand
angesehen werden. Anders liegen die Dinge aber, wenn dieser
Hemmungsmechanismus nicht normal funktioniert. Hier kommt
es dann zu einer Lockerung des Gefüges. Ferner aber können
auch die Widerstände des Nervensystems sehr gering sein, so dass
schon jeder Reiz zu einer Reaktion führt. Aus einer solchen Locke-
runs des Gefüges entstehen Störungen der Geschlechtsfunktion, wie
wir sie häufig bei Neurasthenikern sehen. Es kommt zu einer
übermässigen Reizbarkeit des Ejakulationsvorganges, während der
Erektionsprozess normal verläuft. Daraus entsteht die Ejaculatio
praecox, eine echte Apraxie der Genitalfunktion. Umgekehrt kann
aber auch der Hemmungsvorgang vom Grosshirn sehr stark sein,
so dass unter dem Einfluss irgendwelcher psychischen Vorstellung
die Geschlechtsfunktion beeinträchtigt wird. Sehen wir uns nun
die Menschen an, welche in dieser Richtung am ehesten beinträch-
tigt werden, so sind es immer wieder die gleichen Menschen des-
selben Typus; sie sind in den letzten Jahrzehnten unter den ver-
schiedensten Namen geschildert worden: als Habitus asthenicus,
als Status thymicolymphaticus, als Vagotoniker, als schizoider Typus,
160 G. Peritz. [10
und neuerdings von Matthes als Intersexe. Diese vielen Namen
beweisen nur immer, dass dieser weitverbreitete Typus von den
verschiedensten Autoren immer wieder unter den verschiedensten
Gesichtspunkten betrachtet worden sind. Darum scheint es mir
ratsam, diesen Typus mit einem Namen zu benennen, der nicht von
vornherein die ganze Betrachtung in eine einzige Richtung zwängt.
Deswegen möchte ich den Namen des Vagotonikers, wie die Bezeich-
nung schizoider Typus ablehnen. Bei beiden ist der Rahmen zu
eng gespannt. Die gleichen Menschentypen, die nach Kretschmar
als schizoide bezeichnet werden müssen, könnten auch ebensogut
als Magengeschwürsmenschen gelten, denn auch sie stellen den Typus
dar, bei denen nur das Magengeschwür vorkommt. Man darf diesen
Typus aber nicht nur ‘äusserlich aus seinem Habitus erkennen
wollen, denn hier täuscht die Fassade häufig, da auch derselbe Typus
sich unter einer gewissen Fettentwicklung verbergen kann. Er ist
symptomatisch zu charakterisieren, und zwar sowohl von den Or-
ganen aus, wie auch vom Nervensystem. Am Nervensystem finden
wir eine allgemeine Übererregbarkeit verbunden mit einem starken
Angiospasmus unter Neigung zu allen möglichen krampfartigen Zu-
ständen. Ich habe diese Konstitutionsanomalie deswegen als spas-
mophile bezeichnet, doch ist das auch wieder nur eine Heraus-
hebung eines Typus, bei dem die Übererregbarkeit des Nerven-
systems im Vordergrunde steht. Ich würde die Bezeichnung von
Matthes als Intersex besonders begrüssen, wenn sich wirklich
beweisen lässt, dass diese Degenerationsform wirklich Intersexe sind,
entstanden auf der Mischung gesunder kräftiger Individuen, aber
sehr verschiedener Rassen, wie das Goldschmidt an Lymantria
dispar bewiesen hat. Während aber bei den Intersexen der Schmetter-
linge nur der (fenitalapparat und «die sekundären Geschlechtsmerk-
male sich verändern, finden wir beim Menschen eine allgemeine
Degeneration, vornehmlich der Drüsen mit innerer Sekretion. Also
hier fehlt noch der Beweis, um diesen Typus wirklich als Intersex
zu kennzeichnen, so verlockend dieser Gedanke auch ist.
Während wir bis jetzt nur die Lockerung des Gefüges in den
Zentren für die (Greschlechtsfunktion betrachtet haben, treten aber
viel stärkere Störungen noch auf, wenn eine Diskrepanz besteht
zwischen den Zentren und den Erfolesoreanen. Uer kommt es zu
erheblichen Störungen und sie erwachsen auch wieder auf dem
Konstitutionstypus, den ich eben geschildert habe. Ich habe
darauf aufmerksam gemacht, dass hier die verschiedensten Drüsen
mit innerer Sekretion degenerieren, nicht zuletzt die Keimdrüsen
und dass die Folge dieser Degeneration ein Infantilismus der Geni-
11] Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen und Nervensystem. 161
talorgane ist. Auf dieser Basis entsteht so häufig die Frigidität der
Frau. Wenn ich auch der Überzeugung bin, dass die meisten Fälle
von Frigidität zu überwinden sind, sobald ein geschulter Partner der
frigiden Frau gegenübersteht, so ist doch nicht zu leugnen, dass
unter normalen Bedingungen diese Frigidität einen nicht zu ver-
nachlässigenden Faktor darstellt. Auf der andern Seite aber be-
steht bei diesen Menschen eine erhebliche allgemeine Übererreg-
barkeit, die sich auch sexuell dadurch kundtut, dass von den Gross-
hirnzentren dauernd die vegetativen Zentren der Geschlechtsfunktion
beeinflusst werden. Unter diesen Bedingungen kommt es zu dauern-
dem Energieabfluss, der aber nicht oder nur sehr schwer zur Ent-
ladung kommen kann, weil das Erfolgsorgan minderwertig ist. So
konımt es dann zu Energiestauungen, welche nach anderer Richtung -
Entladung suchen. Das ist die Grundlage für die Hysterie, es ist
der rein energetische Vorgang, nicht der Inhalt, nicht das Erlebnis,
wie so viele meinen, welches die Hysterie bedingt, nicht der Kom-
plex.. Dazu kommt dann noch im Nervensystem selbst der schlecht
funktionierende Regulationsmechanismus. Ich habe also hier die
einzelnen Komponenten aufgeführt, welche zu einer Störung der
sexuellen Persönlichkeit führen können. Sie sind bedingt durch
konstitutionelle Faktoren und beeinflussen selber wieder die ganze
sexuelle Persönlichkeit. Sie greifen aber weit darüber hinaus und
beeinflussen die gesamte Persönlichkeit. Umgekehrt aber kann auch
bei Menschen mit zu starkem Hemmungsmechanismus die sexuelle
Persönlichkeit gestört sein. Hier treten normale Reize von seiten
der Keimdrüsen auf, aber der Hemmungsmechanismus im Nerven-
system ist ein so starker, dass auch hier wieder normale Entladungen
nur schwer oder zu spät möglich sind. Es sind das die Menschen
der verpassten Gelegenheit. Auch bei ihnen machen sich schwere
nervöse Störungen, besonders in Angst- und Zwangsvorstellungen
bemerkbar, die auch hier weit über das Sexuelle hinausgreifen und
die ganze Persönlichkeit beeinflussen. Man darf aber nicht glauben,
dass das der Konstitution nach andere Typen sind als die vorher
geschilderten. Nur ist bei ihnen der Regulationsmechanismus im
Nervensystem geschädigt. Wir sind jedoch zu sehr gewohnt, Hem-
mung und Erregung als Gegensätze zu betrachten, als dass wir uns
dazu verstehen können, sie als Folge der gleichen Störung im Nerven-
system anzusehen. Das wird uns aber sofort verständlich, wenn
wir uns klar machen, dass die senkrecht angeordneten Zentren,
die zu einer funktionellen Einheit gehören, durch ihre gegenseitige
Hemmung fest verkettet sind, dass aber die horizontal nebeneinander
gelagerten Zentren sich zwar gegenseitig beeinflussen, aber doch
162 G. Peritz, Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen usw. [12
viel unabhängiger voneinander sind, als man gemeinhin zugesteht.
Wie im übrigen Körper einzelne Organe minderwertig sein können,
einen Locus minoris resistentiae darstellen, so können auch einzelne
Nervenapparate minderwertig sein; ich erinnere nur an die System-
minderwertigkeit bei der amyotrophischen Lateralsklerose, an die
des Striatums beim Parkinson. So gibt es sicher auch eine Minder-
wertigkeit der zentralen Vasomotorenzentren, die einen Locus minoris
resistentiae darstellt und bei spasmophiler Konstitution zur Epi-
lepsie führt und ebenso gibt es eine Minderwertigkeit des Regu-
lationsapparates. Verbindet sich mit einem solchen minderwertigen
Regulationsmechanismus eine spasmophile Konstitution, so drückt
sich die Übererregbarkeit vornehmlich an diesem Locus minoris resi-
stentiae aus. Die Folge einar Übererregbarkeit des Regulations-
apparates ist aber die einer verstärkten Hemmung im übrigen Nerven-
system. Darum sehen wir bei der gleichen Konstitution trotzdem
verschiedenere Reaktionstypen. Zwei Brüder haben die gleiche spas-
mophile Konstitution. Der eine ist aber nur stark übererregbar,
ist flink und daher zum Sport befähigt, den er auch in starkem
Masse ausübt; der andere von demselben Habitus, von demselben
Aussehen, der gleichen Übererregbarkeit im Nervensystem hat aber
cinen schlecht funktionierenden Regulationsmechanismus und ist des-
wegen ständig gehemmt, sogar in seinem Muskelsystem, das dauernd
hypertonisch ist. Darum wird er Stubenhocker und nicht Sports-
mann.
So zahlreich sind die Komponenten, die schliesslich psycho-
logisch betrachtet die gesamte Persönlichkeit formen. Nicht ein-
fach indem man Typen schildert, kommt man diesen Dingen nahe.
Man muss sie analysieren, allerdings nachdem man die Komponenten
kennt und nachdem man die konstitutionellen Grundlagen erforscht
hat und sich klar gemacht hat, dass die Resultante, die wir als
Persönlichkeit bezeichnen, abhängig ist von den verschiedensten
Komponenten, dessen kleinste Variationen schon Ausschläge erheb-
licheren Grades geben können. Denn Konstitution ist etwas Funk-
tionelles, nicht etwas Formales, es ist die Art, wie der Körper
auf die Umwelt reagiert und wie er seine Organe in Harmonie zu-
einander bringt; sie drückt sich aus als körperlicher, nervöser und
psychischer Reaktionstypus. Die Dysharmonie im gesamten Ge-
schlechtssystem bedingt eine Störung der sexuellen und darüber
hinaus der gesamten Persönlichkeit.
Aus der I. Chirurgischen Abteilung des Rudolf Virchow-Krankenhauses
in Berlin.
Die Sexualkonstitution in der Chirurgie.
Von
Prof. Dr. Richard Mühsam.
Unter Sexualkonstitution möchte ich all die Erscheinungen ver-
standen wissen, welche mit den Geschlechtsorganen, bzw. mit dem
Geschlechtsleben im weitesten Sinne in Beziehung stehen. Daher
sollen nicht nur körperliche Eigenschaften unter diesen Begriff fallen,
wie die als sekundäre Geschlechtsmerkmale oder Pubertätszeichen be-
kannten, z. B. Behaarung, Stimme, Wachsen der Vorsteherdrüse,
Samenerzeugung, sondern auch seelische, wie sie im Geschlechtstrieb
als solchem, in der Potentia coeundi und in allgemeinen Charakter-
eigenschaften, wie Tatkraft, Unternehmungslust usw. beim Manne ihren
Ausdruck finden.
Für die Sexualkonstitution sind die innersekretorischen Drüsen,
die Hypophyse, die Epiphyse, die Schilddrüse, die Nebennieren und
hauptsächlich die Hoden von grösster Bedeutung. Wir wissen aus
der klinischen Erfahrung und aus der Beobachtung von Operations-
ergebnissen, dass Erkrankungen einzelner oder mehrerer dieser Organe
schwere Störungen der Sexualkonstitution hervorrufen können.
So haben Erkrankungen der Hypophysis vielfach Ausfallserschei-
nungen in der Sexualsphäre zur Folge, und zwar Hinterlappenerkran-
kungen die Dystrophia adiposogenitalis, Vorderlappenerkrankungen den
eunuchoiden Hochwuchs mit kleinem Penis wie bei Frühkastraten.
Epiphysentumoren mit Substanzverlust können vorzeitige Geschlechts-
reife herbeiführen. Diese Entwicklungsbeschleunigung wird verschieden
gedeutet. Hofstätter nimmt einen physiologisch hemmenden Ein-
Hoss der Zirbeldrüse auf die Keimdrüsen an; bei Fortfall der Hemmung
164 Richard Mühsam. . [2
tritt die oft mit gesteigerter psychischer Leistungsfähigkeit verbundene
sexuelle Frühreife ein. Andere Forscher dagegen glauben, dass es
sich um einen die psychischen Leistungen fördernden Einfluss der
Zirbeldrüse handelt. Nach Aschner treten bei frühkastrierten Tieren
makroskopisch und mikroskopisch erkennbare Veränderungen in der
Zirbeldrüse ein, ein Beweis für die engen Zusammenhänge der ver-
schiedenen Drüsen mit innerer Sekretion.
Der Kretinismus und das Myxödem, bei welchem vielfach die
Zeichen geschlechtlicher Reife ausbleiben, sind Folgen des Fehlens
oder der Erkrankung der Schilddrüse.
Erkrankungen der Nebennieren können, wie Israels Beobachtung
lehrt, Veränderungen der Sexualkonstitution hervorrufen, welche sich
in einer Umstimmung der Triebrichtung und in einer Änderung des
Typs der Behaarung vom weiblichen zum männlichen ausdrücken.
Chirurgisch spielen Hypophyse, Epiphyse und Nebennieren bei.
der Behandlung der durch ihre Erkrankung hervorgerufenen Störungen
der Sexualkonstitution aber bisher keine Rolle.
Anders die Schilddrüse und die Hoden!
Nachdem zahlreiche Versuche der Schilddrüsenüberpflanzung bei
diesen Erkrankungen im wesentlichen auf die Dauer erfolglos ge-
blieben sind, gelang es Kocher, unter 93 Fällen 21mal günstige
Ergebnisse zu erzielen und auch die Sexualkonstitution zu regelrechter
Entwicklung zu bringen. Bei schweren Erkrankungen blieb nach
Knauer der Erfolg aus, während die leichteren Störungen, d. h.
solche, wo noch eine eigene, sicher funktionierende Schilddrüse vor-
handen war, sich ausgezeichnet beeinflussen liessen.
Dass das Fehlen der Hoden, ihre Zerstörung oder ihr operativer
Verlust schwere Veränderungen der Sexualkonstitution zur Folge hat,
ist ven alters her bekannt.
Werden jugendliche Individuen kastriert, so bleiben die sekun-
dären Geschlechtsmerkmale ın der Entwicklung zurück. Wir wissen,
dass Frühkastraten die hohe kindliche Stimme behalten, dass sich
bei ihnen die Bart-, Scham- und Achselhaare gar nicht oder nur
mangelhaft entwickeln, dass der Penis und die Prostata klein bleiben.
Hier haben wir es also mit einer sehr deutlichen Änderung der
Sexualkonstitution zu tun.
Ähnlich den Frühkastraten verhalten sich die Eunuchoiden. Bei
ihnen findet sich meist ein in der Entwicklung zurückgebliebener
Penis, die Bart-, Scham- und Achselhaare fehlen, der Stimmwechsel
bleibt aus. Mit den Frühkastraten haben sie eine Neigung zum
Fettansatz gemeinsam, dagegen unterscheidet sich ein Teil der Enu-
3] Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. 165
choiden von den Frühkastraten durch das ungewöhnliche, auf der
fehlenden Verknöcherung der Epiphysenlinien beruhende Längenwachs-
tum der Gliedmassen.
Beiden, den Frühkastraten wohl stets und den Eunuchoiden ge-
wöhnlich fehlen der Geschlechtstrieb und die Geschlechtslust. Dagegen
pflegt die Arbeitsfähigkeit beider keine nennenswerten Veränderungen
gegenüber Vollmännern zu erleiden.
Auch aus der Tierphysiologie und -biologie kennen wir die
gleichen Erscheinungen. Hier wird durch die Kastration geradezu das
Arbeits- und Nutztier geschaffen. Der mutwillige temperamentvolle
Hengst wird zum ruhigen, arbeitsamen Wallach, der muntere Widder
zum blöden Hammel, der unberechenbare und gefährliche Stier zum
geduldigen Ochsen, der sich willig einspannen und entsprechend der
bei Kastraten bekannten Neigung zum Fettansatz leicht mästen lässt.
Diese leichte Mästbarkeit veranlasst auch den Schweinezüchter, die
nicht zur Zucht verwendeten Schweine zu kastrieren.* Die weib-
lichen Schweine verlieren dann ihre alle 4 Wochen eintretende Rausch-
zeit (Brunst), während welcher sie im Gewicht zurückgehen. Der
‘ Hühnerzüchter kastriert die überschüssigen Hähne und macht daraus
den schmackhaften Kapaun. Auch Zeichen körperlicher Veränderung
bleiben bei den Tieren nach der Kastration nicht aus. Der Pferde-
kenner erkennt den Hengst schon von weitem am feinen, trocknen
Kopf und am vollen Hals, dem Hengsthals, der Stier trägt die kurzen
charakteristischen Hörner, während dem Ochsen die Hörner länger
und mehr gebogen wie die Hörner der Kuh wachsen. Dem männ-
lichen kastrierten Schwein fehlen die Gewehre, die Hauer des Ebers,
dem Kapaun der Kamm, der Bart, die Sporen und das Federspiel des
Hahnes.
Dass Verletzungen der Hoden auch bei wild lebenden Tieren
Veränderungen der Konstitution, des Körperbaues hervorrufen, be-
weist die Erscheinung des Perückengehörns und der Bischofsmütze
beim Rehwild. Es besteht nach Dietzel-v. Nordenflycht aus
eigentümlichen Wucherungen, die zuweilen normale Stangen ein-
schliessen, ist mit Bast bedeckt und wird nie gefegt oder abgeworfen,
wie es mit dem Gehörn gesunder Rehböcke alljährlich geschieht.- Es
verdankt seine Entstehung einer Erkrankung, Verletzung oder dem
gänzlichen oder teilweisen Verlust des Kurzwildbrets, der Hoden.
Tritt dieser Fall bei einem Bocke in der Jugend vor der Gehörn-
bildung ein, so setzt er nur unscheinbare, kümmerliche Spiesschen
oder Knöpfchen auf; tritt der Fall aber später ein, wenn der Bock
ein vollkommen ausgebildetes Gehörn trägt, so wirft er dieses binnen
2—4 Wochen ab, und es erfolgt dann die Bildung der genannten
166 Richard Mühsam. ; [4
Wucherungen, welche nur in der Zeit, wenn sonst die Rehböcke ge-
hörnlos sind, zu einem vorübergehenden Abschluss kommen. Wird
ein Rehbock kastriert, während er abgeworfen hat, d. h. während er
gehörnlos ist, oder während des Aufsetzens, d. h. während des Wachsens
des Gehörns, so bildet sich ebenfalls ein Perückengehörn.
„Die Kastration wirkt verschieden auf den Menschen, je nachdem
sie vor oder nach der Geschlechtsreife vorgenommen wurde. Während
dem Frühkastraten ein Geschlechtsleben überhaupt fehlt, ist das
sexuelle Verhalten der Spätkastraten den grössten Schwankungen
unterworfen. Ein Teil von ihnen verliert nach kürzerer oder längerer
Zeit Geschlechtstrieb und Geschlechtslust, bei anderen bleiben beide
bestehen. Ich selbst beobachtete beide Arten des Verhaltens. Ich
sah bei ihnen den Geschlechtstrieb schwinden und sah sie dem weib-
lichen Geschlecht gegenüber teilnahmslos werden. Bei anderen, aller-
dings der Minderzahl, blieb die Potenz, wenn auch in beschränktem
Masse, lange Zeit hindurch erhalten. In manchen Fällen kann durch
die Kastration geradezu eine Heilwirkung auf eine krankhafte psychische
Sexualkonstitution erzielt werden. Ein zum Transvestitismus neigender,
mit hohen Frauenschuhen, langen Frauenstrümpfen und Korsett ein-
hergehender ÖOnanist, der durch die ins Ungeheuerliche getriebene
Önanie vollkommen arbeitsunfähig geworden war, liess sich kastrieren.
Acht Tage nach der Operation führte er den ersten Koitus seines
Lebens aus. Er hat dann seine transvestitischen Neigungen verloren,
hat sein Studium beendet, und wenn er auch als psychisch geschädigt
gelten muss, ist er doch durch die Operation in seiner ganzen Ver-
fassung wesentlich geändert und gebessert worden. Einen ähnlich
günstigen Einfluss der Kastration sah ich bei einem anderen Sexual-
neurotiker, den sexuelle Gedanken zum Selbstmord zu treiben drohten,
da mangels genügender Erektion die natürliche Entspannung durch
Koitus nicht eintrat. Er veränderte sich nach dem Eingriff voll-
kommen in seinem Wesen, wurde arbeitsam und fröhlich, begab sichı
auch in Gesellschaft von Frauen, ohne dass es zum Verkehr kam,
und war mit der Veränderung seiner sexuellen Konstitution höchst
zufrieden. Bei einem homosexuell empfindenden, an periodischer
Dipsomanie leidenden Manne wurden durch die Kastration beide
Triebe wenigstens vorübergehend wesentlich herabgesetzt. Ob die bei
ihm vor kurzem vorgenommene Hodenüberpflanzung einen bleibenden
Erfolg haben wird, kann ich noch nicht sagen. Eine Änderung seines
Wesens glaubte er mit Bestimmtheit einige Wochen nach der Ope-
ration feststellen zu können. Hier ist noch besonders erwähnenswert,
dass er auch nach der Kastration homosexuell empfand, wenn auch
in deutlich abgeschwächter Form. Endlich sei ein Kranker erwähnt,
5] Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. 167
der, glücklich verheiratet, infolge eines unüberwindlichen Dranges zu
halbwüchsigen Mädchen mit dem Strafgesetz in Berührung gekommen
war. Er liess sich im Einverständnis mit seiner Frau kastrieren
und führt nun, frei von seiner von ihm selbst verabscheuten, aber
unbezähmbaren Leidenschaft ein glückliches Familienleben. |
Versuche, die Sexualkonstitution bei Frauen zu ändern, gehören
zu den grössten Seltenheíten. Ich selbst verfüge über zwei Beobach-
tungen, bei denen transvestitische und homosexuell empfindende
Mädchen sich die äusseren und inneren, als Fremdkörper von ihnen
empfundenen weiblichen Geschlechtszeichen, die Brüste und Eierstöcke
entfernen liessen. Beide trugen Männerkleidung und betrieben die
Umschreibung ihres Personenstandes. Die eine Patientin, welche mit
einer sehr grossen penisartigen Klitoris ausgestattet war, hatte ein
regelrechtes Verlöbnis mit einem über ihren Zustand unterrichteten
Mädchen. Sie fühlte sich zunächst nach der Operation sehr glücklich,
fiel dann aber in ihre seelische Niedergeschlagenheit zurück und
endete durch Selbstmord. Der zweiten, einer hochbegabten, aus
gesunder Familie stammenden Künstlerin waren die Brüste und
der Uterus vor Jahren von anderer Seite entfernt worden. Sie
empfand aber die Tatsache, dass sie Eierstöcke hatte, als etwas
ungemein Störendes und ihre Arbeitsfreude Hemmendes. Seit der
fast zwei Jahre zurückliegenden Entfernung der Eierstöcke ist sie
frei von ihren Beschwerden und .mit ihrem Zustand zufrieden. Dass
es sich in diesem Falle lediglich um eine psychische Einwirkung
gehandelt hat, möchte ich bezweifeln. Ich glaube vielmehr, dass die
Ausschneidung der Eierstöcke und die dadurch erzielte Geschlechts-
losigkeit diese unglücklichen Menschen tatsächlich von ihren Leiden
befreien kann.
So sehen wir bei normalen Menschen und auch bei psychisch
veränderten eine Änderung der Sexualkonstitution als Folge der
Kastration eintreten und wir müssen uns fragen, wie diese zustande
kommt. Zum Verständnis dieser Frage müssen wir auf die Über-
pflanzungsversuche zurückgreifen, welche seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts Physiologen und Kliniker beschäftigt haben, und als
deren Ergebnis man die Tatsache zu verzeichnen hat, dass junge Tiere
nach der Kastration mit nachfolgender Transplantation oder Wieder-
einpflanzung von Hoden in ihrer weiteren männlichen Entwicklung
nicht gestört werden. Das gleiche wurde nach der Unterbindung
des Vas deferens und nach der Zerstörung der spermatogenetischen
Anteile des Hodens durch Röntgenstrahllen beobachtet. Wenn nun
die Entwicklung der sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale
nicht an das Vorhandensein der generativen Hodensubstanz gebunden
Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 3. | 12
" "vest
168 Richard Mühsam. [6
ist, so muss sie, so schloss man, von anderen Bestandteilen abhängen.
Als diese nahm man die Zwischensubstanz an, der hiernach die
Rolle einer Drüse mit innersekretorischer Tätigkeit zugesprochen
wurde. Die Gesamtheit dieser Zwischensubstanz bezeichneten Ancel
und Bouin als interstitielle Drüse, Steinach nannte das durch
die Überpflanzung gewonnene Produkt Pubertätsdrüse.. Im Gegen-
satz hierzu werden aber die interstitielle*und die Pubertätsdrüse
von anderen Forschern, wie Tiedje, abgelehnt und die inner-
sekretorische Tätigkeit des Hodens ebenfalls seinem generativen Anteil
zugeschrieben.
Mit der Auswirkung der Steinachschen Überpflanzungsversuche
auf den Menschen ist dann ein Gebiet klinischer Betätigung und
Forschung eröffnet worden, über das auch heute noch ein tiefes
Dunkel gebreitet ist, und das noch viele unerforschte Strecken um-
fasst. Hier heisst es weiterarbeiten und nicht wegen beobachteter
Misserfolge oder Versagens der Tierversuche die Flinte ins Korn werfen.
Die Hodenüberpflanzung ist angewendet worden zur Behandlung
der Kastrationsfolgen und des Eunuchoidismus, sowie zur Umstim-
mung homosexueller Geschlechtsempfindung. Es wird daher hier fest-
zustellen sein, ob und wieweit es möglich ist, die gestörte Sexual-
konstitution bei diesen Ausfalls- bzw. Krankheitserscheinungen durch
die Hodenüberpflanzung zu beeinflussen. .
Im Tierversuch sind hier sehr ‚bemerkenswerte Erfahrungen ge-
sammelt worden. Sie alle kennen die interessanten Steinachschen
Versuche über Änderung der Geschlechtsmerkmale durch Einpflanzung
von Hoden bzw. Eierstock auf kastrierte junge Tiere. Maskulierte
Weibchen zeigten einen mehr männlichen Körperbau und männliche
Charaktereigenschaften, wie Streitlust, Kampf um das Weibchen,
feminierte Männchen bekamen einen zarten Knochenbau und mütter-
liche Eigenschaften, ja Milchabsonderung wie echte Weibchen. Die
Steinachschen Versuche sind von Knud Sand-Kopenhagen nach-
geprüft, bestätigt und in manchen Punkten erweitert worden.
Beim Menschen werden die Ergebnisse noch am einheitlichsten
beurteilt bei der Überpflanzung von Hoden auf Spätkastraten. Hier
sahen Lespinasse, Steinach-Lichtenstern, Stabel, Kreuter
(in seinem ersten Bericht), Lydston, Haubenreißer, Stocker,
Els und auch ich günstige, über lange Zeit verfolgte Einwirkungen.
Es kann wohl als ein Erfolg gelten, wenn ein nach der Kastration
impotent gewordener Mann wieder instand gesetzt wird, den Ge-
schlechtsakt auszuüben, wenn der nach der Kastration aufgetretene
Fettansatz wieder schwand, wenn die Stimme sich wieder vertiefte,
der Haarwuchs sich in nahezu regelrechter Weise wieder einstellte
7) Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. | 169
und die Prostata von der eines .gesunden Mannes nicht mehr zu
unterscheiden war.
Ähnliche Veränderungen der Sexualkonstitution treten nach
Lichtenstern und Stabel bei der Hodenüberpflanzung bei Eunu-
choidismus ein. Lichtenstern sah vermehrte Behaarung des Stammes
und der Achselhöhlen, Tieferwerden der Stimme, Wachsen des Penis.
Erotische Träume, Libido, Erektionen traten auf, ja in einem Falle
wurden lebende Spermatozoen im Ejakulat nachgewissen, eine Er-
scheinung, die Lichtenstern auf die Wachstumsanregung der
Samenkanälchen durch den eingepflanzten Hoden zurückführt. Ich
selbst war in einem derartigen Falle weniger erfolgreich. Bei dem
Kranken war nur das erstmalige, und auch nur kurze Zeit anhaltende
Auftreten von Erektionen zu verzeichnen, sonst änderte sich nichts
in seinem Befinden.
Ganz umstritten und noch völlig ungeklärt ist die Wirkung der
Hodenüberpflanzung bei Homosexualität. Günstigen Erfahrungen
Lichtensterns und Pfeiffers stehen durchaus ablehnende anderer
Beobachter gegenüber. Meine eigenen sind geteilt. Neben deutlichen .
Erfolgen habe ich auch völliges Versagen gesehen.
Schon die Frage, ob der eingepflanzte Hoden dauernd einheilt,
muss als nicht geklärt gelten. Förster und vor allem Enderlen
haben die Transplantate nekrotisch werden sehen, und es ist sicher,
dass sie in diesen Fällen ausgestossen oder aufgesaugt werden. Im
Tierversuch mit erwachsenen Tieren sahen jüngst Burckhardt und
Hilgenberg Nekrose der Transplantate. Meine eigenen Operationen
ergaben stets reizlose Einheilung; Absonderung auch nur von kurzer
Dauer gehörte zu den Seltenheiten. Damit will und kann ich natür-
lich nicht behaupten, dass die von mir überpflanzten Hoden im
ganzen eingeheilt sind. Es mögen nur Reste von ihnen zurück-
geblieben sein. Erinnert man sich aber der Tierversuche von Lip-
schütz und seinen Schülern, nach denen schon ein Hundertstel des
Gewichtes des Meerschweinchenhodens genügt, um dem Tiere die
Kastrationsfolgen zu ersparen, so könnte man annehmen, dass auch
geringste zur Einheilung gelangte Teile beim Menschen zum Erfolge
hinreichen. Bei doppelseitiger Hodentuberkulose, bei der fast das
ganze Hodengewebe zerstört ist, werden Störungen der Potenz nicht
beobachtet. Es genügen also die oft sehr geringen Reste von Hoden-
substanz. Erst nach der Kastration stellen sich die bekannten Folgen
des Hodenverlustes ein.
Wenn Hammesfahr nach einer Hodenüberpflanzung einen Teil
des Hodens nekrotisch entfernte, auf dem Grunde der Wunde aber
eine 3 mm dicke Schicht des Transplantats mit der Unterlage fest
12*
170 Richard Mühsam. [8
verwachsen und deutlich vaskularisiert fand, da spärlich blutende
Gefässchen in der fest haftenden, stellenweise ebenfalls nekrotischen
Transplantatscheibe zu sehen waren, so kann man entgegen der
Meinung Hammesfahrs wohl annehmen, dass hier kleinste, für
die Funktion ausreichende Hodenteile einheilten. Auf die innersekre-
torische Tätigkeit des Transplantats kommt es an, und diese ist auch
in den erfolglos operierten Fällen, wenigstens anfänglich, nicht zu
verkennen. Steinach-Lichtenstern haben von der Ausschüttung
der Sekrete nach der Operation gesprochen, und auch ich führe die
kurz nach dem Eingriff auftretenden Erscheinungen auf eine Auf-
saugung dieser Stoffe, vielleicht mit gleichzeitiger teilweiser Resorption
des überpflanzten Hodens zurück. So erklären sich die von uns bei
den Homosexuellen stets beobachteten heterosexuellen Träume, so
auch die vorübergehenden Erektionen bei dem sonst erfolglos ope-
rierten Eunuchoiden. Wenn man aber den innigen Zusammenhang
der verschiedenen innersekretorischen Drüsen untereinander betrachtet,
so mag in manchen Fällen von Homesexualität schon der durch die
. Aufsaugung von Hodenhormonen ausgehende Einfluss auf andere
endokrine Drüsen genügen, um zunächst die Triebrichtung umzu-
stimmen und in den günstigsten Fällen in der regelrechten Bahn zu
halten.
Ist die Frage der chirurgischen Beeinflussung der Sexualkonsti-
tution bei Eunuchoidismus und Kastration durch Hodenüberpflanzung
zum grossen Teil von der Frage der mehr oder weniger vollständigen
Einheilung des Hodens abhängig, so ist sie bei der Behandlung der
Homosexualität noch dadurch unklarer, als wir bisher nicht wissen,
ob wirklich der Hoden die Triebrichtung bestimmt, oder ob die Be-
stimmung der Triebrichtung von anderen Ursachen‘ oder Organen
abhängig ist.
Man darf nicht vergessen, dass Homosexuelle auch nach der
Kastration homosexuell empfinden, wie mich eine eigene Beob-
achtung lehrte, und muss an die Beziehungen des Hodens zu
anderen innersekretorischen Drüsen, vor allem an die Änderung
der Triebrichtung durch Nebennierenerkrankung denken, um die
Schwierigkeiten zu würdigen, die sich der Erforschung dieser Frage
gegenüberstellen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass nam-
hafte Forscher die körperliche Ursache der Homosexualität, wie sie
in der Steinachschen Lehre von den F.- und M.-Zellen zum Aus-
druck kommt, ablehnen und in dieser Abweichung lediglich eine
psychisch zu behandelnde psychische Erkrankung sehen. Auch ich
kann die Steinachschen Befunde nicht anerkennen, da in den von
mir entfernten, von so hervorragenden Kennern der Hodenanatomie
9] Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. 171
und -pathologie wie Benda und v. Hansemann untersuchten Hoden
Homosexueller irgendwelche Veräuderungen im Sinne Steinachs
fehlten. |
Auf den von Steinach behaupteten Veränderungen in der
Zwischensubstanz des Hodens baut sich seine Lehre von der Ver-
jüngung auf. Er nimmt an, dass nach der Unterbindung des Samen-
stranges der spermatogenetische Teil des Hodens atrophiert, dass
aber die Zwischensubstanz (seine Pubertätsdrüse) zu kräftigem Wachs-
tum angeregt wird. Durch dieses Wachstum sollen sich nach Steinach
Veränderungen im Sinne der Verjüngung in körperlicher und sexueller
Hinsicht erzielen lassen. Seine Veröffentlichungen mit den Abbildungen
der operierten Ratten sind bekannt, ebenso der Film, in welchem diese
Tiere anschaulich gezeigt werden.
Ob das Verfahren auch beim Menschen Erfolg hat, ist heute
noch ganz offen. Lichtenstern und einige andere Autoren sahen
günstiges, von anderen wird es abgelehnt. Meine eigenen Erfahrungen
an einer Reihe Operierter lassen in einzelnen Fällen gewisse Beein-
flussungen, namentlich der Sexualfunktion erkennen, in anderen nicht.
Als erwiesen scheint mir festzustehen, dass es bei psychischer Im-
potenz wirkungslos ist.
* Die Erfolge sind verglichen worden mit der Einwirkung der
suprapubischen Prostatektomie. Bei der Prostatektomie verödet die
Lichtung des Vasa deferentia nach der Durchreissung, und es wurde
angedeutet, dass der manchmal überraschende Enderfolg der Pro-
stataentfernung zum Teil auf dem Verschluss des Vas deferens be-
ruhe, also im Sinne der Steinachschen Lehre zu verwerten sei.
Dies scheint mir nicht voll bewiesen. Man darf nicht übersehen,
dass die Wirkung der Prostatektomie vor allem darauf beruht, dass
die Kranken von der sie dauernd quälenden, oft mit Urosepsis ein-
hergehenden Harnverhaltung befreit werden, und dass sie eine un-
gestörte Nachtruhe bekommen, während sie vorher durch den be-
ständigen Urindrang jede‘ Nacht mehrmals geweckt wurden. Dass.
diese so von ihren Beschwerden befreiten Männer nach der Operation
förmlich wieder aufleben, ist nicht wunderbar. Auch psychische und
allgemeine Einflüsse spielen bei der Bewertung der Wirkungen eine
grosse Rolle. Für manche Kranke ist bereits der Aufenthalt in der
Klinik oder in dem Krankenhaus eine Veranlassung zur Erholung, so
dass Vorsicht bei der Bewertung von Erfolgen geboten ist.
Zusammenfassend kann man über die Beziehungen der Sexual-
konstitution und der Chirurgie sagen, dass die Sexualkonstitution
durch die Entfernung der Hoden in eingreifender Weise beeinflusst
172 Richard Mühsam, Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. [10
werden kann. Im allgemeinen wird sie geschädigt, nur in bestimmten
Formen sexueller Neurasthenie kann sie als Heilmittel betrachtet
werden.
Die Überpflanzung der Hoden hat in vielen Fällen einen deut-
lich erkennbaren, wenn auch vorübergehenden Einfluss auf die Sexual-
sphäre. Am nachhaltigsten sind die Erfolge bei Spätkastraten,
vielleicht auch bei Eunuchoiden, während über die Wirkung auf
Homosexuelle zur Zeit noclı weitgehende Meinungsverschiedenheiten
bestehen.
Über die Wirkung der Steinachschen Unterbindung der Vasa
deferentia liegen zu einem-abschliessenden Urteil noch nicht genügend
einwandfreie Beobachtungen vor.
Die Sexualkonstitution wird wesentlich beeinflusst durch inner-
sekretorische Vorgänge. Ausser den Hoden spielen hier die Neben-
nieren, die Zirbeldrüse, die Hypophyse und die Schilddrüse eine
bedeutsame Rolle. |
Ob durch Operationen an diesen Organen in Zukunft in bezug
auf die Sexualkonstitution mehr als bisher zu erreichen ist, ist zur
Zeit nicht zu entscheiden.
Zur Soziologie des Geschlechtslebens.
Von
Dr. P. Krische.
Über die Soziologie des Geschlechtslebens heute vorzutragen, ist
noch etwas verfrüht, denn wie die Sexualwissenschaft ist auch die
Soziologie noch eine Wissenschaft der letzten Zeit, für die zunächst
noch mit grosser Mühe die erste Pionierarbeit zu verrichten ist und
die sich erst gegenüber den alteingeführten Wissenschaften durch-
setzen muss. Leider ist sie bisher besonders in Deutschland noch
eine Art Stiefkind, das von den Vertretern der alten Schulwissen-
schaft misstrauisch betrachtet wird. In anderen Ländern hat sich
dagegen die Soziologie einen beachteten Platz im grossen Bereich der
modernen Wissenschaft errungen. In Frankreich hat die Pariser
soziologische Schule von Dürkheim bereits internationalen Ruf er-
langt, in Brüssel hat das von Ernest -Solvay gegründete sozio-
logische Institut bahnbrechend gewirkt und im angelsächsischen Kultur-
gebiet finden schon seit Jahrzehnten die soziologischen Untersuchungen,
wie sie Morgan, Frazer, Havelock-Ellis und andere unter-
nommen haben, besondere Wertung und Schätzung. Ausgerechnet
Deutschland, in welchem die völlig auf soziologische Denkweise fussende
politische Bewegung des Sozialismus in einem Masse wie in keinem
Lande sonst die Massen beschäftigt, ist die wissenschaftliche Sozio-
logie noch so wenig anerkannt, dass wir auf den Hochschulen noch
keinen ordentlichen Lehrstuhl für diesen Wissenszweig besitzen.
Die Grundbegriffe der reinen Soziologie sind in Deutschland zum
ersten Mal in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von
Ferd. Tönnies in seinem Werke „Gemeinschaft und Gesellschaft“
auseinandergesetzt worden. Der Gesellschaft, in welcher wirtschaft-
lich verbundene Menschen ohne Gemeinschaft miteinander im Kampfe
174 P. Krische. [2
leben, stellt er die Verbindungen von Menschen gegenüber, die durch
irgend welche Gemeinschaft gekennzeichnet sind, so die Blutsverbin-
dungen, Mutter und Kind, Eltern und Kinder, Blutsverwandtschaft,
Sippe, die Gemeinschaftstriebe des Eros (Liebe und Freundschaft),
die Verbundenheit, Zusammengehörigkeit zur gleichen Scholle (Heimat)
und die Verbundenheit der Menschen, die zum gegenseitigen Schutz
sich zusammengetan haben (Staat, Nation). Diese Begriffe, die durch
Tönnies Werk wissenschaftliches soziologisches Gemeingut geworden
sind und bis in die Kreise der extremen Marxisten, wie Heinrich
Cunow, Anerkennung gefunden haben, sind doch noch richt derart
in das allgemeine, wissenschaftliche Bewusstsein eingedrungen, dass
sie allen geläufig sind, die sich mit dem Problem des Geschlechts-
lebens, also des Gemeinschaftstriebes des Eros, befassen. Ist es mir
doch noch in den letzten Jahren wiederholt begegnet, dass mich
ganz moderne Wissenschaftler gelegentlich meiner Kurse über Gemein-
schaftskunde fragten, was dies denn überhaupt wäre. Sie konnten
sich bei dem Wort Gemeinschaftskunde keine Vorstellung über eine
wissenschaftliche Disziplin machen. Das ist deshalb nicht zu ver-
wundern, weil, von Tönnıes und den ihm nahestehenden Kreisen
abgesehen, in der Soziologie aus sehr naheliegenden Gründen bisher
die gesellschaftlichen, also ökonomischen Probleme eingehender studiert
worden sind als die Gemeinschaftsprobleme. Das geht soweit, dass
selbst in einem Gebiet, in welchem das Triebhafte so ausserordentlich
massgebend ist, wie im Sexualgebiet, ökonomische Untersuchungen
gegenüber gemeinschaftskundlichen Untersuchungen vorwiegen. Ob-
wohl bisher letzte Erkenntnis immer wieder dahin führen musste,
dass der Eros in seiner Tiefe am besten als stärkster Gemeinschafts-
drang von bipolaren zu Einheit treibenden Kräften aufgefasst wird
und daher in erster Linie als Gemeinschaftsproblem behandelt werden
muss, sehen wir doch, dass in den bisherigen Abhandlungen über
die Soziologie des Geschlechtslebens diese psychologische Eigenart
nicht genügend gewertet wird. |
Das gilt besonders von denjenigen Werken, welche die Entwick-
lung des Geschlechtslebens vornehmlich vom ökonomischen Gesichts-
punkt aus behandeln. Hierzu ist die Arbeit des deutschen Soziologen
Müller-Lyer, „Die Phasen der Liebe“, zu rechnen, sowie das be-
kannte Buch von August Bebel, „Die Frau und der Sozialismus“.
Anders liegt es mit den vornehmlich psychologisch eingestellten Unter-
suchungen. Hier hat namentlich das Werk von Sigmund Freud,
„Totem und Tabu“, cine geradezu revolutionierende Wirkung aus-
geübt; auch die Arbeit der Ärztin M. von Kemnitz, „Die erotische
Wiedergeburt“ hat Beachtung gefunden.
3] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 175
Die Soziologie des Geschlechtslebens verdient insoweit ein leb-
haftes Interesse, als sich in ihr besonders scharf die verschiedenen
Theorien des Sozialismus prüfen lassen, die, solange es einen wissen-
schaftlichen Sozialismus gibt, bis auf den heutigen Tag am lebhaf-
testen erörtert werden und zweifellos geradezu das Zentralproblem
des Sozialismus bilden. Man kann geradezu von einer ökonomischen
und einer psychologischen Richtung sprechen, indem die eine den
Produktionsprozess, also die ökonomischen Bedingungen, die andere
dagegen die Triebanlagen des Menschen, also die psychologischen Be-
dingungen, als das Primäre im Gesellschaftsprozess ansehen. Es dürfte
wohl kein Gebiet der Soziologie geben, das so deutlich wie das des
Geschlechtslebens darauf hinweist, dass wir nur durch eine Synthese
der ökonomischen und psychologischen Bedingungen und Ursachen,
wie ich sie seit einiger Zeit vertrete, zu einer durchgreifenden Lösung
des Problems gelangen. `
Neben dieser ersten grundsätzlichen Entscheidung ist noch eine
zweite als Hauptproblem zu bezeichnen, nämlich die, ob man über-
haupt in der Natur und Gesellschaft, also auch auf dem Gebiet des
Geschlechtslebens, in einwandfreier wissenschaftlicher Form von einer
Entwicklung sprechen kann oder nicht. So ist bekannt, dass die
Naturwissenschaft gegenwärtig von dem von Haeckel vertretenen
Prinzip der Entwicklung, die er als höhere Mannigfaltigkeit des Auf-
baues (Differenzierung) und als höhere Art der Anordnung nach einem
Mittelpunkt (Zentralisierung) kennzeichnete, abrückt, weil man darin
den Versuch sieht, menschliche Wertung. in das Naturreich zu ver-
pflanzen, das bei sachlicher Untersuchung derartigen Wertbegriffen
nicht standhält. Man beobachtet darum, dass, während bei den Ver-
tretern der Naturwissenschaft eine Zeit die monistische Grundauf-
fassung vorherrschte, neuerdings wieder dualistische Begriffe mehr
als früher erörtert und als unentbehrlich betrachtet werden, welche
den Naturwissenschaften, die um keinerlei Wertfragen sich kümmern,
Geisteswissenschaften gegenüberstellen, deren Hauptproblem die Er-
örterung von Werten ist.
Die Soziologie steht in diesen Dingen auf einem anderen Stand-
punkt als die Naturwissenschaft. Wenn sie sich auch in der Richtung
der positivistisch arbeitenden Soziologie von den Begriften absoluter
Werte fernhält, so sieht sie doch insoweit eine Entwicklung vom
Niedrigen zum Höheren, als sie den Hauptnachdruck auf den Be-
wusstwerdungsprozess innerhalb der Gesellschaft legt. Sie begegnet
sich hier, wie leider noch viel zu wenig beachtet wird, mit der neuen
Richtung der Psychologie, die als Psychoanalyse von Siegmund Freud
begründet ist und die gleichfalls im Werdeprozess der Menschheit
176 P. Krische. [4
eine allmähliche Steigerung der bewussten Kräfte gegenüber den un-
bewussten Triebkräften in der Aufeinanderfolge einer mythologischen,
religiösen und wissenschaftlichen Epoche sieht. So bejaht also sowohl
die Psychoanalyse wie die positivistische Soziologie den Begriff der
Entwicklung, Sublimierung in der Form, dass sie im Werdeprozess
der menschlichen Gesellschaft eine Steigerung von Bewusstseinsinhalten
feststellt, also auch vom bewussten Gemeinschaftsinhalt.
Von diesem Grundsatz ausgehend, gelangt die Soziologie des Ge-
schlechtslebens zur Feststellung von Entwicklungsstufen im Verlaufe
der Entwicklung der Menschheit überhaupt. Für diejenigen, welche
sich mit soziologischen Problemen noch nicht befasst haben, muss
ich zur Verständigung einige einführende Erklärungen geben. Man
ist wohl allgemein in der Soziologie der Auffassung, dass unter den
Ursachen, welche die verschiedenen Formen der menschlichen Ge-
sellschaft hervorgerufen haben, in erster Linie wirtschaftliche Ursachen
stehen. Die verschiedenen Stufentheorien der Entwicklung der mensch-
lichen Gesellschaft bauen sich darum durchweg auf der Unterschied-
lichkeit wirtschaftlicher Formen auf. Besonders gut ausgearbeitet und
daher vielfach benutzt ist das System des Soziologen Müller-Lyer,
das er das phaseologische nennt, in welchem, wie in verschiedenen
anderen Theorien, ökonomische Eigenarten grundlegend für die Eigen-
arten der Stufenfolge sind. Natürlich sind solche Einteilungen wie
alle Einteilungen, die man sowohl in der Natur wie in der mensch-
lichen Gesellschaft. vornimmt, künstlich (gekünstelt). In Wirklichkeit
gibt es im Verlaufe der Entwicklung nicht so scharf getrennte Stufen
und Abschnitte, vielmehr sind dauernd zwischen den einzelnen Ent-
wicklungsphasen mannigfaltige Übergänge festzustellen. Trotzdem kommt
man ja nirgends ohne solche gekünstelte Schematismen aus, wenn
man sich ein klares Bild machen will. Die Hauptzäsur, die Müller-
Lyer in seinem Einteilungssystem vornimmt, ist die Begründung der
Städte. Was vor dieser Zeit liegt, gehört in das Gebiet der Natur-
völker, was nachher liegt, in das der Kulturvölker. Beide grossen
Hauptgruppen von Natur- und Kulturvölkern teilt er dann wieder
in zwei Entwicklungsabschnitte, die der Naturvölker in Wildheit und
Barbarei, die der Kulturvölker in Zivilisation und sozialistische Epoche.
Die Stufe der Wildheit zählt er vom Urmenschen bis zum Beginn des
Ackerbaues, die der Barbarei vom Beginn des Ackerbaues bis zur
Städtekultur. Die erste Stufe der Kultur rechnet er vom Beginn des
Städtebaues bis zu den Ansätzen gemeinwirtschaftlicher Einrichtungen,
während die zweite Stufe, die sozialistische Epoche, in deren Beginn
wir uns befinden, einstweilen nur durch die ersten Erscheinungen
gemeinwirtschaftlicher Art gegenüber dem privatwirtschaftlichen Ge-
5] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 177
füge der Zivilisation gekennzeichnet wird. In der Übersicht I findet
man Angaben, welche Vertreter der verschiedenen Entwicklungsstufen
früher und heute noch in der Menschheit vorhanden waren und sind.
Der Soziologe hat aus den bisherigen Studien entnommen, dass
es kein Bereich innerhalb der menschlichen Gesellschaft gibt, welches
sich den Einflüssen dieser ökonomischen Struktur zu entziehen ver-
möchte. Seine auf anderen Gebieten gemachten Feststellungen führen
darum zu der Analogie, dass auch auf dem Gebiete des Geschlechts-
lebens den wichtigsten ökonomischen Entwicklungsstufen bestimmte
eigenartige Phasen im Bewusstwerdungsprozess entsprechen.
Von der Urzeit des Menschen, der ersten Unterstufe.der Wild-
heit, der Zeit bis zur Erfindung von Sprache und Feuer, wissen wir
leider nichts, da deren Vertreter nicht mehr existieren. Nur die Tat-
sache, dass bei den höchst entwickelten Tieren allgemein eine Zeit
gesc!lechtlicher Erregung (Brunstzeit) mit Perioden eines schwachen
oder ausbleibenden Sexualtriebes abwechseln, lassen darauf schliessen,
dass der Mensch der Urzeit eine Paarungszeit besessen hat. Bei allen
Tieren richtet sich die Paarungszeit nach der günstigsten Periode der
Aufzucht der Jungen. Westermark nimmt darum in seinem bekannten
Werk über die Geschichte der menschlichen Ehe an, dass der Mensch
der Urzeit der nördlichen gemässigten Zone seine Paarungszeit -im
Dezember gehabt hat. Hier findet der im Dezember empfangene, im
September geborene Mensch zur herbstlichen Erntezeit die besten
Lebensbedingungen für die Eltern und auch für sich selbst. Statistisch
ist heute noch zu beobachten, dass in den nördlichen gemässigten
Ländern die im Herbst geborenen, also im Dezember empfangenen
Kinder die grösste Lebensfähigkeit besitzen.
Während die menschliche Urzeit leider unserer Beobachtung ent-
zogen ist, besitzen wir noch einige Naturvölker, die auf dem Stand-
punkt der nächst höheren Unterstufen der sogenannten niederen und
höheren Jäger stehen. Niedere Jäger sind namentlich die Australier,
Buschmänner, Zwergvölker, Eskimos. Auch hier lassen sich noch
bisweilen Reste einer Paarungszeit feststellen. Hingegen ist der
periodische Liebestrieb, wie er für die Urzeit angenommen wird und
wie er bei den höheren Tieren besteht, abgelöst durch einen Zustand,
in welchem das Geschlechtsleben wesentlich durch das Verlangen des
herrschenden Mannes bestimmt wird, soweit es nicht durch Gegen-
sätze der Nahrungsversorgung (Hungerperioden mit geringem, Über-
flussperioden mit starkem Trieb) beeinträchtigt wird. In dieser Epoche
ist die Frau nahezu vollkommen der Willkür des herrschenden Mannes
ausgeliefert, bestimmt also die Geschlechtslust des Mannes ausschliess-
lich das Geschlechtsleben. Nach F liess steht dem weiblichen Rhythmus
178 P. Krische. 6
von 28 Tagen ein männlicher von 23 Tagen gegenüber mit einem
Auf und Nieder auf allen Tätigkeits- und Willensgebieten, also auclı
im geschlechtlichen. Während der Unterstufe der Wildheit wird diese
männliche Periodizität in geringerem Masse in Betracht kommen
als die wesentlich bestimmendere Beeinflussung durch die Nahrungs-
beschaffung. |
Die Verhältnisse ändern sich gründlich mit der Einführung des
Ackerbaues, welche die beiden Stufen der Wıldheit und Barbarei
voneinander unterscheidet. Auch die Stufe der Barbarei wird in
drei Unterstufen geteilt, die der niederen Ackerbauer (indianischer
Ackerbau), der mittleren (malayische) und höheren Ackerbauer (Afrika).
Die Unterstufe der niederen Ackerbauer zeigt jene bemerkenswerte
und einzig im gesamten Entwicklungsverlauf der Menschheit auf-
tretende Periode des sogenannten Mutterrechtes, die man fälschlich
früher allgemein als dem Vaterrecht vorausgehend ansah. Heute ist
einwandfrei nachgewiesen, dass diese frühere Annahme einer überall
stattfindenden Entwicklung vom ursprünglichen Mutterrecht zum Vater-
recht durch die tatsächlichen Beobachtungen bei niederen und höheren
Jägervölkern nicht gestützt wird; das Mutterrecht ist vielmehr eine
Einrichtung, die man allgemein bei den niederen Ackerbauern findet,
dadurch hervorgerufen, dass die Frau, der von jeher das Sammeln
der Früchte und die Pflege des Feuers zugewiesen wurde, die auch
die erste Ausübende des Ackerbaues war, durch Einführung des
Ackerbaues den jagenden Männern gegenüber ein wirtschaftliches
und dadurch überhaupt gesellschaftliches Übergewicht erhielt.
Wir kommen so zu der merkwürdigen Periode des Mutterrechtes,
in welcher die Frauen an der Spitze der gesellschaftlichen Ordnung
stehen und dadurch auch int Geschlechtsleben den Rhythmus be-
stimmen. Die Phase des Mutterrechtes ist darum verbunden mit
einer solchen des weiblichen Rhythmus im Liebesleben. Doch diese
Epoche ist, wie sie wirtschaftlich nur kurze Zeit bestand, auch im
Geschlechtsleben nur von geringer Lebensdauer gewesen. Der als
Jäger wirtschaftlich zurücktretende Mann trat als Handelsvermittler
wieder in den Vordergrund und nun beginnt die Hauptepoche der
Barbarei mit ihrer patriarchalischen vaterrechtlichen Struktur. Die
Frau wird erneut, und diesmal unerbittlich, unterjocht und die Zweit-
klassigkeit der Frau bleibt in den folgenden Epochen bis auf unsere
Zeit bestehen. Von der mittleren Stufe der Barbarei etwa an bis
über sämtliche drei Stufen der Zivilisation bis in unsere gegenwärtige
Zeit beherrscht das Geschlechtsleben der mehr und mehr überreizte
männliche Rhythmus. Diese Perioden sind nicht ohne Entwicklung
geblieben, worauf das erste Mal mit besonderer Schärfe Müller-
7] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 179
Lyer aufmerksam gemacht hat, der drei Entwicklungsstufen der
Liebe unterscheidet; 1. die primitive Liebe des naiv tierischen Liebes-
empfindens, 2. die familiäre Liebe, in der die von ihm sekundäre
Gefühle genannten Erscheinungen der Eifersucht, der Wertschätzung,
der Keuschheit, der Elternschaft auftraten, und 3. die personale Liebe,
die er auch romantische Liebe nennt. Es werden hierbei zu sehr die
tatsächlichen Äusserlichkeiten, sowie Triebe der Elternschaft, die mit
dem Geschlecht an sich nichts zu tun haben, berücksichtigt, an Stelle
des rein erotischen. Mir scheinen folgende Unterstufen der Entwick-
lung in der grossen Epoche der patriarchalischen Kultur vorzuliegen:
Die erste, welche die Liebeswahl nach einem äusserlich bedingten
Typus vornimmt, und die zweite, bei welcher der geistige Typ mehr
und mehr die Übermacht bekommt. Jenes naiv tierische Empfinden,
wie es Müller-Lyer als erste Stufe annimmt, bei welchem auf den
Menschen jeder anders geschlechtliche Mensch geschlechtlich wirkt,
ist vielleicht niemals vorhanden gewesen. Beobachten wir doch schon,
wie jeder Tierzüchter bestätigen kann, bei den höheren Tieren eine
Liebeswahl nach Geschmacksempfinden, die oft sehr eigenwillig auf-
tritt. Wenn wir daher heute noch bisweilen Menschen sehen, welchen
jeder andersgeschlechtliche Mensch zu erregen vermag, so sehen wir
hier einen atavistischen Vorgang, der selbst über Entwicklungsstufen
der hochentwickelten Tiere in die Vergangenheit hinaufreicht. Sehr
weitverbreitet ist dagegen heute noch der Typ, der in der Epoche
der Barbarei begründet wurde und der äusserlich festgelegt ist. Das
trifft für die kleinen Männer zu, die sich für grosse, starke Frauen
interessieren, für die blondhaarigen, die die schwarzhaarigen vor-
‚ziehen, für die schlanken, welche die Korpulenz lieben und so fort.
Den Beobachtungen nach soll diese auf den äusseren Typ eingestellte,
aus der Entwicklungsstufe der Barbarei stammende Fixierung neuer-
dings in den depravierten Zirkeln von Berlin WW eine Auferstehung
finden, indem es Gebrauch ist, sich zu einem Typ zu bekennen. Das
Bekenntnis soll nicht selten sein, dass eine Frau gelangweilt von
ihrem Manne spricht, der nicht ihr Typ sei, und sich leidenschaftlich
zum Freunde bekannt, der ihren Typ vertritt. Wenn dieser äusser-
liche Typ auch weiter noch zweifellos eine Rolle spielt, so findet er
doch eine Verfeinerung durch die Einstellung auf den geistig be-
dingten Typ, wie wir es schon in der Minne- und Troubadurzeit des
Mittelalters finden, sowie in den späteren romantischen Epochen, in
denen die Zartheit, die Lieblichkeit, der mädchenhafte Charakter
verherrlicht werden. (Schillers Glocke: Denn wo das Strenge mit dem
Zarten, wo Hartes sich und Mildes paarten, da gibt es einen guten
Klang.) Naturgemäss kommt in dieser Epoche der Männerkultur die
180 P. Krische. [8
Frau sexuell nicht auf ihre Rechnung. Die Ärztin M. v. Kemnitz,
deren vielbesprochenes Buch Wiedergeburt der Erotik sich haupt-
sächlich mit dem Problem der geschlechtlichen Beglückung der Frau
befasst, sieht die Ursache in der Naturwidrigkeit, dass in der Männer-
kultur das überreizte männliche Geschlechtsverlangen die Beglückung
der Frau vernachlässigte und vor allen Dingen das uralte Naturgesetz
missachtete, dass beim Geschlechtsakt die Auslösung des Weibes vor
derjenigen des Mannes zu erfolgen hat. Findet doch schon bei den
Fischen erst die Ablage der Eier, darauf folgend die des Samens
statt. Nach M. v. Kemnitz sind 60°/o der deutschen Frauen beim
normalen Geschlechtsakt unbefriedigt, darum kühl, weil durch ihn
ihre Erleichterung der Geburt von der Vagina fortgelagerten Erre-
gungszentren nicht genügend gereizt werden. Wesentlicher ist natür-
lich, dass infolge der wirtschaftlichen Vormacht des Mannes
die weiblichen Bedürfnisse, wie auf allen Gebieten, so auch auf dem
des Geschlechtslebens vernachlässigt werden.
-Eine Änderung ist nach soziologischer Auffassung nur dann
durchgreifend zu erwarten, wenn die wirtschaftliche Benachteiligung,
welche die Frau durch ihre Mutterschaftsbürde dem Manne gegenüber
besitzt, dadurch aufgehoben wird, dass die Gesellschaft in Form einer
Mutterschaftsrente die gesamten Kosten für die Aufzucht der Kinder
übernimmt. Hierauf hat u. a. in allerdings etwas übertriebener Art
aber doch sehr scharfsinnig Kurt H. Busse in seinem Aufsatz über
die Sozialisierung der Frau hingewiesen, indem er darauf ausgeht,
dass zwangsläufig die Frauen im Kampf gegen die herrschenden
Männer eine Gewerkschaft gebildet haben, welche zum höchsten Tarif,
nämlich dem der lebenslänglichen Versorgung, ihre Jungfrauschaft
und ihre Hingabe gewährt hat, dass deshalb der allen sogenannten
anständigen Frauen gemeinsame Hass gegen die nichtanständigen in
erster Linie wirtschaftlich bedingt ist, ein Ausfiuss der Gewerkschafts-
solidarität, die in der billigen Hingabe eines Mädchens ohne den
Preis einer lebenslänglichen Versorgung einen Streikbruch erblickt.
Zweifellos wird die heute aus den Gründen der wirtschaftlichen Be-
nachteiligung der Frau noch nicht mögliche höhere Stufe im Liebes-
leben, welche auf eine verfeinerte Beglückung von Mann und Frau
ausgeht und nach den bisherigen Beobachtungen wahrscheinlich die
Fixierung auf eine Person mehr und mehr in den Vordergrund
rückt, erst dann möglich sein, wenn eine wirtschaftliche Gleichstellung
von Mann und Weib in dem von Busse vorgeschlagenen Sinne er-
zielt ist. So kann ich vor der Hand den gegenwärtigen Standpunkt
in der Gemeinschaftskunde des Liebeslebens durch folgende Leitsätze
kurz kennzeichnen:
9] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. | 181
Leitsätze zur Entwicklung und Gemeinschaftskunde
des Liebeslebens. `
1. Bei den gesellig (sozial) lebenden Menschen ist die Betätigung
der Geschlechtlichkeit, ursprünglich Arterhaltungstrieb, ebenso wie
die des Selbsterhaltungstriebes nicht nur eine rein persönliche (indi-
vidualistische), sondern zugleich eine soziale, in ihren Formen durch
die gesellschaftliche Entwicklung beeinflusste Angelegenheit.
2. Mit der Entstehung des Privateigentums im Zeitalter der
mittleren Ackerbauer wurde die Hörigkeit der Frau begründet. Nach
Fortfall des ursprünglichen Gemeineigentums kann die Horde ihre
Kinder nicht mehr gemeinsam erhalten, so dass die Mutter auf die
Versorgung durch den einzelnen Mann angewiesen ist. Erste Voraus-
setzung einer Regelung der geschlechtlichen Beziehungen ist darum
die Beseitigung der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Frau als Mutter
vom Manne, die nur durch die Mutterschaftsrente im wohlgeordneten
Staate gewährleistet ist, nicht etwa schon durch die Teilnahme der
Frau am Wirtschaftsleben. Auch der Mann muss der drückenden
Versorgungspflicht enthoben sein.
3. Mit der Verwirklichung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit
der als Mutter doppelt .belasteten Frau ist das Geschlechtsproblem
nicht gelöst. Die Geschlechtlichkeit wirtschaftlich freier Frauen und
Männer ist ein Betätigungsgebiet neuzeitlicher Gemeinschaftskunde
mit bestimmten Entwicklungsgesetzen, die durch die Eigenart des
Eros bestimmt werden, sobald er, befreit von der wirtschaftlichen
Belastung und sittlichen Verpönung, zu seiner reinen Entfaltung ge-
langen kann.
4. Die Entwicklungslinie des Eros zeigt eine Aufwärtsbewegung
in dem Gemeinschaftserlebnis. Ursprünglich diente der Geschlechts-
trieb lediglich der Arterhaltung und tritt periodisch mit starken
Brunstzeiten und neutralen Zwischenzeiten auf. In Art und Aus-
führung ist er unverfeinert und ein persönliches Liebesverhältnis ist
unbekannt. Schon im Leben der höheren Tiere setzen auslesende
Neigungen ein. Männchen und Weibchen werden nur bei bestimmten
Eigenschaften des andersgeschlechtlichen Wesens, auch in der Brunst-
zeit, geschlechtlich erregt. Mit wachsender Verfeinerung (Sublimie-
rung) ergeben sich Anzeichen, dass die Entwicklung in der Richtung
auf Einstellung zu einem einzigen Wesen des anderen Geschlechts abzielt,
was natürlich mit der unauflöslichen einmaligen Einehe (bürgerliche
Zwangsmonogamie) nichts zu tun hat. Erschreckend ist heute noch
die Rückständigkeit auf diesem Gebiete in der kapitalistischen Ge-
sellschaft mit der Prostitution, der groben Mannesbrutalität, der
182 P. Krische. [10
völligen V-ersklavung der Frau im Erotischen, alles notwendige Folge-
erscheinungen der heutigen Zwangsehe und der Wahlunfreiheit des
Weibes.
5. Eine zweite Gesetzmässigkeit der erotischen Entwicklung ist
durch die Naturanlage bedingt. Der werbende Mann hat nicht, wie
bisher, lediglich seine eigene Beglückung ohne Rücksicht auf die
weibliche Geschlechtlichkeit zu verlangen und durchzuführen. Die
Erzielung der Beglückung der Frau ist durch ihre Mutterbürde er-
schwert und differenziert von der des Mannes. Diese Verschieden-
artigkeit muss in der Geschlechtlichkeit des Mannes berücksichtigt
werden, um die Frau aus der heutigen Not mangelhafter geschlecht-
licher Beglückung zu befreien. Nicht Hingabe, sondern Gewäh-
rung mit erzielter Beglückung ist höhere Form der Erotik bei
der Frau, so dass von nun ab das Geschlechtserlebnis auf voller
Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung zum wahren Gemeinschafts-
erlebnis wird.
6. Die Förderung der geschlechtlichen Beglückung zu dem blossen
Zweck der Fortpflanzung ist nicht, wie die christlich-asketische An-
schauung vertritt, ein Zeichen der Entartung und Verkommenbheit.
Wohl sind die durch die kapitalistische Gesellschaft eingeführten
oder verursachten geschlechtlichen Ausschweifungen und Verkümme-
rungen gemeinschaftsarme, krankhafte Entartungsgebilde. Die Auf-
wärtslinie geschlechtlicher Beglückung vertritt dagegen schöpferische
und wertvolle Arbeit im Sinne neuzeitlicher Gemeinschaftskunde.
Der vollkommen beglückte Mensch wächst in seinem Gemeinschafts-
erlebnis in der Erstarkung seiner sozialen Triebe. Der Nichtbeglückte,
sowohl jener der unverfeinerten Befriedigung wie der den Trieb er-
zwungenermassen Verdrängende, wird in seinem Gemeinschaftssinn
beeinträchtigt, wird brutal oder verbittert, gerät unter die Fuchtel
asozialer Triebe, unter denen die der Grausamkeit die furchtbarsten
soziologischen Auswirkungen hervorrufen. Die Geschichte menschlicher
Tyrannei, Grausamkeit und Blutgier ist zum Teil Geschichte der miss-
glückten Lösung des Geschlechtsp: blems.
11] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 183
Literatur.
1. L. Morgan, Die Urgesellschaft. 2. Aufl. Verlag Dietz Nachf. Stuttgart
1908. |
2. Havelock-Ellis, Geschlecht und Gesellschaft, Grundzüge der Soziologie
des Geschlechts. 2 Bde. 2. Aufl. Verlag Kabitzsch. Leipzig 1922/23.
3. Ferd. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen
Soziologie. 4. Aull. Verlag Curtius. Berlin 1922. í
4. F. Müller-Lyer, Phasen der Liebe. 2. Aufl. Verlag Albert Langen. München
1918. I
5. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus. Verlag Dietz Nachf.
Stuttgart.
6. S. Freud, Totem und Tabu. Internationaler psycho-analytischer Verlag.
Wien 1918.
7. M. von Kemnitz, Erotische Wiedergeburt. Verlag Reinhardt. München
1918.
8. E. Haockel, Welträtsel. Verlag Strauss, Bonn a. Rh. Volksausgabe:
Verlag M. Kıöner.
9. F. Müller-Lyer, Phasen der Kultur. Verlag Albert Langen München 1918.
10. Kurt H. Busse, Die Sozialisierung der Frau. Der Sozialist. Berlin W.
1920. 8 S
11. P. Krische, Gemeinschaftskunde Verlag A. Hoffmann. 1921.
12. P. Krische, Soziologie der Ehe. Verlag Gesellschaft proletarischer Frei-
denker. Dresden 1923.
Archiv für Frauenkunde. Bd. 1X. H. 3. 13
184 P. Krische, Zur Soziologie des Geschlechtslebens. [12
Die Entwicklungsstufen im Liebesleben.
Natur Ent-
i li ickl f Entwi f
a a e e See
Kultur| abschnitte
a) --(Urzeit)-- (ausgestorben). Periodischer Liebes-
trieb.
b)Niedere Jäger: Australier, Zwerg- |\ Vorstufezum geschlecht-
völker (Negritos), Buschmänner, Feuer- |} lich bedingten Rhyth-
länder, Eskimos (Diluvialmensch). mus im Liebesleben
Wildheit (Rhythmus des Man-
c) Höhere Jäger: Nordamerikanische || nes), beeinflusst durch
Jägerstämme (Kalifornier, Apatschen, || Gegensätze der Nah-
Kommantschen). rungsbeschaffung.
Fischervölker: Italmenen, Alanten, | (Hungerperioden =
Giliaten, Thlinkit usf. schwaches;
Überflussperioden —
starkes Triebleben.)
Natur-
völker A — —
Bestimmung des Liebes-
lebens durch den weib-
lichen Geschlechts-
rhythmus (Mutter.
recht).
| a)Niedere Ackerbauer: Indianische
| Ackerbauer, Papuas, Malayen usw., von
| den Polinesiern nur die N Eusseländer.
|
|
und melanesische Ackerbauer.
Hirtenvölker: Asiatische und afri-
kanische Hirtennomaden;; Germanen des
Tacitus.
|! Barbarei
c)Höhere Ackerbauer: Ozeananische
und afrikanische Ackerbauer. Homerische
Griechen, Römer unter den Königen,
Ee E ————
b)Mittlere Ackerbauer: Malaiische
Germanen bis zum früheren Mittelalter. I
en Niedere Zivilisierte: Altamerikani- || Der überreizte männ-
sche Kulturvölker, Assyro-Babylonier, |{ liche Rhythmus be-
Ägypter, Chinesen, Griechen bis Solon, || stimmt das Liebes-
Römer bis zu den punischen Kriegen, || leben.
'Zivilisation' Jomanisch-germanische Völker im Mit- || Allmählich Einstellung
telalter. der Liebe auf:
Kultur b)Mittlere Zivilisierte: Griechen von a) einen äusserlich be-
völker Solon ab, Römer nach den punischen dingten Typus,
Kriegen, Romanisch-germanische Völker
bis zum 18. Jahrhundert.
c)Höhere Zivilisierte: Romanisch-
germanische Völker im 19. E NACEN
b)einen geistig be-
dingten Typus.
Sozialisti- a) Niedere Sozialisierte: Romanisch- | Beglückung von Mann
sche Zeit germanische Völker im 20. Jahrhundert.| und Frau im Liebes-
leben (Fixierung auf
| | eine Person).
Sexualwissenschaft und Sexualreform in den
Vereinigten Staaten ’').
Ein Reisebericht
von
Arthur Weil, Berlin.
Wenn man sich zum vergleichenden Studium zweier Völker ein Gebiet
heraussuchen will, auf dem alle Völker der Erde etwas Gemeinsames haben,
dann gibt es wohl kein geeigneteres als das menschliche Liebesleben, und ler
Versuch, zu schildern wie der allen gemeinsame Urtrieb unter dem Einfluss
der Rasse, des Milieus, der Kultur umgestaltet, entwickelt oder gehemmt wird,
führt mitten in die allgemeinsten Probleme des Familien- und Staatenlebens
hinein. Wenn ich heute Abend den Versuch unternehme, von meinem Stand-
punkte als Biologe und Sexualforscher aus alle die mannigfaltigen Erfah-
rungen und Beobachtungen eines sechsmonatlichen Studiums zusammenzu-
fassen, so bin ich mir dabei vollkommen der gewollten Einseitigkeit dieses
Standpunktes bewusst; ein Politiker, ein Dichter oder ein Pädagoge würde das
ganze Problem vielleicht durch eine andere Brille sehen; aber wenn man
schliesslich alle diese verschiedenen Beobachtungen zusammenfasste, ergäbe
sich doch eine gemeinsame Basis, ein gemeinsamer Grundzug, der als charakte-
ristisch für das Volk der Vereinigten Staaten Nord Amerikas zu gelten hätte. —
Hier springt sofort die Frage auf: gibt es denn überhaupt einen Typus „Ameri-
kaner“, ist es nicht ein absurdes Unterfangen dieses Völkergemisch als Einheit
zu betrachten vom Osten an, von den Ufern des Atlantischen Ozeans mit der
angelsächsischen und germanischen alten Bevölkerung nach den Südstaaten mit
Franzosen und Negern bis zu den Ufern des Pazific mit Spaniern, Chinesen und
Japanern, alle Teile vermischt mit italienischen, jüdischen, slawischen Ein-
wanderem und anderen Rassen des alten Europas, die alle wie ein Wall die
Urbevölkerung, die Indianer, in den Zentralstaaten umgeben und allmählich
erdrücken? Ja, es entwickelt sich ein solcher Typus „Amerikaner; in dem
grossen „smelting pot“ werden alle diese mannigfaltigen Individuen zu neuen
Menschen umgeschmolzen, und wenn auch die erste Generation nur wenig von
der alten Eigenart verliert, so besteht doch die zweite schon aus der neuen
Schmelze, und nur einzelne Schmelzstreifen erinnern noch an die ursprüngliche
1) Vortrag, gehalten am 20. April 1923 in der ärztlichen Gesellschaft für
Sexualwissenschaft und Eugenik in Berlin.
13*
186 Artbur Weil. [2
Akstamınung. Der am meisten auffallende Grundzug dieses neuen Typus ist
seine Jugendfrische, ja man kann sagen Kindlichkeit, ein nicht zu bändigendes
Kraftgefühl verbunden mit Schaffens und Ausdehnungsdrang, der die unge-
hobenen Schätze des jungfräulichen Bodens sich in einem Tempo erobert, das,
wie z. B. beim Holz und beim Öl, Erschöpfung in bedrohliche, 'berechenbare Nähe
rückt. Verbunden damit ist eine erstaunliche Fähigkeit zu ordnen und zu
organisieren, ein Sinn für Zahlen und Systeme, der nicht nur dem Wirtschafts
leben seinen Stempel aufdrückt, sondern der auch charakteristisch für das
wissenschaftliche und politische Leben ist. Der schnellwachsende Reichtum
erzeugt ein Gefühl der Selbstsicherheit und des Machtbewusstseins, das ihn
oft mit einem Gefühl des Mitleides auf die verarmenden Völker des alten
Europas blicken lässt, ohne dass sich damit aber Anmassung oder Selbstüber-
hebung gepaart hätte. Aus diesem Gefühl des Mitleides heraus entspringt auch
die ldee, der übrigen Welt Retter und Herr sein zu können, wie es kürzlich
Ray, Stannard Baker so schön in den Memoiren und Dokumznten
Woodrow Wilsons geschildert hat. Alles in allem, um einen etwas
groben Vergleich zu gebrauchen, Kinder an der Grenze der Mannbarkeit, mit
der ganzen Impulsivität, dem Idealismus und der Unbekümmertheit ihres Alters,
die sich auf die alten Überlieferungen ihrer Vorfahren stützend eine ‚neue ‚Kultur
autbauen; ein Symbol: das Woolworth building, ein in die Wolken ragendes
Geschäftshaus in altgotischem Stile.
Diese Charakteristik erleichtert uns etwas das Verständnis für die Sexual-
psyche des Durchschnittsamerikaners, für all die mannigfaltigen reformatori-
schen Bestrebungen, eine eigene Sexualethik zu schaffen, durch Reformen die
aus der alten Welt mitgebrachten Normen zu verbessern and eigene neue zu
bilden. ` Zwar wear die Peinlichkeitsschranke, die der Kulturmensch sich vor
seiner eigenen Sexualität errichtete, bis vor etwa einem Jahrzehnt drüben noch
höher als bei uns, aber" so sagte mir der Sekretär einer grossen sozial
hygienischen Gesellschaft, „wir machen nicht die Fehler, die Sie drüben be-
gangen haben und versuchen mit dem Kopf diese Mauer einzurennen, sondern
wir gehen um die Wand herum und kommen schneller zum Ziel.“ Und wie
dieser Weg „um die Mauer herum‘ verläuft, will ich in den folgenden Aus-
führungen zu schildern versuchen. |
Einen Verein für Sexualwissenschaft, Sexualreform usw. gibt es drüben
nicht; ich habe nirgends das Wort „sexual‘‘ in diesem Zusammenhange gelesen ;
man sprach immer nur von „social hygiene‘‘ oder „public health“, man liess
also das spezielle Problem der Sexualität in dem grösseren der öffentlichen
Gesundheitspflege aufgehen, vermied dadurch den Schock, den das Wort bei
den meisten Menschen noch auslöst und gewann so ‚grosse Kreise zur Mitarbeit,
die nie sich mit der Erörterung sexueller Fragen sonst beschäftigt hätten. — Was
die wissenschaftliche Behandlung des Sexualproblems anbelangt, so wird sie
jetzt staatlich unterstützt, ist Gegenstand der Universitätsforschung geworden.
Zwar hat man die Sexualwissenschaft nicht als besonderes Gebiet für sich
heraus gelöst, aber der „National Research Council“ hat seiner
Unterabteilung „Division of medical sciences“ ein „Committee for re-
searchonsex problems‘ angegliedert, dessen Sekretär Mr. Earl F. Zinn
ich tür seine Auskünfte zu grossem Danke verpflichtet bin. Die Mitglieder dieses
Komitees vertreten die verschiedensten Forschungsrichtungen: WalterB. Can-
non, M. D. Physiologie, Katharine Bement Davis, Ph. D. Soziologie,
Frank R. Lillie, Ph. D. Physiologische Chemie, Thomas W. Salmon,
M. D. und Robert M. Yerkes, Ph. D. Psychologie. Die Aufgabe des
Komitees ist, sich dauernd über wissenschaftliche Forschungsarbeiten, die
sich in den angedeuteten mannigfachen Richtungen mit der Frage der Sexualität
befassen, auf dem Laufenden zu erhalten, Arbeiten in einer besonderen Bibliothek
zu sammeln, Anfragen zu beantworten und vor allem die Beantwortung spezieller
Fragen durch Bereitstellung von Geldmitteln, die von dem Komitee verwaltet
3] Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 187
werden, an bestimmte Forscher zu fördern. Staunend und :bewundernd hört der
Deutsche von den Gekdmitteln, die hier zur Verfügung stehen und von der Be-
reitwilligkeit der Zentralregierung, die Forschung über Sexualprobleme zu
unterstützen; daneben werden auch von öffentlichen Gesellschaften, Stiftungen,
industriellen Unternehmungen und Privatpersonen Mittel zur Verfügung ge-
stellt, um diese spezielle wissenschaftliche Forschung zu fördern. Um ein
einschlägiges Beispiel zu geben, erwähne ich, dass der National Research
Council z. B. die Arbeiten des Professors Lillie in Chicago über Keimdrüsen-
extrakte unterstützt oder sich an der Aufstellung eines Standardwerkes über
Sexualpädagogik beteiligt. — Der National Research Council als solcher ist
eine verhältnismässig junge. Einrichtung, die 1916 durch eine Verfügung des
Kongresses begründet wurde, und die eine Zusammenfassung sämtlicher wissen-
schaftlichen und technischen Gesellschaften der U.S.A. bezwecken soll —
eine gewaltige wissenschaftliche Organisation, die kein Gegenstück auf der Erde
hat, und die in ihren sieben Unterabteilungen (divisions) sämtliche Zweige ‘unseres
heutigen Wissens umfasst. Sie gibt selbst nur einen jährlichen Bericht heraus,
aber den angeschlossenen Gesellschaften und mit ihr arbeitenden Wissen-
schaftlern steht das government printing office in Washington zur Verfügung,
das zum Selbstkostenpreis druckt und verkauft.
Was die Forschungsrichtung in der Sexualwissenschaft anbelangt, so
schien es mir, als ob die biologische gegenüber der rein psychologischen all-
mählich an Boden gewinnt, wenn auch vielleicht hier mein Urteil nicht ganz
objektiv sein dürfte. Die Lobre von der Inneren Sekretion ist Gemeingut der
Mediziner geworden, und hat leider auch zu Extremen geführt, geschäftlicher
Ausbeutung oft wertloser Drüsenpräparate, die voraussetzungs- und wahllos von
nicht geschulten Ärzten verordnet werden. Einzelne Kliniken haben sich mit
Erfolg bemüht, bestimmte, scharf umrissene innersekretorische Erkrankungen .
besonderen Spezialärzten zu überweisen, die eine inkretorische Klinik abhalten.
Ich traf eine solche an dem früheren deutschen, jetzt Lenox Hill Hospital in
New York unter Leitung von Dr. A. S. Blumgarten und ‘an dem neurologi-
schen Hospital unter Dr. Timme. Unabhängig von uns haben diese Forscher,
vor allem der erstere schon die Abhängigkeit der Sexualität von der Konstitution
erkannt. Ähnlich den Kretschmerschen Typen heben sie dort vor allem als gut
durch inkretorische Veränderungen gekennzeichnet den „hypophysis und adrenal
type hervor, den einen mit weicher, matter Haut, zum Fettansatz neigend,
mit geringem Haarwuchs, besonderer Stellung und Form der Zähne und Knochen,
der zweite mit typischer, gesteigerter nervöser Frregbarkeit, hohem Blutdruck
und Pulszahl, abweichendem Haarwuchs und Hautbeschaffenheit. Der erstere
Typ soll zum Eunuchoidismus neigen, und auch Blumgarten hatte schon
unabhängig von mir gefunden, dass er psychosexuell sehr oft abweichendes
Verhalten zeigt, Entwicklungshemmungen, Homosexualiät und Infantilismen. —
Grosses Interesse wird der Erblichkeitsforschung entgegengebracht, mich inter-
essierten vor allen Dingen die grosszügigen Untersuchungen Morgans, die
er mit den reichen Mitteln der Carnegie-Stiftung ausführt. — WasdieSteinach-
schen Transplantation- und Ligaturoperationen anbelangt, so werden sie drüben
ebenso widerspruchsvoll beurteilt wie hier. Von guten Erfolgen berichtet
beispielsweise Victor G. Vecki in San Franzisko, und Dr. Max Thorek,
der Direktor des American hospitals in Chicago, demonstrierte mir an Präparaten
die guten Frfolge, die er mit Überpflanzung von Affenhoden mit seiner neuen
supraperilonealen Transplantation erzielt hatte. — Besondere ärztliche Ge-
sellschaften für Sexualwissenschaft fehlen in den U.S.A. Dagegen hat der auf
dem Gebiete sexueller Erziehung und Aufklärung hochverdiente New Yorker
Arzt William J. Robinson zusammen mit Dr. S. A. Tannenbaum
jetzt eine neue Zweimonats-Zeitschrift herausgegeben, das „Journal of Sexology
and Psychanalysis‘, das im Januar dieses Jahres zum ersten Male erschien,
und welches das grosse Gebiet umfassend sowohl vom biologischen als auch
vom psychologischen Standpunkte aus behandeln will.
188 | Arthur Weil. [4
Während so auf wissenschaftlichem Gebiete noch alles jung und im Werden
begriffen ist, haben die Amerikaner auf dem Gebiete der Sexualreform mit der
ihnen eigenen Grosszügigkeit, ihrem Sinn für Organisation und gestützt auf
fast unerschöpfliche Mittel praktische Arbeit geleistet und schöne Erfolge erzielt.
Alle die in Betracht kommenden Probleme: Bekämpfung der 'Geschlechtskrank-
heiten und der Prostitution, sexuelle Erziehung und Aufklärung, Mutterschutz,
Geburtenkontrolle und andere eugenische Fragen werden gemeinsam nach be-
stimmten Richtlinien von dem National Health Council (wir würden
sagen: nationaler Gesundheitsrat) zu lösen versucht. Ihm gehören die folgenden
Vereinigungen an, von denen jede einen Repräsentanten und Stellvertreter
entsendet: 1. American public health association, 2. American red cross,
3. American social hygiene ıassociation, 4. American society for the control of
cancer, d. Conference of State and Provincial health authorities of North America,
6. Council on health and public mstruction of the american medical association,
7. National child health council, 8. National committee for mental hygiene, 9. Na-
tional organization for public health nursing, 10. National tuberculosis association.
Als beratendes Mitglied ist der United States Public health Service, der vielleicht
unserem Gesundheitsministerium entsprechen würde, durch zwei Ärzte ver-
treten. Der Sekretär des Rates Mr. Walter Clarke hat mir in dem New
Yorker Zweigbureau in liebenswürdiger Weise alle Auskünfte über die Organi-
sation gegeben, wofür ich ihm auch an dieser Stelle noch einmal verbindlichst
danken möchte,
Die wichtigste, besonders für die Sexualrefprm in Betracht kommende
Vereinigung, die also dem Committee for research on sex problems in dem
National Research Council entsprechen würde, ist de American Social
Hygiene Association, auf deren Bestrebungen ich an dieser Stelle aus-
führlicher eingehen möchte. In Erläuterungen und Informationen, die sich über
mehrere Tage erstreckten, haben mir die Herren Dr. M. J. Exner, Walter
Minson Brunet und Raye Evert die Entwicklung und die jetzige
Tätigkeit dieser Vereinigung geschildert, die aus kleinsten Anfängen, der auf-
opfernden Hingabe einzelner Ärzte entstanden ist, und die sich während des
Weltkrieges unter staatlichem Schutz und Beistand zu einer mächtigen Organi-
sation entwickelt hat, die von ausschlaggebender Bedeutung für die sexuelle
Hygiene in den Vereinigten Staaten geworden ist. Ihrem eigentlichen Wesen nach
ist sie eine rein private Gesellschaft, die aus Einzelmitgliedern und korporativ
keigetretenen Vereinigungen besteht. Das Zentralbureau in New York hat
verschiedene Abteilungen: für wissenschaftliche Forschung, Propaganda, Presse,
öffentliche Aufklärung (Vorträge, Filme usw.), die meistens von Ärzten oder
Pädagogen geleitet werden. Ihr Organ ist das jetzt im 9. Bande erscheinende
Journal of Social hygiene, das wertvolle Aufsätze über alle Gebiete der
Sexualwissenschaft und Sexualreform bringt. mit Besprechung der einschlägigen
Literatur und den Berichten der Gesellschaften, das also unserer Zeitschrift
für Sexualwissenschaft und Eugenik entsprechen würde. Die Tätigkeit der Gesell-
schaft besteht in der Veröffentlichung und Verbreitung aufklärender Broschüren,
in der Veranstaltung von Kursen für Ärzte, Lehrer und Eltern, in der Ent-
sendung von Vortragenden an die verschiedenen Universitäten, Schulen und
Provinzialvereinigungen, in der Herstellung und im Vertriebe von wissenschaft-
lichen und Lehrfilmen. Sie erfüllt damit als private Organisation dieselbe Auf-
gabe, die schon vorher der Federal Behörde, dem Public Health Service in
Washington gestellt worden war, und die neuerdings auch von den Gesundheits
ämtern der einzelnen Staaten übernommen werden, die sich ganz nach dem
Vorbilde der zentralen Behörde richten, ohne dieser unterstellt zu sein. Der
Unterschied zwischen diesen einzelstaatlichen Gesundheitsämtern und der Social
Hygiene Association besteht darin, dass bei den ersteren die sexuelle Hygiene
nur ein Teilgebiet ist, während sie bei der letzteren das Hauptziel bildet.
Um uns nun ein Bild davon machen zu können, wie diese verschiedenen
5] Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 189
Organisationen arbeiten und was sie erreicht haben, ist es nötig, systematisch
vorzugehen. Wir wollen darum der Reihe nach betrachten 1. die Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten und der Prostitution, 2. die sexuelle Erziehung und
Aufklärung.
In der Bekämpfung der venerischen Erkrankungen hat
der Staat aktiv eingegriffen durch Bereitstellung grosser Mittel, für das Etatsjahr
1923 allein 400000 Dollars, von denen die eine Hälfte proportional der Be-
völkerung den Gesundheitsämtern der Einzelstaaten überwiesen wird, während
die zweite Hälfte zur Verfügung des zentralen public health service steht. Vor-
aussetzung für die Beitragsleistung an die Einzelstaatsbehörden ist, dass durch
Gesetzgebung folgende Mindestleistungen erfüllt sind: a) Regelmässige Berichte
der Ärzte an die lokalen Gesundheitsämter, b) Bestrafung bei Unterlassung der
Anzeige, c) Feststellung der Infektionsquellen, d) Strafbarkeit bei Verbreitung
einer Geschlechtskrankheit, e) Zwangsmassnahmen gegen Personen, die wissent-
lich Infektionen verbreiten, f) Kontrolle der Reisen infizierter Personen, g) obli-
gatorische Flugblätter durch die Ärzte. — Mit den Einzelstaatlichen Gesund-
heitsämtern steht die Bundeszentrale in Washington wieder durch einen be-
sonders ernannten Delegierten in Verbindung, dem folgende Aufgaben ob-
liegen: a) Sammlung der Meldungen, b) Anordnung zwangsweiser Behandlung,
c) Einrichtung von diagnostischen Instituten, d) Aufklärung der Kranken und
des gesunden Publikums, e) Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden in der
Bekämpfung der öffentlichen und geheimen Prostitution, f) ausführliche Berichte
über die einzelnen behandelten Fälle, insbesondere über die Mengen des an-
gewandten Arsenphenamins (Salvarsans). — Durch örtliche Sammlungen auf-
gebrachte Fonds müssen zusammen mit den Staatsbeiträgen verwandt werden. —
Hinzuziehung privater Vereinigungen in dem Abwehrkampfe. — Gesetze gegen
„advertising specialists“ (Pfuscher). Erhöhung der Staatsbeiträge, wenn Land.
oder Marinestreitkräfte in den betreffenden Staaten in Garnison liegen. — Die
Verteilung der Beiträge ist folgende: 50% für Behandlung und Arzneien, 200%
tür Aufklärungsarbeit, 20% für Prophylaxe, 10% für allgemeine Verwaltungs-
zwecke. Doch können diese Verteilungsvorschriften nach Übereinkunft mit der
Zentrale geändert werden. — Alle Staaten, welche diese Minimalbedingungen
in ihrer Gesetzgebung erfüllen, sichert der public health service weitgehendste
Unterstützung, Beratung und Lieferung von Arzneimitteln zu.
Der Erfolg dieser grosszügigen Massnahmen ist eine deutliche Abnahme
der venerischen Erkrankungen. Zu den bestehenden 542 öffentlichen Kliniken
kamen 1922 95 neue hinzu, 34 wurden geschlossen. Bemerkenswert ist, dass
1922 42,600 derjenigen Personen, welche die Klinik aufsuchten als nicht er-
krankt wicder entlassen werden 'konnten — ein Beweis dafür, dass die Auf-
klärung zur Vorsicht erzogen hat. Die Zahl der geheilten Syphiliserkrankungen
hat seit 1921 von 184090 auf 171824, die an Gonorrhöe von 189927 auf
152959 abgenommen. — An die Staatskliniken waren 517250 Dosen arsen-
phenamin (der Ersatz des Salvarsans) versandt, 3% weniger als 1921.
Diese aktive Tätigkeit wurde weiter durch eine ebenso grosszügige Auf-
klärungsarbeit unterstützt. 1920 wurden nicht weniger als 8 Millionen Flug-
schriften verteilt, die aber durch Einschränkung der zur Verfügung gestellten
Mittel auf 2 Millionen zurückgingen. Die Zahl der veröffentlichten Publi-
kationen betrug 71. Daneben 'wurden aufklärende Filme hergestellt, die ver-
lieben wurden oder von ‘den Beamten selbst vorgeführt wurden, und in 16 public
healt Instituten wurden Lehrkurse für Erwachsene abgehalten. Alle diese
Massnahmen zeigen aber seit 1920 eine Abnahme der Zahlen; so wurden z. B.
1922 nur 6931 Vorlesungen gehalten gegen 12360 1920. Doch scheint auch
diese Abnahme nicht so sehr dem erlahmenden Interesse oder dem Mangel an
Tätigkeit von seiten der Gesundheitsbehörden zu entspringen, als vielmehr der
Tatsache, dass die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und die Aufklärung
über ihr Wesen jetzt auch von vielen privaten Vereinigungen aufgenommen
190 Arthur Weil. [6
worden ist, vor allem von der American Social Hygiene Association, deren
grosses Verdienst es war, bei Eintritt der Staaten in den Weltkrieg den Kongress
auf die Bedeutung der Prophylaxe und systematischen Bekämpfung aufmerksam
gemacht und dadurch eine weite Verbreitung der venerischen Erkrankungen
verhindert zu haben. Wie gross diese Gefahr war, beweist eine statistische
Zusammenstellung über die Zahl der Erkrankungen bei den eingezogenen
Rekruten, die von 2,03% bis maximal 27,45% in den einzelnen Städten
schwankten: am verseuchtesten waren hierbei die Südstaaten Texas, Florida,
Georgia, Nord-- und Südkarolina. Die Social Hygiene Association
arbeitet in derselben Weise wie der public healt service durch Aufklärungs-
vorschriften, Vorträge und Filme, unterhält aber keine Kliniken und gewährt
keine Behandlung durch eigene Ärzte. Ich sah dort einen vorzüglichen Lehrfilm,
der in anschaulicher Weise die Diagnose und Behandlung von Syphilis und
Gonorrhöe vorführte, und der auch vor allen Dingen im klinischen Unterricht
wertvolle Hilfe leisten dürfte. — Völlig nach aussenhin gelöst ist das
Problem des Abolitionismus; mit Stolz konnte mir der Sekretär Mr. H. H.
Moode in der Zentrale in Washington 2 Karten der Vereinigten Staaten zeigen,
eine ältere, die bunt von roten Flecken war, welche die Städte mit Bordellen
anzeiglen, und eine aus dem Jahre 1922, in der sämtliche Flecken ver-
schwunden waren. Prophylaktisch sucht man die Prostitution dadurch zu
bekämpfen, dass in einzelnen Staaten nicht nur die gewerbsmässige Prosti-
tuierte, sondern auch der mit ihr verkehrende Mann bestraft wird, dadurch,
dass man Erziehungsheime und Landgüter für strafentlassene Mädchen ein-
richtet, und dass man sich vor allem schwachsinniger Mädchen annimmt, ‘die in
besonderen Schulen erzogen werden. In New York hat sich unter Leitung des
Pastors Sumner eine „league against the vice‘‘ gebildet, die sich die Be-
kämpfung der Strassenprostitution und dann allgemeiner die Bekämpfung des
Schmutzes in Wort und Bild zur Aufgabe gemacht hat. — An dieser Stelle
möge auch der besonders seit Beendigung des Krieges energisch durchgeführte
Kampf gegen den Alkohol erwähnt werden, die „prohibition‘‘, die Bestrafung
des Verkaufes und Kaufes alkoholischer Getränke mit einem Gehalt von mehr
als 1/5006. Als ich meine Reise antrat, war ich überzeugter Anhänger der
staatlichen Prohibition; aber die Erfahrungen, die ich während meines Aufent-
halles gemacht habe, zeigten mir, dass die Nebenwirkungen der gesetzlichen
Bekämpfung oft schlimmer sind als die Wirkungen des Alkohols selbst. Nicht in
physischer Beziehung, denn die durch Alkoholgenuss bedingten Erkrankungen
haben bedeutend nachgelassen, aber in moralischer Beziehung, denn die ge-
waltsame Unterdrückung hat ein System der Korruption und Heuchelei erzeugt,
das alle Kreise der Bevölkerung durchdringt und selbst vor den Zimmern der
Abgeordneten nicht Halt macht. Vergiftungen durch Methylalkohol und Fuselöl
sind an der Tagesordnung, so dass einzelne Staaten sich gezwungen sahen,
ein Gesetz zu erlassen, das den Verkauf solcher Getränke als Totschlag bestraft.
Wer Geld genug hat, kann auf Umwegen so viel Whysky kaufen, wie er trinken
mag. Diese erzeugten Zustände haben ein Nachlassen in der Achtung vor
dem Gesetze und den Behörden zur Folge, so dass ich dringend davor warnen
möchte, dieses System der absoluten Prohibition auf Deutschland zu über-
tragen; nicht durch Gewalt und Gesetze kann man die Menschen vor dem
Missbrauch des Alkohols bewahren, sondem durch vernünftige Aufklärung
und Ersatz durch bessere, geistig anregende Mittel.
Belehrung und Aufklärung haben auch auf dem Gebiete der sexuellen
Hygiene viel mehr genützt als Bestrafung und Verächtlichmichung, und aus
dieser Erkenntnis heraus haben Public Health Service und die American Social
Hygiene Association ihr Bestreben darauf gerichtet, die sexuelle Auf-
klärung der Jugend mit zu einem wichtigen Faktor der Schulerziehung zu
machen. — Bereits im Oktober 1912 waren auf dem Internationalen Kongress
für Hygiene und Demographie bestimmte Richtlinien für eine allgemeine
7) Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 191
Sexualerziehung ausgearbeitet worden, und zwar für die beiden Altersstufen
12—16 Jahre und 16—25. Auf der ersten Stufe sollten die Sexualprobleme
nicht aus dem allgemeinen Rahmen des naturwissenschaftlichen Unterrichts
herausgenommen werden und gleichzeitig dem Kinde Achtung vor den Schön-
heiten des menschlichen Körpers, seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten
anerzogen werden, so dass es daran gewöhnt wurde, diesen Körper als ein
kos.bares Gut zu pflegen. Auf der zweiten Stufe setzt der Unterricht über.
sexuelle Hygiene ein, mit der Fortpflanzung niederer Tiere und Pflanzen be-
ginnend zum Menschen aufsteigend. Daneben sollte die Bedeutung und Aus-
wirkung der Elternliebe betont werden, in einer‘ weiteren Stunde persönliche
Hygiene, Warnung vor Infektionen und Hinweis auf die Gefahren des Alkohols
und Nikotins. — Auf einer dritten Styfe schliesslich soll der gereifte Schüler
einen Einblick in die Vererbungslehre gewinnen, mit den Abartungen des Sexual-
triebes bekannt werden und die Bedeutung der Geschlechtsliebe für Familien-
und Staatenbildung erkennen lernen. — In mehrjähriger mühevoller Arbeit hat
Dr. Grünberg von der Social Hygiene Association mit Unterstützung des
Public Health Board einen Leitfaden für die sexuelle Erziehung in höheren
Schulen ausgearbeitet, die für das Beste und Praktischste gehalten wird, was
je auf diesem Gebiete in den U.S.A. geschrieben wurde. Er benutzte hierbei
das fast unübersehbare in der medizinischen, psychologischen und pädagogi-
schen Literatur zusammengetragene Material, umfassende Umfragen bei Eltern
‘und Erziehern, unter anderen auch die von J. B. Watson und K. S. Lash-
ley, den Leitern der Psychologischen Laboratorien der John Hopkins Uni-
versität in Baltimore und der Universität Minnesota, veranstaltete Umfrage bei
Ärzten über ihre Meinung in bezug auf sexuelle Aufklärung und Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten. Er abstrahierte aus dem grossen Material einen
praktisch gut durchführbaren Lehrgang, der besonders dazu geeigneten Lehrern
und Lehrerinnen anvertraut werden soll, die selbst wieder in besonderen
Kursen für diese wichtigen Aufgaben vorbereitet werden, und denen eine Zu-
sammenstellung der besten Literatur Hilfe und Anleitung bietet. — Gleichzeitig
bemühen sich Gesundheitsamt und Association durch eine grosszügige Verbreitung
von Flugschriften auf die Eltern und die heranwachsende Jugend direkt einzu-
wirken. Den Wert der Flugschriften lassen sie dabei durch die Jugend selbst
beurteilen, indem man durch Umfragen feststellt, welche von den verteilten
Flugschriften am ‚meisten gelesen wurden. So konnte Paul S. Achilles
im Februar über eine solche Umfrage bei der Young mens and womens christian
Association 12 Schriften nach ihrer Beliebtheit klassifizieren. — Der Liebens-
würdigkeit des Herrn H. H. Moode der Zentrale in Washington verdanke ich
eine Sammlung farbiger Lehrbilder über die Geschlechtsunterschiede, die Reife
und die sexuelle Hygiene, die für Knaben und Mädchen besonders dargestellt
werden; man zeigt sie in besonderen Ausstellungen; in vielen höheren Schulen
werden sie teilweise schon dauernd ausgehängt. Ich habe sie hier ausgelegt,
um ihnen zu zeigen, wie solche Probleme dort in künstlerisch und ästhetisch
schöner Form gelöst werden, ohne gleichzeitig durch pathologisch-anatomische
Präparate abschreckend zu wirken. Die eine für Jünglinge bestimmte Sammlung
heisst „keeping fit“, die andere für Mädchen „Youth and life“. — Beide Organi-
sationen haben ausserdem zahlreiche Lichtbilder und Filme herstellen lassen,
welche diese Probleme behandeln. In einem Film, den ich in New York sah,
war ein Lehrer dargestellt, der mit seinem Schüler Wanderungen unternimmt, ihm
dabei die Wunder der Fortpflanzung erklärt und später im Laboratorium im
Mikroskop Präparate zeigt und ihn in Hühner- und Kaninchenzucht praktische
Erfahrungen gewinnen lässt. — Für kommunale Jugenderzieher hat ferner
die American Social Hygiene Association durch Dr. T. W. Galloway ein
nur als Manuskript herausgegebenes Handbuch zusammenstellen lassen, das in
der Form von Frage und Antwort alle Probleme der Jugenderziehung unter dem
Gesichtspunkte der sexuellen Hygiene behandelt.
192 Arthur Weil. IS
Während das sexuelle Problem so im Mittelpunkte des Aufgabenkreises
der Gesellschaft steht, versucht sie im Zusammenhange damit auch auf anderen
Gebieten der sozialen Hygiene belehrend zu wirken. In einem Propagandafılm
„Die Zwillinge“, der durch seinen humoristischen Grundton die Aufmerksam-
keit auch des ungebildeten Publikums fesseln will, werden ‘Max und Moritz dar-
gestellt, wie sie die als Verbrecher verkörperten Volksseuchen Alkohol, Tuber-
kulose und Geschlechtskrankheiten vor den Richter schleppen und eine Ver-
urteilung erlangen; ihren gemeinsamen Bemühungen gelingt es dann, die als
hohe Steinsäulen schematisch dargestellte Verbreitung durch Zertrümmerung
der Säulen immer mehr zurückzudämmen, so dass in dem Zuschauer das
Gefühl der Zuversicht erweckt wird, dass dieser Kampf schliesslich doch zum
Erfolge führen muss. >
Indifferent steht die American Social Hygiene Association dem eugeni-
schen Problem der Geburtenkontrolle gegenüber. Hier hat eine private
Organisation, die American Birth Control League unter der tat.
kräftigen Leitung von Frau Margarete Sanger die Führung übernommen.
Ihr Programm ist das folgende: Ausgehend von der ‚Forderung, dass Kinder nur
in Liebe empfangen werden dürfen, dass sie nur mit bewusstem Willen und
Wunsch der Mutter geboren und unter Bedingungen erzeugt werden dürfen,
welche die Vererbung einer gesunden Anlage gewährleisten, muss jede Frau die
Macht und die Freiheit haben, die Konzeption zu verhindern, wenn diese Be-
dingungen nicht erfüllt werden können. Mutterschaft soll nicht mehr die
zufällige Folge eines unkontrollierten Triebes sein, sondern der Ausdruck des
Verantwortlichkeitsgefühls und Selbstbestimmungsrechtes in bezug auf die mensch-
liche Fortpflanzung. Um diese Forderungen zu erfüllen, werden verschiedene
Gruppen eingerichtet: Wissenschaftliche Erforschung der sozialen Folgen grossen
Kinderüberschusses; hygienischer und physiologischer Unterricht durch Ärzte
über harmlose und leicht anwendbare Methoden der Geburtenverhinderung, um
dem allgemein verbreiteten Wunsche nach einer solehen Aufklärung entgegen-
zukommen. Sterilisation unheilbar Kranker und Schwachsinniger. Ausbildung
von Lehrem für eine grosszügige öffentliche Aufklärung. Belehrung der gesetz-
gebenden Körperschaften, um eine Anderung der bestehenden Gesetze zu er-
reichen, die bis jetzt nur den Gesetzen der Eugenik widersprechen, Krank-
heiten, Elend und Armut vermehren und die Durchführung einer Politik der
nationalen Gesundheit und Stärke verhindern. Die Organisation soll besonders
unter den Gewerkschaften verbreitet werden, um diese zur Einrichtung eigener
Kliniken zu veranlassen. Über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus soll
ein Zusammenarbeiten mit anderen Organisationen angestrebt werden — Sie
sehen ein umfassendes Programm, das der Bund durch die Verbreitung seiner
Zeitschrift „Birth Control Review“ in weiteste Kreise hineinzutragen sich bemüht.
Ein wesentlicher Fortschritt gegen frühere Jahre ist es, dass die Zeitung jetzt
ungehindert durch die Mitglieder der Gesellschaft öffentlich auf den Strassen
New Yorks und grösserer Provinzstädte verkauft werden darf. Ferner werden
Propagandaversammlungen mit Diskussionen veranstaltet, die nicht nur auf die
U.S.A. beschränkt bleiben, sondern die Frau Sanger jetzt auch nach dem
fernen Osten, nach China geführt haben, um getren ihrem Ziele die birth control
zum Gemeingut aller Völker zu machen. In ärztlichen Kreisen findet die
Bewegung bis jetzt noch den grössten Widerstind. Viele Gynäkologen, mit
denen ich sprach, weigern sich aus einer sozialen Indikation heraus ihren
Patientinnen Schutzmittel einzusetzen oder zu empfehlen und verwerfen selbst-
verständlich auch den Abort unter diesen Gesichtspunkten. — Die Liga ver-
sucht aber auch die Ärzteschaft zur Mitarbeit heranzuziehen und wissenschaft-
liche Arbeiten über den Einfluss hoher Geburtenzahlen auf die Bevölkerung, über
Kindersterblichkeit, Kinderarbeit usw. zu unterstützen. Ihr letztes Ziel ist,
wie schon angedeutet. eine Reform der bestehenden Gesetze im Sinne neo-
malthusianistischer Ideen. .
9] Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 193
Von ganz anderen Gesichtspunkten aus befasst sich das „Childrens
Bureau‘ in Washington, das dem Department of Labor angegliedert ist, mit
Untersuchungen über das Wohlergehen der Nachkommenschaft. Dr. Ellen
Oppenheimer verdanke ich wertvolle Auskünfte und zahlreiche Druck-
schriften über diese vieles Gute bewirkende Organisation, deren Hauptaufgabe
es ist, statistisches Material über die Beschäftigung, Pflege und Erziehung von
Kindern in den verschiedensten Teilen der U.S.A. zu sammeln und die einzel-
staatlichen und kommunalen Behörden zur Mitarbeit anzuregen, ohne selbst
aktiv einzugreifen. Indirekt ist mit der Tätigkeit des Childrens Bureau auch
der Mutterschutz verknüpft; doch ist dieser weiter auch einer grossen Zahl
privater Vereinigungen anvertraut, die ihrerseits wieder mit grossen Mitteln von
den Einzelstaatsparlamenten und den städtischen Behörden unterstützt werden,
eine Unterstützung, die in den letzten Jahren z. B. in New York so reichlich
geflossen war, dass von den Steuerzahlern Widerspruch dagegen erhoben wurde,
da ‚fast jede Mutter jetzt bei der Geburt eines Kindes Pension für ein Jahr
und mehr erhielte‘.
Was die spezielle Sexualgesetzgebung anbelangt, so sind wohl
auf keinem Gebiete die Abweichungen zwischen den einzelnen Staaten grösser
als hier. Es würde an dieser Stelle zu weit führen ins Einzelne gehend z. B.
alle die verschiedenen Ehegesetze zu erörtern wie sie in den 49 Staaten
gehandhabt werden; so genügt z. B. im Staate New York die Eintragung einer
weiblichen Person in das Register eines Hotels unter dem Familiennamen ihres
Begleiters als Urkunde für eine Eheerklärung, während eine Scheidung nur
sehr schwer und bei gröbsten Verletzungen der Ehepflichten zu erlangen ist.
In einem anderen Staate dagegen genügt die böswillige Entfernung des Ehe-
mannes, um eine sofortige Scheidung zu erlangen, vorausgesetzt, dass eine
der beiden Parteien sechs Monate lang Bürger des Staates war — eine Voraus-
sefzung, die viele Scheidungssuchende dadurch erfüllen, dass sie in einer be-
kannten Stadt jenes Staates sich sechs Monate lang in einem Hotel aufhalten,
um dann die Scheidungsklage bei dem Richter der Stadt mit der Begründung
einzureichen, dass der andere Ehegatte sich während dieser Zeit nicht an dem
Orte aufgehalten hat. — Vielleicht wird hier in absehbarer Zeit Wandel ge-
schaffen, da die Bestrebungen, eine einheitliche Gesetzgebung auch auf diesem
Gebiete herbeizuführen, immer weiter um sich greifen. — In bezug auf die
Gesetzgebung, welche sich mit den sogenannten „unnatürlichen‘‘ Abarten des
Geschlechtsverkehres beschäftigt, ist in den letzten Jahrzehnten wenig Wandel
geschaffen worden. Entsprechend der als Vorbild dienenden englischen Ge-
setzgebung wird die Homosexualität weiter als „das nameless crime‘ behandelt,
das mit Zuchthaus bestraft werden kann, trotzdem in der Auslegung der höheren
Berufungsgerichte über das, was nun eigentlich als homosexuella Handlung be-
stratt werden soll, jeder Staat eine andere Auffassung hat. Sehr selten hört man
bei der Bestrafung von Fällen sexueller Abweichungen, dass Sachverständige
hinzugezogen werden, da das amerikanische Gerichtsverfahren noch mehr als
bei uns dem Richter eine völlig selbständige, entscheidende Stellung einräumt.
Ansätze zu einer Besserung kann man hier kaum erblicken, da in der medi-
zinischen Fachpresse das gesamte (Gebiet des Sexualstrafrechtes ebenso wie
in der juristischen Literatur sehr stiefmütterlich behandelt wird. Eine kleine
von Dr. Alfred Herzog herausgegebene Zeitschrift „The Medico-Legal
Journal" ist zu wenig verbreitet, um von irgendwelchem Finflusse sein zu
können. | Ä
Ich bin am Ende meines Reiseberichtes angelangt; absichtlich habe ich ihn
sachlich registrierend gehalten, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst
aus den Tatsachen ein Bild über den gegenwärtigen Stand der sexualreformatori-
schen und -wissenschaftlichen Bestrebungen in den Vereinigten Staaten zu
bilden. Wenn ich jetzt am Schlusse versuche, noch kurz auf die letzten
Ursachen einzugehen, welche verantwortlich dafür sind, dass alle diese Be-
194 Arthur Weil. [10
strebungen, die doch letzten Endes nur alle dieselben menschlichen Ideale
verfolgen wie die parallelen Bewegungen hier in Deutschland, in einem so ganz
anderen Fahrwasser verlaufen, ein so ganz anderes Gepräge ‘tragen als bei uns,
dann muss ich diese objektive Schilderungsweise verlassen und eigene Auf-
fassungen hineintragen. Ich glaube am besten kann man die Wesensart dieses
spezifisch „Amerikanischen‘ verstehen, wenn man zwei Grundtatsachen be-
rücksichtigt: 1. das Verhältnis des einzelnen amerikanischen Bürgers zum
Staate, 2. das Verhältnis des Mannes zur Frau. Was den ersten Punkt anbe-
langt, so kann man nicht eindringlich genug immer wieder der Anschauung
enigegenireten, dass drüben der einzelne eine grössere persönliche Freiheit
besitze als bei uns. Gewiss es fehlt der oft lästige Polizeizwang, frei und un-
angemeldet kann selbst der Fremdling im Lande umherziehen;; aber wenn es sich
um das Wohl der Gesamtheit handelt, muss jede Individualität sich dem
Schema anpassen. Ich erinnere noch einmal an die Gesetze zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten: Anzeigepflicht, Behandlungspflicht, Bestrafung der
Verbreitung mit Gefängnis; ich erwähne den grosszügigen Kampf gegen den
Alkohol, der auf das Schärfste in das persönliche Selbstbestimmungsrecht des
einzelnen eingreift, der an die Stelle von Aufklärung und vernunftgemässer
Selbstentscheidung eisernen Zwang setzt. Ich verweise weiter auf den von
lestimmten Vereinigungen fast fanatisch geführten Kampf gegen den ausserehe-
lichen Geschlechtsverkehr, der nach dem Gesetze als „adultery“ mit Gefängnis
bestraft wird, wenn es sich um verheiratete, als ‚fornication‘“ oder allgemein
„carnal knowledge", wenn es sich um unverheiratete Personen handelt. Dieser
Kampf geht so weit, dass angeblich selbst Provokationen auf der Strasse nicht aus-
bleiben, dass Herren von Damen zum Ansprechen angeregt werden, um den darauf
reagierenden Mann dem nächsten Schutzmınn zur Bestrafung übergeben zu
können, dı unmotiviertes Ansprechen einer Dame als Beleidigung gilt. Die
Reaktion hierauf ist ein Aufblühen der grossen öffentlichen Tanzlokale und
unter der nach aussen hin wohlanständigen Oberfläche ein viel freierer Ver-
kehr der Geschlechter untereinander, als es ein Nichtkenner der Verhältnisse je
ahnen würde.
Was den zweiten Punkt anbelangt, so ist der grundsätzliche Unterschied
zwischen uns und den U.S.A wohl der, dass die amerikanische Frau weiter in der
Emanzipation fortgeschritten ist als die deutsche. Sie ist mehr Kameradin des
Mannes, ihm gleich, ja bisweilen übergeordnet; sein Erwerb gilt weniger der
Befriedigung persönlichen Ehrgeizes als der Schaffung eines behaglichen Heims
für seine Frau und seine Kinder; er entspricht dem Wunsche, ihr einen gewissen
Luxus und Bequemlichkeit verschaffen zu können. Ein amerikanischer Ehe.
mann kann nicht verstehen, dass die deutsche Frau sich als Hausfrau oft dem
Manne unterordnet, als Gefährtin, die anerkennt, dass er für sie arbeitet und
sorgt, und die dieses nicht als Selbstverständlichkeit hinnimmt; er hält es für
Sklavenarbeit, wenn zum Beispiel eine Frau ihrem Manne die Schuhe putzt oder
ganz in den Anforderungen der Küche aufgeht. — Diese beiden Grundtatsachen
finden wir in den amerikanischen Sexualreformbestrebungen immer wieder: So
wird sexuelle Hygiene dem jungen Menschen gelehrt in erster Linie, um sie zu
gesunden Staatsbürgern zu erziehen, die gesunde Nachkommen erzeugen, erst
in zweiter Linie um ihres persönlichen Wohlergehens willen. So bewegt sich
die Entwicklung der Fhegesetzeebung in entgegengesetzter Richtung wie bei
uns: Stärkung der ehelichen Bindung mit Erleichterung der Eheschliessung
und erschwerte Scheidung mit den Leitgedanken: Schutz der Frau und Siche-
rung der Familie. Fin Beispiel für die Auswirkung dieses Prinzips: 1922 waren
etwa eine Million Eheschliessungen in den U.S.A., aber nur 125 000 Scheidungen.
Wenn wir aus allen diesen Beobachtungen und Erfahrungen Lehren für
uns selbst ziehen wollen, so ergibt sich zunächst eine Mahnung: Vermeidung
der Überspannung des Staatsbürgergedankens; nicht Unterdrückung der Indi-
vidualität zugunsten einer Schematisierung durch drakonische Gesetze, sondern
11) Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 195
freieres Spiel der Kräfte geregelt durch freiwillige Selbstbeschränkung auf
Grund von Wissen und Aufklärung. Als Vorbild mögen wir die amerikanische
Kunst zu organisieren nehmen, die es versteht, die einzelnen Richtungen und
Vereine zu einem grossen Ganzen zusammenzuschweissen, die, glücklich unter-
stützt von einem gerne spendenden Reichtum, in wenigen Jahren Reformen durch-
zusetzen vermochte, welche das alte Europa nicht in Jahrzehnten erreichte, und
zwar auf einer Grundlage, mit einem Programm, das als Kompromiss aus den
oft widerstrebenden Richtungen der einzelnen Vereinigungen herauskristalli-
sierte und das getragen war von der Grundidee, dem Wohle des Staates, der
grossen Gemeinschaft zu dienen. Vereinen auch wir alle Kräfte in gemeinsamer
Arbeit, damit wir nicht auch auf sexualwissenschaftlichem und sexualreformatori-
schen Gebiete die Führung verlieren, und damit es nicht auch hier heisst:
„Amerika in der Welt voran‘.
Wissenschaftliehe Rundschau.
Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
„Ab- und Entartung der Konstitution durch Gestations-
toxonosen“ (Zeitschr. f. Konstitutionslehre. 1922. Bd. 8) und
„Keimesfürsorge“ (Arch. f. Frauenkunde und Eugenetik, Sexual-
biologie u. Vererbungslehre. 1923. Bd. 9). Entgegnung auf A.Greils
Arbeiten. In diesen beiden Arbeiten hat Greilt!).gegen die von mir
vorgeschlagene, zeitweilige hormonale Sterilisierung 2) der geschlechts-
reifen Frau in besonderen, klinischen Fällen schwere Bedenken be-
züglich einer Schädigung des gesamten Oozytenbestandes erhoben
und die Methode geradezu als ein „Verbrechen“ bezeichnet. Zunächst
möchte ich vor allem richtigstellen, dass es mir natürlich nicht in
den Sinn kam, eine „Einpflanzung aktivierter Eierstöcke Schwangerer
auf Nichtschwangere“, wie Greilin seiner zweiten Arbeit 3) schreibt,
direkt in Vorschlag zu bringen 4). Vielmehr habe ich im Anschluss
an meine Ovarientransplantationsversuche beim Tiere (Kaninchen
und Meerschweinchen) vor aliem an Injektionsversuche mit Ex-
trakten von Ovarien trächtiger Tiere bzw. auch an die innerliche
Verabreichung solcher gedacht und dies auch in meinen beiden
Mitteilungen deutlich genug zum Ausdruck — Da mir die
Giftigkeit der Corpus luteum-Extrakte zur a bekannt war,
andererseits eine stärkere, ovulationshemmende Wirkung der ge-
wöhnlich klinisch verwendeten Luteinpräparate, die ja meist aus
Eierstöcken nicht trächtiger Tiere gewonnen werden, nicht zu er,
warten stand, zog ich vor allem für meine hormonale Sterilisierungs-
methode das Corpus Juteum — bzw. Ovarial-Opton nach
Abderhalden aus Ovarien trächtiger Tiere in Betracht, wie
es von der chemischen Fabrik E. Merck bisher von nicht graviden
Tieren durch künstliche Verdauung hergestellt und in den Handel
.gebracht wurde; dasselbe ist nach den klinischen Erfahrungen
Lindemanns?°) für den Menschen vollkommen unschädlich und
1) Zeitschr. f. Konstitutionslehre. Bd. 8. S, 419 u. Arch, f, Frauenkunde.,
Bd. 9. Seite 21 u. 29. `
2?) Münch. med. Wochenschr. 1921. S. 1577 u, Pflügers Arch. f, d. ges.
Physiol. 1922. Bd. 194. S. 235, l
3) A. a. O. S. 21.
*) Auf die diesbezüglichen, mehr als sonderbaren Ausführungen Greils
in der „Umschau“ (1923, Nr. 2, S. 30) zu antworten, erachte ich für überflüssig.
5, Zentralbl. f. Gyn. 1916. S. 593, — Siehe auch E. Mercks Jahresbericht,
30. Jahrg. S. 422. 1916,
—
2] Wissenschaftliche Rundschau. 197
wirkt hemmend auf zu starke oder zu häufige Menstruationen. Nach
den Ergebnissen meiner Transplationsversuche, in denen mir durch
subkutane Einpflanzung von Ovarien trächtiger Tiere auf nicht
trächtige Weibchen eine länger dauernde Ovulationshemmung in dep
eigenen Eierstöcken des Transplantationstieres und damit eine hor-
momale,temporäreSterilisierung desselben gelungen war,
konnte man nun erwarten, dass jenes Präparat bei richtiger Dosierung
die Ovulation für länger zu hemmen und damit eine vorübergehende
Sterilisierung zu bewirken vermag. Es ist nun ja gewiss vom theo-
retischen Standpunkte aus berechtigt, dabei an die Möglichkeit
einer etwaigen Schädigung der späteren Nachkommenschaft zu
denken, worüber eben nur das Experiment entscheiden kann. Aber
es geht doch wahrlich nicht an, die Sache schlechtweg in einer Art
und Weise abzutun, wie es Greil getan hat.
Was zunächst noch meine Transplantationsversuche betrifft, so
habe ich bereits am Schluss meiner ausführlichen Abhandlung darauf
hingewiesen, dass die hormonal bedingte 'Ovulationshemmung für die
eigenen Ovarien der Versuchstiere, denen Eierstöcke trächtiger
Tiere subkutan transplantiert worden waren, von keinem
Schaden war; denn es trat schliesslich nach genügender Resorp-
tion der Transplantate wieder Gravidität ein; wobei die Jungen
stetsvollkommennormalundwohlentwickeltwaren.
Die Injektionsversuche führte ich dann zunächst mit dem gewöhn-
lichen Corpus luteum-Opton aus, das von nichtträchtigen Tieren
stammt, konnte aber damit, wie ich im vorhinein vermutet hatte,
keine sicheren Sterilisierungseffekte erzielen. Wohl gelang mir dies
aber, als mir die Firma E. Merck auf meine Anregung hin mit
dankenswertem Entgegenkommen Ovarial-Opton von trächtigen Tieren
(Kühen) hergestellt hatte; dasselbe gilt bei entsprechender Dosierung
für das auch von mir geprüfte Placenta-Opton, das mir ebenfalls
von der chemischen Fabrik E. Merck hierzu freundlichst zur Ver-
fügung gestellt wurde. Über diese Versuche werde ich in nächster
Zeit ausführlicher im Pflüger Archiv berichten. Hier sei nur
vorweggenommen, dass sämtliche behandelte Tiere
(Kaninchen) nach Abklingen des Sterilisierungser-
folges wieder trächtig wurden und nach der nor-
malen Tragzeit (meist 30 Tage) vollkommen reife
lebende Junge zur Welt brachten, die sich auch
weiterhin in völlig normaler Weise entwickelten.
Irgend ein schädlicher Einfluss der Injektionsbe-
handlung auf die Nachkommenschaft war demnach
in keiner Richtung nachzuweisen.
Es kommen hier aber auch vielfältige, tierärztliche Erfahrungen
massgebend in Betracht. Bekanntlich persistiert und hypertrophiert
beim Rinde nicht selten das Corpus luteum, wobei die sonst periodisch
alle 3 Wochen wiederkehrende Brunst nicht eintritt und das Tier
entsprechend lange steril bleibt; erst nach dem Herausdrücken bzw.
Entfernen des persistierenden, gelben Körpers erscheint
die Brunst wieder in den nächsten Tagen und kann die Kuh dann
erfolgreich belegt werden. Ich habe nun an Herrn Prof. L. Rei-
3] 'Wissenschaftliche Rundschau. 198
singer (Tierärztliche Hochschule in Wien) die Anfrage gerichtet,
ob in der tierärztlichen Literatur Fälle erwähnt sind, in denen ein
Rind nach Corpus luteum persistens ein minderwertiges oder sonst
geschädigtes Kalb geworfen hätte; dies wurdeunbedingtver-
neint und gab mir freundlicherweise Herr Prof. L. Reisinger
an, dass auch nach seinen eigenen Erfahrungen die Kälber von
Kühen, die nach Entfernung eines Corpus luteum persistens wieder
trächtig geworden sind, ebenso gut entwickelt und lebensfähig seien
wie jene von anderen normalen Kühen.
Diese Ausführungen zeigen somit, dass das gegen meine
Sterilisierungsmethode gerichtete Bedenken von
Greil „bezüglich einer zu gewärtigenden Dauer-
schädigung der Konstitution der Oozyten“ voll-
kommen gegenstandslosund seine so drastische Ver-
urteilung meines Vorschlages gänzlich unberech-
tigt ist. Die Indikationsstellung, sowie die prophylaktische und
eugenetische Bedeutung dieser temporären, hormonalen Sterilisierung
werde ich an anderer Stelle eingehend erörtern.
Schliesslich seien zur weiteren Charakteristik der Greilschen
Denk- und Vorstellungsweise nur noch zwei Beispiele aus seiner
zweiten Arbeit herausgegriffen. So schreibt er) über die Bedeutung
des Corpus luteum: „Von einer ‚Drüsenwirkung‘ behufs ‚Vorberei-
tung der Eieinbettung‘ kann überhaupt keine Rede sein.“ Für Greil
existieren offenbar die bekannten und zahlreichen Untersuchungen
von L. Fraenkel und L. Loeb über die Bedeutung des Corpus
luteum überhaupt nicht! Ferner fordert 'Greil?) in seinem „„Gesetz-
entwurf zur Durchführung der ärztlichen Schwangeren-, Keimes-
und Keimlingsfürsorge“ allen Ernstes das Verbot der Kohabitation
genau „zwischen dem 12. und 24. Tage eines vierwöchentlichen
Normalzyklus, dem 6.--16. Tage eines dreiwöchentlichen Zyklus.“
Ich glaube wohl, dass sich da jede Kritik ohne weiteres erübrigt;
diese Beispiele liessen sich zur Genüge vermehren, ich meine aber,
darauf nach dem bisher Mitgeteilten verzichten zu können, und dies
um so mehr, als die „eigenartigen‘ Auffassungen G reils bereits vor
Jahren und auch neuerdings von W. Roux®) kritisch beleuchtet und
gekennzeichnet worden sind.
Prof. L. Haberlandt, Innsbruck.
Zur Wertung von Deszensus und Prolaps bei der länd-
lichen Arbeiterfrau 1). Als leitender Arzt eines ländlichen Ver-
sorgungsamtes habe ich innerhalb 21/ Jahren (1921/23) 75 Frauen
der arbeitenden Klasse im Alter von 45—60 Jahren bezüglich ihrer
Arbeitsfähigkeit begutachtet. Es handelte sich um sog. Kriegshinter-
6) A. a. 0. S. 11.
10 A. a. O. S. 22,
8, Arch. f. Entwicklungsmechanik 1912. Bd. 35. S, 314 und 1914. Bd. 39.
S. 651. — Deutsch. med. Wochenschr. 1923,.S. 110 u, 878.
1) Vortrag, gehalten auf der 18. Versammlung der ‚Deutschen Gesellschaft
für Gynäkologie‘, 1923 zu Heidelberg. e
4] Wissenschaftliche Rundschau. 199
bliebenenelternuntersuchungen, bei denen festgestellt werden musste,
ob die Untersuchten bei der gesetzlich vorgeschriebenen wohl-
wollenden Beurteilung über 662/,% erwerbsbeschränkt und der
eigentlich erst mit dem 60. Jahre zuständigen erhöhten Rente be-
dürftig wären. Die zusammenfassende Prüfung dieser Unter-
suchungen ergibt für die klinische Wertung von Deszensus und
Prolaps nicht uninteressante Resultate, die ich Ihnen, ohne Sie hier
mit Tabellen, Statistiken und Kurven zu behelligen, kurz mitteilen
möchte; bietet doch die mit häuslicher, mütterlicher, landwirtschaft-
licher Arbeit ebenso wie mit meist rasch aufeinanderfolgenden Ge-
burten überreich gesegnete Frau des ländlichen Arbeiterstandes
besser als jede andere weibliche Berufsklasse alle Vorbedingungen der
Senkungs- und Vorfallentstehung.
Das Material ist nicht gross, aber es ist genau aktenmässig
niedergelegt, ist ganz unbefangen und unvoreingenommen ohne eine
bestimmte Arbeitshypothese entstanden und betrifft, wie ich aus-
drücklich bemerke, Frauen, die nicht als Kranke den Arzt auf-
suchten. Erst gegen Ende meiner versorgungsärztlichen Tätigkeit
kam mir der Gedanke, den Stoff zu verarbeiten, und zwar haupt-
sächlich aus dem Grunde, weil mir aufgefallen war, dass die geburt-
liche rein mechanische, lokalgenitale Schädigung dieser vielgebären-
den Frauen für ihre Arbeitsfähigkeit eine so merkwürdig geringe
Rolle spielte. Diese Tatsache bestätigte die Erfahrung meiner Privat-
praxis. Als ländlicher Frauenarzt hatte ich in erster Linie Patien-
tinnen mit Senkungs- und Vorfallbeschwerden erwartet. Aber trotz
einer Laparotomiehäufigkeit von etwa 100 im Jahr könnte ich fast
alle mit solchen Beschwerden zu mir gekommenen Frauen mit Namen
nennen, so verschwindend war die. Bedeutung der Genitalsenkung
in den Klagen meiner Klienten, wenn ich auch natürlich aus eigener
Initiative eine ganze Reihe von Vorfall- und Senkungsoperationen
als Haupt- oder Nebeneingriffe ausgeführt habe.
In meinem Material, das zu Dreiviertel in den ö50Oiger Jahren stand,
das durchschnittlich 6 Geburten, zur Hälfte über 5, zu einem Viertel über
8 Geburten, durchgemacht hatte, das durchweg abgerackert, früh verbraucht,
‚irüh gealtert ein Durchschnittsgewicht von nur 100 Pfund bot, bei dem ein
Viertel tuberkulös bzw. tuberkuloseverdächtig war, das ohne allzu grosse
Weitherzigkeit zu Neunzehntel als über 662/30 erwerbgemindert begutachtet
werden musste, in diesem Material gab nur jede zehnte Frau Senkungs-
teschwerden an, obwohl sie alle, wie menschlich verständlich, zur Erlangung
der höheren Rente einen gerüttelten Sack vielgestaltigster Klagen mitbrachten.
Ich fand bei noch nicht einem Viertel (2200) praktisch kaum störende
Scheidensenkung mit leichter Gebärmuttersenkung, nur bei einem Siebentel
(14%) stärkere, bis zu mässigem Vorfall ausgedehnte Scheidensenkung mit
mässiger Gebärmuttersenkung; nur einmal zeigte sich bei kräftigem Pressen die
Portio in der Vulva bei einem Totalprolaps. Die erste, leichteste Klasse von
Senkung betraf zur Hälfte 10 mal und öfter Geborenhabende, während der
stärkere Grad nur zu einem Viertel solche -Zehn- und Mehrgebärende betraf.
Danach spielen konstitutionelle Faktoren sichtlich eine grössere Rolle als der
rein zahlenmässige Einfluss der Geburten. Fast die Hälfte der Frauen hatte eine
Rückwärtslagerung der Gebärmutter ohne besondere Beschwerden, so dass sich
auch hier die bekannte relativ geringe klinische Bedeutung der Gebärmutterlage
dartut. 800 zeigten einen alten drittgradigen Dammriss,. Mit Ausnahme des
Arehiv für Frauenkundo. Bd. IX. H. 8. 14
200 Wissenschaftliche Rundschau. [5
Totalprolapses kam die Genitalsenkung gar nicht oder nur in Kinzelfällen
als nebensächlicher Befund für die Beurteilung der Erwerbstätigkeit in Frage.
Wesentlich wichtiger als ‚die Geburtsschädigung der eigentlichen Fort.
ptlanzungsorgane war für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit die Geburts-
schädigung der Bauchwand und der von ihr eingeschlossenen und getragenen
Eingeweide. Ein Fünftel (20%) zeigte leichten Hängebauch mit geringer Entero-
ptose, die Hälfte (50%) einen mittelstarken Hängebauch mit entsprechender Ein:
geweidesenkung, ein Sechstel (16%0) hochgradigste Bauchwandschwäche mit
ebenso starker Enteroptose. Diese Geburtsveränderungen wogen in dem Unter-
suchungsurteil schon wesentlich schwerer, wenn sie auch durchweg nicht den
Ausschlag gaben. In weit über die Hälfte i65%0) durch schwerere Stuhlträgheit,
in über einem Zehntel (12%) durch einwandfrei nachweisbare Gallenblasen-
erkrankungen kompliziert, waren sie vielfach die Ursache chronischer Magendarm
störungen, die schon ohne chemische, funktionelle oder röntgenologische Nach-
prüfung aus den Klagen und dem Befund zu erkennen waren, meist Magensenkung
und -erweiterung, die, teilweise natürlich in Verein ‚mit der in 25% bestehenden
Tuberkulose (s. o.), für Blutarmut, chronische Darmintoxikation, Pseudokachexie,
die schon vorher erwähnte auffällige Untergewichtigkeit und Unterernährung
verantworllich zu machen waren. Weiter schädigend wirkten die geradezu
traurigen Gebissverhältnisse -- über die Hälfte der Frauen (5400) war völlig
zahnlos, die mit künstlichem Gebiss versehenen nicht gerechnet, —, was bei
der (reburtenhäufigkeit, neben der bekannten ländlichen Indolenz gegenüber
der Zahnpflege, zu beträchtlichem Teil als Geburtsschädigung infolge der (ie-
stationsdekalzinierung aufzufassen ist.
Aber auch diese Veränderungen von Bauchwand und Bauchinhalt traten
für die Erwerbsfähigkeitsbeurteillung an Bedeutung weit zurück gegenüber der
vorherrschenden, gutachtlich an erster Stelle entscheidenden, in ihrer Häufig-
keit geradezu frappierenden Schädigung des Kreislaufes. Weit über
die Hälfte der Untersuchten (569%) zeigte schwerere Herz- und Gefässschädigung
in Gestalt von Kreislauf. und Herzschwäche, Früharteriosklerose :usw., wie Ober,
haupt die Klage des „Schnaufenmüssens" und der Atemnot geradezu stereotyp
wiederkehrte. In fast 8%, der Fälle bestand nach dem hohen Blutdruck auch
unter Berücksichtigung der klimakterischen Hypertension der Verdacht auf
beginnende Schrumpfniere. Ich stehe nicht an, diese Kreislaufschädigungen
ebenfalls direkt und indirekt mit der Hauptleistung dieser Frauen, ihrer umfang-
reichen Fortpflanzungstätigkeit, ursächlich in Zusammenhang zu bringen, obwohl
natürlich die ganze soziale Lage und Lebensweise hierbei ihre bedeutsame Rolle
spielt. Ernstere, für diese Kreislaufschädigung ätiologisch in Frage kommende
Infektionskrankheiten waren in der Vorgeschichte der Frauen ganz auffällig
spärlich. Welche vielgesaltige Belastung «die Schwangerschaft dem Kerislauf
in allen seinen Abschnitten, Herz, Arterien, Venen, ‚Kapillaren, auferlegt, das
brauche ich in diesem Kreise ja nicht breiter auszuführen. Betonen möchte
ich die gewaltigen Blutvertalungsschwankungen in dem von Sellheim näher
beschriebenen Tonusturgorspiel der Baucheingeweide und ihres gewaltigen
iefässnetzreservoirs sowie Hinselmanns Arbeiten über Kapillarbeobach-
tungen bei gesunden und kranken Schwangeren und die in der Praxis nicht ge-
nügend gewürdigten Forschungen Pals über Gefässkrisen usw.
Was lehrt nun das vorgetragene Material ?
Die geburtliche Schädigung der eigentlichen Fortpflanzungs-
organe, die dem Gynäkologen berufsspezifisch am nächsten liegen,
spielt für die Arbeitsfähigkeit die geringste Rolle. Sie stellt nur eine
Teilerscheinung der wesentlich wichtigeren Schädigung der ganzen
Kinheitlichkeit und des ganzen Zusammenhalts des Bauches in Ge-
stalt von Hängebauch und Eingeweidesenkung mit ihren Folgen dar.
6] Wissenschaftliche Rundschau. 201
Vorherrschend in der tokogenen Pathologie aber ist die enorme
Aufgabe, die dem Herzgefässapparat in Schwangerschaft, Geburt und
Wochenbett zugeteilt wird und die bei konstitutionell wie hygienisch-
sozial ungünstigen Vorbedingungen für die weibliche Gesundheit
geradezu katastrophale Folgen hat.
Die prophylaktische wie operative Behandlung von Deszensus
und Prolaps, deren Wichtigkeit in ihren speziellen, fachlich einge-
engten Grenzen nicht verkannt werden soll, muss sich der Prophylaxe
und Behandlung des Hängeleibes und der Eingeweidesenkung als
der grösseren, weiterschauenden und umfassenderen Aufgabe unter-
ordnen.
Und diese eine überdehnte, in erster Linie mechanisch ge-
schädigte Körperhöhle in Obhut nehmende und wiederherstellende
Arbeitsaufgabe tritt zurück vor dem noch viel wichtigeren Ziel, die
mechanische, funktionelle, chemische, innersekretorisch-toxische und
nervöse Schädigung des für Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Lebens-
dauer so unendlich bedeutungsvollen gesamten Kreislaufapparates
auf ein Mindestmass herabzusetzen. Diese Aufgabe eröffnet die
dem rein wissenschaftlich forschenden wie dem heiltätigen Arzte
ein reiches, dankbares, auch dem Nichtfachmann zugängliches Arbeits-
feld, verlangt aber auch eine viel grosszügigere Betrachtung des
Kreislaufes, bei dem bisher zu ungunsten der mindestens ebenso
wichtigen übrigen Zirkulationswege das Herz allein zu sehr im
Vordergrund der Beobachtung und Behandlung gestanden hat.
Auch aus dem Ergebnis meiner kleinen Materialbetrachtung, die
naturgemäss nur in ganz grobgehaltenen Strichen gezeichnet werden
konnte, sehen wir, was auf der ganzen gynäkologischen Linie seit
Jahren vor sich geht, das Bestreben, den kleinen, engen, rein mecha-
nistischen Genitalhorizont zu sprengen und alles frauenärztliche
Wissen, Erkennen und Behandeln auf das grössere Gebiet, auf die
biologische und konstitutionelle Auffassung des weiblichen Gesamt-
organismus. auszudehnen. |
Dr. Hans Kritzler, Erbach i. O.
Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung. Während
ein Teil der modernen Biologen an den Möglichkeiten der exakten
Methode verzweifelnd seine Zuflucht zu einem autonomen Prinzip
in der Struktur nimmt, so die Neo-Vitalisten mit ihrem Führer
Prof. Hans Driesch in Leipzig, bemüht sich ein anderer Teil
immer noch, alle Rätsel, die der Kosmos uns aufgibt, als scheinbare
Rätsel zu erweisen, die sich ganz natürlich erklären, wenn man
vom rechten Standpunkt an sie herantritt. In des Jenenser Biolosen
Schaxel „Abhandlungen zur theoretischen Biologie“ blätternd
stosse ich auf eine Schrift von Victor Franz, in der dieser Ge-
lehrte sich anheischig macht, auch das, was Darwin und Häckel
noch unbeantwortet liessen, rein mechanisch und „natürlich“ zu
erklären. Er glaubt an eine Urzeugung. Die ältesten Stoffe
werden kompliziertere Kohlenstoffverbindungen gewesen sein, die
treibende Kraft des Stoffstromes kann Sonnen- oder auch Erden-
14*
202 Wissenschaftliche Rundschau. [7
energie gewesen sein. So etwa ist die Urzeugung zu denken. Die
ungeschlechtliche Fortpflanzung ist ebenso leicht er-
klärlich. Wenn auf eine Teilung des Körpers durch einen vielleicht
äusseren rohen Anstoss die Wiederergänzung und das Wachstum
folgte, so erklärt sich das „als einfachste Wiederherstellung des `
gestörten Stoffwechselgleichgewichts“ (S. 4). In der Tat, sehr ein-
fach! Aber der Verfasser begnügt sich nicht mit dieser über-
zeugenden Erklärung der ungeschlechtlichen Fortpflanzung, er weiss
auch für die geschlechtliche eine einleuchtende Herleitung.
Wenn dieses Rätsel gelöst würde, welches hielte noch stand?
Der Verfasser meint, bei der Zellteilung, die er inzwischen
auch schon natürlich .erklärt hat, was wir ihm zunächst zugeben
wollen, könnte vielleicht einmal die Teilung der Chromosomen eine
gewisse Hemmung erfahren haben, so dass die Zellteilung zu früh, vor
vollendeter Teilung und vor der Verdoppelung der Chromosomen ein-
trat. Es entstanden dann 2 Tochterzellen mit halber Chromosomen-
zahl. Diese könnten dann, wenn der Prozess öfter eintrat, im feuchten
Medium infolge ihrer inneren Stoffverwandtschaft zu 2 und 2 ver-
schmelzen, so die Chromosomenzahl wiedererlangen und zu einem
ganzen Organismus werden. ‚So etwa kann die geschlechtliche Fort-
pflanzung entstanden sein“ (S. 9). Gewiss konnte das alles so ge
schehen, der Verfasser befindet sich nur in einem ungeheuerlichen
jrrtum, wenn er meint, damit die Entstehung der geschlecht-
lichen Fortpflanzung auch nur angedeutet zu haben. Was er bringt,
sind Curae posteriores der Natur. Ich frage ihn, wie will er die
Teilung der Chromosomen erklären? Aber die fällt wohl mit
der von ihm schon „erklärten“ Zellteilung zusammen. Ferner: Wie
erklärt er die Hemmungen der Zellteilungen ? Ferner behauptet er
ganz einfach, die zwei Zellen mit anormalen Chromosomen könnten
zu 2 und 2 verschmelzen, „infolge der ihnen innewohnenden Stoff-
verwandtschaft“. Also zwei Zellen verschmelzen, je zwei halbe
Chromosomen vereinigen sich zu zwei vollständigen. Ja, will der
Verfasser nicht erklären, wie diese Verschmelzung vor sich gehen
soll? Setzt ein solcher Vorgang nicht eine Kraft voraus, einen
formenden Trieb? Woher nimmt er den? Wenn er selbst zwei halbe
Körper irgendwie nebeneinanderlegt, werden sie deshalb zu einem
einzigen verschmolzen? Grade das Einzige, das der Erklärung am
Sexualprozess bedürfte, das innerlich schaffende Leben, der Bios,
nach dem seine Wissenschaft heisst, hat der Verfasser nicht nur
nicht erklärt, sondern nicht einmal der Erwähnung für nötig er-
achtet. Ich stelle das fest, nicht weil der Fall besonders eklatant
wäre; im Gegenteil er findet sich hundert- und tausendfach in der
biologischen Wissenschaft. Man erklärt und leitet ab und übersieht
völlig, dass man das Einzige, was zu erklären ist, das Leben an sich,
die Kraft selbst, nicht nur nicht erklärt, sondern einfach totschweigt
oder als gegeben voraussetzt. Wissenschaft aber, die nicht voraus
setzungslos ist, verdient diesen Namen nicht. Umsonst hat Kant
eine Fülle von hemmenden Voraussetzungen aus dem Wege der
Wissenschaft geräumt und uns in die kühlen Räume verstandesklarer
Kritik versetzt. Wir haben noch immer nicht genug von ihm gelernt,
8] Wissenschaftliche Rundschau, 203
wissen immer noch nicht zu unterscheiden, wieviel wir bei der
Forschung voraussetzen dürfen, wieviel nicht!
Ehe die Wissenschaft, auch die biologische, nicht auf dem
Standpunkt der mathematischen Methode angelangt sein wird,
d. h. nichts vorauszusetzen wagt, was nicht bewiesen ist, wird sie zu
endgültigen Ergebnissen nicht vordringen, sondern bei seichten Mut-
massungen bleiben. Sobald wir die Lebenskraft erfasst haben, können
wir ihre Mittel und Wege leicht rekonstruieren ; es gehört bitterwenig
Scharfsinn dazu. Solange wir von ihr aber nicht das Geringste
wissen und anscheinend auch wissen wollen, hat das Gerede über
etwaige posteriore Möglichkeiten des Naturgeschehens nicht den
geringsten Wert. Prof. Dr. C. Fries, Berlin.
IL Kritiken.
Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden.
— — — — —
Grote: Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen. 1.Bd.: Hoche,
Kümmel, Marchand, Martius, Roux, Wiedersheim. 2. Bd.:
Barfurth, Grawitz, Hueppe, H.H.Meyer, Pentzoldt, Rosenbach,
Fr. Schultze, Hugo Schaltz. Verlag von F. Meixner, Leipzig 1923.
Mit diesen Bänden tritt ein ganz neuartiges Unternehmen in die Literatur
der Medizin: Eine Sammlung von Autobiographien und 'damit eine Geschichte
der Medizin der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, dargestellt von den-
jenigen, welche diese Geschichte selbst gemacht haben und noch machen.
Die zweifellos vorhandene Gefahr der persönlichen Einstellung der Autoren zu
ihren eigenen Leistungen und Anschauungen wird reichlich aufgewogen durch
Beseitigung des Mangels, welche jede sog. objektive Geschichtsdarstellung hat:
Unkenntnis des Geschichtsschreibers über die persönlichen Triebkräfte,
inneren Erlebnisse, Werturteile, Ziele und Wünsche des Menschen, den und
dessen Taten er darstellt. Dieser Mangel, welcher auch durch Urteile von
Zeitgenossen, durch Briefwechsel usw. nur höchst ungenügend beglichen wird,
ist doppelt gross in einer Zeit, welcher aus hier nicht zu erörternden Gründen
die Mitteilsamkeit von Mensch zu Mensch durch ‘Briefe und Unterhaltung ab-
handen gekommen ist. So erhält die Geschichte der Medizin durch das Unter-
nehmen von Grote eine Bereicherung, welche in ihrem ganzen Ausmasse am
besten erfasst werden kann, wenn man sich vorstellt, was es z. B. für Semel-
weis, seine und «die nachfolgende Zeit bedeutet hätte, wenn die Selbst-
darstellung seines Wirkens vorgelegen hätte. Gegenüber ‚diesen Selbstdarstel-
lungen freilich erwächst der objektiven Geschichtsschreibung die schwere Auf-
gabe, die Diagonale zu ziehen zwischen Persönlichem jund Sachlichem, Über-
treibungen zu beschränken, Unterschätztes zu heben. Das (alles ist zu erreichen.
Die grösste Schwierigkeit aber liegt in der ‘Auswahl der Autobiographien. Wen
sie trifft, wird herausgehoben. Wien sie übergeht, um den wird eine Mauer
errichtet, deren Niederlegung oft dem Zufall späterer Geschichtsschreibung
überlassen bleibt. Dieser Verantwortung muss der Herausgeber sich bewusst sein.
, Max Hirsch, Berlin.
Raymund Schmidt: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstel-
lungen. 1. Bd.: Paul Barth, Erich Becher, Hans Driesch, Kurt
Joel, A. Meinong, Paul Natrop, Johannes Rehmke, Johannes
Volkelt. 2. Bd.: Erich Adickes, Clemens Baeumker, Jonas Cohn,
Hans Cornelius, Karl Groos, Alois Höfler, Ernst Troeltsch,
Hans Vaihinger. 3. Bd.: G. Heymans, Wilhelm Jerusalem, Götz
Martius, Fritz Mauthner, August Messer, Julius Schultz,
Ferdinand Tönnies. Verlag von Felix Meizner, Leipzig 1923.
Anders als der „Medizin der Gegenwart in 'Selbstdarstellungen‘“ steht der
Kritiker diesem Werke gegenüber. Die dort aufsteigenden Bedenken haben hier
2] | Kritiken, 205
nur in ganz beschränktem Masse Berechtigung. Während andererseits die grossen
Vorzüge jenes Unternehmens bei diesem in noch 'viel höherem Grade hervor-
gehoben werden müssen. Denn Philosophie ist nicht en toter Hausrat (Fichte),
den man ablegen oder annehmen könnte, wie ‚es uns beliebt, sondern ist be-
seelt durch die Seele- des Menschen, der sie betreibt. Darum kann über ein
philosophisches System der am besten sprechen, der es aufgerichtet hat. So er-
halten wir durch das vorliegende Werk die Philosophie der Gegenwart aus
erster Hand, wie der Herausgeber mit Recht sagt. Eine reine Berichterstattung
über sie aus zweiter Hand ist schon nicht mehr möglich. Sie ist schon nicht
mehr objektiv, sondern beseelt durch den Berichterstatter, seine Auffassung,
seine Stimmung gegenüber dem Objekt. Eine Entpersönlichung 'auf dem Gebiete
der Philosophie ist so wenig möglich wie lauf dem der Kunst. Ist schon Ge-
schichtsschreibung streng genommen ein Entwirklichungsprozess, wie vielmehr
noch die kritische Würdigung von zeitgenössischen Philosophen und ihren
Leistungen. Daher sind soviele verfälschende Faktoren im Spiele, dass das
Schöpfen aus erster Hand, d. h. von dem Objekt der Geschichtsschreibung selbst
unbedingt den Vorzug verdient. Darin liegt die Bedeutung der hier besprochenen
autobiographischen Sammlung. Ihr Wert ist am besten dadurch gekennzeichnet,
dass der erste Band bereits in zweiter Auflage erscheinen musste.
Max Hirsch, Berlin.
Morawitz: Klinische Diagnostik innerer Krankheiten. Zweite Auflage.
Mit 268 Abbildungen im Text und 17 Tafeln. Verlag von F. C. W. Vogel,
Leipzig 1923.
Dieses ausgezeichnete Lehrbuch der inneren Medizin ist auch dem Spezia-
listen anderer Gebiete unentbehrlich. Je mehr alle Fächer der Medizin dem Konsti-
tutionsproblem zustreben, um so mehr ist für alle die innere Klinik der Mutter-
boden, aus dem medizinisches Denken und Handeln erwächst. Gegenüber der
ersten vor kaum 2 Jahren erschienenen Auflage muss auf die Abschnitte
Respirationsapparat und Urogenitalapparat hingewiesen werden, welche gründ-
lich umgearbeitet sind. Vorzüglich sind Inhaltsverzeichnis und Sachregister,
so dass das Werk zum täglichen Handwerkszeuge dienen kann.
Max Hirsch, Berlin.
Parazelsus sämtliche Werke. Herausgegeben von Karl Sudhoff und
Wilhelm Matthiessen. I. Abt.: Die medizinischen, naturwissenschaft-
lichen und naturphilosophischen Schriften. Sechster Band. Otto Wilhelm
Barth, München 1922.
Nun wird sie doch noch zur Tatsache, die lange entbehrte, lange erwartete Ge-
sanıtausgabe der Werke des grössten Arztes deutscher Zunge, Theophrastus
von Hohenheim. Die medizinisch-naturwissenschaftlichen Schriften machen
ılen Anfang und sollen 5 Bände füllen. Es sollen folgen je 5 Bände der Jugend.
zeit und der letzten 4 Lebensjahre. Den Abschluss soll eine Biographie bilden,
die den Mann in seiner Ganzheit zu 'erfassen sucht. Neben den nıturwissen-
schaftlichen werden auch die religiösen und politischen Schriften Aufnahme
finden. Dieses grossartige Werk historischer Forschung ist der Initiative und der
Arbeitskraft Karl Sudhoffs zu danken.
Der erste Band liegt vor. Er enthältidie Schriften Parazelsus aus der
Kolmarer Zeit (1528; über Wunden und offene Schäden, sowie über die Syphilis.
Druck und Wiedergabe von Buchtitelblättern, Briefen und Abbildungen sind vor-
trefflich. Dem Verlage gebührt Dank für das in schwerer Zeit gewagte Unter-
nehmen. Max Hirsch, Berlin.
Prausnitz: Grundzüge der Hygiene. 12. verbesserte und vermehrte Auflage.
J. F. Lehmanns Verlag, München 1923. |
Als Student benutzte ich — ausser dem Rubuerschen Lehrbuch — die
4. Auflage der Grundzüge der Hygiene von Prausnitz. Vergleiche ich sie
206 Kritiken. l [3
mit der vorliegenden 12., so gewinne ich den Blick für den grossen Fortschritl
und die starke Gebietserweiterung dieses Wissenszweiges. Ausser mehrfacher
Umordnung des Stoffes müssen die Kapitel „Grundzüge der sozialen Hygiene‘,
„soziale Tätigkeit des Arztes und Fürsorgewesen‘‘ und besonders ‚„Rassenhygiene‘
genannt werden. Der Umfang des Werkes ist von 524 auf 821 Seiten an-
gewachsen.
Die neuen Kapitel sind notwendigerweise auf kurze richtunggebende Aus-
führungen beschränkt und mit Hinweisen auf die Spezialwerke versehen. So
spiegelt das Ganze das Wissen der Zeit und erfüllt jetzt wie ehedem seinen
Zweck, dem Studierenden ein Lehrbuch, Ärzten, Ingenieuren, Medizinal- und
Verwaltungsbeamten ein Auskunftswerk zu sein. Max Hirsch, Berlin.
Graetz: Lehrbuch der Physik. 5. vermehrte Auflage. Mit 285 Abbildungen.
Verlag von Franz Deuticke, Wien 1923.
Dieses seit langem erprobte Lehrbuch hat wesentliche Erweiterungen er-
fahren, unter denen für den Mediziner die Röntgenspektroskopie und die Kern-
theorie der ‘Atome besonders wichtig sind. Relativitätstheorie und Quanten-
theorie sind in ihren Fragestellungen angedeutet. Die Hauptabschnitte, Mechanik,
Lehre vom Schall, vom Licht, von der Wärme, Magnetismus und Elektrizität sind
durch neue Erkenntnisse ergänzt. | Max Hirsch, Berlin.
Sellheim, Die geburtshilflich- gynäkologische Untersuchung. Ein Leit-
faden für Studierende und praktische Ärzte. Vierte, vermehrte und um-
gearbeitete Auflage. Mit 94 Abbildungen. J. Bergmann, München 1923.
Dieses ausgezeichnete Buch ist nun seit mehr als 20 Jahren Rüstzeug vieler
Ärztegenerationen. In Klarheit und Anschaulichkeit der Darstellung ist es
kaum zu überbieten. Auch da nicht, wo es in schwierige Einzeldinge eindringt.
Auch der schon erfahrene Arzt tut gut, von Zeit zu Zeit sein Wissen und Können
an der Hand solcher auf der Höhe der Zeit gehaltenen Bücher zu prüfen und sein
im Drange des Berufslebens leicht entfesseltes Verfahren wieder zu ordnen.
Um nur weniges zu nennen: ausgezeichnet ist die Darstellung der Beckenmessung,
die Stellungnahme gegenüber vaginaler und rektaler Untersuchung der Ge-
bärenden, wobei die Trennung zwischen keimhaltigem und keimfreiem Gebiet
des @eburtskanals und die Respektierung des Muttermundsaumes grosse instruk-
tive Bedeutung hat. Neu ist die Darstellung ‘der Abderhaldenschen Reaktion.
Wertvoll die Kapitel über die „Hand“, die „Unterhaltung mit hilfesuchenden
Frauen‘ und die „Psychologie im Umgang mit kranken Frauen“. Überflüssig
und schädlich das Kapitel „Anwendung der Uterussonde“. (S. Max Hirsch:
Die Üterussonde ist ein gefährliches und entbehrliches Instrument. Zentralbl. f.
Gynäk. 1922. Nr. 36.) Max Hirsch, Berlin.
Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz: Menschliche Erblich-
keitslehre. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Grundpreis (ergibt
vervielfacht mit der jeweiligen Buchhandelsteuerungszahl den Ladenpreis)
geh. 9 M., geb. 12 M. J. F. Lehmanns Verlag, München 1923.
Schon nach zwei Jahren können wir eine zweite Auflage des verdienst-
vollen Werkes begrüssen. Baurs kurzer klarer Abriss der allgemeinen Varia-
tions- und Erblichkeitslehre ist von einzelnen Berücksichtigungen neuerer
Arbeiten abgesehen unverändert abgedruckt. Auch der zweite Abschnitt: Die
Rassenunterschiede des Menschen von Eugen Fischer ist unverändert.
Wesentlich erweitert wurde der dritte Abschnitt: Lenz, Die krankhaften Erb-
anlagen des Menschen. Neu hinzugekommen ist ein sehr zu begrüssender vierter
Abschnitt von Lenz: Die Methoden menschlicher Erblichkeitsforschung. Im
fünften Abschnitt: Die Erblichkeit der geistigen Begabung geht Lenz auch auf
verschiedene Finwendungen gegen die erste Auflage ein.
4) Kritiken. 207
Wohltuend empfindet der Leser das Bestreben einer ruhigen Sachlichkeit
gegenüber gewissen parteipolitischen Ausschlachtungen viertelverstandener bio-
logischer Ergebnisse und Theorien. So wendet sich Lenz zum Beispiel gegen
die den Biologen längst als Unsinn bekannte, durch Dinters berüchtigten
Roman in das Interesse weiterer Kreise gerückte Telegonie. Das Wesen des
Karzinoms, erklärte Lenz, besteht in einer Idiokinese somatischer Zellen.
(Die entsprechenden Arbeiten von Boveri 1914 und Ref. 1920 scheinen dem
Verf. entgangen zu sein.) Verf. betont immer wieder einen wie geringen Einfluss
die Anpassung gegenüber der Zuchtwahl hat. Anpassung einer Rasse heisst
aber Zuchtwahl, denn es erhalten sich eben vorwiegend die den gegebenen
Bedingungen am besten angepassten.
In den von Eugen Fischer beigefügten „Ausgewählten Rassenbildern‘
kann ich keine Verbesserung des Buches erblicken. Die wenigen Bilder sind
schlecht vergleichbar, weil es sich offensichtlich um Vertreter ganz verschiedener
sozialer Bevölkerungsschichten handelt.
Möge das Buch recht weite Kreise zur Mitarbeit im Sammeln von Material
anregen. Wie weit beim Menschen willkürliche Zuchtwahl getrieben werden
kann und soll, werden spätere Zeiten ergeben. Die Hoffnungen in dieser
Richtung sind sehr bescheiden. Fritz Levy, Berlin.
M. Rubner, M. Gruber und M. Ficker: Handbuch der Hygiene. V. Bd.
Nahrungsmittel. Mit 44 Abbildungen und einer Tafel. Verlag von S. Hirzel,
Leipzig 1922.
In dem vorliegenden V. Bande des bekannten Handbuchs der Hygiene
behandeln E. Kallert und R. Standfuss die Fleischhygiene, W. Ernst
Milch und Milchprodukte, H. Serger die Hygiene der pflanzlichen Nahrungs-
und Genussmittel von der Gewinnung bis zum Gebrauch, M. Schindowski
Märkte und Markthallen und Kühlanlagen und schliesslich Fr. Auerbach
die gesetzliche Regelung des Lebensmittelverkehrs.
Aus dem ausserordentlich reichhaltigen Inhalt lassen sich Einzelheiten
kaum besonders hervorheben. Man gewinnt überall den Eindruck, dass die
neuesten Ergebnisse auf den verschiedenen Gebieten durchaus berücksichtigt
sind. Vielleicht hat das Bestreben sich möglichst kurz zu fassen, manchmal
dazu geführt, dass einige Abschnitte etwas zu kurz geraten sind, so z. B. in
dem Abschnitt der Fleischhygiene die Besprechung der Krankheiten der Schlacht-
tiere und in dem Abschnitt der IIygiene der pflanzlichen Nahrungs- und
Genussmittel vermisst der Leser einiges über die physiologische und patho-
logische Wirkung dieser Mittel, insbesondere aber Angaben über die alko-
holischen Genussmittel, die doch auch aus pflanzlichen Rohstoffen gewonnen
werden. Es mag ja sein, dass im ersten Band des Handbuchs Mitteilungen
darüber gemacht werden, doch wird ganz gewiss derjenige, der die Inhalts-
angabe des V. Bandes liest, auch Belehrung über diesen Teil der Genussmittel
erwarten. So ist dieses Kapitel der Hauptsache nach weniger cine Nahrungs-
mittelhygiene, als vielmehr Nahrungsmittel- und Konservierungskunde, und zwar
eine ziemlich umfassende und nicht nur dem Arzte, sondern jeder Hausfrau
ausserordentlich nützliche. Diese Empfehlung möchte ich übrigens auf den
gesamten Inhalt des Bandes ausdehnen und damit auch gleichzeitig zum
Ausdruck bringen, dass ich das Buch auch allen Lehrern und Lehrerinnen
an Haushaltungs- und Kochschulen als Grundlage für ihren Unterricht wärmstens
empfehle. ` | Westenhöfer, Berlin.
Ferdinand August Schmidt: Physiologie der Leibesübungen. Dritte
umgearbeitete Auflage. Mit 86 Abbildungen. Verlag von R. Voigtländer in
Leipzig.
Die neue Auflage des rühmlichst bekannten Buches ist dem Begründer
und Rektor der deutschen Hochschule für Leibesübungen August Bier
208 Kritiken. [5
gewidmet. Diese Widmung zeigt besser als alles andere, welch einen ge-
waltigen Aufschwung nicht nur die Leibesübungen in Deutschland gewonnen
haben, sondern wie auch das Verständnis für die Notwendigkeit der Schaffung
der wissenschaftlichen Grundlagen und ihrer Verwertung bei der Ausführung
der Leibesübungen in allen Teilen des Volkes gestiegen ist. In dem vor-
liegenden Werke zeigt Schmidt in grossen Zügen, welche Wege bei der
Ausführung der Leibesübungen einzuschlagen sind. Auf Grund der Anatomie
und Physiologie bespricht er die für die verschiedenen Lebensalter und die
-beiden Geschlechter geeignetsten Übungen. Das Verständnis für seine Dar-
legungen wird durch zahlreiche Einzelbeispiele ausserordentlich erleichtert, auch
für denjenigen, der keinerlei wissenschaftliche Vorbildung auf dem Gebiete
der Anatomie und Physiologie besitzt. Ich stehe nicht an zu behaupten, dass
sein Buch auch der Mehrzahl der Ärzte reiche Belehrung und Anregung geben
dürfte, und dass es für jeden, der sich als Turn- und Sportlehrer ausbilden
will, unentbehrlich ist, und dass es sehr nützlich wäre, wenn man es jedem
jungen Menschen in die Hand geben könnte, nicht nur denen, die die Absicht
haben sich turnerisch und sportlich zu betätigen, sondern noch vielmehr
denjenigen, die zu solcher Betätigung keine Lust und Neigung haben. Ein-
gehend wird die Einwirkung der Leibesübungen auf Knochen und Gelenke,
auf die Muskeln und das Nervensystem, auf Atmung und Lungen, auf Herz
und Gefässe und den Gesamtstoffwechsel des Körpers besprochen. Ganz aus-
gezeichnet ist seine Darstellung der Unterschiede und der verschiedenen Ziele
des deutschen und schwedischen Turnens, der Vorzüge und Nachteile der ex-
tremen Richtung der beiden Turnarten, wobei er immer wieder in den Mittel-
punkt seiner Betrachtungen das eine grosse Ziel stellt, das durch die Leibes-
übungen erreicht werden soll, nämlich an Körper ;und Geist gesunde, allen
Anforderungen des Lebens gewachsene und entschlussfähige, gewandte und
willensstarke, aufopferungsfähige Menschen zu erziehen. Und da man auf
Schritt und Tritt in dem Buche dieses Ziel durchfühlt, auch wo der Verfasser
es nicht besonders in den Vordergrund stellt, sso liest man das Buch mit einer
kritischen Aufmerksamkeit und Spannung, die den Leser bis zum Schlusse
festhält. Wohl manchen Leser wird ein tiefes Bedauern beschleichen, dass
in seiner Jugend solche Anschauungen und Grundlagen der Leibesübungen noch
nicht existierten, ein Bedauern, das nur durch die Freude unterdrückt wird,
dass die neuen jungen Geschlechter es besser haben werden, da sie nach soliden
Grundsätzen erzogen werden, die Ferd. Aug. Schmidt seit 30 Jahren
vertreten hat. Westenhöfer, Berlin.
Renato Kehl: „Wir wollen unser Leben verbessern und verlängern!“
(Portugiesisch). Liveria Francisco Alves. Rio de Janciro 1922.
Die Ideen jenes grossen englischen Gelehrten und Gründers der Eugenetik,
Galton, welcher 1911 im 89. Lebensjahre in London verschieden ist,
nehmen immer mehr die Aufmerksamkeit der Fachmänner aller Welt in An-
spruch, und haben ein grosses Gefolge von leidenschaftlichen Anhängern
gefunden. |
Auch in Brasilien, wo die erste südamerikanische eugenetische Gesell
schaft gegründet worden ist, beginnt sich allmählich eine Literatur über
Eugenetik zu bilden, und als einer der eifrigsten Verbreiter erscheint Dr. Re-
nato Kehl, ein in brasilianischen und ausländischen Kreisen wohl bekannter
Arzt und Schriftsteller, über dessen Abhandlungen bereits früher schon in
dieser Zeitschrift von mir berichtet worden ist.
In dem vorliegenden Werke „Wir wollen unser Leben verbessern und
verlängern‘ vertritt Kehl von neuem seine Überzeugung von der körper-
lichen, geistigen und intellektuellen Verbesserungsmöglichkeit der Rasse, welche
sich in langsamem Fortschritt „ad naturam“, und besonders mit Hilfe der
6] Kritiken. 209
„galtonianischen* Normen, vollziehen soll. Er ist überzeugt, dass diese Ver-
besserung schnell und sicher vor sich gehen ‚würde, wenn die eugenetischen
Kenntnisse im Volk verbreitet, und die galtonianischen Regeln gesetzlich durch-
geführt würden, so dass die Ausschaltung rasseverderbender Faktoren möglich
wäre.
K. tritt besonders auch für die gesetzliche Einführung der Gesundheits-
zeugnisse vor der Ehe ein und bemüht sich ganz allgemein ein, wie er es
nach dem Vorgange von Hirsch nennt „eugenetisches :Grewissen“ zu schaffen.
Durch alles dieses hofft er einen absolut ‚gesunden Menschenschlag zu er-
reichen, das Specimen „Vollblut“, um mit diesem die wirklich vollkommene
Rasse zu schaffen, von der schon Plato, Äschylos und Sophokles und viele andere
grossen Geister bis auf Galton geträumt haben. Leider wird K. wohl ebenso
wie wir hier im alten Europa noch viel Wasser in seinen schäumenden euge-
netischen Wein giessen müssen. . Westenhöfer, Berlin.
Grundriss der Sozialökonomik. II. Abteilung: Die natürlichen und technischen
Beziehungen der Wirtschaft. 1. Teil: Wirtschaft und Natur. Zweite, neu-
bearbeitete Auflage. Verlag von J. C. B. Mohr, Tübingen 1923.
Die Neuauflage dieses grundlegenden Werkes ist durch die Erfahrungen
des Weltkrieges bereichert. Hettner behandelt die geographischen Be-
dingungen der menschlichen Wirtschaft; Oldenberg: Die Konsumtion; Herk-
ner: Arbeit und Arbeitsteilung; Membert: Bevölkerungslehre; Michels:
Wirtschaft und Rasse. Die letzten beiden Abhandlungen sind für den Arzt,
Sozialhygieniker und Bevölkerungspolitiker von großer Wichtigkeit.
Wer Momberts Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutsch-
land und seine anderen Arbeiten über das Problem des Geburtenrückgangs
kennt, weiss, mit welcher Objektivität, mit welcher Freiheit von religiösen
und politischen Tendenzen der Verf. an die Untersuchung dieses Gegenstandes
ler Bevölkerungsiehre herangeht. Wie sehr er bemüht ist, die wirtschaftlichen
und sozialen Tatsachen selber sprechen zu lassen.
Zwar erscheint es noch verfrüht, die Geburtenhäufigkeit nach dem Kriege
abschliessend zu beurteilen, nachdem während des Krieges die Eheschliessungs-
ziffern einen Tiefstand von 4,0°%/,, im Durchschnitt erreicht haben. Was heute
geboren wird, sind zum grössten Teil noch Erstgeborene der Nachkriegsehen.
Es fehlt noch die Summierung mit 'Zweit- und Drittgeborenen, welche erst
in den nächsten Jahren zu erwarten ist. Aber wie dem auch sein mag, dic
Lebenslage des deutschen Volkes ist heute eine solche, dass das zweckbewusste
Eingreifen in die Fortpflanzung, welches schon Jahrzehnte vor dem Kriege
begonnen hatte, geradezu als Notwendigkeit erscheint. Es in Bahnen zu lenken,
dass es die Volksgesundheit nicht vernichtet, ist ‘Aufgabe kluger Bevölkerungs-
politiker und’ einsichtiger Ärzte. —
Die Abhandlung von Michels über „Wirtschaft und Rasse‘ bietet den
Rassebiologen ganz neue Ausblicke. Sie ist durch Berücksichtigung fast der
gesamten seit der ersten Auflage in den wichtigsten Kulturländern erschienenen
Literatur über diesen Gegenstand zu einer einzigartigen Darstellung dieser
nach dem Kriege besonders brennenden Frage geworden.
Auch in den anderen Abhandlungen sind die Kriegserfahrungen verwertet.
die der Emährung in Oldenbergs Beitrag „Konsumtion“, die der wirt-
schaftlichen Entwicklung in Herkners Beitrag „Arbeit und Arbeitsteilung‘.
Wer die Zusammenhänge von Wirtschaft und Bevölkerung, ihrer Zu- und
Abnahme, immer noch nicht einsieht, dem ist nicht zu helfen. Vielleicht macht
er noch einen letzten Versuch mit der Lektüre dieses Werkes, in welchem
Nationalökonomen von bestem Ruf zu ihm sprechen. MaxHirsch, Berlin.
210 - Kritiken. [7
Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter. 3. Auflage. Verlag von
Julius Springer, Berlin 1923. — Medizinische Psychologie. 2. Auflage.
Verlag von Georg Thieme, Leipzig 1923. — Über Hysterie. Ebenda 1923.
Diese drei Werke, inhaltlich und grundsätzlich ineinandergreifend, und
zugleich der Abschluss einer Reihe von vorangehenden Einzelpublikationen des
Verfassers in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, bilden
zweifellos einen gleichsam katalytisch wirkenden hochbedeutsamen Faktor in
dem Arbeitsprozess der gegenwärtigen Psychiatrie. Sie haben aber auch über
den engeren Forschungskreis dieses Tastgebietes hinaus ein berechtigtes Auf-
sehen erregt; und auch in der Sexualwissenschaft haben sie anregende und
befruchtende Ideengänge mobilisiert. Zwar sind ihre leitenden Gesichtspunkte
nicht neu — man kann sie bis auf Morel, Lomboso, Spencer und
Wundt zurückverfolgen: aber sie treten in kühner, origineller Abwandlung
und in einem geistreichen, oft blendenden Gewande auf; und vor allem bringen
sie viel missbrauchte und daher missverstandene, und zuletzt seit langem
beiseite geworfene Leitideen der Forschung in einer .brauchbaren, dem heutigen
Erkenntnisstande angepassten Form wieder zu Ehren und zu praktischer Be-
währung. Diese Leitideen kann man als die anthropologisch-bio-
logische und die entwicklungspsychologische Einstellung auf
die Geisteskrankheiten, die abnormen Persönlichkeiten und ihre Symptomatik
bezeichnen. . Die klinischen Krankheitsgruppierungen der Psychiatrie verlieren
den Charakter systemloser, äusserlich-schematisierender Willkür, die nur zu
‘oft nicht mit den konkreten Fällen zu vereinbaren war; sie wandeln sich zu
pathobiologischen Konstitutionstypen und Teiltypen oder Radi-
kalen, die im Einzelfalle sich zu einem wirklichen, biologisch wie psycho-
logisch voll determinierten Gebilde zusammensetzen.
Im Formenkreise des manisch-depressiven Irreseins kehren bestimmte
Körperbautypen mit statistischer Häufung immer wieder. Das gleiche
gilt für den Formenkreis der schizophrenen Psychosen, nur dass hier die
Körperbautypen und Stigmen wesentlich andere sind. Die gleichen Körperbau-
merkmale aber finden sich in der nicht kranken Blutsverwandtschaft abge-
stuft, aber dem gleichen Erbgang unterworfen wie die psychotische Disposition
in ihrer Eigenart. Der Körperbau geht auf genetische Fundamente zurück, die
letzten Endes erbbiologisch bedingt sind und über die endokrine Formel ihre
Wirkungen zeitigen. Auch die Charaktergrundlagen der Kranken und ihrer
nichtkranken Blutsverwandtschaft sind die gleichen. Beides, das Körperliche
wie das Charakterologische, wurzelt also in dem gleichen pathologischen, konsti-
tutionellen Boden. Dieser bewirkt bestimmte jeweilige Zuordnungen von Physi-
schem und Psychischem, nämlich Charakter- und Teinperamentsformel. Und
dies gilt für die psychotische wie für die nichtpsychotische Phänotypik. Es
gibt „zyklothyine‘‘ und ‚schizothyme‘ Konstitutionen; sie haben ihre — im
Gesunden wie im Kranken gleichartige — ganz eindeutige morphologische
und psychologische Determinierung; und die Psychose ist nur eine Klimax,
eine äusserste Zuspitzung dieser konstitutionellen Typik. Sie hat keine festen
Grenzen mehr gegen das Nichtpsychotische. Diesen Gedankengang führt
„Körperbau und Charakter“ ganz konkret durch und wendet ihn viel-
fältig an, insbesondere auch auf die Typen 'genial-schöpferischer Persönlich-
keiten.
Wenn dem so ist: woher dann aber die psychotische Symptomatik? Woher
insbesondere die Seltsamkeiten schizophrener Gebilde? Wir müssen sie, nach
dem Gesagten, doch als charakterogene Gestaltungen .begreifen können, unter
Voraussetzung einer eigentümlichen seelischen Konstitution! Dies Begreifen
soll uns die entwiceklungs-psychologische Einstellung gewährleisten; und
hier verschmilzt die Kretschmersche Forschung zum Teil mit der psycho-
analytischen. Alle Symptome der Psychosen sind nur Wiederbelebungen archa-
8] Kritiken. 211
ischer, phylogenetisch älterer Entwicklungsstufen der Seele, die beim Kinde
und beim Primitiven aktuell sind, mit fortschreitender Entwicklung des Denkens
und Zweckwillens aber in Latenz geraten. Sie ruhen in präformierter Bereitschaft
unter dem Oberbau wachbewussten Reagierens; in der Psychose aber brechen
sie in dieses ein. So wird die „Medizinische Psychologie“ eine
Naturgeschichte der Seelenentwicklung von den Primitivismen
an bis zum vollreifen und wachen Zweckgeschehen in der Psyche. Die präfor-
mierten Mechanismen des primitiv-seelischen Reagierens werden in ihrer bio-
logischen Notwendigkeit und Ursprünglichkeit aufgesucht und den Konsti-
tutionstypen zugeordnet; die einfachsten Reaktionstypen werden geschildert;
ihre Beziehung zu dem affektiven Seelengeschehen und izu den psychopathi-
schen Persönlichkeiten, zu den Neurosen und zu (den Schizophrenien wird er-
leuchtet. Was sidh so prinzipiell ergab, wird dann im Hysterje-Büchlein
noch einmal ganz speziell auf die Hysterielehre angewendet. Der motorische
Anfall ist auf die Präformation des „Bewegungssturms‘“, der synkapale auf die des
„Totstellreflexes‘‘ im Tierreich bezogen; die einzelnen Symptome lassen sich
alle als seelische Primitivismen bei bestimmten konstitutionsbiologisch fun-
dierten Reaktionsweisen dartun und psychologisch-dynamisch zueinander in
Beziehung bringen; aus den Gesetzen der willkürlichen }Reflexverstärkung
folgt das zugleich Tendenziöse und Instinktive im hysterischen Verhalten:
kurz, wir erhalten eine so klare und plastische Veranschaulichung des Aufbaus
der Hysterie und ihrer psychologischen Bedingungen, dass wir vermeinen, alles
an ihr mit neuen Augen zu sehen. Als ‚Krankheit‘ im alten, klinischen Sinne
stürzt sie freilich ein; aber als dynamisch-primitive ‚Reaktivität der Seele lebt
sie um so konkreter und tiefer begriffen wieder auf; und gerade das
Schwierigste an ihr: die Vielheit ihrer Symptome und die unabgrenzbare Ubi-
quität des Auftretens hysterischer Züge auch beim Nichthysterischer, — wird
am klarsten einsichtig.
Dass alle diese Dinge auch für die Sexualwissenschaft wichtig sind, be-
darf keines Hinweises. In welchem Ausmass die Gedankengänge Kretsch-
mers eine bleibende Stätte in der Forschung finden werden, das vermag man
heute noch nicht zu sagen. Dass hier aber eine ungewöhnlich reiche psycho-
logische und biologische Intuition Anregungen und Ausblicke 'von höchster
Fruchtbarkeit der künftigen Arbeit in Psychiatrie und Psychologie erschlossen
hat, dafür zeugt schon das ungewöhnliche Interesse, das diese Bücher gefunden
haben und das ihnen in rascher Folge immer neue Auflagen ermöglicht. Es
kommt hinzu, dass der Autor einer der besten deutschen Stilisten unserer
Wissenschaft ist; seine Werke lesen sich, man möchte sagen wie ein spannender
Roman. Das soll keine Empfehlung ihres Inhalts sein, wohl aber zu ihrem
Studium und ihrer Verbreitung in allen interessierten Kreisen anregen.
Kronfel!d, Berlin.
Karl Birnbaum: Der Aufbau der Psychose. Grundzüge der psychiatri-
schen Strukturanalyse. 106 S. Verlag von Julius Springer, Berlin 1923.
Dieses reifste Werk Birnbaums.wird in der Geschichte der Psychiatrie
einen dauernden Platz einnehmen: ist es doch jein Symbol für den gegen-
wärtigen Stand und ein Wegweiser für die künftigen Bahnen der psychopatho-
logisch-klinischen Forschung, dem wir in der gegenwärtigen Fachliteratur nichts
auch nur annähernd Ähnliches an die Seite stellen können. Die psychiatrische
Klinik hatte, in der Sammlung und Ordnung der Beobachtungsmaterialien zu
Verlaufs- und Krankheitstypen, ihren Höhepunkt erreicht: weiter ‚schien sie mit
ihren eigenen Arbeitsweisen nicht gelangen zu können. Aber zur Erfassung
des konkreten Einzelfalles reichten die klinischen Einordnungsgesichtspunkte
nur in einer Minderzahl von Fällen zu. Und alle die jungen Forschungszweige,
die sich gerade die möglichst umfassende Erklärung des einzelnen Falles
212 Kritiken. (9
zur Aufgabe gestellt hatten, entwickelten sich teils ganz unabhängig von der
Klinik — wie etwa die phänomenologischen oder die psychoanalytischen Rich-
tungen, — oder sie gingen zwar von .klinischem Boden aus, verloren ihn jedoch
allmählich immer mehr unter den Füssen — wie etwa die psychopathologische
Charakter- und Persönlichkeitsforschung, die Typologie, die Konst'tutionspatho-
logie und Körperbaulehre und die Erblichkeitsforschung. Birnbaum hat nun
mit einem bewundernswerten Masse von systematisierender geistiger Archi-
tektonik eine Vereinheitlichung dieser aus- und nebeneinanderstehenden Arbeits-
linien gegeben und in dem vorliegenden Werkchen programmatisch begründet.
Er zerlegt die klinisch-beschreibend gefundenen Bilder „strukturanaly-
tisch“ in die Bedingungen und Bestimmungsstärke, aus denen sie hervorgeben:
und er bewertet die Beziehungen und den Rang dieser Aufbau-Determinanten
zueinander. Damit tritt an die Stelle der bisherigen, zufällig und willkürlich
wirkenden, unbeglaubigten roh-empirischen ‚Krankheiten‘ zum ersten Male
die wirkliche Erkenntnis der Tendenzen und Kräfte, welche das klinische Bild,
im Einzelfall wie in typischen Verhältnissen, pathogenetisch und symptomatisch
aufbauendgestalten. Undin diesem strukturanalytischem Rahmen finden
nun auch alle die Einzelzweige der Forschung, die bis dahin ohne Beziehung
auf klinische Befunde verblieben waren, ihre mitwirkende Funklion an der
Bestimmung des Aufbaus der Psychosen.
Es verbietet sich hier natürlich, auch nur die leitenden Gedanken der
Finzelarbeit wiederzugeben, die Birnbaum mit dieser Darstellung geleistet
hat. Eine Fülle von Stoff und Gedanken bewegt jede Seite des Werkes und
bereichert auch den Erfahrenen durch die ‚tiefe Kennerschaft und Zergliederungs-
kunst des Verfassers. Wir können nur mit aller Eindringlichkeit auf die Durch-
arbeitung des Werkchens selber hinlenken. Es enthält Gedanken, deren An-
wendung sich übrigens auch im übrigen Bereich der Medizin, insbesondere der
Nosologien, von grosser grundsätzlicher und praktischer Fruchtbarkeit erweisen
dürfte. Auch die Sexnualpsychopathologie kann Gewinn daraus ziehen.
Kronfeld, Berlin.
Kurt Schneider: Die psychopathischen Persönlichkeiten. Handbuch
der Psychiatrie, herausgegeben von Aschaffenburg. Spezieller Teil, 7. Abt.
1. Teil. Verlag von Franz Deutike, Leipzig und Wien 1923.
Der. Beitrag des ausgezeichneten Kölner Psychopathologen zu dem grossen
Handbuch der Psychiatrie stellt das Reifste dar, was bisher zu den Problemen
der Psychopathien geäussert worden ist. Seine Erörterungen des Normbegriffs
und der Beziehung psychopathischer Typen zu den menschlichen Charakteren
und zum Wesen der Individualität überhaupt klären reines der schwierigsten
Arbeitsgebiete der Psychiatrie grundsätzlich und methodisch. Er neigt zu einer
Erfassung biologischer Persönlichkeiten in demjenigen Sinne, den Kretsch-
mer inauguriert hat, ohne jedoch das deskriptive Moment zugunsten des
biologisch-konstitutionellen zu vernachlässigen. So liebevoll er sich um eine
beschreibende und dynamische Charakterologie der Formen bemüht, so resig-
niert er in der endlichen Einteilung doch zu einem Kompromiss mit dem von
der Klinik herstammmenden Ordnungsprinzip gemäss dem auffallenden Symptom.
Das muss auch wohl so sein; denn das deskriptiv Einfachste im Seelen-
geschehen ist nicht mehr Abbild konkreter wirklicher menschlicher Typen; diese
sind — infolge ihrer biologischen Fundierung +— für die beschreibende Psychologie
immer zusammengesetzte vorgegebene Bildungen, welche durch Abstraktionen
nur verdunkelt oder zerstört werden. So bringt er — bei aller Neigung zum
System — dennoch Portraits: plastische, lebensvolle menschlich-typische Wirk-
lichkeitsbilder. Diese erschöpft er aber in all ihren Rückbeziehungen auf
Anlage, Milieu, Wirkungsweisen kultureller und sozialer Art.
10] Kritiken. 213
Ohne dass die Sexuahtät im psychopathischen Leben m:hr als flüchtig
gestreift würde — die Sexualpsychopathologie hat in Aschaffenburgs
Handbuch ihre eigne Darstellung gefunden —, ist das Studium dieses Werkes
doch auch für den Sexuologen unumgänglich, wofern ihm überhaupt konstitutions-
wissenschaftliche Einstellungen eignen. Denn er findet hier die krankhaften
Persönlichkeiten, deren Reaktivität auch die Geschlechtlichkeit ihrer Träger
ins Abnorme schicksalsmässig verzerrt.
Nicht völlig einverstanden ‚bin ich lediglich mit dem zu strengen forensi-
schen Standpunkt des Verfassers, der die Konsequenzen aus der konstitutions-
pathologischen Bedingtheit seiner Typen wohl nicht genügend in Rechnung
zieht.
Sonst ist das Werk eine ebenbürtige Fortsetzung dieses Handbuchs, in
dem ja auch ein Werk als Teil erschienen ist, das dem Fortschritt der For-
schung eine entscheidende Wendung für Jahrzehnte gegeben hat: Bleulers
Schizophrenie-Buch. Kronfeld, Berlin.
Peter Schmidt: Theorie und Praxis der Steinachschen Operation. 90 S.
Rikola Verlag 1922.
Mit warmherzigem Enthusiasmus tritt der Schüler Steinachs für das
Werk dieses vielumstrittenen Forschers ein. In einem 'theoretischen Teil wieder-
holt er die bekannten experimentellen Argumente für eine geschlechtsspezifische
hormonale Hodenfunktion. Er weist darauf hin, dass Steinach diese Funktion
niemals nur in die Leydigzellen lokalisiert hat, sondern durchaus auch
mit der Beteiligung des Tubulus-Epithels, nämlich der Sertolizellen,
rechnet. Im übrigen sucht er die Anschauung ‘derer, die dem generativen Anteil
gleichzeitig auch die Hormonbildung zuschreiben, recht triftig ou entkräften.
Interessant ist ein Hinweis auf eine Arbait von Aron über die sekundären
Sexuszeichen von Triton: Bei Urodelen war stets das Fehlen der Leydig-
zellen aufgefallen und als Argument gegen deren inkretorische Funktion ver.
wendet worden. Aron konnte nachweisen, dass die Sexuszeichen dieser
Tierordnung von der Funktion einer besonderen, dem Hilus des Hodens
aufsitzenden Schicht grosser lipoidhaltiger Zellen abhängen — womit die
Annalıme, die Hormonbildung stehe irgendwie mit der Spermatogenese in
Zusammenhang, auch für die Urodelen in Fortfall gerät.
In einem zweiten Teile berichtet Verfasser über 24 Fälle von Vasoligatur,
die er auf Grund verschiedener Indikationen vorgenommen hat und be deren
Mehrzahl er, auch mit objektiven Methoden, allgemeine :Besserung im Sinne
einer „Verjüngung“ beobachtet hat, die in den günstigsten Fällen 11/, Jahre
anhielt. Kronfeld, Berlin.
Ludwig Frank: Seelenleben und Rechtsprechung. 410 S. Verlag ron
Grethlein & Co., Zürich und Leipzig 1923.
Der angesehene Züricher ‚Nervenarzt geht in der psychologischen Auf-
fassung und Behandlung der Grenzzustände und Neurosen bekanntlich seine
eigenen Wege, die ihn in eine Mittelstellung zwischen der Klinik und der
Freud-Jungschen Psychoanalyse geführt haben. Im vorliegenden Buche
sucht er diesen Standpunkt einem breiteren Forum, insbesondere Juristen, in
einer popularisierenden Darstellung zu begründen und mit Beispielen zu be
legen. Mit Freud hat er die Annahme gemeinsam, dass alle psychopathischen
Zustände, Reaktionen und Charaktere eine individuelle Entstehungsgeschichte
haben, durch eine Dynamik der Triebe und 'Affekte auf Grund von äusseren
Erlebnissen sich gestalten und daher therapeutisch einer Rückbildung fähig
sind. Einen konstitutionellen Faktor erkennt er nicht an, oder gibt dieser
Anerkennung wenigstens keine praktische psychologische Folge. So kommt
eine Darstellung heraus, die dem Laien besonders leichtverständlich ist, der
214 Kritiken. [11
aber die zeitgenössische Forschung im ganzen wie im einzelnen mannigfache
Einwendungen zu machen hätte. — Die Beziehungen zur Rechtsprechung werden
nur lose gestreift, nicht forensisch-medizinisch vertieft; dankenswerterweise
ist dem Verfasser am wichtigsten, den Juristen einmal gründlicher in der Sphäre
psychopathologischer Zusammenhänge heimisch zu machen. Dies gelingt der
Darstellung in hohem Grade. — Das sexualpsychopathologische
Gebiet ist in seinem sozialen, strafrechtlichen und zivilrechtlichen Auswir-
kungen ganz besonders breit abgehandelt und eine vortreffliche erste Ein-
führung für Laien. Freilich macht sich gerade hier der einseitige Standpunkt
und ein oft erstaunlicher psychotherapeutischer Optimismus stark bemerklich.
Kronfeld, Berlin.
Arthur Kronfeld: Sexualpsychopathologie (als 7. Teil des Handbuches
der Psychiatrie. Herausgeber: Prof. Aschaffenburg). 1348. Verlag von
Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1923.
Es ist erfreulich und bemerkenswert, dass die noch so junge Sexual-
wissenschaft auch in dem Grenzgebiet der Psychiatrie so stark Wurzel fassen
konnte, dass die Sexualpsychopathologie in einem dem seelischen Leiden
gewidmeten Sammelwerke als selbständiger Forschungszweig Platz finden musste.
Me Durchführung dieser Aufgabe liegt bei Kronfeld in den besten Händen.
In einem ersten Abschnitt bringt er einen deutlichen Überblick über Be-
griff und Wesen von „Geschlechtstrieb und Persönlichkeit‘‘, der den gegen-
wärtigen Anschauungen durchaus gerecht wird und namentlich auch den
Freudschen Auffassungen sich anlehnt. Es folgt die Besprechung der Konst,
tutionellen Faktoren“ der Sexualität unter vorsichtiger Bewertung der gerade
erst in jüngster Zeit hier erschürften Wissensdaten. Im dritten Hauptteil werden
die sexuellen Perversionen abgehandelt, wobei Kronfeld, was Stoffeinteilung
und sachliche Zusammenhänge anbetrifft, seinen persönlichen Meinungen einen
. breiten Spielraum lässt. Es ist mindestens strittig, job man die Onanie und die
gesteigerte Libido als Grenzfälle der Perversion auffassen kann, obwohl zuge-
geben werden muss, dass der Begriff des Perversionellen überhaupt heute
noch nicht feststeht. Die Unterscheidung der perversiones in actu von denen
in objecto entspricht und entspringt der klinisch symptomatischen Beobach-
tung, deckt sich aber nicht immer mit den psychologischen Zusammenhängen.
— Bemerkenswert scheint der Hinweis des Verfassers, dass der Fetischismus
durch suggestive, speziell hypnotische Einflussnahme therapeutisch leicht anzu-
gehen sei. Der letzte Teil behandelt die „sexuellen Neurosen“. Bei der kurzen
Zusammendrängung dieses Riesenstoffes musste die Vertiefung in Einzelheiten
zurückgestellt und der hier gut gelungene Versuch gemacht werden, die
ihrer letzten Lösung noch harrenden Probleme in einer klaren Gesamtschau
zusammenzustellen. À
Dieses neue Werk Kronfelds zeichnet sich aus neben der klaren und
ruhigen Darstellung des Stofflichen durch das Bemühen, den vielen noch nicht
ins deutliche Licht gerückten Problemen der Sexualpathologie in leidenschafts-
loser und objektiver Weise gerecht zu werden. Auch ist die dem Buche am
Schluss angefügte sexuologische Bibliographie in ihrer fleissigen, fast voll-
kommenen Reichhaltigkeit allen Spezialinteressenten hochwillkommen.
H. Koerber.
Wilhelm Steckel: Der Fetischismus. Für Ärzte und Kriminalogen. Verlag
von Urban und Schwarzenberg, Berlin- Wien.
Bei diesem fast 40 Bogen starken Werk, das den siebenten Band seiner
Veröffentlichungen über „Störungen des Trieb- und Affektlebens‘‘ bildet, ist man
zunächst wieder erstaunt über den unermüdlichen Fleiss des Verfassers, die
flüssige Art seiner Darstellung und über den ausserordentlichen Reichtum des
— — m -a
12] Kritiken. 215
zum Thema herbeigeschafften Materials. — Nach einer begrifflichen Abgrenzung
des Fetischismus von ähnlichen noch der Norm zugehörigen Erscheinungen bringt
Verfasser auch hier seine Auffassung der Zwangsneurose :als einer Abartung reli-
giöser Zuständlichkeit der Seele in Verbindung mit ‚Schuldgefühlen, Straffurcht-
und Sühnebedürfnis. Er hat mit dieser seiner Auffassung in weiteren psycho-
analytischen Kreisen noch keine Zustimmung gefunden, da sie zu viel kon-
kurrierende Elemente anderer Ichtriebe, namentlich den so bedeutungsvollen
Narzismus allzu wenig in Betracht zieht. Aus der grossen Fülle dargestellter
fetischistischer Perversionen seien hier nur einige, teilweise zum ersten Mal
zur Beobachtung und zur literarischen Bearbeitung gebrachte Fälle aufgezählt:
Handschuh- und Gummifetischismus, Unterrock- und Frauenhemdenfetischismus,
Korsett- und Schuhfetischismus, Schürzenfetischismus, Schuhnägel und Absätze
in ihren Beziehungen zum Liebesleben. Besondere Hervorhebung verdient ein
Fall von orthopädischem Fetischismus, der dem Verfasser Gelegenheit gibt, sich
mit der diesbezüglichen Hirschfeldschen Auffassung auseinanderzusetzen.
— Bei aller Reserve in der Zustimmung und Anerkennung gewisser Einzelheiten
ist das Steckelsche Werk dankbar zu begrüssen :als ein neuer und umfang-
reicher Versuch, in das so dunkle, in seinen Auswirkungen so verhängnisvolle
Gebiet des Fetischismus hineinzuleuchten und damit vielleicht die Möglichkeit
der Heilung dieser bisher sich so widerspenstig verhaltenden Perversion näher-
zubringen. H. Koerber,
Julius Schuster (Berlin): Schmerz und Geschlechtstrieb. Versuch einer
Analyse und Theorie der Algolagnie (Sadismus und Masochismus.) Mono-
graphien zur Frauenkunde und Eugenetik, Sexualbiologie und Vererbungs-
lehre. Herausgegeben von Max Hirsch (Berlin). Nr. 5. Mit zwei Schrift-
proben. 44 S. Verlag von Curt Kabiızsch, Leipzig 1923.
Die Iwan Bloch gewidmete Arbeit gibt anknüpfend an historische Vor-
bilder, namentlich Marquis de Sade und Sacher Masoch sowie zwei klinische
Fälle, eine Semiologie und Pathologie des Sadismus und Masochismus; sie
werden unter dem Oberbegriff Algolagnie zusammengefasst. Diese stellt den
quantitativ gesteigerten geschlechtsspezifischen Sexuallusttrieb dar. Die Anlage
dazu ist bisexuell, ihrer Tendenz nach ist sie insofern getrennt geschlechtlich, als
die eine Geschlechtstendenz über die andere dominiert; ihrer Valenz nach
ist sie quantitativ gegenüber dem Normalen gesteigert.
G. Mamlock, Berlin.
Placzek: Das Geschlechtsleben des Menschen. Ein Grundriss für Studierende,
Ärzte und Juristen. Verlag von Georg Thieme, Leipzig 1922.
Die Absicht, den durch die gegenwärtig von allen Seiten sich bereichernde
Forschung zusammengetragenen Stoff in einem kurzen Kompendium lehrmässig
darzustellen, bedeutet ein besonderes Verdienst um die ‚Sexuologie; und die Aus-
führung dieser Absicht durch einen Praktiker von der grossen Erfahrung und
dem Überblick des Verf. kann im allgemeinen als durchaus gelungen und
würdig bezeichnet werden. Es sind ja bei einer solchen didaktischen Über-
mittlung sexuologischer, insbesonders sexualpsychologischer und pathologischer
Dinge mannigfache Klippen zu umschiffen — was z. B. den Werken selbst eines
Krafft-Ebing oder Moll nicht voll gelungen ist. Steht in dieser
Hinsicht das vorliegende Büchlein höher, so hat es vor den Werken von
Hirschfeld oder Stekel, die ja von umfassender eigener Forscherarbeit
erfüllt sind, die Kürze und Präzision voraus. Dass es neue Gesichtspunkte
oder Ergebnisse bringe, ist bei seinem Sonderzweck nicht zu erwarten. Viel-
leicht entschliesst sich Vert. in der hoffentlich .bald erfolgenden nächsten Auf-
lage auch die Ergebnisse der modernen Sexualbiologie, die das Problem der
Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 83. 15
216 Kritiken. [13
Geschlechtlichkeit als genotypischer Struktur so gefördert haben, sowie die
psychischen Geschlechtsunterschiede darzustellen. Ebenso wäre eine Aufnahme
der Sexual-Anthropologie und Ethnologie in den L.ehrstoff '‘dankenswert. — Dass
viele abweichende Ansichten anderer Forscher sich überall geltend machen
liessen, ist kein Mangel des Buches, dessen Verf. durchaus das Recht hat.
das ihm lehrbar und gesichert Erscheinende zu bevorzugen. — So kann dem
Büchlein als einem erfreulichen Repräsentanten der Sexualwissenschaft eine
weite und für diese werbende Wirkung gewünscht und vorausgesagt werden.
Kronfeld, Berlin.
J. Kyrle: Über den derzeitigen Stand der Lehre von der Pathologie und
Therapie der Syphilis. Sechs Vorlesungen für praktische Ärzte. Zweite
Auflage. Verlag von Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1922.
Die Einführung in die klinisch-pathologischen Probleme der Syphilis
erfolgt unter ausgiebiger Heranziehung der modernen Gesichtspunkte, insbe-
sondere hinsichtlich der grossen Bedeutung des Primäraffekts und der sero-
negativen Phase. Dabei verliert sich die Darstellung nie ins Theoretische, sondern
knüpft überall an die Bedürfnisse und Fragestellungen der ärztlichen Allgemein-
praxis an. Die Behandlung der Wa.-R. und der Liquorreaktionen wird in .
“ dieser Präzision — und zugleich in der weisen Beschränkung auf das \Wesent-
liche — dem Praktiker willkommen sein. Hinsichtlich der Therapie ist ins-
besondere die Abwägung der Hg-Salvarsan-Alternative, das Problem der An-
fangsdosis Salvarsan, die Dauer und Zeitpunkte therapeutischen Vorgehens, die
Frage der Salvarsanschädigungen und Neurorezidive beachtlich. Dem didaktisch
klaren, von reifer Erfahrung getragenen Werke ist im Interesse des grossen
Kampfes gegen die Volksseuche eine weite Verbreitung in Ärztekreisen zu
wünschen. Kronfeld, Berlin.
Sexualwissenschaftliches Beiheft
nebst Verhandlungsbericht der ärztlichen Gesellschaft für Sexual-
` wissenschaft und Eugenetik in Berlin.
Für das sexualwissenschaftliche Beiheft können ausser den Vorträgen der Gesellschaft nur
kurze sexualwissenschaftliche Mitteilungen angenommen werden.
Verhandlungen
der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Eugenetik in Berlin.
Sitzungen vom 20. April und 15. Juni 1923.
1. Herr Kronfeld: Zusammenfassender Bericht der Kongressvor-
träge über Konstitution und Sexualität.
Herr Max Hirsch legt in seiner Eröffnungsrede die Beziehungen zwischen
Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft dar.
Herr Kraus schilderte das Herauswachsen der Konstitutionsforschung aus
den historischen Bedingungen. Der klinische Lokalismus und ebenso die Über-
spitzung des Ätiologismus, wie ihn z. B. die bakteriologische Ära mit sich
brachte, trugen das Umschlagen in konstitutionspathologische Fragestellungen
bereits im Keime in sich.” Man denke etwa an den Begriff der individuellen
Resistenz gegen bakterielle Infektion (Hueppe, Martius, Kraus). Das
zweite Moment, welches uns zum konstitutionellen Denken erzog, lag in dem
Auftreten funktioneller Fragestellungen. Endlich aber hat der Arzt es mit
Personen, mit Individualitäten zu tun; und es galt die Beziehungen der Kon-
stitution zur Persönlichkeit systematisch klarzulegen.
Tbeoretisch ist zwar die Erbkonstitution, die genotypische Reaktions-
norm Johannseus, scharf zu trennen von denjenigen Umformungen, welche die
Beschaffenheit durch die Lebenslage, die Konstellation erfährt. Aber einmal
ist der Mendelismus auf den Menschen noch nicht scharf anwendbar, und zweitens
besteht zwischen endogenen und exogenen Momenten eine so innige Wechselbeziehung,
dass diese Trennung praktisch kaum durchführbar ist. Es kommt hinzu, dass
die Entwicklungsarbeit sich durch die ganze Phase individueller Existenz
umformend hindurchzieht und somit die originäre und die sekundäre Köhper-
verfassung nicht mehr trennbar sind. Herr Kraus hat uns aus unserem Gebiet
ein treffendes Beispiel gegeben: die Geschlechtsbestimmung, welche von geno-
typischen Faktoren abhängt, aber sich entwicklungskurvenmässig hormonal gestaltet.
Schwieriger und wohl.auch anfechtbarer werden die Deduktio:en des Herrn
Kraus da, wo er die Grundlagen eines dynamologischen Aufbaues der Person
begrifflich zu fixieren sucht. Er bekennt sich hier zu einer morphologischen
Grundansicht, welche den gestaltstheoretischen Lehren Wertheimers
und Köhlers parallel geht. So will er den Begriff’der Person im Sinne einer
Ganzheit verstanden wissen. Diese Ganzheit ist mehr als ihre Teile, die ihrer-
seits nur unter Ganzheitsbedingungen möglich sind; sie ist „Gestalt“ im Sinne
einer generellen Morphologie; Gestalt aber ist nicht nur Form, nicht nur Äusserer
Habitus — vielmehr sind dies nur Teilbedingungen der Gestalt. Es handelt sich
um letzte grundlegende Fragen der Naturphilosophie, an die diese Formulierung
des Personenbegriffes hier heranreicht. Sie zu diskutieren, ist hier nicht der Ort:
es sei nur bemerkt, dass das Problem der Individualität seit Leibniz bereits
mannigfache andere Lösungsversuche erfahren hat (Driesch, Schneider,
Kroner, Rickert, W. Stern usw.). Wichtiger ist die von Herrn Kraus an-
genommene Schichtung und Schaltung der Person; er stellt der kortikalen eine
striär-vegetative Tiefenperson gegenüber, er weist ferner auf einzelne
der eingeschalteten Systenie inne;halb der konstitutionellen Ganzheit hin, z. B.
auf jenes klinisch wohlbekannte, welches die französische Forschung am Beispiel
des Arthritismus aufgezeigt hat. Herr Kraus selber sucht die letzte und ent-
15*
218 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [2
scheidende Instanz des spezifisch Konstitutionellen in der Beschaffenheit des
Plasmas, als des somatischen Feldes für das vegetative System. Die wechselnde
Ladung mit antagonistischen Kationen ist nach seinen Versuchen die
Grundlage des Elektrolytturgors, der Durchtränkungsspannung und des Tonus;
beide seien letzte individuelle Momente. Die Gleichgewichtsherstellungen zwischen
ihnen als dem Ausdruck der Person und dem Medium sind streng individuelle
und werden zum Teil in letzten psychischen Erlebensformen, Bewusstsein, Gefühl,
Trieb sowohl gestaltet als erlebt. Ich glaube nicht, dass es Herrn Kraus durch
dese Reduktion des Psychischen 'auf den Elektrolytturgor zu gelingen vermag.
den Gegensatz der physischen und der psychischen Sphäre innerhalb der Indivi-
dualität za schlichten und auf die gleichen Grundlagen zurückzubeziehen. Natür-
lich aber müssen wir auch die psychische Eigenartung der Person- und das gilt
ganz besonders für die Triebe und die Geschlechtlichkeit — heuristisch aus den
gleichen konstitutionellen Voraussetzungen und Bedürfnissen zu verstehen suchen,
welche auch das übrige Leben des Organsmus morphologisch und biolngisch indi-
viduell gestalten.
Herr Hartmann gab ein eingehendes Referat über den gegenwärtigen Stand
der Erblichkeitsforschung in bezug auf die Geschlechtlichkeit. Er zeigte zunächst
die genotypischen Geschlechtsfaktoren; er sprach von den zwei Arten
von Samenzellen, die sich durch das Vorkommen der x-Kromosomenzahl
unterscheiden; er zeigte die Gründe, aus welchen ein von einem Spermium mit
nur einem x-Kromosom befruchtetes Eimännliche, ein von einem solchen mit
zwei x-Kromosomen befruchtes Ei weibliche Differenzierung erhält, und die direkte
Zurückführbarkeit dieses Gesetzes auf die Mondelschen Regeln. Das x - Kromosom
wirkt also als Geschlechtsdifferenziator. Ander Hand derGoldschmidtschen
Untersuchungen erklärte er sodann die Bedingungen für das Entstehen zygo-
tischer Intersexe. Bei der Kreuzung gewisser geschlechtlich ungleich-
wertiger Rassen von Schmetterlingen (tymantria dispar) ist der Grad und Ein-
tritt der Intersexualität direkt berechenbar. Es ist mithin eine poten-
tielle Bisexualität in jeder Keimanlage, ja vielleicht in jeder Zelle
nicht ausserhalb des Bereichs der Wahrscheinlichkeit, und die Bildung der
zygotischen Sexualität hängt von dem Verhältnis der Erbwerte, dem Geschlechts-
differenziator, ab. Davon wiederum abhängig vollzieht die :geschlechtliche Diffe-
renzierung des Soma sich alsdann hormonal; und wie die Befunde von
Kellner und Lillie bei embryonalen Rinderzwillingen beweisen, kann auch
bei besonderen Umständen trotz genotypischer Eindeutigkeit der Geschlechts-
bestimmung eine hormonale Intersexualität sich herausdifferenzieren.
Herr Kretschmer setzt die konstitutionellen Faktoren auch :m Trieb-
leben des einzelnen als bestimmend voraus und folgt den Wegen, auf denen
sie in die höheren scelischen Strukturen hinein sich auswirken. Er zeigt, dass
konstitutionelle Anomalien des Geschlechtstriebes auszustrahlen vermögen ins
Seelische und ins Geistige, und dass sie Anastomosen eingehen mit anderen
Triebgebieten. Diese beiden Erscheinungen hängen von der Fähigkeit des
Individuums ab, überhaupt innerseelische Verknüpfungen zuzulassen und
zu ermöglichen. In diesen Gesichtspunkten liegen für Herrn Kretschmer
die Grundlagen für eine Dynamik der Triebe und für ihre charaktergestaltende
Bedeutung. Insbesondere gelang es ihm, die Umsetzungen und Verwandlungen
dieser konsfitutionellen Triebanlagen in hochwertige Korrelate religiöser, ethischer
und künstlicher Art bei verschiedenen sexuellen Reaktionstypen als spezifisch
nachzuweisen. Es ist ihnen klar, wie vieles hier aus den Forschungen Freuds
herübergenommen und mit konstitutionsbiologischen Ansichten verwoben wird.
Ebenso, wie ausserordentlich schwierige Probleme hierfür eine entwicklungs
psychologische und psychodynamische Auswertung der individuellen Konsti-
tution in sexueller Hinsicht noch liegen. |
An den Ausführungen des Herrn Mathes war besonders interessant,
dass er den morphologisch-deskriptiven Begriff des asthenischen
Habitus und den des rein deskriptiven Eunuchoids konstitutions-
dynamisch und genetisch umzuformen wusste. Ausgehend von den sexuellen
3] Sexualwissenschaftliches Beiheft. 219
Differenzierungsmomenten der Konstitution, suchte er diese deskriptiven Typen
als Intersexe zu begreifen. Er machte sich dabei die von Herrn Hart:
mann vorgetragenen Feststellungen über die genotypische Geschlechtsbestim
mung zu eigen, und ordnete seinen ’Intersexen nicht nur die genannten Foımen,
sondern auch die hypophysären Typen, die Kümmerform von Kraus und die
Infantilismen unter, ebenso die schizoiden Typen Kretschmers. Wird ein
intersexueller Typ zu Entscheidungen sexueller Art gezwungen, so ergeben sich
mangelnde Anpassungsbedingungen, die als Konflikt, als Dysmenorrhoe, Vaginis-
mus, Schwangerschaftserbrechen, Geburtsschwierigkeiten sowie als bestimmte
Neurosen und Psychosen erscheinen. Auch hierüber dürfte ‘die Diskussion
mancherlei Neues bringen.
Die Herren Posner und Mühsam erörterten die sexuellen Konsti-
tutionsmomente beim männlichen Geschlecht. Herr Posner warnte vor der
Annahme einer Alleinherrschaft der endokrinen Drüsen; er wies mit Recht auf die
im vegetativen’ Nervensystem liegenden, die Hormonbildung regulierenden Fak-
toren hin. Und auch was Herr Mühsam über die Ergebnisse der Keimdrüsen-
überpflanzung und der Kastration an Hand praktischer Fälle mitteilte, unter-
streicht diese Warnung.
Herr Peritz sieht ebenfalls in der hormonalen Differenzierung nur einen
Faktor der Sexualkonstitution, der seinerseits in Abhängigekit von den Ge-
schlechtsfaktoren erblicher Art und von der endogenen \Reaktionsbereitschaft des
Zentralnervensystems zur Wirkung kommt.
Herr Hirschfeld konnte diesen Referaten gegenüber mit berechtigtem
Stolz darauf hinweisen, dass die wesentliche Tendenz :derselben seit 25 Jahren
von ihm, im Kampf mit mannigfachen Widerständen, verfochten und zur An-
erkennung gebracht worden ist.
Herr Hübner zog daraus forensische Folgerungen, nicht nur hinsicht-
lich der Zurechnungsfrage, sondern auch der zu den Delikten jeweils hinzu-
tretenden sexuellen Tatbestandsmerkmale.
Aussprache:
Herr Körber: Ich vermisse bei den Referenten sämtlich die Anerkennung
und Erwähnung von zwei Männern, die seit langem den Zusammenhang zwischen
Konstitution und Sexualität in dem gleichen Sinne geklärt haben, wie es in diesen
Referaten zum Ausdruck kam: Fliess und Hirschfeld. Die Gesellschaft
für Sexualwissenschaft, deren Mitglieder beide seit vielen Jahren sind, wird mir
darin beipflichten.
Bezüglich des Vortrages Kretschmer habe ich eine klare Abgrenzung
seiner psychologischen Annahmen zur Theorie Freud vermisst. Entweder
Kretschmer ist ein Anhänger derselben — und 'das ist nach seinen Aus-
führungen kaum zu bezweifeln: dann muss er !begründen, warum er nicht alle
Konsequenzen der Freudschen Forschung mitmacht. Oder er ist das nicht:
dann muss er sagen, dass seine Darstellung un von Freud und seiner
Schule herrührt.
Herr Magnus Hirschfeld erklärt die Einteilung von Professor
Hartmann in zygotische und hormonale Untersexualität für unbefriedigend;
es müsse gelingen, beide Formen auf eine einheitliche Formel zu bringen.
Ferner warnt Hirschfeld den Infantilismus ohne weiteres den sexuellen
Zwischenstufen zuzurechnen. Die infantilistische Entwicklungshemmung täusche
nur insofern Untersexualität vor, als im jugendlichen 'Alter die Geschlechts-
unterschiede noch nicht völlig entwickelt seien, sie sei also keineswegs mit den
ausgebildeten Geschlechtsübergängen identisch.
Herr Fritz Levy: Die hormonale Geschlechtsdifferenzierung wird sich
meines Erachtens auch als zygotisch festgelegt erweisen. Das Gegenüber-
stellen zweier Typen, mögen sie Mann — Weib, athletisch — asthenisch, schizoid
— zyklothym oder sonst wie heissen, ist sehr gefährlich. Diese Typen sind
nicht rein statistisch, sondern enthalten z. T. s»hr subjektive Wertirteile, Aus
gewissen statistischen Werten wird durch einen Denkakt, eine erdachte aber nicht
beweisbare Formel, eine Quersumme gezogen. Schwierig ist die Beurteilung
220 Sexualwissenschaftliches Beihefi. [4
vor allem dadurch, dass es sich um statistische Werte nicht eines Wertmales
handelt, sondern mannigfaltiger, die zweifellos in bestimmten aber noch kaunı
bekannten Korrelationsbeziehungen stehen. Nehmen wir aber für die Typen
den einfachsten Fall, sie unterschieden sich nur un bezug auf ein Merkmal,
Blüten- oder Augenfarbe o. ä. Die ‚biologische Forschung hat die Presence-
Absence-Theorie von Bateson verlassen. Wir wissen vor allem durch die grund-
legenden Arbeiten R. Goldschmidts, dass ein Gen nicht nur dasein oder
fehlen kann, sondern dass auch ein Gen mehr oder minder wirksam bzw.
quantitativ verschieden vorhanden sein kann. Zwischen Extremen gibt es völlig
gleitende Übergänge. Goldschmidt ist der Ansicht, dass vielfach die sog.
multiplen Allelomorphe, anscheinend verschiedene Gene, die einander ersetzen
“können, nur quantitative verschiedene Mengen desselben Gens darstellen. Wie
viel mehr Vorsicht ist geboten, wenn es sich nicht um ein Merkmal, sondern
viele handelt!
Herr Max Hirsch zieht in kurzen Umrissen das Ergebnis der Aussprache
und fügt hinzu, dass auch er bei Durchmusterung seines gynäkologischen
Materials nach konstitutiven Gesichtspunkten eine Zweileilung im Sinne von
Kretschmer nach schizoidem und pyknischem Formenkreis oder im Sinne
von Mathes nach sexuell ınangelhaft differenzierter Zukunftsform oder sexuell
hochdifferenzierter Jugendform nicht erkennen könne. Hirsch hat sein Material,
von dem er einen grossen Teil durch 15 Jahre beobachtet hat, nach dem Körper-
bau der Patientinnen geordnet. Er hat die Tumoren und Entzündungen, welche
pathogenetisch von der Konstitution unabhängig sind, ausgesondert und nur die
Senkungen, Verlagerungen, Menstruationsstörungen, insbesendere die Dysmenor-
rhoe und Sterilität umfasst. Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen, die Mit-
teilung also nur eine vorläufige. Die meisten Trägerinnen der genannten
Störungen gehören zum asthenischen Typ. Sie sind aber durchaus nicht gleich-
bedeutend mit dem intersexuellen Typ von Mathes, sondern zirka 20%. sind
sexuell voll «differenziert, d. h. sie zeigen gar keine intersexuellen Stigmen,
weder körperliche noch seelische. Ihre anatomische und funktionelle Minder-
wertigkeit betrifft ausschliesslich den Bindegewebsapparat und das splanch-
nische und spinale Nervensystem.
Die zweite Gruppe (ca. 40%) sind die Hypoplasten. Die Hypoplasie betrifft
entweder nur den Genitalapparat, ist daher selten genotypisch bedingt, sondern
meist im Laufe der Entwicklung erworben durch Säuglings- und Kinderkrankheit,
(durch Berufsarbeit und Lebenslage. Die Hypoplasten sind funktionel! fast durch-
weg aninderwertig, dysmenorrhoisch und steril. Ihre psychische Sexualität
aber ist in einem Drittel der ‚Fälle ‚voll ausgebildet. Die Individuen dagegen
mit allgemeiner Hypoplasie, «die Infantilisten, zu denen auch die T,ymphatiker
gehören, sind sämtlich sexuell mangelhaft entwickelt, und zwar sowohl körper-
lich als auch in bezug auf die Triebrichtung. Die restlichen 40% gehören zur
Gruppe der Intersexe. Sie weisen einzelne oder viele körperliche und seelische
Stigmen der Intersexualität auf, sind teils Astheniker, teils Hypoplasten, teils
Kunuchoide. Zu ihnen sind auch diejenigen ' Individuen ‚zu rechnen, welche
lediglich in der Triebriehtung abnorm sind, ohne ;körperliche Stigmen der Inter-
sexualität aufzuweisen.
Die menschliche Intersexualität muss als eine Folge von Valenzverschie-
bungen der Geschlechtsfaktoren betrachtet werden, bei der einer von beiden
Faktoren das Übergewicht gewinnt und seinen Geschlechtscharakter zur Aus-
bildung bringt. Diese Faktoren sind sowohl körperlicher als seelischer Art und
durchaus nicht immer abhängig voneinander. Die seelische Struktur und
insbesondere die des Trieblebens scheint doch in hohen Masse von der körper-
lichen unabhängig zu sein, und es scheint notwendig, die anatomischen, bio-
logischen und psychologischen Fundamente der Konstitution gesondert zu be-
trachten. Konstitution ist etwas Funktionelles und als solches kein Dauer-
zustand, sondern veränderhieh und abhängig von Entwicklungsalter und Lebens-
lage. So scheint Systemalisierung unmöglich wegen der Mannigfaltigkeit der
5) Sezualwissenschaftliches Beiheft. 22]
Typen, der fliessenden Übergänge und der Veränderlichkeit. Systeme sind ja
auch nur Fiktionen, Gedankenbehelfe für Forschung und. Unterricht.
2. Herr A. Weil: Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Ver-
einigten Staaten von Nordamerika. Ein Reisebricht (s. dieses Archiv, Bd. IX
S. 185).
Anaepreche:
Herr Heller bestätigt im wesentlichen die Erfahrungen Weils auf
Grund seiner eigenen Studien in Amerika und über amerikanische Sexual-
reform. Er hält jedoch die amerikanischen Anschauungen und Methoden im
einzelnen nicht ohne weiteres auf andere Verhältnisse für übertragbar.
Herr Juliusburger wendet sich gegen Weils Ausführungen über die
amerikanische Alkoholgesetzgebung. Amerika sei hierin vorbildlich; die Heuchelei
mancher Kreise und der Alkoholschmuggel bewiesen nichts gegen das an sich
richtige Prinzip.
Felix A. Theilhaber: Die Kenntnis der : amerikanischen Sexual-
verhältnisse ist für uns sehr lehrreich. Leider sind die Ziffern z. B. der ameri-
kanischen Geburtenstatistiken absolut mangelhaft; auch die Statistiken der
heschliessungen (Anzahl der Kolibatäre) und die ‚Zeit der Eheschliessungen
(angeblich Frühehe in Amerika) sind uns bis jetzt nicht bekannt geworden.
Die von Weil genannte Ziffer der Geschlechtskranken ist für ein angeblich
so keusches Land recht gross. Der Rückgang der Erkrankungen in den letzten
Jahren ist vielleicht auch in europäischen Ländern zu bemerken, wo sich normale `
Verhältnisse anbahnen, insbesondere scheint auch bei uns die Syphilis abzu-
nehmen, obwohl ein energischer Kampf dagegen fehlt.
. Wichtig wäre für uns die Kenntnis der Entwicklung der Indianer und der
Neger sowie der Mischlinge. Über die Entwicklung dieser Rassen wissen wir in
Furopa recht wenig, über das Geschlechtsleben so gut wie nichts. Im allgemeinen
wird von vielen Besuchern Amerikas darauf hingewiesen, 'dass die amerikanische
Kultur (oder Zivilisation) den starken sexuellen, sinnlichen Einschlag in den
Hintergrund zu drängen sucht.
Nur die Kenntnis aller dieser Erscheinungen kann uns zeigen, in welcher
Weise die Gesetzgeber Deutschlands gut daran tun, Massnahmen zur Veredelung
der Erotik zu ergerifen.
Herr Bornstein schliesst sich Herrn Juliu ——— an. Es sprachen
ferner die Herren Loewenstein, Max Hirsch und Weil (Schlusswort).
3. Herr P. Krische: Zur Soziologie der Ehe (s. dieses Archiv, Bd. IX.
S. 172).
Aussprache: Die Herren Max Hirsch, Krische (Schlusswort).
4. Herr Juliusburger: Über weibliche Sexualverbrechen im An-
schluss an einen neueren Prozess.
5. Herr Crzellitzer: Über die Bedeutung der Geburtenreihenfolge
für die Qnalität der Kinder.
Crzellitzer erwähnt zunächst kurz die Vorteile des ersten Kindes
(Reiz der Neuheit für die Eltern; grösseres Interesse für seine Entwicklung ;
Filtern jünger und daher evtl. auch gesünder) sowie die Nachteile (schwerere und
daher längere Geburt mit erhöhter Gelegenheit zu Schädigungen währenddessen ;
geringere Übung in.der Pflege und Wartung). 'Erstgeburtsrecht in der Bibel als
sozialer Vorrang des ersten Sohnes vor Geschwistern und Mutter, begründet
offenbar mit der Vorstellung, dass der erste Sohn (als „Sohn meiner Jugend-
kraft“, wie Jakob einmal sagt) auch der Tüchtigste sei.
Demgegenüber haben nun eine Reihe von Autoren (insbesondere Engländer)
eine Minderwertigkeit der Erstgeburt beschrieben. Pearson, Havelock
Ellis, Mitchell, Rivers fanden unter Tuberkulösen, Idioten und Krimi-
nellen eine wesentlich höhere Betätigung der Erstgeborenen als in der allge-
meinen Bevölkerung. Diese Behauptung ist sogar in die Lehrbücher aufgenommen,
obgleich zu denken geben müsste, dass auch für Hochbegabte (also Plus-
varianten): von Galton die erhöhte Häufigkeit beim Erstgeboreuen behauptet
2292 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [6
wurde, also eine Überwertigkeit. Crzellitzer hat mit Hilfe seiner Familien-
karten, die für in Betracht kommende Patienten seiner Klinik angelegt wurden, zu-
nächst die Tatsachen nachgeprüft. Auch er fand ene Häufigkeitsdifferenz
zwischen den verschiedenen Kindern in dem Sinne, dass z. B. in 410 Familien,
wo Schiele n auftritt, bei den ersten Kindern (44% befallen sind, von
den zweiten 35,4%, dritte 370%, vierte 31%0 also ein deutliches Überwiegen
der Erstgeburt.
Für hochgradige Kurzsichtigkeit ergab sich in 634 Familien,
dass die ersten Kinder betroffen waren zu .49,200, von den zweiten 35,7%o,
dritten 330/0, vierten 35%, fünften 290) usw. |
Diese Zahlen beweisen aber nichts, ebensowenig wie alle
die englischen Angaben, obgleich sie aus dem berühmten Galton Laboratory
stammen und von Pearson, dem Führer der Biometrischen Schule geprüft
sind. Es wird nämlich vorausgesetzt, dass ‚der Prozentsatz unter ersten, zweiten
usw. Kindern gleich hoch sein müsste, und übersehen, dass imausgelesenen
Material eine Häufigkeitsdifferenz rein mathematisch zustande
koınmt, auch wenn in Wahrheit die Geburtenfolge ohne jeden Einfluss ist.
Von 1000 Berliner Familien, die in den letzten Jahren vor dem Kriege
heirateten, sind 372 Einkinderfamilien,- 256 Zweikinderfamilien, 140 Dreikinder-
familien, 79 Vierkinderfamilien usw. Dieselbe Verteilung gilt, falls das Gegen-
teil nicht bewiesen ist, für Schielfamilien ‚oder !Tuberkulosefamilien oder Idioten-
“ familien oder sonstwie ausgelesene. Mithin stammen von den 1000 Erstgeborenen
in diesen 1000 Familien 372 aus den Einkinderfamilien (die eben alleerfasst
werden), die Hälfte der 256 Erstgeborenen aus Zweikinderfamilien also 128,
der dritte Teil der 140 Erstgeborenen aus Dreikinderfamilien also 47 und so fort,
so dass im ganzen 591 von diesen 1000 Erstgeborenen befallen sind, also 5990,
und zwar ist das ein Mindestwert für IQualitäten, die so selten sind, dass sie in
jeder Familie nur in einem Exemplar vorkommen. {Für die zweiten Kinder
kommt nach derselben Methode berechnet heraus 35%, für die dritten Kinder
25% befallen, für die vierten 1990. . Als Kurve gezeichnet ergibt sich eine
regelmässige Hyperbel als Bild für die fallende Häufigkeit der Be-
fallenen ın der Greburtenreihenfolge.
Diese Kurve gilt für ausgelesene Familien stets, wenn auch nicht überall
genau in der gleichen Form. Die von Crzellitzer berechnete Kurve galt
für Berlin und moderne Familien; der Vortragende zeigte, dass früher ent-
sprechend der höheren ehelichen Fruchtbarkeit weniger Einkinderfamilien und
Zweikinderfamilien vorhanden waren, dafür mehr Familien mit grossen Kinder-
zahlen. Dadurch werden die Zahlen etwas anders, die Hyperbel weniger
steil abfallend, aber an der prinzipiellen Bedeutung einer mathematischen
bedingten Differenz der Häufigkeit in ausgelesenem Material wird nichts geändert.
Zum Schlusse zeigt Crzellitzer, dass, wenn sein Material gespalten
wird in Familien mit und solche ohne elterliche Belastung, ein wesentlicher
Unterschied resultiert bez. der Häufigkeitsdifferenz; in Familien, wo hoch-
gradige Kurzsichtigkeit bei Kindern und Eltern nachweislich war, zeigten die
Erstgeborenen 620,, die Zweiten 43%, die Dritten 290% Befallene; in solchen
Familien, wo nur Kinder hoch kurzsichtüg waren, aber beide Eltern frei, waren
die Prozentzahlen 4400, 3300, 3500, 27% usw.
Vortragender deutet an, in welcher Weise dieser Unterschied zu be-
greifen wäre, nämlich durch die Annahme zweier verschiedener Sorten von hoher
Myopie und fordert auf zur Nachprüfung seiner für eine Reihe von praktischen
Aufgaben (wie Berufsberatung, schulärztliche Überwachung, Eheberatung usf.)
ausserordentlich wichtigen Resultate.
Aussprache: Die Herren Kronfeld, Max Hirsch, Crzellitzer.
A.
Abraham, Karl 67.
Achilles, Paul S. 191.
Alsberg, Paul 70.
Amon 6l.
Amos, T. G. 115.
Ancel 168.
Aschner 164.
Asher 113.
Auerbach, Fr. 207.
Avenarius 86.
B.
Baer, A. 69.
Bartel 107.
Bartels, Paul 26.
Barth, E. 143.
Barthel, Ernst 72.
Bauer, K. H. 113.
Baur, Erwin 206.
— Ludwig 71.
Bebel, August 174.
Becher 77.
“ Bechstein, Ludwig 142.
Bernstein 143.
Bertholet 55.
Besant, Anni 49.
Bier, August 207.
Biodiıng 46.
Bird 111.
Birnbaum, Karl 211.
Bloch, Iwan 1, 76, 215.
Blumgarten, A. S. 187.
Boas, Franz 67.
Boehm, E. 111.
! Bruchmann, K, 69, 70, 71,
Namenverzeichnis.
F.
| 72, 134, 137, 138, 139, kicker, M. 207
142.
| Brunet, Walter Minson 188.
Bublitschenko 121.
' Bübler, Charlotte 140.
Burckhardt, J. 69, 169.
Buscban, G. 69.
: Basse, Kurt H. 180
Byron 69
| C.
Carneri, Bartholomäus 186.
| Charles 49.
'Cohen-Kysper, A. 85, 88.
i Cox, Harald 51.
Crzellitzer 221.
Cunow, Heinrich 174.
Curtis, Artur H. 116.
Cuvier 69
| Czerny, Ad. 62.
D.
Dahl, Friedrich 137.
Dante 69.
De Lapouge 27.
Diepgen 60.
Dietzel v. Nordenflycht
165.
Doubois 108.
Dresel 61.
Driesch, Hans 77, 137, 201.
Drystale, George 49.
Dürkheim 173.
i
!
Bomsdorf-Bergen, Herbert E
59 `
v. 59.
Borchardt, L. 113.
Bornstein 146.
Borst 110.
Bouin 168.
Boveri 207.
Boulet 108.
Bradlaugh, Charles 49.
Bramann 57.
Brandt, Murra
Brown-Séquard 76.
L. 117.
Ebermayer 42.
Ebrenfels v. 90.
Eichstedt 64.
Ellis, Havelock 51.
| Elster, Alexander 39.
' Enderlen 169.
| Ernst, W. 207.
Eulenburg, Albert 75.
Evert, Raye 188.
Exner, M. J. 188.
Fischer, Eugen 206.
Fliess 177.
Förster 169.
Fraenkel, L. 198.
Frank, Ludwig 213.
Fränkel, Fritz 112.
Franz, Victor 201.
Freud, Sigmund 65, 174,
175.
Freund, H. 64.
Friedländer 147.
Fries, C. 203.
Furniss, H. D. 115.
G.
Galloway, T. W. 191.
Galton
Garré 57.
Gauss 69.
Gersonides 60.
Goldschmidt, R. 24, 76, 78,
151, 160, 220.
Gottlieb 111.
Götzl, A. 108.
Grabe, v. 66.
Graetz 206.
Granier, C. 69.
Greil, Alfred 2, 196.
Grenser 61.
Gross 24.
Grote 204.
Gruber, M. 207.
Grünberg 191.
Guttmann, A. 147.
H.
Haberland 106.
Haberlandt, L. 21, 198.
Hada 108.
Haeckel, Ernst 21, 60, 186,
175.
Haecker, V. 182.
Hammesfahr 169.
Hart, ©. 111.
224
Hartmann 97, 149. 218.
Hartmann, E. v. 77.
Hegel 68.
Heller 146, 221.
Henderson, H. 115.
Henle 57.
Herkner 209.
Herzog, Alfred 193.
Hettner 209.
Hilgenberg 169.
Hirsch, Arnold 134, 135.
— Max 1, 39, 43, 45, 57,
60, 61, 63, 73, 74, 75,
103, 130, 131, 132, 136,
137, 142, 144, 145, 146,
149, 204, 205, 206, 209,
217, 220.
Hirschfeld, Magnus 148, |
19.
150, 2
Hoche 46.
Hoffmann, Hermann 131.
Houten, van 49.
Hübner 150, 219.
Humboldt, Wilhelm v. 69.
Hume 68.
Israel 164.
Israeli 60.
Jodl, — 77, 136.
Juliusburger, Otto 65, 135,
221.
Jung, Gustav 69.
K.
Kallert, E. 207.
Kant 77, 202.
Kappstein, Anna 59.
Kehl, Renato 208.
Kehrer, E. 63, 66, 114, 139.
Kemnitz, M. v. 148, 174,
180.
Keynes 51.
Knauer 164.
Köcher 164.
Koerber, H. 140, 143, 148,
214, 215, 219.
Koffka 93.
Köhler, Otto 61.
— W. 94, 95.
König 65, 66, 67, 134, 139.
Krafft-Ebbing 76.
Kruus, Fr. 79, 81, 149, 216. |
Kretschmer, Ernst 78, 97,
100, 144, 149, 210, 218.
Krische, P. 148, 173.
Kritzler, Hans 201.
Kronfeld 59, 144, 146, 147,
154, 211, 212, 213, 214,
216, 217.
Namenverzeichnis.
i Kruse, Uve Jens 59. |
Küttner 57.
Kyrle, J. 216.
L.
Lahm 130.
Langley 92.
Lashley, K. S. 191.
Lecky 69.
Lenz, Fritz 206.
Leupold, E. 111.
Leverrier 70.
Levy, Fritz 144, 207, 219.
Lexer 57. |
Lichtenstern, R. 10%, 169, :
170, 171.
Liebig 69.
Lilienthal v. 47.
Lillie 187.
Lindemann 196.
Lindner, Th. 68.
Lingard 105.
Lipschütz 169.
Loeb, L. 198.
Loewenstein, G. 143.
Lombroso 69.
— Gina 138.
Longet 92.
Lorenz, O. 69.
Lubarsch 104.
Lundborg 144.
| Luschan, Fel. v. 134.
P Amatus 60.
|
ydston, Frank G. 119.
Maimonides e
| Malthus 49.
Mamlock, G. 215.
| Manouvrier 25, 69.
` Marchand 69.
Marcuse, M. 109.
' Martius 81.
aer Paul 96, 103, 150,
1
Matthes 160.
Matthiessen, Wilhelm 205.
.Mayrhofer, Carl 114.
Michels, Robert 51, 209.
Mittermaier 41.
: Möbius 27.
Ä Mombert 209.
Montessori, Maria 57.
' Moode, H. H. 191.
Morawitz 205.
Moser 134.
Mühsam, Richard 150, 163,
219. |
Miiller-Lyer 148, 174, 176, |
178, 179.
' Mulzer 131. |
' Münz 60.
9.
Peschel,
N.
"Nadeschdin 119.
Neumark, H. 106.
Nietzsche 48.
0.
i Oldenberg 209.
Oppenheim, Stefanie 23.
Oppenheimer, Ellen 193.
i Orth 55, 105.
P.
Parazelsus 205.
; Pares 108.
Payr 113.
Pearson 222.
Penck 68.
Peritz, G. 130, 150, 151,
21
Oskar 68.
Peterson 115.
Pfaundler 111.
Pfeiffer 169.
Pirkner, E. H. 118, 119.
Place, Francis 51.
Placzek 59, 66, 67,
215.
Poll 152.
Porosz 109.
Portigliotti 142.
Posner 150, 219.
— C. 103, 106, 108, 110. |
— H. L. 110.
Prausnitz 205.
136,
R.
Rammstedt 57.
Ranke 26, 70.
Ratzel 68.
Rebentisch 25. 26.
Reicke, Ilse 140.
Reis 119.
Reisinger, L. 198.
Renan, E. 69.
Robinson, William I. 187.
Rogge, H. C. 63.
Rokıtanski 79.
Rongy 116.
Rosenbaum, Julius 76.
Rosenfeld 116.
Roux, W. 198.
Rubin 114.
Rubner, M. 207.
Rumpel, A. 105.
Rutgers, J. 49, 62.
S.
| Sachs, O. 106.
Samson, I. W. 56.
| Sand, Knud 168.
Sanger, Margarete 51, 192.
Schaxel 201.
Scheele 106.
Schelling 77.
Schermann, Christine 135.
— Lucian 135
Schindowski, M. 207.
Schlange 57.
Schläper 143.
Schmidt, Ferd. August 207.
— Peter 213.
— Raymund 204.
Schneider, Kurt 212.
Schroeder, Robert 129
Schröer, Karl Julius 72.
SEN Julius 143, 144,
Seiler 61.
Sellheim 206.
Serger, H. 207.
Serralach 108.
Siemerling 65.
Solvay, Ernest 173.
Sonntag 106.
Spilmann 52.
Spinner 45.
Stabel 144, 169.
Stahl, G. E. 91.
Standfuss, R. 207.
Steckel, Wilhelm 135, 214.
Stein, O. 106.
Steinach 76, 168.
Steiner, G. 66.
— Rodolf 72.
Steinthal 57.
Namenverzeichnis.
Stern, F. 112.
Stiller 109.
Stoeckel 57.
Stöcker, Helene 52, 141.
Streiber 148.
Stroh, Elise 188.
Sudhoff, Karl 60, 77, 205.
T.
Tandler 24, 79, 97, 99.
Tannenbaum, S. A. 187.
Theilhaber, Felix A. 221.
Thiemich, Martin 61.
Thiersch, Carl 59.
— Justus 59.
Thomalla 146, 147.
Thorek, Max 119, 187.
Tiedje 168.
Timme 187.
Tönnies, Ferd. 173, 174.
Toenniesen 112.
Tugendreich, G. 61, 62.
U.
| Unterberger 21.
V.
Vaihinger 79.
Vecki, Victor G. 187.
Verweyen, Johannes M. 69.
Virchow, Rudolf 22.
: Voronoff 119.
: Voss, Lena 73.
‚ Vries, de 71.
| W.
I Wachtel, Ernst 40, 77.
. Waelsch 106.
' Waitz, Th. 68.
. Waldeyer 27.
'-— -Hartz 108.
i Watson, J. B. 191.
Wehner 108.
Weichselbaum, A. 107.
' Weil, Arthur 108, 143, 144,
' 185, 221.
' Weinberg, Margarete 128,
141, 142.
ı Weininger, Otto 76.
ı Wells 51.
ı Werth 106, 113.
' Wertheimer 93.
Westenhöfer 207, 208, 209.
, Westermarck 51, 177.
' Wiedersheim 96.
' Wiese, L. v. 142..
| Wilberfox 51.
! Wilson, Woodrow 186.
: Wittkovski, A. 147.
ı Wollenberg 139.
, Wulffen, Erich 135,
‚ Wundt 71.
2.
; Ziehen, Th. 132.
| Zondek 89.
; Zuckerkandl 57.
8 Sachverzeichnis.
A.
Aberglaube s. Spiritismus.
Affentestikel, erfolgreiche Transplan-
tation auf den Mann 118.
Algolagnie (Sadismus und Masochis-
mus), Versuch einer Analyse und
Theorie 215.
— Zur Ätiologie 144.
Andrologie, die Sexualkonstitution in
ihr 103.
Arbeiterfrau, zur Wertung von De-
szensus und Prolaps bei der länd-
lichen 198.
Ärzte als Erzieher des Kindes 62.
— Die jüdischen im Mittelalter 60.
B
Bastardtypen, menschliche 144.
Becken, Chirurgie desselben 57.
Beiheft, sexualwissenschaftliches 143,
217.
Bericht, zusammenfassender der Kon-
gressvorträge über Konstitution und
Sexualität 217.
Biologische Grundlagen der Sexual-
konstitution 149.
Birma und seine Frauenwelt 135.
Borgia, Die Familie 142.
Briefwechsel B. Carneris mit E. Haeckel
und Fr. Jodl 136.
C.
Ceylon, Nava, eine Erzäblung 142.
Charakter und Körperbau 210.
Chirurgie, Handbuch der praktischen 56.
— Die Sexualkonstitution in ihr 163.
— der Wirbelsäule und des Beckens 57.
D.
Degenerationszeichen, Zwillingsgeburten
als solches 66.
Diagnostik innerer Krankheiten, klini- |
sche 205
Dipsomanie s. Impulshandlungen
Dyspareunie 63.
EN
E.
Ehekunst 59.
Eheschließung, ärztlicher Katgeber 63.
Eifersucht, einige neurotische Mechanis-
men 65.
Entwicklungskurve, die individuelle des
Menschen 181..
Erblichkeitslehre, menschliche 206.
Erotische Wahnbildungen sexuell un-
befriedigter weiblicher Wesen 66.
Erziehung und Frauenbewegung 140.
Eugenese und Euthanasie 46.
Eugenetische Lebensbeseitigung 39.
Euthanasie und Eugenese 46.
F.
Fetischismus 214.
Fibrosis 107.
une zur Sexualwissenschaft
Fortpflanzung, Entstehung der ge-
schlechtlichen 201.
Frauenbewegung und Erziehung 140.
Frauenkrankheiten, die pathologisch-
SES Grundlagen derselben
Frauenproblem in kommunistischen Ge-
meinwesen älterer und neuerer Zeit
Fruchtabtreibung und fahrlässigeTötung,
Mitteilungen aus einem Schwurge-
richtsverfahren gegen einen Arzt 145.
Fürsorge, soziale 61.
G.
("attenwahl 63.
í urt, Versuche der Bestimmung der
Abnutzung des weiblichen Organis-
mus im Zusammenhange damit 119.
Geburtenregelung und Rassenhygiene 48.
Geburtenreihenfolge, Bedeutung der-
— für die Qualität der Kinder
l
Geistesstörung und Hypnotismus 65.
Geschlecht und Stimme 148.
Sachverzeichnis.
Geschlechtskrankheiten,
131.
Geschlechtsleben des Menschen 215.
— zur Soziologie desselben 173.
Geschlechtsmerkmale, die sekundären
am menschlichen Schädel 23.
Geschlechtsmoral des deutschen Weibes
im Mittelalter 69.
Geschlechtstrieb und Schmerz 215.
Geschwister, Schizophrenie bei denselben
4
Kompendium
Gesellschaft, ärztliche für Sexualwiss-n-
schaft und Eugenetik in Berlin 74.
— siehe auch Verhandlungen.
Gesetzentwurf zur Durchführung der
ärztlichen Schwangeren-, Keimes-
und Keimlingsfürsorge 22.
Gestationstoxonosen, Ab- und Entartung
der Konstitution durch sie 196.
Goethe und die Liebe 72.
Goethes unsterbliche Freundin (Char-
lotte v. Stein) 73.
— Weltanschauung 72.
— Wissenschattslehre in ihrer modernen
Tragweite 72.
Gynäkologie, Lehrbuch 129.
— Die Bedeutung der Sexualkonstitu-
tion für sie 96.
H.
Haeckel, Ernst, Entwicklungsgeschichte
seiner Jugend 60.
Hautkrankbeiten, Kompendium 131.
Hexengeschichten 142.
Homosexualität, einige
Mechanismen 65.
Hygiene, Grundzüge 205.
— Handbuch 207.
Hypnotismus 139.
— und Geistesstörung 6.
Hypoplasten 98.
Hysterie 210.
— Begriffsbestimmung 139.
I.
a (Wandertrieb, Dipso-
manie, Kleptomanie und verwandte
Zustände) 1
Induratio penis plastica 106.
Innere Sekretion, Einführung in die
Klinik derselben 130.
Intersexualität beım Menschen 150.
neurotische
Irrawaddy, im Stromgebiet desselben 13: .
J.
Jugendkunde, Quellen und Studien 140.
K.
Kastrationskomplex, Äusserungsformen
des weiblichen 67.
Keimdrüsen und Nervensystem, Wech-
se)beziehungen 151.
227
Keimdrüsenextrakt, biologische Prüfung
144
Keimesfürsorge 2, 196.
Kind, der Arzt als Erzieher desselben 62.
— Selbsterziehung 57.
Kinderheime Maria Montessoris 57.
Kleptomanie s. Impulshandlungen.
Kommunismus s. Frauenproblem.
Konstitution, Ab- und Entartung der-
selben durch Gestationstoxonosen 196.
— und Sexualität 74.
Konstitutionsambulatorium 18.
Konstitutionsproblem, Geschichte und
Wesen desselben 81.
Konstitutionswissenschaft und Sexual-
wissenschaft 75.
———— desersten Menschen
Körperbau und Charakter 210.
Krankheiten, klinische Diagnostik inne-
rer 205.
Kreislauf, Schädigung desselben 200.
Kritiken 57, 129, 204.
Kultur und Rasse 67.
— Redlichkeit als Kulturforderung 65.
EE der Gegenwart, Monis-
mus 136.
L.
Leben verbessern und verlängern 208.
Lebensbeseitigung, eugenetische 39.
Lebensenergie, das Sexualleben als ein
Hauptfaktor desselben 62.
—— —— Physiologie derselben
0
Libido und Röntgensterilisierung 139.
Liebe 141.
— Formenlehre derselben 138.
— siehe auch Goethe.
Liebesleben, Leitsätze zur Entwicklung
un Gemeinschaftekunde desselben
181.
M.
Mädchen, Tagebuch eines jungen 140.
Mann, erfolgreiche Transplantation von
Affentestikeln 118.
Masochismus s. Algolugnie.
Medizin der Gegenwart in Selbstdar-
stellungen 204.
Menschenerkenntnis 59.
Menschenökonomie und Völkerökono-
mie 52.
Menschheitsrätsel 70.
Metaphysik 71.
Monismus und die Kulturprobleme der
Gegenwart 136.
Musikalische Begabung, zur Vererbung
und Entwicklung derselben 132.
Muskulatur, Ausbildung derselben und
un Veränderungen am Schädel
28.
228 Sachverzeichnis,
N
Nachruf, Iwan Bloch 1.
Nahrungsmittel, Hygiene derselben 207.
Natur und Wirtschaft 209.
Nervensystem und Keimdrüsen, Wech-
selbeziehungen 151.
Neurotische Mechanismen bei Eifersucht,
Paranoia und Homosexualität 65.
0.
Organismus, Versuche der Bestimmung
der Abnutzung des weiblichen im
Zusammenhange mit der Geburt und
der allgemeinen Konstitution 119.
P
Paranoia, einige neurotische Mechanis-
men 69.
Parazelsus’ sämtliche Werke 205.
Philosophie der Gegenwart in Selbst-
darstellungen 204.
Physik, Lehrbuch 206.
Physiologie der Leibesübungen 207.
Prostituierten-Tuberkulose, sexual-hy-
gienische Bedeutung derselben 92.
Psychische Untersuchungen an Schwan-
geren 66.
Psychologie, medizinische 210.
— vergleichende 137.
Psychopathische Persönlichkeiten 212.
Psycbose, Aufbau derselben 211.
R
Rasse und Kultur 67.
— Völker, Sprachen 134.
Rassenbygiene und Geburtenregelung 48.
Rechtsleben und Sexualkonstitution 150.
Rechtsprechung und Seelenleben 213.
Redlichkeit als Kulturforderung 65.
Röntgensterilisierung und Libido 139.
Rundschau, wissenschaftliche 48, 114,
196.
S
Sachsen, Einrichtungen auf dem Gebiete
der Volksgesundheits- und Volks-
wohlfahrtspflege im Freistaat (1922)
6l
Sadismus s. Algolagnie.
Säugling, seine Entwicklung, Pflege und
Ernährung 6l.
merkmale am menschlichen 23.
Schizophrenie bei Geschwistern 134.
Schmerz und Geschlechtstrieb 215.
Schwangere, psychische Untersuchungen
66
Schwängerung durch Verbrechen 45.
Seele des Weibes 138.
Seelenleben und Rechtsprechung 213.
— des Menschen und der Tiere (ver-
gleichende Psychologie) 187.
Seelenstörung s. Spiritismus,
Sekretion, Einführung in die Klinik der
inneren 130.
Selbstverwirklichung 138.
Sexualität und Konstitution 74.
Sexualkonstitution in der Andrologie 103.
— die biologischen Grundlagen 149.
— in der Chirurgie 163.
— Bedeutung derselben für die Gynä-
kologie 96. . `
— die psychologischen Grundlagen 149.
— und Rechtsleben 150.
Sexualleben in seiner biologischen Be-
deutung als ein Hauptfaktor der
Lebensenergie für Mann und Weib,
für die Pflanzen und für die Tiere 62.
— Störungen desselben 63
Sexualpsychopathologie 214.
ra in den Vereinigten Staaten
1
Sexualwissenschaft, Filmdokumente 146.
— und Konstitutionswissenschaft 75.
— Die Bedeutung der Untersuchungen
von Ernst Kretschmer über Körper-
bau und Charakter 144.
— und Sexualreform in den Vereinigten
Staaten 185.
Sexualwissenschaftliches Beiheft 143
217
Sinne, Erziehung derselben 58.
Soziale Fürsorge 61.
Sozialökonomik, Grundriss 209.
Soziologie des Geschlechtslebens 173.
Spiritismus, Hypnotismus und Seelen-
störung, Aberglaube und Wahn 139.
Sprachen, Völker, Rassen 134.
Steinachsche Operation, Theorie und
Praxis 213.
Sterilität, Diagnose und Therapie der
selben 114.
Strukturanalyse, Grundzüge der psychi-
atrischen 211.
Syphilis, Über den derzeitigen Stand
der Lehre von der Pathologie und
Therapie derselben 216.
T
Tagebuch eines jungen Mädchens 140.
Thiersch, Carl, sein Leben 59.
Tuberkulose der Prostituierten, sexual-
bygienische Bedeutung derselben 52.
, Typendifferenz am Schädel 31 ff.
Schädel, die sekundären Geschlechts- `
U.
Unfruchtbarkeit, Ursachen und Behand-
lung derselben nach modernen Ge-
sichtspunkten 63.
Untersuchung, die geburtsbhilflich-gynä-
kologische 206.
V.
Vereinigte Staaten, Sexualwissenschaft
und Sexualreform in ihnen 185.
.
Sachverzeichnis. 229
Vererbung und Entwicklung der musi-
kalischen Begabung: 132.
Verhandlungen der ärztlichen Gesell, `
schaft für Sexualwissenschaft und
Eugenetik in Berlin 143.
Vitalismus, Geschichte desselben 187.
Völker, Kassen, Sprachen 134.
Völkerökonomie und Menschenökonomie
Volksgesundheitspflege 3. Sachsen.
Volkswohlfahrtspflege s. Sachsen.
wW.
W ahnbildungen, erotische sexuell unbe-
friedigter weiblicher Wesen 66.
Wahnbildungen, riehe auch Spiritismus.
Wandertrieb s. Impulsbandlungen.
Weib, Geschlechtsmoral des deutschen
im Mittelalter 69.
— Seele desselben 138.
' — als Sexualverbrecherin 135.
— siehe auch Wahnbildungen.
Wirbelsäule, Chirurgie derselben 57.
Wirtschaft und Natur 209.
| Wissenschaftliche Rundschau 48, 114,
196.
2.
Zwillingsgeburten als Degenerations-
zeichen 66.
e
ARCHIV
FÜR
FRAUENKUNDE
UND
KONSTITUTIONSFORSCHUNG
FORTSETZUNG DES
ARCHIVS FÜR FRAUENKUNDE
EUGBNBETIK / SBXUALBIOLOGIE UND VERERBUNGSLEHRE
+
ORGAN
DER ÄRZTLICHEN GESELLSCHAFT FÜR
SEXUALWISSENSCHAFT UND KONSTITUTIONS>
FORSCHUNG IN BERLIN
UNTER MITWIRKUNG VON
TH. BRUGSCH R.GOLDSCHMIDT L. FRAENKEL
BERLIN
DAHLEM BRESLAU
C. POSNER FR. KRAUS L. SEITZ
BERLIN BBRLIN FRANKFURT A. M.
HERAUSGEGEBEN VON
MAX HIRSCH
BERLIN
BAND X
1 9 2 4
LEIPZIG - VERLAG VON CURT KABITZSCH
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten.
Druck der Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg.
Inhalt des X. Bandes.
Originalarbeiten:
Berliner, Dr. Max: Über den Einfluss der endokrinen Hormone und die
Konstitution in den verschiedenen Lebensaltern des Menschen .
Brugsch, Prof. Dr. Theodor: Geschlecht und Persönlichkeit
Bukofzer, Dr. E.: Suggestion und Sexualität .
Greil, Prof. Dr. Alfred: Naturwissenschaftliche pue der klinischen
Konstitutionsforschung
Heyn, Dr. med. A.: Über sexuelle Träume e (Pollutionen) bei Frauen .
Hirsch, Dr. Max: Carl Posner zum 70. Geburtstag. Mit 1 Portrait
Kiffner, Dr. med. Fritz: Die Kee und die H
Bedeutung der Mehrlingsgeburt
Lahm, Prof. Dr. W.: Zur Frage der E Grundlagen dèi
Sexualität nach tierexperimentellen Untersuchungen .
Neureiter, Privatdozent Dr. F. v.: Konstitutionslehre und gerichtliche
Medizin .
Posner, Prof. Dr. C.: Die Naturphilosophio ale Vorläufer der Konstitations-
und Sexualforschung
Prange, Dr. Franz: Neuere EE über
Sellheim, Prof. Dr. Hugo: Endlich ein echter, weiblicher, Kastratoid“. Mit
8 Abbildungen im Text :
Spehlmann, Dr. Felix: Über J dnd Geschlechtsbildung
Theilhabe r, Dr. F. A.: Neue ae des E
prozesses in Berlin .
Weil, Dr. Arthur: Sprechen anatomische Grundlagen für das Noe
der Homosexualität? Mit 9 Kurven im Text .
Westenhöfer, Prof. Dr. M.: Das menschliche Kinn, seine Entstehung und
anthropologische Bedeutung. Mit 18 Abbildungen auf Tafel 1.
Wolff, Dr. Kurt: Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen .
Wissenschaftliche Rundschau:
Ist der Arzt zur temporären ovariellen Sterilisierung be-
rechtigt? (Erwiderung an Herrn Prof. Dr. Li von en
Von Prof. Dr. Alfred Greil ie ae Ya ie kalte ie Ale Bor oe
Seite
117
52
355
60
"327
369
331
115
343
215
136
263
23
239
156
309
IV Inhalt des X. Bandes.
Seite
Stimmen des Auslandes zur Abort- und Bevölkerungafrage.
Von Dr. Robert Kuhn .... 20.313
Biologie, Physiologie, Pathologie. Von Dr. Max Hirsch . . . 315
Bibliographie von Dr. Oscar Scheuer . . .. 2. 2 22.2... 2N
Verhandlungen der ärztlichen Gesellschaft für Sexual-
wissenschaft und Konstitutionsforschung in Berlin
| 102 und 206
Mitteilungen: » 2 eu... 6 wa 21272
Kritiken. . .» . 2 2 2 nn nennen. 70, 185, 317 und 387
Berichtigung... 2 ae Nr A e ër ER, Ar ier Ska
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Geschlecht und Persönlichkeit.
Von
Prof. Dr. Theodor Brugsch, Berlin.
Das Problem der Persönlichkeit lässt sich in ihren Beziehungen
zur Sexualität von zwei Seiten aus angehen: Von der rein psycho-
logischen und von der psycho-physischen Seite aus. Dass ich nicht
einen Gegensatz psychisch-somatisch zugrunde lege, brauche ich nicht
erst zu verteidigen, denn meine Ausführungen werden ja zeigen, dass
eine derartige gegensätzliche Behandlung das Problem nicht in ein
neues Licht rücken kann. Schliesslich soll doch jede Stellungnahme
zu dem Problem der Forschung und Lehre neue Triebe geben, ohne
die eine wissenschaftliche Entwicklung ausbleibt und gerade für die
junge Konstitutionslehre bedeutet die Anbahnung neuer Wege der
Forschung nicht nur Ausbau, sondern darin liegt die Aufweisung ihrer
Daseinsberechtigung.
Das Problem der Persönlichkeit von der psychologischen Seite
her zu erfassen, bedeutet den irrationalen Mantel der Persönlichkeit,
d. h. die Summe der psychischen Freiheiten innerhalb der von der
"Natur überhaupt möglichen Grenzen, entfädeln zu wollen; das
Problem von der psycho-physischen Seite angehen, heisst in den
psycho-physischen Kern der Persönlichkeit vorzustossen, in das Gebiet
der psycho-physischen Gebundenheit. Ich ziele aber nicht `
darauf hin, eine psychologische Typologie der Persönlichkeit zu geben,
wie sie durch die Geschlechtsfaktoren der Persönlichkeit bedingt-wird,
sondern ich will zeigen welchen Anteil die Geschlechtsfaktoren an
dem Aufbau und der Erhaltung der psycho-physischen Persönlichkeit
haben, mit anderen Worten, ich will die Frage zur Diskussion stellen,
inwieweit die psycho-physische Gebundenheit eines Individuums
integrativ in den Geschlechtsfaktoren im weitesten Sinne wurzelt.
Meine Analyse geht, also von innen nach aussen und nicht von aussen
nach innen, muss es doch leichter sein aus der psycho-physischen
Gebundenheit auf die psychischen Freiheiten in ihren Anlagen zu
stossen, als aus den psychischen Phänomenen auf die psycho-physische
Gebundenheit vorzudringen.
Archiv für Frauenkuude. Bd. X. H. 1/2. l
2 Theodor Brugsch. [2
` Meine Aufgabe erfordert allerdings erst einmal in aller Kürze
gewissermassen ein Modell der Persönlichkeit zu entwerfen, das
vor Augen führt, was wir unter Konstitution oder Persönlichkeit
verstehen. Wir Mediziner arbeiten ja, wie Sie wissen, fast immer
in mittlerer Linie zwischen einer rein mechanischen Betrachtungs-
weise und einer Art Vitalismus, beurteilen die biologischen Phäno-
mene nicht gesetzmässig, sondern nach Erfahrungsregeln, sprechen von
Heilkraft, Turgor, Tonus, Ermüdung usw. und sehen dabei, dass,
um so schwerer ein Individuum erkrankt ist, um so mehr alles rein
Psychische als regulierender Faktor ausschaltet, und nur noch ein
psycho-physischer gewissermassen automatischer Organismus bleibt, in
dessen Regulationen der Arzt einzugreifen sucht; dieser psycho-
physische Organismus ist das, was man als psycho-physisch neutral
bezeichnen kann. |
Bei dem Modell der Persönlichkeit gehen wir davon aus, dass
der Organismus als vitales Gebilde trotz periodischer Schwankungen
sich in einem Gleichgewichtszustand befindet und dass der Organis-
mus sich diesen Gleichgewichtszustand zu erhalten sein Lebenlang
automatisch bestrebt ist, wobei gegenüber der Allgewalt der Um-
weltsfaktoren nicht nur die Ganzheit des Organismus zu erhalten
erstrebt wird, sondern auch seine Einheit. So wie Kant einst die
Gesetze der Erfahrung und damit die allgemeinen Gesetze der Natur
auf die Einheit eines denkenden Bewusstseins zurückgeführt hat, so
lässt sich für den Organismus die Summe aller Gesetzmässigkeiten
wieder auf die Einheit des automatisch regulierenden Organismus,
d. h. auf den psycho-physischen Kern zurückführen. Das Ich-
bewusstsein rein psychologisch gefasst, stellt nicht mehr und nicht
weniger als einen Brennpunkt eines grossen psychischen Strahlen-
bündels vor, dessen Gesamtheit das psychische Anlagematerial dar-
stellt mit den unendlichen seelischen Kombinationsmöglichkeiten,
die man-etwa Tiefe der Seele nennen kann. Aber weder das Ich-
bewusstsein noch die Gesamtheit seelischer Anlagen in ihrer bunten
Mannigfaltigkeit repräsentieren das, was man den Kern der Persön-
lichkeit medizinisch, und das setze ich gleich biologisch; nennen kann.
Der Kern der Persönlichkeit liegt in dem Regulationssystem sämt-
licher Reaktionen, durch die die biologische Einheit und Ganzheit
garantiert wird. Mit anderen Worten: Der Kern der Persönlichkeit
biologisch wird von den die Existenz des Lebensprozesses regulierenden
Faktoren gebildet. Welche Faktoren sind das? Die Mannigfaltigkeit
der Lebensprozesse in dem vitalen System des Organismus, der sich
im stationären und durch periodische Schwankungen unterbrochenen
Gleichgewichtszustand befindet, ist, wie nicht weiter ausgeführt zu
—
3] Geschlecht und Persönlichkeit. 3
werden braucht, ein grösser. Man kann die Prozesse analytisch in
Einzelprozesse zerlegen, doch besteht immer ein Syzygium aller dieser
Einzelprozesse und eine Zergliederung würde bei der unendlichen
Fülle der Verschiedenheit aller Einzelprozesse nach dem augenblick-
lichen Stand unseres Wissens uns nicht befähigen, selbst bei bester
Kenntnis aller Strukturverhältnisse des Organismus eine Synthese
zu Wege zu bringen, die uns eine Rekonstruktion des biologischen
Subjektes gedenklich gestattet, auch dann nicht, wenn man den über-
summativen Begriff der Gestaltsqualität, wie er neuerdings in der
Psychologie hypostasiert worden ist, zugrunde legt. Trotzdem bringt
uns das Modell der Persönlichkeit weiter. Wir betrachten den statio-
nären Gleichgewichtszustand des Organismus mit samt seinen periodi-
schen Schwankungen in seiner Gleichgewichtslage gegenüber den
Bedingungen der Aussenwelt psycho-physisch und bezeichnen die Per-
sönlichkeit als psycho-physisch neutral. Das Einbeziehen psychischer
Prozesse in das Persönlichkeitsmodell als Koeffizienten der Persönlich-
keit ist eine durch das Experiment und durch die Beobachtung sich
ergebende Notwendigkeit, insofern durch diese psychischen Koeffizienten
Regulationen ermöglicht werden. Die vitalen Bedürfnisse stellen, wie
nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, psychisch zum Aus-
drucke kommende Faktoren dar, die die Regulation des Organismus
bedingen. Solche vitale Bedürfnisse, auf die noch eingegangen wird,
sind Hunger, Durst, Bewegungsdrang, Reizhunger. Wie liegt die
psycho-physische Bindung? Versagt hier die kausale Betrachtungs-
weise? Durchaus nicht. Ohne dass wir uns engherzig an die psycho-
reflexorische Verkettung zu binden brauchen, reicht zur kausalen Er-
klärung von physisch-psychischer Verkettung der empirio-kritischı
beschrittene Weg von Avenarius aus, der in seiner Kritik der
reinen Erfahrung die Vitalreihen als Erfabrungsphänomene postuliert.
Der Vitalreihe liegt die Herstellung eines Gleichgewichtszustandes zu-
grunde zwischen den inneren Kräften der Organismus und der Um-
gebung, wobei durch den Reiz eine Störung erfolgt (Initialabschnitt
der Reihe), dieser setzt Gleichgewichtsstörungen des vitalen Gleich-
gewichts (Medialabschnitt der Reihe), das wieder in die alte Gleich-
gewichtslage zurückkehrt oder’ in eine neue übergeht oder zerstört
wird (Finalabschnitt der Reihe). Da nach der Organisation des
menschlichen Organismus dem Nervensystem als Partialsystem gegen-
‘über den anderen Systemen eine besondere Funktion in der Reiz-
übertragung zukommt, so ist es selbstverständlich, dass im Zentral-
nervensystem jene Summierung von Vitalreihenkombinationen zu-
sammenkommt, die den Persönlichkeitscharakter des Individuums
ontologisch bestimmt. Andererseits muss im Zerebrospinalsystem auch
1*
4 Theodor Brugsch. 4]
die psycho-physische Bindung liegen, denn der Reiz stammt nicht
immer nur von der Aussenwelt, auch propriozeptive Reize fliessen
einwärts, bilden Vitalreihen, die sich der Verknüpfung anderer Reihen
anschliessen und vermitteln so die psycho-physischen Bindungen, die
uns in der Klinik d. h. in der Pathologie oft nur als lokale, häufig
genug aber auch als allgemeine Reaktionen imponieren. Wenn wir
von Heilkraft sprechen, wenn wir einen bestimmten Ablauf einer
Infektionskrankheit auf Grund häufig gemachter ärztlicher Erfahrungen
voraussagen, wenn wir sagen: medicus curat, natura sanat, so liegt das
Geheimnis in der Verkettung von Vitalreihen, d. h. im Kampfe der
Gleichgewichtsreaktionen, deren Ablauf vielleicht ein typischer genannt
werden kann, deren Regulierung und Abstimmung aber im psycho-
physischen Kern der Persönlichkeit liegt.
Vielleicht erscheinen Ihnen, meine Herren diese Vorstellungen noch
zu vage; ich glaube aber nicht zuletzt auf Grund der gerade in den letzten
Jahren von anderer Seite begonnenen und auch von mir inaugurierten
Untersuchungen über zerebrale Stoffwechselregulationszentren die Be-
rechtigung zu haben, das Modell der Persönlichkeit entwickeln zu
können. Die Einheit der Person, wie sie auch durch die Identität
des Bewusstseins zum Ausdruck kommt, kann nur durch zentrale
Verknüpfung zustandekommen. Jedes Organ — nicht nur jeder Muskel,
jedes Gewebe, jedes System besitzt eine zentrale Projektion bzw. eine
zentrale Verknüpfung. Sehen wir ab vom animalen Nervensystem und
den Sinnesorganen, so lässt sich, wo man auch nur zu untersuchen
beginnt, auch für jedes vegetativinnervierte Organ eine zentrale,
anscheinend in Stufenordnungen gelagerte Projektion nachweisen. In
Konkurrenz mit der nervösen Verknüpfung steht aber die durch den
Säftestrom mit seinen physikalisch-chemisch bedingten Wirksamkeiten
vermittelte Verknüpfung, wobei Elektrolytkombinationen und hormonale
Einwirkungen die bis jetzt bekannten Faktoren der Wirkungsmöglich-
keiten abgeben. Die strukturelle Anordnung des Nervensystems ge-
stattet uns, nicht zuletzt auf Grund vielfacher physiologischer Er-
kenntnisse, eine Organisation des Zerebrospinalsystems anzuerkennen.
Über dem zentral regulierten Rückenmark, das nach Ausschaltung
zentraler Einwirkungen, Reize ungehemmt weiterleitet, stehen die
Reize filtrierenden und Tonus erzeugenden Medulla oblongata, Mittel-
und Zwischenhirn, die ansteigend ein Überordnungsverhältnis aufzeigen,
in das regulierend Grosshirnrinde und Kleinhirnrinde eingreifen. Der
Rothmannschegrosshirnlose Hund zeigt uns an, dass dieautomatischen
Regulationsverhältnisse immer noch möglich sind nach Ausschaltung
des Kortex; wir müssen also nach experimenteller Erfahrung annehmen,
dass der Tiefenkern der Persönlichkeit, deren Existenz als vitales
5] Geschlecht und Persönlichkeit. | 5
System nur durch Gleichgewichtsreaktionen ermöglicht wird, sich in
jenem zerebralen System findet, das sich paläontologisch als älter
gegenüber dem Kortex erweist, d. h. in jenen Lagern grauer Substanz,
die den Zentralkanal umgeben, vom Zwischenhirn angefangen nach ab-
wärts. In der Hierarchie der Zentren steht als übergeordnetes Zentrum
der Kortex, den wir modellgemäss den Träger des Bewusstseins nennen
wollen. Kortex und tiefere Zentra sind übergeordnet und eingeordnet,
der Kortex differenzierend, die tieferen Zentra, besonders wohl die
des Zwischenhirns regulierend, d. h. das vitale Gleichgewicht aufrecht
erhaltend.
Die psycho-physische Bindung der gesamten Regulationsprozesse
erfordert aber das Eingreifen seelischer Dispositionen oder Funktionen
in den Mechanismus, die man auch als Ausdrücke von Vitalbedürf-
nissen ansprechen muss: ich erwähnte sie schon, Hunger und Durst,
Bewegungsdrang und Reizhunger. Ihre Befriedigung bzw. ihr Vor-
handeñńsein schafft Situationen, die mit Gefühlstönung verbunden sind,
sowohl nach positiver wie negativer Richtung, Lust und Unlust-
gefühle. Aus diesen Gefühlen heraus erwächst das Wollen, das regulativ
für die Befriedigung des Hungers, Durstes, Bewegungsdranges und Reiz-
hungers notwendig ist. Ontologische, phylogenetische Untersuchungen
experimentell-physiologische Untersuchungen, nicht zuletzt am gross-
hirnlosen Hund, lehren, dass wir diese Triebe wie die Intensitäts-
skala hedalgedonischer Gefühle wohl in den tieferen Zentra zu suchen
haben, nennen wir sie einmal Urtriebe und Urgefühle. Auf sie
differenzieren sich erst die seelischen Funktionen der geistigen Sphäre,
das Empfinden, Vorstellen und Denken, wie die der emotionalen
Sphäre, das Fühlen und Wollen, zu jenen Feinheiten der Ausbildung,
wie sie die psychologischen Grundlagen des menschlichen Ich abgeben.
Nicht, dass uns hier die differenzierten seelischen Qualitäten etwa
nicht interessierten, sie bedingen nur medizinisch nicht die automatische
Regulation der Persönlichkeit, weil sie nicht psycho-physisch neutral
oder psycho-physisch gebunden sind, wie die unser Ich regulierenden
Urtriebe, Hunger, Durst, Bewegungsdrang und Reizhunger. Nun ver-
missen Sie, meine Herren gerade einen Trieb, den man als Urtrieb zu
bezeichnen pflegt, nämlich den Geschlechtstrieb. Aber man kann
ihn nicht als Urtrieb der Persönlichkeit betrachten, da er nicht von
Geburt an als solcher existiert, da er z. B. bei Neutralen sich niemals
im Leben zu finden braucht und da er als Trieb zwar für die Fort-
pflanzung der Spezies von Bedeutung ist, nicht aber für das Indivi-
duum. Ein grosshirnloser Hund verliert seinen Sexualtrieb. Der
Sexualtrieb ist Kortexphänomenen. Meine Herren! trotz dieser meiner
festen Ansicht vermeide ich aber zunächst die Diskussion über den
G Theodor Brugsch. [6
Geschlechtstrieb, sonst würde ich mich mitten in den Tagesstreit
psychoanalytischer Meinungen begeben. Das ist aber nicht meine
Aufgabe. Da ich von der Gleichgewichtseinstellung als Kern der
Persönlichkeit ausgegangen bin, muss ich fragen: Inwieweit wird die
Individualexistenz durch den Geschlechtsfaktor beeinflusst. Um ein
Mass der Beurteilung, d. h. Methoden zu gewinnen, können drei Wege
abgeschritten werden: Vergleich der geschlechtsdifferenzierten Indi-
viduen auf die spezifisch-geschlechtsbedingten Differenzen in somatischer,
funktioneller und psychischer Beziehung; der zweite Weg liegt in der
Richtung, dass festgestellt wird, inwieweit die Geschlechtsfaktoren
das Individualgleichgewicht des Individuums beeinflussen, und der
dritte Weg liegt in der Analyse des Regulationsmechanismus. Der
erste Weg ist der meist beschrittene Weg, der dritte Weg ist aber
der für die Wissenschaft praktisch wichtigste.
Mann und Weib sind zwei differenzierte Geschlechtstypen der
Spezies Mensch, beide koordiniert und eingestellt in dem geschlecht-
lichen Dimorphismus auf die Erhaltung der Art. Ich darf es mir
hier versagen, auf die biologisch festgelegten Sexualdifferenzen ein-
zugehen, sie sind in jeder Biologie des Weibes, in anthropologischen
und medizinischen Lehrbüchern zur Genüge behandelt. Richtig ist,
dass das Weib im Gesamthabitus dem kindlichen Habitus näber steht,
als der Mann, dass der Mann in seinem ganzen Charakter ein Über-
wiegen der Muskulatur zeigt, was aber nicht zu dem Schlusse berech-
tigen darf, dass darum die Frau infantiler sei. Inbezug auf geistige
Werturteile von Mann und Frau darf man auch hier den geschlecht-
lichen Dimorphismus nicht vergessen. Jeder Geschlechtstypus ist auch
hier dem anderen koordiniert, also gleich wertvoll. Ich lasse mich
auch hier nicht auf die damit im Zusammenhang stehende Frage der
Leistungsfähigkeit des Mannes gegenüber der Frau ein, das sind Dinge,
die in den letzten 20 Jahren zur Basis der Kämpfe des Frauen-
rechtlertums gemacht sind. Die Gesellschaft für Sexualbiologie hat
über diese Frage häufig genug diskutiert, ich darf auch deshalb sie
hier übergehen. Wichtiger ist die Frage, ob das menschliche Indi-
viduum nur in den beiden Formen des sexuellen Dimorphismus sich
repräsentieren kann. Das Gesetz sagt, Mann oder Weib, tertium
non datur. Soll man noch eine dritte Stufe des Geschlechts, die
Intersexen für den Menschen anerkennen? Natürlich darf man die
geschlechtlich indifferenzierten Individuen, d. h. die Neutralen, zu
denen die Eunuchoiden gehören, nicht etwa zu den Intersexen rechnen,
sondern muss hierunter Übergänge oder besser Überdeckungen, Über-
kreuzungen zwischen männlichen und weiblichen Morphismen ver-
stehen. Solche Übergänge existieren nach den Untersuchungen von
7) Geschlecht und Persönlichkeit. 7
Brake-Goldschmidt an Lymantria dispar durchaus. Gibt es
beim Menschen ähnliche Intersexen, wohl gemerkt ohne Hermaphroditis-
mus, also nicht auf der Basis der Missbildung? Man hat diese Frage
ohne weiteres bejaht. Aber es liegen doch die Verhältnisse viel
komplizierter, als dass eine Übertragung der experimentellen Ergeb-
nisse von Brake-Goldschmidt auf den Menschen ohne weiteres
erlaubt wäre.
Wir kennen biologisch eine syngame durch den Geschlechts-
chromosomencharakter bewirkte Geschlechtsbestimmung, aber auch
eine progame im Stoffwechsel des Eis liegende Geschlechtsbestimmung,
bei der gewissermassen der Chromosomenmechanismus nur ein Index
ist und drittens die epigame Geschlechtsbestimmung, bei der die
Geschlechtsbestimmung erst nach der Befruchtung geschieht.
Bei Schmetterlingen ist, wie bei den Insekten, der Geschlechts-
chromosomenmechanismus gut ausgebildet, die Geschlechtsbestimmung
ist syngam durch zweierlei Eizellen bedingt. Bei Züchtung der-
selben Rasse von Männchen und Weibchen erhält man das Sexual-
verhältnis von 50°/o zu 50°/o.. Bei Kreuzung verschiedener Rassen
aus verschiedenen Gegenden und Ländern erhält man nach Brake-
Goldschmidt je nach Überwiegen des männlichen Einschlages neben
60 ®/o normalen männlichen Individuen, statt der Weibchen intersexuelle
Formen und umgekehrt bei Überwiegen des weiblichen intersexuelle
Männchen. Dass wir es beim Menschen mit einem Geschlechts-
chromosomenmechanismus zu tun haben, bei dem heterozygote Ge-
schlechtschromosomen, sei es in Spermatozyten, sei es in Eizellen eine
Rolle spielen, wie bei Schmetterlingen, müsste zum mindesten erst
bewiesen werden. Weiter müsste eine ähnliche Kreuzungsgrundlage
verschiedener Rassen wie bei Lymantria substituiert werden, und wenn
man etwa eine progame oder epigame Geschlechtsbestimmung für den
Menschen annehmen wollte, so müsste man diese ebenfalls für den
Menschen erst beweisen und darf nicht experimentelle Erfahrungen,
wie sie im Naturexperiment gemacht sind (z. B. an Krabben), ohne
weiteres auf den Menschen übertragen.
Eine Geschlechtsumwandlung beim Menschen und bei Wirbeltieren
überhaupt ist als misslungen zu betrachten. Aus einem jungen Weib-
chen ist noch niemals ein Männchen durch Kastration und Trans-
plantation gemacht worden, wenn auch eine Beeinflussung sekundärer
Geschlechtscharaktere ermöglicht wird. Soll man aber lediglich auf
Grund dieser Tatsachen beim Menschen den Typus der Intersexen
aufstellen? Das würde entschieden so lange unberechtigt bleiben, als
man beim Menschen den Beweis schuldig bleibt, dass das Entstehen
eines heterologen sekundären Geschlechtscharakters auf einem Über-
8 Theodor Brugsch. [S
wiegen einer heterologen Geschlechtsvalenz wie bei den disparat-
gezüchteten Limantriarassen beruht. Dagegen sprechen aber Erfah-
rungen, die man bei Hermaphroditismus verus gemacht hat: Die
funktionierende Drüse erdrückt die nicht funktionierende. Halb und
halb existiert nicht, sondern nur aut-aut. Dazu kommt noch, dass
die sekundären Geschlechtscharaktere nicht nur von den Gonaden
abhängig sind, sondern auch noch von einer gewissen inneren Drüsen-
konstellation; ich erinnere nur an den Hirsutismus, den man dann
als Schulbeispiel der Intersexen bezeichnen müsste. Wie gefährlich
die Lehre des Intersexen ist, zeigt das Beispiel von Mathes auf der
letzten Tagung unserer Gesellschaft. Mathes hat meines Erachtens
einen Mann kastrieren lassen, nur weil er ihn für einen weiblichen
Intersexen hielt. Ich glaube, es liegt bei den meisten Autoren eine
Verwechslung zwischen Intersexen und Neutralen vor, besonders da,
wo es sich um die geschilderten infantilen Züge der Astheniker
handelt.
Zur zweiten Frage: Inwieweit beeinflussen die Geschlechtsfaktoren
das Individualgleichgewicht.. Das kommt auf die Frage hinaus, ob
die geschlechtsdifferenten Individuen in ihrer Lebensbahn verschieden
gefährdet sind. Betrachtet man zunächst die Lebensdauer, so zeigt
sich zwischen weiblichen und männlichen Individuen ein Unterschied
in der Lebensstatistik. Bekanntlich besteht ein Knabenüberschuss
bei der Geburt, der sich in den europäischen Ländern auf 106 zu
100 etwa beziffern lässt und noch grösser wird, wenn man die Aborte
hinzu addiert (cfr. Hirsch, dieses Archiv). Dieser Knabenüberschuss
wird aber in den ersten Lebensjahren wieder durch eine höhere
Sterblichkeit ausgeglichen. Vergleicht man die Sterblichkeit der Frau
mit der des Mannes, so zeigt sich durchschnittlich bei der Frau eine
geringere Sterblichkeit. In Deutschland, England und Portugal ist
z. B. die durchschnittliche Sterblichkeit der Frau 89 zu 100 beim
Manne. Vergleicht man weiter die einzelnen Lebensalter, so ergibt
sich in den ersten Lebensjahren die grössere Knabensterblichkeit,
dagegen sind nach dem 5. Lebensjahre die Mädchen mehr gefährdet.
Von 10.—20. Lebensjahre ist die grössere Gefährdung der Mädchen
das Gewöhnliche, dann steigt aber die männliche Sterblichkeit an,
die schon im Alter von 20—25 Jahren überwiegt. Die Sterblichkeit
der Frau ist wieder im Alter von 30—35 Jahren höher als die der
Männer, nach dem 35.—45. Jahre tritt die verhängnisvolle Wendung
für das männliche Geschlecht ein, die sich erst im Greisenalter aus-
gleicht (Prinzing, Med. Statistik. Gustav Fischer 1906). Die
Ursache der höheren Sterblichkeit der Frau gegenüber dem Mann in
den Mädchenjahren und den Jahren von 30—35 liegt in der grösseren
Y Geschlecht und Persönlichkeit. 9
Tuberkulosesterblichkeit, die auf gewissen durch Pubertät und Schwanger-
schaft gesetzten. Dispositionen beruht, also geschlechtsbedingt sind.
Eine etwa durch Geburten und Wochenbett entstandene grössere
Sterblichkeit der Frau, wird beim Mann reichlich durch Unfallstodes-
fälle, Selbstmord ausgeglichen, wie auch die grössere Sterblichkeit
zwischen 20—25 Jahren zum grossen Teil auf Selbstmord und Unfall
zurückzuführen ist. Was lehrt uns also die Mortalitätsstatistik hin-
sichtlich des sexuellen Dimorphismus? Sie lehrt uns entschieden eine
Übersterblichkeit des männlichen Geschlechts über das weibliche,
schon vor der Pubertät sich ausprägend. Nach der Pubertät liegt
die Übersterblichkeit des Mannes im Rückbildungsalter, während die
labilen Perioden der Frau, in denen ein gewisses Sterblichkeitsplus
gegenüber dem Mann eintritt, die Perioden sind, in denen zwei für
den weiblichen Organismus bedeutungsvolle Phasen liegen: die Pubertäts-
phase und die Graviditätsphase. Zur Beurteilung der Diskrepanz
zwischen der weiblichen und männlichen Persönlichkeit, ganz allgemein
die Resistenz betreffend, ist eine reine Mortalitätsstatistik nicht
genügend; Todesursachen- und Morbiditätsstatistik müssen uns noch
ein besseres Bild geben. Nennen wir Resistenzherabsetzungen Dispo-
sitionen, so zeigt das weibliche Geschlecht die erhöhte Disposition zu
Gelenkserkrankungen, Influenza, Leukämie und perniziöser Anämie in
allen Lebensaltern, auch für Krebs und Bauchfellentzündungen bis
zum 60. Lebensjahre, beim Mann wieder überwiegt die Disposition
zu Selbstmord und Diabetes, auch zum Alkoholismus. Sind diese
Dispositionen aus den Todesursachen erschlossen, wobei wir die erhöhte
Tuberkulosemortalität bei der Frau in der Pubertäts- und Graviditäts-
periode noch einmal anführen wollen, so betonen wir aus der Morbiditäts-
statistik noch bei den Frauen gewisse Dispositionen zu Störungen
innerer Drüsen, besonders der Schilddrüse, und zu Anämien, bei den
Herzerkrankungen die Bevorzugung mancher Herzaffektionen im Gegen- .
satz zum Manne, bei dem die Herzaffektionen (z. B. bestimmte Mitral-
fehler), wieder ein anderes Bild ergeben, zu dem auch die Gefäss-
erkrankungen überwiegen.
Alles in allem lässt sich aus dem Studium von Mortalität und
Morbidität bei den geschlechtlichen Dimorphismen ein Unterschied
nicht verkennen, ein Unterschied, den man dispositionell nennen kann,
und der unbedingt im psycho-physischen Persönlichkeitskern liegen
muss. Nun wird man natürlich sofort den Einwurf machen, dass
diese differenten Dispositionen auf den Boden der geschlechtsbedingt-
verschiedenen Lebenslage beruhen. Das mag in mancher Beziehung
richtig sein, trifft aber nicht in jeder Beziehung zu: um nur ein
Beispiel zu nennen, bei den Leukämien, inneren Drüsenstörungen usw.
10 Theodor Brugsch. [10
Unsere Aufgabe muss es also sein, zu eruieren, in welcher Weise rein
konstitutionell die verschiedene Disposition bei beiden Geschlechtern
erwächst und so kommen wir, um einer kausalen Betrachtungsweise
gerecht zu werden, auf den 3. Punkt, er betrifft die Frage des Ge-
schlechts und der Analyse der Regulationsmechanismen. Die Frage
können wir auch anders formulieren:
Inwieweit tragen die Sexualdrüsen zur Erhaltung des Gleichgewichts
der Persönlichkeit bei, inwieweit sind sie sogar imstande das Gleich-
gewicht der Person zu stören und wie lassen sich diese Gleichgewichts-
verhältnisse durch Analyse der Regulationsvorrichtungen studieren”
Ganz summarisch lassen sich diese Fragen nicht beantworten, denn
die Geschlechtsdrüsen haben für den Aufbau des Organismus eine
andere Bedeutung als für die Zeit der Reife, wo sie der Reproduk-
tion des Individuums dienen. Die Entwicklung eines Individuums
wird vom Mutterleib ab, aber auch schon im Mutterleib, durch die
Kette innerer Drüsen abgestimmt und in dieser Kette spielen, wie
wir ja wissen, die Geschlechtsdrüsen eine dominierende Rolle; die
Geschlechtsdrüsen bringen zur Reife, differenzieren, aber hemmen auch
die Entwiklung jedoch nur im Sinne der Beschränkung des Kapazitäts-
faktors der Entwicklung, mit der gleichzeitigen Förderung der Intensi-
vierung, d. h. der Differenzierung. Der eunuchoide Hochwuchs als
Ausfall der das Wachstum beschränkenden Sexualdrüsenwirkung ist
der beste Beleg dafür. Die Typenordnung Agenitalismus, Hypogeni-
talismus, Normogenitalismus und Hypergenitalismus ist ein kon-
stitutioneller Beleg für graduell verschiedene Sexualdrüsenwirkungs-
stufen in der Entwicklung. Die Sexualdrüse ist in der Entwicklung
etwa wie ein Zahnrad in der Uhr eingefügt; so wie sie die eine Ent-
wicklung sperrt und eine andere Entwicklung auslöst, ist sie selbst
in den Mechanismus anderer innerer Drüsen eingezahnt, z. B. in die
der Epiphyse. Man ist geneigt, die Pubertas praecox auf fehlende
Epiphysenwirkung zurückführen. Die differentielle Prägung des Indi-
viduums durch die Sexualdrüsen zur Zeit der Pubertät erstreckt sich
nicht nur auf die sogenannten sekundären Geschlechtscharaktere,
sondern auch auf den Entwicklungseinfluss mancher Organe. Ich
konnte in meinem Lehrbuch der Prognostik zeigen, dass das Herz in
der Pubertätsphase der Entwicklung den mächtigsten Wachstumsimpuls
empfängt, der als abhängig von der Pubertätsdrüse betrachtet werden
muss. Nach der Pubertät besteht ein Unterschied in der Einwirkung
der Geschlechtsdrüsen auf das Gleichgewicht des Individuums in den
beiden Geschlechtern. An dem eigentlichen Aufbau nehmen zwar
nach der Pubertät weder beim Mann noch bei der Frau die Ge-
schlechtsdrüsen einen sehr erheblichen Anteil, wenn gleich der Spät-
11] Geschlecht und Persönlichkeit. 11
eunuchoidismus naclı Kastration lehrt, dass man den Anteil des Auf-
baues auch in der Phase der Reife nicht gar zu gering anschlagen
darf, aber es bestehen doch noch spezielle Unterschiede in den Ab-
hängigkeitsverhältnissen von Sexualdrüse bei Mann und Weib. Beim
Manne ist nach der Pubertät die Sexualdrüse nicht in den Hormonal-
komplex eingezahnt, wohl aber bei der Frau. Die Frau bleibt in
ihrer ganzen Reife mit ihrer Geschlechtsdrüse im hormonalen Komplex.
Das erklärt auch, warum die Frau eine verhältnismässig eingreifendere
Pubertätsphase durchmacht als der Mann und warum die vom Eier-
stock primär ausgelöste Rhythmik sich auf die gesamten inneren Drüsen
und darüber hinaus erstreckt. Lassen sich doch auch während der
Menstruation neben den bekannten Eierstocksveränderungen Vergrösse-
rung der Schilddrüse und Nebennierenrinde, Hyperämisierung der Leber,
Schwellung der Brustdrüse, Umformung der Uterusschleimhaut etc. fest-
stellen und zeigt doch der Körper auch während der Gravidität ein
gegenüber dem gewöhnlichen verschobenes Gleichgewichtsbild. Dass
bei der Frau in der Menstruationsphase und in der Graviditätsphase
eine Verschiebung des Gleichgewichts eintritt, d. h. dass das vitale
Gleichgewicht gegenüber den anderen Phasen des Lebens gestört ist,
lässt sich nun durch eine Analyse der psycho-physischen Persönlichkeit
ergründen. Wir untersuchen die sogenannten Regulationskonstanten
die der Ausdruck des Gleichgewichts sind, dazu gehören z. B. Wasser-
stoffionengehalt des Blutes, Elektrolytgleichgewichte, Zusammensetzung
des Blutbildes, chemische Komposition des Blutes, Erregbarkeit des
vegetativen Systems, dazu die gewöhnlichen Konstanten, die allerdings
wieder in Korrelation von den anderen Konstanten stehen: Atmung,
Temperatur, Puls, Flüssigkeitsbewegung und Stoffwechsel, ausmündend
bis zù den Urtrieben unter Beeinträchtigung der Gefühlslage. Überall
zeigt sich in der Menstruation und in der Gravidität eine Gleich-
gewichtsverschiebung, die uns anzeigt wie tief beim Weib die Ge-
schlechtsdrüse in Zeiten der Aktivität in das Gleichgewicht der Frau,
d. h. in den psycho-physischen Kern hineindringt. Dass wir diese
Labilitäten, Dispositionen konstitutionell benennen, ist mehr als be-
rechtigt. Nirgends aber treffen wir beim Manne derartige Verhältnisse
an; die Sexualdrüse des Mannes beeinträchtigt nicht in dieser Weise
wie bei der Frau den psycho-physischen Kern der Persönlichkeit.
Und nun werden sie auch verstehen meine Herren warum ich den
Sexuaitrieb nicht als Urtrieb bezeichnet habe: der Sexualtrieb stellt
einen von der Pubertätsdrüse in dem Sinne abhängigen Trieb dar,
als er wohl nur eine erotische Färbung und eine partielle Differenzierung
der Triebe ist, die ich als Bewegungsdrang und Reizhunger benannt habe.
So wie sich der Appetit zum Hunger als Urtrieb verhält, so etwa verhält
12 Theodor Brugsch, Geschlecht und Persönlichkeit. [12
sich der Sexualtrieb, den man ja beim Menschen in den Kontrektations-
trieb und Detumeszenztrieb gliedert, zum Bewegungsdrang und Reiz-
hunger. Die Auslösung des Sexualtriebes istganz parallel abgestimmt der
Auslösung des Appetits in der Pawlowschen Versuchsanordnung.
Schneidet man dem Hunde das Grosslirn fort, so verliert der auf
den Appetitsaft dressierte Hund die Appetitfähigkeit, ebenso wie ja
bei ihm auch der Sexualtrieb verloren geht. Dass wir in dem Sexual-
trieb als solchen einen Trieb sehen müssen, der das Gleichgewicht des
Individuums regiert, kann für den psycho-physischen Kern der Per-
sönlichkeit keine Geltung haben. Der Sexualtrieb dient metaindivi-
duellen Interessen, d. h. der Rassenfortpflanzung, und erhält in diesem
Sinne auch sein Gepräge. Die vergleichende Psychologie des Sexual-
triebes bei den Wirbeltieren bis zum Menschen hinauf zeigt uns zum
Teil noch die Abhängigkeit des Sexualtriebes von den äusseren Reiz-
faktoren, die mehr minder vom Weibchen ausgehen und durch die Sinne,
meist wohl durch den Geruch vermittelt werden. Beim Menschen ist
der Sexualtrieb psychologisch freigemacht, und durch Erlebnisse der
Aussenwelt, durch Erziehung, Milieu, ebenso wie durch die psychischen
Anlagen gerichtet. Unverkennbare Beziehungen können zwischen dem
Geschlechtstrieb und der morphologischen Geschlechtsmaske bestehen,
ich sage, können bestehen, sie brauchen es aber nicht und damit
berühre ich einen Punkt, der von der psychiatrischen Seite in die
Diskussion hineingeworfen ist, die Beziehung zwischen Konstitution
und Charakter. Ich glaube nicht an solche allgemeine Beziehungen,
wenngleich der Charakter unzweifelhaft auf dem Wege der Ausdrucks-
bewegungen konstitutionelle Typenprägungen zu Wege bringt. AlsSchul-
beispiel sei auf die physionomischen Berufstypen verwiesen. Aber
diese Fragen weiter zu spinnen, würde uns hier zu weit führen und
so schliesse ich mit dem Wunsche, dass die Diskussion durch Rede
und Gegenrede zur Klärung mancher von mir angeschnittener viel-
fach noch sehr problematischer Fragen beitragen möge.
Aus dem Laboratorium der Staatlichen Frauenklinik zu Dresden.
Zur Frage
der morphologischen Grundlagen der Sexualität
nach tierexperimentellen Untersuchungen‘).
Von
Prof. Dr. W. Lahm.
Die Untersuchungen, über welche ich im Folgenden berichten
will, sind eine Ergänzung zu dem Thema, das auf dem letzten Gynä-
kologenkongress in Heidelberg, durch Benthin angeregt, mehr Redner
‚auf den Plan rief, als man anfänglich angenommen hatte: das Thema
der interstitiellen Keimdrüse. Die recht ausgiebige Diskussion, in der
Verfasser bereits auf diese Untersuchungen hinwies, hat zu einem
klaren Abschluss nicht geführt. Nach wie vor musste das Problem
als ungelöst gelten, ob den Zwischenzellen des Hodens — be-
ziehungsweise der Ovarien— eine selbständige endokrine
Funktion zukommt, oder ob es sich hier nur um Stapel-
plätze und Umschlagstellen für gewöhnliche Stoffwechsel-
produkte handelt. Liest man das jüngst von Patzelt?) gegebene
Referat über die Zwischenzellen, so muss man allerdings den Ein-
druck haben, als müsse die Theorie von der interstitiellen Drüse
begraben werden. Und doch lautet das Schlussergebnis dieses Auf-
satzes noch recht vorsichtig: es wird nicht gesagt, die Gesamtheit
der Zwischenzellen sei bedeutungsloses Bindegewebe, sondern es heisst:
es handelt sich bier um (den Ausdruck) wichtiger Stoffwechsel-
beziehungen zwischen Samenepithel und Zwischenzellen; die ersteren
beeinflussen den Körper geschlechtsspezifisch; die letzteren tun es
nicht, aber sie sind auch „keinesfalls blos ein Füllgewebe‘“.
') Als Vortrag gehalten in der Sitzung der Dresdener Gynäkol. Gesellsch.
22. Nov. 1923.
3) Wien. klin. Wochenschr. 1923. Nr. 32.
14 W. Lahm. [2
Ich muss sagen: Ich fasse dieses Ergebnis als ein Zugeständnis
auf. Wenn wirklich „wichtige Beziehungen Samenepithel und
Zwischenzellen“ miteinander verbinden und die Zwischenzellen mehr
sind als blosses Füllgewebe, so kann ihre Bedeutung unmöglich
einfach vernachlässigt werden. Verfolgt man nun gar die Tatsachen,
welche über die Zwischenzellen vorliegen, so ergibt sich in der Tat
ein Bild, das m. E. zugunsten einer spezifischen Sekretion
bezw. Mitbeteiligung an derselben von seiten der Zwischen-
zellen spricht.
| Nur in aller Kürze sollen hier ein paar Punkte berührt werden:
“> 1. Beim Kryptorchismus — ich möchte im folgenden nur
über die Verhältnisse beim männlichen Geschlecht berichten, weil sie
hier wesentlich einfacher als beim weiblichen Tier liegen — kann
trotz doppelseitiger Ektopie der Hoden der Geschlechtstrieb normal
sein, wie denn auch die Ausbildung der Geschlechtsmerkmale durchaus
vollständig sein kann. Beim Kryptorchismus findet man aber die
Samenkanälchen verödet bezw. zu weiten Röhren dilatiert und von
einem indifferenten Epithel ausgekleidet. Die Zwischenzellen treten
stark hervor und können einen grossen Teil des Hodens ausmachen.
Spermatogenese fehlt.
Skeptiker können hier einwenden: das Vorhandensein der Ge-
schlechtsmerkmale und des Sexualtriebs kann an die Reste der
Samenkanälchen gebunden sein; denn man erlebt es bisweilen,
dass die operative Freimachung der Hoden zur Wiederbelebung der
Spermatogenese führt. — Ich möchte nicht in dieser Weise schliessen ;
ich möchte viel eher annehmen, dass die Zwischenzellen die „Tradition“
der Keimdrüse aufrecht erhalten haben und den Samenkanälchen unter
geeigneten Bedingungen es ermöglichen sich zu regenerieren. Ich kann
es nicht verstehen, wie man den nur aus „indifferenten Zellen“ be-
stehenden Kanälen eine Funktion zuschreiben kann, wo doch gerade
dieser Zustand der Ausdruck dessen ist, dass sie nicht zu arbeiten
vermögen!
2. Bei periodisch brünstig werdenden Tieren findet man
vor der Brunst die Zwischenzellen spärlich entwickelt, in den Samen-
kanälchen aber trifft man auf die lebhafteste Spermatogenese. Nach
der Brunst kehrt sich das Bild um. Die Spermatogenese erlischt, die
Samenkanälchen verlieren an Volumen, ihreMembrana propria — durch
welche hindurch die Beziehungen zu den Zwischenzellen gehen muss —
wird dicker und die Zwischenzellen verbreiten sich im Hoden, dass
sie fast die ganzen Räume zwischen den Kanälchen einnehmen.
Patzelt schliesst aus diesen Bildern, dass die Zwischenzellen
keinerlei Beziehung zur Brunst haben, dass sie lediglich die Aufgabe
3] Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. 15
hätten, während der ruhenden Spermatogenese Nahrungsstoffe zu
speichern.
Ich will gerne zugeben, dass diejenigen Eigenschaften der Tiere,
welche klinisch die Brunst charakterisieren, von den lebhaft arbeitenden
Samenkanälchen ausgehen; dass deshalb aber die Zwischenzellen
„keinerlei Beziehung“ zur Brunst hätten, darin kann ich nicht
beistimmen. Auch hierin sehe ich zunächst nur ein gegenseitiges
Ablösen in der Funktion. Das Auftreten der rein brünstigen (vorüber-
gehenden) Merkmale ist m. E. charakteristisch für die voll erhaltene
sexuelle Persönlichkeit; sie bedeuten sicher den Kulminationspunkt
einer gewissen Aufwärtsentwicklung und bedürfen der unzerstörten
Grundlage. Diese letztere bilden aber m. E. die Zwischenzellen. Sie
übernehmen nach dem Abklingen der Brunst die Aufrechterhaltung
des Sexualcharakters für die ganze folgende Ruhepause. Die Selbst-
ständigkeit der Zwischenzellen geht m. E. auch daraus hervor, dass
man bei teilweise erhaltener, teilweise ruhender Spermato-
genese (bei der Ratte) keine typischen Beziehungen zu diesen Einzel-
stadien finden konnte. Nur Arbeit oder Ruhe insgesamt entschied
über den Bestand und die Ausbreitung der Zwischenzellen.
3. In allen den Fällen, wo man künstlich die Spermato-
genese vernichtet (Unterbindung des Samenleiters) oder wo sie
spontan leidet (Infektionskrankheiten, Vergiftungen, Alkohol) ver-
mehren sich die Zwischenzellen. Samenkanälchen und Zwischenzellen
sind also komplementäre Organe. Der Sexualcharakter kann unter
diesen Umständen enorm kräftig hervortreten (Steinachs Verjün-
gungsversuche).
4. In Transplantaten erlischt die Spermatogenese, die Zwi-
schenzellen beherrschen das Feld. Verjüngungen, Steigerung des Sexual-
charakters und des Sexualtriebes (Mannsfeld) sind oft beobachtet
worden. — Patzelt meint, dies seien zum Teil Zufallsbefunde, inso-
fern das Maximum der Zwischenzellwucherung erst dem Höhepunkt
der biologischen Wirkung folge und ein ganz anderes Bild entstehe,
wenn man die Hoden solcher Tiere zu einem früheren Termin histo-
logisch untersuche. Ausserdem aber gibt er an, dass die Spermato-
genese im Transplantat stellenweise erhalten bleibt, ja sogar eine
Regeneration erfahren könne.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen. Ich will damit nur das
eine bewiesen haben: restlos geklärt ist das Verhältnis der Zwischen-
zellen zum Sexualcharakter und zum Sexualtrieb noch nicht. Beob-
achtungen aller Art müssen uns willkommen sein, die Probleme weiter
zu vertiefen.
16 W. Lahm. [t
Noch eines nur möchte ich an dieser Stelle einfügen um nicht
falsch verstanden zu werden: ich bin nicht der Meinung, dass uns
die Zwischenzellen die Bilder der konträren Sexualempfin-
dungen erklären können. So hat man bekanntlich behauptet, die
Zwischenzellen seien „weibliche“ Luteinzellen (Steinachs F-Zellen)
und jede Keimdrüse sei deshalb im Grunde genommen bisexuell ge-
spalten; je nach dem Primat der F-Zellen bezw. der Samenkanälchen
sollten homo- und heterosexuelle Merkmale hervortreten. Ich habe
vor etwa zwei Jahren durch Scheunig!) die Frage bearbeiten lassen
und konnte durch Verfolgung der Embryonalentwicklung dieser Zellen
vom 2. Monat bis zum 1. Lebensjahr nachweisen, dass die angeb-
lichen F-Zellen typische, männliche Leydigsche Zwischenzellen sind.
Eine pathologisch-anatomische Grundlage der Homosexualität in diesem
Sinne erkenne ich also nicht an.
Bei meinen weiteren Darstellungen möchte ich in meiner Voraus-
setzungslosigkeit noch weiter gehen: ich will nicht nur annehmen,
dass das Verhältnis der Zwischenzellen zum Sexualcharakter und zum
Geschlechtstrieb noch ungeklärt ist, ich will sogar die selbständige
Bedeutung der Zwischenzellen ganz fallen lassen und lediglich durch
ihre genaue Verfolgung Änderungen feststellen, welche nicht vorüber-
gehend sind und mehr oder minder einschneidende Folgen an den
Samenkanälchen nach sich ziehen oder zur Voraussetzung haben. Ich
stelle mich also nur auf den Standpunkt der „wichtigen Wechsel-
beziehungen“, die ich aus dem morphologischen Bild entnehmen will.
Zu meinen Versuchen verwendete ich:
1. ein Präparat, auf das mich Kollege Barth-Wehrenalp in
- Franzensbad aufmerksam gemacht hatte, das bisher nicht im Handel
ist und von seinem Hersteller Dr. Scheuer in Teplitz als Neosex
bezeichnet wird?).
2. ein Präparat der Firma Merck, das unter dem Namen Novo-
testal geht.
3. ein Plazentaopton von Kalle in Biebrich.
4. Johimbin:.
5. getrocknetes Hoden- und Corpus cavernosum-Pulver.
Sämtliche Tiere — Meerschweinchen — wurden so vorbereitet,
dass ihnen zunächst ein Hoden exstirpiert wurde, und zwar um
a) eventuell ihre Sexualität herabzusetzen,
b) den einen Hoden als Kontrollpräparat (Schwere, Volum, histo-
logischer Bau) zu besitzen.
', Zur Frage der Steinachschen F-Zellen. Arch. f. Gyn. Bd. 116.
2) Jetzt hergestellt von Omni Gesellschaft, Dresden 19.
5] Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. 17
Dann erhielten die Tiere die genannten Mittel. Neosex und
Novotestal wurden im Mörser fein zerstossen, im Wasser aufgelöst
und den Tieren per os verabreicht. Ebenso Testis siccata und
Corpus cavernos. sicc. Placentaopton wurde injiziert; Johimbim ver-
füttert.
Ich will nicht mit einer detaillierten Besprechung der Einzel-
versuche aufhalten — es genügt, wenu ich sage, dass es sich ins-
gesamt um 21 Versuche und mehr als 25 Untersuchungen an 9 Tieren
gehandelt hat.
Die Ergebnisse teile ich in zwei Gruppen ein: in die Ergeb-
nisse der pathologisch-anatomischen Untersuchungen, von denen ich
sofort Diapositive zeigen will, und in die Ergebnisse der klinischen
Beobachtung. Ä
I. Pathologisch-anatomische Ergebnisse.
1. Hoden der gesunden Tiere. Volum und Gewicht bilden ein
konstantes Verhältnis von etwa 1:1 — Schwankungen kamen vor
bis 1:1,1 und 1:1,07. Die Samenkanälchen waren stets gut gebildet,
die Kerne der Zellen mittelgross, etwa 5—6 Reihen übereinander.
Lebhafte Spermatogenese. Das Zwischengewebe sehr zellarm, ausser
ein paar Fasern und den Kapillaren oft in mehreren Gesichtsfeldern
keine andere Zelle. Zwischsnzellen sind vorhanden (+ oder (-+)), sind
aber sehr spärlich entwickelt und liegen teils den Gefässen, teils den
Samenkanälchen an.
2. Der Hoden solcher Tiere, bei denen einige Zeit vorher eine
Ablatio testis vorgenommen worden war, war in toto vergrössert,
ohne im Gewicht entsprechend zugenommen zu haben. Das Ver-
hältnis zwischen Gewicht: Volum betrug 1:1,2 bis 1:1,25. Die Samen-
kanälchen seben etwas gequollen aus, man findet bisweilen auch
6—7 Zellreihen übereinander geschichtet, man beobachtet lebhafte
Spermatogenese, aber man findet nichts von einer entsprechenden.
Hypertrophie der Zwischenzellen. |
3. Gibt man Tieren, bei denen der eine Hoden entfernt ist,
Johimbim, ändert sich das Bild gegen 2 nicht. Verabreicht man
Neosex, Novotestal oder Plazentaopton, so tritt eine wesentliche Ver-
änderung ein, und zwar:
bei Plazentaopton Verkleinerung des Hodens, Atrophie der Samen-
kanälchen, Vermehrung der Zwischenzellen, Querschnitte 1:1,01),
1) Die Querschnittsvergleichung betrifft jedesmal das Verhältnis des ersten
zam zweiten Hoden. Es wurde der Durchmesser des grössten Querschnittes in
zwei Richtungen gemessen, das Mittel gezogen und der Querschnitt nach der
Formel J = ær?’ bestimmt.
Archiv für Frauenkundo. Bd. X. H. 1/2. 2
18 W. Lahm. [6
bei Novotestal ganz geringgradige Vergrösserung des Hodens (Quer-
schnitte 1:1,2), Vermehrung der Zwischenzellen,
bei Neosex starke Vergrösserung des Hodens (Querschnitte 1:1,64),
Verbreiterung der Samenkanälchen (Hypertrophie) und beträcht-
liche Vermehrung der Zwischenzellen.
4. Zum Vergleich der Zwischenzellwucherung, wie sie hier ge-
funden wurde, habe ich nun noch einen echten Steinachschen Ver-
such angestellt und eine Samenstrangunterbindung durchgeführt. Nach
6 Tagen wurde der Hoden wieder exstirpiert, er zeigfe sich beträcht-
lich vergrössert, schwerer an Gewicht und wies neben deutlicher
Degeneration der Samenketten eine gute Entwicklung der Zwischen-
zellen, und zwar in der Nähe des Nebenhodens, etwa in der Stärke,
wie wir sie bei Neosex beobachtet haben, auf.
Wenn ich mit ein paar Worten auf die Erklärung dieser Ver-
suche eingehen darf, so zeigen sie zunächst einmal sehr schön, dass
in den Hoden der normalen geschlechtsreifen Meerschweinchen zwar
Zwischenzellen vorhanden sind, aber keine besondere Rolle spielen,
und dass auch die Entfernung eines Hodens darin keine wesent-
liche Änderung herbeiführt. Zwar hypertrophiert der zweite Hoden
etwas, aber eine Vermehrung oder Verminderung der Zwischenzellen
tritt nicht ein.
Sehr interessant ist der Einfluss des Plazentaoptons; die Samen-
ketten atrophieren, die Zwischenzellen treten stärker hervor.
Ähnliche Beobachtungen liegen in der Literatur bereits vor. In-
jektion von Corpus luteum-Extrakt wirkt genau ebenso wie es hier
von dem Plazentaoptön geschildert wurde. Corpus luteum -Extrakt
und das ihm offenbar sehr nahestehende Plazentaopton hemmen offen-
bar nicht nur die Ovulation (Rob. Meyer, Schröder, Haber-
landt), sondern auch die Spermatogenese; die Hypertrophie der
Zwischenzellen ist danach eine rein sekundäre Erscheinung.
Im Gegensatz zu diesen Reaktionen stehen diejenigen mit Novo-
testal und Neosex, durch welche die Samenketten eine Hypertrophie
und die Zwischenzellen eine Vermehrung erfahren; das letztere gilt
ganz besonders von dem Neosex, dem man ganz zweifellos eine spezi-
fische inkretorische Wirkung auf den Hoden nicht absprechen kann.
Es wird interessieren zu erfahren, woraus die beiden genannten
Medikamente bestehen. Über das Novotestal kann ich in dieser
Hinsicht keinen Aufschluss geben; eine diesbezügliche Anfrage ist
bisher unbeantwortet geblieben !). Bezüglich des Neosex erhielt ich
die Mitteilung, dass es aus Testis siccata, Corpus cavernosum pulveri-
!) Durch protrolytische Aufspaltung frischer Stierhoden gewonnen.
7] Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. 19
satum und Rhodanalbuminat besteht‘). Über die Wirksamkeit der ge-
nannten Einzelkomponenten werde ich zum Schluss, soweit ich bis
heute darüber orientiert bin, noch kurz Mitteilung machen. Zunächst
aber möchte ich über das klinische Verhalten der Tiere berichten.
II. Das klinische Verhalten der Tiere.
Meerschweinchen zu beobachten ist nicht so leicht wie man sich
das vielleicht vorstellt. Die Tiere sind recht scheu und durch die
Gegenwart einer dicht am Käfig stehenden Person stark beeinflusst.
Ich habe die Beobachtungen so durchgeführt, dass ich die Tiere nur
durch einen schräg gestellten Spiegel sah und dass ich selbst hinter
einer spanischen Wand sass, in der sich nur ein Guckloch von der
Grösse eines Zehnpfennigstückes befand. Auf diese Weise glaube ich
durch meine Anwesenheit die Tiere nicht beeinflusst zu haben.
1. Ein normales Männchen zu einem normalen nicht trächtigen
Weibchen gebracht beginnt sofort ein Liebeswerben. Das Weibchen
wird verfolgt, von vorne und hinten beschnuppert, es flieht, es lässt
um sich jagen und ist schliesslich dem stürmisch attaquierenden
Männchen gefügig. Anders das trächtige Weibchen. Es flieht nur,
wenn ein sehr kräftiger Bock es verfolgt; sonst bleibt es sitzen,
beisst, springt mit kurzem Ruck herum, wenn sich das Männchen
von hinten nähert und schlägt wohl auch aus (diese letztere Bewe-
gung geschieht mit beiden Beinen und sieht sehr komisch aus). Das
trächtige Tier wehrt also energisch ab und weiss sich das Männchen
im allgemeinen auch vom Leibe zu halten. Hilft gar nichts mehr,
so kauert das Weibchen hartnäckig in einer Ecke und lässt sich von
dort nicht vertreiben.
2. Halbseitig kastrierte Männchen verlieren an Geschlechtstrieb.
In meinen Protokollen heisst es: Tier (I) war — 5 Tage nach der Ope-
ration — träge in seinen Bewegungen und schwach in seinem Verlangen
nach dem Weibchen. Es liess sich durch dessen Gegenwart nicht im
Fressen hindern, drückte sich vielmehr (wenn sich das Weibchen
näherte) oft scheu und gleichgültig in eine Ecke des Käfigs und be-
nahm sich fast wie ein „alt gewordenes Tier“.
3. Johimbim-Tiere benahmen sich nicht anders als normale bezw.
als halbseitig kastrierte, je nachdem man bei dem einen oder dem
anderen das Mittel verabreichte.
4. Tiere, die mit Plazentaopton gespritzt wurden, benahmen sich
besonders zurückhaltend.
5. Tiere, mit Novotestal behandelt, zeigten ein gutes männliches
Verhalten, vor allem gegen jüngere und kleinere Weibchen. Brachte
1) 0,1 + 0,05 + 0,01.
2%
20 W. Lahm. [8
man sie aber mit älteren oder trächtigen Weibchen zusammen, so
entstand ein ziemlich lebhaftes Pfeifen, Schnurren und Jagen; sobald
aber das Weibchen etwas entschiedener ablehnend sich verhielt, ent-
wickelte sich ein Verhältnis, das ich in einem Protokoll als das Ver-
hältnis von „Mutter und Kind“ bezeichnete. Die Tiere sassen dann
bisweilen gemeinsam an einem grünen Blatt und oft liess sich das
Männchen den Bissen vom Munde wegziehen, ohne sein „Herren-
recht“ geltend zu machen — was bei gesunden Tieren fast ein Ding
der Unmöglichkeit ist.
6. Entschiedene Steigerung der Sexualität konnte ich bei Neosex-
verabreichung verfolgen. Halbseitig kastrierte und 15 Tage lang mit
Neosex gefütterte Männchen verfolgten ein zugebrachtes Weibchen
sofort lebhaft, beschnupperten es am Kopf- und Schwanzende, jagten
es in wilder Flucht durch den Käfig und zeigten ihre Männlichkeit
in aller Vollendung. Selbst trächtige Weibchen vermochten sich der
Zudringlichkeit solcher Tiere kaum zu erwehren.
7. Tiere, welche durch Plazentaopton bis zu einem gewissen
Grade entmaskulinisiert waren, konnten durch Neosex sexuell wieder-
belebt werden. |
8. Tiere, die mit der Steinachschen Operation behandelt waren
(Ductus deferens-Unterbindung), verhielten sich sehr aktiv, waren aber
bissig und eigentümlich „nervös“, was oft verhinderte, dass regelrechte
Kohabitationen zustande kamen.
Dies ist in kurzen Zügen das klinische Bild zu den oben ge-
schilderten histologischen Veränderungen. Ich bin mir wohl bewusst,
dass die sog. klinische Beobachtung der Sexualität ihre erheblichen
Fehlerquellen hat. Aber wenn man erst einmal ein paar Stunden
an die Beobachtung der Tiere gewendet hat, so arbeitet man sich
langsam in ein Verstehen ein. Deshalb erlaube ich mir doch, die
Versuchsergebnisse am anatomischen Substrat und im klinischen Bild
einander gegenüberzustellen und meine Schlüsse daraus zu ziehen.
Art der Behandlung | Samenkanälchen | Q | SE | nn
|
Halbseitenkastration........ Hypertrophie 1:1,04 nicht träger
| vermehrt geworden
„a + Johimbim.. | š ‚1:1,16 z S
„ + Placentaopton | Atrophie SE 1,01] vermehrt d
„ + Norvotestal . >| geringe (1:12 | ` | ziemlich
| Hypertrophie | indifferent
„ + Neosex .... | Hypertrophie 1:1,64. S stark aktiv
„ + Steinach ... Atrophie 1:2,4 | S aktiv(nervös)
a» -+ Corp. cav. .. mässige ‚1:1,25, indifferent
Hypertrophie | | oder sogar
träge
9] Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. 21
Wenn man die vorstehende Tabelle betrachtet, so scheint es
schwer, bestimmte Schlüsse bezüglich der Zusammenhänge zwischen
der morphologischen Grundlage und dem klinischen Verhalten zu
ziehen. Aber wenn wir aus dieser Gegenüberstellung auch keine
positiven Ergebnisse ablesen können, negative Aussagen lassen sich
mit einer gewissen Sicherheit formulieren.
1. Vermehrung oder Verminderung der Zwischenzellen ist allein
kein Anhaltspunkt für ein bestimmtes klinisches Verhalten. Trotz _
Vermehrung können wir passives, indifferentes und aktives Benehmen
der Männchen beobachten.
2. Hypertrophie und Atrophie der Samenketten allein ist auch
kein untrügliches Zeichen für die Steigerung oder Herabsetzung des
Geschlechtstriebes.
3. Zwischenzellen und Samenkanälchen gehen in ihrem quanti-
tativen Verhalten nicht immer weder parallelnoch ergänzen sie
sich. Esgibt z.B. Hypertrophie der Samenkanälchen ohne Zwischenzell-
wucherung; aber es gibt keine Atrophie ohne Vermehrung der
Zwischenzellen. Bestimmte — ja ich möchte sogar glauben bedeu-
tende — Abhängigkeitsverhältnisse bestehen doch zwischen Samen-
kanälchen und Zwischenzellen. |
4. Genauere Beobachtungen an den einzelnen Hoden haben mich
gelehrt, dass Zwischenzellen immer dort noch vorhanden sind, wo
zahlreiche Spermatozoen zugrunde gehen (bei Steinach-Tieren sind
die Zwischenzellen z. B. in der Nähe des gestauten Nebenhodens
stärker ausgebildet als wie am entgegengesetzten Pol). Anfangs treten
die Zwischenzellen allerdings stark in den Hintergrund, wenn die
Spermatolyse wegen Mangel an Material sistiert; später aber scheinen
sie sich von sich aus wieder zu regenerieren, wofür ihr gehäuftes
Auftreten nach dem Aufhören der Spermatogenese spricht.
5. Gesteigerte Sexualität scheint an eine gesteigerte Spermato-
genese (mit gesteigertem Zerfall?) mit gleichzeitiger Vermehrung der
Zwischenzellen gebunden zu sein. Sie ist m. W. bisher experimentell
noch nicht erzeugt worden, so dass ich glaube, erstmalig gezeigt zu
haben, dass auch gesteigerte Spermatogenese mit Zwischenzellwuche-
rung gleichzeitig vorkommen kann (s. meine Ausführungen vom Gynäko-
logen-Kongress 1923).
Aus all diesen Versuchen möchte ich schliessen, dass den Zwischen-
zellen ausser einer gewissen trophischen noch eine ganz andere, und
zwar eine sehr bedeutende Aufgabe zufällt, nämlich die der Speiche-
rung der Sexualhormone sowohl aus dem Körper als auch aus den
zugrunde gehenden Spermatozoen und Samenepithelien. Die Zwischen-
22 W. Lahm, Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. [10
zellen verdienen also m. E. den Namen der Hormonsammler. Kein
Zweifel, dass die Samenkanälchen die erste Rolle sowohl bei der
Bildung als auch der Speicherung geschlechtsspezifischer Stoffe spielen;
aber an ihre Stelle können bis zu einem gewissen Grade die Zwischen-
zellen treten und es ist nicht unmöglich, dass Hormone, die dort
abgelagert werden, rascher und vollständiger ins Blut gelangen als
es von den Samenkanälchen aus geschehen würde. Vermehrung (Hyper-
trophie) der Samenkanälchen und der Zwischenzellen, und zwar der
“ersteren in so beträchtlichem Grade, dass reichlich Spermatozoen
zugrunde gehen, steigert die Sexualität. Die geringe Hypertrophie,
wie wir sie bei Novotestal und beim Corpus cavernosum beobachtet
haben, reicht dafür nicht aus.
Nur mit einem Wort möchte ich zum Schluss meiner Ausfüh-
rungen noch auf die Zusammensetzung des Neosex und die Bedeutung
der per os verabreichten Organotherapeutica eingehen. Ich muss
sagen, leider ist das Neosex kein einheitlicher Stoff, so dass es nun-
mehr unsere Aufgabe sein muss, die verschiedenen oben bereits ge-
nannten Komponenten einzeln und kombiniert auf ihre Wirksamkeit
zu prüfen. Das ist bisher nur mit Testis siccata und Corpus caver-
nosum pulv. geschehen. Testis siccata hat mir keine ganz eindeutigen
Resultate gegeben ; die Reaktion auf die Verabreichung von Corpus caver-
nosum findet sich oben vermerkt. Immerhin bleibt als Ergebnis
meiner Versuche bestehen, dass es gelingt, mit Organpräparaten auf
dem einzig als zuverlässig anerkannten Wege, nämlich dem der per-
oralen Verabreichung (Zondek), sichere Veränderungen geschlechts-
spezifischer Art zu erzeugen, denen klinische und pathologisch-
anatomische Besonderheiten entsprechen. Zwar findet die Sexualität
kein einheitliches und kein pathologisch-anatomisch wohl charakteri-
siertes Gegenstück, aber wir glauben sie in Abhängigkeit zu sehen
von einem Komplex von Erscheinungen, welche der morphologischen
Untersuchung zugänglich sind.
Aus dem Institut für Sexualwissenschaft zu Berlin.
Sprechen anatomische Grundlagen für das
Angeborensein der Homosexualität? ')
Von
Dr. Arthur Weil, Berlin, z. Z. New York.
(Mit 9 Kurven im Text.)
In der Fragestellung der vorliegenden Preisarbeit spiegelt sich
die Wandlung wieder, welche im Laufe der letzten Jahrzehnte die
wissenschaftlichen Anschauungen über das Problem der gleich-
geschlechtlichen Liebe durchgemacht haben. .
„Anatomische‘‘ und ‚angeborene‘ Grundlagen hätte man vor Krafft
Ebing nie als Ursachen für eine Abweichung der Triebrichtung gelten lassen;
man betrachtete das ganze Problem nur vom Standpunkte der damaligen
psychiatrischen Forschungsrichtung aus als eine Psychose, eine Art Para-
noia, einen durch Verführung entstandenen immer stärker sich festwurzelnden
Wahn. Erst der österreicher grosse Sexualwissenschaftler versuchte eine andere
endogene Erklärung für diese rätselhafte Abweichung des sexuellen Empfindens
zu geben; ausgehend von der Forschung über den Hermaphroditismus und die
bisexuelle Anlage des Menschen schloss er sich der schon 1852 von Casper
geäusserten (1) und auch später von dem Juristen Ulrichs aufgenommenen
Ansicht an (2), dass diese Anomalie „angeboren und gleichsam als eine geistige
Zwitterbildung anzusehen sei“. Er setzte voraus, dass die Anlage der Ge-
schlechtsdrüsen und Befruchtungsorgane bisexuell sei und folgerte dement-
sprechend, dass auch die anderen Apparate des Sexualapparates, also die spinalen
Zentren, welche teils hemmend, teils erregend auf die Drüsen einwirken, und
die zerebralen Gebiete, in welchen sich die psychischen Vorgänge des Ge-
schlechtslebens abspielen, bisexuell angelegt sein müssten, so dass bei inkongru-
enter Entwicklung die Möglichkeit bestand, dass die Drüsen und Befruchtungs-
organe männlich, die spinalen und zentralen Zentren weiblich angelegt würden
und umgekehrt, so dass also die Triebrichtung und das sexuelle Empfinden
nicht der äusseren anatomischen Anlage entsprachen. Den Beweis für diese
Hypothese ist er stets schuldig geblieben und musste ihn schuldig bleiben,
1) Gekrönte Preisaufgabe der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Konstitutionsforschung.
24 Arthar Weil. [2
da wir ja auch heute noch nicht darüber unterrichtet sind, ob tatsächlich in dem
feineren Aufbau des Nervensystems geschlechtsspezifische Unterrhicde be-
stehen, etwa in der Art, wie sie Gall grob anatomisch durch seine zahlreichen
Messungen und Wägungen festgestellt hatte. Den Standpunkt Krafft-Ebings
von der Inkongruenz in der Entwicklung der einzelnen Anlagen auf bisexueller
Grundlage machte sich auch Hirschfeld in seiner „Zwischenstufentheorie‘
zu eigen, in der er die körperlichen und seelischen Geschlechtsunterschiede
in vier Gruppen einteilte, die unabhängig voneinander variieren sollten (4ı.
Entsprechend den Fortschritten der naturwissenschaftlichen Forschungen schrieb
er nicht wie Krafft-Ebing den Nervenzentren den überragenden Ein
flusg zu, sondern der inneren Sekretion der Keimdrüsen und ging so weit, dass
er selbst in Fällen von eindeutig ausgesprochenem männlichem Habitus bei
Homosexuellen die Wirkung eines hypothetischen andersgeschlechtlichen Inkrets
— des „Gynäcins‘ bei männlichen, des „Andrins' bei weiblichen Homosexuellen
— annahm. Auch er musste den anatomischen Beweis schuldig bleiben, da er
sich wie Krafft-Ebing hauptsächlich auf die Methoden der psychologischen
Forschung stützte, umfangreiche anthropologische oder histologische Unter-
suchungsmethoden aber nicht heranzog. |
Den Beweis für die innersekretorischen Grundlagen der homosexuellen
Veranlagung versuchte schliesslich Steinach zu erbringen, der angab, in den
Hoden Homosexueller neben einer Atrophie der Samenkanälchen besonders ge-
bildete grosse Leydigzellen gefunden zu haben, die F-Zellen, die er als Äqui-
valente der weiblichen Luteinzellen ansprach und von denen er annahm, dass
sie ein im weiblichen Sinne erotisierendes Inkret erzeugen sollten (5). Ihm trat
vor allen Dingen Benda entgegen, der seine Befunde nicht bestätigen konnte
und der auf die grosse Variationsbreite 'bei histologischen Hodenuntersuchungen
hinwies, die es fast unmöglich macht, eine bestimmte Norm aufzustellen (6).
Vorwegnehmend ‚kann ich an dieser Stelle auf eigene histologische Unter-
Untersuchungen an den Hoden von sechs homosexuellen Männern hinweisen,
bei denen ich in keinem Falle die F-Zellen als besonders charakteristisch sich
abhebende, von den Leydigzellen verschiedene Gebilde nachweisen konnte. In
einem Falle fand ich bei einem änfantilen 19jährigen das Bild eines Vor,
pubertätshodens, in zwei weiteren Fällen Atrophie der Samenkanälchen, während
die drei anderen beim Vergleich mit „normalen‘‘ Hoden keine groben Unter-
schiede erkennen liessen. Doch möchte ich diese eigenen histologischen Unter-
suchungen nicht zur Entscheidung der Frage in die Wagschale werfen, da
ihre Zahl zu klein ist, um kein abschliessendes Urteil zu gestatten.
Auf einem anderen Wege versuchte Weil die Frage zu lösen, ob bei Homo-
sexualität anatomische Grundlagen zugunsten eines Angeborenseins sprächen.
Wenn, so war sein Gedankengang, innersekretorische Störungen der Keimdrüsen
dieser Abweichung parallel gehen, so müssen diese sich nach aussen hin in Ab-
weichungen der Körperform und des Skeletts zeigen (6). Wie er an anderer
Stelle hervorhob (7), unterliegt die Ausbildung der sekundären Geschlechts-
charaktere aber nicht nur dem Einfluss der Keimdrüsen, sondern auch den
anderen Gliedern des inkretorischen Systems, und die endgültige Körperform
ist eine Diagonale der Kräfte aus dem Zusammenwirken ererbter Anlagen mit
Thymus, Schilddrüse, Hypophyse und Keimdrüsen, von denen die drei ersteren
in bezug auf das Skelettwachstum antagonistisch zu den letzteren wirken. Er
unterschied in bezug auf die Proportionen des menschlichen Körpers zwei
Gruppen: eine, welche sich aus dem Wechselspiel der vier genannten Drüsen
3] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 25
herausbildet, und zu der das Längenwachstum gehört, das wieder in dem Ver-
hältnis Jer- Ober- zur Unterlänge seinen sichtbaren und messbaren Ausdruck
findet und eine zweite, welche direkt nur. dem Einfluss der Keimdrüsen unter-
liegt und zu der das Beckenwachstum gehört, dessen geschlechtsspezifische
Bildung neben direkten absoluten in dem Verhältnis der Schulter- zur Hüft-
breite zum Ausdruck kommt. Er stellte fest, dass die Kurve der Variations-
breite dieser beiden Proportionen wesentlich von der heterosexuellen ver-
schieden ist und schloss daraus, dass in 9500 der untersuchten Fälle eine endo-
gene, inkretorisch zum Ausdruck kommende Veranlagung bestand. -—Romeis (8)
glaubt, dass Weil bei der Untersuchung von Homosexuellen eine besondere
Auswahl getroffen habe und zieht aus seinen Ergebnissen die Folgerung, dass die
Wachstumsänderung des Skeletts mit der Ausübung der Homosexualität zu-
sammenhängt, nämlich mit einer Schädigung des generativen Anteils der Keim-
drüsen durch frühzeitige sexuelle Exzesse — ene Äusserung, die auf eine
erstaunliche Unkenntnis des Wesens des gleichgeschlechtlichen Empfindungs-
lebens schliessen lässt, da jeder Psychologe, der sich eingehender mit diesem
Problem beschäftigt hat, weiss, dass homosexuelles Empfinden und homosexuelle
Betätigung durchaus nicht identisch sind, und dass es in der Mehrzahl der
Fälle überhaupt erst jenseits der zwanziger Jahre zu einem homosexuellen
Verkehr kommt.
Überhaupt zeigt ein Studium der Literatur, besonders der älteren Sexual-
wissenschaft, in der Auffassung über den feineren Mechanismus des sexuellen
Trieblebens eine merkwürdige Naivität. Wenn man sich selbst mehrere Jahre
lang speziell mit der Psychologie der sexuellen Varianten beschäftigt hat,
erstaunt man immer wieder über die‘ unbegrenzte Mannigfaltigkeit der indi-
viduellen Veranlagungen, erkennt man immer mehr wie unendlich verwickelt
die Zusammenhänge zwischen körperlichem und seelischem Geschehen sind,
zwischen dem, was wir einerseits von vererbten Anlagen, den Vorgängen im
inkretorischen, vegetativen und zentralen Nervensystem unter dem Begriff der
Konstitution zusammenfassen ‘und andererseits von äusseren Einflüssen, Er
lebnissen, Milieuwirkungen usw. Was speziell die Homosexualität anbelangt,
so hat vor allem Kronfold (9) versucht, sich von einer Schematisierung
frei zu machen und sich zu ‘einer „erfassenden Wesensschau‘ durchzuringen,
die ihn zuletzt zu der Erkenntnis führt, dass „die Gleichgeschlechtlichkeit ihren
Trägern etwas Wesensmässiges ist, mit ihrer Konstitution schicksalshaft ver-
wachsen. Sie ist nicht eine zufällige Pervertierung der Seele und der Triebe,
wie dies von bestimmten anderen sexuellen Verhaltungsweisen angenommen
wird, sondern sie entspricht einem notwendigen und tiefen Wesensbedürfnis
in den Grundlagen des gesamten Menschen, der sie trägt.“ Allgemeiner betont.
Kretschmer diesen unlösbaren Zusammenhang zwischen Sexualtrieb und
Konstitution (10). „Der Sexualtrieb ist nicht eine einfache Funktion der
Keimdrüse, sondern entsteht wiederum unter deutlicher Mitwirkung anderer
Drüsen und des nervösen Zentralorgans, indem sich Zentralnervensystem und
Blutdrüsen in einem verschlungenen Zirkel von Wirkung und Rückwirkung
teils auf dem Nerven-, teils auf dem Blutwege gegenseitig beeinflussen und mit
Förderungs- und Hemmungsimpulsen regulieren. Der Sexualtrieb ist nicht ein
Produkt der Keimdrüse, sondern eines aus Gehirn-Rückenmark und Blutdrüsen
zusammengesetzten komplizierten Kausalringes, in dem die Keimdrüse eine by.
sonders hervorstechende Rolle spielt. Zudem ist der Sexualtrieb keine selb-
ständige psychophysische Grösse, sondern ein unlöslich hineingewebter Haupt-
26 Arthur Weil. [4
bestandteil des Gesamttemperaments.‘‘ Er weist dabei auf sein Material an
Schizophrenen hin und auf die Inkongruenz zwischen psychischer und somati-
scher Anlage der Sexualität, auf die geringere Triebkraft und das relativ häufigere
Vorkommen psychosexueller Varianten, vor allem der Homosexualität.
Wenn wir so die Frage „Sprechen anatomische Grundlagen
für das Angeborensein der Homosexualität?“ in ihrer geschicht
lichen Entwicklung verfolgen, so sehen wir den folgenden Weg
vor uns: Nach anfänglichem Leugnen körperlicher Bedingtheit wird
eine allgemeine hermaphroditische Grundlage von Caspor ange-
nommen, dem Krafft-Ebing mit dem weiblichen Gehirn im
männlichen Körper folgt, abgelöst von Hirschfeld-Steinach
mit der Hypothese von der Erzeugung eines weiblich eroti-
sierenden Inkrets im männlichen Körper und schliesslich von Weil-
Kretschmer-Kronfeld, welche das Angeborensein in einer
bestimmten Konstitution sehen, einer Reaktionsmöglichkeit auf der
Grundlage eines bestimmten Temperaments, aus der heraus das
Triebleben emporwächst.
Wenn ich jetzt selbst die Lösung der gestellten Frage versuche,
so bin ich mir dabei vollkommen der Schwierigkeiten bewusst, die
sich schon bei dem ersten Schritt hoch auftürmen, wenn es gilt,
den Begriff der Homosexualität abzugrenzen und zu definieren.
Selbstverständlich ist, dass hierunter nicht die homosexuelle Hand-
lung, der gleichgeschlechtliche Verkehr als solcher verstanden sein
soll, sei es in welcher Art und ‚Weise er auch immer getätigt werde.
Ausschlaggebend ist das seelische Empfinden, der Trieb des Mannes
zum Manne oder des Weibes zum Weibe, also :zum gleichen Ge-
schlecht, eine Einschränkung, die auch Bisexualität, Schwankungen
in der Triebrichtung ausschliessen soll. Wir haben uns beim Ge-
brauch des Wortes „Geschlecht“ angewöhnt, ihn mit dem äusseren
Genitale begrifflich zu identifizieren, gebrauchen „Mann“ gleich
Phallus, „Frau“ gleich Vagina und setzen stillschweigend voraus,
dass mit diesem Symbol gleichzeitig alle die körperlichen und
seelischen Eigenschaften verbunden sein sollen, die wir nach dem
Gesetze der Häufigkeit mit diesem äusseren Genitale verbunden
finden. Wie wenig aber eine solche stillschweigende Voraussetzung
berechtigt ist, darauf hat jüngst wieder Weil (11) in einem Auf-
satze über „den Einfluss der inneren Sekretion auf die Ausbildung
der sekundären Geschlechtsmerkmale‘“‘ hingewiesen, in dem er die
Mannigfaltigkeit der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten be-
tont. Wenn wir z. B. hohen Körperwuchs mit kräftiger, musku-
lösen Formen verbunden mit einem energischen, zielsicheren Tem-
perament als männliche Eigenschaften bezeichnen, dann müssten
5] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 27
wir auch einen metatropen Mann, der einen: solchen männlichen
Frauentypus liebt als homosexuell bezeichnen, da er ja nach unserer
Definition „Mann“ als Phallusträger ist, aber bei einem anderen
Wesen eine andere, männliche Eigenschaft liebt, und wenn wir diesen
Gedanken weiter spinnen, dann ist der virila Homosexuelle, der den
zarten, mädchenhaften Körper des Epheben. liebt, und der durch
ein bebartetes Gesicht abgestossen wird, heterosexuell, da er ja
die Eigenschaften liebt, die wir sonst als weiblich ‚bezeichnen.
Andererseits finden wir wieder Homosexuelle, die nur Phallus-
fetischisten sind, die also das lieben, was wir als eigentliches Kenn-
zeichen des männlichen Geschlechts definiert hatten. — Wenn wir
unter diesem Gesichtswinkel die Frage der gleichgeschlechtlichen
Liebe betrachten, dann verschiebt sich die Problemstellung wesentlich
von der bisher üblichen Auffassung; wir erkennen, dass „‚Homo-
sexuelle“ gar nicht Personen sind, welche das gleiche Geschlecht
lieben, einen künstlich geschaffenen Typus „Mann“ oder „Weib“,
sondern (falls wir bei dem einfacheren Fall der männlichen Homo-
sexualität bleiben) Menschen mit männlichen Keimdrüsen und Geni-
tale, welche andere Menschen mit denselben äusseren Geschlechts-
merkmalen lieben, ohne dass aber diese Merkmale selbst von aus-
schlaggebender Bedeutung für die Erregung eines Liebesempfindens
zu sein brauchen. ‚Wesentlich bei dem geliebten. Objekt sind vielmehr
andere Eigenschaften des Körpers, des Temperaments usw., Eigen-
schaften, die vielfach durchaus „weiblich“ sind. Gemeinsam ist
allen gleichgeschlechtlich Liebenden nur eines, etwas Negatives:
das Abgestossensein, das Nichtswissenwollen von der Vagina, ein
Horror, der durchaus kein Äquivalent in der heterosexuellen Gemein-
stellung gegen das männliche Glied: findet.
Wenn ich nach diesen Überlegungen. „homosexuell“ definieren
will, so bleibt mir also weiter nichts übrig, als vorläufig alle die
Menschen unter dieser Gruppe zusammenzufassen, deren Trieb auf
andere Menschen mit gleichem äusseren Genitale gerichtet ist. Wie
absurd es nach diesen Feststellungen noch ist, überhaupt die Homo-
sexuellen als besondere Gruppe zu klassifizieren, wird nach allem
diesem wohl nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen. Die
Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens wird uns noch besser
zum Bewusstsein gebracht, wenn wir einmal die Fragestellung dieser
Preisaufgabe so formulieren: „Sprechen anatomische Grundlagen
für das Angeborensein der Heterosexualität?‘“ Das ungleich grössere
Material, das uns hier zur Verfügung steht, lehrt uns selbst bei einem
nur oberflächlichen Studium sofort, dass nie ein idealer Durchschnitts-
typ „Mann“ oder „Weib“ geliebt wird, sondern eine bestimmte
28 Arthur Weil. [6
Gruppe oder eine einzige von körperlichen oder seelischen Eigen-
schaften, die oft in Dysharmonie zu dem äusseren Genitale stehen.
Ja, der Träger eines Phallus kann ibei Anorchie in seiner Erschei-
nungsform und in seinem seelischen Empfinden ganz feminin sein,
und trotzdem bezeichnen wir ihn, wenn er eine Frau liebt als
„heterosexuell“. Dies möge genügen, um zu beweisen, dass der
Begriff „Geschlecht“ für uns bis jetzt immer mit „äusserem Geni-
tale‘ synonym war.
Der Schwierigkeit einer schematischen Klassifizierung in zwei Menschen-
gruppen nach der Triebrichtung waren sich auch imner diejenigen Forscher
bewusst, die über ein grösseres Material verfügten, vor allem Krafft-Ebing
und Hirschfeld. Der erstere stellte die Untergruppe auf: Psychische Herma-
phrodisie —= Bisexualität; Homosexuale oder Urninge — Triebrichtung auf das
gleiche Geschlecht, alle sonstigen Eigenschaften männlich; Effeminatio = homo-
sexuelle Triebrichtung verbunden mit weiblichem Gefühlsleben; Androgynie =
Effeminatio verbunden mit körperlichen Geschlechtsmerkmalen des anderen
Geschlechts (12). — Hirschfeld teilt ein nach persönlicher Eigenart, nach der
Triebrichtung (ältere oder jüngere) und nach der Triebbetätigung. Auch er
definiert den Begriff ‚Geschlecht‘ nicht näher, sondern definiert: „Von Homo
sexualität reden wir also nur dann, wenn bei einem Manne oder einer Frau
die von einer Person desselben Geschlechts ausgehenden distantiellen Sinnes-
eindrücke (besonders die Gesicht und Gehör betreffen) als Lust, die durch
sie bewirkten proximalen Reize (der Kontakt) als höhere Lust, die von ihr
ausgelösten genitalen als höchste Lust empfunden werden“ (13).
Wenn ich selbst daran gehe, die von mir untersuchten Homo-
sexuellen zu klassifizieren, so kann es im Binne dieser Arbeit nicht
nach psychosexuellen Momenten geschehen, sondern nur von körper-
lichen Gesichtspunkten aus. Ich möchte hier nach meinem Material
3 grosse Gruppen unterscheiden:
1. Personen männlichen Geschlechts, die ausgesprochen weib-
liche sekundäre Geschlechtsmerkmale zeigen: Brustbildung, breite,
weibliche Hüften- und Beckenbildung, kleine Hände und Füsse,
zarten Skelettbau, reichliches Wachstum des (Haupthaares bei fehlender
Körper- und Gesichtsbehaarung. — Von den bisherigen Beobachtern
wurde auch Haarlosigkeit, dreieckige Pubesbehaarung, hohe Stimme,
hohe Stimme mit unentwickeltem Kehlkopf, Fettansatz an den Hüften
bei Penis- und Hodenträgern als weibliche Geschlechtsmerkmale ge-
deutet. Ich kann mich dieser Anschauung nicht anschliessen, sondern
bezeichne sie entsprechend Tandler und Gross (14) als
„eunuchoid“ (in diesem Falle synonym mit infantil = fehlende männ-
liche Entwicklung), da wir ja aus heute nicht mehr umstrittenen
Tatsachen wissen, dass Verlust. oder Unterentwicklung der Testes
dieselben Körpermerkmale bedingt, dass sie also Ausfallserschei-
nungen oder Entwicklungshemmungen sind, die man nicht wie die
T) Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 29
unter dem Einfluss der Ovarien sich ausbildenden Brüste oder
die breiten Becken als „feminin“ bezeichnen kann. Nimmt man
allerdings eine potentielle bisexuelle Anlage auch des Somas an,
so kann man diese Ausfallserscheinungen als „weiblich“ deuten, als
Hervortreten bis dahin durch die Testesinkretion unterdrückter
femininer Körpermerkmale. Durchaus unnötig ist es aber, in diesen
Fällen das Postulat eines besonderen weiblichen Inkrets aufzustellen,
da ja bei der Annahme dieser somatischen Bisexualität das Auf-
treten von femininen Körpereigenschaften dann ungezwungen erb-
biologisch erklärt werden kann.
2. Die grösste Zahl der Homosexuellen gehört der zweiten
Gruppe an; sie zeigen alle mehr oder weniger stark gemischt die
oben erwähnten ‚„eunuchoiden“ Merkmale: fehlende Behaarung des
Stammes, oft auch des Gesichtes, dreieckige Pubesbehaarung, hohe
Stimme, schlankes Skelett, schwache Muskulatur; Fingerglieder und
Zehen sind oft von einer übermässigen Schlankheit und Länge, die
aber durchaus nicht feminin ist, sondern typisch eunuchoid, d. h.
bedingt durch ein Überwiegen der nicht, oder nicht rechtzeitig
durch die Testes gehemmten Hypophysentätigkeit. Auch sonst ge-
hören sie oft jenem Typus an, den eine amerikanische Schule als
den „hypophysis tropism‘ bezeichnet, die im Aufbau schlanke Form
mit fehlender Körperbehaarung, rundlicher Linienführung und Fett-
ansatz an den Hüften. In diesem Zusammenhange ist vielleicht die
Äußerung eines Endokrinologen interessant, der mir berichtete,
dass er bei diesem Typus unverhältnismässig häufig sexuelle Inversion
gefunden habe (15). — Konstitutionell gehört diese Gruppe über-
wiegend dem asthenischen Habitus an. Derjenige, der sich gewöhnt
hat, auf solche Dinge zu achten, erkennt sie leicht an der überdurch-
schnittlichen Körpergrösse, einer schlanken Figur, schmalen Schultern
und der typischen Gesichtsform, die Kretschmer so gut in Bildern
und Beschreibungen herausgeschält hat. Ich fand unter den 360
Homosexuellen kaum 3 ausgesprochene Pykniker, häufiger war der
athletische Einschlag; doch möchte ich hier auf genauere Zahlen-
angaben verzichten, da Mischformen zu häufig waren. — Charakte-
ristisch ist für diese zweite Gruppe die eunuchoide Längenproportion,
auf die Weil zuerst hingewiesen hat, und die vom innersekretori-
schen Standpunkte aus gedeutet darauf hinweist, dass entweder die
Keimdrüsenfunktion bei gesteigertem Längenwachstum verspätet ein-
gesetzt hat, oder dass die Hypophyse (und bestimmte damit im Zu-
sammenhange stehende Gehirnzentren?) bei normaler Keimdrüsen-
funktion ‚eine Zeitlang das Übergewicht hatten. Für solche inner-
sekretorischen Störungen, die sich hier nach aussen hin in den
20 Arthur Weil. [8
Wirkliche Gynäkomastie fand ich unter 380 Fällen nur 'etwa 5 mal.
Dagegen sind Hüftbreite, Schulterbreite, Standlänge, Ober- und Unter-
Homosexuellen abweichend von dem grossen Durchschnitt der Hetero-
sexuellen ist, dass sie eine erhöhte Hauttemperatur, also eine ver-
änderte Reaktion der Vasomotoren zeigen oder — allgemein —, dass
sie häufig dem Typus des ‚„Neurasthenikers‘ angehören. Für den
eunuchoiden Einschlag spricht ferner die Tatsache, dass viele Homo-
sexuelle dieser Gruppe noch um die Mitte der ‚dreissiger Jahre ein
jugendliches Aussehen zeigen mit dem typischen faltenlosen und
haarlosen Gesicht. |
3. Die dritte Gruppe schliesslich kann man als „normale“ Männer
bezeichnen, d. bh sie haben weder in ihren ‚Körperproportionen noch
in der Körperbehaarung, der Muskulatur und der Skelettbildung eunu-
choide oder feminine Einschläge. Was das psychosexuelle Verhalten
anbelangt, so fand ich unter ihnen relativ oft, Transvestiten und Homo-
sexuelle, deren Ideal der ältere Mann war, der in seinem Idealtypus
sehr oft dem Vater, dem ersten Lehrer oder sonst irgendeiner ver-
ehrten Person aus der Jugendzeit ähnelte.
Diese dritte Gruppe schaltet selbstverständlich für die Beant-
wortung der Frage nach angeborenen anatomischen Grundlagen
der homosexuellen Triebrichtung aus; bei ihnen das Vorhandensein
eines weiblichen Inkrets anzunehmen würde allen Grundlagen der
Lehre von der inneren Sekretion widersprechen, da doch im Körper-
bau nichts Weibliches vorhanden ist, und da wir doch geradegglen
Einfluss der Inkrete auf das Soma aus ihrer Wirkung auf die Körper-
zellen erschliessen. Auch bei der zweiten Gruppe kommt man un-
gezwungen mit der Annahme einer 'Ausfallserscheinung (Hemmung
oder Verspätung) von seiten der Keimdrüse oder einer vermehrten
Hypophysentätigkeit zur Zeit der Pubertät aus. Dagegen kann man
bei der ersten Gruppe vielleicht die Hypothese von. dem Vorhandensein
eines weiblichen Keimdrüsenäquivalents aufstellen, ohne dass bis jetzt
aber, abgesehen von den Fällen von Pseudohermaphroditismus, bei
denen aber meistens in bezug auf die Keimdrüse Heterosexualität
vorlag, der Nachweis einer weiblichen Keimdrüse bei äusserlich
männlichem Genitale (Phallus) gelungen wäre.
Wenn die von mir aufgestellten Häufigkeitsgruppierungen Be-
weiskraft haben sollen, so müssen sie zahlenmässig belegt werden,
besonders wichtig aber ist der Nachweis, dass sie bei heterosexueller
Triebrichtung nicht in derselben Häufigkeit vorkommen. Für die
weiblichen Eigenschaften der Gruppe 1 wird dieses nur für Becken-
form und Hüftbreite möglich sein; die Diagnose „weibliche Brust-
bildung“ wird in den meisten Fällen immer etwas subjektiv sein.
9] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 31
Wachstumsänderungen offenbaren, spricht auch die von Hirsch-
feld angeführte Beobachtung (16), dass die nervöse Erregbarkeit. bei
länga der exakten Messung zugänglich, und nach dem Vorbilde von
Weil (17) benutzte ich darum diese Messungen, um nach ihrer
variationsstatistischen Verarbeitung daraus Schlüsse auf die Ver-
teilung innerhalb der ‚verschiedenen Gruppen ziehen zu können.
Gegen die Untersuchungen des letzteren sind von verschiedener Seite
Einwände erhoben worden. Bonhöffer und Forster (18) be-
mängelten die kleinen Zahlen (80 bei der ersten ‚Publikation),
Biedl (19) wollte die zugrunde gelegten Masse der Oberlänge als
Entfernung vom Scheitel bis zum Ende der Wirbelsäule als veraltet
nicht anerkennen; Peritz (20) machte zwar keine Einwendungen
gegen die Untersuchungsergebnisse, wollte diese aber nicht im
Sinne einer bisexuellen Anlage, sondern als Status thymo-Iymphaticus
gedeutet haben, und schliesslich behauptete Romeis (21), dass die.
Auswahl Weils einen besonderen Einfluss auf die Untersuchungs-
resultate gehabt hätte. Die von Mair und Zuttan den Weilschen
Befunden geübte Kritik ist wegen der geringen Anzahl der Fälle
(sechs) nicht berücksichtigt.
Um allen diesen Einwänden gerecht zu werden, schloss ich mich
in der Untersuchungstechnik zunächst eng an die von Martin (22)
gegebenen Vorschriften an und arbeitete mit Anthropometer und `
Stangenzirkel. Als Schulterbreite wurde die Entfernung zwischen
den beiden Akromien gemessen (Mass Nr. 35), als Hüftbreite die
Entfernung zwischen den grossen Rollhügeln (Trochanterbreite
Nr. 42), als Unterlänge die Höhe des oberen Symphysenrandes über
dem Boden (Nr. 6) und schliesslich als Oberlänge .die Differenz
zwischen Stand- und Unterlänge. Um den Einwand der zu kleinen
Zahlen zu entkräften, wählte ich als normale" Vergleichszahlen
die von Weise (23) niedergelegten Untersuchungsbefunde an
1000 Männern, bei denen absichtlich insofern ein Fehler eingeschaltet
ist, als er dabei nicht die Triebrichtung analysierte, sondern auch
die darunter befindlichen Homosexuellen als „normal“ aufführte,
so dass Abweichungen bei rein homosexuellen Untersuchungen von
diesen Werten noch grössere Beweiskraft zukommt, als wenn man,
wie Weiles zuerst tat, nur rein heterosexuelles Material wählt. Ich
verdoppelte die zuletzt von diesem veröffentlichten Zahlen und glaube
mit 380 Personen ein für solche Untersuchungen genügendes Material
herbeigetragen zu haben, das ich wahllos nahm, wie die Sprechstunde,
das tägliche Leben, Versammlungen und Vereine es mir boten, so
dass wohl auch der Romeissche Einwand damit hinfällig sein
dürfte.
32 Arthur Weil. [10
Was die statistische Bearbeitung der gewonnenen Masse anbelangt, so habe
ich mich dabei vor allem an die von Johannsen (24) in die biologischen
Wissenschaften eingeführten Grundsätze gehalten und an die von Collier (25)
verlangten und von anderen Forschern bei ähnlichen Untersuchungen be-
rechneten Konstanten. — Ich habe vor allem auch die von Weise benutzten
Berechnungsarten und Kurvenaufstellungen berücksichlig, um so Vergleichs
werte mit seinen „Normal‘zahlen zu erlangen.
Es wurden berechnet:
1. Der Mittelwert M = A — b. A = Variantenklasse mit höchster Frequenzzahl,
b= en wobei p die Differenz je zweier in bezug auf A symmetrischen
Variantenklassen ist, a die Abweichung je zweier solcher Klassen von A.
n ist die Anzahl der untersuchten Personen.
2. Das Galtonsche Quartil Q = ds > dı , Wobei q, und q, die dritte und erste
Viertelgrenze einer Aufzählungsreihe bedeuten. Die Auffassung über den
variationsstatistischen Wert dieser Grösse ist nicht ganz einheitlich; sie lässt
aber einen Vergleich über die Zuverlässigkeit der einzelnen Messungen zu.
Q 100
3. Der M-Quartilkoeffizient — "TV:
4. Die Mediane als Hälftegrenze der Aufzählungsreihe der nach Varianten-
klassen geordneten Frequenzen.
nn
5. Die Standardabweichung o = ay že“ — bi
6. Der Variationskoeffizient wv nn
5 a nae hei
7. Der Korrelationskoeffizient = Spaz: ay —n:bz'by
nox Oy
8. Die mittleren Fehler für M, o und V-mm= + ee my = =
Yn Y2n Y2n
Die unter (8) angegebene Berechnungsformel für den Korrelationskoeffi-
zienten wurde nur für die Korrelation Ober/Unterlänge zu Schulter/Hüftbreite
angewandt, während für die Korrelation der Standlängen zu Ober/Unterlänge
einerseits und Schulter/Hüftbreite andererseits die folgende Berechnungsweise
angewandt wurde: Die Standlänge wurde in Variationsklassen von je 5 cm ein-
geteilt, die zu jeder Gruppe gehörigen entsprechenden Proportionen heraus-
gesucht und aus der Summe der so für die einzelnen Gruppen gefundenen Werte
das arithmetische Mittel berechnet.
Ich lasse zunächst in Tabellenform die gefundenen Werte folgen, denen
ich die von Weise mitgeteilten Zahlen gegenüberstelle; eine Diskussion der
Ergebnisse wird später folgen.
11] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 33
Tabelle I. |
Schulterbreite.
= Anzalıl der Fälle Prozentzahlen
c
Homosexuelle | Heterosexuelle | Homosexuelle | Heterosexuelle
32 l i — 0,3 | =
38 3 | = 0,8 | =
34 4 y d 1,1 0,2
35 , 17 24 4,7 | 24
36 37 | 76 10,2 | 7,6
37 59 | 151 16,8 351
38 89 | 182 24,5 | 18,2
39 57 | 162 15,6 16,2
40 63 | 201 17,4 20,1
41 25 | 124 6,9 12,4
42 6 Ä 49 17 4,9
43 2 | 20 0,5 | 2,0
44 — | 9 —_ 0,9
erbreite.
983 Homosexuelle
— = =... 1000 Heterosexuelle
Ordinate = Prozente
Abszisse = Schulterbreiten
461 Frauen nach Weissenberg.
årehiv für Frauenkunde. Bd. X. H, 1⁄2. 3
34 Arthur Weil. [12
Tabelle Il.
Hüftbreite.
Anzahl der Fälle Prozentzahlen
Homosexuelle | Heterosexuelle Homosexuelle Heterosexuelle
28,3
11,1
3,1
0,2
0,4
Hüftbreite.
376 Homosexuelle
1000 Heterosexuelle
Ordinate = Prozente
Abszisse = Hüftbreiten.
Mhet. M nhos.
13] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborenscin der Homosexualität? 35
Tabelle Il.
Konstanten der Schulter- und Hüftbreite.
| Schulterbreite Hüftbreite
Homo- Hetero- | Homo- Hetero- i
sexuell sexuell sexuell sexuell
cm cm
Mittelwert i 81,41
und mittlerer Fehler . + 0,05
Quartil . .... 1,268
M Quartilkoeffizient . 4,03 |
Mediane . —— 31,81
Standardabweichung . + 1,583
und mittlerer Fehler . + 0,035
Variationskoeffizient.. 9,04
und mittlerer Febler . + 0.159
Differenz. d. beid.Mittelwerte 0,81 Ke 0,11 | 0,85 e + 010
|
Tabelle IV.
Standlänge.
Zahl der Fälle
Homosexuelle | Heterosexuelle
Prozentzahlen
Homosexuelle | Heterosexuelle
Anzahl d.Fälle 378 1000
150/155 6 | 19 1,6 | 1,9
156/159 10 81 2,6 | 8,1
160/163 25 172 6.6 | 17,2
164/167 56 277 14,8 27,2
168/171 92 243 24,4 24,8
172/175 82 132 21,7 13,2
176/179 60 56 15,9 | 5,6
180/183 27 15 7,1 ! 1,5
184/187 5 4,5 | 0,5
188/190 0,8 | Ss
3*
36 | Arthur Weil. [14
Standlängen. |
nn 376 Homosexuelle
— — 1000 Heterosexuelle
Ordinate = Zahl in Prozenten |
Abszisse = Länge in cm. |
im mmın.m 563 Frauen
nach Weissenberg.
Tabelle V.
i _ 100x Unterlänge,
Verhältnis der Ober- zur Unterlänge p = — Oberlänge
— Zahl der Fälle Prozentzahlen
S Homosexuelle | Heterosexuelle | Homosexuelle | Heterosexuelle
i
87/93 5 29 1,4 | 2,9
94/97 6 97 1,7 9,7
98/101 28 170 7,8 | 17,0
102/105 8 259 22,3 25,9
106/109 95 225 26,4 | 22,5
110/113 83 141 23,1 14,1
114/117 87 | 57 10,3 | 5,7
118/121 15 | 16 4,2 | 1,6
122/125 9 7 2,5 0,7
126/127 1 | — 0,3 | —
Zahl d. Fälle | 360 | 1000
15] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 37
=. 360 Homosexuelle
— 1000 Heterosexuelle
Ordinate = Prozente
Abdszisse = p = Unter-
länge in Prozenten der
Oberlänge.
— — a —
85 90 95 100 105 110 115 120 122.5 125
M het M hos.
Tabelle VI.
100 x Hüftbreite
Verhältnis der Schulter- zar Hüftbreite. p = -Schulterbreite `
Zahl der Fälle Prozentzahlen
Homosexuelle | Heterosexuelle | Homosexuelle Ä Heterosexuelle
1,1 2,7
1,7 7,0
7,2 19,3
17,0 Ä 26,0
27,2 | 23,1
24,5 13,9
10,6 | 5,8
8,3 2,4
2,5 | 0,3
Zahl d. Fälle
38 Arthur Weil. [16
Schulter-:Hüftbreite.
360 Homosexuelle
nu = = 1000 Heterosexuelle
Ordinate = Prozente.
Abszisse = p-Hüftbreite in
Prozenten der Schulterbreite.
Tabelle VI.
Me Konstanten der Standlänge und der Proportion Über: Unterlänge.
(Unterlänge in Prozenten der Oberlänge.)
Standlänge DW Oberlange Unterlänge
Homo- | Hetero- Homo- Hetero-
sexuell sexuell sexuell
Mittelwert
und mittlerer Feliler . + 0,19
Quartil . . 2... 4,145
M Quartilkoeffzient . 3,857
Standardabweichung . + 6,007
und mittlerer Febler . + 0,134
Variationskoeffizient..
und mittlerer Fehler .
Differenz der beiden Mittel-
werte
17] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 39
Tabelle VIIL.
Die Konstanten der Proportion Schulter-: Hüftbreite (Hüftbreite in Prozenten der
Schulterbreite).
Homosexuel!
Mittelwert . . : 2 2 2 200. 84,19
81,12
und mittlerer Fehler . . . . . . + 0,24 + 0,14
Quartilli.. .... . 3,256 3,063
M Quartilkoeffizient . . . . 2... 3,868 3,775
Mediane . . . De en a 84,05 = 80,86
SEN, | + 4,576 | + 4,449
und mittlerer Fehler . , = + omi | 4 0,102.
Variationskoeflizient . . . . . . . 5,443 | 5,484
und mittlerer Fehler... . .. 4 0,208 + 0,122
Differenz der beiden Mittelwerte . . 3,07 + 0,267
Korrelationskoeffizient (Korrelation ``“
zwischen Proportion Schulter/Hüfte |
und Ober-/[Unterlänge . . . . . — 0,0150 Ä — 0,0349
l
l 376 Homosexuelle
i „1000 Heterosexuelle
91 Med. Med. SA Falle
Ober-:Unterlänge.
3 360 Fälle
1000 .
40 Arthur Weil. [18
Tabelle IX.
Reduzierte Verteilungstafel für die Proportionen Schulter-: llüftbreite und
Ober-: Unterlänge.
1. 360 Homosexuelle.
86,5 | 93,5 97,5 101,5 [105,5 | 109,5 | 118.5 | 117,5 : 121,5 | 126,5
98,5 : 97,5 |101,5 | 105,5 | 109.5 118,5 -| 117,5 121,5 126,5 | 180,5
i | , |
1 t i
| | | |
Spielraum
s-5| - — '- la! - EIER
GT ENEE E E ENEE
| ar 22 1) —
185—815] — ~ 7:9 | ou on sl.
815—845 | 1 2. 5 2| B ann nl:
84,5-87,5| 1 | 2 mi S 20 10 3 $.: ==
87,5—90,5 | — 2 3 ll 8 4 — 2: =
90,5—98,5 2 | 519 ı 2 1| ı
93,5—96,5 "g
l
EE E Ee EE 9 1
2. 1000 Heterosexuelle.
86,5 | 93,5 | 97,5 101,5 |105,5 ees 113,5 117,5 121,5) $
Spielraum | — Be re — — — — —
93,5 | 97,5 | 101,5 | 105.5 109,5 118,5 117,5 [121,5 |1265] ġ
— — — ñ—
| 2 4 | Ian 38 Ä Br e
12,5—75,5 "now mm ni m
75,5—78,5 | 12 an oli | — 19
we el 2
81,5—84,5 men em
84,5- 87,5 nn a sn 5, 8j 1 Im
87,5—90,5 | Ä Bi., 5, 1 o — — >» 53
0585| — | e oe 4a ı -I- B
98,5—965 | E 1 — — — — — 8
| | |
| ee 225 | 141 | 57 | 16 7 | 1000
19] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 41
Tabelle X.
Korrelationen der Standlänge zu a) Ober-: Unterlänge, b) Schullter-: Hüftbreite.
1. 392 Homosexuelle,
Durchschnittszahlen Zahl
Standlänge der zugehörigen
— See der | Prozente
am Längen- | Breiten- Fälle
proportionen proportionen
147,5/152,5 150 (103,5) 2 0,5
152,5/157,5 155 105,5 106 28
157,5/162,5 160 % 1. 106,2 86 4 ` 6l
162,5/167,5 165 107,2 83,5 68 174
167,5/172,5 170 I. 108,5 88,5 115 29,4
172,5/177,5 175 108,0 85,5 97 | 247
177,5/182,5 180 \ III. 111,4 85 48 | 122
j
182,5/187,5 185 111,3 87 24 OI
187,5/192,5 (123,1) 3 08
Mittel . . a. 1083 84,6
2. 91 Heterosexuelle.
Durchschnittszahlen Zahl
Standlänge der zugehörigen
EEN der Prozente
er Längen- | Breiten- Fälle
proportionen proportionen
4 | 0,3
32 3,5
15 | 192
283 31,0
266 29.1
123 | 134
26 2,8
8 0,9
42
Arthur Weil.
Korrelation zwischen
Standlänge und Längenproportionen.
Korrelation zwischen Standlänge und Breitenproportionen.
Standlängen und Proportion Schulter-:Hüftbreite.
—
Be
—
155 160 165 170 15 180° 185cm
[20
` em — —— ——
21] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 43
Die Deutung der gefundenen Zahlen.
Mit der Einführung variationsstatistischer Auswertungen grosser
Massenuntersuchungen hat sich in der medizinischen Wissenschaft
allmählich eine Wandlung des Begriffes „Norm“ vollzogen. Während
man vor dieser Periode darunter das empirisch gefundene arith-
metische Mittel aus vielen Einzeluntersuchungen verstand, gehen
wir jetzt immer mehr dazu über, eine bestimmte Variationsbreite,
das Mittelstück einer aus der Einreihung der einzelnen Befunde in ein
Ordinatensystem gebildeten Kurve synonym mit diesem Begriff zu
setzen. Ja, viele Forscher lassen den Begriff der Norm" über-
haupt fallen und verzichten damit bewusst auf die Möglichkeit ver
gleichender Untersuchungen. Wenn wir bei der Beantwortung der
vorliegenden Aufgabe denselben Standpunkt einnehmen wollten, wäre
die Lösung der Frage unmöglich, denn wie sollte man bei Homo-
sexuellen nach angeborenen körperlichen Abweichungen forschen
können, wenn wir nicht wissen, was das „Normale“ bei dem hetero-
sexuell Empfindenden is. Um diese Schwierigkeit zu umgehen,
habe ich es bei der Verarbeitung des vorliegenden ‚Materials ver-
mieden, von einem bestimmten Durchschnitt als Norm auszugehen ;
ich habe die Arbeitshypothese benutzt, dass heterosexuelle Männer
einerseits und homosexuelle andererseits zwei voneinander ver-
schiedene, aber untereinander gleiche und einheitliche Typen seien;
ich habe nur diese beiden Typen als Gesamtheit miteinander ver-
slichen und untersucht, ob die Verschiebung der Verteilungskurven
gegeneinander, die Abweichungen der verschiedenen in den voran-
segangenen Tabellen niedergelegten Konstanten voneinander gross
genug sind, um überhaupt von einer Verschiedenheit der beiden
Typen in bezug auf die zugrunde gelegten Masse sprechen zu können.
Ein Blick auf die beigegebenen Tabellen und Kurven zeigt `
schon, dass der Typus „Homosexuell“ und der ‚„heterosexuelle“
deutlich voneinander verschieden sind. Die weitere Frage ist jetzt,
ob diese Verschiedenheiten gross genug sind, um die Behauptung
zu rechtfertigen, dass hier zwei ihrem körperlichen Aufbau nach ver-
schiedene Menschengruppen vorliegen. Ein wichtiges Kriterium zur
Feststellung der Verschiedenheiten zweier „Populationen“ ist die
Differenz der Mittelwerte voneinander. Gestützt auf Collier (25)
kann man eine solche Verschiedenheit annehmen, wenn nach Hinzu-
fügen des mit 3 multiplizierten mittleren Fehlers die Differenz
zwischen den Mittelwerten noch bestehen bleibt; schwieriger ist
es schon zu entscheiden, ob wirkliche Verschiedenheiten vorliegen,
wenn bei dieser Operation die Grenzen der wahren Mittelwerte in-
44 Arthur Weil. [22
einander übergehen. — Um die Vergleichsmöglichkeiten noch besser
zu gestalten, liess Galton die extremen Abweicher überhaupt
unberücksichtigt und verglich nur die Mittelstücke der Kurven,
das 2. und 3. Viertel miteinander. Die hieraus berechneten Werte
Quartil, Mediane und M-Quartilkoeffizient können zu Vergleichen
benutzt werden, doch legt man ihnen neuerdings kein grosses Ge-
wicht bei, da ja die eine Hälfte der gefundenen Werte überhaupt
nicht berücksichtigt wird. Wertvoller sind die nach den Auf-
zählungsreihen konstruierten Ogiven, aus deren Verlauf nan be-
stimmte Schlüsse auf Verschiedenheiten ziehen kann. — Die Fehler
der Quarilzahlen vermeidet man bei der Berechnung der Standard-
abweichungen, durch die man beiderseits von den Mittelwerten
einen Kurventeil erhält, den man als „Norm“ ansprechen kann,
und der noch besser als der Teil der Ogive zwischen q, und q, zu
Vergleichsurteilen herangezogen werden kann.
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend sollen jetzt die einzelnen
berechneten Werte miteinander verglichen werden.
1. Die Standlänge.!
Nach Hinzufügen des mit 3 multiplizierten mittleren Fehlers
des Mittelwertes reicht das Gebiet des homosexuellen Typus von
169,6 cem-—171,8 cm, des heterosexuellen von 166,6 cm— 167,6 cm,
die kleinste Differenz zwischen beiden wäre also 2 cm, ein Wert,
der ausserhalb der Fehlergrenze der Messapparate und der persön-
lichen Fehler der Untersucher lieg. Nimmt man 167,6 em als
Plusgrenze der so herausgruppierten Population „heterosexuell“ an,
dann wären nach den nicht reduzierten ursprünglichen Listen (wegen
ihres Umfanges nicht im Original veröffentlicht) 69,2% der Homo.
sexuellen und 3906 der Heterosexuellen jenseits dieser Norm-
grenze. — Nach Hinzufügen der Standardabweichungen mit ihren
mittleren Fehlern geht das Gebiet der Homosexuellen von 163 bis
178 cm, das des heterosexuellen Typus von 161—173 cm.
Jenseits der heterosexuellen Plusgrenze liegen dann 38,6% Homo-
sexuelle und 12,70% Heterosexuelle --- oder mit anderen Worten:
die Population „homosexuell“ enthält dreimal so viel Individuen, die
jenseits der Standardabweichung liegen als die Population „hetero-
sexuell“. 25,9%, also rund 1/, aller homosexuellen Standlängen
liegt danach überhaupt ausserhalb der heterosexuellen Variations-
breite.
23) Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 45
Der besseren Übersicht halber stelle ich diese Zahlen mit den ent-
sprechenden der anderen Masse in einer Tabelle zusammen:
Be nad tn - — rmſſm —
Standlänge Längenproportion
Homo- ` Hetero- Homo- | Hetero-'
sexuell sexuell sexuell sexuell
Mittelwert mit dreifachem 169,6 | 166,6 107,3 104,2
mittlerem Fehler — | — — —
171,8 | 167,6 109,2 105,3
Mittelwert plus Standard- 163 161 102 99
abweichung mit mitt — | = — —
lerem Fehler 178 | 173 115 111
Jenseits des Mittelwertes |
der Heterosexuellen 69,2°/0 | 39°/o 66,8°/0 44,6°/o
Jenseits der Plus-Standard-
abweichung der Hetero- |
sexuellen 38,6% | 12,7°/o 26,2% 13°, o
|
Schulterbreite Hüäftbreite
Homo- | Hetero-
sexnell | sexuell
Hetero-
sexuell
Homo- | Hetero- | Homo-
sexuell | sexuell | sexuell
Mittelwert mit dreifachem | 37,9 38,8 32,0 31,3 83,5 80,7
mittlerem Fehler — — Se, "ae — —
38,5 89,2 32,5 31,6 84,4 81,5
Mittelwert plus Standard- | 36,3 37,1 30,3 29,8 79,5, 76,6
abweichung mit mitt- — — — — — —
lerem Fehler 40,1 40,9 84,2 33,0 89,0 85,7
Jenseits des Mittelwertes
‚ der Heterosexuellen
1) 42,1%|1) 56,5%] 64,6% 44,8%] 73,1% | 45%
Jenseits der Plus-Standard-
abweichung der Hetero-
sexuellen
') 9,1°/0|') 20,2%, 39,2%/0| 16,8%
Die Korrelation zwischen Längen- und Breiten-
proportion.
Zwischen diesen beiden Proportionen besteht nach den durch-
geführten Berechnungen keine Funktion, da die beiden Werte homo-
sexuell = —-0,015 und heterosexuell = —-0,0349 zu klein sind, dh
26,4%) 10,4°«
ı) Der Homosexuellen.
46 Arthur Weil. [24
zu sehr von 1 abweichen. Auch aus den beiden mit angeführten
reduzierten Tabellen IX, 1 und 2 geht dies Fehlen einer Funktion
hervor, da die Längenproportionen 'nicht mit zunehmenden Breiten-
proportionen anwachsen und umgekehrt.
Die Korrelationen zwischen den Standlängen und
Längenproportionen.
Die Kurve Nr. VIII wurde folgendermassen gewonnen: In ein
Ordinatensystem mit den Standlängen als Abszisse und den prozen-
tualen Längen der Unterlängen als Ordinate wurden die Werte für
die einzelnen Gruppen der Tabellen X und XI eingetragen. Dann
wurden drei neue Gruppen gebildet I = 155 cm, 160 und 165;
II =: 170; Ill = 175, 180 und 185 cm. 150 und 190 cm wurden als
zu grobe Abweichungen nicht berücksichtigt. Aus Gruppe I und lI
wurden die arithmetischen Mittel berechnet und die beiden so ge-
fundenen Werte als Punkte eingetragen. Durch Verbindung mit dem
Koordinatenpunkt der Gruppe II entstand dann eine annähernd
gerade Linie, von der die anderen Punkte der einzelnen Gruppen
nur wenig abweichen. Im Vergleich zu der auf demselben Wege
konstruierten Geraden der heterosexuellen Korrelationen ergibt sich
aus dem Abweichungswinkel der beiden Geraden voneinander deut-
lich, dass bei Homosexuellen die Längenproportion eine Funktion
der Standlänge ist, bei, heterosexuellen dagegen nicht. Der cos «
des Neigungswinkels der beiden Geraden zueinander ist = 0,863. «
= 300 20°.
Korrelation zwischen Standlängen und Breiten-
proportionen.
Bis 170 cm besteht weder für Homosexuelle noch Heterosexuelle
eine Korrelation, erst jenseits 170 cm Standlänge eine geringe, die
sich aus dem Neigungswinkel der beiden Geraden zur Abszisse
berechnet für Homosexuelle mit cos a = 0,856 und a = 31° 10°;
für Heterosexuelle cos a = 0,967 und a —= 14° 40’. Mit anderen
Worten für die ersteren ist die Funktion dieselbe wie bei den
Längenproportionen, für die Heterosexuellen dagegen ist die Kurre
lation nur einhalb so gross.
Ich habe nun versucht, aus den so gewonnenen ‚Beziehungs-
zahlen den Anteil des homosexuellen Typus an dem heterosexuellen
zu berechnen, um so den von Weise absichtlich durch Unterlassung
einer Psychoanalyse eingeschalteten Fehler wieder auszugleichen
und die Population „heterosexuell“ reiner zu erhalten. -— Ich stellte
25] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 47
die folgende Formel auf, um die einzelnen Werte in Funktion zu-
einander zu setzen:
p =x + y (L— 110).
b =x -4+ y (L — 170). .
100 x Unterlänge
Oberlänge
p ist die Längenproportion =
; : 100 x Hüftbreite
b = Breitenproportion = "Schulterbreite “
x ist der Mittelwert der Längen-(Breiten-)proportionen, wie er sich aus
Tabelle X, 1 und 2 ergibt.
__ Mittel aus Gruppe II—I
Längenmittel III—I
So finden wir:
p (Homosex.) = 108,3 + - — E
(L — 170) = 108,3 -+ 0,195 (L — 170).
p (Heteros.) = 104 + 0,03 * — paa
b (Homos.) = 84,6 + 0,10 (L — 170).
b (Heteros.) = 81,4 -+ 0,04 (L — 170).
Geht man nun weiter und setzt voraus, dass bei Hetero-
sexuellen p keine Funktion der Standlänge ist, dann werden von
0,027 x 100
0,195
Population abzuziehen und der homosexuellen zuzurechnen sein,
nach den Breitenproportionen sogar 40%, doch müssen wir diese
letztere Zahl um mehr als die Hälfte verkleinern, da wir ja schon
ausgeführt hatten, dass jenseits 170 cm auch bei Heterosexuellen
eine Funktion zwischen Standlängen und Breitenproportionen be-
steht. Wir würden den wirklichen Wert vielleicht nach der Formel
40— x 149 40'
31° 10’
14%0 vergleichen mit den auf S. 29 und 30 gefundenen Werten,
so ergibt sich, dass sie auch gut mit anderen heterogexuellen Ab-
weichungen von den heterosexuellen Standardwerten übereinstimmt,
nämlich mit 12,7% der Standlänge, 13% der Längenproportion,
20% der Schulterbreite und 16,8% der Breitenproportion. Die Ab-
weichung 44% der Hüftbreite fällt hierbei aus dem Rahmen, doch
erklärt die hohe Zahl sich aus der Tatsache, dass, wie wir aus
Kurve IX ersahen, auch bei den Heterosexuellen jenseits 170 cm
dieses Mass entsprechend der Längenzunahme wächst.
Nach diesen Ausführungen will ich jetzt versuchen, die Befunde
des Variationsstatistikers in die Sprache des Biologen zu über
setzen:
den Längenproportionen rund = 149), der heterosexuellen
berechnen können: — 18,7%. — Wenn wir die Zahl
48 Arthur Weil. [26
Wenn wir die Mittelwerte der Homosexuellen zusammenstellen,
Standlänga = 170,7 cm, Schulterbreite = 38,2 cm, Hüftbreite =
32,3 cm, so sehen wir sogleich, dass er im Verhältnis zum Durch-
schnittsmanne grösser und schlanker gebaut ist, also sich in den
Umrissen dem asthenischen Typ einfügt. Als charakteristisch kommt
hinzu eine Verschiebung der Längenproportionen nach der Seite
des Eunuchoidismus hin und eine grössere Hüftbreite, so dass bei
einer geringer differierenden Schulterbreite eine grössere Breiten-
proportion als beim Heterosexuellen herauskommt. Für die Beant-
wortung der vorliegenden Frage ist es unwesentlich, wie wir diese Ab-
weichungen deuten wollen; mit Hirschfeld können wir in der
breiteren Hüfte und der schmäleren Schulter Abweichungen nach
der weiblichen Richtung sehen, und, ohne dass wir uns das Vor-
handensein eines besonderen weiblichen Inkrets zu eigen zu machen
brauchen, hierin den Durchbruch des weiblichen Anteils der erb-
biologisch bedingten bisexuellen Anlage des Somas vorstellen. Wir
können aber diese Abweichungen auch als eunuchoid deuten, da
wir auch bei Eunuchoidismus breitere Hüften und schmalere Schul-
tern als beim Durchschnittsmanne finden (Tandler-Grosz, Weil
u. a.); die grössere Schulter-Hüftproportion entspricht schliesslich
aber auch kindlichen Formen, da nach Weissenberg bei Knaben
vor der Pubertät diese Proportion sogar grösser als bei Mädchen ist.
— Nicht weiblich sind aber die grösseren Standlängen ‚und das ab-
weichende Verhältnis Ober-: Unterlänge; beide sind Übergänge zum
asexuellen, eunuchoiden Typ und deuten darauf hin, dass der
Körper in seiner Entwicklung zum männlichen Standard eine Hem-
mung erfahren hat, dadurch, dass das Gleichgewicht zwischen Hoden
einerseits, Hypophyse, Thymus und Schilddrüse andererseits gestört
wurde, wie es schon im Beginne dieser Arbeit ausführlicher er-
örtert wurde. aJ |
Es würde aus dem Rahmen des Ganzen herausfallen, wenn ich
untersuchen wollte, inwieweit mit diesen somatischen Entwicklungs-
(Pubertäts-)störungen, die man auch als partiellen Infantilismus
auffassen kann, die Auffassungen Freuds und seiner Schüler,
Kronfelds (26 u. 27) u. a. über das Wesen der Homosexualität
als psychosexuellen Infantilismus in Zusammenhang gebracht werden
können und Parallele zu ziehen, wie es Weil(7a) jüngst versucht
hat. — Wir wollen uns hier mit den konstitutionellen Befunden be-
gnügen.
Die zweite Frage, die es jetzt zu beantworten gilt, ist die: wie
kann man aus den gefundenen Werten die zahlenmässige Verteilung
der Homosexuellen auf die von mir aufgestellten drei grossen Gruppen
27] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 49
berechnen. Wie ich schon ausführte, kommt als weibliches sekundäres
Geschlechtsmerkmal Gynäkomastie nur in sehr wenigen Fällen vor
(kaum 2—3%). Nehmen wir breite Hüften als weibliches Merkmal
an, so fehlen uns leider in’ der Literatur noch umfangreiche, gut
durchgearbeitete Untersuchungen über die Trochanterenbreite bei
Frauen. An einem kleinen von mir untersuchten Material fand ich
folgende Werte: M = 33,45; = ;- 181,m =-+ 0,216. Die Standard-
breite würde danach sein 31,4—35,5 cm (beim heterosexuellen Mann
29,8—33 cm; Mittelwert 31,3—31,6). Machen wir nun die Voraus-
setzung, dass alles, was jenseits des weiblichen Mittelwertes liegt,
als „weiblich“, zu bezeichnen sei, dann würden 26,4% der Homo-
sexuellen in bezug auf die Hüftbreite in die erste Gruppe fallen.
In die 2. Gruppe (S. 29) würden zunächst alle Abweicher in
- bezug auf die Längenproportionen zu rechnen sein, also 26,2%.
Grösser wird diese Zahl, wenn man fehlende Körperbehaarung, Fett-
ansatz an den Hüften, hohe Stimme usw. als eunuchoide Merkmale
zählt; hier fehlt jede Vergleichsmöglichkeit mit „normalem“ Material
— eine Lücke, die auszufüllen eine dankbare anthropologische
Aufgabe wäre. |
In die 3. Gruppe schliesslich würde der Rest zu rechnen sein,
also 100— 52,6 = 47,40%. Doch wird diese Zahl dadurch verkleinert,
dass man die unter den heterosexuellen Typen befindlichen `. homo.
sexuellen“ zu den beiden ersten Gruppen hinzuzählen muss, also
etwa 1400 (vgl. S. 46), um so den absichtlich von W eise einge-
schalteten Fehler wieder auszumerzen. Es würden dann etwa 330%
Homosexuelle übrig bleiben, die keine Abweichungen von dem hetero-
sexuellen Standard in bezug auf die angeführten Masse zeigen.
Wir haben so durch die Aufstellung eines Standardtyps in bezug
auf die einzelnen Körpermasse die Möglichkeit gewonnen, die ge-
stellte Frage zu beantworten und müssen zu dem Schluss kommen,
dass bei mehr als der Hälfte bis zu zwei Dritteln aller untersuchten
Homosexuellen Abweichungen von der „Norm“ vorkommen, ana-
tomische Abweichungen, die bedeuten, dass hier eine andere Körper-
beschaffenheit, eine andere Konstitution vorliegt als bei den hetero-
sexuell empfindenden Männern. Mit dieser Feststellung ist zugleich
auch die Frage nach dem Angeborensein beantwortet, denn nach
unserer Auffassung des Konstitutionsbegriffes beruht alles, was wir
äusserlich in dem Phänotypus erkennen, auf ererbten, also ange-
borenen genotypischen Reaktionsmöglichkeiten, Dispositionen. Die
von Weil in früheren Arbeiten gewählten Mittelwerte waren für die
erste Formulierung des Problems sehr wertvoll; aus grösseren Unter-
suchungsreihen hat sich jetzt ergeben, dass sie für genauere Ver-
Archiv für Frauenkunde Bd. X. H. 1/2. A
50 Artbur Weil. [28
gleiche nicht in Betracht kommen. Aber auch die hier von mir
angegebenen Werte möchte ich nicht als absolute Grössen hin-
»estellt wissen: nach den von mir abgegrenzten Standardwerten sind
sie sicher eher zu klein als zu hoch gegriffen, so dass man die Zahl
der konstitutionellen Abweichungen bei den Homosexuellen mii
660%% schätzen kann, ohne einen grösseren Fehler zu begehen, be-
»onders wenn man berücksichtigt, dass unter den 1000 Hetero-
sexuellen auch noch eine Anzahl homosexuell Empfindender war.
Mit diesen Feststellungen ist vielleicht den Forschungen über
ie gleichgeschlechtliche Liebe ein neuer Weg gewiesen worden,
um die Lösung des Rätsels mit anderen Mitteln zu versuchen --
relöst ist es damit noch nicht. Immer noch bleibt es rätselhaft, wie
selbst bei Voraussetzung einer bestimmten konstitutionellen Anlage
diese Abkehr von dem anderen und die Zuneigung zu dem eigenen
Geschlecht erfolgt. Späteren Forschern möge es vorbehalten bleiben,
diese Brücke zwischen biologischen Tatbeständen und sexualpsycho-
logischen Befunden zu schlagen.
Am Schlusse angelangt, möchte ich nicht verfehlen, Herrn Dr.
H. F. Bottlinger, Observator au der Universitätssternwarte in
Neubabelsberg für die Überprüfung der angewandten Berechnungs-
weisen und seine liebenswürdigen mathematischen Ratschläge meinen
verbindlichsten Dank auch an dieser Stelle auszusprechen.
Zusammenfassung der Ergebnisse.
Es wurden bei 1000 heterosexuellen Männern Standardwerte
für die Körpergrösse, Schulter- und Hüftbreite und Längen- und
Breitenproportionen berechnet und diese mit den entsprechenden
Zahlen von 370 homosexuell empfindenden Männern verglichen.
Für das Angeborensein der Homosexualität sprechen bei einer
grossen Gruppe, die über die Hälfte aller untersuchten Fälle um-
fasst, die Abweichungen von den angeführten heterosexuellen
Körpermassen.
Das Angeborensein ist in einer bestimmten Körperkonstitution
zu suchen, die bei etwa einem Drittel als asthenisch-eunuchoid zu be-
zeichnen ist, und die den Boden bildet, auf dem, unlösbar verknüpft
mit dem Gesamttemperament, die sexuelle Psyche erwächst.
Literaturverzeichnis.
l. Casper: Über Notzucht und Päderastie.e Caspers Vierteljahresbericht
1852. Bd. 1.
2. Ulrichs. C. H.: Inclusa. Leipzig 1898,
29]
E:
cl ED Or
7a.
10.
11.
12.
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Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 51
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Leipzig 1923.
4*
Suggestion und Sexualität.
Sexual-psychologische Studie
von
Dr. E. Bukofzer, Berlin.
Das Verständnis für die mindere Verantwortlichkeit bei zwangs-
läufig vorgenommenen Handlungen ist im Publikum allgemeiner ge-
worden. Während man vor dem Kriege für vorgenommene Verbrechen
weniger an geistige Defekte dachte, hat man doch jetzt vor Gericht
viel häufiger den medizinischen Sachverständigen zu Rate gezogen.
Und mit Recht. Es gibt so viele unbekannte Regungen im mensch-
lichen Geistesleben, die zu einem Verbrechen Anlass geben können,
dass mit der Sühne nach dem Buchstaben des Gesetzes unter Um-
ständen ein juristischer Missgriff getan werden kann. So haben
einige Prozesse letzter Zeit eine Reihe grausamster Morde und Ver-
brechen zum Gegenstande der Verhandlungen gehabt. Trotz der kalt-
blütig und mit Vorbedacht begangenen Taten hat man die Schuldigen
nur mit geringen Strafen belegt, da man bei den Tätern Sexual-
störungen in weitestgehendem Masse berücksichtigte.e Man hat also
den Einfluss des Sexualtriebes für so stark gehalten, dass jedes mora-
lische Schuldbewusstsein und Zurückschrecken vor der Mordtat aus-
geschaltet werden konnte. In der Gerichts- und Alltagsmedizin ist
eine Anzahl von nervösen Erkrankungen bekannt, die auf geistige
oder körperliche Verhältnisse abnormen Geschlechtssmpfindens zurück-
geführt werden. Es finden sich zahlreiche Beispiele für die Tatsache,
dass von anormal Veranlagten Sexualverbrechen entweder direkt oder
durch Hörige dieser anormal Empfindenden begangen werden. Das
Hörigkeitsverhältnis führt willenlose Personen oft dazu, sich unbe-
denklich zum Werkzeug eines Stärkeren zu machen. Wie aus allen der-
artigen Beobachtungen hervorgeht, ist Suggestion und Sexualleben
fast untrennbar miteinander verbunden. — Es besteht aber über den
Grad der Bedeutung. den man der Suggestion zuschreiben kann, grosse
2] Suggestion und Sexualität. 53
Meinungsverschiedenheit. Von vielen Autoren wird die Suggestions-
wirkung als unerheblich bei bereits vorhandener abnormer Veran-
lagung angesehen. Andere dagegen sind der Auffassung, dass die
Beeinflussung des Willens gar nicht hoch genug eingeschätzt werden
kann, und dass Anomalitäten im sexuellen Trieb häufig nur aus einer
Beeinflussung resultieren. Zur weiteren Klärung der sexuellen Frage
und zum Verständnis der hervorragenden Bedeutung von Suggestions-
wirkung im Sexualleben diene eine Betrachtung der Zusammenhänge.
Kritisch betrachtet ist der Begriff „Suggestion“ schwer zu er-
klären. Ein Teil der Autoren begrenzt den Begriff eng, andere
weiter. Erstere verstehen unter „Suggestion“ die mit Bewusstseins-
einengung einhergehenden pathologischen geistigen Zustände, die auf
hypnotischem Wege erreicht werden. Letztere erweitern den Begriff
der Suggestion auf alle Beeinflussungen, auf die man zwangsläufig
nichts erwidern oder gegen die man sich nicht wehren kann. Diese
Richtung scheint mir die bessere Auffassung zu haben, obgleich
sich nicht verschweigen lässt, dass auch sie einige Mängel aufweist.
So könnte man demnach auf die Idee kommen, jede Beweisführung
als Suggestionsversuch anzusehen. Das wäre natürlich zu weit ge-
gangen. Die Begriffserklärung an sich ist deshalb so ungenau, weil
das Gebiet fast unbegrenzbar ist. Der ersten Auffassung, wie sie
von Wundt, Berillon, Hirschlaff und anderen vertreten wird,
lässt sich entgegenhalten, dass eine grosse Reihe von Vorgängen des
Wachlebens zur Beurteilung des Begriffes Suggestion in Betracht ge-
zogen werden muss. So gibt es im Sexualleben viele Beweise dafür,
dass die Suggestion auch ohne Bewirken traumhafter Zustände grosse
Veränderungen hervorrufen kann. |
Wenn man also den Begriff Suggestion nicht streng umgrenzt,
so kann man auch den Begriff Suggestibilität (d. i. der Aufnahme-
zustand, resp. die Empfangsmöglichkeit für Suggestionen) nicht als
rein pathologischen Zustand auffassen. Es gibt. Alterationen des
Körpers, die durch ihr ständiges Vorkommen den Charakter des
Krankhaften verloren haben. Man kann also Suggestionswirkungen
mehr physiologischer und pathologischer Natur unterscheiden, je
nachdem die Einwirkung auf ein Individuum, dessen Ideen- Assoziation
krass unterbricht, oder nur teilweise und unmerklich in andere Bahnen
lenkt. Genau genommen ist natürlich der Suggestionszustand patho-
logisch, aber, wie schon oben erwähnt, ist vielfach die Wirkung ein-
zelner Suggestionen für uns so alltäglich, dass wir sie nicht als
abnorm empfinden.
Zusammenfassend für die Erklärung des Begriffes Suggestion ist
zu sagen, dass er die Beeinflussung des psychischen Prozesses eines
54 E. Bukofzer. [3
Individuums durch irgendwelche Personen oder Umstände darstellt;
hierbei kann die Schädigung der Willenskraft durch Ablenkung der
Ideenassoziation oder durch Unterbrechung des Assoziationsweges
herbeigeführt werden. Letzteres wäre die von einigen Autoren als
eigentliche Suggestion aufgefasste Hypnosewirkung. Die Aufnahme-
fähigkeit der einzelnen Individuen richtet sich zum Teil nach dem
Grade der Intelligenz, sowie der Bildung. Angehörige intelligenter
Kreise sind häufig durch überfeinerte Kultur ganz besonders zur
Suggestion geeignet. Auch Fanatismus, Aberglaube u. a. m. spielen
eine gewisse Rolle. Nicht zum wenigsten ist die Sensationslust ein
geeigneter Boden für die Suggestion.
Über den anatomischen Prozess dieses merkwürdigen Bewusst-
seinsvorganges kann wegen Mangel an positiven Obduktionsergebnissen
und auch wegen der Symptomenlosigkeit der wenigen untersuchten
Fälle im allgemeinen nichts gesagt werden. Semon hat in geist-
voller Weise die Zusammenhänge zwischen Bewusstseinsvorgang und
Gehirnprozess wissenschaftlich auseinandergesetzt. Auch Schleich
gab eine Theorie für die anatomischen Vorgänge des Bewusstseins;
er verlegte die Aufnahmefähigkeit in die linke Hirnhemisphäre,
während das rechte Hirn das handelnde und überlegende sein sollte.
Diese Theorie ist jedoch nur ein genialer Versuch, für einen schwie-
rigen Prozess eine Erklärung zu finden; irgendwelche Beweise für sie
können anatomisch nicht geführt werden.
Physiologisch spielt sich die Suggestion so ab, wie jeder psychische
Aufnahmeprozess: Empfindung, Reizbogen, Ideenassoziation, Handlung.
Anatomisch wäre der Weg: Rindenerregung des Grosshirns, Assoziations-
fasern, motorische Zone, Weiterleitung der materiellen Erregung zur
Peripherie und muskelwärts, Muskelkontraktion.
Die Suggestion hat (wie schon oben besprochen) einen bestimmten
Seelenvorgang zur Folge, der beim Geschlechtsleben von grösster Be-
deutung ist. Es wird in dem suggerierten Geschöpf. die Vorstellung
einer künftigen Geschlechtshandlung ausgelöst. Ist der Gefühlston
so ausgeprägt, dass die Vorstellung zum Motiv des Wollens wird, so
entsteht die Sehnsucht nach Besitz. Bei dem hierauf eintretenden
Folgezustand kann der leidenschaftliche Charakter vorherrschen, es
kann aber auch (vulgär ausgedrückt) ein sinnliches Verlangen hervor-
gerufen werden. Ersteres ist ursprünglich das gleiche Gefühl wie
das zweite. Es besteht aber ein Unterschied in der das Seelenleben
bestimmenden Form. Ist zwischen beiden Individuen ein innerlicher
Kontakt vorhanden, so ist die Suggestion meist eine gegenseitige
und bezieht sich nicht allein auf den Geschlechtsakt, sondern auf
4] Suggestion und Sexualität. 55
die geistige Zuneigung der ganzen Person. Der EE EE EEN
hat für diesen Zustand einen einzigen Ausdruck: „Liebe“.
Im Gegensatz dazu besteht die Sinnlichkeit nur in der Augen-
blickswirkung des geschlechtlichen Begehrens, die bei Aufhören der
Suggestion oder nach ausgeübtem Geschlechtsverkehr erlischt.
Zwischen diesen beiden Gefühlsarten gibt es eine grosse Reihe
von Untertönen, die eine grosse Menge verschiedenartiger Einflüsse
darstellen. — Die Veranlagung des einzelnen Individuums ist von
grösster Bedeutung für die Erörterung unserer Frage. Ist die sug-
gestive Kraft einer Persönlichkeit so stark, dass sie eine vorhandene
Leidenschaft im Seelenleben eines anderen Individuums zum Erlöschen
bringt, so ergeben sich seelische Konflikte, für die es häufig keine
Lösungen im bürgerlichen Sinne gibt. So wird z. B. auf den eben
erwähnten schweren seelischen Konflikt im jetzt noch geltenden
Scheidungsparagraphen des B.G.B. keine Rücksicht genommen, gleich-
gültig, ob das betroffene Individuum an der Qual dieses tragischen
Kontliktes zugrunde geht oder nicht. Die ethische Grundlage der
Ehe wird durch das Ausserachtlassen derartiger Momente schwerer
erschüttert, als wenn man eine Trennung wegen Unantastbarkeit des
Ehebündnisses für unangebracht hält. Dieses Thema ist ja schon
reichlich oft behandelt worden; speziell die Frage, ob es moralisch
ist, sich durch ein Jawort zu einer dauernden Treue zu binden, die
man in Zukunft nicht halten kann. Kein Mensch ist gegen Änderung
seines (reisteslebens gefeit.
Im Gegensatz zu der Auffassung einzelner Autoren verstehe ich
unter „Sinnlichkeit“ keine Vorstufe zur Liebe. Auch nicht umge-
kehrt. Ich sehe in beiden verschiedene Begriffe. Dies mag aber auch
vielleicht nur ein Streit um Worte sein, weil es an geeigneten Aus-
drücken zum Teil fehlt.
Im normalen sexuellen Leben kann die Suggestion in verschie-
denen Formen erfolgen. Die Fixation des umworbenen Individuums
erfolgt vielfach durch den Blick. Koketterie, gewolltes oder unge-
wolltes Aufsichlenken des Blickes genügen oft, um den sexuellen
Trieb erwachen zu lassen. Gerade im Grossstadtleben kann man die
Blicksuggestion in verschiedenster Gestalt beobachten. Der sublimierte
Geschmack des modernen Kulturmenschen hat gerade durch die Kultur
andere Arten der Aufmerksamkeitsfesselung hervorgebracht. So kann
die Fixation durch Bewegungen, Kleidung usw. bewirkt werden. Im
Grunde genommen aber wiederholt sich hier nur der gleiche Vorgang
wie in der Tierwelt, dass jedes Tier sich zur Balzzeit zu schmücken
sucht. So ist auch die neueste Modenschöpfung nur der zeitgemässe
Ausdruck eines Anlockungsmittels. Über die Wirksamkeit anmutiger
56 E. Bukofzer. [5
Bewegungen, sowie Kleidung ist sich das weibliche Geschlecht viel-
fach nur instinktiv, aber immer bewusst. Es wäre sonst kaum mög-
lich, dass die Prostitution so in Blüte stände. Das Bedürfnis nach
sexuellem Sichausleben wird durch die Prostitution nur erhöht. Es
ist daher kein falscher Gedanke, wenn man Bordelle gestattet, um
der Prostitution der Strasse und derep suggestivem Einfluss entgegen-
zutreten. Unwillkürlich wird durch die auffallende Kleidung und das
Benehmen doch mehr männliches Publikum auf die Prostitution hin-
gewiesen. Leider sorgt auch noch eine besondere Art von Sensations-
“ dichtungen für die gesangliche Verherrlichung des Dirnentums. So
muss notgedrungen die Prostitution durch die verschiedensten Mittel
auf die Bevölkerung einen suggestiven Einfluss gewinnen, der für die
kulturelle Weiterentwicklung von grossem Schaden sein kann.
Die Suggestion durch Worte ist wohl die verbreitetste und wirk-
samste. Sicherlich wirkt hier nicht np ? ‚gesprochene Wort, sondern
auch das geschriebene und gedruckt-. Von den primitivsten Liebes-
beteuerungen in Briefen bis zu den klassischen Liebesdichtungen er-
weist sich die suggestive Kraft des Wortes. Und darüber hinaus
schädigt die pornographische Literatur, die erzählte Zote, die Ethik
der Gesellschaft. Selbst ganz starke Charaktere können durch diese
Einflüsse der Prostitution in die arme getrieben werden. Inwiefern
hier durch freie Aufklärung ohne Muckertum die suggestive Kraft
der pornographischen Literatur und Kunst gebrochen werden kann,
steht hier nicht zur Behandlung.
Ein rein erotischer Gefühlsausdruck ist der Tanz. Im Gegensatz:
zu den Propagandisten der- Tanzsportbewegung kann ich nicht be-
stätigen, dass der Tanz ein reiner Sport sei. Entschieden wird durch
den Tanz sowohl auf den Tänzer als auch auf Zuschauer ein sug-
gestiver Einfluss ausgeübt. Selbstverständlich ist die Auswirkung
auf die Individuen verschieden. So wird der eine mehr, der andere
weniger erotisch berührt.
Ebenso muss die Suggestionskraft der Musik bei der Erwähnung
des Tanzes mitbeachtet werden. Bei moderner Tanzmusik ist ein
erotischer Zug unverkennbar. Selbstverständlich wird nicht jeder
Mensch in gleicher Weise den suggestiven Zauber spüren. Es sind
auch hier nur ganz besonders empfindliche Naturen, die dem Reiz
der Musik in sexueller Hinsicht erliegen.
Alle die vorerwähnten Suggestionsarten können den sexuellen
Trieb herausfordern. Der Reiz kann unbewusst erfolgen, er wird
aber ausserordentlich oft mit genauer Wirkungsberechnung ausgenutzt,
da alle Suggestionsarten auf sexuellem Gebiete meist widerstandslos
entgegengenommen werden. Hierdurch ist bewiesen, dass die Jugend
6] Suggestion und Sexualität. 57
unmöglich von allen erotischen Reizen abzuschliessen ist und infolge-
dessen die suggestive Wirkung bei scheuen Individuen, besonders bei
engherziger Erziehung, zu nachteiligen Gemütsstörungen führen kann.
Die Folgeerscheinungen der Suggestionen können ausserordentlich
mannigfach sein. Oben wurde bereits die Seelen- und Geschlechts-
gemeinschaft (Liebe), Sinnlichkeit und sinnliches Begehren, auch die
Wirkung auf die Jugend erwähnt. Nicht immer sind die nachfol-
genden Sinneseinstellungen normal sexuell. Es können auch auto-
erotische und homosexuelle Regungen entstehen.
Auto-Erotismus zeigt sich bei nicht ausgeglichenen Persönlich-
keiten von scheuem Charakter. Durch das fortwährende Einstürmen
sinnenerregender Reize der Grossstadt erliegt ein Wesen mit labilem
Charakter dem Sexualtriebe durch Selbstbefriedigung. Da immer
noch die törichte Art baeteht, junge Leute vor der Onanie durch
warnende Erzählungen von i” nkheitsentstehen zurückzuhalten, so
ist die moralische Demütigung or der eigenen Person meist sehr
gross und dauernd anwachsend, bis sogar unter Umständen eine
Gemütsstörung erfolgen kann. Es ist zu beobachten, dass der Onanist
trotz empfundenen Ekels immer wieder die Suggestion sinnenerregender
Reize aufsuchen muss; zwangsläufig tritt also eine immer grössere
Willensabnahme ein; Folge davon: "Misanthropismus und Muckertum.
Die Folgeerscheinungen suggestiven Einflusses im heterosexuellen
Verkehr sind kaum aufzuzählen, da es deren zu mannigfaltige Ab-.
arten gibt. Indessen ist als allen gemeinsam zu erkennen, dass die
Persönlichkeit des suggerierenden Individuums es gerade im Sexual-
verkehr mehr als je vermag, Perversionen, wie Sadismus und Maso-
chismus, auch Fetischismus auszulösen. Nach meiner Ansicht sind
alle diese Perversitäten im Geschlechtsverkehr durch eine erstmalige
starke Beeinflussung entstanden, also durch eine Verführung. In der
Nachwirkung blieb die Leidenschaft für sexuelle Perversität in dem.
empfänglichen Individuum erhalten. — Demgemäss wären unter gün-
stigen Umständen derartige Leiden durch Suggestion auch wieder zu
beseitigen. Die so krankhaft veranlagten Personen leiden unter dem
Zwange zur Perversität selbst sehr stark, haben aber trotz besten
Willens nicht die nötige Energie, ihr Leiden wirksam zu bekämpfen.
_ Mit unter die seltsamen Folgeerscheinungen der Suggestion
anormal eingestellter Individuen rechne ich auch die Homosexualität.
Von den wenigen seltenen Fällen, bei denen anatomisch eine doppel-
geschlechtliche Anlage beobachtet wurde, nehme ich hier keine Notiz,
da der echte Hermaphroditismus ein Kapitel ganz seltener Miss-
bildungen darstellt. Betrachtet seien vielmehr die ausserordentlich
zahlreichen Fälle von Homosexualität, bei denen keine anatomischen
58 E. Bukotzer. [7
Abweichungen nachzuweisen sind. Einige Autoren sind der Ansicht,
dass sich bei allen derartigen Personen im Habitus oder eventuell
auch durch digitale Untersuchungen immer Anomalitäten feststellen
lassen. So sollen bei Frauen mit homosexueller Neigung Hoden-
anlagen durch digitale Untersuchungen festgestellt sein, auch be-
sonders eckige Körperformen usw. seien öfters zu beobachten. Der-
artige Feststellungen sind aber so schwierig, dass sie kaum als genau
angesehen werden können. Ich kann mir auch kaum denken, dass
es selbst mit genauesten diagnostischen Kenntnissen möglich ist, bei
inneren Untersuchungen irgendwelche Hervorragungen an der Grenze
zum Kleinen Becken als Fierstocks- resp. Hodenbildungen zu erkennen,
bevor nicht durch Öffnung der Bauchhöhle der genaue Beweis für
die Annahme erbracht ist. Es müssten auch unbedingt bei der
weiten Verbreitung der Homosexualität mehr positive Autopsiebefunde
vorliegen. Demnach neige ich der Ansicht zu, dass das Verfüh-
rungsmoment als Hauptursache des abnormen Sexualempfindens anzu-
sprechen ist.
Eine Reihe homosexueller Individuen leidet sehr stark unter
dieser Abweichung vom Normalen. Bei anderen Homosexuellen, be-
sonders bei Lesbierinnen, besteht aber gar keine Neigung zur Ände-
rung des krankhaften Zustandes, weil der Befriedigungsakt nicht so
gefährliche Folgen haben kann, wie Krankheit oder Schwangerschaft.
Durch diese Überlegung sind schon viele weibliche Personen mit
ursprünglich normaler Veranlagung zur Homosexualität gelangt. Von
einer Reihe ganz normal veranlagter Männer wurde mir zugestanden,
dass der Aufenthalt in Lokalen, in denen männliche Homosexuelle
verkehrten, den anormalen Trieb durch das Beispiel anreizte. Alkohol
und Verkleidung bewirken das übrige, so dass, wie mir mitgeteilt
wurde, zunächst ein: merkwürdiges Gefühl in der Genitalsphäre ent-
stehe, und später ohne eigentliches Wollen ein homosexueller Verkehr
stattfinde. Übereinstimmend wurde mir dies von intelligenten, normal-
sexuellen Männern beschrieben.
Im Gegensatz zu Steinach glaube ich nicht, dass durch bio-
logische oder chemische, oder auch operative Therapie eine Änderung
des Zustandes der Homosexualität erreicht werden kann. Die An-
sichten Molls und Rohleders erscheinen mir die richtigeren, wo-
nach man versuchen muss, psychisch auf derartig erkrankte Per-
sonen einzuwirken. Die Methoden können dabei ganz verschieden
sein. Bei den in der Grossstadt zu beobachtenden Fällen von Homo-
sexualität wird im allgemeinen auf diese Weise am meisten zu er-
reichen sein. Rohleder hat vorgeschlagen, prophylaktisch die Jugend
zu beeinflussen durch erstens öffentliche Belehrung in sexuellen Dingen,
8] Suggestion und Sexualität. 59
zweitens durch häusliche Belehrung bei der Erziehung im Eltern-
hause, drittens durch Alkoholabstinenz hauptsächlich vor und im
Pubertätsalter. Die Befolgung dieser Vorschläge würde das Sexual-
leben der Jugend vor vielen Störungen des Seelenlebens behüten.
Von der Überzeugung ausgehend, dass mehr oder weniger alle
Erscheinungen des Lebens auf den Kampf und die gegenseitige
Bindung der Geschlechter zurückzuführen sind, kann man die Suggestion
im Sexualleben als die stärkste denkbare Beeinflussung ansehen. Der
Beweis für diese Ansicht ist dadurch erbracht, dass es fast unmög-
lich ist, bei Erregung des Lustgefühls „den gleichen Mut zu be-
wahren“. Es zeigt sich aber auch bei Anerkennung dieser stärksten
Beeinflussung, dass auf psycho-therapeutischem Wege ein grosser
Teil der Anomalitäten des Sexualtriebes zu ändern ist, sofern die
richtige Persönlichkeit die richtige Methode wählt. Für das juri-
stische Urteil im Ehescheidungs- sowie im Strafprozess ist das Ver-
führungsmoment eine stets zu berücksichtigende Ursache für be-
gangene Taten.
Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen.
Von
Dr. med. A. Heyn, Reichenbach, Schlesien.
Unter Pollution wird verstanden die Auslösung des Orgasmus
unter mehrweniger deutlichem Feuchtwerden, wie es sonst beim Koitus
im Wachzustande aufzutreten pflegt, im Anschluss an einen Traum
sexuellen Inhaltes. Die Kenntnis solcher pollutionsartigen Vorgänge
beim Weibe ist noch nicht alt. Nach Kisch ist der erste, welcher
über Pollutionen geschrieben hat, Rosenthal in seiner Klinik der
Nervenkrankheiten, 1875. Er schildert pollutionsartige Vorgänge,
ausgelöst durch laszive Traumbilder bei erotisch überreizten Weibern.
In einem Falle schildert er Absonderung einer gummiartigen Flüssig-
keit bei sonst intaktem Genitale, die aus den Bartholinischen
Drüsen, oder den die Harnröhrenöffnung umgebenden stammen sollten.
Gutzeit berichtet von Frauen, die Pollutionen mit Ejakulations-
gefühl im Traume haben sollen. Krafft-Ebing (Über pollutionsartige
Vorgänge beim Weibe) ist der Meinung, dass solche Pollutionen nur
bei neurotischen, und zwar sexuell-asthenischen Weibern vorkommen.
Kisch ist derselben Meinung. Montegazza sagt: Pollutionen treten
auf bei Frauen von sehr erotischem Temperament, wenn 4—5 Tage
ohne Koitus vergingen. Swediour beobachtete Pollutionen unter
wollüstigen Träumen und Hildebrandt (Pitha-Billroth IV, Bd. 1)
berichtet von erotischen Träumen mit stossweisen Ergüssen bei jungen
Witwen. |
Über Häufigkeit, Veranlassung, Gegenstand dieser Träume, Schädi-
gungen durch dieselben usw. herrschen noch die verschiedensten
Meinungen. Diese sollen im Folgenden einer kurzen Besprechung
unterzogen werden.
Pollutionen sollen nach verschiedenen Meinungen nie bei „reinen“ (?)
Jungfrauen vorkommen. Was eine „reine“ Jungfrau ist, wird gewöhnlich
2] Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 61
nicht näher definiert. Die einen verstehen darunter eine Jungfrau,
die den Koitus noch nicht kennen gelernt hat, eine sogenannte Hymen-
jangfrau, andere stellen andere Forderungen, z. B., dass sie die Onanie
noch nicht kennengelernt habe usw. Es schwebt über diesem Begriff
„reine“ Jungfrau ein gewisses Dunkel. Löwenfeld glaubt, dass bei
„normalen“ Mädchen Pollutionen und ähnliche Vorgänge völlig fehlen.
Rohleder meint, dass der nächtliche Orgasmus bei einer „wırk-
lichen“ Jungfrau nicht möglich sei. Adler ist der Meinung, dass
Pollutionen bei der „keuschen“ und „reinen“ Jungfrau kaum vor-
handen seien, beim „jungen Mädchen“ nur, wenn sie masturbiere
und in ihre Vorstellungswelt den sinnlichen Gedanken an eine männ-
liche Umarmung aufgenommen habe. Umgekehrt sagt Hammer
(bei Adler): Lerne jetzt die Jungfrau die Selbstbefleckung nicht
kennen, so trete in regelmässigen Zwischenräumen von etwa drei
Tagen oder längerer oder kürzerer Zeit eine Traumentleerung über-
mässig gespannter Schleimdrüsemein, die nicht etwa der Menstruations-
blutung entspreche, sondern der Begattung, und deutlicher als alle
Aufklärung, weniger deutlich als die Begattung selbst, die Beiwohnung
in ihren Einzelheiten vorspiegle. Krafft-Ebing hält Pollutionen
auch bei Jungfrauen, aber nur bei krankhaft gesteigerter Libido für
möglich. Ellis hält Pollutionen bei Jungfrauen ebenfalls für möglich,
doch sollen sie bei solchen, welche geschlechtliche Beziehungen noch
nicht kennen gelernt haben, seltener sein, als bei solchen, welche mit
dem Koitus schon vertraut seien. Man ersieht die Verschiedenheit
der Auffassung des Begriffes „Jungfrau“. Ein anderer Grund zu den
verschiedenen Ansichten liegt vermutlich auch darin, dass die Nach-
fragen nur „soweit tunlich“ angestellt wurden, was bei der unvermeid-
lichen Subjektivität dieses „soweit tunlich“ mit Bestimmtheit die
verschiedensten Resultate erzielen muss. Hinzu kommt noch der
Umstand, dass man mit dem Begriff Jungfrau vielfach Vorstellungen
verband, und auch heute noch verbindet, die einer objektiven Forschung
hinderlich in den Weg treten. Wir finden dieselben Verhältnisse
wieder bei der Erörterung der Frage, ob eine „reine, normale, wirk-
liche“ oder sonstwie benannte Jungfrau überhaupt einen Geschlechts-
trieb habe oder nicht.
Bei der Sichtung meiner seit mehr als zwanzig Jahren durch-
geführten Aufzeichnungen fand sich, dass von 452 befragten Frauen
und Mädchen die grössere Hälfte = 239 mehrweniger regelmässig
träumten, die kleinere Hälfte = 213 nicht träumten. Betrachtet
man die verheirateten Frauen allein, so findet sich ungefähr dasselbe
Verhältnis, 113 träumen, 108 dagegen nicht. Genau ebenso zeichnen
sich die Verhältnisse bei den Mädchen, welche den Verkehr bereits
62 A. Heyn. [3
kennengelernt haben, 126 träumten, 110 dagegen nicht, wie von
vornherein zu erwarten war. Bei den Virgines intacta ändern sich
die Verhältnisse insofern, dass hier eine kleine Mehrheit, 42, nicht
träumt, und eine fast gleiche, etwas kleinere Zahl, 39, träumte. Da
anzunehmen ist, dass sich unter den 39 träumenden Hymenjungfrauen
auch eine Menge „reine, normale, wirkliche“ Jungfrauen befinden
werden, so geht aus den. Zahlen wohl soviel hervor, dass der Glaube
an die Ausnahmestellung der Jungfrau nicht zu Recht besteht. Es
finden sich bei den Jungfrauen, Hymenjungfrauen, fast dieselben Ver-
hältnisse, wie bei den übrigen weiblichen Wesen, welche den Koitus
bereits kennen gelernt haben. Es scheint sich wohl die Ellissche
Annahme zu bestätigen, dass diejenigen Mädchen, welche den Koitus
noch nicht kennen gelernt haben, etwas weniger häufig träumen, als
die, welche bereits verkehrt haben, aber gross ist der Unterschied nicht.
Aus der Gegenüberstellung der Libido der Träumenden und nicht
Träumenden cf.‘ Tabelle, ergibt sich mit Deutlichkeit, dass unter den
Frauen mit starkem und sehr starkem Geschlechtstriebe die Träumenden
erheblich überwiegen, und umgekehrt, dass bei den nicht Träumenden
ein fehlender oder geringer Geschlechtstrieb in erheblich grösserer Anzahl
zu verzeichnen ist, als bei den Träumenden. Von den Frauen mit
mässig starkem Geschlechtstrieb träumt nur etwa die kleinere Hälfte.
Aus dieser Betrachtung geht hervor, dass das Auftreten der sexuellen
Träume abhängig ist von der Stärke des Geschlechtstriebes. Dazu
stimmt die weitere Beobachtung, dass von 31 Frauen und Mädchen,
welche angaben oft zu träumen, 28 einen starken und sehr starken
Geschlechtstrieb verzeichnet haben, und nur drei einen mässigen oder
geringen.
Der Geschlechtstrieb der 39 Hymenvirgines, welche träumten,
ist in 22 Fällen mit stark und sehr stark (5) angegeben, in 10 Fällen
mit mässig, und in 8 Fällen fehlt die Notiz. Bei den 42 nicht
träumenden ist der Geschlechtstrieb in 17 Fällen mit stark und sehr
stark (1) angegeben, in 14 Fällen mit mässig, und in 4 Fällen mit
gering, in 7 Fällen fehlt die Notiz. Hieraus geht hervor, dass die
Virgines mit stärkerem Geschlechtstrieb sich eher unter den Träumen-
den befinden werden, als die mit weniger starker Libido, also dieselben
Verhältnisse, wie bei den Frauen. Interessant ist, dass auch unter
den Frauen mit angeblich fehlendem (zeschlechtstrieb sich 6 unter
113 befinden, welche Pollutionen haben.
Unter den 452 Frauen und Mädchen, welche zu dieser Unter-
suchung herangezogen wurden, befindet sich keine mit krankhafter
oder irgendwie abnormer Libido, es sind sämtlich in ihrem Geschlechts-
leben durchaus normale Personen. Daraus kann geschlossen werden,
4] Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 63
dass zum Auftreten sexueller Träume keinesfalls eine abnorm gesteigerte
oder sonstwie pathologische Libido erforderlich ist. Weiter lässt
sich behaupten, dass sexuelle Träume bei Frauen und Mädchen nicht
eine Ausnahme, sondern fast die Regel sind.
Auch die Onanie wird und wurde als Grund der Pollutionen
angegeben. Wie schon angedeutet, muss dies abgelehnt werden. Es
kommt weder die abnorm stark betriebene Onanie, noch die sich in
normalen Grenzen haltende als Grund in Frage, sonst müssten bei
der Häufigkeit der Onanie, über welche ich mich an anderer Stelle
äussern werde, nicht die Hälfte, sondern fast die gesamte Frauen-
und Jungfrauenschaft träumen. Onanie und Pollutionen sind beides
Erscheinungen derselben Ursache, abgesehen von ÖOnanieformen in
früher Jugend — des bis zu einer gewissen, subjektiv verschiedenen
Höhe gestiegenen, nicht oder nicht genügend befriedigten Geschlechts-
triebes. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass in Fällen
aussergewöhnlich gesteigerter, ja krankhafter Libido auch die.Häufig-
keit der Pollutionen steigen kann. Der Umstand, dass schon ein
Verkehr stattgefunden hat, ist ebenfalls für das Eintreten oder die
Häufigkeit von Pollutionen nicht zu verwenden, da meine Beobach-
tungen bei den Hymenvirgines das Gegenteil beweisen. Es handelt
sich offenbar um eine völlige natürliche Erscheinung, die mit dem
Auftreten des Geschlechtstriebes und seiner genügenden oder unge-
nügenden Befriedigung — in irgend einer Form — zusammenhängt.
Beim Jüngling wird ja ohne weiteres anerkannt, dass mit dem Auf-
treten der Pubertät früher oder später normalerweise Pollutionen
auftreten, die an sich nicht als krankhaft anzusehen sind. Es besteht
wahrhaftig kein Zwang zu der ganz willkürlichen Annahme, dass es
damit beim Weibe ganz anders sich verhalten solle, und es ist zweck-
los in diese Verhältnisse Dinge hineinzugeheimnissen, welche einer
objektiven Kritik nicht standhalten können. Die Zeit des Beginnens
der Pollutionen wird offenbar ebenfalls vom Auftreten des Geschlechts-
triebes, dessen auslösende Gründe im Einzelfalle natürlich verschieden
sein können, bedingt. Hierüber ist es schwierig genauere Angaben
zu erlangen, da die meisten sich darüber keine genaue Rechenschaft
geben können. Jedenfalls habe ich mehrfach nachweisen können,
dass schon vor dem Eintreten der Menstruation sexuelle Träume vor-
handen gewesen sind, wenn dies auch die Ausnahme bedeutet. Die
Annahme Molls, dass beim „keuschen“ Mädchen das Auftreten des
Orgasmus im Traume die Ausnahme sei, kann ich an meinem Materiale
nicht bestätigen.
In der Mehrzahl der Fälle treten die sexuellen Träume gegen
Morgen ein. Die Frauen erzählen gewöhnlich übereinstimmend, dass
64 A. Heyn. [5
sie das Gefühl gehabt hätten, als wenn ein Verkehr mit völliger Be-
friedigung stattgefunden hätte. Sie erwachen darüber mehrweniger
vollständig und merken noch das Zucken der Scheide und das Arbeiten
der Scheidenmuskulatur und fühlen, dass sie mehrweniger feucht
geworden sind. In diesem Falle haben sie dasselbe angenehme Be-
friedigungsgefühl wie nach einem genussreichen Koitus. Mitunter ist
der sexuelle Traum die einzige Gelegenheit für die Frau zu einem
vollständigen Orgasmus zu kommen (Dyspareunie). Auch die Virgines
intactae, die den Koitus noch nicht kennen, haben in der Regel das
Gefühl einer angenehmen Befriedigung. Mitunter sind allerdings bei
ihnen die Gefühle von ganz unbestimmter Art, wie auch schon Ellis
bemerkt. In manchen Fällen handelt es sich im Traume nicht um
einen Koitus, sondern die Frauen erzählen, dass sie nur den Eindruck
gehabt hätten, dass sie jemand an den Genitalien oder sonstwie
berührt habe oder babe berühren wollen, dass sie jemand umarme,
küsse, oder dass sie jemand habe umarmen oder küssen wollen, oder
dass jemand die Absicht gehabt bätte mit ihnen zu verkehren. In
manchen — aber selteneren Fällen — haben die Frauen keine bestimmte
Erinnerung an die Vorgänge im Traume, sie erwachen nur mit dem
Auftreten des Orgasmus. Fast nie können die Frauen angeben, dass
sie im Traume Koitusbewegungen eines eingedrungenen Gliedes in
ihrer Scheide gemerkt hätten, sie erzählen übereinstimmend, dass sie
schon bei der Berührung des Gliedes mit ihren Genitalien aufwachten
und nun nur das Gefühl hätten, als ob ein Verkehr stattgefunden
haben müsse, sie fühlen nur noch das Spiel der Beckenmuskulatur
als wollüstiges Zucken der Scheide und merken, dass sie in höherem
oder geringerem Masse feucht geworden sind. In einem Falle träumte
die Frau, dass sie im Begriff sei, sich zum Koitus zurechtzulegen.
In seltenen Fällen kommt es in einer Nacht zu mehrfachem Orgasmus.
Der Gegenstand der Träume ist auffallenderweise fast nie eine
geliebte Person, der Ehemann oder Geliebte. Meist ist es ein völlig
gleichgültiger Mensch, ein Mann, der für eine geschlechtliche An-
näherung im Wachzustande nie und nimmer in Frage käme, irgend
eine Person, die im Verlaufe des vergangenen Tages irgendwie in
den Gesichtskreis der Träumenden getreten ist, ja ein Bettler oder
sonst eine völlig indifferente Persönlichkeit. Ellis bringt die Schilde-
rung eines solchen Traumes aus weiblicher Feder: „Ich habe erotische
Träume von Männern gehabt, die mir gleichgültig sind, und aus
denen ich mir gar nichts mache, wenn ich wach bin. Beim Erwachen
ist die Stimmung noch so stark, dass es fast scheint, als wäre ich
wirklich in die betreffende Person verliebt. Ich kann mir ganz gut
denken, dass man sich infolge solcher Träume in jemanden verliebt.“
6] Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 65
Von verschiedenen Autoren ist berichtet worden, dass der Inhalt
der Träume sich auch nach den Eigentümlichkeiten im sexuellen
Leben des Träumenden richten könne, auch abnorme Eigentümlich-
keiten können im Traume wiedererscheinen. So berichtet beispiels-
weise Moraglis davon, dass zwei Tribaden wollüstige Träume zu
haben pflegten, deren Objekt stets die, bevorzugte Freundin gewesen
wäre (?.. Von Homosexuellen, Sadisten, Masochisten wird ähnliches
berichtet.
In nicht so seltenen Fällen handelt es sich um Verwandte, welche
im Traume als Kohabitator auftreten, ja um Vater, Bruder und sonstige
Anverwandte. Die Angabe, dass es sich in den Träumen stets um
Inzestpersonen handle (Sedger), kann ich aus meinen Erfahrungen aber
keinesfalls bestätigen.
Die Träume sind nicht immer mit angenehmen Gefühlen ver-
bunden, anscheinend besonders dann nicht, wenn es infolge vorzeitigen
Aufwachens der betreffenden Frau nicht zur völligen Auslösung des
Orgasmus kommt. Eine Frau erzählte, dass sie zu ihrem Bedauern
mitunter denselben Eindruck habe, als wenn beim Verkehr das Glied
entfernt würde, ehe bei ihr die Aufregung abgeklungen wäre, und
dass sie dann das Gefühl habe, als ob die Scheide leer arbeite. Auch
kommt es mitunter vor, dass die Frauen das Gefühl haben, dass sie
verkehren sollten, und aufwachen, ehe es zur Auslösung des Orgasmus
kommt. Dann klagen sie gewöhnlich darüber, dass sie hochgradig
sexuell erregt wären und nicht mehr einschlafen könnten. Moll
deutet ähnliches an.
Die Zeit, in welcher die Träume am häufigsten auftreten, fällt
meist mit der Zeit zusammen, in welcher die Träumenden an meisten
geschlechtlich erregt sind, also vor, während oder nach der Periode.
Es kann natürlich auch zu jeder anderen Zeit ein Traum eintreten,
wenn aus äusseren Gründen eine besondere Erregung im Geschlechts-
leben der betreffenden Person stattgefunden hat.
Wie bei der Onanie gibt es auch bei den Pollutionen eine Reihe
weit verbreiteter Ansichten, welche den Pollutionen eine erhebliche
Schädlichkeit andichten. So sollen Depressionen, Schlaflosigkeit, Er-
mattung, Verstimmung, ja Kreuzschmerzen, Schwindel usw. usw. sich
einstellen als Folge erotischer Träume. Eine hierhergehörige Äusse-
rung bringe ich, weil sie aus Frauenmunde stammt: Überhaupt spielen
die Träume sowohl in der erwachenden Erotik, wie später in dem
unbefriedigten Eheleben und in dem Stadium der alleinlebenden Frau
eine grosse und ernste Gefahr bringende Rolle. Diese Gefahr ist um
so grösser, als wir ihr machtlos ausgeliefert sind, solange das sinn-
liche Begehren nicht gesättigt ist, und die naturgemäss mit dem Wissen
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 1/2. 5
66 A. Heyn. . [7
dessen, was Sinnengenuss ist, sich noch steigert“. (v. Bagiensky.)
Von solchen Klagen habe ich in meinen langen Untersuchungen nur
selten etwas gehört. Die normalerweise zu bestimmten Zeiten,
längst nicht so regelmässig wie bei'vielen Männern, und auf bestimmte
Veranlassung auftretende Pollutionen schaden keineswegs, sie dienen
im Gegenteil gewissermassen als Sicherheitsventil, durch welches
„allzuüppige Kraft verpufft“ und allzuüppiges Verlangen in angenehmer
Weise befriedigt wird. Selbstverständlich ist dazu ein vollständiger,
nicht vorzeitig unterbrochener Ablauf der Empfindung nötig, weil
sonst ähnliche Verhältnisse und Unbequemlichkeiten sich einzustellen
pflegen, wie beim Coitus interruptus und ähnlichen Vorgängen im
Geschlechtsleben der Frau. Zweitens ist es eigentlich überflüssig zu
erwähnen, dass wie bei anderen Dingen z. B. der Onanie, nicht die
Pollution an sich schädlich ist, sondern, dass nur eine übermässige
Häufigkeit, oder eine längere Zeit wiederkehrende Störung des normalen
Ablaufes bei dazu veranlagten Personen einmal schädigend einwirken
kann. Man hört mitunter, dass die dauernden Abgänge von Schleim
schädigen sollen, vermutlich in einer unzulässigen Übertragung der
Vorgänge bei der männlichen Pollution, davon kann kaum die Rede
sein. Eine wesentliche Störung habe ich nie nachweisen können.
Im Gegenteil gaben die meisten an, dass sie sich behaglich fühlten,
wenn die geschlechtliche Spannung durch eine Pollution ausgeschaltet
sei. Nur ganz vereinzelt hörte ich, dass eine gewisse, bald vorüber-
gehende Mattigkeit nach morgendlichen Ergüssen sich ab und zu
einstelle. Mitunter hört man von Ängstlichen Frauen Fragen, ob diese
Ereignisse schädlich seien? Eine ungünstige Beeinflussung des All-
gemeinbefindens lag bei diesen Frauen niemals vor, und sie waren
in den meisten Fällen durch entsprechende Belehrung leicht von ihrer
Furcht zu befreien.
Die Pollutionen werden für die merkwürdigsten Dinge verant-
wortlich gemacht. So sollen Pollutionen Schuld tragen an der Sterilität
der Frau, weil der Orgasmus d. h. die Ausstossung des Kristeller-
schen Schleimpfropfes zu früh erfolge? (Rohleder). Welche positiven
Unterlagen Rohleder ausser seiner mir bekannten Theorie vom
Zustandekommen der Befruchtung hat, ist mir unbekannt. Obwohl
diese Auffassung recht wenig für sich hat; habe ich mein Material
in dieser Richtung geprüft. Aus der Rohlederschen Theorie müsste
man schliessen können, dass, falls die Pollutionen einen Grund für
eine Sterilität abgeben, unter den Sterilen sich prozentual mehr
träumende Personen befinden werden, als unter den nicht sterilen
Frauen. Mein Material spricht aber keinesfalls für diese Rohledersche
Annahme, eher für das Gegenteil, was nach meiner Auffassung dieser
— — — —
8] Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 67
Verhältnisse zu erwarten war. Einerseits wächst mit der Höhe und
Stärke des Geschlechtstriebes auch die Anzahl der Träume und anderer-
seits wird zu erwarten sein, dass unter den Sterilen, welche stets
eine erhebliche Anzahl von Frauen mit geringerem Geschlechtstrieb
aufzuweisen haben, ganz automatisch auch die Menge der Träumenden
fällt. Die Pollutionen selbst haben mit der nebenher bestehenden
Sterilität ursächlich nichts zu tun. Es ist durchaus unklar, wie eine
nächtliche Pollution, oder meinetwegen auch mehrere, bewirken soll,
dass bei dem im Wachzustande vorgenommenen Koitus ein zu früher (?)
Orgasmus zustande kommt, also vermutlich ausserhalb der optimalen
Breite. Die Zeit, wenn der Orgasmus der Frau zustande kommt, ist
in erster Linie abhängig von der Empfindlichkeit der Frau, die so
gross sein kann, dass ständig bei der Frau der Orgasmus in uno
actu mehrfach erscheint, also auch wohl meist zu zeitig, und doch
haben ausser einer Frau alle diese leicht erregbaren und leicht zu
befriedigenden Frauen meines Materials Kinder. An derselben Stelle
(Lexikon der gesamten Therapie von Guttmann) macht Rohleder
noch einige Bemerkungen, die zu einer Gegenäusserung Veranlassung
geben müssen. Er bezeichnet differential-diagnostisch die Ausstossung
einiger Tropfen Sekret der Bartholinischen Drüsen bei sexueller
Reizung der Frau ohne Orgasmus als Vaginorrhoe sive Kolporrhoe.
Diese Bezeichnung für das Feuchtwerden der libidinös erregten Frau
ist abwegig und irreführend, weil die abgesonderte Schleimmenge nicht
aus der Scheide, sondern aus den Bartholinischen Drüsen und dem
Uterus, vermutlich der Zervix, stammt. Die Vagina hat damit nichts
zu tun, denn sie besitzt in der Regel nur in den frühesten Stadien des
Lebens vereinzelte Schleimdrüsen. Der Vorgang wäre also folgerichtig
etwa als Prothalamorrhoe (Prothalamos — Vestibulum) und als
Trachelorrhoe (Trachelos = Zervix) zu bezeichnen. Die Pollutionen
nennt er Ejakulationen des Kristellerschen Schleimpfropfes aus der
Zervix durch Muskeltätigkeit. Es ist nicht zu empfehlen, die Bewegungen,
welche jeder in der Zervix adhärente Schleim, also auch derKristeller-
sche Schleimpfropf, macht, soweit er überhaupt vorhanden ist, als
Ejakulation zu bezeichnen, da dieser Schleimpfropf trotz einer even-
tuellen Muskeltätigkeit des Uterus nicht in die Scheide ejakuliert wird,
d. h. sich von seiner Ansatzstelle trennt, sondern an Ort und Stelle
sitzen bleibt. Etwas mehr hätte es für sich, wenn man den Schleim,
der sich bei starken geschlechtlichen Erregungen der Frau aus. der
Zervix in die Scheide ergiesst, und der sich auch beim Orgasmus
der Frau zeigt, als Ejakulat bezeichnen würde. Hier wird das Produkt
noch nicht sicher bekannter Drüsen (Zervix, Korpus, Tuben?) tat-
sächlich ın die Scheide entleert, und in diesem Sinne verdient der
5*
68 A. Heyn. [9
Vorgang vielleicht die Bezeichnung Ejakulation, die den hin und her
gehenden Bewegungen eines in der Zervix festsitzenden Schleimpartikels
‚keineswegs zukommt. Für sehr befriedigend halte ich die Bezeich-
nung allerdings nicht. Ebenso ist festzustellen, dass alle Bezeich-
nungen, welche die Endung „rhoe“ haben, einen länger dauernden
„Fluss“ bezeichnen, wie Gonorrhoe, Blennorrhoe, und dass infolgedessen
die Bezeichnungen Vaginorrhoe, Kolporrhoe, Trachelorrhoe, Prothala-
morrhoe, die sich nur auf eine vorübergehende Befeuchtung beziehen,
nicht die richtige Bezeichnung tragen, und nur durch das Fehlen
einer besseren einige Daseinsberechtigung haben. Über das Feucht-
werden der Frau in libidine et orgasmo werde ich an anderer Stelle
berichten.
Virgines
intactae
Deflorierte | Frauen ohne | Frauen mit
Mädchen Kinder Kindern
© © © © © © © ©
Ka = "I 5 ve 5 5 5
=) E fa Wei 8 8 Ai E E a E
Ke © © Ep = o © Le gé © kk
Libido E E g S E E 2 E E € E
e K wë as = Si wë GE
ka ka La f * ba Ae *
Em E Em En E E E Cl
WI Boa Do Do S
stark und sehr stark . 70,5
46,0 | 57,6 | 43.9 | 48,4 | 40,0
312 ` 41,32
— 7tr —
mässig . 29,7 | 46,0 au 34,1 | 35,2 | 49,0
gering und fehlend. . — 8,8
79 151 | 219 16,1 | 20,0
Die Pollutionen sind manchmal Gegenstand der Erörterung in
der Sprechstunde, indem Frauen, die mit Pollutionen zu tun haben,
sich dieserhalb an den Arzt um Hilfe wenden, weil sie sich darüber
beunruhigen, dass der Kohabitator ihrer Träume nicht der eigene
Ehemann oder Sponsus oder Liebhaber, sondern eine x-beliebige
andere Person ist. Besonders sind es Frauen aus fromm katholischen
Gegenden, in denen ein derartiges Ereignis als „Todsünde“ gilt, weil
sie den Eindruck haben, dass sie im Schlafe einen Ehebruch oder
gar eine Blutschande begehen. Ich habe mich in mehreren Fällen
an den betreffenden Beichtiger mit aufklärenden Worten wenden
müssen, um die geängstigten Frauen von ihrer Beunruhigung zu
befreien.
Als Zasammenfassung habe ich folgendes zu sagen:
1. Die Pollutionen sind etwas durchaus Normales und Physio-
logisches, solange es nicht zu einer derartigen Häufung der-
10]
Über sexuelle Träume (Pollutionen) beı Frauen. 69
selben kommt, dass das subjektive Wohlbeäinden der Frau
gestört wird.
. Die Pollutionen treten normalerweise bei etwa der Hälfte
sämtlicher weiblicher Wesen auf, sowohl bei Frauen wie bei
Jungfrauen, mögen dieselben das Prädikat „rein, richtig,
wirklich“ usw. verdienen oder nicht. Als Grund kommt nicht
in Frage eine pathologische geschlechtliche Reizbarkeit oder
neurotische Veranlassung, sondern nur der Umstand, dass
der Geschlechtstrieb eine gewisse Höhe erreicht hat, und
dass er nicht oder nicht in hinreichendem Masse befriedigt
worden ist.
3. Die Pollutionen treten zwar bei vielen Frauen nicht mit der-
selben Regelmässigkeit auf, wie bei vielen Männern, aber sie
halten sich doch im ganzen an die Höhe der sexuellen Welle
der Frau, vor, während und nach der Periode.
. Die nächtlichen Pollutionen schädigen die Frauen keineswegs,
sie wirken im Gegenteil häufig beruhigend und wohltuend.
. Das Objekt der sexuellen Träume ist meist nicht der Mann
oder Geliebte, sondern eind beliebige andere Person. Nicht
selten ist es eine Inzestperson, Vater, Bruder oder sonst ein
Verwandter.
IL Kritiken.
Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden.
Hart: Die Lehre vom Status thymico-Iymphaticus. Ein Beitrag zur Kan-
stitutionspathologie. Verlag von J. F. Bergmann, München 1923.
Diese mit lückenloser Sachkenn!nis geschriebene Studie des früh ver-
storbenen verdienten Forschers bat das Ziel, Ordnung hinein zu bringen in das
anatomische und klinische Bild der im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer
Art Sammelbecken gewordenen Iymphatischen Konstitution. Die ausgiebige
Klärung scheitert an der Unkenntnis vum Wesen der endokrinen Wirkung des
Tbymus und an der Schwierigkeit, die primäre konstitutionelle Hypoplasie des
Iymphatischen Gewebes von der sekundären durch äussere oder innere Reize ver-
ursachten zu unterscheiden. Dazu kommt die Erweiterung des Begriffes zu dem
Status hypoplasticus, die Berührung mit dem Infantilismus und Wnuchoidismos,
der Asthenie universalis und die Beziehungen zur exsudativen und arthritiscben
Diathese. Reinliche Scheidung ist da unmöglich. In den Mittelpunkt dor Betrach-
tung stellt Verf. das audokrine System, dessen Leistungsstörung bald diesen oder
jenen Teil der Blutdrüsen in den Vordergrund treten und so verschiedene Organ- _
und Leistungsänderungen entstehen lässt.
Ein Literaturnachweis von 820 Nummern, dessen Werke sämtlich kritisch
verarbeitet sind, macht die Schrift zu einem unentbehrlichen Werk der Kon-
stitationsforschung. Max Hirsch, Berlin.
Scheidt: Einführung in die naturwissenschaftliche Familienkunde. (Fa-
milienanthropologie.) Mit 11 Textabbildungen. J. F. Lehmanns Verlag,
München 1923.
So sehr die experimentelle Vererbungswissenschaft die unentbehrliche
Grundlage der menschlichen Vererbungslehre bildet, so wenig wird sie allein
den Kıbgang beim Menschen zu klären imstande sein. Dazu bedarf es der Familien-
forschung als naturwissenschaftlicher Personen- und Lebensbeschreibung auf Grund
anthropologischer Untersuchung und Beobachtung. Hierfür gibt das vorliegende
Buch die theoretischen Grundlagen und praktischen Anleitungen. So ergibt sich
von selbst, dass auch die medizinische Konstitutionsforschung ohne Familien-
kunde nicht vorwärts kommen und schiiesslich, dass auch die ärztliche Heilkunde
sie nicht. entbehren kann. In welcher Weise gerade der ärztliche Praktiker
sich an der Familienforschung beteiligen kann und — füge ich hinzu -— muss,
ist in dem Buche besonders eindringlich dargestellt > Max Hirsch, Berlin.
Fritz Lenz: „Menschliche Auslese und Rassenhygiene“. Il. Bd. J. F.
Lehmann, München 1923.
(egen die erste Auflage hat der II. Band einen stattlichen Zuwachs an
Seiten erfahren. Er ist fast um die Hälfte dicker geworden. Wenn sich auch
2] | Kritiken. 71
manche wertvollen Ergänzungen finden, so wäre der Sache und dem Werke mit
einer erbeblichen Kürzung und strafferen Zusammenfassung mehr genützt worden.
Reichlich viel kleine polemische oder kritisierende Randbemerkungen und Seiten-
hiebe ermüden und lenken von den Hauptsachen ab. Es erscheint z. B. hin-
reichend komisch, wenn in einem ernsthaften wissenschaftlichen Werke Be-
merkungen stehen wie „Mir kaın vor einiger Zeit Dinters Sünde wider das Blut“
in die Hände. Da standen an einer Stelle, wo von dem Geist der Rasse die
Rede war, offenbar von weiblicher Hand geschrieben am Rand die Worte: „Das
ist wunder-wunderschön!* Ich fand allerdings die betreffende Stelle sehr wenig
schön, weil sie nach meiner Ansicht verzerrt und geschraubt war, wie überhaupt
das ganze rassenbiologisch durchaus nicht einwandfreie Buch; aber jene Bemer-
kung zeigte mir doch, dass der Glaube an die Rasse in manchen Herzen schon
so lebendig ist, dass auch ein sehr unvollkommenes Werk tiefe künstlerische
Wirkung haben kann. Der Verfasser schüttet häufig das Kind mit dem Bade
aus. In den letzten zwei Jahrzebnten war es Mode geworden den Darwinismus
etwas über die Achsel anzuseheu zugunsten lamarckistischer Anschauungen.
Jetzt beginnt wieder die umgekehrte Strömung; nach Lenz deutet die Hinneigung
zum Lamarckismus schon auf vorderasiatische Erbanlagen hin. Die Umwelt-
faktoren werden in durchaus unzulässiger Weise vernachlässigt. Sie gehören der
Jndividualhygiene, die aber nach Verfasser erst lange hinter der Rassenhygiene
zu kommen hat. Dass körperliche Ertüchtigung auch gut möglich ist ohne „Hoch-
schulen für Leibesübungen“ mit allerlei akademischen Zutaten, dürfte bei vielen
Zustimmung finden. Verfasser warnt vor geistiger Überarbeitung „die möglicher-
weise unmittelbar schädlich auf die Erbmasse wirken kënnte (GI. Akademischen
Berufen sollen sich junge Leute nur zuwenden, wenn „ganz ausserordentliche
Begabung oder ganz besonders günstige Umstände die Erringung einer aus-
kömmlichen Lebensstellung in einem geistigen Berufe gesichert erscheinen lassen“.
Nach diesem Rezepte besiünde die nächste Generation von Akademikern über-
wiegend aus der Nachkommeuschaft Raffkes oder der Ordinarien. Mit grosser
Objektivität werden oft. Auslese und Gegenauslese gegenüber gestellt. Welche
im Einzelfall wertvoller und daher mehr zu erstreben ist, das ist oft Geschmacks-
sache. Für recht unglücklich, teilweise geschmacklos, halte ich „rassenhygieni-
sche“ Bemerkungen über Persönlichkeiten und Vorkommnisse dər Zeitgeschichte,
die wir miterlebt haben. Ausführungen antisemitischer Art wie auf S. 277 ge-
hören nicht in ein wissenschaftliches Werk. Abgesehen davon, dass sie inhaltlich
falsch sind.
Die von Hirsch zuerst aufgestellte eugenetische Indikation zur Schwanger-
schaftsunterbrechung, die einst so leidenschaftlich bekämpft wurde, wird von Lenz
verteidigt. Das Buch wird als Ferment segensreich wirken, indem es hoffentlich
viele Leser zum Nachdenken über rassenhygienische Fragen anregt und sie ver-
anlasst der Erbbiologie wichtiges Material zu sammeln. Wenn die menschliche
Erbkunde gelernt haben wird, Genotypus und Phänotypus, Erbanlage und Umwelts-
wirkung, zu unterscheiden. dann wird auch aus dem heute gärenden Most der
Rasseubygiene einmal ein Wein werden — wenn nicht die Umweltsfaktoren ge-
wisser politischer Richtungen verschiedener Färbung die Klärung aufhalten!
Fritz Levy, Berlin.
Rich. Koch: Ärztliches Denken. Abhandlungen über die philosophischen
Grundlagen der Medizin. Verlag von J. F. Berymann, München 1923.
Eine Schrift „aus dem Wunsche heraus geschrieben, dazu beizutragen, dass
sich im ärztlichen Deuken die Überzeugung von der Wirksamkeit des Geistes,
der Seele, des freien Willens wieder festige". In dieser Fassung ist das Endziel
des Verfassers nicht verständlich, denn soll die Wechselwirkung von Geist und
Körper betont werden, so ist der Zusammenhang mit einem freien Willen unklar.
Wie dem auch sei, was Verfasser vom Sinn des Krankseins, vom psychogenen
Kranksein, vom Heilen zu sagen weiss, spricht für den tiefgründigen Denker und
72 Kritiken. [3
wird jedem Leser der Schrift eine Fülle von Anregung zu eigener Denkarbeit
geben. So einfach schon der ärztliche Leitsatz scheint, dass wir die nützliche
Tätigkeit des Organismus unterstützen, die schädliche bekämpfen müssen, unsere
Erfahrung versagt hier schon recht oft, wenn wir nach dem Nutzen eines Organs
oder einer Funktion gegenüber einem bestimmten Eingriff fragen. Wir wissen
oft nicht einmal, ob der Eingriff das wirklich tut, was wir von ihm erwarten.
Auf die Entziebung von Blut kann der Organismus mit einer Blutbildung im
Überfluss antworten, auf die Abkühlung durch Eisbeutel mit einer reaktiven Ent-
zündung in der Tiefe, Abführmittel können reaktiv Verstopfung, verstopfen!e
Mittel Durchfälle erzeugen usw. Wir müssen daher den Organismus als etwas
Einbeitliches auffassen, das sich als Ganzes einem Eingriffe gegenüber verhält,
nicht als eine Summe von Einzelteilen. Die Reaktion des Körpers ist im ganzen
zweckmässig, aber nicht vollkommen zweckmässig. Deshalb nimmt der Arzt
grundsätzlich für sich die Fähigkeit in Anspruch, manchmal besser zu wissen,
was dem Organismus bekömmlich ist, als der Organismus selbst. Er wird Eın-
griffe in das Naturgeschehen machen, von deren Nutzen er überzeugt ist.
Der Raum verwehrt es, den Gedankengängen des Verfassers zu folgen oder
gar sich mit ihnen kritisch auseinander zu setzen. Inhaltlich verdient es die
gedankentiefe Studie, dass recht. viele Leser aus ihr Bereicherung ihres Wissens
schöpfen. Placzek, Berlin.
Havelock Ellis: Moderne Gedanken über Liebe und Ehe. Verlag von
Curt Kabitzsch, Leipzig 1924.
Wenn ein neuschöpferischer Geist wie Havelock Ellis über Liebe und
Ehe spricht, sind bedeutungsvolle Gedankengänge zu erwarten, und diese Kıwar-
tung wird nicht getäuscht, denn jedes Kapitel des kleinen Buches zeigt den
Sexualforscher von ungewöhnlichem Literatur- und Erfahrungswissen. Schon
was er über die nahe Verwandtschaft von sexueller Liebe und Elternliebe sagt,
verdient gegenüber den Übertreibungen der Freudianer nachdrücklichst betont zu
werden. Wohl kann ein ganz leiser Unterton von Sexualität in den Beziehungen
des Vaters zur Tochter, der Mutter zum Sohn, der Tochter für den Vater, des
Sohnes für die Mutter mitschwingen, doch nicht bewusst. Verfasser hält es für
unnötig hervorzuheben, dass es sich dabei nicht um irgendein körperliches Ver-
langen oder eine Begierde handelt. Aposteln sexueller Enthaltsamkeit begegnet
er mit der Frage: „Wenn Enthaltsamkeit so ideal und schön ist, warum begrüsst
man die Ehe mit soviel Beifall ?*
Und wie seltsam, dass gerade die beiden Berufe, die am entschiedensten für
die Enthaltsamkeit eintreten, Theologen und Ärzte, wie Rundfragen ergeben haben,
sich in den wenigst idealen Formen sexuell betätigen, in der Prostitution und
Onanie. Fasst man aber gar jede Art und jeden Grad sexueller Manifestation
ins Auge, so muss man die Geschlechtstätigkeit als eine bis zu gewissem Grade
regellose ansehen, so weit, dass jedenfalls sexuelle Reinheit nicht identisch ist
mit Aufbebung oder unbestimmtem Aufschub sexueller Betätigung, sondern viel-
mehr vernünftiger Mässigung. Unter „Auto-Erotismus“ fasst Verfasser die ganze
Reihe von Erscheinungen zusammen, die spontan und ohne jedwede Anregung
von aussen direkt aus dem Organismus hervorgehen oder sich umwandeln können
in Wachträume, in auto-erotische Träume, in künstlerische oder literarische Tätig-
keit, in krankhafte Störungen wie z. B. verschiedene Formen der Hysterie, ja
sogar in hochgradige ınystische Frömmigkeit. Die angeblich schrecklichen Ge-
fahren strenger Enthaltsamkeit hält er für durchaus grundlos, doch für ebenso
falsch, dass sie gar keine schädlichen Folgen für Körper und Geist haben könne.
Solche Ansicht findet er nur in anglikanischen Ländern nicht vertreten, „wo man
aus prüder Moralität den Tatsachen nicht frank und frei ins Auge sehen will".
Es ist dem Referenten nicht möglich, den klugen, lebenserfahrenen Gedanken-
gäugen des hochverdienten Verfassers weiter im einzelnen nachzugehen. Was
4] | Kritiken. 73
er über den Zweck der Ehe, übér Ehemänner und Ehefrauen, über das Liebes-
recht des Weibes, über das Liebesspiel beim Menschen, zu sagen weiss, ist un-
gemein lehrreich, nicht allein für den erfahrenen Sexualforscher, sondern auch
für jeden Arzt, der die Gewichtigkeit der vielfältigen Wechselbeziehungen von
Sexualität und soziologischen Lebensbedingungen zu erfassen weiss und zu ent-
rätseln strebt. Möge auch dem neuen Buche des Verfassers, dem in seiner engeren
Heimat so machtvolle Widerstände sich entgegenstemmen, die Anerkennung aller
Leser zuteil werden. Placzek, Berlin.
E. Havelock-Ellis: Neue Horizonte für Liebe und Leben. Verlag von
Manz, Wien-Leipzig 1922.
Eine ungewöhnliche, viel zu früh dem Leben entrissene Frau spricht aus
diesen Blättern. „Die Gedanken, noch mehr die praktischen Vorschläge, berühren
mehr als einmal als Selbstverständlichkeiten, deren Wie das praktische Leben
zwar noch nicht geformt hat, deren Was aber bereits Denkgrundlage ist. Nicht
die Gedanken, sondern der Mensch und das Herz, die aus dem Buche sprechen,
sind das eigentlich Wertvolle an dem Buche und sie müssen wir lieb gewinnen
und mit ibnen, wie ich hoffe, auch das Buch“, sagt der Übersetzer. Doch selbst
wir in Deutschland, die wir von der Verfasserin als Persönlichkeit nichts weiter
wissen, als dass sie die kongeniale Gattin und lebensmutige Mitkämpferin von
Havelock Ellis war, müssen die Frau bewundern, die rastlos und furchtlos
ihre oft genug umstürzlerisch klingenden Ideen in gedruckter und gesprochener
Rede in die Massen warf, unbekümmert darum, wie sie die Menschen berülıren.
Aus sozialem Mitleid erwachsen ihre Gedanken. Im Sinne eines ethischen Sozia-
lismus werden sie verkündet, wird Problem an Problem gereiht, auch das ihr be-
sonders nahe liegende Problem der Geschlechter, die wirtschaftliche Unabhängig-
keit des Weibes, eine durchgeistigte Art der Ehe, die Unsitten und Unsinnigkeiten
der Dienstbotenfrage, die Kulturlosigkeit des Krieges. Kühn tritt sie aber auch
gegen dic uns fast unfassbar scheinende Prüderie ihrer Heimat auf, immer nur
vor dom Sehnsuchtsziel nach einem neuen, geläuterten Menschen. So wird und
muss ihr Buch auch in deutschen Landen verdiente Anerkennung finden, in einem,
wie Referent hofft, grossen Leserkreise. Placzek, Berlin.
Georg Groddeck: Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine
Freundin. Internat. psychoanalyt. Verlag, Leipzig 1923.
Das ‚Es‘ ist das Unbewusste, „irgendein Wunderbares, das Alles, was der
Mensch tut und was mit ibm geschieht, regelt‘ (S. 10). Das Es „lebt den
Menschen, ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wachsen, gesund und krank
werden lässt, kurz, die ibn lebt“ (S. 281). Also ein selbständig regierender und
zwar allmächtig regierender Bestandteil des Seelenlebens, nicht etwa, wie noch
fassbar, nur ein Reservoir verdrängter, schlummernder Vorstellungen, die zur
Bewusstseinshelle vorzudringen streben. Wenn man nun weiter hört, dass Ver-
fasser sich nachdrücklichst als Schweninger-Schüler bezeichnet, kann man schon
auf merkwürdige Outsider-Anschauungen im ärztlichen Denken sich gefasst
machen, ist doch dem Referenten die Schweninger-Zeit noch gar deutlich in Er-
innerung mit dem wenig rühmlichen Ausgang der Lichterfelder Krankenhaus-
tätigkeit. Doch Verfasser nennt sich auch Schüler Freud’s. So liess sich er-
warten, dass er die sattsam bekannten Leitsätze der Freudianer bringen und in
verba magistri schwören würde, und zwar feuilletonistisch, wie es schon der viel-
sagende Untertitel des Buches verheisst. Übrigens muss die Adressatin der Briefe
ein merkwürdig gegen Frivolitäten schamlosester Art abgehärtetes Wesen sein,
der er seine Wahrheiten enthüllt. Hätte Verfasser sich nur auf die Populari-
sierung von Ideen der Freudianer beschränkt, so würde sich dagegen nichts prin-
zipiell einwenden lassen, wenn auch diese Ideen und vor allem ihre praktische
Nutzanwendung manch Unheil stiften. Es bliebe aber der diesen Ideen inne-
74 Kritiken. [5
wohnende, ernste. fördernde, heuristische Wert. Anders aber, wenn Verfasser
diese Ideen überbieten za können vermeint und zu Verstiegenheiten gelangt, die
auch der wohlwollendste Kritiker zurückweisen muss, und wenn er diese Ver-
stiegenheiten durch seltszame Dogmatisierung zu unantastbarer Weisheitslehre
stempelt. Hiervon einige Proben:
Das Wesentliche des Arztes ist „ein Hang zur Grausamkeit, der gerade so
weit verdrängt ist, dass er nützlich wird, und dessen Zuchtmeister die Angst ist,
weh zu tun. Eine Anschauung, die schon Stekel in seltsamsten Formen variiert,
und die uns Ärzten unser Wesen eındeutig klären soll.
Groddeck weiss auch, weshalb die Frauen den Frauenarzt aufsuchen,
„Weil die Frau nie Gelegenheit hat, sich ausserhalb der Ehe zu zeigen, weil das
Kranksein alles entschuldigt, und weil das Kranksein die unbewussten, halb be-
wussten und bewussten strafbaren Wünsche rächt und so vor der ewigen Strafe
schützt“. Also der Exhibitionismus trägt die Schuld. Groddeck sagt einer
Patientin, „sie gehe zum Frauenarzt, weil man gerne einmal eine andere Hand
als die des Geliebten spüren möchte, ja, man werde zu diesem Zweck wirklich
krank. Alles Wesentliche gehe auch bei der Gynäkologie ausserhalb des Bewusst-
seins vor sich... .. Das unbewusste Es schafft die Krankheiten. Sie kommen
nicht von aussen als Feinde, sondern sind zweckmässige Schöpfungen des Es.“
Nun kennen wir ja die Entstehungsbedingungen gynäkologischer Krankheiten.
Was das Es auf diesem Gebiete Wunderbares leistet, verrät uns Groddeck an
zahlreichen Stellen seines Buches. So findet er einmal, als er zu einer Gebärenden
gerufen wird, das Kind in Steisslage.e Die Wehen hatten noch nicht begonnen.
Was tut Groddeck in dieser Situation? „Ich habe mich zu ihr gesetzt, ein
wenig in ihren mir schon ziemlich bekannten Verdrängungs-Komplexen geforscht
und ihr schliesslich in glühenden Farben die Lust der Entbindung geschildert....
Sie solle selbst darüber entscheiden, ob sie narkotisiert werden wolle. Damit.
bin ich abgereist. Eine halbe Stunde nach meinem Weggang lag das Kind mit
dem Kopf nach unten.“
Hoffentlich werden nicht viele Ärzte das BeispielGroddecks befolgen, bei
Steisslage des Kindes mit der Gebärenden über Verdrängungs-Komplexe zu plaudern
und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen, in der Erwartung, das Unbewusste
wird schon alles ins Lot bringen. Nur aus solcher Einstellung, wie sie Verfasser
hier predigt, ist der folgende ungeheuerliche Satz möglich. „Sie mögen mir
glauben oder nicht, es ist noch nie eine Fehlgeburt zustande gekommen, die
nicht absichtlich, aus gut erkennbaren Gründen, vom Es herbeigeführt worden
wäre.‘ Nun kennen wir auch die Entstehungsbedingungen der Fehlgeburt.
Der Kropf ist ein phantasiertes Kind.. Groddeck wurde ihn los ohne
Operation, ohne Behandlung, ohne Jod und Thyreoiden, auf denkbar einfachste
Weise. Er verschwand, weil das Es einsehen lernte und das Bewusstsein ein-
sehen lehrte, dass Groddeck wirklich wie jeder Mensch ein doppeltes Geschlechts-
wesen und -leben habe, es also unnötig sei, das handgreiflich durch eine Ge-
schwulst zu beweisen. Sic!!
Menschen, die ihre Mutter hassen, sind kinderlos, und das ist. so wahr,
dass man bei unfruchtbaren Eben ohne weiteres annehmen kann, einer von
beiden Teilen ist Feind seiner Mutter. Wer seine Mutter hasst, der fürchtet sich
vor dem eigenen Kinde, denn der Mensch lebt nach dem Satz: „Wie du mir, 80
ich dir!'* Was kann dieser ungelieuerliche Leitsatz, wenn er kinderlosen Ehe-
paaren vor Augen kommt, für niederdrückende Gedanken auslösen, sobald er
unkritisch als wahr genommen wird!
Da das Es symbolisch denkt, hier die tollsten Wortanklänge und Doppel.
sinnigkeiten angeblich zweckvoll ausnützt, kann es nicht wundernehmen, dass
für Groddeck die Nebenerscheinungen der Gravidität symbolische Wurzeln
haben. Der Zahnschmerz ist der unbewusste Wunsch, dass der Keim des Kindes
erkranken, sterben soll; die Übelkeit ist Wunsch und Versuch der Abtreibung.
6] Kritiken. 75
Ebenso symbolisiert sind Blutungen aller Art, unzeitgemässe Gebärmutterblutungen,
Blutungen aus Nase, Mund, After, Lungen. Besonders sinnreich ist die Erklä-
rung von Mastdarmwürmern, aus der Assoziation Wurm-Kind!!
Eine Frau bricht durch Ausgleiten den Arm, sieht gleichzeitig einen Korb
Spargel. Und die Groddecksche Erklärung? Ein wohl geluugener Versuch,
die schwankende Moral zu stützen, eine verdrängte Onanie-Phantasie!!
Kreuzschmerzen bei der Periode erleichtern der Frau den Widerstand gegen
ihre Begierde. In dem Worte Kreuz steckt das Mysterium der Christenheit, das
Os sacrum birgt das Problem der Mutter. Je schwerer der innere Konflikt des
Menschen ist, um so schwerer die Erkrankungen, die ja symbolisch den Konflikt
darstellen. So greift das Es zum Fieber, zur Lungenentzündung, zum Beinbruch,
zur Lähmung, zum Krebs, zur Schwindsucht. „Denn nur der stirbt, der sterben
will, dem das Leben unerträglich wurde.‘ Natürlich kann die Psychoanalyse
auch die Heilung von Wunden und organischen Erkrankungen beeinflussen.
Es mag an diesen Proben genug sein, obwohl die bekannten Dinge wie
Penisneid, Kastrationskomplex, Kindersexualität im Sinne der Psychoanalyse vom
Verfasser noch besonders monströs geschildert werden. Ernst kritisch zu seiner
Darstellung, die er an eine Freundin richtet, sich zu äussern, erscheint nicht an-
gebracht. Placzek, Berlin.
Karen Horney: Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes.
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse 1923. H. 1.
Die bekannte Tatsache, dass manch weibliches Wesen lieber als Manu ge-
boren sein möchte, fassen die Freudianer als zeitweiliges oder dauerndes Leiden
vieler weiblicher Personen, die im kindlichen oder reifen Alter stehen, und führen
sie zurück auf den Penısneid des kleinen Mädchens. Der Nichtbesitz eines
Penis, unannehmbar in der Vorstellung, schaffe passive, die Racheeinstellung gegen
den bevorzugten Mann aktive Kastrationsphantasie. Dass der Knabe beim Uri-
nieren sein Glied anfassen darf, wird als eine ihm erteilte Onanieerlanbnis auf-
gefasst. Da diese dem Mädchen verwehrt ist wegen andersartiger Uriniermög-
lichkeit, fühlt es sich benachteiligt, hierin wie in der Befriedigung gewisser anderer
Partialtriebe. Indem sie sich mit der Mutter identifiziert und den Vater zum
Liebesobjekt nimmt, wird sie bei Erkenntnis der Realitätsmöglichkeit schwer ent-
täuscht. Darauf wırd das oft so lärmend zur Schau getragene Männlichkeits-
verlangen dieser Mädchen und Frauen zurückgeführt, als Urgrund einer Neurose,
in der Vergewaltigungsphantasien dominieren. Auch der Wunsch nach einem
Kinde vom Vater ist bedeutsam. Verfasser glaubt aber nun als tiefere Wurzel
gewisser Zwangsneurosen eine Ablösung der Mutteridentifizierung durch eine
solche der Vateridentifizierung gefunden zu haben. ‚Den Vater spielen heisst
eben immer, irgendwie auch dıe Mutter begehren, also eine narzistische Regres-
sion zur homosexuellen Objektbesetzung, die Phantasie, die den Verlust des
männlichen Genitales einem Liebesakte des Vaters zuschreibt.‘“ Der Penisneid
bindert nicht eine starke, ganz weibliche Liebesbindung an den Vater und erst
das Scheitern am Ödipuskomplex führt zu der Abwendung von der eigenen Ge-
schlechtsrolle.
Referent möchte nicht unterlassen darauf hinzuweisen, dass der Gedanke
des Penisneides schon seinen Vorläufer in einer Grundanschanung des griechischen
Altertums hat, denn der Grieche sah im weiblichen Schosse nur fehlende, im
männlichen potenzierteste Reize. Placzek, Berlin.
Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Herausgegeben von Max Mar-
cuse. Verlag von Marcus und Weber, Bonn 1923.
Wenn man sich durch die Fülle des in diesem Werke dargebotenen Stoffes
hindurchgearbeitet hat, ist man für die unendliche Mühe dankbar, die der Heraus-
geber dabei auf sich genommen hat. Er hat den Begriff der Sexualwissenschaft
76 Kritiken. [7
in dem weitesten — und wohl auch tiefsten — Sinne genommen: nicht in dem-
jenigen eines besonderen Gegenstandsgebietes, sondern in demjenigen einer be-
sonderen geistigen, forschenden Einstellung, einer besonderen Blickrichtung auf
Leben und Gemeinschaft überhaupt. Alle Gebiete der Menschenkunde, des Geistes-
geschehens und der zwischenmenschlichen Ordnungen werden unter dem Gesichts-
punkt gewürdigt, wieweit Sexus und Eros an ihren Gestaltungen beteiligt sind.
So entstand ibm das Programm einer natur- und kulturwissenschaft-
lichen Geschlechtskunde des Menschen. Dieses Programm ist in einer
Reihe von — alphabetisch geordneten — Stichworten zur Durchführung ge-
kommen, in denen jeweils die Grundprobleme der einzelnen Forschungsgebiete
eingefangen sind. Die Bearbeitung dieser Stichworte hat der Herausgeber dann
denjenigen Gelehrten übertragen, die dem einzelnen Problem besonders nahestanden.
Und die Mannigfaltigkeit und — warum es verschweigen — zuweilen auch Bunt-
heit, ja Divergenz der eingegangenen Bearbeitungen hat er aladann mit unermüd-
licher Sorgfalt lexikographisch ergänzt und zu einem Ganzen zusammengesch weısst.
In kluger Vorsicht hat er den anderen möglichen Weg vermieden: den des syste-
matisch geordneten Handbuches. Zu einem solchen — das vielleicht didaktisch
zweckmässiger scheinen möchte — ist die Zeit und die Sexualwissenschaft
(wenigstens im Sinne des Begriffs, in dem sie hier gefasst wird) noch nicht reif;
die Divergenz der einzelnen Bearbeiter und der verschiedene Stand der Furschung
an den Teilproblemen, ja auch die Heterogeneität der Probleme selber, hätte not-
wendigerweise den systematischen Rahmen sprengen müssen. Der enzyklopädische
hingegen hält das Ganze dort — wenn auch manchmal etwas locker und äusser-
lich — innerhalb einer Einheit zusammen.
Das Werk hat zwei grosse Vorzüge: es ist interessant, und es hat ein
— in der Sexuologie leider ungewöhnliches — hohes Niveau. Kein Forscher,
der es liest, wird mit allem und jedem einverstanden sein; aber keiner wird
auch ohne Anregungen von ihm scheiden. Diese beiden Eigenschaften sind in den
Persönlichkeiten der vom Herausgeber ausgewählten Mitarbeiter ebensu begründet
wie in der Art, wie er einen jeden derselben gerade mit denjenigen Problem-
bearbeitungen betraut hat, die neben der Sache auch das Forscherprofil des Be-
arbeiter hervortreten liessen. Mitarbeiter wie Leopold v. Wiese, Vier-
kandt, Sudhoff, Posner, Mittermaier, Fürbringer, Freud, Birn-
baum, Elster, F. Giese, Ph. Kuhn, W. Liepmann, Hammerschlag,
Knud Sand, Siegel, Bovensiepen und 'limerding, wie Agnes Bluhm
und Else Voigtländer berechtigen ja zu bedeutenden Erwartungen. Diese Er-
wartungen werden auch kaum irgendwie enttäuscht. Für den Referenten waren
die anthropologisch-ethnologischen Arbeiten v. Reitzensteins in all ihrer gegen-
wärtigen Aktualität ein besonderer Genuss.
Alles in allem: Referent glaubt, dass die Sexualwissenschaft mit diesem
Buche ein Werk erhalten hat, das ihrer würdig ist. Kronfeld, Berlin.
Ad. Czerny und A. Keller (Berlin): Des Kindes Ernährung, Ernährungs-
störungen und Ernährungstherapie. Zweite vollkommen umgearbeitete
Auflage. I. Bd., I. Teil. 6888. Grundpreis 36.— Mk. Fr. Deuticke, Wien 1923.
Seit die 1. Lieferung der 1. Auflage erschienen ist, ist über ein halbes
Menschenalter verflossen. In diese Zeit fällt für die Kinderheilkunde eine be-
sonders rege und fruchtbare Forscherarbeit, grossenteils aus der Schule der Ver-
fasser. Wenn auch, wie die Einleitung zur 2. Auflage hervorhebt, die Kinder-
heilkunde von einer einheitlichen Auffassung des Ernährungsproblems leider noch
weit entfernt ist, so bat doch in vielen Teilfragen eine Klärung stattgefunden.
Die Verfasser erwarten eine Förderung der gegenseitigen Vorständigung gerade
dadurch, dass sie in der vorliegenden Auflage ihre Erfahrungen von neuem be-
gründen. Der vorliegende Abschnitt enthält die „Ernährung des gesunden Kindes“.
Hoffen wir, dass das mit Spannung erwartete Werk bald vollständig vorliegt.
G. Tugendreich, Berlin,
8] Kritiken. 77
Josef K. Friedjung (Wien): Die kindliche Sexualität und ihre Be-
deutung für Erziehung und ärztliche Praxis. 37 S. Verlag von Julius
Springer, Berlin 1923.
Das Schriftchen, Sonderabdruck aus dem 24. Bande der Ergebnisse der
inneren Medizin und Kinderheilkunde, führt in vortrefflicher Weise in die ja
gegenwärtig viel erörterten Fragen der kindlichen Sexualität ein. Anerkennens-
wert ist der massvolle vermittelnde Standpunkt des Verfassers, der zwar Freu-
dianer ist, aber in der vorliegenden Arbeit nur ganz gesicherte Ergebnisse der
Freudschen Forschung anführt.
Fasst man mit Freud den Begriff der Sexualität so, dass er alle lust-
betonten Triebregungen, die nicht dem Zwecke der Selbsterbaltung dienen, um-
fasst, so lassen sich unstreitig schon im frühesten Kindesalter sexuelle Regungen
feststellen, die z. T. wohl schon intrauterin erworben sind. Dahin zählt das
Lutschen zum Beispiel, das Lustgefühl beim Gestreicheltwerden u. a. mehr. Solche
„Partialtriebe‘“ dominieren, bis die Geschlechtsreife den „Primat der Genitalzonen‘“
aufstellt. Dem Kinde kann jede Stelle seines Körpers zur Vermittlerin von Lust-
empfindungen werden; es sucht diese Lustempfindungen auszulösen, da Scham,
Ekel, Moral, ja nach dem Alter des Kindes noch nicht aufgeführt oder erst in
Bildung begriffen sind.
Verfasser bespricht nach dieser Einführung die wichtigsten Sexualäusserungen
des Kindes gesondert: die Autoerotik (Lutschen, Haut-, Analerotik, Onanie),
die Heteroerotik mit der dem Kindesalter eigentümlichen Objektwahl (Eltern,
Ödipuskomplex), das psychosexuelle Verhalten.
Der zweite Abschnitt behandelt — etwas zu knapp — die Aufgaben der
Erziehung, der dritte: ärztliche Gesichtspunkte. Die Onanie wird als unschädlich
bezeichnet; gefährlich ist nur die von Erziehern gezüchtete Furcht vor der Onanie.
Schliesslich wird dem Schularzte in allen diesen Fragen eine führende Rolle zu-
gesprochen. G. Tugendreich, Berlin.
Harry Benjamin: The Steinach-ÖOperation. Report of 22 cases with
endokrine interpretation. (Bericht über 22 Fälle von Steinach- Operation
mit Erklärung der Inkretion.) Endokrinologie. Bd. VI. Nr. 6. 1922.
Als Steinach-Operation wird die Unterbindung des Ductus deferens mit
Vasektomie bezeichnet. 6 Monate nach der Operation fanden sich bei 22 Patienten
folgende Ergebnisse: Von 6 keine Angaben, bei 9 mehr oder minder grosse Besse-
rung des Zustandes, 4 zweifelhaft bzw. subjektiv gebessert, 3 negativ. Die Puber-
tätsdrüse soll zu stärkerer Tätigkeit angeregt werden, ebenso bzw. durch sie die
Keindrüsen und durch diese die Schilddrüse. Fritz Levy, Berlin.
I. L. Stanley: An Analysis of one thousand testicular substance im-
plantations. (Analyse über 1090 Hodensubstanzimplantationen). Endokrino-
logie. Bd. VI. Nr. 6. 1922.
Die besten Wirkungen beobaclıtete Verfasser in Fällen von allgemeiner
Schwäche, Rheumatismus, Acne vulgaris, Neurasthenie, sexueller Schwäche, Astlıma
und Senilität. Hier wurde der Zustand .zahlreicher Patienten wesentlich gebessert.
Fritz Levy, Berlin.
Max Thoreck: The present position of testicle Transplantation in
surgical practice. Appreliminary report of a new method. (Der gegen-
wärtige Stand der Hodentransplantation in der chirurgischen Praxis. Vor-
läufiger Bericht über eine neue Methode.) Endokrinologie. Bd. VI. Nr, 6.
Die histologische Untersuchung von nach bisherigen Methoden transplan-
tierten Hoden ergab, dass die Stücke nicht vaskularisiert waren und daher all-
mählich einer Resorption anheimfielen. Verfasser hat eine neue Technik, die
78 Kritiken. [9
sog. Laternenmethode, über die er Näheres an anderer Stelle mitteilen will,
gefunden, mit deren Hilfe es ihm gelungen ist, Transplantate von Hoden zu er-
halten, die vaskularisiert wurden. Das Keimepithel ging zugrunde, die Zwischen-
zellen wucherten erheblich. Es gelang so, Hoden von Menschen und höheren
Affen auf Menschen zu transplantieren. Nach der Transplantation fand sich eine
Beseitigung der Ausfallserecheinungen, die infolge Fehlens oder Unzulänglichkeit
der Hoden vorher bestanden hatten. Fritz Levy. Berlin.
M. Zawadowsky (Moskau): Das Geschlecht und die Entwicklung der
Geschlechtsmerkmale. Zur Analyse der Formenbildung bei Tieren. (In
russischer Sprache mit kurzem deutschen Anhange.) 1922.
Prof. Zawado wsk y schrieb dieses Buch während der russischen Bürger-
kriege in der Einöde von Askania-Nova, teilweise buchstäblich zwischen den
Fronten zweier feindlicher Armeen. Es ist tief zu beklagen, daß ıhm dabei
ein Teil seines wertvollen Materiales vernichtet wurde, der so nur in schema-
tischer Art reproduziert werden konnte. Es ist ferner bedauerlich, dass Z. nicht
in der Lage war, die seit 1914 erschienene Weltliteratur — mit Ausnahme
einiger Arbeiten, die ihm 1920 aus kurzen Referaten bekannt wurden — zu
benutzen. Um so grösser ist deshalb für die Wissenschaft der Wert seiner
selbständigen Forschung, deren Resultate sich tatsächlich mit den unabhängig
davon ausserhalb Russlands entstandenen in weitem Masse decken.
Zwei Fragen werden ausführlich untersucht: erstens die der Bedeutung
der innersekretorischen Drüsen im Prozess der Morphogenese, und zweitens
die der Geschlechtsbestiimmung, wobei das Geschlechtsproblem als spezieller
Teil der Morphogenese behandelt wird. Die Beziehungen zwischen Hoden
bzw. Eierstock und Morphogenese werden an sehr zahlreichen Tierexperimenten
nachgeprüft, besonders die Entstehung der sekundären Geschlechtsmerkmale
beim Huhn. Z. teilt alle Merkmale der Hühnerorganisation vom morphogene-
tischen Standpunkte in drei Gruppen ein:
1. Asexuelle oder geschlechtslose Merkmale (Gattungsmerkmale'.
Sie entwickeln sich unabhängig von den Geschlechtshormonen.
2. Pseudosexucelle oder „unabhängige“ Merkmale (pseudogeschlechtliche
Merkmale).
Sie können sich ohne Mitwirkung der Geschlechtsdrüsenhormone ent-
wickeln, doch kann ihre Entwicklung aufgehalten oder durch das Hormon der
(Greschlechtsdrüse des einen Geschlechts modifiziert werden (z. B. das Hahnen-
gefieder und die Sporen können durch das Hormon des Eierstocks in ihrer
Entwicklung angehalten werden).
3. Sexuelle oder „abhängige“ Geschlechtsmerkmale (eigentliche Geschlechts-
merkmale).
Die Entwicklung derselben ist nur unter Mitwirkung des Geschlechtsdrüsen-
hormons möglich.
Ferner folgert Z. aus seinen Versuchen, dass dese Thesen sich auch auf
andere Vögel ausdehnen lassen. Daraus folgert er die allgemeine Gültigkeit
des Satzes: „Die Sekretion des Hodens sowie des Eierstocks ist spezifisch. Das
Maskulinisin M (Hormon des Hodens) und das Feminisin F (Hormon des Eier-
stocks) produzieren qualitativ verschiedene Merkmale und unterscheiden sich
selbst qualitativ.‘
Wenn nun die Sexualhormone ungleichartig sind, so bestände doch die
Möglichkeit, dass auch die die Merkmale erzeugenden Gewebe beim männlichen
und weiblichen Tiere ungleich sind. Da aber die Kastraten von beiderlei Ge
schlecht“, also nach Wegfall der differenzierenden Sexualhormone, sich genau
gleichen, so ınuss man logischerweise mit Z. zu dem Schluss gelangen, dass
durch die Gleichheit bei der „Geschlechtslosigkeit‘‘ bewiesen wird, dass das
männliche und das weibliche Soma äquipotentiell sind. Einige geringe Ab-
10) Kritiken. 79
weichungen zwischen kastrierten Männchen und Weibchen z. B. in der Grösse
erklärt Z. zwanglos damit, dass die Kastrationen ja bereits an immerhin wenn
auch gering geschlechtlich differenziertem Gewebe vorgenommen worden sind;
da die Operationen im Alter von vier Wochen vorgenommen wurden, kann
eine absolute Identität der Kastraten niaht verlangt werden.
Sexuelle Umstimmungen im Sinne Steinachs gelangen Zawadowsky
sowohl an Hähnen durch Implantation von Ovarien wie auch an Hennen durch
Implantation von Hoden. Bei einem Hahn war die Adoption des implantierten
Ovariums so vollkommen, dass es im Bereiche des Körpers zur Bildung von Eiern
kam. Die bei Hennen unter die Haut verpflanzten Hoden heilten tadellos ein, die
arterielle wie venöse Gefässversorgung war vorzüglich. In den Hoden bildeten
sich eine Menge sehr beweglicher Spermien. Der histologische Bau der Trans-
plantate unterschied sich durch nichts an den normalen Geweben.
Abgesehen von den oben erwähnten geringen Unterschieden zwischen den
Kastraten beiderlei Herkunft, sind die Übereinstimmungen sowohl der Kastraten
als auch diejenigen der Geschlechtstiere mit den „künstlichen“ Geschlechtstieren
so gross, dass man trotzdem zu dem Schlusse gelangt, dass beide Geschlechter
äguipotentielle Gewebe haben. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass
z. B.sowohl kastrierte Hähne wie Hennen zweimal im Jahre sich mausern, während
die normalen Geschlechtstiere sich nur einmal mausern.
Eigenartige Einblicke in die Geschlechtsentwicklung zeigten Hennen mit
gänzlich entferntem Eierstock. Man kann bei ihnen nach vier bis fünf Monaten
eine Entwicklung des Kopfschmucks, später eine solche der Stimme und des
Instinktes des Hahnes beobachten.
„Abhängige* männliche Merkmale verlangen nun aber ein Vorhandensein von
M.; dies muss sich also vom rechten Eierstock absondern können, der beim
normalen Huhn fehlt, beim kastrierten jedoch entwickelt wird; also ist M auch
im normalen Huhn ausser F vorhanden.
Zur Prüfung der Frage des hier in die Erscheinung tretenden Zusammen-
wirkens von F und M und zur Prüfung und Begründung der Vorstellung von der
hemmenden Wirkung von F auf M wurden Versuche zur Schaffung künstlicher
Hermaphroditen vorgenommen durch Transplantation von Ovarien in normale und
unvollkommen kastrierte Hähne sowie von Hoden in normale und unvollkommen
kastrierte Hennen. Die Ergebnisse — auch im einzelnen sehr interessant —
sprechen deutlich von einem Hervortreten der morphogenen Funktion des Eier-
stocks, selbst bei Vorhandensein des funktionierenden generativen Teils des Hodens.
Bei Vorhandenseins des Eierstocks äussert der Hoden seine morphogene Funktion
vicht, d. h. also, dass das (Vogel)Weibchen F und M enthalten kann, nur dass M
bei Vorhandensein von F nicht hervortritt.
Die gesamten Resultate dieser Versuche werden vom Verfasser in sehr an-
sprechenden „morphogenetischen Formeln“ zusammengefasst, deren Studium jedoch
nur im Original erfolgen kanu. Ausgehend von den morphogenetischen Formeln
sieht der Verfasser in Heterotransplantationsversuchen einen der fruchtbarsten
Wege zur Analyse der Identitäten und Differenzen der am Prozesse der Form-
bildung teilnehmenden Komponenten. Viele natürliche Beobachtungen lassen sich
übrigens im ungezwungenen Einklang mit den experimentellen Ergebnissen des
Verfassers bringen, so z. B. die Annahme des Hahbnengefieders als Hervortreten
der pseudosexuellen Merkmale im Zusammenhang mit dem Aufhören oder den
Defekten innersekretorischen Funktion des Eierstocks u. a. m.
Des Weiteren wendet sich der Verfasser der Frage zu, ob die an Vögeln
gefundenen Ergebnisse sich auch auf die Säugetiere ausdehnen lassen. Das Material
von Askania-Nova war hierzu durch seinen auffallenden geschlechtlichen
Dimorphismus besonders geeignet. Doch konnten die Untersuchungen — ebenso
wie diejenigen von Steinach — nicht alle Elemente dieser Frage aufzeigen.
Doch glaubt sich der Verfasser für berechtigt zu halten, aus seinen Implantations-
versuchen an Säugetieren den Schluss zu ziehen, dass auch die Gewebe der
80 Kritiken. [il
Säugetiere äquipotentiell angelegt sind und nur durch Einwirkung eines spezifischen
Geschlechtshormons differenziert werden. Doch hält er trotz anscheinender Be-
gründung den Schluss für verfrüht, dass das Säugetierweibchen wie das Vogel-
weibchen F und M enthält und F das Hervortreten von M hindert. So bält er
die Bisexualität des Säugetierweibchens für wenig wahrscheinlich. Doch scheinen
ihm auch für die gegenteilige Annahme beim Männchen die Beweise zu fehlen.
Er hält im Gegenteil das Säugetiermännchen für wahrscheinlich bisexuell.
Das bemerkenswerte Vorherrschen der hebridologischen Analyse veranlasst
den Verfasser, das Fazit der Untersuchungen mit der abstrakten Symbolik der
Genetik zu konfrontieren. Im folgenden seien die sehr bemerkenswerten Tabellen
des Verfassers im Wortlaut angegeben:
Thesen
pt
e
w
- Feminisin F beim Weibchen;
der Morphogenese.
Die Summe der Geschlechtsmerkmale
steht in morphogenetischer Abhängig-
keit vom Geschlechtshormon; vom
vom
Maskulinisin M beim Männchen.
. Bei Vögeln ist, im Sinne des Hormon-
inhaltes, das eine der Geschlechter
bisexuell F(M), das andere mono-
sexuell M.
Bisexuell ist bei Hühnern das
Weibchen.
.Das Feminisin hindert das Hervor-
treten des Maskulinisins.
. Das Feminiein und das Maskulinisin
verschiedener Hühnerrassen (und
anderer Vögel) ist augenscheinlich
identisch.
F =F =F,
M&M Mier
. Bei ein und derselben Rasse ist das
Soma des Männchens demjenigen des
Weibchens gleichpotential
1°
Unter dem Einfluss von M diffe-
renziert das Soma zu den Geschlechts-
merkmalen des Männchens hin, unter
dem Einfluss von F zu denjenigen
des Weibchens.
X+M—> cd
X+F(M)—- ọọ
. Das Soma des Männchens einer Rasse
ist mit dem Soma des Weibchens einer
anderen Rasse nicht identisch, d. h.
X = X,
der Hebridologie.
1. Die Summe der Geschlechtsmerkmale
kann mit einem Symbol ausgedrückt
werden.
F — Ọ und f oder M — Jg.
2. Das eine der Geschlechter ist hetero-
sigotisch fF, das andere homosigo-
tisch ff.
Heterosigotisch ist bei Hühnern
das Weibchen.
3. Das geschlechtliche „Gen“ des Weib-
chens =F ist epistatisch im Ver-
hältnis zum „Gen“ des Männchens
=f.
4. Bei Rassenkreuzung werden die „Ge-
schlechtsgene“ verschiedener Rassen
in den hebridologischen Formeln mit
gleichen Symbolen ausgedrückt.
F=F,.=F,
f=f, =f
5. Bei Kreuzung des Männchens und
Weibchens einer Rasse ist es nicht
erforderlich, die sekundären Ge-
schlechtsmerkmale des Männchens
und Weibchens in besonderen Sym-
bolen auszudrücken.
CH
. Bei Kreuzung des Männchens und
Weibchens verschiedener Rassen sind
auch die sekundären Geschlechts-
merkmale in besonderen Symbolen
zum Ausdruck zu bringen.
21] Kritiken. 81
Der Parallelismus in den Angaben der morphogenetischen Analyse und der
Hebridologie ist derart frappant und überraschend vollkommen, dass wir in den
Angaben der Morphogenese Hinweise auf einen sich hinter den abstrakten Symbolen
der Genetik verbergenden konkreten Inhalt zu schliessen bereit sind. Der Ver-
fasser ersieht aus seinen Versuchen Hinweise darauf, dass hinter den Symbolen
der „Geschlechtsgene* F und f die Geschlechtshormone Feminisin und Maskulinisin
zu suchen sind. Der Verfasser glaubt meines Erachtens mit Recht, dass seine
Lösung des Geschlechtsproblems der Wahrheit nahe liegt, da eine richtige Theorie
immer die Probe besteht, wenn sie mit verschiedenen Methoden der Prüfung unter-
worfen wird. Er ist der Meinung, dass auch die Genetik in einigen Fällen als
Leiter der Lehre von der Formenbildung und der Physiologie fungieren kann. Er
lehnt jedoch ferner als Illusion ab, dass alle „Gene“ der Genetiker ihren physio-
logisch-chemischen Inhalt finden, der jedoch auch nicht hinter allen Symbolen der
Hebridologen zu finden ist. Arnold Hirsch, Berlin.
J. Rutgers: Das Sexualleben in seiner biologischen Bedeutung als ein
Hauptfaktor der Lebensenergie für Mann und Weib, für die Pflanzen
und für die Tiere. Verlag von R. A. Giesecke, Dresden.
Wenn nicht die ersten Lieferungen des sechsbändigen Werkes an dieser Stelle
besprochen wären (Band IX, Heft 1), so würde ich mich kaum veranlasst gesehen
haben, hier über Heft V (Liebesleben) und VI. (Verstümmeltes Geschlechtsleben)
zu berichten. Lyrisch-sentimentale Sprache ist im allgemeinen kein Ausdrucks-
mittel für wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Wo der Versuch zu neuen
biologischen Auffassungen gemacht wird, sind sie durchweg recht phantastisch
und wissenschaftlich bedenklich. Die beiden Hefte können nicht zur wissenschaft-
lichen Sexualliteratur gerechnet werden, sind auch den an diesen Fragen interessierten
Intellektuellen (für die sich der Autor seine Arbeit ebenfalls gedacht hat) nicht zu
empfehlen. Arnold Hirsch, Berlin.
Georg Flatau: Sexuelle Neurasthenie. Verlag von Fischers med. Buch-
handlung H. Kornfeld, Berlin 1923.
Ein Buch aus der Praxis für die Praxis, aber recht einseitig, was der Ver-
fasser ja auch keineswegs leugnet. Es berührt bei einer wissenschaftlichen Arbeit
peinlich, wenn ein wichtiger Zweig der Sexualforschung, die Psychoanalyse,
zum Teil nebensächlich erwähnt, zum grösseren und leider gerade wichtigsten Teile
überhaupt totgeschwiegen wird. Einspruch erheben muss ich aber vom frauenkund-
lichen Standpunkte dagegen, dass der Verfasser Kellnerinnen und Prostituierte in
einem Atemzuge als Paradigmata für sexuelle Exzesse nennt (Seite 96). Wenn
auch Kellnerinnen einen nicht geringen Prozentsatz der geheimen Prostituierten
auszumachen scheinen, so muss man besonders in der heutigen Zeit, wo viele
Frauen hart um ihre Existenz ringen müssen, sehr vorsichtig sein mit moralischen
Werturteilen über eine ganze doch durchaus einwandfreie Berufsklasse Die An-
schauungen desVerfassers über die psychischen Wurzeln der Sexualität bedürfen
dringend der Anpassung an die modernen Forschungsergebnisse.
Arnold Hirsch, Berlin.
August Forel: Gehirn und Seele. 13. durchgesehene und ergänzte Auflage.
Verlag von Alfred Kröner, Leipzig 1922.
Dreissig Jahre sind verflossen, seit Forel zum ersten Male auf der 66. Ver,
sammlung deutscher Naturforscher und Ärzte über Gehirn und Seele sprach,
fünfzehn Jahre, seit der verdiente Forscher diesen Vurtrag in der 11. Auflage
(1909) der modernen Forschung anpasste und in vielen durch die Semonschen
Gedankengänge (vor allem auch in der Terminologie, deren Kritik aber hier zu
weit führen würde) sehr geschickt ergänzte. Dem Werke, das nun nach weiteren
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 1/2. 6
82 Kritiken. [13
15 Jahren uns in der 13. Auflage vorliegt, ging dadurch zweifellos nichts von
seinem individuellen Charakter (und Wert!) verloren. Es kann als schönes Bei-
spiel dienen, wie unter Verzicht auf jedes kleinliche und rechthaberische Fest-
halten an der eigenen vorgefassten Meinung ein Forscher mit unbeirrbarer Wahr-
heitsliebe auch der Meinung seiner Gegner voll gerecht wird, und da, wo er sich
mit ihnen auseinandersetzt (Pater Wasmann), nie mit Wortbegriffen operiert, son-
dern nur aus der Summe des völlig gesicherten Erkenntnisschatzes mit strenger
Logik seine Schlüsse zieht.
Das Thema selbst beleuchtet der Verfasser von der physiologisch-psycho-
logischen, der entwicklungsgeschichtlich-biologischen, der experimentell-zoologi-
schen und der religiös-philosophischen Seite aus und kommt zu dem Schluss,
dass Körper und Geist, Gehirn und Seele untrennbar sind. Was aber geradezu
bewundernswert ist, der Verfasser weiss den gewaltigen Stoff auf 95 Seiten so
gründlich zu konzentrieren, dass man, am Schlusse angelangt, erstaunt ist, keine
Lücke gefunden zu haben. Arnold Hirsch, Berlin.
Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros. 182 S. Verlag von Georg
Müller, München 1922,
Es wurde und wird in diesen Tagen von Berufenen und Unberufenen gar
viel über Erotik und über den Eros geschrieben. Hier tritt Klages mit einem
Werke vor die Öffentlichkeit, das in mebr als einem Sinne der Beachtung auch
der Leute wert ist, die er selbst die „bücherschreibenden Sexusapostel“ nennt.
— Dieses Werk ist von der wissenschaftlichen Plattform aus schwer zu bewerten,
da es jede naturwissenschaftliche Grundlage und Methodik absichtlich überfliegt
und mit künstlerischem Schwunge zu einer Apologie und zugleich Apotheose des
Eros wird. Es haben natürlich schon vor ihm, namentlich Philosophen, den Eros
zu einer metaphysischen Angelegenheit gemacht, aber er weicht doch in vielem
von den Anschauungen, die hier schon Plato und neuerdings wieder Hans
Blüher entwickelten, nicht unwesentlich ab. Sexus (Gattungstrieb) und Eros
scheinen sich meist im Verhältnis einer gegenseitigen Störung zu befinden, wie
auch die höchste Verwirklichungsebene des Erotischen sich nicht mehr in der
Zweiheit, also an und mit den Partner, sondern in einem seelisch letztlich ein-
samen Zustand bestimmter Formung erweist, nämlich in der Ekstase.
Klages unterscheidet drei Formen der Ekstase: die heroische, die erotische
und die magische. Es ist sehr bedeutsam, was er über die bindende und ent-
bindende Gewalt des Rauschzustandes zu sagen weiss, dass nämlich der Rausch
nicht die Seele vom Leibe befreie, sondern vom Geiste; überhaupt bedeuten seine
klaren Feststellungen über das antithetische oft soger antinome Verhalten von
Geist und Seele, von Person und Individualität einen Fortschritt im psychologi-
stischen Sinne.
Für den Leser besonders reizvoll sind die aus Mythologie und Historie
herbeigeholten Materialien über die Feste und Kulte menschlicher Ekstase. Der
hier schon ziemlich angehäufte, aber nicht leicht zugängliche Stoff, kommt nicht
nur zu einer literarischen Überschau, sondern zugleich zu einer künstlerischen
Neuformung, deren sprachlicher Schwung zuweilen sich zur dithyrambischen Be-
wegung steigert. — Dieses Buch vom „weltenzeugenden Eros“ sei vor allem
auch den sexuologischen Zunftgenossen anempfohlen, denen es nicht schaden
kann, zuweilen daran erinnert zu werden, dass es durch Kunst und Intuition
hindurch auch einen Weg zur Wahrheit gibt, der zugleich meist der kürzere und
angenehmere ist. H. Ko erber, Berlin.
Rosa Mayreder: Geschlecht und Kultur.
In diesem bedeutsamen, 21 Bogen starken, bei Eugen Diederichs in Jona
soeben herausgebrachten Werk bringt die durch ihre früheren Arbeiten, nament-
lich durch das Buch „Zur Kritik der Weiblichkeit“ schon lange rühmlichst be-
14] Kritiken. 83
kannte Verfasserin eine Reihe gesammelter Essays über die Werte sozialer und
kultureller Art, soweit sie den Lebensformen der Geschlechter zugrunde liegen
oder durch die Geschlechtlichkeit abgeartet werden. Während ihre „Kritik der
Weiblichkeit“ von der Frage ausging, was das Weib seiner Natur nach sei, be-
handelt dieses Buch die Frage, was das Weib seiner Natur nach sein sollte. Dass
hierüber nach der Natur der allgemeinen gegenwärtigen Lage noch nichts End-
gültiges ausgesagt werden kann, da sich alle menschlichen Verhältnisse und Ein-
sichten wie in einem neuen Werden noch unentschieden gegeneinander bewegen,
ist ganz selbstverständlich. Die Behandlung der einzelnen Themen führt zu in
sich gesonderten abgeschlossenen Erörterungen, und umgreift dennoch die ge-
samte Problematik der geschlechtlichen Dinge, die gerade heute nach einer neuen
Orientierung drängen. An die Ausführungen über „Kultur im allgemeinen“ und
über „Zivilisation und Geschlecht“ sowie über die „Krise der Väterlichkeit“
schliessen sich Aufsätze über „Geschlecht und Sozialpolitik“, „sexuelle Lebens-
ideale“ wie auch über den „Weg der weiblichen Erotik“, „Wandlungen der Ehe“,
um mit einer Darstellung „vom Wesen der Liebe‘ wie in einem Dithyrambus zu
schliessen, der durch den feinen Geist, der unbestechlichen Kritik und der liebenden
Durchdringung dieses ewigen Stoffes ein neues Zeugnis von der hohen Bedeut-
samkeit dieser wortführenden Frau gibt. H. Koerber, Berlin.
Georg Cohn: Ethik und Soziologie. 2. Auflage. 316 S. 8. Grundzahl 10.
Verlag von Joh. Ambros. Barth, Leipzig 1923.
Lässt sich die Entwicklung der moralischen Phänomene und ein Urteil über
ihren Wert aus den Tatsachen der Soziologie ableiten? Wenn ja, wäre die Ethik
nur ein Teil der Soziologie, nicht eine selbständige Wissenschaft.. Es zeigt sich
aber, dass geschichtlich-induktive Erklärung der ethischen Phänomene zwar zu
ihrem Verständnis hilft, aber weder zu ihrer restlosen Erklärung noch gar zur
Abschätzung ihres Wertes. So wenig die blosse Produktionsweise des materiellen
Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebeusprozess überhaupt bedingt,
Recht und Moral der Gesellschaft bloss einen Ausdruck für die in ihr bestehenden
ökonomischen Zustände bilden, wie der sog. ökonomische Materialismus von
Marx wollte, so wenig lässt sich aus den soziologischen Tatsachen, selbst wenn
sie eindeutig festgestellt wären, die Summe der ethischen Phänomene reinlich als
Ergebnis ablesen. Das Werten ist subjektiv-autonom, und die Ethik hat ihre
eigenen Probleme wie z. B. das Verhältnis zwischen Norm und Wert, den Gegen-
satz der äusseren und inneren Welt, die sittlichen Konflikte und ihre Lösung,
das Risiko der Tat, die Freiheit des Willens, die Verantwortlichkeit, die Kategorie
des Guten und des Sollens. Um nun, wägend mit gerechten Händen, das Verhält-
nis zwischen Ethik und Soziologie festzustellen, hat der Verfasser sehr umfang-
reiche, dankenswerte Studien angestellt. Nach der griechischen Ethik erledigt er
die neuere mit Einschluss von Spinoza, Leibniz, Kant, dem Utilitarismus, ehe er
zur allgemeinen Kritik der normativen Ethik übergeht. Dann kommt in den
9 Kapiteln des zweiten Abschnitts (96—243) die soziologische Ethik (Saint Simon,
Comte); die organisch-biologische Gesellschafts- Auffassung tritt uns in Spencer
und Schäffle entgegen. Der Rassenkampftheorie schliesst sich eine Klassen-
kampftheorie (Marx) an. Die sog. hypnotische Gesellschaftsauffassung von Tarde
erklärt, die Gesellschaft das ist die Nachahmung, diese aber sei eine Art von
Somnambulismus. Danu versucht man wieder, die moralischen Vorstellungen in
ihrer psychologischen, geschichtlich-sozialen Entwicklung darzustellen. Statt des
Krieges aller gegen alle von Hobbes kommt mutual aid zur Abwechslung; diese
gegenseitige Hilfe soll sich nach Krapotkin als Entwicklungsfaktor von grösserer
Bedeutung als der Kampf ums Dasein erweisen. Der kurzen Kritik der sozio-
logischen Ethik (225—243) schliesst sich im dritten Abschnitt eine ausführliche
Betrachtung des Verhältnisses zwischen Ethik und Soziologie an (245—315). Es
ist selbstverständlich, dass der Verfasser auch zu Kants Ethik Stellung nimmt.
Gë
84 Kritiken. [15
Kant habe recht, wenn er das Gute an sich wertvoll nennt, wenn er von einem
Guten spricht, das nicht mit Rücksicht auf etwas anderes gut sei. Dagegen sei
es falsch, wenn Kant dies als einen kategorischen Imperativ formuliert. Was
für den Einzelnen gut ist, braucht es nicht für die Vielen zu sein. In bezug auf
die unabreissbare Freiheitslehre sagt der Verfasser: „Ia Wirklichkeit beruht die
traditionelle Zurechnungsiehre nicht auf der Freiheit des Willens, sondern im
Gegenteil auf der Verursachungafähigkeit des Willens. Die Freiheit des Willens
bedeutet, dass derselbe nicht nur als Wirkung, sondern auch als Ursache über
den Kausal-Zusammenhang emporgehoben ist; er ist Glied in einer Seite des
Daseins, wo Kausalerklärung keinen Sinn hat.* Freiheit bedeutet nicht Verant-
wortlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit, sondern Handeln auf eigene Gefahr. Auch
kann die Vorstellung von der Willensfreiheit damit zusammenhängen, dass wir
einfach die Motive nicht genügend kennen, die unseren Taten zugrunde liegen.
Der Verfasser ist mit den so mannigfachen Schicksalen seines Gegen-
standes in alter und neuer Zeit sehr gut vertraut, wie seine kritisch-historische
Darstellung zeigt; sie ist klar und ganz ohne Phrase, ohne die pathetische Wich-
tigtuerei, durch welche Ethiker so leicht zu ermüden pflegen. Wirkt das Buch
hierdurch sehr angenehm, so kommt als noch grösserer Vorzug, dass Georg
Cohn den Problemen reinlich und sehr gründlich zu Leibe geht. Dem steht
nicht entgegen, dass dem Verfasser zwischen mechanistischem und teleologischem
Werden kein absoluter Gegensatz besteht, wie denn das Kausalgesetz nicht die
Existenz der Dinge erklärt, sondern nur auf die gegenseitigen Beziehungen ihrer
einzelnen Teile zur Anwendung kommt. K. Bruchmann, Berlin.
Alfred Vierkandt: Gesellschaftslehre. Hauptprobleme der philosophischen
Soziologie. 442 S. V. 8%. Verlag von F. Enke, Stuttgart 1923.
Eine Gruppe ist ein Beieinander von Individuen, die innerlich mit einander
verknüpft und durch die mannigfaltigsten Wechselwirkungen verbunden sind.
Jede menschliche Gruppe unabhängig von ihrer Grösse und Bedeutung wird hier
behandelt. Diese Soziologie will hauptsächlich die Analyse des menschlichen
Zusammenlebens, dessen Erscheinungen sie beschreibt und zu dessen letzten noch
unterscheidbaren Tatbeständen samt deren innerem Wesen sie vordringt. Somit
will der Verfasser die angeborenen sozialen Triebe (doch ganz anders als Fourier
mit seinem Luxus-, Gruppen- und Serientrieb), ihre gegenseitige Beeinflussung
und Entwicklung feststellen, z. B. den Trieb der Gemeinschaft, Unterordnung,
Anerkennung, Macht, Besitzvermehrung, Solidarität; sodann die Bedeutung der
jedesmaligen Umwelt, wozu z. B. für den sittlich Handelnden auch der Druck
gehört, der wabrgenommen oder vorausgesetzt im Urteil der Zuschauer liegt. Die
angeborenen Triebe und deren Unterschied von geschichtlichen Beeinflussungen
werden analysiert, der berechnende Intellekt gegen das subintelligente Verhalten
abgeschätzt. Als Grundanschauung des Verfassers erschien mir etwa, dass das
ungeheure Müssen der Geschichte allgemeiner wirksam und mächtiger ist als
die Betätigung einer berechnenden Intelligenz, dass die natürlichen angeborenen
Triebe bestimmender sind als künstliche Veranstaltungen, das natürlich Ge-
wachsene als das künstlich Gemachte. Auf den Willen, sagt der geistvolle K. E.
v. Baer, wirkt eine Nötigung, die Menschen und Tiere drängt, für Erhaltung
ihres Selbst und ihrer Art zu sorgen. Diese Nötigung ist es, die wir Instinkt
nennen. Er ist Ausfluss aus dem Weltganzen und nicht aus körperlichen Ver-
hältnissen hervorgegangen. Wie die Tiere wunderbar in ihre Umwelt passen.
so sind die Menschen mit den Trieben ausgestattet, durch deren Entwicklung sie
zu den geschichtlichen Lebensformen fähig werden. Wie wir mit Kant die Natur
a priori als teleologisch sehen, so ist auch beim Menschen eine geheimnisvolle
Zweckmässigkeit mit seinen Trieben und mit dem sogenannten objektiven Geiste
(8. u.) verbunden. Freilich verkümmern diese Triebe auch mitunter, und der Ver-
fasser dürfte wohl zum Teil mit Schopenhauer übereinstimmen, der den Optimis-
16] : Kritiken. 85
mus einen Grundirrtum der Religionen und der Philosophie nennt, und dem diese
Weltansicht nicht bloss als eine absurde, sondern auch als eine wahrbaft ruch-
lose Denkungsart erscheint, weil bittrer Hohn über die namenlosen Leiden der
Menschheit. Jedenfalls sind die Erfahrungen der Geschichte weniger als je für
die Posuunen-Engel der sog. sittlichen Weltordnung ermutigend.
Wenngleich der primitive Mensch nicht ganz in der Gruppe aufgeht, so
werde doch die Einheitlichkeit der Persönlichkeit vollständig von der populären
Denkweise überschätzt. Der Mensch, so betont auch der Verfasser, ist durchaus
als Gruppenwesen zu betrachten. Gesellschaft und ihre Tatsachen sind unter
Voraussetzung eines rein rationalen und bewussten Verhaltens nicht begreifbar.
Vielmehr ist der Mensch ein Gebilde, das in den Hauptzügen durch die über-
individuellen Tendenzen der Gesellschaft gestaltet werde. Zu diesen gehört z. B.
die grosse Macht der Sitte. Wenn diese im Bereich des „objektiven Geistes“
liegt, so ist es sehr sachgemäss, dass der Verfasser diesem Begriff besondere
Sorgfalt widmet, wie schon vor etwa 60 Jahren Lazarus, der Begründer der
Völkerpsychologie, getan hat.
Nach der Einleitung’ behandelt das erste Kapitel Allgemeine Fragen (15—57),
das 2. die soziale Ausstattung des Menschen (Triebe, Instinkte, 58—178). das
3. die gesellschaftlichen Grundverbältnisse (178-294), das 4. die wichtigsten
historischen Formen der Gemeinschaft (Familie, Sippe, Stände, Klassen, politische
Parteien, Volk, Staat, 295—341); das 5. die Kollektiv-Phänomene der Gruppe
(Geist der Gruppe, Kollektiv- und Gruppenbewusstsein, die Eigenschaften der
Masse, 342—440). Für die Musterung der angeborenen sozialen Anlagen ist zu
beachten, dass sie häufig paarweise in gegensätzlicher Form auftraten; wie Selbst-
gefühl — Geborsamstrieb, Hilfstrieb — Kampftrieb, Geselligkeitstrieb — Trieb zu
Meiden. Wenn mit dem Wesen der Menschheit unmittelbar der Zustand der
Gemeinschaft gegeben und universell verbreitet ist, so beruht dieses Verhältnis
nur gewissermassen wie auf einem Vertrag, nämlich der Erwartung der Gegen-
seitigkeit. In Wahrheit ist es angeboren und subintelligent wirksam. Zuerst in
der Familie, von wo es zu Männerbünden und Berufsorganisationen, kulturellen
Einheiten, Ständen, Parteien, zum Staat fortschreitet.
Der Verfasser tritt oft weit verbreiteten Anschauungen entgegen. Soz. B.
dass Unterordnung ein Ergebnis der Furcht sei und nicht ohne sie denkbar. Im
Gegenteil ist zunächst an den Unterordnungstrieb zu denken, mit dem Furcht
und Anpassung sich freilich verbinden können. Die wesentliche Wurzel des Ge-
horsams bilde aber der angeborene Trieb dazu. Was ist denn nun Geist der
Gruppe, und wie steht es mit einem Kollektiv-Bewusstsein? Man nennt die
Gruppe mitunter gleichsam eine Person. Aber das Prädikat der Persönlichkeit
im Sinne von Einheit und Geschlossenheit soll der Gruppe und ihren seelischen
Äusserungen nicht beigelegt werden. Der Gruppengeist ist nicht etwas 'sub-
stanziell für sich Bestehendes.” Sondern das Wesen des Gruppengeistes ist nur
von aktueller und formaler Art. Es besteht in einer bestimmten Art zu denken,
zu fühlen, zu handeln und in dem Einfluss, den diese Art auf den Einzelnen in
dieser Richtung ausübt. Diese interindividuelle Kausalität entsteht aus dem Spiel
der Wechselwirkungen zwischen den Individuen. Kollektiv-Bewusstsein im
weitesten Sinne ist, jeder in mehreren Personen einer Gruppe vorhandene seelische
Zustand und jede derartige seelische Haltung oder deren Inhalt, wie z. B. ein
begeistertes Theater Publikum mit seinem Beifall, der einem Gesamtgefühl und
Gesamtwillen entspricht. Durch dieses Kollektiv-Bewusstsein wird nicht auf eine
mystische Substanz als seinen Urheber hingewiesen, ein Wesen, das ausserhalb
der Einzelnen und unabhängig von ihnen sein Dasein hätte, sondern nur auf eine
gemeinschaftliche Willensäusserung der Gruppe. Ein einziges Beispiel des ob-
jektiven Geistes sei genannt: die Fahne eines Regiments. Man denke, welche
geistigen Inhalte sie in sich verkörpert, was alle die aus diesem bunten Stück
Zeug herauslesen, die bereit waren und sind, ihr Blut für das teure Vaterland zu
opfern, alle, die es wahrhaft lieben. Wir sehen nicht nur über viel behandelte
Su Kritiken Ä : [17
Fragen einen reichen und anregenden Inhalt in dem Buche vor uns ausgebreitet,
sondern werden durch unermüdliches, sehr sorgfältiges psychologisches Uhnter-
scheiden und Analysieren angeregt, dem Verfasser zu folgen. Er bekennt, dass
` der Kollektivismus sicherlich die Gesellschaft am Leben erhält, wenn er auch
nicht unbedingt für die Steigerung ihres Gehalts sorgt. Einige Kritik über
„Arbeiter“ und Sozialismus s. zutreffend S. 312 f. 336 f. Angenehm fällt auch
die Benutzung langjähriger Lektüre auf. K. Bruchmanın.
Jul. Schultz: Die Philosophie am Scheidewege. Die Antinomie im Werten
und im Denken. 331 S. 80°, Felix Meiner, Leipzig 1922.
Der griechische Philosoph Protagoras hat ja schon gesagt, dass der Mensch
das Mass aller Dinge ist. Er bestimmt, was gut und schlecht, schön und häss-
lich, richtig und falsch, ja rechts und links, oben und unten ist. Vor welcher
Entscheidung steht denn hier die Philosophie? Es gibt wieder noch tiefgreifende
Unterschiede, die sich in den Jahrhunderten wirksam zeigen unter den Menschen,
die auf wichtige Fragen mit alternativen Antworten reägieren, die dann unwider-
leglich scheinen und sich gegenseitig ausschliessen. Der Verfasser, der schon
durch eine ganze Reihe philosophischer grösserer und kleinerer Arbeiten seinen
Beruf vollauf erwiesen hat, unterwirft jene Antinomien einer ungewöhnlich sorg-
fältigen und scharfsinnigen Prüfung, die für alle Denkfreunde und Weltbetrachter
vom grössten Interesse sein muss. Wir suchen in aller Lebensfülle zunächst wie
nach einem Polarstern nach überpersönlichen, objektiven, absoluten Werten: aber
ihrer zwei bieten sich dar, wie wenn es ein Doppelstern wäre. Ein überper-
sönlicher einwandfreier Wert scheint es, dus Gedeihen der Gruppe oder der volk-
lichen Art anzustreben. Da aber Arten auch vergehen, so bleibt mindestens
daneben die Fülle des Lebens selbst, der restlose Strom der Gestalten, sollte er
auch schnell wechseln. Wer diese blosse Gestaltenfülle als hohen Wert vorzöge,
den könnten wir einen Ästheten, Einfühler, Mimeten nennen, den anderen den
Zielstrebigen, Zweckhaften, Praktischen, dem das Gedeihen der volklichen Art am
höchsten ginge. Der schätzt die Erhaltungswerte, der Mimet den Formenreich-
tum. Diese Grundstimmung macht sich dem Leben gegenüber bemerkbar z. B.
in der Schätzung von Zahl und Mass, Zeit und Geld, Alter und Jugend, Arbeit
und Spiel, Zivilisation und Natur. So gibts auch zwei Ethiken, die Charakter-
und die Pflichtethik. Die Charakter-Ethik des sittlichen Seins bevorzugt der
Mimet, der Praktiker die Erhaltungs- oder Pflichtethik. An einer Prüfung des
Eudämonismus und Determinismus geht der Verfasser natürlich nicht vorüber.
Auch Metaphysiken gibt es im Grunde nur zwei. Der Ästhet bekennt sich zur
Mechanistik, der Praktische zum Vitalismus. Nach der mechanistischen Ansicht
ist die Welt präformiert, ihre Kräfte tragen im Grunde seelenhaften Charakter.
Einfühlend möchte der Ästhet alles Geschehen begreifen, mit dem All in eins
verschmelzen. Ist die Welt von ewig präformiert, so bedarf sie nicht eines
Werkmeisters an 1000 Stellen, der sie vitalistisch formt und leitet, der sich un-
unterbrochen das Zweckmässigste aussucht und die Entelechie als helfende Zu-
gabe benutzt, statt sich mit der ewig sinnvoll gearteten Präformiertheit der Welt
zu begnügen. Bei der Entscheidung für Vitalismus oder Mechanismus in der
Auffassung der Geschichte sieht der Mimet (und mit ihm der Verfasser) keinen
Grund über die uns bekannten seelischen Kräfte hinaus teleologische Prinzipien
des Geschehens anzunehmen. Auch hier gibt es keine zielstrebige Macht der
Entelechie, oder es ist unmöglich, sie zu beweisen. Wer sich nun für eine dieser
verschiedenen Alternativen entscheiden will, dürfte demgemäss auch, was für
unsere gesamte Weltanschauung sehr wichtig ist, zu einer Abschätzung dessen
gelangen, was wir glauben als unsere Zukunft betrachten zu müssen. Haben
wir uns eine Meinung über Selektion und ihre mannigfachen Versuche gebildet
und dem Verfasser (258 f.) zugestimmt, so werden wir zweifeln, dass der Kultur-
verlauf wirklich die Tendenz habe, Kraft und Begabung in jedem Volke allmäh-
18] Kritiken. 87
lich zu steigern, dass aus einer wilden Rasse eine hochtalentierte Sprungvariante
sich bildet. Auch befürchtet eine ganze Schule von Rasse-Ethikern von steigen-
der Zivilisation einen Verlust an Volksgesundheit, weil dabei der Kampf ums
Dasein gemildert wird (Säuglingsschutz, Tuberkulosebekämpfung usw.). Das Leben
werde nicht bloss glatter, sondern auch platter. Auch der Verfasser hat den
Glauben, dass die Neigung zur Erhaltung des Friedens zunehmen wird. Die
grossen Leistungen im Verkehr und allgemeiner Organisation werden noch steigen
Das soziale Zeitalter, das den Frieden vorziehen werde, werde vielleicht indivi-
duell geringeren Antrieb zur Arbeit fühlen, aber die Arbeitspflicht ausgestalten.
Wenn der Staat Fleiss und Sparsamkeit durch liebenswürdige Wegnahme von
Erbgut beantwortet, so wird das nicht ermuntern und anspornen. Vielleicht wird
auch eins von den Grundrechten: aus jedem kann alles werden, erst das ist
menschenwürdige Gleichheit. Die Bewohnbarkeit der Erde wird sehr verschieden
geschätzt; von 6 Milliarden (Lexis) wird sie auf 10—15 getrieben. Aber so zahm
könnte die Masse werden, dass für das gewöhnliche Leben auf Einpaukung des
Sittengesetzes verzichtet werden könnte. Gleichmässige Verteilung der Güter,
zahlreiche Versicherungen, ausgedehnte Hygiene u. a.m. vermindert die Reibungen
und die Anreizungen zu Verbrechen; der industrielle Ameisenmensch der Zukunft
hat sich etabliert. Die Zahl der Querköpfe, die sich um Metaphysik bekümmern,
hat stark abgenommen, die Vorliebe für diesen Sport hat sich stark verloren,
der Positivisınus beginnt sich anzumästen. Und was haut bei der stetigen Zu-
nahme des Industrialismus die Kunst noch zu sagen? Die Natur wird immer
mehr in ihrem Bestand von Pflanzen und Tieren beraubt und geschändet. Unsere
Nachkommen werden zwischen Stein, Stahl, Glas, Nutzgärten und Zierparken
wohnen. Sollte für eine Reihe von Verbrechen der Anlass wegfallen? Nun gut.
Wie wird man Ehe schätzen und behandeln? Die Kunst hat schon so viel wieder-
holt, was sie oft gesagt hat. Ist die Lyrik nicht endlich alle? Wird die Tragödie
nicht melır und mehr mit Ben Akiba abgeurteilt werden? Wird das Neue im
Bizarren, in dreistem Archaismus gesucht? Die kurzen Wachstumsjahre der
Menschheit, die wir Geschichte nennen, in einen unendlichen Fortschritt sich aus-
bilden zu lassen, ist unbewiesen oder gedankenlos, obgleich wir unter der Über-
fülle des Wissens ächzen. Aber die Herrschaft der Technik und die Zerstörung
der Natur sind so mächtig geworden, dass es uns schwer fällt, au etwas Besseres
zu glauben, selbst wenn es neu sein sollte. Sollte es nicht natürlich sein, bei
dem, was Wachstum hat, auch Abnahme und Absterben voraussehen zu müssen ?
Die Naturforscher sagen uns ja auch von der Entropie,;, wo die das Maximum
ihrer zulässigen Grösse erreicht hat, geschieht nichts mehr. Warum soll denn
nicht auch der Organismus der Kultur absterben ?
Zur speziell psychologischen Verhandlung ergreift der Verfasser das Wort
in der Schrift Jul. Schultz, Leib und Seele, Ein neuer Versuch die Er-
lebnisse mit leiblichen Vorgängen zu parallelisieren 1923. E. S. Mittler u. Sohn,
Berlin 124 S. 8. Wir heben daraus nur hervor, dass der Verfasser als die zwei
möglichen Ansichten über die Seele 1. die dualistische, indeterministische, den
Vitalismus, die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele nennt, 2. die monistische,
mechanistische, deterministische, den spiritualistischen Parallelismus, wonach jeder
seelische Vorgang mit einem leiblichen parallelisiert wird und umgekehrt. Die
Einzelseelen sind Besonderungen der Weltseele. Die leibliche Parallele und die
Psychologie des Denkens ruht wesentlich in Motorik. Eine Methode des Denkeus
könne motorische Gewohnheit sein. Soll denn aber schliesslich (mit dem Deter-
ministen) auch die höchste Geistestätigkeit sich als aus blinder Notwendigkeit
ergeben ? Wenn die tiefste Realität des Universums Seele ist und alles seelische
Tun aus der Allseele entspringt, so bringe der Einzelgeist Gestaltungen hervor,
die auf die erscheinende Umwelt eingestellt, ihr angepasst sind und uns dann
richtig, ästhetisch, vortrefflich heissen mögen. K. Bruchmann.
88 Kritiken. [19
J. Fröbes S.J.: Lehrbuch der experimentellen Psychologie. I. Bd. Zweite
und dritte Auflage. 630 S. 8°. Herder & Co., Freiburg i. Br.
Verfasser, Professor in Valkenburg (wohl im Südwesten), lässt sich nicht
nur über Ziele and Wege der empirischen Psychologie, sondern auch über die
psychophyaische Methodik aus (463f.). so dass ein lernbegieriger Leser recht vom
Anfang unterrichtet wird. Aber der Verfasser ist auch umsichtig und gründlich
und lässt nichts vermissen, was zur Sache gehört. Das ist ja nicht wenig, ob-
gleich die experimentelle Psychologie erst etwa seit 1890 sich lebhafter geregt
hat. Einzelne Fragen, die andauernd verschieden erörtert werden — und selbst
in der „exakten“ Psychologie sind es nicht wenig — wendet der Verfasser be-
sondere Aufmerksamkeit zu, so der Abschätzung der Assoziations-Psychologie.
Empfindung, Gefühl, Wahrnehmung (Vorstellung), Vergleichung, Assoziation, Ge-
danken bezeichnen ungefähr den wesentlichen Inhalt dieses ersten Bandes. Der
Leser wird nicht bloss eingeleitet, sondern gleich eindringlich unterrichtet. Vom
zweiten Band haben wir eine Darstellung der höheren Erkenntnisvorgänge, Ge-
mütsbewegungen, psychischer Abnormitäten, der Pathologie der Assoziationen,
wohl auch der Sprache zu erwarten. K. Bruch mann.
Oswald Bumke: Kultur und Entartung. Zweite umgearbeitete Auflage.
125 S. gr. 8°. Julius Springer, Berlin 1922.
Das Buch des Leipziger Professors scheint mir ausgezeichnet durch reiches
Wissen, Abwesenheit aller Phrase, klare Darstellung, treffendes Urteil, Besonnen-
heit der Schlussfolgerung. Er fragt natürlich nach Begriff und Tatsache der
Entartung. Gehört sie zu den deklamatorischen Redensarten? Wann spricht
man von Degeneration? Wenn die körperliche Tüchtigkeit oder die Kultur-
leistungen eines Volkes sinken, Verbrechen, Kinderlosigkeit und Selbstmord zu-
nehmen, Syphilis und Alkohol sich steigern, wenn jede folgende Generation
kränker oder schwächer ist als die vorhergehende, wenn nervöse Erkrankungen
bei der Übertragung von den Eltern auf die Kinder schwerer und häufiger
werden müssen. Erfolge Völkertod, so früge sich, ob aus natürlicher Schwäche,
oder aus willkürlicher Einschränkung. Dass trotz erreichter langdauernder Kultur
die Kinderzahl nıcht mit Notwendigkeit abnehme, lehren die Chinesen. Hier wie
bei anderen pathologischen Verhältnissen müsse gefragt werden, ob sie rein sozial
veranlasst seien. Ausser anderen Vorzügen hat Norwegen den Vorzug das einzige
Land zu sein, in dem die Selbstmorde seit den sechziger Jahren seltener werden.
Kommt sozialen Massregeln dabei einiges Verdienst zu? Der Arzt habe sich im
einzelnen Falle und grundsätzlich zu fragen, inwiefern erworbene (schlechte)
Eigenschaften erblich sind, und ob die Vererbung gewisser körperlicher und
geistiger Eigenschaften unvermeidlich ist und die Gesamtheit schädigt, welcher
Zusammenhang zwischen Mutation und Vererbung obwaltet. Nur die absolute
Zahl der Aufnahmen in Irrenanstalten sei feststehend (65—88). M. v. Gruber
leugnet Rassenschädigung durch Hygiene. Wer Nietzsches Reform-Pathetik und
seine Rassenretterei glaubt einbüssen zu müssen, hat vielleicht eine kleine Ent-
schädigung durch das dafür einzutauschende Permutationsspiel mit vier ihm ge-
läufigen Worten, wie: Die Dekadence des halkyonischen Ressentiments der Tar-
tüfferie, oder: die halkyonische Tartüfferie der Dekadence des Ressentiments.
Tatsächlich wissen wir über die oft behauptete Zunahme der Psychosen gar
nichts (88), ausser dem Einfluss durch die Dichtigkeit der Bevölkerung. Trotz
allem kann oder muss (wie schon oft) gefragt werden, ob es in der Geschichte
so etwas wie dauernden Fortschritt gıbt. Sollte die gewollte Beschränkung der
Kinderzahl in erfolgreicher Mehrheit einmal beliebt werden, so wäre das nicht
übel — falls es nicht bloss einseitige Mode wäre, sondern ein menschliches Ver-
fahren, bei dem das ungeheure Müssen der Geschichte einen Blick unter den Saum
ihres Mantels tun lässt. Allzu sicher können wir ja nie sehen, wenigstens, wenn
wir J. St. Mill glauben (Logik dt. v. Gomperz II. Bd. 1872, Drittes Buch,
20] Kritiken. 89
Kap. 21, S. 290, 291): Es gibt keinen Satz, von dem man behaupten kann, dass
ihn jedes menschliche Bewusstsein ewig und unwiderruflich glauben muss. Der
Verfasser aber weiss seinen Glauben an die Zukunft. mit guten wissenschaftlichen
Gründen zu stützen. RK Brochmann,
H. Driesch: Wissen und Denken. Ein Prolegomenon zu aller Philosophie.
152 S. 8°. Verlag von E. Reinicke, Leipzig 1922.
Jetzt, aber erst jetzt (heisst es S. 97) bedeutet uns das, womit Kant seine
Philosophie beginnt, etwas in gewissem Sinne Richtiges; es ist jedenfalls so, als
ob „Dinge“ da seien, welche das Gemüt affizieren; und das Gemüt verarbeitet
dann das ihm so dargebotene Material, weil es eine bestimmte Organisation be-
sitzt. Wir begreifen, dass der Verfasser einen allerersten Ausgang alles Philo-
sophierens will, wie man schon mitunter versuchte. Sucht nun der hocbgen.
Leser Philosophie, so frage er zuerst: was heisst wissen oder besser vielleicht:
„was beisst, ich weiss etwas?“ Es gibt gar kein Denken als einen bewusst er-
lebten Vorgang; es gibt nur Wissen als Besitzen, als Haben, oder, wenn man
will, als „Schauen“ (seit einiger Zeit sehr beliebt, auch als Schauung und in
fremdem Gewande von no&öma und no&sis). Verfasser setzt „Ich habe etwas“ als
wahren Ausgang alles Philosophierens; die Lehre vom Haben als einziger Ur,
Beziehungsart zwischen Ich und Etwas genügt für alle Teile der Philosophie (11).
Aber wir bleiben nicht auf der Stufe der Erkenntnis, die wir (S. 97) als eine
Stufe der Jetzt—Hier—So—Gehabtheit bezeichnet finden. Geht nun bei dieser
erkenntnistheoretischen Vorsicht etwa die interessante Metaphysik ganz verloren?
Nein; dadurch braucht die Natur nicht entgöttert zu werden. Aber Verfasser
bezeichnet sie noch besonders als hypothetisch. Aber doch ist Verfasser der
Meinung, dass es echte Wahrheit nur auf metapbysischem Boden geben kann (115)
dem Begriff nach. Aber Metaphysik kann nur ein Gefüge von Vermutungen sein,
denn der Schluss von der Folge auf den Grund ist nicht eindeutig, lässt viel-
mehr als sichere Aussage nur die eine zu, dass der Grund, d. h. das, was mit-
setzt, nicht ärmer an Mannigfaltigkeit, d. h. an Inhaltskennzeichnung, sein darf
als die Folge (137). Das Wirkliche ist 1. so geartet, dass es in Form des einzig-
artigen Ich (Ich habe, weiss etwas) von sich weiss; 2. erscheint in der Form
vieler Wissenssubjekte; 3. jeder Einzelwiesende weiss in der Form des habenden
Ich (139). K. Bruchmann.
“erh. Lehmann: Die Grundprobleme der Naturphilosophie. 79S. kl. 8°.
Verlag von W. Seifert, Stuttgart- Heilbronn 1923.
Wie die Natur als Stoff, Kraft, Leben zu begreifen sei, wird jetzt wieder
mit Vorliebe am Mechanismus und Vitalismus geprüft. Man kann es auch so
beantworten: Der Mechanismus in der Biologie ist ein methodisches Hilfsmittel,
und doch ist der Vitalismug, d. h. die Einsicht, dass sich die Zweckmässigkeit
mechanisch nicht erklären lässt, ein notwendiges wissenschaftliches Ergebnis.
Wie gelingt, wird sich fragen, das Leben aus anderen Grössen abzuleiten, ohne
die Zweckmässigkeit zu leugnen? Die „Zielstrebigkeit* ist kein Ersatz für sie,
sondern nur Verschleierung. Verfasser geht natürlich auf alte Fragen syste-
matisch zurück und auf ältere Vorgänger wie Schelling und Fechner. Wer für
diese Dinge Interesse hat, kann sich dem Heft oder seiner Fortsetzung zuwenden.
K. Bruchmann.
Leo N. Tolstoj: Tagebuch. 1. Bd. 1895—1899. Autorisierte, vollständige
Ausgabe von Ludwig Berndl. XII und 184 S. 8°. 2. Bd. von 1900-1903.
204 S. Die Tagebücher von 1900—1903 werden in deutscher Sprache zuerst
veröffentlicht. E. Diederichs, Jena 1923.
Dass jemand auf etwa 400 Seiten inmer intim und zugleich interessant
sei, ist nicht zu verlangen, zumal, wenn er schon viel geschrieben hat. Aber
90 Kritiken. [21
Tolstoj hat den Reiz, ein interessanter, vielseitiger, paradoxer und anscheinend
völlig ehrlicher Mensch zu sein. ' Ehrlich muss doch der Bekenner eigener Fehler
sein, wenn er nicht dabei wunderlich gelogen hat. Betroffen werden wir durch
die wiederholte Versicherung, er sei zwar nie boshaft gewesen, aber doch ein
Scheusal; als solches habe er zwei, drei Handlungen auf dem Gewissen; seinem
Charakter nach ein sehr böser Mensch, sehr stumpf für das Gute und müsse
darum grosse Anstrengungen machen, um nicht ein ganz abscheulicher Mensch
zu sein (II, 40. 165). Diesen Eindruck macht doch Tolstoj durchaus nicht.
Verblüffend ist auch, dass er oft Verfolgung zu leiden gewünscht habe. Das
bedeute, er sei faul gewesen, habe nicht arbeiten gewollt, wollte andere für sich
arbeiten lassen, damit sie das Quälen, er nur das Dulden zu besorgen hätte
(I, 5). An Gott glauben könne doch eigentlich nur bedeuten, daran zu glauben,
dass alles, was geschieht, gut sei, auch Leiden und Krankheit. Mit solchem
Glauben werde man stets heiter und gut sein. Vom Übel aber sei jener Glaube,
der ein blosses Fürwahrhalten sei (II, 87); ja eins von den zwei entsetzlichsten
Übeln unserer Zeit sei das kirchliche oder vielmehr dogmatische, supranaturalistische
Christentum, das dem Menschen von Kindheit an eingeimpft wird und ihn bis
zum Tode nicht mehr aus der Hypnose entlässt; das andere sei der physio-
logieche ... Materialismus (II, 64). Was für unglaubliche .. Absurditäten seien
nicht über den Text der hl. Schrift zusammengeredet und geschrieben worden
(I, 75)! Dasselbe gilt von den griechischen Tragikern, von Virgil, Shakespeare,
Goethe, Bach, Raffael und neueren Autoritäten. Aber dass auch die Anwendung
des Bittgebets ihre Schwierigkeiten habe, musste Tolstoj bemerken (II, 53).
Einmal dachte er über die Unsittlichkeit der Medizin nach (II, 124); z. B. die
Annahme der ärztlichen Hilfe, die nur dem Reichen zugänglich ist. Unsittlich
auch das Privileg aller Bequemlichkeiten und Genüsse des Lebens; aber dıe
höchste Unsittlichkeit ist das Privileg der Erhaltung und Verlängerung des
Lebens. Wenn uns nun aber an anderer Stelle (II, 115) gesagt wird: das Leben,
wie es auch sei, ist ein Gut, über das hinaus es kein grösseres gibt, ist es nicht
doch erlaubt, ärztliche Hilfe zur Verlängerung des Lebens zu brauchen, oder
muss man erst nachweisen (polizeilich oder notariell), dass Patient durch seinen
Reichtum durchaus nicht berechtigt ist, die ärztliche Hilfe nachzusuchen? Un-
sittlich sei. auch die Anordnung der Ärzte, dass der Kranke auf seine physischen
Funktionen achtgeben, d. h. er weniger geistig und mehr materiell leben, dass er
nicht denken, sich nicht aufregen, nicht arbeiten solle. Dagegen scheint Tolstoj
ohne Einschränkung eine sog. Patience zu legen (I, 118, 125); doch darf sich
niemand verbergen, dass ein ernsthafter Glaube an die Beweiskraft der Patience
für die Zukunft erheblichen Bedenken unterliegt. Etwa eindutzendmal spricht
Tolstoj über Frauen, Heirat, Liebe. Ich getraue mir nicht zu sagen, was er
eigentlich unter Keuschheit versteht. Zu den paradoxen Sprüngen gehört (I, 166)
„die Hauptursache der unglücklichen Ehen ist die Erziehung in dem Gedanken,
die Ehe sei dazu angetan, glücklich zu machen“. Zur Verhandlung unserer Tage
meldet sich eine Bemerkung vom Jahre 1903 (II, 155): „Der Irrtum des Feminis-
mus besteht darin, dass die Frauen genau dasselbe leisten wollen, was die Männer
eisten. Aber die Frauen mit ihren ganz besonderen Eigenschaften, sind ganz
landere Wesen als die Männer, und wenn sie sich vervollkommnen wollten,
müssten sie es nach ihrer besonderen Richtung hin tun. Was das für eine Richtung
ist, das weiss ich nicht ..... doch so viel ist gewiss, dass ihre Richtung eine
andere als die der Männer ist.“
„Für mich ist es vollkommen klar, dass das, was wir das Böse nennen,
nichts anderes ist als das Gute, dessen Wirkungen wir nur noch nicht sehen
(I, 32).“ Wäre, wenn wir wirklich einen Augenblick wieder mit diesem Gedanken
spielen wollten, nicht mindestens als böse zu beklagen, dass unzählige böse und
böseste Tatsachen als böso unaufgeklärt bleiben? Geniessen wir noch mit Tolstoj
die „wunderbaren Verse“ (II, 207):
22] Kritiken. 91
Das Väterlein hat angefangen zu ächzen,
Das Väterlein hat angefangen zu hüsteln,
Angetan mit dem Totenhemdlein
Wird es ruhen im Gräbelein.
»Wie reizend ist die Volkssprache! Wie bildlich, rührend und ernst.“
Endlos sind die Betrachtungen über „Kunst“. K. Bruchmann.
Richard Baerwald: Das weibliche Seelenleben und die Frage seiner
Gleichwertigkeit. 202 S. Felsenverlag, Buchenbach-Baden 1923.
In seinem Buche von angenehmer Darstellung vertritt der Verfasser An-
schauungen, die mehrfach an die von Gina Lombroso (s. d. Zeitschr. Bd. 9, S. 138) an-
klingen und mir das weibliche Wesen richtig zn sehen scheinen. Also sind die
Frauen durchaus nicht schlechter oder weniger wert als die Männer, sondern
ihrem Wesen nach anders, weil von der Natur für audere Zwecke bestimmt. Sie
haben keine so ausgeprägte Ichliebe wie die Männer (129, 171), sind vielmehr
altrozentrisch oder altruistisch (41, 69, 196). Sie übertreffen die Männer durch
Intuition (105 f.), die der Analyse und Reflexion gegenüber etwas Primitiveres
ist (107). In mancher Beziehung ist das weibliche Gehirn überhaupt ein „älterer
Typ“ (120), aber durchaus nicht weniger wert. „Die Natur gab dem Weibe ein
Mass von Geduld und Weisheit gegenüber allen Schicksalsschlägen, dass sie
sogar als das glücklichere Geschlecht zu betrachten ist“ (80/81). Zur Erklärung
ihres Wesens kommt auch die sog. Dissoziation der Hirnteile (92f.). Ist es denn
nicht sonderbar, dass die Weiber immer noch gar soviel Mühe auf Nachahmung
der Männer verwenden, z. B. in ihrer Schulbildung (118, 115, 137)? Sind die
Männer etwa so reizend? Das glauben sie ja selbst nicht. Verfasser rühmt, dass
die Frauen durch rasches Erfassen und Handeln den Männern überlegen sind.
Die erwähnte Eigenheit eines „älteren Typs“ werde kompensiert dureh mannig-
fach überlegene Eigenschaften. Ausserdem sind die Frauen (131) völlig konform
der Welt, wie sie sich nach Meinung des Verfassers zu gestalten im Be-
griff ist. Wenn die Organismen ihrer Umwelt und ihren Aufgaben ausge-
zeichnet angepasst sind, also der Welt verschieden gegenüberstehen, so ist es
unsinnig, zu glauben, dass aus jedem jedes werden kann. Es ist ja nicht wahr,
dass die Menschen gleich sind. Es sei erwähnt, dass Verfasser vom Frauen-
Stimmrecht noch Grosses erwartet (194, 171) und den Gedanken einer Probe-
Ehe streift. Noch schwieriger als dem Verfasser, ja aussichtslos, erscheint mir
die Einrichtung des Mutteramts, d. h. die staatliche Bezahlung der Frauen
als Mütter (175 ff.). Es mag sem, dass die seelische Veranlagung des Weıbes
keine ganz feste, naturgegebene Grösse sei und durch soziale Umstände mit-
bestimmt werde, so wäre das Mutteramt doch undenkbar ohne Aufsicht und
Mitbestimmung des Staates, also eine Einmischung in die Einzelheiten der Ehe,
die dem vermutlich nach wie vor widerstreben würde, obgleich gegen die schran-
kenlose Freiheit der Eheschliessung genug Bedenken geäussert worden sind.
K. Bruchmann.
Gustav Theodor Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode.
Achte Auflage. Verlag von Leopold Voss, Leipzig 1922.
Die tiefsinnigen Gedanken eines grossen Menschen, die hier in ihrem ur-
sprünglichen Gewande neu erscheinen, können die Feierstunden jedes Natur-
forschers bereichern und ihn über die materialistische Einstellung, zu der ihn
seine Arbeitsweisen unwillkürlich drängen, hinwegtragen.
Kronfeld, Berlin.
Kurt Heynicke: Der Weg zum Ich. Prien-Ob.-B. Anthropos Verlag 1922.
Eine in edler Sprache sich vortragende, etwas hymnische Ethik und Ver-
vollkommnungslehre aus der Feder des bekannten Dichters. Wissenschaftlich-
92 Kritiken. [23
philosophische Grundlegungen werden weder angestrebt, noch sind sie der Art
des Buches, das einen mehr künstlerisch-intuitiven Charakter trägt, angemessen.
Bei grosser Schönheit von Absicht und Form ist der Inhalt des Buches etwas
enttäuschend, das Triviale streifend. Kronfeld, Berlin.
M. Vaerting: Die weibliche Eigenart im Männerstaat und die männliche
Eigenart im Frauenstaat. @G. Braunsche Hofdruckerei und. Verlag, Karls-
ruhe in Baden 1923.
Das vorliegende Buch ist der erste Band einer „Neubegründung der Psycho-
logie von Mann und Weib“ von denselben Autoren, nämlich Dr. Mathilde
Vaerting und Dr. Mathias Vaerting. Es ist ein zeitgemässes Buch, das
hier vorliegt, das auf Grund umfassender historischer und soziologischer Studien
den Nachweis führen will, dass die heutige weibliche Eigenart in ihren Haupt-
linien durch den Männerstaat, d. h. durch die männliche Vorherrschaft bestimmt
wird, und dass es Zeiten und Völker gegeben hat, wo in genau umgekehrter
Weise zur Zeit der Frauenherrschaft die männliche Eigenart durch die Macht-
stellung der Frau tiefgehend beeinflusst wurde. Diese Machtstellung der Frau,
d. h. der Frauenstaat, war der ursprünglichere, der sich bei hochkultivierten
Völkern, z. B. den Ägyptern und Spartanern, noch zu historischen Zeiten nach-
weisen lässt und bei manchen wilden Völkerschaften heute noch mehr oder
weniger deutlich beobachtet werden kann,
Die Mitte zwischen diesen beiden genannten Extremen stellt derjenige Zu-
stand dar, bei dem Gleichberechtigung beider Geschlechter hinsichtlich des sexuellen,
sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens herrscht, ein Zustand, dem wir
ja heute ziemlich nahe gekommen sind. In diesem Umstande möchte ich auch
die Bedeutung des Buches erblicken, dessen Inhalt uns die geistigen und morali-
schen Bestrebungen der heutigen Zeit dem Verständnis näher bringt. In der Tat
kann es auch keinem Zweifel unterliegen, und darin muss man den Verfassern
unbedingt Recht geben, dass von der Machtstellung des einen Geschlechts in
weitestgehender Weise das Verhalten des anderen Geschlechts auf sämtlichen
Gebieten des sexuellen und sozialen Lebens, ja sogar seine Psychologie anhängig
ist. Wenn aber die Verfasser sogar die Ausbildung der Körperformen wie z. B.
kleineres Skelett, schwächere Muskeln, runde Formen, stärkere Behaarung am
Kopfe nur als Merkmale des beherrschten Geschlechts bei eingeschlechtlicher
Vorherrschaft des Mannes erklären, ja wenn sogar innerhalb kurzer Zeit solche
Wandlungen der Körperformen vor sich gehen lassen, wie sie an anderer Stelle
behaupten, so werden ihnen nur wenige hierin folgen können. Gewiss ist das
Schönheitsideal Wandlungen unterworfen und natürlich kann im Laufe von
mehreren Generationen eın gewisser Typ ın eınem Volke gezüchtet werden, näm-
lich theoretisch, aber nicht etwa in einem Zeitraum von 30 Jahren, wie die Ver-
fasser für Deutschland annehmen. Ganz besonders aber sind die Berichte von
Reisenden über fremde Völkerschaften mit Vorsicht zu beurteilen, die erfahrungs-
gemäss Dichtung und Wahrheit häufig ohne genügende Kritik vermischen. Das
gilt z. B. auch für die Schwierigkeit der Unterscheidung von Männern und
Weibern bei manchen Völkern. Die Verhüllung der Geschlechtsteile ist beim
Manne in der Tat notwendiger wie beim Weibe, aber nicht etwa, weil er ebenso-
viel oder mehr Schamgefühl als die Frau besitzt, und weil es „ihm kaum ange-
nehm sein kant, wenn seine geschlechtliche Erregung sogleich jedem deutlich
erkennbar wird“, sondern weil er einen Schutz gegen Verletzungen, z. B. bei der
Jagd im Urwald usw., braucht. Wenn die Verfasser aus der Tatsache, dass bei
manchen Völkern die Frauen alle harte Arbeit verrichten, den Schluss ziehen,
dass dort auch die Frauenherrschaft oder doch mindestens Gleichberechtigung
vorhanden sei, so ist der Schluss hinfällig, sie berufen sich hierbei unter anderem
auch auf die Eingeborenen von Chile. In der Tat verrichten dort die Frauen
die Hauptarbeit, aber nicht nur auf dem Felde, sondern auch im Hause am Herd
und am Webstuhl und doch sind die Männer die Herren und es besteht Viel-
24) Kritiken. 92
weiberei, wənn auch im beschränkten Masse und die Stämme und Ortschaften
werden von Häuptlingen geleitet.
Mit diesen Einwendungen möchte ich nur zum Ausdruck bringen, wie vor-
sichtig man in der Beurteilung und Deutung sowohl tatsächlicher Beobachtungen,
als auch aus der Literatur gesammelter Berichte sein muss, die oft genau den-
selben geringen Wert haben, wie Statistiken, die man zu Zwecken benützt, für
die sie gar nicht aufgestellt waren, eine Fehlerquelle übrigens, die die Verfasser
selbst sebr gut zu würdigen verstehen, wenn sie darauf hinweisen, wie die männer-
staatlich eingestellten Schriftsteller aller Zeiten dank ihrer einseitigen Einstellang
Sitten und Gewohnheiten der Völker oft falsch beurteilten. Mir scheint die jetzige
Zeit, die wir selbst mit erleben, mehr Beweise für den Grundgedanken der Ver-
fasser täglich vor Augen zu führen, als die ganze Literatur der Vergangenheit.
Die Erscheinungen der Jetztzeit aber können bei klarer Stellung und Erfassung
des Problems auch einwandsfrei untersucht werden und zu seiner Lösung bei-
tragen. Eins aber möchte ich noch zum Schluss hervorheben, dass auf Körper
und Seele von Mann uud Weib weit mehr als alle sozialen politischen und wirt-
schaftlichen Einrichtungen die vererbten und angeborenen Anlagen, in erster
Linie die mit der Fortpflanzung zusammenhängenden einwirken, ein Umstand,
den die Verfasser fast vollständig vergessen haben. Westenhöfer, Berlin.
Fritz Frank: Schutzengel oder Würgengel? Grundsätzliches zur Frage der
Neugeborenen. Verlag der Volkswart-Verlagsgesellschaft, Köln 1921.
Der bekannte sozialdemokratische Antrag im Reichstag auf Freigabe des
künstlichen Aborts veranlasst den Universitätsprofessor und Direktor der Pro-
vinzialfrauenklinik und Provinzialhebammenlehranstalt in Köln in einer Abhand-
lung, die sich auch an Laien, insbesondere an Frauen, Geistliche und Juristen
wendet, die Frage des künstlichen Aborts nach allen Richtungen hin zu be-
leuchten. Als einzig berechtigte Schwangerschaftsbeseitigung lässt er nur gelten
1. die Gefährdung der Mutter durch ein totes Ei; 2. Eileiterschwangerschaft und
Traubenmole und 3. Blutungen in der ersten Zeit. Zur Vornahme der künst-
lichen Unfruchtbarmachung des Weibes hat er sich noch nie veranlasst gesehen
und lässt deutlich durchblicken, dass er eine Indikation dafür nicht anerkennt,
zumal die Gefahren und Schädigungen für die Frau. oft sehr bedeutend sein
können. Als „positive Vorschläge‘ zur Verhütung des Geburtenrückgangs empfiehlt
Verfasser Aufklärung des Volks über das Glück und den Wert reichlichen Kinder-
segens, Hebung des Hebammenstandes, rücksichtslose Bestrafung aller Anpreisung
von Schwangerschaft verhütenden Mitteln, Errichtung möglichst zahlreicher Ent-
bindungsheime. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass diese vier positiven Vor-
schläge geeignet sein werden, die Geburtenzahl wesentlich zu erhöhen. Verfasser
schliesst mit dem Aufruf: „Helfet uns das Leben des Kindes schützen, helfet den
Frauen, die uns die deutschen Kinder schenken wollen, in wirksamer Weise!
Helfet uns zu Gott rufen, dass er uns mit einem physisch und moralisch starken
Geschlecht segne!“ Westenhöfer, Berlin.
Edmund Schopen: Die Reform der Ehe. Räeinlandverlag zu Köln 1921.
Nach Darlegungen der Ursachen des heutigen Zerfalls der Ehe und der ver-
schiedenen Reformversuche, wie der Zeitehe und der Mehrehe, zeigt Verfasser,
wie sich aus dem Wesen der Ehe zwei Vorbedingungen für ihre Gesundung und
Höchstentwicklung ergeben, nämlich richtige Gattenwahl und Konstanz der Liebe.
Ehe ohne Liebe ist unsittlich. Der Bürge einer sittlichen Ehe ist die Gattenwahl,
dann ist auch gleichzeitig die Gewähr gewonnen für Konstanz der Liebe. Die
höchste Liebesvereinigung zweier Menschen ist heilig und steht auf der zweiten
Stufe jener Skala, auf deren erster Stufe die höchste Liebesvereinigung mit Gott
steht. Daher hat die Ehe einen religiösen Charakter. Ein Eigentumsrecht der
Gatten aufeinander besteht nur solange, wie eine echte Ehe besteht. Ist die
Liebe erloschen, so besteht eine echte Ehe nicht mebr. Den Schluss des Heftes
bilden Germanenbibelworte über die Familie. Westenhöfer, Berlin.
94 Kritiken. [25
H. Freund: Hygiene der Ehe. Aus Natur und Geisteswelt. Bd. 643. Verlag
von B. G. Teubert, Leipzig- Berlin.
Freund gibt in diesem 112 Seiten starken Bande in sehr anschaulicher
Weise eine für den Laien bestimmte Einführung in alle die Fragen, die mit der
Hygiene der Ehe zusammenhängen. Die Vorbereitung der Geschlechter zur Ehe,
die Bedeutung der Geschlechtskrankheiten, Hygiene der Menstruation, der ausser-
eheliche und voreheliche Geschlechtsverkehr und sein Einfluss auf die Ehe, Gatten-
wahl, die Regulierung des Geschlechtsverkehrs unter Hinweis auf Malthus und
den Neomalthusianismus werden besprochen und ein eheliches Geburtenregulie-
rungsrecht verlangt. Ein umfangreicher Teil des Buches gilt der Hygiene der
Ehe bei Kranken. Ausführlicher als wohl sonst in Werken ähnlicher Art ist die
männliche Impotenz und die weibliche Frigidität besprochen. Aus jeder Seite
spricht der erfahrene Arzt und Berater. Für den Arzt bietet das Buch selbst-
verständlich nichts Neues, für den Laien dagegen ist es eine ganz vorzügliche
Einführung, dessen weiteste Verbreitung sehr zu wünschen ist.
E. Sachs, Berlin.
Eberhard Buchner: Ärzteund Kurpfuscher. Kulturhistorisch interessante
Dokumente aus alten deutschen Zeitungen. 329 S. Albert Langen, München
1922.
Nicht nur für den Arzt, sondern auch für den Kulturhistoriker ist dies
fleissige Werk eine Fundgrube des Wissens und der Unterhaltung: Was die
Menschheit des XVlI. und XVIlI. Jahrhunderts von wissenschaftlicher Medizin
und ärztlicher Praxis, Operationen, Kuren, Heilmitteln, Krankheiten gewusst oder
sich eingeredet hat, ist hier aus deutschen und fremden Zeitungen zusammen-
getragen. Quacksalberei und Wunderärzte, Impfung, Elektrizität, Magnetismus
und Hypnose, Bäder- und Heilquellen, Schwangerschaft, Niederkunft und Säug-
lingspflege, Anatomie, Tod und Scheintod, Abnormitäten und was sonst mit Heil-
kunde nur irgendwie zusammenhängt, zieht an unserem Auge vorüber: leider ist
es nicht nur entschwundene Vergangenheit, sondern manches spukt auch noch
heute, und so stellt das mühevolle Buch keinen ganz überflüssigen Beitrag zur
Kenntnis menschlicher Verirrungen und des Aberglaubens dar.
G. Mamlock, Berlin.
Dr. Karl Rosenberger: Die Stationsschwester. Ein Führer durch die
praktische Tätigkeit der Krankenhausschwester. Verlag von Julius Springer,
Berlin 1923.
Mit diesem Buch ist einem grossen Mangel in der Literatur der Kranken-
pflege abgeholfen, indem nunmehr neben den üblichen Schwestern-Lehrbüchern
für Unterrichtszwecke auch der im Berufe fortgeschrittenen Schwester ein Leit-
faden an die Hand gegeben ist, welcher sie in Zweifelsfällen unterrichtet, die
Lücken ibres Wissens ausfüllt und ihr zur Kontrolle ihres Handelns dient. Der
Referent vermisst die gerade für die Stationsschwester so nötige Technik der Koch-
salzinfusion und der Bluttransfusion und ihrer Folgezustände. Das Buch zeichnet
sich aus durch klare Darstellung und warmen Ton. S.
Dr. Walter Lindemann, Privatdozent in Halle a. S.: Schwestern-Lehr-
buch für Schwestern und Krankenpfleger. Mit 440 Abbildungen im
Text. Vierte und fünfte umgearbeitete Auflage. Verlag ron J. F. Berg-
mann, München 1923.
Das bewährte Lehrbuch ist erweitert durch einen kurzen Abschnitt über die
Röntgenschwester und bereichert durch neue Abbildungen. Auch die schon er-
fahrene Schwester findet viel Belehrung in der therapeutischen Technik. Auch
hier fehlt die Technik der Blultransfusion. Durch leichte Form und Anschau-
lichkeit zeichnet es sich vor vielen anderen Schwestern-Lehrbüchern aus. S.
26] ` Kritiken. 95
Haring: Leitfaden der Krankenpflege in Frage und Antwort. Vierte Auf-
lage. Verlag von Julius Springer, Berlin 1923.
Auf dieses seit langem bewährte Buch der Kranken;‚dege, welches schon
vielen Schwesterngenerationen durch die Nöte des Exame..s geholfen hat, sei
erneut hingewiesen. Die vorliegende 4. Auflage ist vermeli! um den Abschnitt
über Säuglingspflege und den über Pflege von Geisteskranken. H
Franziska Berthold, Viktoriaschwester, Operationsschwester an der Chirur-
gischen Universitätsklinik Berlin: Der chirurgische Operationssaal. Rat-
geber für die Vorbereitung chirurgischer Operationen und das Instrumentieren
für Schwestern, Ärzte und Studierende. Mit einem Geleitwort von Geh.
Medizinalrat Prof. Dr. August Bier. Zweite verbesserte Auflage. Mit 314
Textabbildungen. Verlag von Julius Springer, Berlin 1922.
Dieses Buch erfüllt ein grosses Bedürfnis. Auf Grund einer langjährigen
Erfahrung und gesammelt im Arbeitsbereich eines Meisters der Chirurgie gibt die
Verfasserin nahezu alles, dessen die Operationsschwester für Vorbereitung und
Durchführung ihrer Arbeit im Operationssaal bedarf. Auch Ärzte werden viel
nützliche Lehren darin finden und durch sachgemässe Behandlung ihrer Instru-
mente vor wirtschaftlichem Schaden geschützt werden. S.
Friedrich und Dorothea Schlegel: Briefwechsel 1818—1820. Heraus-
gegeben von Heinrich Finke. Verlag von Kösel und Pustet, Miinchen-
Kempten 1923.
Die Zeit der deutschen Romantik, welche unter Novalis Führung das ab-
solute Ich zum Mass aller Dinge erhob, hat die Entwicklung weiblichen Wesens
zur vollen Blüte gebracht. Die Schrankenlosigkeit aller Lebensansprüche, unter
denen das Recht auf Auswirkung und Vollendung eigenen Wesens an erster
Stelle stand, schuf die Verbindung von Intellekt und Leidenschaft, welche wir
heute an den Frauen und Freundinnen, Anregerinnen und Schutzgeistern der
Romantiker bewundern.
Der vorliegende Briefwechsel zeigt Dorothea Veit, die starkgeistige, schön-
heitstrunkene Tochter Moses Mendelsohns in ihrem ganzen Einfluss auf Friedrich
Schlegel. Dorothea ist zu ihren Söhnen nach Rom gegangen, um der wirtschaft-
lichen Misere des Frankfurter Aufenthaltes zu entrinnen und so ihrem Manne die
Existenz zu ermöglichen. Alsbald ist sie Mittelpunkt im Kreise der deutschen
Künstler und Galehrten und gibt in ihren Briefen an Schlegel ein lebendiges,
farbenprächtiges und anschauliches Bild dieses Lebens. Klaren Verstandes,
scharfer Kritik, aber auch leicht und hell begeistert, voller Anregungen und
Ideen, meisterhaft in der Ausdrucksform. Max Hirsch, Berlin.
Ferrero, Guiglielmo: Der Untergang der antiken Zivilisation. Zweite
Auflage. Verlag von Julius Hoffmann, Stuttgart.
Was an diesem Werke des italienischen Geschichtsforschers am meisten be-
merkenswert erscheint, ist die vergleichende Betrachtung jener in den ersten drei
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung und der in unserem Zeitalter sich vollziehenden
Katastrophe. Beider Ursache leitet Verfasser aus dem Verlust des Autoritäts-
prinzips und dem Fehlen des Staatsgedankens her. Er betrachtet das heutige
Europa als eine Einheit wie das römische Weltreich. Der Zerfall der Teile führt
zum Untergang des Ganzen. Die Katastrophe der Gegenwart droht noch furcht-
barer zu werden als die des Altertums, weil heute nicht wie damals im sieg-
reichen Christentum ein sittliches Prinzip den Einzelmenschen in Schranken hält.
Zur politischen Auflösung komme heute die geistige Anarchie.
Dieses vortreffliche Werk sollte viel gelesen werden. Von Siegern und
Besiegten. Max Hirsch, Berlin.
96 Kritiken. [27
Guglielmo Ferrero: Die Frauen der Cäsaren. Verlag von Julius Hof-
mann, Sluligart. =
Von neuem liegt dieses Meisterwerk geschichtlicher Darstellung vor uns. Seit
es Referent zum ersten Male besprochen hat, ist die Welt durchgeschüttelt und
Europa zerschlagen worden, und man gewinnt eine Vorstellung von den ge-
waltigen Erschütterungen, welche das Rom der Cäsaren erfahren bat. Mit uner-
hörter Kühnheit und list greifen die Frauen der Cäsaren ins politische Leben
ein. Selbst meist Objekt staatlicher Notwendigkeiten, ausgenützt zu politischen
Zwecken, ohne Willen verheiratet und ohne Schuld geschieden, sind sie beherrscht
von einem unbändigen Willen, sich zu behaupten und Macht zu besitzen. Sie
sind der Mittelpunkt einer Palastregierung, welche oft genug den Herrschern
selbst zum Verhängnis wird. Mit dem Tode des Augustus, dessen Gattin Livia,
ein Muster der Tugenden, göttliche Ehren geniesst, hebt das Chaos wilder Leiden-
schaften an, welches unter Agrippina und Messalina seinen Gipfel erreicht. Die
sensationellen Berichte über die sexuellen Ausschweifungen werden von Ferrero
kritisch geprüft. Tacitus glaubt cr wenig und Sueton nicht alles. So schrampfen
die fabelhaften Überlieferungen stark zusammen. Die Bigamie der Messalina
wird als Mittel zum Zweck der Verschwörung und Palastrevolution geschildert.
Geht schon Messalina aus Ferrero’s Darstellung in ganz neuem Gewande her-
vor, so wird vollends die Geschichte der Agrippina zu einer Ehrenrettung der
nach des Autors Meinung mit dem falschen Vorwurf des Giftmordes an ihrem
Gatten Claudius beladenen Frau. Die Zeit der Cäsaren ist der Höhepunkt poli-
tischer Weiberherrschaft in der Geschichte der Menschheit. Niemals in einem
Gzschichtsbuch habe ich sie packender dargestellt gefunden als in Ferrero’s
Meisterwerk. Max Hirsch, Berlin.
Leopold v. Schlözer: Dorothea v. Schlözer. Eın deutsches Frauenleben
um die Jahrhundertwende. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1923.
Der Name Schlözer hat einen guten Klang in der Geschichte deutschen
Wesens. August Ludwig, der grosse Geschichtsforscher und Publizist, damals
neben Haller, Röderer, Michaelis, Heyne, Pütter, Kästner eine Leuchte der Georgia
Augusta Göttingensis. Und Kurd von Schlözer, der feinsinnige preussische
Diplomat, dessen „Römische Briefe“ ein wertvolles Gut der deutschen Literatur
geworden sind. Zwischen ihnen steht Dorothea, die gelehrte Frau, der erste
weibliche Doctor phil. in Deutschland, zugleich ein warmherziger Mensch, voll-
wertiges Weib und hingebende Mutter. Um sie ist in diesem Buche ein Stück
Zeitgeschichte gruppiert von einem prächtigen Ausmass. Politisch, wirtschaftlich
und gesellschaftlich so umwälzend wie die Gegenwart. Kulturell so hochragend
und reizvoll, wie man es heute schmerzlich vermisst. Göttingen, später Berlin,
die geistigen Mittelpunkte. Eutin, ein kleines Städtchen von Ackerbauern und
doch Brennpunkt geistiger Hochkultur: Stolberg, Jacoby, Voss. In Hamburg die
Häuser Reimarus und Sieveking und Mathias Claudius. In Lübeck Charles de
Villers. Und auch sonst an vielen Orten Norddeutschlands freier Geist und edles
Streben. Deutschland — eine literarische Republik — zerrissen und zertreten,
hatte doch die Führung der Welt in Wissenschaft, Dichtung und. Musik. Kant,
Herder, Wieland, Klopstock, Goethe, Schiller, Fichte, Hegel, Schelling, Schleier-
macher, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schlegel, Tieck, Caroline Michaelis,
Rahel Levin, Therese Heyne und viele noch. Mit ihnen allen stand Dorothea
Schlözer in mehr oder weniger enger Berührung: Ein voll ausgeschöpftes
Menschenleben, trotz seines traurigen Abschlusses. Von einem Gegenwarlswert,
wie er noch vor wenigen Jahren nicht hätte geahnt werden können.
Max Hirsch, Berlin.
Julie Vogelstein: Lily Braun. Ein Lebensbild.e Mit 5 Abbildungen und
1 Brieffaksimile. Verlagsanstalt Hermann Klemm, Berlin,
Ein seltenes Frauenschicksal liegt ausgebreitet. Harmonie und Glück? Nein.
Solchen Naturen fehlt das Talent dazu. Leidenschaftliche Wahrheitssucherin mit
28] Kritiken. 97
dem Mut, alles daran zu wagen. Klarer Verstand, heisses Blut, hohes Ziel. Ein
Leben voller Kämpfe, Erfolge und noch mehr Verzichten. Und schliesslich die
Krönung in der Mutterschaft und in der Hingabe an einen hochbegabten Sohn.
Die Darstellung dieses Lebensbildes ist bemerkenswert durch das hohe Mass
von Gerechtigkeit, welche auch die schwachen Seiten nicht verschweigt.
Max Hirsch, Berlin.
G. Bransewetter: Eva Maria. Ein Führer zu wahrem Weibtum. Verlag
von Max Koch, Leipzig.
Der Zwiespalt zwischen Herz und Geist ist des Weibes Verhängnis. Seine
Tragik: auf Kosten des Gefühls stark sein zu müssen. Ohne innerliche Über-
zeugung. Aus Not. Die Errungenschaften der Zeit: Wahlrecht, Unabhängigkeit
usw. sind keine Erlösungen. Sie sind Fortschritte, Anreger, Mittler zu neuem
harmonischen Zusammenwirken zwischen Mann und Frau. Man sieht: das Ziel
der Verfasserin ist hoch gesteckt. Das Buch ist gut geschrieben und von hohem
sittlichen Ernst. Max Hirsch, Berlin.
Matthäus Gerster: Der galante Stadtschreiber. Ein Wieland-Roman.
Verlag von Strecker & Schröder, Stultgart.
Auf kulturgeschichtlichem Hintergrunde süddeutschen Rokokos steht Wie-
lands Lebensabschnitt, in der er Senator und Kanzlist im schwäbischen Biberach
war. Diese Periode ist erfüllt von seiner jene Zeit kennzeichnenden Doppelliebe:
der geistigen zu Sophie Laroche und der grobsinnlichen za Christine Heiler. Der
Roman gibt ein fesselndes Bild dieser Zeit. Max Hirsch, Berlin.
Juliane Karwath: Der wandernde Traum.
Clara Ratzka: Renate im Irrgarten.
Vicki Baum: Die Welt ohne Sünde.
Vicki Baum: Die anderen Tage. Sämtlich deutsche Verlagsanstali, Stuttgart
1922/23.
Diese drei Künstlerinnen gehören zu den —— schriftstellerischen Ta-
lenten der Gegenwart. Selbständig in der Problemstellung, eigenartig und kraft-
voll in der Durchfübrung, schöpferisch in Stil und Sprache.
Juliane Karwath wurzelt, wie G. Hauptmann, in den Bergen Schlesiens.
Aber ihre Menschen sind nicht nur erdgebunden, sie sind Gefässe allgemeiner
menschlicher Schicksale. Das Schicksal der Georgette Quingsberg und ihres
Geschlechtes mit ibrer Gegenwartsfremdheit ist zugleich das Schicksal aller traum.
haft und vergeblich Suchenden und das Los ganzer Geschlechter. Erfüllung winkt
ihnen wie der Georgette aus dem Aufstieg der ihnen nachfolgenden Generation.
Im Irrgarten wandelt auch Renate, die Heldin von Clara Ratzkas Roman.
Ehe und Liebe sind voller Enttäuschungen. Darüber erhebt sie sich, gestählt durch
Erfahrung und ungebrochen im Glauben an die Erfüllung, zu eigenem Leben als
Mensch, Weib und Mutter.
Vergeblich Suchende zeigt Vicki Baum in ihren Novellen, deren ersten
beiden „Raffael Guttmann“ und „Das Joch“ zu dem schönsten gehören, was ich
gelesen habe. Temperament und schöpferischer Schönheitssinn in Bild und Dar-
stellung. Meisterschaft in der Entwicklung und Lösung seelischer Konflikte, ver-
blüffende Neubildung in Wort und Ausdruck. „Die anderen Tage“ kommen nie.
Der Suchende resigniert oder geht zugrunde.
Die „Welt ubne Sünde“, das packende, lockende und schreckende Bild eines
utopistischen Idenlstaates ist aus der Gegenwart und für die Zukunft geschrieben.
Alle Probleme, Wirtschaft, Ehe, Liebe, Bildung werden in der bekannten Be-
leuchtung utopistischer Staatsformen dargestellt. Sie leben im Gehirn des Meisters.
Im Augenblick der Entscheidung durchlebt er den Zusammenbruch seiner Lehren
in einer Minute und legt Hand an sich und sein Werk.
Alle vier Bücher sind dichterische Kunstwerke. Max Hirsch, Berlin.
Arehiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 1/2. 7
98 Kritiken. Ä [29
Herbert Eulenberg: Wir Zugvögel. Roman. Verlag von J. Engelhorna
Nachf., Stuttgart 1923.
Eine Sammlung von Menschen ungewöhnlicher Art. Meist Enterbte des
Schicksals. Im Vordergrunde ein Mädchen, wie ein Geisterspuck, dem Leben ab-
gewendet, dem 'Tode hingegeben. Darum herum Spiritismus, Poesie, Erotika,
Humaniora. Durch diese Vielbeit und die Breite der Erzählung eine Art Lehr-
und Erziehungsroman. In der schönen Sprachform, die Herbert Eulenberg
eigen ist. Max Hirsch, Berlin.
Philipp Witkop: Frauen im Leben deutscher Dichter. 203 3. Verlag
von H. Haessel, Leipzig 1922.
Unter den 11 uns vorgeführten Heldinnen erscheint Goethes Mutter und
Schwester, Christiane als Ehefrau, Friederike, die nette Ulrike v. Levetzow.
Weniger bekannt ist Marianne, Immermanns Frau nach der langen paradoxen
Liebe zu oder mit Elisa, der Frau von Adolf v. Lützow (nicht zu verwechseln
mit Therese v. Bacheracht, der Frau des Obristen Heinrich v. Lützow), die 1839,
mit 52 Jahren, das Haus verliess. Marianne heiratete nun, um ihren Mann Immer-
mann nach 11 Monaten zu verlieren. Aber 1847 heiratete sie ihren Oheim mit
6 Kindern zu ihrem von Immermann gebliebenen einen. Zu den 7 kamen noch 4.
Hölderlins Diotima (Susette Gontard), „Schwester, heilig mir verwandt“, bei der
Hölderlin 1795 als Hauslehrer eintrat, war sehr schön und blieb brieflich mit
ihm noch 1798 in Verbindung, starb 1802. Heines Mouche hat nun einen dritten
Namen erhalten, da sie ausser Camilla Selden auch Elise Krienitz oder Elise v.
Krienitz genannt wird. Kellers Mutter, keineswegs vom Glück begünstigt, aber
höchst tüchtig, hatte wenigstens die Genugtuung, dass der Sohn stetig aufstieg.
Aber Kleists Schwester Ulrike hat ibre ganz unsäglichen, anscheinend nicht ge-
nügend gewürdigten endlosen Opfer eigentlich doch trostlos und ergebnislos ge-
bracht. Christine zu finden war für Hebbel ein grosses Glück. Verfasser ist mit
den Tatsachen wohl vertraut. K. Bruchmann.
Rud. Unger: Herder, Novalis und Kleist. Studien über die Entwicklung
des Todesproblems im Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur
Romantik. 188 S. Verlag von Diesterweg, Frankfurt a. M. 1922.
Kenntnisreich und mit besonderer Sorgfalt gearbeitet sind einige Aufsätze,
die innerlich zusammengehören: Gedanken Herders, Novalie', H. v. Kleists über
das Problem des Todes, das von Herder mit seiner Neigung zum Halbdunkel und
seiner Empfänglichkeit für das Feierliche, von Novalis mystisch, von Kleist
dramatisch, in Berührung mit zeitgenössischen Betrachtungen behandelt wird.
Herder, der mit dem Gedanken der Wiedergeburt (Palingenesie) spielte, wirkte
auf Novalis’ Hymnen an die Nacht. Bei Kleist. erscheint in der Penthesilea das
Reifwerden zum Tode, im Prinzen v. H., dessen innere Überwindung, der Sinn
der Wiedergeburt, durch seine Bejahung geschildert. Grillparzer meinte frei-
lich in bezug auf Novalis, Mönche und Klausner mögen Hymnen an die Nacht
herausgeben, für tätige Menschen ist das Licht. Aber welche Laune (Hom. Od.
18, 136) ist wohl davor sicher, einmal etwas als leeres Gefasel zu betrachten,
dann aber wieder mit Geisterseheraugen eine nähere Verbindung liebender Wesen
gerade durch den Tod zu suchen oder zuerwarten und dabei Leben und Tod nach
Analogie von Tag und Nacht zu benutzen? Zum Schluss zitieren wir von Novalis
etwas, dessen Richtigkeit kaum zu bestreiten ist: Das Leben ist kurz, wo es
lang und lang, wo es kurz sein sollte. K. Bruchmann.
August Messer, Erläuterungen zu Nietzsches Zarathustra. 174 S. 8°.
Strecker und Schröder, Stuttgart 1922.
„Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen
Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste‘, sagt uns der ver-
30] | Kritiken, 99
ewigte Nietzsche in der „Götzendämmerung“ (Werke I. Abteilung, Bd. 8, S. 165,
Leipzig 1899) und: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bücher gegeben, die sie
überhaupt besitzen — Grund genug, dass die Deutschen kein Wort davon ver-
stehen“ (ebenda S. 44). Merkt! Hieraus ergibt sich klar, dass der verewigte
Meister selbst einen Erklärer braucht. Und wer schon aus eigenem Vermögen
den Zarathustra nicht immer verstehen konnte, kann sich wohl nach einem Erklärer
umsehen, wenn er sich nicht einfach dem von Nietzsche bezeichneten Schicksal
der Deutschen in bezug auf Nietzsche-Verständnis anschliessen will. Wer es
noch nicht wusste, weiss es wohl nun, dass Nietzsche auch seine Mucken hatte,
wenn er (nach seinem Ausdruck in der „Morgeuröte‘) Wasser aus dem Brunnen
seines Selbst schöpfte. Der Verfasser hat sich sorgsam und geduldig dem ganzen
Zarathustra zugewendet in der Art, dass er hier ausser Behandlung einzelner
Wendungen auch den ganzen Gedanken kurz wiedergegeben hat.
| RK Brochmann,
Elisabeth Förster-Nietzsche: Der einsame Nietzsche. 589 S. 8°.
A. Kröner, Leipzig 1922.
Unter dem „einsamen“ Nietzsche denken wir wesentlich an Freundschafts-
tragödien, Lösung oder zeitweilige Lösung von Freundschaften, einmal sogar ein
Zerwürfnis nıit seiner Schwester, der Verfasserin, auch dass Nietzsche krank-
heitshalber sich vom Verkehr zurückzieht. Die Darstellung ist sehr pietätvoll
und sehr ausführlich. Die Verfasserin spricht auch viel von der Entstehung von
mehreren Büchern Nietzsches, von seinem Aufenthalte im Süden, seinem Leiden.
Lebhaft tritt sie der Auffassung vun P. J. Möbius über die Veranlassung der
schliesslichen, zum Tode führenden Krankheit entgegen. Durch Obduktion sind
die Voraussetzungen von M. meines Wissens übrigens nicht festgestellt. Wir
erfabren u. a., dass Nietzsche der Ehe keineswegs grundsätzlich abgeneigt
war, und dass man von nah befreundeter Seite einmal lebhaft bemüht war, eine
passende Frau in einer Russin für ihn zu entdecken. Es erwies sich als pein-
licher Irrtum. Einmal äusserte Nietzsche, er habe sich nur dreimal in seinem
Leben inter pares gefühlt, nıit Richard Wagner, Erwin Rohde und H. e Stein.
Aber mit Wagner und Rohde flaute die Freundschaft ja ab. H: v. Stein starb,
glaube ich, zeitig. Die kluge, reizende Malwida v. Maysenbug hatte ihn als eine
Art Hauslehrer bei Wagner empfohlen. Da konnte er merken, wie es sich in
eiuer mit Unfehlbarkeit übersättigten Atmosphäre lebt. K. Bruchmann.
Anna Chamberlain, Meine Erinnerungen nn Houston Stewart Cham-
berlain. Mit 5 Bildnissen. 201 S. 8%. O. Beck, München.
Die Verfasserin ist die nach mehr als 25 Jahren in Gnaden entlassene (ge-
schiedene) Frau des bekannten Schriftstellers (Grundlagen des 19. Jahrhunderts,
Wagner, Kant) H. St. Chamberlain. Anscheinend ist sie Deutsche, in Preuss.
Schlesien geboren. Sie führt uns nach Cannes, Genf, Florenz, Bayreuth (1882,
Parsifal-Aufführung), Paris, Dresden, Wien (1889—1905), Bosnien usw. mit der
Gewissenhaftigkeit eines treuen Chronisten, auch in bezug auf die mannigfaltigen
Arbeiten ihres Mannes. Sehr viel Schönes hat sie in dieser langen Zeit erlebt,
hochgebildete Leute kennen gelernt. Nur die in Paris gegen ein Nervenleiden
gesuchte Heilung hat sie so gar nicht gefunden, obgleich sie tüchtig zahlen
musste. K. Bruchmann.
Anna Caspary, Maria Zanders, das Leben einer bergischen Frau, Mit
6 Bildtafeln. 190 S. 8°. Eugen Diederichs, Jena 1923.
Maria Zanders war nach dem vorzeitigen Tode ihres Mannes Besitzerin
und Leiterin einer weltberühmten Papierfabrik in Gladbach im Bergischen Lande.
Sie ist sympathisch durch ibre höchst mannigfaltige gütige Tätigkeit, als Gattin,
7*
100 Kritiken. e
Mutter, Freundin, durch rastlose Fürsorge für alle, die für ihre Fabrik arbeiteten,
unermüdlich in Massregeln für deren körperliches und geistiges Wohl, ja für
Kunstpflege. Auch an sich selbst arbeitete sie viel und mit der ihr eigenen
zähen Ausdauer. Ich babe, sagt sie mal, mich mein ganzes Leben überanstrengt.
Sie liebte den Verkehr mit hochgebildeten Leuten. Trotz ibrer grossen Frei-
gebigkeit gab es da keinen unverschämten Papierwucher. Vielmehr machte sie
die freigebigsten und prächtigsten Geschenke z. B. an die Familie des Präsidenten
v. Simson (76, 106). Sie starb 1904 als Vorbild und Trost für spätere Zeiten.
K. Bruchmann.
Rud. Eisler, F. Müller-Lyer als Soziolog und Kulturphilosoph. 188 S.
A. Langen, München 1923.
Der Verfasser will auf die Bedeutung der soziologischen Arbeiten des 1916
in München verstorbenen Müller-Lyer hinweisen und zu ihrer Verbreitung bei-
tragen, ab und zu leichte Abweichungen von jenem andeutend. Müller-Lyer steht
auf dem positivistischen Boden Comtes, dessen grosses „Gesetz“ nach P. Barth
(Die Philosophie der Geschichte als Soziologie I. Leipzig 1897) schon 70 Jahre
vorher von Turgot entdeckt war. Inwiefern metapbysische Betrachtungen doch
auch begründet sind, wird sogleich mit dem Begriff der Soziologie von Eisler er-
örtert, wie auch die Fragen von. einem sog. Zweck der Geschichte und inwiefern
von einem „Fortschritt* in ihr die Rede sein könne. Die Geschichte bedient sich
dabei der natürlichen und absichtlichen Zuchtwahl und benutzt die Eugenik für
die Rasse. Mit der Soziologie der Fortpflanzung befasst sich die „Geneonomie*.
Immer wieder reichen unsere Worte für die Fülle der Gesichte leider nicht
aus, sondern vermehren sich lästig durch Neubildung. Wir hören so auch von
einer phaseologischen Methode, durch die die Richtungslinien, die Perioden oder
Phasen studiert werden. Älte Fragen werden erneuert, z. B. wie sich der Einzelne
zur Gesamtheit verhält (so auch Lazarus, Leben der Seele I. 323—411, 2 A.), ob
alle Kulturerscheinungen nur von der Wirtschaft abhängen, was Müller-Lyer dahin
beantwortet, ist nicht die Wirtschaft, sondern der Mensch Schöpfer der Kultur
ist und das Psychische dem Ökonomischen vorangeht (92, Barth 284 ff.), dass
uns die Kultur nicht glücklicher macht, wenn sie uns auch zum Teil von Aber-
glauben befreit. Den eigentlichen Zweck des Lebens nennt Müller-Lyer „Euphorie“,
Verbindung grösstmöglicher Glückseligkeit und objektiver Vollkommenheit des
Lebens, während die Ärzte unter Euphorie wohl bloss an die Glücksempfindung
denken. K. Bruchmann.
Ad.Moszkowski, Die Inseln der Weisheit. 2838. F. Fontane, Berlin 1922.
Schon manchmal ist behauptet worden, jeder sittliche, künstlerische, wissen-
schaftliche Grundsatz, wenn ganz folgerichtig durchgeführt, führe zu unsinnigen
Folgen. An einigen Beispielen dies zu erweisen fühlt sich der witzige und dia-
lektisch gewandte Verfasser hier mit Erfolg aufgelegt. Ausserdem wirft er den
Zeitverhältnissen ein sorgsam prüfendes Auge zu, dem das ekelhaft Verzerrte dessen
nicht entgeht, was sich seit einigen Jahren nicht am wenigsten in Deutschland
herausgebildet hat (man ontschuldige das Wort gebildet). Der Verleger sagt
uns auf dem Umschlag u. a, dass das Buch für die Weltliteratur die gleiche
Bedeutung gewinnen wird, wie Swifts berühmtes Werk Gullivers Reisen. Auch
A. Moszkowski reist oder lässt höchst paradoxe und interessante Inseln (im Norden
des Stillen Ozeans) entdecken. Auf einer wird z. B. der folgerichtig entwickelte
Platonische Staat vorgefunden. Zu den erlebten Perversionen gehört die Stelle,
wo man u. a. Ziegenkäse mit Sardellen am Spiess gebraten, Krähenzungen in
Vanille, Kaviar mit Schlagsahne isst; wo der Brei um die Katze geht, der Kork
entflascht, das Siegel entbrieft wird usw. Zu den Wundern der mechanisierten
Insel gehört eine Taschenuhr mit drahtlosem Telephon in der nämlichen Gold-
32] Kritiken. 101
kapsel; der Vorgang, dass sich der Muss- zum Will-Arbeiter umbildet; der Staat
Monopolist aller seelischen Neigungen wird. Auf einer Insel der schönen Künste
ist z. B. noch vorbehalten, dass die Dichtkunst erst anfangen wird, wenn wir
von der Sprache vollkommen losgelöst sind. Auf der Insel des „Als-ob“ schaffen
Leute Romane u.a.m., als ob ihnen bei der Niederschrift etwas einfiele, ein
Kämmerer verwaltet Kassen, als ob Geld drin wäre. Sehr gut ist in der Staats-
bibliothek, dass 350000 Bände aller bis zum Vorjahr erschienenen Gesetze und
Verordnungen aufbewahrt werden, deren Katalog allein 27 Zentner wiegt. Er
wird dauernd unter Verschluss gehalten, weil sonst Gefahr ist, dass man etwas
finden könnte. Auch Pazifisten gibts auf zwei Inseln. Es sind die, auf denen Krieg
entsteht. Nicht am schlechtesten ist die rückschrittliche Insel (173 f.). Es ist
ganz erstaunlich, wie reich an Einfällen und konstruktiver Phantasie der Ver-
fasser ist, so dass das Interesse des Lesers dauernd gespannt bleibt. Ergebnis (283):
... Und du entdeckst — nur eins ist prinzipiell:
Dass kein Prinzip lebendger Probe standhält.
K. Bruchmann.
Verhandlungen
der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Konstitutionsforsehung in Berlin.
Sitzung vom 16. November 1923.
1. Ausserordentliche Generalversammlung. Bericht des Vorsitzenden
Herrn Hirsch über die im Anschluss an den Kongress „Sexualität und
Konstitution‘ getanen Vorarbeiten zur Erweiterung der Gesellschaft in
eine „Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Konstitutions-
forschung“.
Der Vorsitzende wirft einen kurzen Rückblick auf die Entwicklung der Ge
sellschaft, welche mit der historisch-kritischen Behandlung der Sexualprobleme
begonnen habe und nun über die biologisch chemische zur Konstitutionsforschung
vorgedrungen sei. Der vor kurzem von der Gesellschaft unter lebhafter Betei-
ligung des In- und Auslandes veranstaltete Kongress mit dem Thema „Sexualität
und Konstitution“ bezeichne einen Gipfelpunkt und zugleich den Anfang neuer
Entwicklung. Im Anschluss an ihn sei der Plan erwogen worden, die Gesell-
schaft durch Einbeziehung der Konstitutionsforschung zu erweitern. Verhand-
lungen mit Konstitutionsforschern haben zu günstiger Aufnahme des Planes ge-
führt. Insbesondere sei Geheimrat Kraus ein lebhafter Förderer des ihm vor-
getragenen Gedankens geworden. Eine erweiterte Vorstandssitzung vom 26. Juli,
deren Protokoll eingesehen werden könne, habe sich mit allen gegen eine Stimme
für die Erweiterung entschieden.
Das tiefe nationale und wirtschaftliche Unglück Deutschlands mache es
zur besonderen Pflicht, die geistigen Güter zu schützen und zu mehren. Auch
vor 100 Jahren sei aus politischen Abgründen geistige Morgendämmerung herauf-
gestiegen. Gottingen und Berlin leuchteten damals als helle Gestirne am Himmel
der Wissenschaft. So dürfe man sich den Mut zum Fortschritt nicht nehmen
lassen. „Sorgen wir dafür, dass man von uns nicht sage, dass wir den Gang
der Entwicklung nicht verstanden, dass wir die rechte Zeit versäumt haben.“
Die vorgeschlagene Erweiterung der Gesellschaft wird daraufhin einstimmig
beschlossen.
2. Vortrag des Herrn Th.Brugsch: Geschlecht und Persönlichkeit
(im Original wiedergegeben S. 1 dieses Heftes).
8. Aussprache:
Herr Kronfeld: |
3. Der Begriff „Intersex“ ist auf zwei Weisen abgrenzbar: erstens des-
kriptiv, zweitens konstruktiv-genetisch. Die Abgrenzung derselben durch
Herrn Brugsch gehörte zur letztgenannten Klasse. Diese stellt sicherlich für
eine jede Klassifikation das logisch Höherwertige dar, aber auch das dem Irrtum
eber Zugängliche. Die Kriterien des durch irgendeine genetische Substraktion
gewonnenen Begriffs des Intersexes sind letztlich dort wieder faktische, deskrip-
tive. Vom Boden irgendwelcher erbbiologischer Annahmen aus kann man zwar
postulieren, es gebe keine menschlichen Intersexe: entscheidend über ein derartiges
Postulat bleibt aber das deskriptiv Vorfiudbare. Freilich ist der deskriptive Be-
griff der Intersexualitäten auch wieder schwierig, weil schon mit den Ab-
straktionen des deskriptiv Männlichen und deskriptiv Weiblichen behaftet, die
2] Sexualwissenschaftliches Beiheft. 103
ihrerseits schon unter dem leitenden Gesichtspunkt einer Theorie erfolgen müssen
— sonst sind sie unvollziehbar oder mindestens vieldeutig.
2. Der Geschlechtstrieb ist sicher weder biologisch noch psychologisch ein
„Urtrieb“ im Sinne der Unmöglichkeit einer weiteren Reduktion. Dennoch ist
er sowohl pbänomenologisch als auch biologisch etwas in seiner Ganzheit, seiner
Gestalt, seinem '[elos durchaus Wesenseigenes, wesensmässig nicht weiter Fun-
diertes, hingegen breiteste Funktionsweisen und Zusammenhänge Fundierendes.
Die Persönlichkeit kann in ihrem Geschlechtstrieb abgebildet sein; aber weder
sie noch dieser können auf die Urtriebe der vegetativ-striären „Tiefenperson*
reduziert werden, ohne ihre „Gestalt“, ihre Wesensart zu verlieren.
Herr Peritz:
Meine Herren! Über die Morbidität und Mortalität der Eunuchoiden lässt
sich wenig sagen. Bei der verhältnismässig grossen Seltenheit dieses Typus
werden diese Menschen fast immer nur als Raritäten beschrieben, über ihr
Schicksal erfäbrt man wenig. Ich weiss von 3 Eunuchoiden, die über 50 Jahr
alt geworden sind. Mehr weiss man über die religiösen Sekten, die sich kastrieren
lassen. Über die Skopzen existiert eine sehr interessante Monographie von Koch,
aus der ich entnehme, dass diese Menschen scheinbar nicht mehr erkranken, als
andere Menschen und auch recht alt werden. Das würde also mit der Anerken-
nung des Herrn Brugsch, dass der Sexualtrieb kein Urtrieb ist, übereinstimmen,
dass er auf Morbidität und Mortalität keinen Einfluss ausübt. Welcher Art aber
der Einfluss des Sexuaitriebes auf die psychophysische Gebundenheit ist, das
kann man auch wieder an den Eunuchoiden und Eunuchen erkennen. Auf den
Habitus dieser Klasse von Menschen brauche ich nicht einzugehen, er ist genügend
bekannt. Peychisch stellen sie sich als furchtsame, ängstliche, suggestible Menschen
mit grossem Anlehnungsbedürfnis dar, mit geringer Initiative und mangelndem
Antrieb. Man kann wohl sagen, dass bei ihnen der Trieb, den Brugsch als
Reizhunger bezeichnet, sehr gering ausgebildet ist. Umgekehrt finden wir, dass
Menschen mit starker Sexualität einen grossen Reizhunger haben. Hier scheint
also der Sexualtrieb auf einen Urtrieb einzuwirken und so, wenn auch indirekt,
auf die psychophysische Gebundenheit Einfluss zu gewinnen. Der Reizhunger, der
meiner Ansicht nach als Unterbrechung des Automatismus von anderen Stellen
aus anzusehen ist, wahrscheinlich vom Grosshirn aus, wird durch verschiedene
Komponenten, unter anderem auch durch den Sexualtrieb bestimmt, in ihm haben
wir eine Bindung der psychischen Freiheit und der psychophysischen Gebunden-
heit zu sehen. |
Herr Fritz Levy:
Wenn auch zwischen dem Schwammspinner und dem Menschen erhebliche
biologische Unterschiede bestehen, so darf man wohl kaum mit der Entschieden-
heit, mit der es Herr Brugsch tat, behaupten: „Beim Menschen gibt es Mann
und Weib. Tertium non datur“. Die Verhältnisse bei anderen Wirbeltieren
weisen darauf hin, dass auch hier eine bisexuelle Anlage besteht, deren Kom-
ponenten einen verschiedenen Entwicklungsrhythmus haben bei den sexuellen Ex-
tremen, dem Manne und dem Weibe. Dieser Rhythmus scheint im wesentlichen
genotypisch bedingt zu sein in dem Geschlechtschromosomenmechanismus. Wir
beobachten Merkmale, die vererbt werden, also Phänotypen, wir schliessen
durch einen Denkakt, auf Genotypen, wenn unter uns bekannten oder unbe-
kannten Urweltsbedingungen das Merkmal nicht verändert wird. Witschi konnte
in glänzenden Untersuchungen zeigen, dass die Kreuzung verschiedener Lokal-
rassen von Rana fusca verschiedene Grade von Übergangs- und Adultherm-
aphroditismus entstehen liess. Ja, er konnte experimentell einen Zwitter erzeugen,
dessen Eier er mit den Spermatozoen desselben Individuums befruchtete In
amerikanischen Arbeiten ernsthafter Biologen sind Fälle beschrieben, dass Hühner
erst Eier legten und später zum Hahn wurden. Die funktionierende Keimdrüse
drückt dem Individuum die Geschlechtsmaske auf, von der Herr Brugsch sprach.
104 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [3
Nach unseren heutigen Kenntnissen führt Ausfall jeglicher Keimdrüsenwirkung
zu den Erscheinungen des Eunuchoidismus. Intersexe entstehen, wenn keine der
beiden Keimdrüsenanlagen imstande ist, hormonal die Wirkung der anderen zu
unterdrücken bzw. wenn der Entwicklungsrhythmus der beiden Keimdrüsenanlagen
sich, graphisch ausgedrückt, nicht oder zu spät überschneidet.
Herr Stabel:
Herr Brugsch hat behauptet, dass die Mehızahl der Homosexuellen in den
Kadettenanstalten und anderen geschlossenen Anstalten gezüchtet werden. Ich
bin der Ansicht, dass man eine derartige Behauptung nicht aufstellen darf, wenn
man nicht über eine entsprechende Statistik verfügt; mir ist eine solche nicht
bekannt. Dass in solchen Anstalten in erhöhtem Masse mutuelle Onanie ge-
trieben wird, ist allgemein bekannt. Durch besondere Umstände habe ich sowohl
in das Leben eines unter geistiger Leitung stehenden Stiftes am Rhein, als auch
in das der Lichterfelder Kadettenanstalt Einblick gehabt. Ich kenne aus beiden
Anstalten eine grosse Reihe von Zöglingen, die dort mutuelle Onanie getrieben
haben und im späteren Leben keinerlei homosexuelle Anwandlungen hatten, die
sich verheiratet haben und glückliche Familienväter wurden.
Herr Max Hirsch:
Die grössere Mortalität des männlichen Geschlechtes zeigt sich schon im
intrauterinen Leben und drückt sich in der Überzahl männlicher Abortfrüchte
aus. Diese ist um so grösser, je jünger die Föten sind. Das Geschlechtsverhältnis
106 Knaben auf 100 Mädchen bei der Geburt ist schon Ergebnis des stärkeren
Absterbens männlicher Früchte (pathologisches Geschlechtsverhältnis). Das physio-
logische ist uns unbekannt und wird bei der Konzeption entschieden (s. Hirsch:
Über das Verhältnis der Geschlechter. Zentralbl. f. Gynäkologie, 37. Jahrg.,
Nr. 12, 1913).
Schlusswort.
Herr Brugsch: Ich stimme durchaus mit Herrn Kronfeld überein, dass
man die Frage der Persönlichkeit in ihrer Abhängigkeit vom Sexus auch psycho-
logisch lösen kann, wie ich das bereits in der Einleitung zu meinem Vortrage
bemerkt habe. Wie weit man allerdings von der psychischen Freiheit aus auf
den Kern der Persönlichkeit stossen kann, ist eine Frage, die nicht ganz leicht
lösbar sein wird, vielmehr sehr problematisch bleiben kann, da eben die psychischen
Freiheiten die Irrationalität bedingen. Diese meine Auffassung berührt durchaus
nicht die Frage, ob man in der Therapie praktische Erfolge durch sog. Psycho-
analyse erzielen kann. Diese Frage kann nur praktisch gelöst werden und wird
ja von vielen Psychoanalytikern im bejahenden Sinne beantwortet. Aus dem Er-
folg der Therapie darf man aber nicht auf die Richtigkeit der Auffussung schliessen,
dass man durch die Psychoanalyse an den Kern der Persönlichkeit herankommt.
Herrn Stabel erwidere ich, dass mir keine kompetenten Statistiken über
Homosexualität bekannt sind, während mich meine ärztlichen Erfahrungen ge-
lehrt haben, dass ein gewisses Milieu die Homosexualität züchtet. Das ist per-
sönliche Beobachtung.
Was die Frage der Geschlechtsumstimmung, z. B. bei Amphibien, anlangt,
so ist diese ja durchaus sicher. Ob die Geschichte des amerikanischen Hahns,
der später Eier legt. nicht ein amerikanischer Blaff ist, möchte ich dahingestellt
sein lassen. Beim Menschen scheint mir eine epigame Geschlechtsbestimmung
durchaus walırscheinlich; ausschlaggebend wären dann die Hormone der Mutter
in den ersten Monaten der Gravidität. An eines glaube ich aber nicht, das ist
die Geschlechtsumstimmung beim Menschen.
Namenverzeichnis.
A.
Abraham, Karl 67.
Achilles, Paul S. 191.
Alsberg, Paul 70.
Amon 6l.
Amos, T. G. 115.
Ancel 1
Pe 164.
Asher 113.
Auerbach, Fr. 207.
Avenarius 86.
B.
Baer, A. 69.
Bartel 107.
Bartels, Paul 26.
Barth, E. 143.
‚Barthel, Ernst 72.
Bauer, K. H. 113.
Baur, Erwin 206.
— Ludwig 71.
Bebel, August 174.
Becher 77.
Bechstein, Ludwig 142.
Bernstein 143.
Bertholet 55.
Besant, Anni 49.
Bier, August 207.
Binding 46.
Bird 111.
Birnbaum, Karl 211.
Bloch, Iwan 1, 76, 215.
Blumgarten, A. S. 187.
Boas, Franz 67.
Boehm, E. 111.
Bomsdorf-Bergen, Herbert
v. 59.
Borchardt, L. 113.
Bornstein 146.
Borst 110.
Bouin 168.
Boveri 207.
Boulet 108.
Bradlaugh, Charles 49.
Bramann 57.
Brandt, Murray L. 117.
Brown- Séquar 76.
Bruchmann, K. 69, 70, 71,
E 134, 137, 138, 139
142.
F.
’ | Ficker, M. 207.
Brunet, Walter Minson 188, | Fischer, Eugen 206.
Bublitschenko 121.
| Bühler, Charlotte 140.
' Burckhardt, J. 69, 169.
Buschan, G. 69.
Basse, Kurt H. 180
; Byron 69
l
C.
|
Corner, Bartholomäus 136.
' Charles 49.
' Cohen- -Kysper, A. 85, 88.
Cox, Harald 51.
i Crzellitzer 221.
Cunow, Heinrich 174.
Curtis, Artur H. 116.
' Cuvier 69.
Czerny, Ad. 62.
D.
Dahl, Friedrich 137.
Dante 69.
De Lapouge 27.
Diepgen 60.
Dietzel v. Nordenflycht
65.
Doubois 108.
Dresel 61.
Driesch, Hans 77, 137, 201.
Drystale, George 49.
Dürkheim 173.
E.
Ebermayer 42.
Ehrenfels v. 90.
' Eichstedt 64.
| Ellis, Havelock 51.
i Elster, Alexander 39.
Enderlen 169.
Ernst, W. 207.
Eulenburg, Albert 75.
' Evert, Raye 188.
' Exner, M. J. 188.
Fliess 177.
Förster 169.
Fraenkel, L. 198.
Frank, Ludwig 213.
Fränkel, Fritz 112.
Franz, Victor 201.
Freud, Sigmund 65, 174,
175
Freund, H. 64.
Friedländer 147.
Fries, C. 208.
Furniss, H. D. 115.
G.
Bra T. W. 191.
Galton 48.
Garré 57.
Gauss 69.
Gersonides 60.
Goldschmidt, R. 24, 76, 78,
.151, 160, 220.
Gottlieb 111.
Götzl, A. 108.
Grabe, v. 66.
Graetz 206.
Granier, C. 69.
Greil, Alfred 2, 196.
Grenser 6l.
Gross 24.
Grote 204.
Gruber, M. 207.
Grünberg 191.
Guttmann, A. 147.
H.
Haberland 106.
Haberlandt, L. 21, 198.
Hada 108.
Haeckel, Ernst 21, 60, 136,
175
Haecker, V. 132.
Hammesfahr 169.
i Hart, C. 111.
224
Hartmann 97, 149. 218. |
Hartmann, E. v. 17.
Hegel 68.
Heller 146, 221.
Henderson, H. 115.
Henle 57.
Herkner 209.
Herzog, Alfred 193.
Hettner 209.
Hilgenberg 169.
Hirsch, Arnold 134, 135.
— Max 1, 39, 43, 45, 57,
60, 61, 63, 73, 74, 75,
103, 130, 131, 132, 136,
137, 142, 144, 145, 146,
149, 204, 205, 206, 209,
217, 220.
Hirschfeld, Magnus 148,
150, 219.
Hoche 46.
Hoffmann, Hermann 131.
Houten, van 49.
Hübner 150, 219.
Humboldt, Wilhelm v. 69.
Hume 68.
Israel 164.
Israeli 60.
J
Jodl, Friedrich 77, 136.
Juliusburger, Otto 65, 135,
221.
Jung, Gustav 69.
K
Kallert, E. 207.
Kant 77, 202.
Kappstein, Anna 59.
Kehl, Renato 208.
Kehrer, E. 63, 66, 114, 139,
Kemnitz, M. v. 148, 174,
180.
Keynes 51.
Knauer 164.
Kocher 164.
Koerber, H. 140, 143, 148,
214, 215, 219.
Koffka 93.
Köhler, Otto 6l. |
— W. 94, 95. |
König 65, 66, 67, 134, 139.
Krafft-Ebbing 76. |
Kraus, Fr. 79, 81, 149, 216.
Kretschmer, Ernst 78, 97,
100, 144, 149, 210, 218. Mühsam, Richard 150, 163, |
Krische, P. 148, 173.
Kritzler, Hans 201.
Kronfeld 59, 144, 146, 147,
154, 211, 212, 213, 214,
216, 217. M
Namenverzeichnis.
Kruse, Uve Jens 59.
Küttner 57.
Kyrle, J. 216.
L.
| Lahm 130.
Langley 92.
Lashley, K. S. 191.
Lecky 69.
Lenz, Fritz 206.
Leupold, E. 111.
Leverrier 70.
Levy, Fritz 144, 207, 219.
Lexer 57.
Lichtenstern, R. 103, 169,
170, 171.
Lilienthal v. 47.
Lillie 187.
Lindemann 196.
Lindner, Th. 68.
Lingard 105.
Lipschütz 169.
Loeb, L. 198.
Loewenstein, G. 143.
Lombroso 69
— Gina 138.
Longet 92.
Lorenz, O. 69.
Lubarsch 104.
Lundborg 144.
Luschan, Fel. v. 134.
Lusitanus, Amatus 60.
Lydston, Frank G. 119.
M.
Maimonidas 60.
Malthus 49.
Mamlock, G. 215.
Manouvrier 25, 69.
Marchand 69.
Marcuse, M. 109.
Martius 81.
ne Paul 96, 103, 150,
l
Matthes 160.
Matthiessen, Wilhelm 205.
Mayrhofer, Carl 114.
Michels, Robert 51, 209.
' Mittermaier 4l.
Möbius 27.
Mombert 209.
Montessori, Maria 57.
Moode, H. H. 191.
Morawitz 205.
Moser 134.
219.
_Müller-Lyer 148, 174, 176,
178, 179.
Mulzer 131.
Münz 60.
| N,
' Nadeschdin 119.
: Neumark, H. 106.
| Nietzsche 48.
|
| 0.
| Oldenberg 209.
ı Oppenheim, Stefanie 23.
Oppenheimer, Ellen 193.
| Orth 55, 105.
H
P.
Parazelsus 205.
Pares 108.
Payr 113.
Pearson 222.
' Penck 68.
Peritz, ū. 130, 150, 151,
21
9.
Peschel, Oskar 68.
Peterson 115.
Pfaundler 111.
| Pfeiffer 169.
| Pirkner, E. H. 118, 119.
' Place, Francis 51.
Placzek 59, 66, 67, 136.
i 215.
ı Poll 152.
Porosz 109.
Portigliotti 142.
Posner 150, 219.
— C. 103, 106, 108, 110.
'— H. L. 110.
' Prausnitz 205.
R.
Rammstedt 57.
Ranke 26, 70.
Ratzel 68.
Rebentisch 25, 26.
Reicke, Ilse 140.
Reis 119.
Reisinger, L. 198.
Renan, E. 69.
Robinson, William I. 187.
Rogge, H. C. 63.
Rokıtanski 79.
Rongy 116.
Rosenbaum, Julius 76.
' Rosenfeld 116.
Roux, W. 198.
| Rubin 114.
| Rubner, M. 207.
' Rumpel, A. 105.
Rutgers, J. 49, 62.
S.
Sachs, O. 106.
Samson, I. W. 56..
Sand, Knud 168.
Sanger, Margarete 51, 192.
Schaxel 201.
Scheele 106.
Schelling 77.
Schermann, Christine 135.
— Lucian 135.
Schindowski, M. 207.
Schlange 57.
Schläper 143.
Schmidt, Ferd. August 207.
— Peter 213.
— Raymund 204.
Schneider, Kurt 212.
Schroeder, Robert 129
Schröer, Karl Julius 72.
ne Julius 143, 144,
15
Seiler 61.
Selilheim 206.
Serger, H. 207.
Serralach 108.
Siemerling 65.
Solvay, Ernest 173.
Sonntag 106.
Spilmann 52.
Spinner 45.
Stabel 144, 169.
Stahl, G. E. 91.
Standfuss, R. 207.
Steckel, Wilhelm 135, 214.
Stein, O. 106.
Steinach 76, 168.
Steiner, G. 66.
— Rudolf 72.
Steinthal 57. |
Namenverzeichnis. 225
Stern, F. 112. ' Voss, Lena 73.
Stiller 109. Vries, de 71.
Stoeckel 57. |
Stöcker, Helene 52, 14l. W.
Streiber 148. | Wachtel, Ernst 40, 77.
Stroh, Else 138. Waelsch 106.
Sudhoff, Karl 60, 77, 205.| Waitz, Th. 68.
‚Maldeyer 27.
: Watson, J. B. 191.
Tandler 24, 79, 97, 99. Wehner 108.
Weichselbaum, A. 107.
Weil, Arthur 108, 143, 141,
Tannenbaum, S. A. 187.
Theilhaber, Felix A. 221.
Thiemich, Martin 61. 185, 221.
Thiersch, Carl 59. : Weinberg, Margarete 128,
— Justus 59. 141,
Thomalla 146, 147. Weininger, Otto 76.
T['horek, Max 119, 187. Wells 51.
Tiedje 168. | Werth 106, 113.
Timme 187. Wertheimer 93.
; Westenhöfer 207, 208, 209.
| Westermarck 51, 177.
Wiedersheim 96.
Wiese, L. v. 142..
Wilberfox 51.
Wilson, Woodrow 186.
Wittkovski, A. 147.
Wollenberg 139.
Wulffen, Erich 135.
Tönnies, Ferd. 173, 174.
Toenniesen 112.
Tugendreich, G. 61, 62.
U.
Unterberger 21.
V.
Wundt 71.
Vaihinger 79.
Vecki, Victor G. 187. 2.
Verweyen, Juhannes M. 69. enden Th. 132.
Virchow, Rudolf 22. Zondek 89.
Voronoff 119. ı Zuckerkandl 57.
Sachverzeichnis.
A.
Aberglaube s. Spiritismus.
Affentestikel, erfolgreiche Transplan-
tation auf den Mann 118.
Algolagnie (Sadismus und Masochis-
mus), Versuch einer Analyse und
Theorie 215.
— Zur Ätiologie 144.
Andrologie, die Sexualkonstitution ın
ihr 103.
Arbeiterfrau, zur Wertung von De-
` szensus und Prolaps bei der länd-
lichén 198.
Ärzte als Erzieher des Kindes 62.
— Die jüdischen im Mittelalter 60.
B
Bastardtypen, menschliche 144.
Becken, Chirurgie desselben 57.
Beiheft, sexualwissenschaftliches 143,
217
Bericht, zusammenfassender der Kon-
gressvorträge über Konstitution und
Sexualität 217.
Biologische Grundlagen der Sexual-
konstitution 149.
Birma und seine Frauenwelt 135.
Borgia, Die Familie 142.
Briefwechsel B. Carneris mit E. Haeckel
und Fr. Jodl 136.
C.
Ceylon, Nava, eine Erzählung 142.
Charakter und Körperbau 210.
Chirurgie, Handbuch der praktischen 56.
— Die Sexualkonstitution in ihr 163.
— der Wirbelsäule und des Beckens 57.
D
Degenerationszeichen, Zwillingsgeburten
als solches 66.
Diagnostik innerer Krankheiten, klini-
sche
Dipsomanie s. Impulshandlungen
Dyspareunie 63.
E.
Ehekunst 59.
Eheschließung, ärztlicher Ratgeber 63.
Eifersucht, einige neurotische Mechanis-
men 65.
Entwicklungskurve, die individuelle des
Menschen 131.
Erblichkeitslehre, menschliche 206.
Erotische Wahnbildungen sexuell un-
befriedigter weiblicher Wesen 66.
Erziehung und Frauenbewegung 140.
Eugenese und Euthanasie 46.
Eugenetische Lebensbeseitigung 39.
Euthanasie und Eugenese 46.
F.
Fetischismus 214.
Fibrosis 107.
Filmdokumente zur Sexualwissenschaft
6
Fortpflanzung, Entstehung der ge-
schlechtlichen 201.
Frauenbewegung und Erziehung 140.
Frauenkrankheiten, die pathologisch-
len Grundlagen derselben
1
Frauenproblem in kommunistischen Ge-
meinwesen älterer und neuerer Zeit
121.
Fruchtabtreibung und fahrlässigeTötung,
Mitteilungen aus einem Schwurge-
richtsverfahren gegen einen Arzt 149.
Fürsorge, soziale 61.
G.
Gattenwahl 63.
Geburt, Versuche der Bestimmung der
Abnutzung des weiblichen Organis-
mus im Zusammenhange damit 119.
Geburtenregelung und Rassenhygiene 48.
Geburtenreihenfolge, Bedeutung der-
selben für die Qualität der Kinder
221.
Geistesstörung und Hypnotismus 65.
Geschlecht und Stimme 143.
Sachverzeichnis.
Geschlechtskrankheiten, Kompendium
131.
Geschlechtsleben des Menschen 215.
— zur Soziologie desselben 173.
Geschlechtsmerkmale, die sekundären
am menschlichen Schädel 28.
Geschlechtsmoral des deutschen Weibes
im Mittelalter 69.
Geschlechtstrieb und Schmerz 215.
Geschwister, Schizophrenie bei denselben
134.
Gesellschaft, ärztliche für Sexualwissen-
schaft und Eugenetik in Berlin 74.
— siehe auch Verhandlungen.
Gesetzentwurf zur Durchführung der
ärztlichen Schwangeren-, Keimes-
und Keimlingsfürsorge 22.
Gestationstoxonosen, Ab- und Entartung
der Konstitution durch sie 196.
Goethe und die Liebe 72.
Goethes unsterbliche Freundin (Char-
lotte v. Stein) 73.
— Weltanschauung 72.
— Wissenschattslehre in ihrer modernen
Tragweite 72.
Gynäkologie, Lehrbuch 129.
— Die Bedeutung der Sexualkonstitu-
tion für sie 96.
H
Haeckel, Ernst, Entwicklungsgeschichte
seiner Jugend 60.
Hautkrankheiten, Kompendium 1381.
Hexengeschichten 142.
Homosexualität, einige
Mechanismen 69.
Hygiene, Grundzüge 205.
— Handbuch 207.
Hypnotismus 139.
— und Geistesstörung 6».
Hypoplasten 38.
Hysterie 210.
— Begriffsbestimmung 139.
I
Impulshandlungen (Wandertrieb, Dipso-
manie, Kleptomanie und verwandte
Zustände) 135.
Induratio penis plastica 106.
Innere Sekretion, Einführung in die
Klinik derselben 130.
Intersexualität beim Menschen 150.
Irrawaddy, im Stromgebiet desselben 135.
J.
Jugendkunde, Quellen und Studien 140.
K
Kastrationskomplex, Äusserungsformen
des weiblichen 67.
Keimdrüsen und Nervensystem, Wech-
selbeziehungen 151.
neurotische
227
ae ee biologische Prüfung
44
Keimesfürsorge 2, 196.
Kind, der Arzt als Erzieher desselben 62.
— Selbsterziehung 57.
Kinderheime Maria Montessoris 57.
Kleptomanie s. Impulshandlungen.
Kommunismus s. Frauenproblem.
Konstitution, Ab- und Entartung der-
selben durch Gestationstoxonosen 196.
— und Sexualität 74.
Konstitutionsambulatorium 18.
Konstitutionsproblem, Geschichte und
Wesen desselben 81
Konstitutionswissenschaft und Sexual-
wissenschaft 75.
IE desersten Menschen
Körperbau und Charakter 210.
Krankheiten, klinische Diagnostik inne-
rer 205.
Kreislauf, Schädigung desselben 200.
Kritiken 57, 129, 204.
Kultur und Rasse 67.
— Redlichkeit als Kulturforderung 65.
Kulturprobleme der Gegenwart, Monis-
mug 136.
L.
Leben verbessern und verlängern 208.
Lebensbeseitigung, eugenetische 39.
Lebensenergie, das Sexualleben als ein
Hauptfaktor desselben 62.
EE Pbysiologie derselben
07
Libido und Röntgensterilisierung 139.
Liebe 141.
— Formenlehre derselben 188,
— siehe auch Goethe.
Liebesleben, Leitsätze zur Entwicklung
a Gemeinschaftskunde desselben
181.
M
Mädchen, Tagebuch eines jungen 140.
Mann, erfolgreiche Transplantation von
Affentestikeln 118.
Masochismus 8. Algolagnie.
Medizin der Gegenwart in Selbstdar-
stellungen 204.
Menschenerkenntnis 59.
Menschenökonomie und Völkerökono-
mie 52.
Menschheitsrätsel 70.
Metaphysik 71.
Monismus und die Kulturprobleme der
Gegenwart 136.
Musikalische Begabung, zur Vererbung
und Entwicklung derselben 132.
Muskulatur, Ausbildung derselben und
SECH? Veränderungen am Schädel
28.
228
N
Nachruf, Iwan Bloch 1.
Nahrungsmittel, Hygiene derselben 207.
Natur und Wirtschaft 209.
Nervensystem und Keimdrüsen, Wech-
selbeziehungen 151.
Neurotische Mechanismen bei Eifersucht,
Paranoia und Homosexualität 65.
Q.
Organismus, Versuche der Bestimmung
der Abnutzung des weiblichen im
Zusammenhange mit der Geburt und
der allgemeinen Konstitution 119.
P.
Paranoia, einige neurotische Mechanis-
men 60.
Parazelsus’ sämtliche Werke 205.
Philosophie der Gegenwart in Selbst-
darstellungen 204.
Physik, Lehrbuch 206.
Physiologie der Leibesübungen 207.
Prostituierten-Tuberkulose, sexual-hy-
gienische Bedeutung derselben 52.
Psychische Untersuchungen an Schwan-
geren 66.
Psychologie, medizinische 210.
— vergleichende 137.
Psychopathische Persönlichkeiten 212.
Psychose, Aufbau derselben 211.
R.
Rasse und Kultur 67.
— Völker, Sprachen 134.
Rassenbygiene und Geburtenregelung 48.
Rechtsleben und Sexualkonstitution 150.
Rechtsprechung und Seelenleben 213.
Redlichkeit als Kulturforderung 69.
Röntgensterilisierung und Libido 139.
Rundschau, wissenschaftliche 48, 114,
196.
S.
Sachsen, Einrichtungen auf dem Gebiete
der Volksgesundheits- und Volks-
wohlfahrtspflege im Freistaat (1922)
6l.
Sadismus s. Algolagnie.
Säugling, seine Entwicklung, Pflege und
Ernährung 6l.
Schädel, die sekundären Geschlechts-
merkmale am menschlichen 23.
Schizophrenie bei Geschwistern 134.
Schmerz und Geschlechtstrieb 215.
ee psychische Untersuchungen
6
Schwängerung durch Verbrechen 45.
Seele des Weibes 138.
Seelenleben und Rechtsprechung 213.
— des Menschen und der Tiere (ver-
gleichende Psychologie) 137.
L
Sachverzeichnis.
Seelenstörung s. Spiritismus.
Sekretion, Einführung in die Klinik der
inneren 180.
Selbstverwirklichung 138.
Sexualität und Konstitution 74.
Sexualkonstitution in der Andrologie 103.
— die biologischen Grundlagen 149.
— in der Chirurgie 163.
— Bedeutung derselben für die Gynä-
kologie 96.
— die psychologischen Grundlagen 149.
— und Rechtsleben 150.
Sexualleben in seiner biologischen Be-
deutung als ein Hauptfaktor der
Lebensenergie für Mann und Weib,
für die Pflanzen und für die Tiere 62.
' — Störungen desselben 63.
ee EE EE E EE A ER nn —
Sexualpsychopathologie 214.
non in den Vereinigten Staaten
185.
Sexualwissenschaft, Filmdokumente 146.
— und Konstitutionswissenschaft 75.
— Die Bedeutung der Untersuchungen
von Ernst Kretschmer über Körper-
bau und Charakter 144.
— und Sexualreform in den Vereinigten
Staaten 185.
Sexualwissenschaftliches Beiheft 143
217.
Sinne, Erziehung derselben 58.
Soziale Fürsorge 61.
Sozialökonomik, Grundriss 209.
Soziologie des Geschlechtsiebens 173.
Spiritismus, Hypnotismus und Seelen-
störung, Aberglaube und Wahn 139.
Sprachen, Völker, Rassen 134.
Steinachsche Operation, Theorie und
Praxis 213.
Sterilität, Diagnose und Therapie der
selben 114.
Strukturanalyse, Grundzüge der psychi-
atrischen 211.
Syphilis, Über den derzeitigen Stand
der Lehre von der Pathologie und
Therapie derselben 216.
T.
Tagebuch eines jungen Mädchens 140.
Thiersch. Carl, sein Leben 59.
Tuberkulose der Prostituierten, sexual-
hygienische Bedeutung derselben 52.
Typendifferenz am Schädel 31 ff.
U.
Unfruchtbarkeit, Ursachen und Behand-
lung derselben nach modernen Ge-
sichtspunkten 63.
“ Untersuchung, die geburtshilflich-gynä-
|
|
|
kologische 206.
V.
Vereinigte Staaten, Sexualwissenschaft
und Sexualreform in ihnen 185.
Sachverzeichnis. 229
Vererbung und Entwicklung der musi- | Wahnbildungen, siehe auch Spiritismus.
kalischen Begabung 132. Wandertrieb s. Impulshandlungen.
Verhandlungen der ärztlichen Gesell- : Weib, Geschlechtsmoral des deutschen
schaft für Sexualwissenschaft und im Mittelalter 69.
Eugenetik in Berlin 143. . — Seele desselben 138.
Vitalismus, Geschichte desselben 137._ — als Sexualverbrecherin 135.
Völker, Rassen, Sprachen 134. ' — siehe auch Wahnbildungen.
Völkerökonomie und Menschenökonomie | Wirbelsäule, Chirurgie derselben 57.
52. Wirtschaft und Natur 209.
Volksgesundheitspflege s. Sachsen. Wissenschaftliche Rundschau 48, 114,
Volkswohlfahrtspflege s. Sachsen. 196.
W. Z
Wahnbildungen, erotische sexuell unbe- Zwillingsgeburten als Degenerations-
friedigter weiblicher Wesen 66. zeichen 66.
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ARCHIVS FÜR FRAUENKUNDE
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Ca — Tahanan. Nast 290. Suppesitariun. ade iE Ant SCH Ge N
Die Naturphilosophie als Vorläufer der
Konstitutions- und Sexualforschung').
Von
C. Posner, Berlin.
In der programmatischen Einleitung, mit welcher Rudolf
Virchow im Jahre 1847 den ersten Band seines Archivs eröffnete,
charakterisierte er die Entwicklung der Heilkunde in den vorauf-
gegangenen Jahren durch Aufstellung von 3 Stadien: Natur-
philosophie, Naturgeschichte, ‚Naturwissenschaft.
Er bezeichnete damit scharf die Stellung, die er selber, im Sinne
seines grossen Lehrers Johannes Müller, einzunehmen ge-
dachte: nach Überwindung der früheren Epochen sollte nunmehr
eine streng wissenschaftliche Bearbeitung der Medizin als eines
Zweiges der gesamten Naturkunde einsetzen. Man weiss, mit welcher
Energie er diesen Standpunkt vertreten und zu allgemeiner Geltung
gebracht hat. Sein Bestreben ging, namentlich in jener Frühzeit
seines Schaffens, zunächst dahin, die Lehre von den Ernährungs-
einheiten und Krankheitsherden auf Grundlage der zellulären Auf-
fassung aufzubauen. Das ist vielfach so gedeutet worden, als wollte
er damit eine ausschliesslich lokalistisch eingestellte Pathologie ein-
führen und jeder einheitlichen — nennen wir es gleich: konstitutio-
nellen — Deutung entgegentreten. Ich glaube nicht, dass man ihn
damit richtig verstanden hat.. Wenn er im IV. Bande des Archivs
von „lauter einheitlichen Lebensherden mit gegenseitigen Be-
1) Vortrag gehalten in der Sitzung der Ärztlichen- Gesellschaft f. Sexual-
wissenschaft und Konstitutionsforschung am 17. Januar 1924.
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 2. 8
106 C. Posner. [2
ziehungen und Wechselwirkungen“ spricht, „welche
erst die Einheit des Lebens ergeben“, so entkräftet dies ein
solches Missverständnis; und wenn er (Bd. VI.) erbliche Krank-
heitsanlagen zurückführt „auf eine gewisseSchwächeeinzelner
Organe, welche widerstandsunfähig gegen äussere Einwirkungen
und weniger geeignet sind, die Störungen, die sie erfahren haben,
auszugleichen, oder weniger erregbar und daher mehr oder weniger
funktionsfähig sind“, so liegt auch hierin eine Anerkennung des
konstitutionellen Gedankens. Wie sehr ihn allezeit die Erblich-
keitsfrage beschäftigt hat, darf als bekannt vorausgesetzt werden,
und ebenso, wie er immer wieder versuchte, sich mit dem Problem
der Lebenskrift auseinanderzusetzen, über die sein Urteil sich
mählich wandelte: während er im Anfang einer ausschliesslich
mechanistischen Auffassung huldigte, kam er später dahin, doch
noch eine, von den, unsern Sinnen zugänglichen Molekularkräften zu
unterscheidende, besondere Eigenschaft anzunehmen, so dass er sogar
schliesslich dem Neovitalismus sich zuneigte.
Immerhin muss zugegeben werden, dass die von Virchow
inaugurierte Richtung zunächst dahin geführt hat, die örtlichen,
greifbaren Gewebs- und Organveränderungen in den Vordergrund
der Theorie und Praxis zu rücken. Es war das eine ganz bewusste
Reaktion gegen die beiden verflossenen Epochen, in denen Speku-
lation und Schematismus überwuchert hatten; aber wenn hierdurch
schlimme Auswüchse beseitigt wurden, so gingen auch wertvolle
Keime zugrunde, die aufzusuchen und neu zu beleben erst einer viel
späteren Zeit vorbehalten blieb.
Die uralte Vorstellung der Ärzte, „dass der Körper nur als
Ganzes erkranken könne, und dass seine Gesamtbeschaffenheit, seine
Konstitution, wie die Entstehung, so auch den Verlauf und das Bild
der Krankheit wesentlich mitbestimmt‘“ hat, wie W. His in seinem
vielleicht nicht genügend gewürdigten Vortrag „Geschichtliches
und Diathesen inderinneren Medizin?2)“ sich ausdrückt,
bis in die neue Zeit hinein in verschiedener Wandlung die patho-
logischen Anschauungen beherrscht. Sie stützte sich zunächst auf
ärztliches Erleben, war empirisch begründet, induktiv entwickelt und
wurde dann erst mit theoretischen Überlegungen durchtränkt. Viele
Hypothesen lösten einander ab — Animismus und Lebens-
kraft, Irritabilität und elektrische Potenzen waren
die Schlagworte, die nacheinander ein Verständnis für die Vorgänge
*) Verhandlungen des XXVII. Kongresses für Innere Medizin. Wiesbaden
1911.
21 Die Naturphilosophie als Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschung. 107
in der organischen Welt ausdrücken sollten. Keiner dieser Schul-
begriffe, weder die einseitige idealistische noch die bloss mechanische
Auffassung genügte, die Gesamtheit der belebten und unbelebten
Natur zu umfassen, und so musste es gerade auf die denkenden
Ärzte wie eine Lösung des grossen ‚Welträtsels wirken, als Schel-
ling in grossartiger Konzeption den Versuch zu einer einheitlichen
Erkenntnis machte.
Seine Vorstellung einer „Weltseele‘ als der Urkraft, von welcher her
die einzelnen Monaden sich lösen, um nun, formverschieden, aber als Abkömm-
linge eines Zentrums, die anorganische wie die organische Welt zu bilden, ist
ein Kernstück seiner ,Naturphilosophie“ 3). Diese Beziehung zwischen der
zentralen Kraft und der ihr entstammten Materie, dies Schweben zwischen Produk-
tivität und Produkt führt zu einer Duplizität oder Dualität, die sich aber
letzten Endes harmonisch in der absoluten Einheit in der Identität von Sein
und Denken auflöst. Innerhalb der Naturkräfte sind drei Eigenschaften als be-
stimmend für die organisierten Wesen zu bezeichnen: Reproduktivität,
Irritabilität, Sensibilität. Die erstere charakterisiert die Pflanze —
ihr kommt Fortpflanzung und Ernährung zu; das Tier wird gekennzeichnet durch
Irritabilität, wobei Atmung und Muskelkraft die entscheidende Bedeutung haben ;
dem Menschen endlich eignet die Sensibilität, lokalisiert im hochentwickelten
Nervensystem. In der anorganischen Natur findet sich dieselbe Dreiteilung in
chemische, elektrische und magnetische Kräfte; jene, eben
aufgezählten Kategorien der organischen Kräfte sind diesen entsprechend, aber
„höher potenziert“. Die Irritabilität erinnert noch an den kurz vorauf-
gegangenen Siegeszug der Lehren Brow ns, der — in Fortführung der Theorien
von Albrecht Haller und Cullen — das Leben als einen Erregungs-
zustand, bedingt durch das. Wechselspiel von Reizbarkeit und Reiz definierte;
hierauf war seine Einteilung der Krankheiten in sthenische mit zu starker,
asthenische mit zu geringer Erregbarkeit begründet; dies war verlockend
einfach und schien namentlich der Therapie bequeme Handhaben zu bieten.
Schelling selbst hing dieser Lehre im Beginn an, ebenso von
bekannten Ärzten jener Zeit etwa Röschlaub und Marcus),
denen beiden die medizinisch chirurgische Schule zu ‚Bamberg (1803)
ihre wesentlichste Blüte dankte; er aber sowie auch die eben ge-
3) Es ist mir natürlich wohlbekannt, dass Schellings mehrfach wech-
seinde Systeme sich nicht mit einem kurzen Satz erschöpfend kennzeichnen
lassen; für unseren besonderen Zweck mögen aber diese Andeutungen genügen.
Ebenso unterlasse ich, um nicht zu weitläufig zu werden, hier naheliegende
Hinweise auf die älteren naturphilosophischen Anschauungen von Spinoza,
Leibniz, Paracelsus u.a.
4) Über die Ärzte der romantischen Zeit findet man Näheres in Ricarda
Huchs feinsinnigem und anregendem Buche „Die Romantik“, Leipzig,
H. Haessels Verlag, 1920. Bd. 2. S. 264 ff. In der Wertung der einzelnen Persön-
lichkeiten wird man freilich hier und da anderer Meinung sein, als die Ver-
fasserin. An gleicher Stelle auch Quellenangaben über die wichtigsten einschlägigen
Werke; ich verweise auf deren Verzeichnis.
8*
108 C. ‚Posner. [4
nannten gingen dann über diese Theorie hinaus; sie glaubten, in
der Naturphilosophie eine umfassendere Lösung, und besonders durch
Ausarbeiten des erwähnten Dualitäts- oder Polaritätsprin-
zips einen tieferen Einblick in die menschlichen Organisationsver-
hältnisse zu gewinnen. Der ärztliche Hauptvertreter der naturphilo-
sophischen Richtung wurde Eschenmayer in Tübingen, von dem
August Wilhelm v. Schlegel in einem Briefe an Goethe
rühmte, „es gebe vielleicht keinen anderen Arzt in Deutschland, der
soviel Physik und Philosophie mit seiner ‚Wissenschaft verbinde“.
Er versucht Einteilungen zunächst von einem sehr allgemeinen Gesichts-
punkt aus: er unterscheidet 3 Reiche, der Natur, des Geistes und des
Lebens. Dem ersten gehören an Schwere, Wärme, Licht — dem zweiten
Denken, Fühlen, Wollen — dem dritten die von Schelling aufgestellten Funk-
tionen der Reproduktivität, Irritabilität, Sensibilität sowie die Begriffe: Wahres,
Schönes, Gutes. Und nun setzt das verhängnisvolle Spiel mit Analogien ein:
er parallelisiert Licht-Wollen-Gutes; Wärme-Fühlen-Schönes; Schwere-Denken-
Wahres. Im menschlichen Körper findet er drei Urformen in drei repräsentativen
Organen, die er ihrer Wertigkeit nach ordnet. Das Gehirn hat Eiform, das
Herz ist ein Conus, die Leber ein Rhombus; ebenso drei Hauptsysteme:
Lymphgefässe, Blutgefässe, Nerven mit den Eigenschaften der
Attraktion, Osillation, Expansion. In dieser Drittelung erkennt man das bei den
Romantikern und Naturphilosophen immer wiederkehrende Prinzip der Polarität.
Jeder Organismus besitzt zwei entgegengesetzte, extreme Anteile, die sich zum
Ganzen vereinigen — durch die Formel + 0 — dargestellt. Diese Polaritäts-
theorie ist besonders durch Reil, Oken, Malfatti durchgeführt und stellt
unter anderem folgende Paare von Gegensätzen auf:
Mann — Weib,
Kopf — Bauch,
Bewusst — Unbewusst,
Licht — Schwere,
Wille — Vorstellung
oder auch sie erkennt jedem Tiere eine Doppelexistenz zu als
Erdtier — Lichttier,
Geschlechtstier — Empfindungstier,
Pflanzentier — Tiertier(|)
oder man drückt sich so aus, dass das Tier einen Geschlechtsbauch
hat mit der Leber als dominierendem Organe, einen Hirnbauch mit dem
Hirn als Zentralorgan — diese beiden Polaritäten würde man sich dann durch das
dazwischen geschaltete Herz ausgeglichen denken können.
Schon diese Beziehungen der Polaritätslehre zur Konstitution
sind ohne weiteres einleuchtend: es würde hiernach für die Beur-
teilung einer Person immer darauf ankommen, zu ermitteln, ob
zwischen den genannten Kategorien, wie es normalerweise der Fall
sein müsste, ein Ausgleich, eine Harmonie erzielt ist, oder ob etwa
die eine, z. B. das Lymphsystem, oder der Bauch das Übergewicht
5] Die Naturphilosophie als Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschung. 109
hat und so dem Individuum seinen Stempel aufprägt. Am deutlichsten
tritt, wie dies zu verstehen ist, im Gebiet des Nervensystems
hervor. Hier wird scharf unterschieden zwischen zerebral und
gangliös (oder sympathisch); das Hirn vertritt, wie abermals
allegorisch gesagt wird, das monarchische, das Gangliensystem das
republikanische Prinzip. Kopf- und Bauchmenschen lassen sich so
unterscheiden. Im wachen Zustand dominiert das Gehirn; im Schlaf
ist es ausgeschaltet und nun übernimmt das sympathische System
die Herrschaft — es ist der Träger des Unbewussten, des Traum-
lebens, es repräsentiert den inneren Menschen, seinen ‚„siderischen“
oder „Ätherleib‘‘ der, wie ein Embryo, im äusseren Menschen verborgen
steckt. Ist das zerebrale Bewusstsein ausgeschaltet, so kann man, nach
Wegfall dieser Hemmung, auf die Ganglien einen Einfluss ausüben,
und zwar mittels der Kraft, welche wir vorhin schon als die spezifisch
nervöse kennen gelernt haben — des Magnetismus. Hier er-
kennen wir die Fäden, welche zum Mesmerismus hinüberführen,
und es ist bezeichnend, dass gerade die Anhänger der Naturphilo-
sophie — ich erinnere an den älteren Gmelin, an Ringseis,
Windischmann, ferner an Koreff und Wolfart, die unserer
Hochschule als Lehrer aufgedrängt wurden — diese Heilmethode mit
Eifer ausübten. Es war dabei nötig, dass der Magnetiseur über
positiv, der Kranke über negativ magnetische Kräfte verfügte —
sie standen einander als aktive bzw. passive Medien, als Neuryander
und Neurogyne gegenüber. Auch die Dämonen, vonderen Existenz
bekanntlich Justinus Kerner und Eschenmayer so fest
überzeugt waren, schlugen ihren Sitz in den Bauchorganen auf und
konnten von dort durch Magnetismus, ja schon ‚durch die überlegene
Willenskraft aus den Besessenen ausgetrieben werden; dieser Wille
aber musste auf religiöser Grundlage beruhen, nur ein strenggläubiger
Magnetiseur und Beschwörer konnte Erfolge erzielen, und es ist
von hier aus zu verstehen, dass Religiosität überhaupt als Grund-
eigenschaft eines Arztes verlangt wurde — die Medizin galt ale
eine „christliche Wissenschaft“. Dies war insbesondere die Über-
zeugung von Ringseis, der gerade deswegen, als Haupt der
hierarchisch-reaktionären Richtung in Bayern, sich aufs energischste
der !Berufung des Freidenkers Virchow nach Würzburg widersetzte.
Wie nahe sich die erwähnten Ansichten mit denjenigen des jetzigen
Okkultismus berühren, braucht nicht besonders betont zu werden.
Auch mancherlei andere, jetzt wieder auftauchende Lehren besegnen
uns hier, so z. B. die Annahme eines Sehens mit den Fingerspitzen ;
ein so gelehrter Mann wie Carus begründete solche Möglichkeit
mit der Darlegung, das Auge sei weiter nichts als modifizierte Haut
110 C. Posner. [6
und so könne auch die Haut wohl einmal die Rolle des Sehorgans
übernehmen 5)!
Ich will diese, ausserhalb unseres eigentlichen Themas liegenden
Dinge nicht weiter verfolgen; wesentlicher für uns ist die Betrach-
tung einer anderen Form der Polarität, welche eine Grundlage der
Konstitution betrifft — die Trennung der Geschlechter.
In diesem Betracht werden die äussersten Konsequenzen gezogen,
und wir finden am verbreitetsten dieschon erwähnte Anschauung, dass
der Kopfteil des Menschen das männliche, der Bauchteil
das weibliche Prinzip repräsentiert; die beiden, so vorstellbaren
Einzelwesen sind durch das Zwerchfell miteinander verbunden oder
gegeneinander abgegrenzt. Die alte, ja schon auf Platon zurück-
gehende Vorstellung von der ursprünglichen Doppelgeschlechtlich-
keit sollte hierdurch einen morphologischen Ausdruck finden —
nur darüber sind sich die Naturphilosophen nicht ganz einig, ob nicht
vielmehr die rechte Körperhälfte als männlich, die linke als weiblich
zu bezeichnen sei. Jedenfalls wird daran festgehalten, dass selbst
bei ausgesprochener Sexualität doch immer ein Anteil des anderen
Geschlechts vorhanden ist — der Mensch ist entweder Androgyne
oder Gynander, je nachdem der männliche Einschlag beim Weibe
oder der weibliche beim Manne betont ist. Dies ist allerdings nur im
psychischen Sinne zu verstehen — der eigentliche, körperliche
Hermaphroditismus, ja auch abnorme Triebrichtungen bleiben dabeı
ausser Betracht. Diese Vorstellungen beherrschen die romantischen
Denker und Dichter in hohem Masse, und es ist gewiss beachtenswert,
was F. Giese®) neuerlich hervorhob, dass unter ihnen selbst solche
geistigelntersexualität so oft vorkommt — bei Persönlich-
keiten wie Rahel, Caroline, Dorothea einerseits, Schleier-
macher, Schlegel, Hölderlin andererseits treten maskuline
bzw. feminine Züge recht deutlich hervor. Symbolisch wird die
Doppelgeschlechtlichkeit in der Form einer Ellipse dargestellt —
der. Kreis wäre eine solche, deren Brennpunkte sich decken. Er ent-
spräche dem undifferenzierten Geschlecht und dies sollte morpho-
logisch sich so ausdrücken, dass seine Form im kindlichen Körper
5) Es ist lehrreich, hierzu den Aufsatz Arthur Schopenhauers
„Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt“ (Parerga und
Paralipomena Bd. 1) zu vergleichen, in welchem die Phänomene des Traumes,
des Hellsehens, des Somnambulismus abgehandelt werden; der Gegensatz
zwischen Gehirn und Gangliensystem wird auch dort besonders betont, wenn-
gleich in anderem Sinn als seitens der Naturphilosophen.
D Vgl. sein Buch „Der romantische Charakter“ sowie seinen Artikel
„Androgynenproblem" im Handwörterbuch der Sexualwissenschaft, herausg.
von Max Marcuse, Bonn. Verlag von Marcus & Weber, 1923.
7] Die Naturphilosophie als Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschung. 111
vorherrscht — der ursprünglich runde Kopf des Kindes wandle
sich erst allmählich in das bleibende Oval des Erwachsenen um.
Wenn wir nun weiter dieErblichkeitalsein sehr wesentliches
Moment für den Aufbau der Person in Anspruch nehmen, so ist
gerade dieser Gedankengang der Naturphilosophie geläufig; treten
doch in ihrem Kreise zum erstenmal ganz bewusst die Vorstellungen
einer organischen Entwicklung und. Abstammung der
Lebewesen auf. Es ist hier insbesondere Lorenz Oken zu nennen,
der zwar im einzelnen vielfach irrte, aber doch das genetische Prin-
zip wie kein Forscher in Deutschland vor ihm als beherrschend
erkannte. Sein Urschleim freilich ist, auch nachdem er in Gestalt
des Bathybius ein kurzes Dasein gefristet hat, der Vergessenheit
anheimgefallen ; seine Annahme, dass alles Lebendige aus urerzeugten
Infusorien sich bilde und wieder in golche zerfalle, dass auch das
Sperma aus solchen Infusorien bestehe, dünkt uns heute absurd. Aber
wenn er ausspricht, dass im einzelnen Menschen die Erbschaft von
Jahrhunderten steckt, wenn er das Vegetative im Menschen aus dem
Pflanzenreich, das ‘Animalische aus dem Tierreich herleitet, so sehen
wir hier die Ahnung phylogenetischer Vorgänge, die vielleicht sogar
bis heute noch nicht voll gewürdigt sind. Und wenn wir heute etwas
mehr geneigt sind, auch den kosmischen Einflüssen — Sonne, Mond,
Wasser, Klima — nachzugehen, so liegt hierin eine Anerkennung,
ganz in seinem Sinne, dass diese Momente auf die frühere organische
Entwicklung bestimmend eingewirkt haben und dass vielleicht die
Spuren solcher Einwirkung auch heute noch dem forschenden Blick
sich verraten mögen.
Ich habe eingangs unserer Betrachtungen bereits hervorgehoben,
dass die Wirkung der naturphilosophischen Anschauungen auf die
Zeitgenossen — also um das Ende des 18. Jahrhunderts — eine
geradezu unerhörte war. Man kann sich heute nur schwer vor-
stellen, dass Schellings Kollegien in Jena das wichtigste Ereignis
und ausschliessliche Gesprächsthema bildeten ; nicht bloss Studierende,
sondern auch ältere Gelehrte drängten sich scharenweise hinzu — der
Markt der kleinen Universitätsstadt war, so wird berichtet, um die
Stunde seines Vorlesungsbeginnes schwarz von Menschen, so dass
der Uneingeweihte an Auflauf und Ruhestörung glaubte. Es scheint
mir besonders interessant, zu beobachten, wie sich das grösste natur-
wissenschaftliche Genie jener Zeit mit den neuen Lehren abfand —
ich spreche von Goethe’),
1) Vgl. hierzu besonders Max Morris Einleitung und Anmerkungen zu
Goethes Schriften zur Morphologie, Jubiläumsausgabe, Bd. 39. Ferner Goethe
und die Romantik, Schriften der Goethegesellschaft. Bd. 13. 1898.
112 C. Posner. [8
Goethes Briefwechsel mit Schelling zeigt, dass ihm zunächst nicht nur
dessen Philosophie zusagte, sondern dass er ihm auch ganz persönlich ein warmes
Interesse widmete, wie er es ja auch in der Angelegenheit der Scheidung
Carolinens von A. W. Schlegel und ihrer Wiederverheiratung mit
Schelling praktisch betätigte. Schon. der Begriff der „Weltseele“ war
ihm, anfangs wenigstens, durchaus sympathisch — wählte er doch dieses Wort
zur Überschrift eines (früher „Weltschöpfung‘‘ betitelten) Gedichtes, welches
durchaus naturphilosophischen Geist atmet. Später freilich sagte er sich von
der Schellingschen Lehre, wonach von dieser Weltseele aus die einzelnen
Monaden ausgeschwärmt seien, um nun eine selbständige Existenz zu führen, los
und kehrte zu seiner alten, pantheistisch-spinozistischen Auffassung zurück, die
Gott überall in der Natur suchte und sich beschränkte, das „Erforschliche zu
erforschen, das Unerforschliche aber (seine Urphänomenel) ruhig zu verehren‘;
seine Abkehr brachte er in einem Brief an Heinrich Steffens recht
unverhohlen zum Ausdruck. Gewisse Gedanken aber, insbesondere die Betonung
der Polaritäten, waren ihm aus der Seele gesprochen; ja, er hatte sie schon —
wohl durch Kielmeyer angeregt — lange gehegt und in den Gegen-
sätzen von Systole und Diastole, Bejahung und Verneinung, geradezu zur Grund-
lage seiner Naturbetrachtung gemacht. Ebenso war er, der Begründer der Meta-
morphosenlehre, mindestens einer der ersten Vertreter des genetischen Prinzips,
wenn man ihn auch nicht als bewussten Anhänger der Deszendenzlehre im
heutigen Sinne in Anspruch nehmen darf. Die Kontinuität des Lebens bildete
für ihn jedenfalls ein wesentliches Axiom; seine Verse
Das Ewge regt sich fort in Allen —
Denn Alles muss in Nichts zerfallen
Wenn es im Sein beharren will
lassen keine andere Deutung zu; enthalten sie doch auch im Keime bereits die
Lehre von der Erhaltung der Energie! Vor allem aber war ihm bei seinen
unablässigen Studien zur Morphologie — auch dies Wort hat er ja geprägt —
bereits die Erkenntnis aufgegangen, auf der unsere heutige Konstitutionsfor-
schung zum grössten Teile sich aufbaut — die Erkenntnis von der Wechsel-
wirkung der Organe. Dies beweist in voller Klarheit der folgende Satz 8): „Allein
noch wäre zu wünschen, dass zu einem schnelleren Fortgang der Physiologie im
ganzen die Wechselwirkung aller Teile eines lebendigen
Körpers sich niemals aus den Augen verlöre; denn bloss allein durch den
Begriff, dass in einem organischen Körper alleTeileaufeinenTeilhin-
wirken und jeder auf alle wieder seinen Einfluss ausübt, können wir
nach und nach die Lücken der Physiologie auszufüllen hoffen.‘ Nach und nach
— es fehlten damals noch die Methoden der Experimentalphysiologie und der
physiologischen Chemie, die die endgültige Begründung dieses Satzes ermöglicht
haben, und selbst, wenn sie vorhanden gewesen wären, würde gerade Goethe,
der sich im Gegensatz zu den Naturforschern und Naturphilosophen bescheiden
als „Naturschauer“ zu bezeichnen liebte, sich ihrer kaum bedient haben.
Noch in einem anderen Punkte übrigens, in der Unterscheidung von innerem
Wachstum und äusseren, formativen Reizen ist er auf Grund eigener Versuche
an Pflanzen seiner Zeit weit vorausgeeilt ?).
3) „Von den Vorteilen der vergleichenden Anatomie und von den Hinder-
nissen, die ihr entgegenstehen.‘ Vortrag, 1796 (Schriften z. Morphologie).
9) Dass ihm auch die Vorstellung des „Eins und Doppelt“ im menschlichen
Organismus geläufig war, hat er in dem Gedicht „Gingko biloba‘‘ (W. ö. Diwan)
anmutig angedeutet.
9] Die Naturphilosophie als Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschuneg. 113
So gross der unmittelbare Erfolg, so rasch ‚war auch đer Nieder-
gang der naturphilosophischen Ära; wie die romantische Kunst wieder
einer klassizistischen Richtung Platz machte, so griff auch die Heil-
kunde, von mystischer Schwärmerei sich abkehrend, zu einer exak-
teren Methodik. Zunächst freilich geriet sie noch einmal auf einen
Irrweg; sie verfiel in ein neues, nur scheinbar wissenschaftliches
Schematisieren, indem sie, nach dem Beispiel der übrigen natur-
historischen Disziplinen (Zoologie, Botanik, Mineralogie) sich auf eine
systematische Ordnung beschränkte, das geistige Band aber
vernachlässigte; die Krankheiten galten — was übrigens auch Ring-
seis geglaubt hatte, — als parasitische Wesen, welche den Körper
feindlich überfallen 10). Diese ontologische Anschauung hat
bekanntlich kein Geringerer als Johann LucasSchönlein lange
vertreten und durch seine Autorität gestützt. Aber man tut ihm,
wie dies Virchowil) in seiner berühmten Gedächtnisrede aus-
geführt hat, Unrecht, wenn man ihn lediglich als das Haupt der
naturhistorischen Schule ansieht — der grosse Kliniker
_ zeichnete sich vor allem durch die streng methodische Untersuchung
am Krankenbett aus und hat als erster die genetische Beobachtung
des Krankheitsprozesses gelehrt. Er hat auch selbst die naturhisto-
rische Systematik nie als aller Weisheit Schluss angesehen, nur
seine Schüler haben dies Prinzip so stark in den Vordergrund ge-
rückt. Dass in seiner Denk- und Lehrweise für den konstitutionellen
Gedanken viel Raum war, ist kaum anzunehmen, wenngleich schon
in seiner Erstlingsarbeit ‚von der Hirnmetamorphose“ sich sowohl
genetische, wie korrelative Ideen angedeutet finden (Virchow).
Nicht vergessen aber war dieser Gedanke in einer neuen Rich-
tung, die nunmehr auf den Plan trat, ja man darf sagen, dass er hier
zum letzten Male vor seiner Wiedererweckung lebendige Gestalt an-
nahm. Hatte auch die naturhistorische Schule bereits sich dafür
10) Es wäre hier ein eigentümlicher Irrtum zu berichtigen, in welchen
Ricarda Huch (Il. c. S. 284) verfallen ist. Sie gibt an, dass Ringseis
„im hohen Alter — er starb erst im Jahre 1880 — aus einer kleinen Schrift
von Virchow zu seiner Überraschung erfuhr, dass diese Theorie mit den
modernsten medizinischen Forschungen übereinstimmte — die grosse Entdeckung
des Tages, die Bazillentheorie, war eine wesentliche Behauptung seines ver-
höhnten Systems gewesen“. Für den ärztlichen Leser braucht das Schiefe
dieser Auffassung nicht besonders ausgeführt zu werden; und Virchow als
Vertreter der Bazillentheorie hinzustellen, heisst doch den wirklichen Sach-
verhalt arg verkennen!
1) Rudolf Virchow. Gedächtnisrede auf Joh. Lucas Schön-
lein. Berlin. A. Hirschwald 1865. Dort auch Näheres über Marcus, Rösch-
laub, Walther, v. Ringseis.u. a.
114 C. Posner. r10
eingesetzt, dass die Medizin sich aller Hilfsmittel naturkundlicher
Forschung zu bedienen habe, so wurde diese Idee zum leitenden Prin-
zip derjenigen, welche die „pathologische Physiologie“ als
Parole ausgaben — es waren dies in Deutschland einmal Jakob
Henle, weiter aber die drei „schwäbischen Reformatoren‘“
Wunderlich, Roser, Griesinger. Namentlich Carl
Wunderlich1?), gleich gross als Kliniker wie als Historiker,
hat — wie das auch His in seinem vorhin erwähnten Referat ge-
bührend hervorhob — die Konstitution geradezu als Grundlage
für die allgemeine Pathologie betrachtet; nicht nur de-
finiert er sie, ganz im heutigen Sinne, als „den Inbegriff der
gesamten Organisationsverhältnisse, als „das Resul-
tat der leiblichen Geschichte des Individiums“ auch
seine Unterabteilungen, — venös, Iymphatisch, asthenisch usw. —
gemahnen an die neueren Versuche solcher Differenzierung; ebenso
berücksichtigt er ausgiebig den Erblichkeitsfaktor, wenn er
gleich den äusseren Einflüssen etwas weiteren Spielraum zuschreibt,
als wir meist anzunehmen geneigt sind. Damit aber verschwindet
die konstitutionelle Betrachtungsweise für lange Zeit fast völlig aus
der wissenschaftlichen Literatur, wenigstens aus: der deutschen,
während man z. B. in Frankreich noch gern mit solchen Begriffen
(z. B. Arthritismus) arbeitete13). Ich glaube allerdings, dass der
Konstitutionsgedanke im Bewusstsein der Kliniker und Ärzte nie so
gänzlich erloschen war; und wenn z. B. Ernst von Leyden
immer wieder hervorhob, dass wir es nicht mit Krankheiten, sondern
mit kranken Menschen zu tun haben, so konnte er schliess-
lich damit nichts anderes meinen, als dass wir in jedem Einzelfall
unser ärztliches Handeln den besonderen Bedingungen der Person,
d. h. der Art, wie sie auf die krankmachenden und heilenden Reize
reagiert, anzupassen haben 14). Aber, in der Tat, sowohl die vor,
wiegend lokalistische Auffassung der pathologischen Ana-
tomen, wie besonders die überwältigenden Ergebnisse der Bak-
teriologie, die in ihrem ersten Überschwang gar zu ausschliess-
lich die exogenen Erreger berücksichtigte, endlich wohl auch die not-
12) C.A. Wunderlich, Handbuch der Pathologie und Therapie. II. Aufl.
Bd. 1. Stuttgart, Ebner u. Seubert. 1852. S. 227 ff.
13) Vgl. hierzu His’ oben erwähnten Vortrag. Von Deutschen sind z. B.
Beneke und Ebstein als Anhänger des Konstitutionsgedankens, letzterer
namentlich in bezug auf die sog. Diathesen zu nennen.
14, In seinen „Lebenserinnerungen‘ (Stuttgart und Leipzig 1910) drückt er
das so aus .„In der Beurteilung und Behandlung des kranken Individuums
gipfelt die innere Medizin; ihr hat von jeher das Individualisieren für eine
der höchsten Eigenschaften des Arztes gegolten.“
11] Die Naturphilosophie ale Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschung. 115
wendige Kleinarbeit des Laboratoriums überhaupt, lenkte den
Blick von den Problemen der Konstitution ab, und es bedurfte erst
der unausgesetzten, anfangs viel verkannten Bemühungen von
Männern wie O. Rosenbach, Hueppe, Gottstein, Martius,
Kraus, v. Hansemann, His u. a, um deren Bedeutung wieder
ins rechte Licht zu rücken.
Wir stehen jetzt mitten in der von diesen Forschern eingeleiteten
Bewegung. Wer gewohnt ist, historisch und genetisch zu denken,
wird sich gern Rechenschaft darüber ablegen, an welche, lange ab-
gerissene Fäden sie sich anknüpfen lässt. Wenn ich dabei an die
Zeit der Naturphilosophie erinnert habe, so weiss ich, dass
der modern geschulte Arzt sich nur mit einem gewissen Unbehagen
in jene Periode zurückversetzen lässt; hat doch gerade die damals
herrschende schrankenlose Spekulation, die die Dinge aprioristisch
konstruieren wollte, dahin geführt, dass der ganze Begriff der, Natur.
philosophie‘ diskreditiert wurde und insbesondere die Medizin lange
glaubte, durchaus ohne jede Beziehung zur Philosophie überhaupt
auskommen zu sollen. Dies hat sich in jüngster Zeit gründlich ge-
ändert — wir müssen jetzt eher von einer Renaissance der
Naturphilosophie sprechen. Gelernt haben wir aber — oder
wenigstens: wir sollten gelernt haben! — die beiden Gebiete, Natur-
wissenschaft und Philosophie, einesteils streng gegeneinander abzu-
grenzen, jedem seine Selbständigkeit zu wahren, insbesondere zu
verhüten, dass nicht das eine das andere überwuchert und unterjocht
— andererseits aber eine gegenseitige Befruchtung für unerläss-
lich anzusehen. Was wir fordern ist, wie Berthold von Kern 15)
dies ausdrückt „die Anerkennung der Leistungen derer, auf deren
Schultern wir stehen, der Leistungen der ‚Vergangenheit in allen ihren
Teilen und auch weiter darüber hinaus die Anerkennung der nur
scheinbar auseinanderstrebenden Strömungen der Gegenwart.“ Dies
bedeutet „einen endgültigen Bund zwischen reiner Naturwissen-
schaft und reiner Philosophie“.
Es ist das die gleiche Forderung, die schon Schiller und Goethe
im Xenienjahr (1797) erhoben hatten, wenn sie den Naturforschern und
Transzendental-Philosophen zuriefen:
Feindschaft sei zwischen Euch, noch kommt das Bündnis zu frühe,
Wenn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt.
Jeder wandle für sich und wisse "nichts von dem Andern —
Wandeln nur beide gerad, finden sich beide gewiss!
15) B. Kern, Weltanschauungen und Welterkenntnis. Berlin, A. Hirsch-
wald 1911. S. 450 sowie desselben Autors „Problem des Lebens‘, Berlin, Hirsch-
wald 1909.
116 C. Posner. [12
Werden diese Forderungen erfüllt, dann werden uns auch
die früher begangenen Irrtümer und Entgleisungen erspart
bleiben. Dass die romantisch gerichteten Anhänger der Natur-
philosophie in solche verfallen sind — wer wollte das leugnen?
Es ist leicht, sie mit souveränem Spott abzutun und das Ver-
kehrte ihrer Geistesrichtung nachzuweisen. Vergessen wir aber
nicht, dass ihnen die Forschungsmethoden noch mangelten, denen
wir unsere Kenntnisse auf dem Gebiet der Physiologie, wie der
Klinik, der Erblichkeitslehre, der Anthropologie und
der Psychologie zu danken haben. Dies sind die Wurzeln, aus
denen Konstitutions- und Sexualwissenschaft ihre Nahrung ziehen —
sehr verschiedene Wurzeln, die aber, wie wir hoffen, in gleichem
Masse unserer Gesellschaft Kraft und Gedeihen sichern sollen !
Aus der II. medizinischen Klinik der Universität Berlin
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Kraus).
Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf
dieKonstitution in den verschiedenen Lebensaltern
des Menschen').
Von
Dr. Max Berliner, Berlin- Charlottenburg.
Wenn ich im folgenden auf die Konstitution des Menschen in
den verschiedenen Lebensaltern und den Einfluss der endokrinen
Hormone auf die Konstitution näher eingehen will, bin ich ge-
zwungen, zuvor meine Stellungnahme zu dem Begriff Konstitution
klarzulegen. Der Begriff Konstitution ist in der wissenschaftlichen
Medizin einer der meist umstrittenen, so dass ich beinahe dem Vor-
schlag von Mathes beipflichten möchte, dass einmal eine neutrale
Kommission von Wissenschaftlern mit autoritativer Vollmacht eine
genaue Umgrenzung dieses Begriffes festlegen möchte. Die Unter-
schiede in der Auffassung beruhen darin, dass ein Teil der Forscher
die Konstitution rein genotypisch auffassen, also alles auf die ererble
Anlage zurückführen und auch die Reaktion auf bestimmte äussere
Reize (Konditionen) auf die ursprüngliche Anlage zurückführen.
Die andere Auffassung definiert den Konstitutionsbegriff phäno-
typisch, d. h. aus der Summe der Anlage und der Erscheinung des
Einzelwesens.
Die genotypische Auffassung des Konstitutionsbegriffes ist ein fiktiver
Begriff, der in keiner Weise exakt wissenschaftlich bei irgend einem mensch-
lichen Individuum in präziser Weise festgelegt werden kann. Bei einer so ge-
mischten Population, wie es die menschliche ist, ist es bei dem einzelnen Indi-
vidaum beinahe unmöglich, mit absoluter Sicherheit zu trennen, was Erbanlage
und Milieueinfluss ist, besonders aus dem Grunde, weil es „reine Linien‘ beim
Menschen überhaupt nicht gibt, und ferner weil bereits zwei Familien derselben
Verwandtschaft zu gleicher Zeit, geschweige denn in verschiedenen Generationen,
niemals übereinstimmende Lebensführung aufweisen.
1) Vortrag, gehalten am 17. Jan. 1924 im Verein für Konstitutions-
forschung und Sexualbiologie in Berlin.
118 Max Berliner. [2
Ferner kommen noch andere Einflüsse in Betracht, die die Beschaffen-
heit des Keimplasmus variieren: Jede Keimzelle, ob männlich oder weiblich, hat
Reduktionsteilungen durchzumachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Tei-
lungen jemals zwei identische Hälften ergeben, ist unendlich klein; jede auch die
kleinste -Ungleichheit wird in der weiteren Entwicklung immer grössere Aus-
schläge ergeben. Selbst bei eineiigen Zwillingen wird die Spaltung des schon be-
fruchteten Eies praktisch so gut wie niemals völlig symmetrisch ausfallen, geno-
typisch identisch werden also auch eineiige Zwillinge nicht sein. Der Zustand
der Keimdrüsen bleibt oft in der Entwicklung und eindeutig sexuellen Differen-
zierung zurück. Die Keimzellen selbst erlangen dann nicht oder nur unvoll-
kommen die nötige Reife (Follikelatresie). Die Inkrete anderer endokriner
Drüsen können hier verbessernd eingreifen und die Keimzellen zur Ausreifung
bringen. Mathes hat durch Injektion von Hypophysen-Extrakt langjährige
primäre oder sekundäre Sterilität geheilt. Schädigungen des Keimplasmas können
ferner durch Gifte herbeigeführt werden (Blastophtheorie Forels) durch Alkohol,
Morphium, Salze der Schwermetalle, Syphilis u. dgl.
Mit Rücksicht auf diese Überlegungen schliesse ich mich be-
züglich des Konstitutionsbegriffes der weitgehendsten Auffassung
an, indem ich darunter die Gesamtheit eines Menschen sowohl in
den Beziehungen der einzelnen Teile zum Ganzen und umgekehrt,
als auch der ganzen Einheit zur Umwelt, also die gesamte physische
und psychische Person mit seinem Milieu im Augenblick der Be-
trachtung zusammenfasse. Die Konstitution eines Menschen ist damit
etwas wissenschaftlich exakt Greifbares geworden, indem sie sich
auf die vorhandenen Untersuchungsmethoden stützt und die ge-
samten feststellbaren Ergebnisse in ihre Betrachtung einbezieht.
Eine solche Untersuchung erstreckt sich auf folgende drei Punkte:
1. Die Erfassung des äusseren Habitus mit Hilfe der anthropologischen
Untersuchungsmethoden, wie sie besonders in leizter Zeit von Martin
auch in eine für die Klinik brauchbare Fassung gebracht worden sind.
2. Die genaue Untersuchung der inneren Organe des Menschen, sowohl
bezüglich ihrer Form, der Lage zueinander, als auch ganz besonders be-
züglich ihrer Funktion, und
die Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines Menschen, die messbar ist
an der körperlichen und geistigen Arbeitsleistung, der Ausdauer, der
Ermüdung und der Erholung. S
Wenn wir nunmehr auf unser eigentliches Thema eingehen,
so besteht bei der Fülle von vorhandenen Forschungsergebnissen die
Notwendigkeit, eine Einteilung vorzunehmen. Wir können eine solche
Einteilung in der Weise vornehmen, dass wir die endokrinen Ein-
flüsse in bezug auf die Ontogenie gesondert betrachten von den endo-
krinen Einflüssen auf die phylogenetischen Fragen. Damit wäre die
Teilung des menschlichen Lebens in zwei Zeitperioden gegeben, in die
Perioden vor Beginn und nach Abschluss der Geschlechtsreife und
in die Periode der Geschlechtsreife selbst. Diese Einteilung
wird aber auch dann zu ihrem Rechte kommen, wenn ich aus prak-
Lët?
ken e
.
3j Über den Kinfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 119
tischen Gründen heute die Perioden des menschlichen Lebens in die
fötale, die Zeit der Entwicklung, die Zeit der Reife und die Zeit der
Involution einteile.
Diese Art der Einteilung gestattet uns, die Wirkung der endo-
krinen Hormone in ihrer Bedeutung für die einzelnen Perioden
in folgender Weise festzulegen: In der Entwicklungszeit
von der Befruchtung bis zum Ende des Wachstums
macht sich der Einfluss der endokrinen Hormone
voralleman den Erscheinungen des äusseren Habi-
tus geltend, in der Zeit der Reife beherrschen die
endokrinen Hormone vor allem die Funktionen und
die Leistungsfähigkeit, und in der Involution diri-
gieren sie die körperliche Involution, den Nieder-
gang der Leistung und der Funktion.
Fassen wir die Fötalperiode mit dem Bewusstsein des Fehler-
haften als Symbiose zwischen der Mutter und dem Fötus auf,
so wird es uns klar, dass alles, was das endokrine System der Mutter
trifft, z. B. Ernährungsfehler, Infektionen oder dgl., ohne weiteres
sich auch beim Fötus in irgend einer, wenn auch uns noch nicht
immer zugänglichen Form bemerkbar machen wird. Es sind uns be-
reits eine ganze Anzahl von Wechselwirkungen zwischen Mutter und
Fötus bekannt, von denen ich hier nur folgende als Beispiel an-
führen möchte:
Besonders interessant ist der klassische Tierversuch, bei dem
trächtige Tiere, des Pankreas beraubt, während der Gravidität zucker-
frei blieben; das Pankreas des Fötus hat die Mutter vor dem Dia-
betes bewahrt, nach der Geburt erkrankte das Muttertier an Pankreas-
Diabetes.
Eine ganz ähnliche Erscheinung, aber für die Mutter ungünstiger,
wurde in einer Familie mit erblichem Diabetes insipidus beobachtet.
Während der letzten Monate der Schwangerschaft traten bei der
sonst gesunden Mutter Erscheinungen von Diabetes insipidus auf,
unmittelbar nach der Entbindung verschwanden die Erscheinungen.
Dieses Kind hatte von der väterlichen Familie her den Diabetes insi-
pidus geerbt. Während der anderen Schwangerschaften traten bei der
Mutter keine solche Erscheinungen auf. In diesem einen Falle haben
die Hormone des kranken Kindes einen ungünstigen Einfluss auf
die Mutter ausgeübt und sie in ihrem Stoffwechselgleichgewicht
gestört.
Da der Fötus auch bei unzureichender Ernährung der Mutter
auf Kosten der Substanz der Mutter sich entwickelt, so machen sich
Mängel in der mütterlichen Ernährung nicht immer beim Neuge-
120 Max Berliner. [4
borenen bemerkbar, eine qualitativ oder quantitativ mangelhafte
Ernährung der Mutter kann aber auch zu einem vorzeitigen intra-
uterinen Absterben der Föten führen, im allgemeinen pflegt ein
erst später einsetzender Futtermangel aber keinen wesentlichen Ein-
fluss auf das wachsende Tier zu haben, welches auf Kosten der
Substanz der Mutter lebt. In Zusammenhang mit dem gesteigerten
Bedarf des Muttertieres während der Laktationsperiode dürfte wohl
auch das Auffressen der Plazenta und sogar der eigenen Jungen
dienen.
Auch bei der Schilddrüse lässt sich ein enger Zusammenhang
zwischen Mutter und Fötus erkennen: denn die Neugeborenen, welche
später an Hypothyreosen erkranken, sind während der Fötalperiode
genügend mit Schilddrüsenhormon versorgt worden, so dass bei der
Geburt noch keine Krankheitserscheinungen beobachtet werden,
söndern sich diese erst allmählich einstellen. An dieser Stelle ist
auch das häufige Anschwellen der Schilddrüse während der
Schwangerschaft zu betonen. Eine ähnliche Bedeutung dürfte die
Vermehrung und das Wachstum der Hypophyse überhaupt und
besonders ihrer eosinophilen Zellen während der Schwangerschaft
für den wachsenden Fötus haben.
Wenn wir uns nunmehr dem extrauterinen Leben des Menschen
zuwenden, so müssen wir zuerst uns darüber klar sein, dass ent-
sprechend der vorhin von uns gegebenen Einteilung des Lebens
in verschiedene Perioden verschiedene Hormone zu verschiedenen
Zeiten das Bild beherrschen. Vor allem macht sich der Antagonismus
zwischen der Zirbeldrüse und der Entwicklung der Geschlechtsorgane
kenntlich. Es wäre weit verfehlt, anzunehmen, dass vor dem Offen-
barwerden der Geschlechtsfähigkeit die Geschlechtsdrüsen nicht funk-
tionieren. Dagegen spricht vor allem schon die charakteristisch ver-
schiedene Entwicklung des Habitus bei Knaben und Mädchen und
der Psyche während der ersten Lebensjahre und ferner der Befund
von wachsenden Follikeln im Ovarium bereits kurz nach der Geburt.
Ähnlich, wenn auch weniger erforscht, dürften die Verhältnisse beim
Hoden liegen, wobei es ganz gleich ist, welche Stellung wir zu den
noch immer umstrittenen Pubertätsdrüsen nehmen. In analoger Weise
können wir zwar bereits vom siebenten Lebensjahr ab regressive Vor-
gänge an der Zirbeldrüse beobachten, aber es fehlt uns bisher jeder
Beweis, ob und wann die Zirbeldrüse ihre Tätigkeit überhaupt ein-
stellt. Bei den anderen endokrinen Drüsen z. B. Thyreoidea, Thymus
und Hypophyse sehen wir in der Abbildung 1 sehr wohl die Grössen-
entwicklung, der vermutlich die Grösse der Funktion parallel geht,
aber wir sehen gleichzeitig, dass nicht eine Drüse die andere ablöst,
5] Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 121
und wir wissen, dass sich die Funktionen der Drüsen bei Ausfall
der einen korrigierend dem entstandenen Fehler anpassen können.
Diese gegenseitige Überlagerung der verschiedenen endokrinen Hor-
mone erschwert einerseits die Erfassung von nicht extremen Konsti- .
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Abb. 1. Graphische Darstellung der Zeit, des Wachstums und der Funktion der
endokrinen Drüsen. Die Gewichtsangabe ist bei Thymus und Thyreoidea in g.
bei der Hypophyse in Ti g erfolgt.
tutionsfehlern, andererseits hat uns die in den Tierversuchen be-
obachtete Korrelation in der Beurteilung von nicht ganz reinen
Krankheitstypen erheblich gefördert.
In der Wachstums- und Entwieklungszeit des
Menschen können wir im Groben die Einteilung des
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 2. 9
122 Max Berliner. [6
endokrinen Einflusses so vornehmen, dass wir der
Zirbeldrüse und den Keimdrüsen wachstumshem-
mende, der Thymus, Hypophyse und Thyreoidea
wachstumsfördernde Einflüsse zuschreiben. Auf-
fallende Abweichungen des Körperbefundes bei der Geburt pflegen
sich späterhin meist auszugleichen, sowohl was den fötalen Riesen-
wüchs als auch was den fötalen Kleinwuchs anbetrifft. Das kleinste
lebensfähige Kind hat angeblich bei der Geburt 750 g gewogen, das
grösste 10,5 kg. Letzteres hat sich allerdings später zu einer über-
mässigen Körpergrösse entwickelt. Im allgemeinen kann man aber
annehmen, dass fötaler Riesenwuchs mit einem Gewicht von 5000 g
und darüber auf Spätgeburt zurückzuführen ist. Nur in seltenen
Fällen dürfte es sich um familiäre Erscheinungen handeln.
Seltstverständlich spielen auch im späteren Leben neben den
hormonalen Einflüssen die gesamten Milieuverhältnisse, besonders
die Ernährung, eine wichtige Rolle, letztere schon aus dem Grunde,
weil bestimmte Edelstoffe der Nahrung imstande sind, die Tätigkeit
der endokrinen Organe zu vermehren bzw. deren Mangel die Funk-
tion herabsetzt!). Am besten lässt sich der Einfluss der endokrinen
Drüsen auf das Wachstum an den extremen Fällen studieren. Am
auffällissten und am relativ häufigsten beobachten wir dabei neben
Störungen im Dickenwachstum den Klein- bzw. Zwergwuchs, der seine
Ursache hat in mangelhafter Funktion des Thymus, der Thyreoidea
oder der Hypophyse.
Beim Menschen ist ein angeborenes Fehlen der Thymus nur
bei schweren Missbildungen bei lebensunfähigen Kindern beobachtet
worden. Angeblich angeborene Hypoplasie der Thymus bei hoch-
gradig abgemagerten Kindern dürfte aber wohl nur auf akzidentelle
Involution zurückzuführen sein infolge Druckwirkung der Tumoren
und bei den verschiedensten Formen von Kachexie, aber nicht endo-
kriner Art! Die experimentellen Versuche haben wohl ergeben,
dass die der Thymus beraubten Tiere im Wachstum zurückbleiben. und
rhachitisähnliche Knochenverbiegungen aufweisen, aber mit Sicher-
heit, dass die Thymus kein lebenswichtiges Organ ist.
Bei der Thyreoidea führt die Aplasie bzw. hochgradige Hypo-
plasie zu den schweren Veränderungen, die wir beim myxödematösen
Zwergwuchs finden, wo es neben der Wachstumsstörung noch zu
den verschiedenartigsten anderen Ausfallserscheinungen kommt, die
1) Die Minderwertigkeit der deutschen Organpräparate gegenüber den eng-
lischen ist auf solche Mängel in der Ernährung des deutschen Viehs zurückzu:-
führen, infolge der seit 10 Jahren durch politische Geschehnisse verursachten
Futterschwierigkeiten.
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124 Max Berliner. (8
Noch schwerere Erscheinungen sowohl im Wachstum, als auch
bezüglich der übrigen Symptome bietet der Kretinismus, den eine
durch Generationen übertragene und kumulierte Entartung der Schild-
drüse vorliegt. Wenn Finkbeiner in seinem Buche „Die kretini-
sche Entartung“ zu dem Schlusse kommt, dass seine Untersuchungen
an kretinen Skeletten die Annahme einer besonderen kretinischen
Rasse mit atavistischen Merkmalen nahe legen, so möchte ich dem
die Beeinflussbarkeit kretinoider Familien durch Milieuwechsel und
Sanierung ganzer kretinischer Ortschaften durch Bodenassanierung
(Grundwasser-Drainage) entgegenhalten. Auch die Beeinflussung des
endemischen Kropfes durch systematische kleine Jodgaben, wie sie
mit gutem Erfolge jetzt in der Schweiz geübt wird, dürfte mit Recht
Zweifel an dieser Auffassung entstehen lassen.
Die häufigste Form endokrinen Kleinwuchses dürfte aber be-
dingt sein durch Störungen der Hypophyse, sei es primärer Art, wie
sie durch Erkrankungen an der Hypophyse zustande kommen, z. B.
Tumoren, Metastasen, embolisch-nekrotische Prozesse, sei es durch
sekundäre Erkrankungen der Hypophyse, wie wir sie z. B. beim ange-
borenen und erworbenen Hydrozephalus finden. Ein negativer Be-
fund bei der seitlichen Schädelaufnahme ist nicht gegen die Annahme
eines hypophysären Zwergwuchses zu verwerten, seitdem wir wissen,
dass im Verlaufe von kindlichen Infektionskrankheiten toxische Ne-
krosen im Hypophysen-Vorderlappen, der für das Wachstum über-
ragende Bedeutung hat, vorkommen.
Bezüglich der chondrodystrophischen Zwergwuchses sind wir
noch im unklaren, ob der häufig erweitert befundenen Hypophysen-
grube auch eine pathologische Funktion entspricht. Dafür spricht
die in dem einen sezierten Falle beobachtete Vergrösserung der
Hypophyse auf 2 g Gewicht, deren Sektion leider unterblieben ist.
In anderen Fällen konnte eine Vergrösserung der Hypophysengrube
nicht nachgewiesen werden, was allerdings auch nicht gegen eine
Dysfunktion der Hypophyse ausgelegt werden kann.
Selbstverständlich werden in den Fällen von proportioniertem
universellen Kleinwuchs (Status hypoplasticus, Infantilismus uni-
versalis) die eben genannten endokrinen Drüsen ebenfalls eıne be-
herrschende Rolle spielen, da durch den Mangel an Edelnährstoffen
oder mangelhafter Keimanlage ihre Funktion ebenfalls erheblich
beeinträchtigt sein muss.
Schliesslich gibt es auch einen familiären Kleinwuchs, der als
wenn auch unbeabsichtigtes Zuchtergebnis zufällig kleiner Eltern-
paare aufzufassen ist.
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11] Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 127
der noch das besondere bietet, dass er ausser seiner unförmigen
Körpergrösse und -dicke an jeder der vier Extremitäten sechs
Finger hat. Bei solchen Individuen pflegen im allgemeinen
Tumoren die Zirbeldrüse erdrosselt zu haben. Wächst ein solcher
Tumor weiter, so kann es zu schweren Schädigungen des Gehirns
kommen mit allen hierzu gehörigen Symptomen, Hirndruck, Er-
blindung usw. Andernfalls kommt durch frühzeitiges Aufhören bzw.
Verlangsamung des Wachstums ein Ausgleich zustande.
Während in der Periode des Wachstums eine Störung der Tätig-
keit der inneren Drüse vorwiegend somatische Störungen verur-
sacht, finden sich in der Periode der Vollreife des
IndividuumsbeiStörungenderTätigkeitderinneren
Drüsen zwar auch Veränderungen des Habitus, das
Krankheitsbild wird aber beherrscht von allen den
Zuständen, die wirin.der Klinik der Krankheiten
der Blutdrüsen beobachten. An dieser Stelle möchte ich
nochmals darauf hinweisen, dass es keine isolierten Stö-
rungen einer inkretorischen Drüse gibt, sondern
dass jede Störung einer inkretorischen Drüse auch
Störungen der anderen nach sich zieht, so dass die
gesamteinnersekretorische Harmonie gestört wird;
die Prävalenz der primären Drüsenstörung kann
dabei im klinischen Symptomenkomplex mehr oder
minder vollkommen gewahrt bleiben. Die korrela-
tiven Störungen der inkretorischen Drüsen er-
strecken sieh nicht nuraufden Stoffwechselimall-
gemeinen, sondern auch auf den Zellstoffwechsel
und auf das gesamte, auch das vegetative Nerven-
system. Für den fiktiven konstitutionellen Ideal-
zustandistdieHarmoniederinkretorischen Drüsen
unerlässliche Vorbedingung.
Die weitgehendste konstitutionelle Zustandsänderung finden wir
bei den Störungen der Schilddrüse, die eine breite Skala von der
Hyperfunktion bis zur Hypofunktion umfasst. Das Studium der
Schilddrüsenstörungen ist sehr erleichtert worden durch die Mög-
lichkeit der Zufuhr von Schilddrüsensubstanz von aussen. Die Schild-
drüsenempfindlichkeit wechselt bei jedem Individuum im Laufe seines
Lebens. Während sie im Säuglingsalter kaum Erscheinungen macht,
ist sie um die Zeit der Pubertät und danach am grössten, beim weib-
lichen Geschlecht grösser als beim männlichen. Im Greisenalter sinkt
die Sehilddrüsenempfindlichkeit wieder ab. Die krankhaft gesteigerte
Schilddrüsenfunktion ist ganz ähnlich der artefiziell erzeugten. Die
128 Max Berliner. [12
Erscheinungen treffen sowohl den Kreislauf als auch den Stoff-
wechsel und das vegetative Nervensystem. Das Individuum mit
Hyperthyreodismus zeigt einen gesteigerten Stoffwechsel bis zu
hundert Prozent und einen schnelleren Körperverbrauch. Durch die
ungünstige Kreislaufsarbeit kommt es zu einer starken Kreislauf-
belastung und Herabsetzung der Leistungsfähigkeit. Allerdings scheint
auch eine gesteigerte Thymusfunktion dabei eine wichtige Rolle
zu spielen. -Im allgemeinen kommt es dabei zu deutlicher Ab-
magerung.
Im Gegensatz dazu zeigt der Hypo- und Athyreoidismus cine Tor-
pidität sowohl des gesamten als auch des Zellstoffwechsels, wobei es
für gewöhnlich zu charakteristischen Schwellungen des Unterhaut-
zellgewebes kommt. Herabsetzung des Stoffwechsels um 20—400,o ist
häufig. Die gesamte Betriebsfähigkeit des Organismus ist dabei unter
das Optimum herabgesetzt und die Leistungsfähigkeit eines solchen
Individuums stark gesunken. Die charakteristischste Form dieser Stö-
rung ist das Myxödem, bei dem sich in leichter Weise die Störung des
vegetativen Nervensystems im Sinne eines erhöhten Vagustonus nach-
weisen lässt, mit der charakteristischen ‚Veränderung der Herzfigur
im Sinne des Krausschen Spitzherzens und eigenartigen von
Zondek näher beschriebenen charakteristischen Veränderungen im
Klektrokardiogramm. Weiter finden sich dabei Störungen der Wärme-
regulation mit. niederer Körpertemperatur und ein phlegmatisches, je
nach der Schwere bis an Idiotie grenzendes Temperament,
Der Ausfall der Epithelkörperchen löst einen eigen-
artigen Symptomenkomplex aus, der in einer Steigerung der elele
trischen und mechanischen Erregbarkeit des peripheren Nerven-
systems im Verein mit einer Herabsetzung der Reizschwelle des
vegetativen Nervensystems und in einer Herabsetzung der Assi-
milationsgrenze für Kohlenhydrate besteht. Die Tetanie der Kinder
und die Spasmophilie der Erwachsenen werden durch eine solche
Insuffizienz der Epithelkörperchen erklärt, wobei der Steigerung des
Kalkstoffwechsels eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Es
ist wichtig, zu wissen, dass hypoparathyreotische Zustände auch
heredo-familiär vorkommen und bei geeigneten Gelegenheiten, z. B.
Gravidität, Laktation usw., manifest werden.
Eine Hyperfunktion der Thymus wird dem Symptomenkom-
plex des Status thymico-lymphaticus zugrunde gelegt, der mit einer
verspäteten, bisweilen mangelhaften Entwicklung der Geschlechts-
organe einhergeht, Neigung zu pastöser Fettansammlung und zum
Hochwuchs zeigt. Die Neigung der Schilddrüse zur Vergrösserung
und zur Ausbildung basedowischer Erscheinungen als Korrelations-
13] Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 129
erscheinung haben wir bereits vorhin erwähnt. Daneben zeigt sich
aber auch eine Hypoplasie des Adrenalsystems mit labilem Blut-
druck und Neigung zu Kollapsen, die mit einer gesteigerten Erreg-
barkeit des vagischen Nervensystems einhergehen. Diese gesteigerte
Vagus-Erregbarkeit dürfte auch die Ursache des bei Narkosen und
anderen Umständen so gefürchteten Todes durch plötzlichen Herz-
stillstand erklären. Der Zusammenhang der grossen Thymus mit der
Myasthenie gravis pseudoparalytica ist noch nicht völlig geklärt.
Die Hypofunktion der Thymus ist bisher nur experimentell be-
obachtet worden, sie führt zu einer Veränderung des Kalkstoff-
wechsels und rhachitisähnlichen Knochenveränderuhgen, wie wir
bereits früher besprochen haben.
Bei der Hypophyse beobachten wir als Folge der Hyper-
funktion akromegalen Hochwuchs während des Wachstums, nach
Atschluss des Wachstums Akromegalie. Dabei treten Beziehungen
zum Kohlenhydratstoffwechsel auf, so dass die Toleranz gegen Kohlen-
hydrate herabgesetzt wird. In gleicher Weise wird auch der Purin-
stoffwechsel beeinflusst. Korrelativ finden sich dabei Vergrösse-
rungen an fast allen endokrinen Organen. Die Hypofunktion bzw.
der Ausfall der Hypophyse machen während des Wachstums genau
die entgegengesetzten Erscheinungen. Es kommt zum Klein- bzw.
Zwergwuchs mit Offenbleiben der Epiphysenfugen mit Herabsetzung
des Stoffwechsels, starker Fettentwicklung, Zurückbleiben der Geni-
talien, der inneren Keimdrüsen und korrelativ aller übrigen endokrinen
Organe. Charakteristisch ist dabei die eigentümliche Fettverteilung
am Mons pubis, Hüften und Brüsten (Abb. 7). Beim Erwachsenen
führt der Ausfall der Hypophyse ebenfalls zu einer korrelativen
Hemmung der: Keim- und Pubertätsdrüse, zu hypophysärer Fettsucht
und Muskelschwäche und in den besonderen Fällen der Simmond:-
schen Krankheit, zu einer schweren Kachexie infolge weitgehender
Störungen des Wasser- und Salzhaushaltes. Nach den Untersuchungen
von Aschner und Lescheke ist allerdings weniger der Funktions-
ausfall der Pars intermedia als Ursache dieser Störungen aufzu-
fassen, als vielmehr ein im Zwischenhirn gelegenes Regulations-
zentrum, welches bei Erkrankungen vor allem durch Tumoren der
Hypophyse geschädigt wird.
Bei den Keimdrüsen ist eine H SE heredo-familiär bedingt
oder indirekt durch die Zirbeldrüse bzw. Nebennierenrinde verursacht,
möglicherweise findet sich auch bei einigen Fällen von chondrodystro-
phischem Zwergwuchs eine Vergrösserung und Hyperfunktion der
Keimdrüsen. Es kommt dabei zu vorzeitiger Entwicklung des Iudi-
viduums, vorzeitiger Pubertät und frühzeitigem Abschluss des Wachs-
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15] Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 131
der Keimdrüsentätigkeit werden wir noch im nächsten Abschnitt
näher besprechen.
Die Hyperfunktion der Nebenniere pflegt mit Hyperglykämie
einherzugehen und mit einer Blutdrucksteigerung, die sich in mäs-
sigen Grenzen halten kann, meist aber von frühzeitiger Arteriosklerose
gefolgt ist. Die Hyperfunktion der Nebennierenrinde kann zu einer
Pubertas praecox führen und mit gewissen Änderungen der sekun-
dären Geschlechtscharaktere (Hirsutismus) einhergehen.
Die Hypofunktion der Nebennieren, die mit einer Hypoplasie
des Gefässsystems und der Keimdrüsen einhergeht, findet sich ge-
wöhnlich als korrelative Störung beim Status thymico-lymphaticus
als heredo-familiäre Erscheinung. Als erworbene Erkrankung ver-
dient die Hypofunktion der Nebennieren beim Morbus Addison be-
sondere Bedeutung, charakterisiert durch die Hypotonia arterialis,
den niedrigen Blutzuckerspiegel, die Adynamie und Hypothermie.
Dass die Tuberkulose gerade isoliert beide Nebennieren erfasst,
scheint auf eine gewisse Disposition heredo-familiärer Art zu Er-
krankungen bzw. Hypoplasie des Markes der Nebennieren hinzu-
deuten.
Der dritte Abschnitt unserer heutigen Betrachtungen betrifft
den Einfluss der endokrinen Hormone auf das Altern. Es ist eine
vielumstrittene Frage und vom Geschmack des einzelnen Beurteilers
abhängig, an welchem Zeitpunkt des Individuallebens er den Beginn
des Alterns festsetzen will. Ganz bestimmte eindeutige Symptome
anzugeben, die diesen Zeitpunkt kenntlich machen, sind wir nicht
in der Lage. Im allgemeinen wird das Altern zeitlich zusammen-
treffen mit dem Auftreten von ‘Abnutzungserscheinungen. Es ist
ohne weiteres klar, dass die abnutzenden Lebensfaktoren auf die
einzelnen Individuen je nach ihrer Konstitution nicht einheitlich
wirken. Das konstitutionell schwache Individuum pflegt zwar in
seiner gesamten Anpassungsfähigkeit an die äusseren Lebensfaktoreu
eine geringere Breite aufzuweisen, es vermag sich aber unter den
hygienischen Verhältnissen eines Kulturstaates und den Bequemlich-
keiten günstiger Lebensverhältnisse im Rahmen seiner Anpassungs-
fähigkeit und Leistungsbreite gesund zu erhalten, ja, es kann frag-
los seine Konstitution noch durch alle möglichen Einflüsse verbessern,
2. B. Badereisen, Gebirgsaufenthalt, Sport usw.; bei ungünstigen
materiellen Lebensverhältnissen, wenn der schwere Kampf ums Dasein
berufliche Schädigungen mit sich bringt, wird seine Leistungsbreite
oft und wesentlich überschritten werden und die Folge wird eine
frühere Abnutzung sein.
Es steht ausser jedem Zweifel und ist charakteristisch für den
132 Max Berliner. [16
Vorgang des Alterns, dass die das Altern verursachenden bzw. be-
gleitenden Abnutzungsvorgänge im Organismus irreversibel sind,
und zwar gleichgültig, ob diese Vorgänge physiologischer oder patho-
logischer Art sind. Diese Vorgänge spielen sich auf allen Gebieten
les Organismus ab, und zwar können sie annähernd gleichzeitig die
verschiedenen Organsysteme befallen, das Auftreten kann aber auch
uneinheitlich die verschiedenen Organsysteme befallen, was den Zeit-
punkt des Auftretens anbetrifft. Somatisch erkennen wir das Altern
an der Haarfarbe, der Hautbeschaffenheit, an den Gesichtszügen,
der Haltung, dem Gang usw., kurz, an allem, was wir unter Gesamt-
tonus und -turgor verstehen. Histologisch ist das Altern charakte-
risiert durch die Zunahme der paraplastischen, d. h. der Interzellular-
substanz in hochorganisierten Organen bzw. an der Einlagerung von
gewissen Abnutzungspigmenten, z. B. in Herz und Hirn, die wir
als liegengebliebene Stoffwechselprodukte auffassen müssen. Dass
mit solchen Organveränderungen auch mehr oder minder erhebliche
Funktionsstörungen einhergehen müssen, liegt auf der Hand. Be-
trachten wir den Altersvorgang vom Standpunkt des Stoffwechsels
aus, so beobachten wir einen Mangel der Assimilation einerseits und
eine Unvollkommenheit der Dissimilation andererseits. Vom kolloid
chemischen Standpunkte aus betrachtet, geht der Altersvorgang einher
mit einer Wasserverarmung des Organismus (Marinesco). Am
weitgehendsten ist die Eigenart des Alterns charakterisiert durch
das :Nachlassen der Irritabilität (des Individuums sowohl in psychischer
Hinsicht (Kritik, geistige Aufnahmefähigkeit, Begeisterungsfähigkeit
als auch in somatischer Hinsicht, Herabsetzung der Empfindlichkeit
segen Infekte, Erkältungskatarrhe und Gifte, z. B. Alkohol, Morphin
usw., ferner Thyreodin.
Wir haben gesehen, dass die Vorbedingung für eine gute
körperliche und geistige Leistungsfähigkeit eine gute Harmonie des
endokrinen Systems ist. Wir müssen also die Frage aufwerfen, ob die
Involution einiger oder bestimmter endokriner Organe bereits aus-
reicht, um den Eindruck des Alterns hervorzurufen. Wir müssen
uns dabei hüten, solange unsere Kenntnisse noch nicht weiter ge-
dichen sind, Ursache und Wirkung bei der Frage zu verwechseln, ob
die Involution der endokrinen Organe das Altern mit sich bringt
oder ob der allgemeine Altersprozess die Involution der inkretori-
schen Organe hervorruft. Für zwei endokrine Organe können wir von
vornherein ausschliessen, dass der Ausfall ihrer Hormone das Altern
hervorrufen könne, das sind die Hormone der Zirbeldrüse und
der Thymus. Wir hätten demnach also die Hormone bzw. den
Ausfall der übrigen endokrinen Drüsen bei ihrer senilen Atrophie
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134 Max Berliner. [18
kungen und zu Veränderungen des Gemütslebens, meist depressiven
Charakters. Das Klimakterium virile pflegt erst später aufzutreten
und ist zeitlich nicht so scharf abgegrenzt.
Bei dem Zustandekommen der Erscheinungen des Klimakteriums
lässt sich nicht genau abgrenzen, welche Rolle dabei die ungefähr
gleichzeitig auftretende Involution der Schilddrüse spielt. Sehen
wir doch gar nicht so selten um. die Zeit des Klimakteriums
eine Veränderung des Habitus besonders bei Frauen auftreten, welche
mehr oder minder an myxödematöse Zustände erinnert, besonders
was die Alterationen des Stoffwechsels, des Zirkulationssystems, des
vegetativen Nervensystems und der geistigen und körperlichen Reg-
samkeit anbetrifft. Bestätigend in dieser Auffassung ist die geringere
Empfindlichkeit der Greise gegen Schilddrüsensubstanz. Im (iegen-
satz dazu möchte ich auf die Beobachtung hinweisen, dass an Morbus
Basedow erkrankte Individuen im allgemeinen jünger aussehen als
ihren Jahren entspricht.
Die Verminderung der Funktion der Nebennieren dürfte mit
eine Ursache sein, warum es im höheren Alter zu der eigenartigen
Herabsetzung der Körperkraft und des Gesamttonus nebst eigenartiger
charakteristischer Pigmentablagerungen in der Haut kommt, die in
gewisser Weise Ähnlichkeiten aufweist mit dem Morbus Addison.
An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen den senilen
Diabetes, der in gleicher Weise zustande kommen kann durch
Altersveränderungen im Zwischenhirn, in der Hypophyse und an
dem Insularapparat des Pankreas.
Wir haben bereits gelegentlich der jugendlichen Schilddrüsen-
störungen darauf hingewiesen, dass solche Individuen ein auffallend
frühes Greisenaussehen haben. Bei den engen Beziehungen, welche
die Schilddrüse zu allen übrigen endokrinen Erkrankungen hat, ist
es begreiflich, dass es bei jeder weitergehenden Störung der Harmonie
der inkretorischen Organe zu einer mehr oder minder starken Aus-
bildung dessen komnt, was wir als Progerie bezeichnen. Je stärker
die inkretorische Störung ist, um so früher pflegt bei solchen Indi-
viduen der '‘Altersprozess durch den Tod abgelöst zu werden (Myx-
ödem). Dass aber auch erhebliche Störungen des endokrinen
Apparates trotz gewisser Progerie nicht zu einem vorzeitigen Lebens-
ende führen müssen, dafür führe ich als Beispiel die nicht kleine
Zahl von pathologischen Zwergwuchsformen an, die über sechzig
und sogar bis neunzig Jahre alt werden. Im allgemeinen kann man
nicht behaupten, dass früh gealtert aussehende Menschen entsprechend
früher sterben, überhaupt ist eine Altersschätzung nur nach den
äusseren Merkmalen möglich, aber niemals ein Massstab für das wahre
19] Über den Einfluss der endokrinen Harmone auf die Konstitution usw. 135
Alter. Noch weniger lässt sich die wirkliche Leistungsfähigkeit
geistiger, körperlicher, sexueller Natur bei alt aussehenden Menschen
schätzen.
Jeder Beitrag zu dem Problem des individuellen Alterns muss
uns auf dem genannten Wege erwünscht sein. Es ist auffällig, wie
schon bei makroskopischer Betrachtung die gewöhnlichen Alters-
zeichen der Organe (Atrophie, braune Pigmentierung) bei gleich-
altrigen Greisen unterschiedlich sind. Besonders interessant sind
die Befunde an dem Gehirn, dessen relativer Schwund am leichtesten
abzuschätzen ist. So fand sich z. B. an dem Gehirn des 89 jährigen
Adolf Menzel keine Atrophie im Gegensatz zu den Gehirnen des
86 jährigen Mommsen und des 88jährigen Bunsen. In diesen
Zusammenhange möchte ich noch erwähnen, dass es eine ganze
Anzahl von besonders hochwertigen Menschen gibt, bei denen die
Vollreife ohne Anzeichen regressiver Altersentwicklung ungewöhn-
lich lange dauert, so dass das natürliche Tempo und der gewöhn-
liche Grad der Abnahme der Leistungen durch das Altern verlangsamt
wird. Diese Erscheinung ist als Teil einer allgemein gesteigerten
menschlichen Vitalität zu betrachten und muss auf eine besonders
gute Harmonie der Konstitution überhaupt mit nachweisbaren körper-
lichen und geistigen Vorzügen zurückgeführt werden. Wenn es
auch besonders unter den jetzigen Verhältnissen nicht das Ideal sein
kann, ein Alter von 153 Jahren wie Thomas Parr zu erleben, so
müssen gerade unsere letzten Betrachtungen uns dartun, dass nichts
verkehrter ist, als die individuelle körperliche und. geistige Frische
und Leistungsfähigkeit eines bereits ergraut aussehenden Mannes
nach einem bestimmten Jahresalter nicht mehr anerkennen zu wollen.
Es ist daher unbedingt als ein Fehlschlag zu verurteilen, wenn in
einem Staate das Pensionsgesetz für die Beamten eine Höchstalters-
grenze von 65 Jahren vorschreibt. Ebensowenig wie die Leistungs-
fähigkeit bis zu diesem Lebensalter unbedingt auf einer nutz-
bringenden Höhe gehalten werden kann, ist einem älteren, konsti-
tutionell besser gestellten Individuum die Leistungsfähigkeit nach
dieser Zeit abzusprechen. Je mehr die Lehre von der Individualität
der einzelnen Persönlichkeit in weite und besonders die massgebenden
Kreise getragen wird, um so eher können wir mit einer Abschaffung
dieser Massnahme rechnen, welche jedes Individuum mit einem
bestimmten Lebensjahre zu einem unfähigen Greise stempeln will, und
statt dessen die leider oft nur auf dem Papier gebrauchte Formel in
die Wirklichekit umsetzen, dass die Leistungsfähigkeit des Indivi-
duums massgebend sein muss für seine Stellung im sozialen Leben.
mm m ——
Aus der Universitäts- Frauenklinik (Direktor Prof. Dr. L. Fraenke))
und dem Pathologischen Institut (Direktor Prof. Dr. Henke) in Breslau.
Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung.
Von
Felix Spehlmann.
Schon lange vor den ersten Anfängen einer medizinischen und
Naturwissenschaft suchte man nach einem Anlass, welcher die Ge-
stalten der beiden Geschlechter sich verschieden voneinander ent-
wickeln liess. Durch die anatomischen Verhältnisse war es natür-
lich, dass die männlichen Keimdrüsen sowohl leichter beobachtet
als auch leichter verletzt und zerstört werden konnten, sei es durch
Zufall, sei es mit Absicht. Die weiblichen Keimdrüsen des Menschen
konnten dagegen erst beobachtet werden, als man Leichenöffnungen
vornahm; vorher waren sie nur aus Vergleichen mit den Tieren
bekannt. Daher gab es männliche Kastrate des Menschen seit altersher,
wogegen weibliche erst ganz jungen Datums sind. Denn nicht nur
Eunuchen, sondern auch Wallach, Ochs und Kapaun waren schen
Eigentum der alten Völker. Durch die Beobachtung der Erschei-
nungen beim’ Keimdrüsenausfall lag es am nächsten anzunehmen.
dass die Gieschlechtsmerkmale überhaupt durch die Keimdrüsen her-
vorgebracht würden. Ihren Gipfel erreichte diese Anschauung in
dem klassischen Satz Rudolph Virchows: „propter solum ovarium
mulier est quod est".
Im Verhältnis hierzu ist erst in der jüngsten Zeit wissen-
schaftlich erkannt worden, dass jeder Organismus neben seinem
eigentlichen auch das andere Geschlecht enthält, wenn auch in
viel geringerem Masse. Was über diese Tatsache früher bekannt
gewesen ist, gehört in das Reich der Sagen und Legenden, deren
stoffliche Unterlage herzuleiten ist von der phantasiegeschmückten
Berichterstattung über Körperbildungen wie Vielarmigkeit, Doppel-
monstra usw., für welehe man unter den Normalen keinen Platz
2) Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 137
fand. Die Vorstellung aber, die den Begriff des Geschlechts mit den
Keimdrüsen aufs engste verbindet, hat sich bis in die Wissenschaft
unserer Tage erhalten. Daher ist es nur folgerichtig, wenn man bei
Fällen, die von der gewohnten Form abwichen, als Ursache solcher
Abweichungen die Keimdrüsen verantwortlich machte. Denn wenn
man den 'Keimdrüsen die Ursächlichkeit für die normale Gestalt
des Körpers zuschrieb, so musste seine abnorme Gestaltung um so
mehr durch die Keimdrüsen bewirkt sein.
Die Frage nach den Bedingungen der normalen und abnormen
Geschlechtsbildungen kann zweierlei Voraussetzungen haben: erstens
kann angenommen werden, dass die Bedingungen für die Bildungen
des Geschlechtes überhaupt von einer und derselben Art sind und
nur — sei es durch verschiedene Zusammensetzungen, sei es durch
äussere Einflüsse — zu den mannigfachsten normalen und abnormen
Variationen veranlasst werden; zweitens kann geltend gemacht
werden, dass die Geschlechtsbildungen untereinander so prinzipielle
Verschiedenheiten aufweisen, dass daraus auf eine prinzipielle Ver-
schiedenheit der Art ihrer Bedingungen geschlossen werden muss.
Die erste Annahme ist von selbst zu verstehen; sie wird auch
allgemein in der Wissenschaft vertreten. Zu der zweiten Ansicht
kann man hauptsächlich dadurch gelangen, dass man die symmetrische
Geschlechtsbildung einerseits betrachtet, welche nach herrschender
Meinung ihre Bedingung in der inneren Sekretion gewisser Drüsen
hat; und andererseits die Halbseitenzwitter, welche offenbar un-
möglich durch innere Sekretion bedingt sein können. Allerdings
machen die Autoren im letzteren Falle keine konkreteren Angaben
über die Natur der Bedingungen, welche abweichend von der inneren
Sekretion solche Erscheinungen hervorrufen könnten.
An der ersten Fragestellung kann man mehrere Möglichkeiten
unterscheiden. Die häufigste ist die, dass alle Erscheinungen des
Geschlechtes auf innersekretorische Drüsen zurückgeführt werden:
von den einen nur auf die Keimdrüsen, von den anderen auch auf
andere Blutdrüsen, wobei Zirbel, Hirnanhang, Nebenniere und Schild-
drüse eine betonte Rolle spielen. Eine andere Möglichkeit würde die
innere Sekretion verwerfen und einen anderen (z. B. trophoneuroti-
schen) Einfluss an deren Stelle setzen.
Die. zweite Fragestellung würde etwa alle symmetrischen Erschei-
nungen auf die innere Sekretion zurückzuführen, während die lateral
verschiedenen durch mechanische Einwirkungen entstanden gedacht
werden können.
In der Geschlechtsgestaltung eines Organismus lassen sich haupt-
sächlich drei Arten unterscheiden: |
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 3. 10
138 Felix Spehlmann. [3
I. Der Organismus hat eine normale Geschlechtsgestalt, d. bh
die sekundären Geschlechtsmerkmale befinden sich in völ-
ligem Zusammenpassen untereinander und mit seinem pri-
mären Geschlechtsmerkmale, der Keimdrüse.
II. Der Organismus zeigt eine Gestaltung, welche von der
normalen Gestaltung abweicht (Hermaphroditismus, Pseudo-
hermaphroditismus, Genus neutrum) d. h. die sekundären
Geschlechtsmerkmale stehen untereinander und mit der
Keimdrüse in Missverhältnis. Diese Anomalie kann sein:
1. kongenital,
2. postnatal entwickelt.
Es gibt eine empirische Norm, welche mit bestimmten Keim-
drüseneigenschaften bestimmte allgemeinsomatische Merkmale und
Funktionen verbindet. An der normalen Entwicklung lässt sich jedoch
nicht viel dafür und dawider beweisen, es sei denn im Experiment,
wo schon vom Normalen abweichende Verhältnisse geschaffen werden.
Es ist bekannt, dass ein geschlechtsnormaler Organismus einer be-
stimmten Spezies eine ganz bestimmte Gestalt besitzt, und dass man
dieselbe durch Entfernung der Keimdrüsen in verschiedener Weise
beeinflussen und abändern kann, je nachdem zu welcher Zeit der
Entwicklung man die Entfernung vornimmt. Doch kann aus diesen
Veränderungen nur darauf geschlossen werden, dass die Keimdrüsen
einen Einfluss auf die Geschlechtsgestaltung ausüben ; nicht aber, ob
sie die einzigen, auch nicht, ob sie die hauptsächlichen Bedingungen
dafür darstellen.
Viel bedeutsamer in dieser Beziehung ist die zweite Art der
Geschlechtsgestaltung: das sind die Fälle, welche als Missgeburten
zur Welt kommen und in der gleichen Weise sich weiter entwickeln.
Dazu gehören die Hermaphroditen und die Pseudohermaphroditen.
Die beiden unterscheiden sich in der Weise, dass beim Herma-
phroditismus verus die primären Geschlechtsmerkmale, d. h. die
Keimdrüsen beider Geschlechter vorhanden sind; die sekundären
sind hierbei nicht massgebend. Beim Pseudohermaphroditismus da-
gegen besitzt das Individuum Keimdrüsen nur eines Geschlechts,
während die sekundären Geschlechtsmerkmale des anderen Ge-
schlechts oder beider Geschlechter vorhanden sind. Da jedoch hierbei
die Keimdrüsen bezüglich ihrer Beschaffenheit, Lage usw. in den
meisten Fällen nicht unerheblich von der Norm abweichen, so lassen
sich Mutmassungen anstellen über den Zusammenhang dieser Ano-
malien und denjenigen der Körpergestaltung. Doch kann’ auch hierbei
gewöhnlich nicht eindeutig entschieden werden, was zufällige Koin-
zidenz und was ein bedingender Zusammenhang ist.
4) Über Nebennierenrinde und Geschlechtebildung. 139
Ganz anders steht es mit dieser Frage bei der dritten Art der
Geschlechtsgestaltung, nämlich dort, wo ein Organismus von einer
ganz bestimmten normalen oder abnormen Geschlechtsform entsteht
und aufwächst und dann in einem gewissen Zeitpunkt seiner Ent-
wicklung eine plötzliche und einschneidende Veränderung
seiner Geschlechtsgestalt erfährt. Hier lassen sich viel engere Be-
ziehungen ableiten zwischen den Veränderungen der primären Ge
schlechtsmerkmale einerseits und den der sekundären andererseits.
Ehe wir jedoch auf eine nähere Betrachtung dieser Zusammen-
hänge eingehen, müssen wir ins Auge fassen,‘ welche Ansichten
hierüber in der Wissenschaft bisher bestehen.
Diese Anschauungen lassen zwei wichtige Gruppen unter-
scheiden. Der ersten liegt die ‘Art der Betrachtung zugrunde, welche
wir ihrer Entstehung nach als die ursprünglichere bezeichnen können;
nämlich diejenige, welche den Keimdrüsen nicht allein bedingenden,
sondern oft sogar ursächlichen Einfluss auf die übrigen Geschlechts-
merkmale zuschreibt. Das sind alle alten und älteren Autoren bis
auf Rudolf Virchow und dann wieder alle, welche auf ihn
folgten und auf seinen Grundlagen der ‚Wissenschaft fussten. Von
neuen Autoren ist Steinach zu nennen, dessen Doktrin jedoch
gegenüber dem bisherigen nichts wesentlich Neues enthält.
Gegenüber dieser Blickrichtung begann sich innerhalb der letzten
50 Jahre eine grundsätzlich andere Art von Anschauung geltend
zu machen, welche sich von dem begrenzenden Keimdrüsenstand-
punkte zu befreien suchte. Diese Betrachtungsweise vermied bewusst
den Fehler, welcher der ersteren zugrunde lag und darin bestand,
dass der Betrachtende durch einige von seiten der Keimdrüsen be-
dingte augenfällige Erscheinungen seinen Blick an die Keimdrüsen
fixierte und in der Bewertung seiner Forschungen immer wieder
nur von den Keimdrüsen als bedingenden Mittelpunkt ausging.
Die erste ‘Art ist mehr oder weniger allgemein bekannt. Dagegen
soll die zweite durch die Auffassung einiger Autoren gekenn-
zeichnet werden.
Unter diesen ist es Benda, welcher die Erscheinungen der Geschlechts-
missbildungen unter eine einheitliche Formel der Erklärung zu bringen sucht.
Bendas Meinung geht von der wichtigen Tatsache aus, „dass bei den Wirbel-
tieren zu keiner Zeit der normalen Entwicklung für die Geschlechtsdrüsen beider
Geschlechter gesonderte Anlagen nebeneinander bestehen und somit ein primitiver
Hermaphroditismus der Wirbeltiere nicht vorhanden ist“. Und ‚aus der Tat-
sache, dass jedes der beiden Geschlechter aus ihr sich entwickeln kann, folgt
ja vor allem, dass sie als indifferent anzusehen ist.“ Ferner folgert Benda
aus den entwicklungsgeschichtlichen Verhältnissen, „dass die primäre Anlage
des Geschlechtsapparates der höheren Wirbeltiere wirklich als weiblich anzusehen
ist". Daher folgt, „dass die direkte selbsttätige Entwicklung der gesamten An-
10*
140 Felix Spehlmann. | [5
lage zum ausgebildeten weiblichen Typus führen muss“. „Der männliche Typus
stellt sich nach meiner Hypothese demnach nicht als eine dem weiblichen Typus
entgegengesetzte, sondern als eine teils progressive teils regressive Entwicklung
desselben dar.‘ Diese Hypothese reicht aber keineswegs dazu aus, alle Formen
der Missbildungen lückenlos zu erklären, und dieser Tatsache ist sich auch
Benda voll bewusst, wie er des näheren ausführt.
Halban geht aus von der Lehre Virchows, „dass das Ovarium das
wichtigste Organ des Weibes ist, dass von ihm seine Entwicklung, sein Nerven-
system, seine Ernährung abhänge, dass all dies eine Dependenz des Ovariums
darstellt.’ ‚Diese bedeutende Rolle, welche also der Keimdrüse zukommt, hat
nun Schon seit langem den Gedanken nahe gelegt, dass sie auch in bezug auf
die Entwicklung das Primäre, und dass die Entstehung der übrigen Genitalien
von ihrer Existenz abhängig ist.‘ Dafür spräche auch die bedeutend frühere
Differenzierung der Keimdrüse als des übrigen Geschlechtsapparates. Als be-
sonderer Vertreter dieses Gedankens wird Herbst angeführt, welcher aus
Pflanzen und Tierversuchen das tatsächliche Vorhandensein des formativen
Reizes von seiten eines bestimmten Organs beweisen will. Halban zitiert
als Gegenbeweis gegen das „post hoc, ergo propter hoc“ zunächst eine Zusammen-
stellung von kongenitaler Anorchie der letzten 300 Jahre nach W. Gruber.
Danach ist 1564 ein Soldat wegen Notzucht aufgehängt, welcher seziert wurde,
ohne dass irgendwo etwas von Hoden gefunden wurde. Die übrigen Fälle
sind anorche männliche Geschöpfe, welche mehr oder weniger Defekte und
feminine Attribute aufweisen. Als gegenteilige Ergänzung hierzu kann eine Ver
öffentlichung über einen Fall von kongenitalem Ovarialmangel angesehen werden,
die von Olivet 1923 gemacht wurde. Es handelt sich dabei um ein 38 jähriges
infantil entwickeltes Individuum von rein weiblicher Gestaltung, bei welchem
bei der Obduktion trotz genauester Nachforschung keine Spur von Ovarialgewebe
entdeckt wurde. Ausser Missbildungen anderer Art wie Hufeisenniere, Halsrippe
usw. zeigte sich nur eine Anomalie in der Hypophyse in Gestalt eines Herdes
von basophilen und eosinophilen Zellen.
„Aus der Tatsache nun, dass sich z. B. innere und äussere männliche
Geschlechtsorgane bei Individuen finden, welche nur Ovarien und nicht die
homologe Keimdrüse besitzen; und ebenso innere und äussere weibliche Ge-
schlechtsorgane bei Individuen, welche nur Hoden und keine Ovarien besitzen,
erhellt ohne weiteres, dass die Entstehung der Geschlechtsorgane nicht von der
homologen Keimdrüse abhängig sein kann, sondern dass sie vollkommen unab-
hängig von dieser erfolgt. Aus allen diesen Überlegungen ergibt sich nun der
Satz: Die Enstehung der übrigen Geschlechtsmerkmale ist nicht abhängig von
der Keimdrüse.‘
Ferner wird die Frage nach der hemmenden Wirkung der Keim-
drüse auf die Merkmale des anderen Geschlechts aufgeworfen. Auch
diese Ansicht wird vornehmlich von Herbst vertreten. Nach
Halbans Meinung liegt derselben der allgemein begangene Fehler
zugrunde, „dass man das männliche Genitale und den männlichen
Geschlechtstypus als den höheren in bezug auf die Entwicklung
hinstellt“‘. Herbert Spencer und Darwin nannten das Weib
einen in der Entwicklung zurückgebliebenen Mann. Das sei ganz
unzutreffend und fusse nur auf den äusseren Genitalien, während
6] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 141
es für die inneren sowie manche sekundären Geschlechtsmerkmale
gerade umgekehrt sich verhalte. Die Annahme der Hemmung wird
abgelehnt mit dem Satz, „dass die Keimdrüse weder eine entwick-
lungsauslösende Kraft besitzt für die homologen Geschlechtsteile,
noch — wie dies mehrfach angenommen wurde — eine entwicklungs-
hemmende oder sogar unterdrückende bezüglich der heterologen Geni-
talien“. Halban gelangt daher zur folgenden Erklärung: „Ebenso
wie die Keimdrüse durch eine uns unbekannte ‚„„‚geschlechtsbestim-
mende Ursache“ in der D. Emtryonalwoche sich in dem einen
Fall zu einem Ovarium, in dem anderen zu einem Hoden differenziert,
ebenso differenzieren sich infolge derselben unbekannten geschlechts-
bestimmenden Ursache im 3. Monat aus dem Geschlechtshöcker
und aus den Müllerschen und Wolffschen Organen in dem einen
Falle weibliche, in dem anderen männliche Genitalien“. Dieser Er-
klärung müssen wir uns vollständig anschliessen und mit Halban
bekennen, dass das Geschlecht eines Individuums mindestens bei
der Befruchtung, wenn nicht schon davor entschieden ist, und wir
aus der Unfähigkeit, beim „neutralen“ Embryo mit unseren Hilfs-
mitteln einen Unterschied zu erkennen, keineswegs schliessen dürfen,
dass auch keiner vorhanden ist. Also ist die bisher angenommene
Indifferenz nicht weiter zu glauben möglich, sondern beruht darauf,
dass wir nicht mehr erkennen können als ein indifferentes Stadium.
Aus der weiteren Betrachtung ergibt sich, „dass sich die sekundären
Geschlechtsmerkmale auch ohne das Vorhandensein der entsprechen-
den Keimdrüsen entwickeln können,‘ und also „dass die homologen
Keimdrüsen für die Entstehung der entsprechenden sekundären
Sexualcharaktere nicht nötig sind.“ Was den Keimdrüsen übrig
bleibt, ist kein formativer, sondern ein protektiver Ein-
fluss, denn die Keimdrüsen haben sehr wohl einen wesentlichen
Einfluss auf die volle Entwicklung und ‚Ausgestbaltung des übrigen
Genitals.. Da Halban alles Entstehende schon im Keime vorhanden
sieht, so lehnt er auch jede Angabe über eine plötzliche und ein-
schneidende Veränderung während des Lebens eines Organismus
aufs entschiedenste ab. Hierin aber nimmt Halban einen Stand-
punkt ein, worin er ein gewisses Präjudiz schafft. Denn wenn er
bei der von Kaltenbach-Krafft-Ebing beschriebenen Mas-
kulinierung einer 30 jährigen vorher normalen Frau alle gründlichen
und besonders alle plötzlichen Veränderungen mit Ausrufungs- und
Fragezeichen versieht und sie so zweifelhaft zu machen sucht;
wenn er ferner an Stelle der Krafft-Ebingschen Deutung:
„Klimax praecox mit Untergang der bisherigen weiblichen Sexualität.
Psychische und physische Entwicklung der bisher latent gewesenen
142 ‘ Felix Spehlmann. {7
männlichen Sexualität. Interessantes Beispiel für die Tatsache bi-
sexueller Veranlagung und die Möglichkeit des Fortbestandes der
anderen Sexualität im latenten Zustande unter bisher allerdings un-
bekannten Bedingungen.“ — Wenn Halban diese Deutung ersetzt
durch seine: „Pseudohermaphroditismus femininus secundaris. Die
sekundären Geschlechtsmerkmale entwickeln sich langsam, so dass
sie erst um das 30. Lebensjahr hervortreten. Die vorzeitige Meno-
pause ist zurückzuführen auf eine gleichzeitige mangelhafte Entwick-
lung der Ovarien, wie dies häufig in diesen Fällen vorkommt” —
so können wir ihm hierin durchaus nicht folgen, denn Halbans
Deutung scheint den Dingen keineswegs gerecht zu werden.
Die grösstmögliche Einsicht in die Bildung der Geschlechts-
gestalt und ihre Bedingungen ist uns, wie oben erwähnt, dort ge-
währt, wo an einem Organismus von einer bestimmten Gestalt
während seines Lebens plötzlich auftretende und einschneidende Ver-
änderungen dieser seiner Gestalt vor sich gehen. Solche Verände-
rungen sind in letzter Zeit häufiger beobachtet und beschrieben
worden, wobei sich fast regelmässig an der Nebennierenrinde gleich-
zeitig abnorme Vorgänge abspielen. Eine zusammenfassende und
systematisierende Übersicht solcher Fälle veröffentlichte Mathias
1922. Aus derselben geht schon hervor, dass in Fällen von korti-
kalen Nebennierentumoren sowie von einfacher Rindenhyperplasie
sich gleichzeitig grundlegende Veränderungen an den Genitalien
der betreffenden Individuen ausbilden. Und zwar handelt es sich
um folgendes: die Nebennierenveränderungen treten in jedem Alter
auf. Befindet sich das Individuum noch vor der Geschlechtsreife,
so erfährt es entweder eine gleichgeschlechtliche Frühreife, oder
seine Genitalien wandeln sich nach der gegengeschlechtlichen Ge-
stalt um. Ist es dagegen ein geschlechtsreifes Individuum, so erlischt
die Funktion seiner Keimdrüsen und die übrigen Geschlechtsmerk-
male werden denen des gegenteiligen Geschlechtes angenähert, soweit
dieses anatomisch möglich ist. Danach unterscheidet Mathias drei
Möglichkeiten der Veränderung:
I. Isosexuelle Frühreife,
II. Maskulinierung weiblicher Individuen,
Ill. Feminierung des Mannes.
Zur ersten Kategorie gehören die Fälle von Linser und Die-
trich, Bullock und Sequeira, Herzog.
Zur zweiten die von Rössle-Mathias, Israel, Krafft-
Ebing, Jump Beates Babcock, Schiff, Benda, Fie-
biger.
Zur dritten die von Bittorf-Mathias und Brutschy.
8] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 143
Dazu könnte noch eine erhebliche Zahl von neuen Fällen hinzu-
gefügt werden mit Ausnahme der dritten Kategorie. So der Fall
P. Schneider, Krokiewicz und die zahlreichen früheren
Fälle von Änderung der Geschlechtsmerkmale, bei denen über die
Nebennieren nichts angegeben ist.
Jedenfalls sehen wir die Tatsache, dass die Nebennierenrinde,
sowohl in früher als auch in später Zeit der Entwicklung eines
Organismus auf die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale
desselben einen durchgreifenden Einfluss ausüben kann. Derselbe
ist entweder ein protektiver nach der Art, wie ihn Halban den
Keimdrüsen zuschreibt; oder er ist ein ausgesprochen formativer.
Dabei kann diese Einwirkung sowohl im Sinne des Geschlechtes des
Individuums als auch im Sinne des gegenteiligen Geschlechtes er-
folgen. , |
So wenig begreiflich diese Erscheinung von seiten der Neben-
nieren anfangs war, so war es das Verdienst Knud Krabbes
durch die Knüpfung eines Zusammenhanges zu den genitalen Organen
einen Hinweis für die Erklärung dieser Wirkungsweise gegeben zu
haben. Krabbe greift nämlich zurück auf die homologe Abstam-
mung der Keimdrüsen und der Nebennierenrinde vom Kölomepithel
der lateralen Urnierennische, wie es in der einschlägigen Arbeit
von Alfred Kohn ausgeführt ist.
So schreibt Krabbe am Ende seiner Arbeit „The relation between the
adrenal cortex and sexual development“ (in Übersetzung): „In Anbetracht des
Einflusses der Nebenniere auf die sexuelle Entwicklung muss an eine andere
Wechselbeziehung erinnert werden. Wir können nicht aus der pathologischen
Funktion der Geschwülste einen Schluss auf die normale Funktion der Neben-
nierenzellen ziehen. Man muss sich erinnern, dass wir es nicht mit einer ein-
fachen Hyperplasie zu tun haben, sondern mit einer Entwicklung bösartiger
Tumoren, deren Zellen in vielen Fällen sehr verschieden sind von den
normalen Nebennierenrindenzellen. Aber abgesehen von diesen Fragen ist eine
Erscheinung auffallend: wenn die Nebennierenrinde wirklich irgendeinen Ein-
fluss auf die Entwicklung der Pubertät hat, warum bewirkt die Hypersekretion
bei Mädchen eine männliche Pubertät und nicht eine weibliche? Es wäre diese
Tatsache schwer aus der Theorie zu erklären, dass die Nebennierenrinde
normalerweise einen Einfluss auf die weibliche Geschlechtsentwicklung hat.
Man muss sich erinnern, dass der Einfluss auf die Geschlechtsentwicklung, den
wir von den anderen innersekretorischen Drüsen kennen, wie Schilddrüse, Hypo-
physe usw., derart ist, dass sie Bedingungen sind für die männliche Entwicklung
bei Männern und für die weibliche Entwicklung bei Frauen. Und ferner wissen
wir, dass, obgleich eine Verzögerung der Pubertät im Falle von Insuffizienz der
Thyreoidea und Hypophyse vorhanden ist, keine genitale Frühreife in Verbin-
dung mit Geschwülsten dieser Drüsen vorkommt. Abgesehen von Fällen von Ge-
schwülsten der Zirbeldrüse, die immer Teratome gewesen sind, nicht pineale
Adenome oder Karzinome, ist unsere Kenntnis der Komplikation von Ge-
144 Felix Spehlmann. [9
schwülsten mit genitaler Frühreife nur entnommen den Nebennierentumoren und
Tumoren der Eierstöcke und Hoden.
In Anbetracht aller dieser Tatsachen glauben wir, dass eine andere Theorie
aufgestellt werden könnte, die die seltsame Tatsache von Nebenniereurinden-
tumoren, welche sowohl bei Männern wie bei Frauen eine männliche Pubertät
erzeugen, besser erklären könnte und die für die Mehrzahl der Fälle von ge-
schlechtlicher Frühreife einen einheitlichen Standpunkt geben könnte: nämlich
die Hyperfunktion der interstitiellen Hoden- oder Eierstockzellen.
Marchand, der Nebennierenhypertrophie bei weiblichem Hermaphro-
ditismus beschrieben hat, hat sie bezogen auf die Entwicklung von Eierstöcken
und Nebennieren im fötalen Leben. Wir 'wollen seinem Beispiel folgen, indem wir
versuchen, den Virilismus, verbunden mit Nebennierentumoren bei Mädchen zu
erklären. Es ist wohl bekannt, dass der erste Ursprung der Nebennierenrinde vom
Endothei der Leibeshöhle aus sich entwickelt. Gerade neben dem Sitz der
Nebennieren ist der Ursprungsort der Hoden und Eierstöcke. Aus den For-
schungen von Laulanie, Janosik, Nagel und Coert, deren Ergebnisse
in die Handbücher von Hertwig und Broman aufgenommen sind und noch
1920 von einer wichtigen Arbeit von Kohn bestätigt worden sind, wird ange-
nommen, dass der Ursprung des Eierstockes hermaphroditisch ist. Während der
Hoden sich fast direkt aus dem ursprünglichen indifferenten Zustand entwickelt,
passiert der Eierstock einen Zustand, in welchem der kortikale Anteil als weib-
lich betrachtet werden kann, wogegen der tiefere, markige Anteil als männlich
oder hodenähnlich anzusehen ist. Während der Entwicklung bleibt der männliche,
markige Anteil rudimentär. Dieser männliche, markige Teil ist es, welcher auf
einer gewissen Stufe innig verknüpft ist mit den niederen Entwicklungsstufen
der Nebennierenrinde. Diese Verschiedenheit der Entwicklung bei männlichen
und weiblichen Individuen, die rein hodenähnliche Anlage bei männlichen
Embryonen, die ovariotestikuläre Anlage bei weiblichen Embryonen und der
Zusammenhang zwischen dem hodenähnlichen Teil und der Nebennierenrinde
würde denn die Verschiedenheit im Beginn der Pubertät bei Kindern mit Neben-
nierentumoren erklären, welche reine Pubertas praecox bei Knaben und männ-
liche Reifezeichen bei Mädchen hervorruft. Die Theorie, die auf diesen
Parallelismus zwischen fötaler Entwicklung und Wirkung der Geschwülste ge-
gründet werden könnte, ist folgende: die Nebennierenrindengeschwülste in den
beschriebenen Fällen entwickeln sich von einer abnorm gelegenen Nebenniere her.
Die Abnormität besteht darin, dass der männliche Teil des Eierstockes nicht
rudimentär geworden ist, sondern in die Nebenniere aufgenommen ist und zu
einem Teil derselben sich entwickelt hat. Die Geschwulstzellen, welche von der
Nebennierenrinde sich entwickeln, sind daher nicht von den Nebennieren-
rindenzellen im gewöhnlichen Sinne entstanden, sondern von Zellen, die ur-
sprünglich den markigen (männlichen) Teil des Eierstockes darstellten. Diese
Beziehung findet Ausdruck darin, dass die Geschwulstzellen ein Hormon mit
charakteristischen Merkmalen eines testikulären Hormons absondern. Mit anderen
Worten: es bringt männliche Merkmale hervor, verursacht bei Mädchen viri-
lismus.‘
Diese Theorie Krabbes reicht bei weitem mehr dazu aus,
die Erscheinungen der Veränderungen der Geschlechtsmerkmale zu
erklären, als die vorher gemachten Versuche. Ja diese Erklärung
Krabbes würde allen hierüber bekannten Tatsachen gerecht werden,
10] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 145
indem sie eine lückenlose allgemeine Formel für sie darstellte, wenn
nicht zwei Fälle existierten, welche in offenem Widerspruch damit
stehen: das sind die Fälle Bittorf-Mathias und Brutschy;
der erste betrifft die Effeminierung eines normalen, reifen Mannes
durch ein Hypernephrom, der zweite einen Pseudohermaphroditismus
masculinus externus bei Nebennierenhyperplasie. Sehen wir vor-
läufig von diesen beiden ab, so bleiben ausser den Maskulinierungen
reifer und unreifer Frauen, die ja primär unter die Erklärung der
Theorie Krabbes fallen, noch die Fälle übrig, in denen Knaben
eine vorzeitige Geschlechtsreife durch Hypernephrom erfahren.
Auch diese bespricht Krabbe im Zusammenhang: „In den 4 Fällen von
Pubertas praecox bei Knaben mit Nebennierentumoren ist anzunehmen, dass der
Fintritt der Pubertät in ähnlicher Weise vor sich gegangen ist. Es ist wahrschein-
lich, dass in diesen Fällen der Tumor von einer abnorm gelagerten Nebenniere
sich entwickelt, einer Drüse, welche zum Teil aus der testikulären Grundlage
stammt und deren Zellen daher ein Hormon ähnlich dem Hodenhormon er-
zeugen mögen.“
Der Vorgang, mit welchem wir es hier nach Krabbes Ansicht .
zu tun haben, gleicht in hohem Grade derjenigen Vorstellung, welche
der Lehre von der Keimversprengung oder -verlagerung zugrunde
liegt. Dieser Vorgang ist bekanntlich von Cohnheim für die
Entstehung der Geschwülste überhaupt verantwortlich gemacht
worden und unsere Frage würde demnach nur einen speziellen Fall
davon darstellen. Wenn wir den Zeitpunkt in der Ontogenie in
Betracht ziehen, in welchem wir uns den Beginn dieses Geschehens,
vielleicht sogar den Anlass desselben vorzustellen hätten, so wird
sich wohl heute niemand finden, welcher als solchen irgendeinen
zufälligen, womöglich mechanischen Insult oder ähnliches annehmen
wollte; sondern es ist fast allgemeine ‚Ansicht, dass die Vorbedin-
gungen einer solchen teilweisen Fehlentwicklung mit grösster Wahr-
scheinlichkeit in den Beginn der Ontogenie selbst, in die Befruch-
tung zu verlegen sind. Dabei ist es nicht der Vorgang: der Befruch-
tung, welcher die Entstehung der ätiologischen Faktoren zur Folge
hat. Sondern die Entwicklungsenergien sind stets gleicherweise im
Keimplasma vorhanden und der Befruchtung kommt in diesem Sinne
nicht die Bedeutung einer Zäsur (Rössle) zu. Wenn wir also die
uns im einzelnen unbekannten Bedingungen solcher Erscheinungen
letzten Endes in gewissen Eigenschaften des Keimplasmas suchen,
so liegt als nächste Annahme auf der Hand, bei Individuen von
gleichem oder ähnlichem Keimplasma gleiches oder ähnliches Auf-
treten solcher Erscheinungen zu erwarten, 'd. h. dass wir das familäre
Auftreten dieser Erscheinungen für sehr wahrscheinlich halten
müssen. Diese Annahme wird tatsächlich auch in einer Reihe von
146 Felix Spehlmann. [11
Fällen bestätigt. So sind von Durlacher 1912 zwei Fälle be-
schrieben bei einem 1?/, jährigen Kinde und seinem 1/, jährigen
Schwesterchen. Das ältere Kind war bei seiner Taufe für ein weib-
liches gehalten worden. Es hatte eine tiefe Stimme, war kräftig
entwickelt, besass ein starkes Fettpolster an den Mammae und dem
Mons Veneris. Die Brustdrüsen waren stark entwickelt. Die äusseren
Genitalien waren dicht mit 2 cm langen Haaren bestanden. Die
Klitoris war penisartig mit einem Präputium, welches nach
unten offen war und in die kleinen Labien überging. Die Klitoris
glich einem hypospadischen Penis; die Urethra war gut entwickelt;
darunter befand sich eine kreisrunde, 3 mm ‚weite Öffnung, welche
einer Sonde auf 7 cm Eintritt liess. Hoden wurden nirgends ge-
fühlt. Die jüngere Schwester hatte eine nur wenig vergrösserte Glans
der Klitoris; dagegen stark vergrössert waren das Frenulum und
Präputium sowie die Nymphen, welche einer 15 jährigen Entwick-
lung glichen. Alles Übrige war normal weiblich. Aus Analogie mit
. anderen Fällen können wir mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen,
dass die Nebennierenrinde dieser Geschwister hyperplastisch gewesen
ist. Denn es muss hier sofort auf die bekannte Tatsache hingewiesen
werden, dass Erscheinungen ganz derselbne Art beobachtet werden,
einerseits im Gefolge von Tumoren der ‚Nebennierenrinde, anderer-
seits bei einfach hyperplastischen Zuständen derselben. Es ist be-
kannt, dass eine gewisse Klasse der als Pseudohermaphroditen ge-
borenen und lebenden Individuen bei Gelegenheit einer Autopsie in
vivo oder mortuo die Nebennierenrinde weit über das gewöhnliche
Mass hinaus vergrössert zeigt. Trifft diese auffällige und allein-
stehende Vergrösserung der Nebennierenrinde mit der auffälligen
Fehlgestaltung im Bereich der Genitalien zusammen, und will man
zwischen diesen beiden Erscheinungen Zusammenhänge in der Art
von Anlass und Wirkung annehmen, so ist es beinahe nicht anders
möglich, als sich den Anlass in der Weise eines Zuviel, einer Über-
funktion (entsprechend der Überbildung des Organs) seitens der
Nebennierenrinde zu denken. Besteht andererseits eine Koinzidenz
von jnalignem Rindentumor und den nahezu gleichen: morphologischen
Erscheinungen am Genitale, und wollen wir zwischen beiden
wiederum den obigen Zusammenhang annehmen, so müssen wir die
gleiche Wirkung auf wahrscheinlich wohl den gleichen Anlass zurück-
führen und daher eine Überfunktion von Nebennierenrinde denken.
Also muss diese Überfunktion geknüpft sein an die Tumorbildung
der Rinde, also muss der Tumor nach unserer Annahme eine ge-
steigerte Rindenfunktion besitzen.
Der Unterschied in den morphologischen Erscheinungen ent-
12] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 147
spricht völlig dem Unterschiede im zeitlichen Verlauf der beiden
Vorgänge an den Nebennierenrinden: die Hyperplasie ist gewöhnlich
ein seit dem Bestehen des Organismus vorhandener Zustand, dem
eine kaum sich ändernde pseudohermaphroditische Gestalt des ganzen
Körpers zur Seite steht; während der maligne Tumor stets ein plötz-
liches Ereignis darstellt und dementsprechend auch von einer jähen
und einschneidenden Veränderung des ganzen Organismus begleitet
ist (P. Schneider). Trotzdem diese letzte Tatsache nur zu einwand-
frei feststeht, lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass bei den
kongenital-hyperplastischen Fällen der Zusammenhang in derselben
Weise wie bei den Tumoren von Bedingung ‚und Wirkung mit einem
gewissen Recht angezweifelt werden kann und auf ein anderes Ver-
hältnis der beiden Erscheinungen mit nicht unerheblicher Wahr-
scheinlichkeit nach der Art Halbans hingewiesen werden kann.
Nämlich, wie auch wir glauben, dass es nicht wahrscheinlich ist,
eine bedingende Einwirkung seitens einer innersekretorischen Drüse
zur Zeit des dritten Monats auf die Gestaltung eines Organsystems
anzunehmen, zumal doch zu jener Zeit die Sekretion dieser Drüse
wohl kaum stattfindet, so ist hierbei doch das Ersichtlichste — wie `
oben bei Halban angeführt — die beiden Erscheinungen als dem
Range nach gleichwertig nebeneinanderstehend der im Keime vor-
handenen „unbekannten geschlechtsbestimmenden Ursache“ unter-
geordnet zu denken. Diese Betrachtung soll uns aber nicht zu
einer Einseitigkeit veranlassen ; denn schon in der ao in die Augen
fallenden Koinzidenz dieser beiden Ereignisse ist ein sehr enger
Zusammenhang beider vorhanden. Um Halbans Argument hierauf
zu modifizieren: aus unserer Unfähigkeit, die A'rt des Zusammen-
hanges zu erkennen, dürfen wir nicht schliessen, dass auch’ keiner
vorhanden ist.
Anschliessend betrachten wir die weiteren Fälle von familiär
auftretenden Geschlechtsmissbildungen begleitet von Nebennieren-
anomalien.
Loeser und W. Israel beschreiben den Fall von zwei Schwestern von
19 und 21 Jahren. Ihr Wachstum soll mit 12 bzw. 13 Jahren vollständig auf-
gehört haben. Bei ihnen zeigten sich „Barthaare am Kinn und an der Oberlippe,
sowie eine männliche Behaarung des Unterbauches. Die Stimme wurde tiefer,
und zwischen den Schamlippen kam, an Grösse allmählich zunehmend, ein
männliches Glied zum Vorschein.‘ Die Brüste blieben unentwickelt, Menstruation
fehlte. Das Geschlechtsgefühl war weiblich und beide verkehrten mit Männern.
Die Gliedmassen sind sehr kurz, die Phalangen sind auffallend kurz. Es wird eine
Laparotomie vorgenommen, bei der sich ein kleiner Uterus findet, an dem ein
hodenähnlicher Körper sitzt. Dieser, sowie ein ähnlicher am Ende der einen
Tube, erweisen sich als Ovarium mit Corpora albicantia. Die jüngere Schwester
zeigt äusserlich fast genau denselben Bau. Durch Pneumoradiogramm wird bei
148 Felix Spehlmann. [18
der älteren Schwester links eine ungewöhnlich vergrösserte Nebenniere gefunden.
Daraus wird auf den gleichen Zustand der anderen Seite und auch bei der
jüngeren Schwester geschlossen.
Diesen Fällen reiht sich ein Fall an vom Vorkommen dieser Missbildung
bei drei Schwestern.
Die eine dieser Schwestern ist die 42 jährige plötzlich verstorbene Person,
welche von P. Fraenckel seziert und deren Skelett von Waldeyer be-
schrieben ist. Dieser Fall wird von Mathias in seiner Arbeit im Zusammen-
hang mit der anderen Schwester besprochen, welche von Küstner operiert
worden ist und sich noch am Leben befindet. Um unnötige Wiederholungen
zu vermeiden, verweise ich auf die Beschreibungen von P. Fränckel,
Waldeyer und Küstner, sowie auf die Besprechung von Mathias. Das
Wesentliche an diesen zwei Schwestern ist folgendes: beide sind mit kongenitalen
virilen Anomalien der Geschlechtsmerkmale behaftet; an der einen werden bei der
Obduktion erheblich vergrösserte Nebennieren gefunden, welche eine Rinden-
hyperplasie aufweisen. Daraus wird mit einer an Sicherheit grenzenden Wahr-
scheinlichkeit gefolgert, dass die Nebennieren der operierten Schwester die
gleichen Veränderungen besitzen müssen. Die besondere Bedeutung dieses
Falles ist die, dass ihm seit 11 Jahren seine Keimdrüsen entfernt sind und
diese anatomische Veränderung keine wahrnehmbaren morphologischen oder
physiologischen Veränderungen nach sich gezogen hat, wie eine im Sommer
1923 stattgehabte Nachuntersuchung von L. Fraenkel und Mathias ergeben
hat.1) Daraus kann abgeleitet werden, dass der Einfluss der Keimdrüsen auf
die Geschlechtsgestaltung und Funktion des Körpers, welcher auch immer er
sei, in diesem Falle von den Nebennieren ausgeübt wird. Denn ist einmal ein
Zusammenhang zwischen Nebennierenhyperplasie und Morphogenese der sekun-
dären Geschlechtsmerkmale angenommen und bleibt andererseits nach Kastration
die übliche Veränderung durch den Ausfall eines Einflusses aus, so ist der
Schluss sicher, dass dieser selbe, sonst den Keimdrüsen gehörende Einfluss,
in diesem Falle seinen Sitz in der Nebennierenrinde hat.
Nun reiht sich diesen zwei Schwestern die dritte Schwester an. Diese
ist 1923 von Maicher in einer Inaugural-Dissertation beschrieben worden,
in welcher er nach einer Darstellung der Genitalentwicklung die drei Schwestern
nacheinander bespricht. Da zwei Schwestern bereits aus der Literatur hin-
länglich bekannt sind, entnehme ich der Arbeit Maichers nur die Angaben
über die dritte Schwester.
„Frau Martha L.... geb. den 29. IX. 1877... begab sich im August
1909 wegen Unterleibschwellung, die mit Schmerzen verbunden war, in die Be
handlung des Frauenarztes Dr. Schubert in Beuthen O.-S., der einen Tumor
des Uterus feststellte und ihr eine Operation, mit welcher sie sich einverstanden
erklärte, vorschlug.
Martha L. ist seit 1906 kinderlos verheiratet. In der Familie sind Nerven-
und Geisteskrankheiten nicht vorgekommen, auch angeblich nicht in der ent-
ferntesten Verwandschaft. Die Eltern waren nicht blutsverwandt. Der Vater
starb im Jahre 1894 an Cholera. Er war körperlich gesund, im Genuss von
Alkohol mässig. Die Mutter lebt und hat 11 Kinder geboren. Zwei Schwestern
1) Den Bemühungen von Herrn Prof. Fraenckel und Herm
Prof. Mathias verdanke ich so manche freundliche Beihilfe zu der Ent-
stehung dieser Arbeit. | i
14] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 149
— beide unverheiratet — fallen auch durch ihr männliches Aussehen auf. Von
diesen machte Olga — die 5. an Geburt — vor mehreren Jahren in Breslau eine
Unterleibsoperation durch. Der Arzt ist ihr nicht bekannt. Sie war etwas
trunksüchtig.“ Hier folgen Mitteilungen über die Entdeckung der anderen
Schwester durch Verf.. Darauf fährt er fort. „Von den übrigen Geschwistern ist ein
Bruder kinderlos verheiratet. Frau L. nimmt an, dass auch dieser geschlechtlich
nicht normal gebaut ist. Ein Bruder war dem Alkohol stark zugetan. Er starb
im Alter von 38 Jahren. Frau L. hatte als Kind schwere Krankheiten nicht durch-
gemacht, insbesondere nicht an Krämpfen, Bettnässen, Kopfschmerzen und
anderen Störungen gelitten. Vom 6. Lebensjahr an besuchte sie die Volksschule
in K. Sie zählte stets zu den besten Schülerinnen. Als Kind haben sich bei ihr
besondere Neigungen im Spiel, z. B. Puppen oder Soldaten, nicht gezeigt. Auch
später bestand keine Neigung zum Zigarenrauchen oder sonstige männliche
Neigungen. Sie beschäftigte sich vielmehr gern mit weiblichen Arbeiten —
Nähen, Stricken, Kochen usw. M. L. hat sich stets zum männlichen Geschlecht
hingezogen gefühlt. Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht hat sie nie ge-
pflogen, auch keine Freundschaft unterhalten. Seit dem 19. Lebensjahr entfernt
sie mit einem Pulver „Haarschwund‘“ ihren starken Bartwuchs — Schnurr- und
Backenbart. Als junges Mädchen hatte sie sehr schönes Haupthaar; vor wenigen
Jahren ist ihr das Haar sehr ausgegangen, und zwar nach einer Kopfrose, die
sie durchgemacht hat. Jetzt trägt sie eine Perücke. Seit dem 14. Lebensjahr
haben sich bei ihr oft Leibschmerzen eingestellt. Deswegen wurde sie von den
Eltern wiederholt zum Arzt geschickt. In den späteren Jahren musste sie oft
die Arbeit auf der Grube, wo sie arbeitete, wegen Schmerzen im Leibe ein-
stellen. Im 24. Lebensjahr hat ihr ein Arzt eine Unterleibsoperation vorge-
schlagen, zu der sie sich aber nicht entschliessen konnte. Mit 29 Jahren hat
sio geheiratet. In ihrem 30. Lebensjahr hat sich zweimal die ‚Regel‘ eingestellt,
sonst will sie nie Monatsblutungen gehabt haben. Das erste Mal erfolgte Abgang
von Stücken Blutes, bei der zweiten Regel ging flüssiges Blut ab, das mit
Schleim vermischt war. Die Blutungen hielten 2 bis 4 Tage lang an und waren
mit heftigen Kreuz- und Unterleibschmerzen verbunden. An Nasenbluten hat sie
nicht gelitten. Beim Beischlaf empfand sie Wollustgefühle, doch bereitete ihr
derselbe immer Leibschmerzen. Etwa ein Jahr nach der Verheiratung bemerkte
sie eine auffallende Zunahme ihres Leibesumfanges. Sie wurde allgemein in
erster Zeit für schwanger gehalten. Doch musste sie sich bald sagen, dass es
sich hier um etwas anderes handelte. Sie begab sich mit ihrem Leiden zum
Frauenarzt Dr. Schubert Beuthen, der sie über ihren Zustand genau auaf-
klärte. Jetzt fiel es ihr nicht schwer, in eine Operation einzuwilligen.
Status am 15. August 1909. Frau MarthaL. ist 150 cm gross, von kräfti-
gem Körperbau und gutem Ernährungszustande. Der Kopf ist breitknochig. Die
Ohrmuscheln sind mittelgross; die Ohrläppchen sind für Ohrringe durchlöchert.
Auf dem Kopfe trägt sie eine Perücke mit einem falschen Zopf. Nach Abnahme
derselben bemerkt man das blonde und schwache Kopfhaar. Die Augenbrauen
und Augenwimpern sind stark entwickelt. Die Stirn ist vorstehend und männ-
lich gerunzelt. Der ganze Gesichtsausdruck ist durchaus männlich. Es besteht
starker Bartwuchs. Der Hals ist mittellang, der Kehlkopf vorstehend wie beim
Manne. Die Stimme ist tief.
Der Brustkorb ist kräftig gebaut, gut vorgewölbt und elastisch. Die Schlüssel-
beingruben sind nicht eingefallen. Die Schultern sind etwas abfallend. Die
Brüste zeigen männlichen Typus. Die Brustdrüsen sind nicht zu fühlen. Der
150 Felix Spehlmann. [15
Atemtypus ist abdominal. Herz, Lungen ohne nachweisbare Abweichungen.
Milz, Leber nicht vergrössert. Der Leib ist zwischen Nabel und Schambeinbogen
sichtbar vorgewölbt. Die Hüften zeigen männlichen Charakter. Die Wirbelsäule
ist o. B. Die Extremitäten sind muskulös und kräftig entwickelt. Insbesondere
die Hände und Füsse. Die Gelenkkonturen sind überall gut männlich ausgeprägt.
Die Muskulatur ist am ganzen Körper kräftig, das Fettpolster nur in mässigem
Grade entwickelt. Gliedmassen, Bauch, Brust und Rücken sind mit starkem
Haarwuchs besetzt.
Am Nervensystem und Geist sind Abweichungen nicht wahrzunehmen.
Von Messungen führe ich an:
Körperlänge 150 cm,
Kopfumfang 56 cm,
Halsumfang 361/4 cm,
Brustumfang in Warzenhöhe 88/93 cm,
Bauch in Nabelhöhe 94 cm.
Becken: |
Distantia spinarum 26 cm,
Distantia cristarum 30 cm,
Distantia trochanterum i 32 cm,
Conjungata externa 22 cm.
Gliedmassen :
Armlänge 64 cm,
Beinlänge (Spitze des Trochanter maior
bis Fussohle) 75,5 cm.
Genitalien: Der Mons Veneris ist fettarm. Dieser sowie die grossen Labien
und die Analgegend sind ziemlich stark behaart. Die Behaarung setzt sich nach
oben in der Linae alba bis zum Nabel fort. Die grossen Labien sind mittel-
stark entwickelt. Die Vulva ist geschlossen. Die Klitoris ist zum Penis ausge-
wachsen mit sehr deutlichem Präputium und gut ausgebildeter Glans. Die
Vorhaut bedeckt nicht die Glans, lässt sich aber so weit vorziehen, um dieselbe
zu bedecken. Bei der Untersuchung erigiert sich dieselbe zu fast Zeigefinger-
grösse. Durchbohrung durch die Harnröhre ist nicht vorhanden. Die Lefzen
liegen einander an und vereinigen sich dammwärts unter einem spitzen Winkel.
Die kleinen Labien sind nur kümmerlich entwickelt. Ausführungsgänge von sper-
matischen Gefässen sind nicht festzustellen. Bei der Palpation sind Geschlechts-
drüsen weder im Leistenkanal noch in den Labien zu fühlen. Das Orificium
externum Urethrae liegt an der Wurzel der Klitoris, ist ziemlich weit und fast
für die Kuppe eines kleinen Fingers durchgängig. Es entleert sich Harn bei der
Einführung eines Katheters in diese Öffnung. Es liegt im Vestibulum vaginae
oberhalb des Scheideneinganges. Letzterer ist oben von Hymenresten um-
geben. Die Vagina ist gut für einen Finger durchgängig. An den Scheiden-
wandungen sind ziemlich deutlich die Columnae rugarum zu fühlen. Im hinteren
Scheidengewölbe fühlt man mit dem Finger deutlich die Portio uteri, die für
die Untersuchung ohne weiteres zugänglich ist. Bimanuell tastet man einen sehr
kleinen Uterus, der mit einem kindskopfgrossen Tumor in Zusammenhang zu
stehen scheint, der sich derb und kugelig anfühlt. Er reicht nach oben bis zum
Nabel. Schulze Phänomen --. Ovarien sind bei der Enge der Scheide und bei
den straffen Bauchdecken nicht zu tasten.
Operation am 16. August 1909.
16] ] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 151
In der Linea alba, etwa 2 cm unterhalb des Nabels beginnend, wird ein
Schnitt bis zur Symphyse gemacht. Nach Eröffnung des Abdomens präsentiert
sich der in ein etwa kindskopfgrosses, bis zum Nabel reichendes Kugelmyom
aufgegangene Uterus, der vorn und rechts seitlich kleine Stränge aufweist, die
teils zur vorderen Blasenwand, teils zur Bauchwand ziehen und mit dem Messer
mühelos durchtrennt werden. Die Ligamenta rotunda verlaufen bis etwa zur
Mitte des Tumors. Der Tumor selbst hat sich zum grössten Teil im Fundus und
der Hinterwand des Uterus entwickelt. Nach Herauswälzen des Tumors vor die
Bauchdecken erblickt man etwa 3 cm fundalwärts von den Ansätzen der
Ligamenta rotunda die beiden Tubenansätze.e Die Tuben selbst zeigen ein
normales Aussehen. Hinter den Tuben sitzen an ganz regelrechter Stelle die
makroskopisch normal aussehenden Ovarien. Auffallend ist, dass die Umschlag-
stelle des Blasenperitoneums, nicht in der Gegend des inneren Muttermundes,
sondern über dem oberen Teil der Scheide sich befindet.‘ Weiter wird anfangs
die supravaginale Amputation beabsichtigt, jedoch beim suspekten Aussehen
des Tumorquerschnittes die Totalexstirpation ausgeführt, wobei ein Ovarium
zwecks Untersuchung mitgenommen wird. Postoperativer Verlauf normal.
Die im Pathologischen Institut in Breslau vorgenommene mikroskopische
‘ Untersuchung von Tumor und Ovarium zeigt, dass es sich um ein Leiomyom
handelt mit lockerem etwas infiltriertem Zwischengewebe. Das Ovarium weist
einige Follikularzysten auf. Normale Follikel in reichlicher Zahl sind vorhanden.
Trotzdem auch bei diesem Fall keine Angaben über die Neben-
nieren vorhanden sind, kann durch Analogie geschlossen werden,
dass sie sich ganz ähnlich verhalten werden, wie bei der von
P. Fraenckel obduzierten Schwester. Wir schliessen uns hierin
der Ansicht an, wie sie Mathias vertritt, dass es jedesmal ein
ausgesprochen hyperplastischer Zustand ist, welcher während des
ganzen Lebens offenbar keinen akuteren Entwicklungsschub gezeigt
hat. Nach unserer Kenntnis aber von dem allgemeinen Verhältnis von
hyperplastischen Zuständen und malignen progredienten Neoplasmen
muss angenommen werden, dass in den ersteren stets die Möglichkeit
eines plötzlichen Überganges in das .letztere vorhanden ist; analog
der Pigmentanomalie eines Naevus, welcher stets in ein Melanom
übergehen kann. Abgesehen von äusseren Anlässen, welche in ihrer
ätiologischen Bedeutung gewöhnlich sehr zweifelhaft sind, kommt es
augenscheinlich auf den Grad der Wachstumsenergie an, welche eine
solche Gewebsanomalie besitzt, um sie das eine Mal zur progre-
dienten Entwicklung zu veranlassen, das andere Mal beliebig lange
in ihrem anfänglichen Zustande verharren zu lassen. Dabei lehrt
uns die Erfahrung, dass in den allermeisten Fällen der Tumor schon
in ganz früher Jugend mit seinem ‚Wachstum einsetzt; tut er es
dann nicht, so kommt es gewöhnlich nicht zu seiner Entwicklung,
sondern es bleibt bei der einfachen Hyperplasie.
Wenn demnach ein aus der Nebennierenrinde hervorgehendes
Gewächs auf die Gestaltung des Organismus einen Einfluss hat,
152 Felix Spehlmann [17
welcher der Art des Einflusses der Keimdrüse völlig gleicht (wobei
es gleichgültig ist, in der Richtung welches Geschlechts sich die
Wirkung kundgibt), wenn andererseits die viel grössere Anzahl der
Nebennierengewächse eine solche Wirkung gänzlich vermissen lassen ;
wenn wir endlich die von Krabbe dargestellte Rntwicklungsgemein-
schaft von 'Nebennierenrinde und Keimdrüse in Betracht ziehen, so
können wir daraus die sehr wahrscheinliche Annahme herleiten, dass
vom geschlechtlich bestimmenden Gewebe des Körpers, welches
normalerweise nur in den Keimdrüsen enthalten ist, in manchen
Fällen auch ein Anteil während der Entwicklung in die Neben-
nierenrinde gelangt und von dort aus in höherem oder geringerem
Grade zur Wirksamkeit kommt.
In Anbetracht dieser Umstände wäre die Deutung der Mar-
chandschen Nebennieren, welche sich oft im Ligamentum latum
und an anderen Stellen vorfinden, eine solche, dass auch sie in
vielen Fällen nicht eigentliche Nebennieren sind, sondern aus ge `
schlechtsbestimmendem Gewebe bestehen, welches normaliter sich
nur in den Keimdrüsen findet. Dass ein solches Gewebe nicht auch
noch die Struktur einer Keimdrüse — wenn auch nur unvollkommen
— aufweist, liegt auf der Hand. Denn das Wesen dieser Missbildung
besteht ja gerade darin, dass ein Gewebsanteil, welcher sonst zum
Aufbau eines bestimmten Organs (der Keimdrüse) verwendet wird,
nun „fälschlicherweise“ in den Bau eines anderen Organs (der
Netennierenrinde) gerät und so die morphologische Struktur des
jenigen Organs trägt, dessen Bau es eingegliedert ist; in seiner
Funktion dagegen zurückgreift auf die Wachstumsenergie derjenigen
Gewebsanlage, weleher es entstammt.
Wir gelangen zu dem Ergebnisse, dass trotz der hohen Ähn-
lichkeit der Erscheinungen bei Hyperplasie der Nebennierenrinde
und Tumor zwischen beiden keine völlige Einheitlichkeit herrscht.
Die erstere ist den genitalen Erscheinungen mehr oder weniger bei-
geordnet, ohne einen nachweislichen bestimmenden Einfluss auf sie
auszuüben, während der letztere dieselben ohne Zweifel bedingt.
Zwischen beide kann als vermittelndes Glied der Fall Löser und
Israel gestellt werden, bei dem wir es augenscheinlich mit einer
Hyperplasie zu tun haben und bei welchem das Wachstum der
Klitoris angeblich beobachtet wurde.
In jedem von diesen Fällen aber muss man sich die Wirkung
als auf innersekretorischem Wege hervorgebracht denken.
Demgegenüber stehen die Halbseitenmissbildungen, welche nicht
durch innere Sekretion bedingt sein können und für deren. Ent-
stehen notwendig andere Anlässe zu suchen sind. Ä
17] Über Nebennierenrinde und Geschlechtebildung. 153
So zeigt sich, dass die Bedingungen für die Geschlechtsbil-
dungen von mehr als nur einer Art sein müssen.
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II
Aus dem erbwissenschaftlichen Seminar der Universität Berlin
(Leiter Prof. Dr. Poll).
Über den Ursprung der Intersexualität beim
Menschen.
Von
Dr. Kurt Wolff, Berlin.
E
I. Moderne Erbkunde und Geschlechtsbestimmung.
Die neuzeitliche Erbkunde hat die alten Vorstellungen über das
Wesen des Geschlechtes völlig umgestaltet. Die zum Teil recht
phantastischen Ideen über die Bestimmung des Geschlechtes haben
einer Auffassung Platz machen müssen, die, gestützt auf neue
wissenschaftliche Beobachtungen und Experimente, imstande ist, die
aufgeworfenen Probleme kritisch zu beleuchten und einheitlich zu
erklären. Das Problem der Geschlechtsverschiedenheit ist so aus
einer Spekulation eine erbbiologische Frage geworden.
Schon Mendel vertrat den Gedanken, dass sich das Geschlecht
ähnlich betrachten lasse wie ein gewöhnlicher Erbfaktor, und dass
die ungefähr gleiche Anzahl der Geschlechter als die Folge einer
Rückkreuzung zwischen Reinzucht und Bastard aufzufassen sei.
Diese Hypothese wurde, wie man sehen wird, durch die Erfahrungen
der modernen Vererbungslehre bestätigt.
Darwin und Weissmann betonten bereits ausdrücklich,
dass jedes Geschlecht unter bestimmten Bedingungen die Charaktere
des anderen zu entwickeln vermag, wie z. B. die hahnenfedrige
Henne beweist. Es lag also nahe, anzunehmen, dass in beiden Ge-
schlechtern dieselben Faktoren zur Ausbildung der Geschlechtsmerk-
male enthalten seien, und nur eine verschiedene Abstimmung der-
selben zueinander geschlechtsbestimmend wirke. In der modernen
Erbliteratur bezeichnet man die alte Mendelsche Vorstellung als
das Ka sotie-Homozygotie-Schema und betrachtet dies allge-
2] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 157
mein als den Mechanismus der Geschlechterverteilung, d. bh also,
wenn wir mit M den Männlichkeitsfaktor bezeichnen, mit klein m
sein Fehlen, so ergeben sich für die Geschlechter allgemein folgende
Möglichkeiten: MM = Mann, Mm = Frau.
Mm = Mann, mm = Frau.
Bezeichnen wir mit W den Weiblichkeitsfaktor, mit w sein
Fehlen, so ergeben sich:
WW = Frau, Ww = Mann.
Ww = Frau,: ww = Mann
je nachdem man das männliche oder weibliche Geschlecht als homo-
zygot oder heterozygot auffassen will. Zwischen diesen vier Möglich-
keiten sind wir in zweifacher Weise beschränkt. Wir müssen uns
ans die Erfahrungsexperimente halten, um für jede Spezies darüber
entscheiden zu können, ob Mann oder Frau das zweierlei Gameten
bildende Geschlecht ist.
Teils die Tatsachen über die geschlechtsgebundene Vererbung,
teils unmittelbare mikroskopische Beobachtungen bei der Samen-
und Eibildung zwingen beim Menschen z. B. und der Taufliege, das
männliche, beim Schwammspinner und beim Huhn das weibliche
Geschlecht als heterozygot aufzufassen. So ist nach den Morgan-
schen Untersuchungen über das geschlechtsgebundene Mendeln der
weissen und roten Augenfarbe bei der Drosophila ausgeschlossen,
die Geschlechtsverteilung an eine Digametie des Weibchens zu
knüpfen; denn wenn man weissäugige Weibchen mit wilden rot-
äugigen Männchen kreuzt, so erhält man in überwiegender Zahl
rotäugige Weibchen und weissäugige Männchen.
Auch beim Menschen sind derartige Typen geschlechtsgebun-
dener Vererbung beobachtet worden. Der Erbgang der Farben-
blindheit beweist in genau gleicher Weise die Heterozygotie des
männlichen Geschlechtes. Daher fallen für den Menschen aus unserer
Übersicht die Formeln MM = Mann und ww = Mann unter allen
Umständen aus, und die Entscheidung schwankt zwischen Mm =
Mann und Ww = Mann.
Es bleibt nun übrig, den Schwierigkeiten zu begegnen, die sich
aus den vorstehenden Erklärungen für die Veranschaulichung des
Geschlechtsverhältnisses und der Geschlechtsverteilung ergeben. Bei
der Formulierung Ww = Mann stört der Gedanke, dass der männlich-
keitsbestimmende Faktor W rein weibliches Erbgut repräsentiert,
der Mann also deshalb ein Mann wäre, weil er nur weibliche Charak-
tere besässe. Dieser Fehler entfällt also einzig bei der Formulierung
Mm = Mann und mm = Frau. Oder man müsste sich denn zur
Abstraktion von zwei differenten Genen vom allgemein biologischen
158 Kurt Wolff. [3
Standpunkte aus entschliessen, sich auf den rein quantitativen Stand-
punkt stellen, S als einzig vorhandenes Sexualgen (Sexualkomplex)
formulieren und je nach dem Ergebnis der geschlechtsgebundenen
Erblichkeit die Formeln wählen : SS = Mann, Ss = Weib bei Hetero-
zygotie des Weibchens; SS — Weib, Ss = Mann bei Heterozygotie
des Männchens.
Diese Formelwahl dient vollkommen zur Erklärung des formalen
Geschehens beim Mechanismus der Geschlechtsverteilung;; aber diese
vereinfachte Darstellung scheitert nun an den Tatsachen der ab-
normen Geschlechtsbestimmung, wie sie Goldschmidt in grossen
Versuchsreihen am Schwammspinner (Lymantria dispar) aufgestellt
hat. Hierbei kam Goldschmidt zu dem Ergebnis, dass beide
Geschlechter auch die dem anderen Geschlecht charakteristischen
Faktoren besässen und zwar dergestalt, das3 beide Männlichkeits- und
Weiblichkeitsmerkmale enthalten. Auch die geschlechtsbestimmenden
Faktoren müssen nach determinierten Gesetzen verteilt werden. Beide
Geschlechter müssen also den Bestimmungsfaktor M = für Männlich-
keit und W für Weiblichkeit besitzen. Bei Heterozygotie des Männ-
chens würden also die Formeln lauten:
a) Männchen: (M) Ww.
b) Weibchen: (M) WW.
Bei Heterozygotie des Weibchens würden die Formeln lauten:
a) Männchen: (W) MM.
b) Weibchen: (W) Mm.
Auch diese Formulierung der beiden Geschlechter reicht ledig-
lich aus, um uns den erbbiologischen Unterschied zwischen männ-
lichem und weiblichem Geschlecht in der Verschiedenartigkeit des
Auftretens gleichartiger Faktoren erblicken zu lassen. Sie ist durch-
aus brauchbar für das Studium der Norm, mit der wir uns bis jetzt
beschäftigt haben. Eine grosse Schwierigkeit entsteht nun mit der
Frage, wie unsere Theorie bei Erkennung gewisser Typen einge
schaltet werden muss, die im phänotypischen Sinne weder als Männ-
chen noch als Weibchen gedeutet werden können. Es sind mit den
erwähnten Typen Übergänge von einem Geschlechte zum anderen
gemeint, die man ganz allgemein mit dem Ausdrucke „Sexuelle
Zwischenstufen“ belegt hat.
Unter den Begriff der „Sexuellen Zwischenstufen“ fallen zwei
Erscheinungen, die phänotypisch einander zuweilen ausserordent-
lich ähnlich sehen können, genotypisch aber einer durchaus ver-
schiedenen Erklärung bedürfen. Es sind dies:
1. Das Zwittertum oder der Gy ERD
2. Die Intersexualität.
4] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 159
Beim Gymandromorphismus stellt der Körper gewissermassen
ein genisches Mosaik, ein lokales Nebeneinander genotypisch diffe- -
renter Zellen, Gewebe oder Organe dar. Bei der Intersexualität ist
der gesamte Körperbestand gleichartig, und zeitlich nacheinander
treten die Zellen, Gewebe oder Organgruppen unter die Herrschaft
gegensätzlicher Entwicklungsrichtungen.
Ein Beispiel des Gynandromorphismus mag die Form der sog.
Mosaikzwitter bilden. Diese sind dadurch ausgezeichnet, dass, wie
schon der Name sagt, ganz zirkumskripte Körperbezirke desselben
Tieres verschiedenen Geschlechtern angehören. Oft ist eine Körper-
hälfte, die Keimdrüsen mit einbegriffen, männlich, während die
andere weiblich ist. Oder es kommt vor, dass z. B. der vordere oder
obere Rumpf männlich, der hintere oder untere weiblich ist und
umgekehrt.
Für die Entstehung des Gynandromorphismus gibt es mehrere
Erklärungen, die jedoch alle ein identisches Prinzip zur Grundlage
haben: nämlich, dass durch eine Abnormität während oder nach
der Befruchtung die Furchungskerne oder deren Abkömmlinge bei
irgend einem Teilungsschritt erbungleich werden; und zwar der-
gestalt, dass das eine Teilstück die ursprüngliche Verfassung bei-
behält, während das andere sich durch regelwidriges Vereintbleiben
oder durch Elimination der Erbkomplexe in das Gegenteil verkehrt.
Die Intersexualität ist im Gegensatz zum Gynandromorphismus
nach Goldschmidt das Erzeugnis zwar eines vollkommen nor-
malen HetrozygotieHomozygotiemechanismus, aber zwischen Genen,
die ihrer Wertigkeit nach nicht aufeinander abgestimmt sind.
Goldschmidt fand nämlich als Ergebnis einer grossen Reihe von
Untersuchungen, dass ein besonderes quantitatives System bestimme, welche der
beiden Geschlechtern eigentümlichen Anlagen latent und welche patent werden
sollen. Die Intersexualitätsforschungen sind fast ausschliesslich an Schmetter-
lingen gemacht, bei denen — wie man wissen muss —, das weibliche Geschlecht
das heterozygote ist. Er nahm nun an, dass sowohl der Faktor M wie auch der
Faktor W eine bestimmte, für jede Rasse spezifische Wertigkeit besässe. Es ist
nicht notwendig, dass sich M mit demjenigen W verbindet, das die seiner Rasse
eigentümliche Valenz besitzt. Es kann auch eine Verbindung mit dem W eines
anderen Biotypus eintreten, das zwar eine andere Wertigkeit besitzt, nichtsdesto-
weniger aber doch ein durchaus lebensfähiges Tier mit erzeugen kann. Was
sich nun bei der Vereinigung der Keimzellen herausbildet, ist ein anderes Ab-
stimmungsverhältnis der Geschlechtsfaktoren zueinander. Diese Verschiebung
des Wertigkeitsverhältnisses aber ist imstande, das absolute Überwiegen von M
oder W bis zur Gleichwertigkeit oder Unterwertigkeit herabzumindern und durch
solche Nuancierungen Zwischenstufen jeden Grades zu erzeugen. In die Wertig-
keitstheorie übersetzt, bedeutet einseitig charakterisiertes Geschlecht das Über-
wiegen des einen Faktors über den anderen, und da wir annehmen, dass beiden
160 Kurt Wolff. [5
Geschlechtern dieselben Geschlechtsfaktoren innewohnen, und die Geschlechter
nur durch das Überwiegen des Männlichkeits- oder bzw. Weiblichkeitsfaktors
entstehen, so müssen notwendigerweise bei einer Annäherung oder Gleichstellung
der Valenzen Zwischenstufen erzeugt werden.
Durch Kreuzungen verschiedener Rassen des Schwammspinners ([L,ymantria
dyspar) mit in der Rasse begründeter verschiedener Wertigkeit der Faktoren
gelang es Goldschmidt, in lückenloser Reihe geschlechtliche Zwischen-
formen vom Weibchen bis zum Männchen und umgekehrt zu erzeugen. Ein ihm
entlehntes Beispiel soll das eben Gesagte klar machen: Angenommen, der Faktor
(W) besässe die Potenz 100 und jeder Faktor (M) die Wertigkeit 60, so würde
die Formel für das Weibchen lauten: (W),oo Meo m, für das Männchen (W),oo
MsoMeo- Es würde also beim Weibchen (W) gegen M beim Männchen M gegen (W)
überwiegen. Wenn wir nun aber noch eine Rasse haben, bei der (W) gleich
200 und (M) —120 ist, so muss es möglich sein, durch Bastardierung beider
solche Individuen zu erzeugen, bei denen in der weiblichen Konstitution M in
der männlichen (W) überwiegt. Die Annäherung oder gar das Überwiegen des
gegengeschlechtlichen Faktors bedeutet aber, wie die Experimente zeigen, die
Erscheinung eines Intersexes.
Die Annäherungstheorie deckt sich nun auch mit der Einteilungsmöglich-
keit der intersexuellen Stufen in bestimmte Kategorien. Es ist daher für das
Verständnis der Intersexualität überhaupt - erforderlich, die Goldschmidt-
sche Einteilung mit Fortlassung der hier nicht interessierenden Haupttypen
kurz wiederzugeben. Goldschmidt unterscheidet:
Weibliche Intersexualität.
a) Beginnende Intersexualität (Lymantria dispar), Weibchen.
Flügelform und Farbe weiblich. Einige Antennenfiedern zuerst dann weiterhin
alle verlängern sich. Abdomen normal, Genitalien normal. Instinkte normal.
Die Tiere sind fruchtbar.
b) Schwache Intersexualität, sie ist kontinuierlich mit vorher-
gehender verbunden. Flügelform weiblich. Kopulationsapparat bereits geut-
lich intersexuell. Instinkte weiblich. Die Tiere kopulieren und setzen normal
aussehenden Eierschwamm ab, der aber keine Eier enthält, da die J,egeröhre
nicht mehr funktioniert.
c) Mittlere Intersexualität, kontinuierlich mit vorhergehender
verbunden. Flügelform weiblich ...... Abdomen und innere Genitalien
weiblich aber weniger reife Eier im Ovarium. Kopulationsapparat beträchtlich
intersexuell.
d) Starke Intersexualität kontinuierlich mit vorhergehender ver-
bunden ...... Das Abdomen ist bei Minusindividuen noch ziemlich dick
und nimmt dann ab bis zu nahezu völliger Männlichkeit. Die Form und Be-
haarung ist fast männlich bis ganz männlich. Die Gonade ist ein jugendliches
Ovar mit weitgehenden Rückbildungen. Kopulationsapparat stark intersexuell . . .
e) Höchstgradige Intersexualität oder Weibchen-
Männchen. Tiere äusserlich völlig gleich Männchen . . .. . Gonade zeigt die
letzten Übergänge von einem sich rückbildenden Ovar in einen Hoden. Kopu-
lationsapparat männlich oder fast männlich. Instinkte männlich.
N Die völlige Geschlechtsumkehr, d. h. die Entwicklung
aller genetischen Eier zu Männchen, die sich, soweit bekannt, in nichts vom
normalen Männchen unterscheiden. Es wurde nur bisweilen festgestellt, dass
6] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 161
die zuletzt schlüpfenden Männchen dieser Zuchten mit Sicherheit als genetische
Weibchen anzusprechen sind und unfruchtbar waren. Die Ursache ist noch nicht
bekannt.
Männliche Intersexualität.
a) Beginnende Intersexualität. Flügelform männlich. Antennen
männlich. Abdomen und innere Genitalien männlich. Kopulationsapparat ent-
weder rein männlich oder erste Zeichen der Intersexualität am Unkus. Flug-
instinkte männlich, ebenso Kopulationsinstinkte. Völlig fruchtbar.
b) Schwache Intersexualität. Flügelform männlich. In der
Flügelfarbe treten mehr keilförmige Streifen weiblicher Farbe in unregelmässiger
Verteilung aber typisch im Verhältnis zu Flügelaxen und Adern auf.....
Innere Genitalien männlich, aber im Hoden befinden sich bei manchen Indi-
viduen Eizellnester. Kopulationsapparat beginnend intersexuell (Unkus). Instinkte
und Kopulationsfähigkeit männlich. Fruchtbar.
c) Mittlere Intersexualität. Flügelform nähert sich der weib-
lichen mit merkwürdigen Wachstumsstörungen ..... Abdomen leicht ver-
dickt, beginnende weibliche Behaarung, Zeichnung und Afterwolle. Innere Geni-
talien ein oft beträchtlich geschwollener Hoden, der fast atypische Spermien
enthält, manchmal auch Eier. Kopulationsapparat mehr intersexuelll. Instinkte
und Kopulationsfähigkeit bei den Minusindividuen noch männlich, bei den
Plustieren schon intermediäre Instinkte, keine Kopulationslust. Fruchtbarkeit
minimal oder fehlend.
d) Starke Intersexualität. Flügelform fast bis ganz weiblich... .
Abdomen mehr und mehr weiblich ..... Innere Genitalien ein grosser mehr
oder weniger zweiteiliger Hoden bis zwei längliche Gonaden. Diese sind degene-
rierende Hoden, gefüllt mit degenerierendem Material und meist atypischen
Spermienbündeln, dazwischen manchmal, aber nicht immer, Eizellgruppen ...
Das Vas deferens beginnt vier Kelche in den Hoden zu treiben, entsprechend
dem Übergang der gemeinsamen Eileiter in die Eiröhren. Kopulationsapparat
noch mehr intersexuell. Instinkt intermediär bis völlig weiblich bei den Plus-
individuen. Natürlich keine Kopulation oder Fruchtbarkeit.
e) Höchstgradige Intersexualität..... wurde bis jetzt
nicht gezüchtet.
f) Völlige Geschlechterumkehr.
Es seien an diese Einteilung noch einige Bemerkungen über die Umkeh-
rung der Sexualinstinkte intersexueller Schmetterlinge angeschlossen. Weibchen
der beginnenden Intersexualitätsstufe üben noch normale Anziehungskraft auf
Männchen aus. Diese wird aber schon bei schwacher Intersexualität wesentlich
geringer, und etwa beginnende Kopulationsversuche sind meist wegen der vor-
handenen Enge der Bursa copulatrix vergeblich. Das Weibchen hat noch die
Instinkte der Eiablage und reibt sich die Afterwolle zum Zwecke der Ei-
schwammherstellung ab. In der mittleren Intersexualitätsstufe üben die Weibchen
nur selten noch eine Anziehungskraft auf die Männchen aus und laufen beı An-
näherung eines Männchens davon. In der starken Intersexualitätsstufe zeigen
einige Weibchen bereits männliche Sexualinstinkte. Sie flattern um «die Weibchen
herum und machen vergebliche Kopulationsversuche. Die höchstgradig inter-
sexuellen Weibchen aber benehmen sich völlig wie Männchen, nur dass auch ihre
Kopulationsversuche meist vergeblich sind.
162 Kurt Wolff. [7
Das Verhalten der intersexuellen Männchen ist analog dem der Weibchen.
Jedoch wurde in der starken Intersexualitätsstufe eine Anziehung auf normale
Männchen nicht beobachtet. i
Man muss sich jedoch nun vor Augen halten, dass nicht bei
allen Tieren die Verhältnisse so einfach sind wie beim Schwamm-
spinner. Es müssen vielmehr zwei gross® Gruppen unterschieden
werden, die nach der Abhängigkeit der Geschlechtsmerkmale von
inneren Faktoren eingeteilt werden können.
Bei der ersten Gruppe sind die sekundären Geschlechtsmerkmale
nicht an die Keimdrüsen gebunden. Eine Kastration und Trans-
plantation andersgeschlechtlicher Gonaden hat keine Wirkung auf
eine phänotypische Veränderung des Versuchsobjektes. Es handelt
sich bei dieser Gruppe um alle Tiere, bei denen noch keine innera
Sekretion vorliegt. Die Versuche von Meisenheimer an Lyman-
tria dispar sind für diese Auffassung beweisend gewesen. Raupen,
deren Keimdrüsen zerstört oder denen nach Entfernung der ihnen
zugehörenden Gonaden die des anderen Geschlechtes inplantiert
wurden, wiesen als Schmetterlinge stets das ihrem Geschlechte eigene
Flügelkleid auf; ein Ergebnis, das sich auch bei dem gleichen Experi-
ment mit embryonalen Keimdrüsen nicht verschob. Man muss also
nach diesen, auch vonHegener, Kopec u.a. erhaltenen Resultaten
annehmen, dass bei Tieren ohne innere Sekretion die Intersexualität
bereits bei der Befruchtung bestimmt ist.
Die zweite Gruppe besteht aus denjenigen Tiergattungen, bei
denen die innere Sekretion einen mehr oder weniger entscheidenden
Einfluss auf den psychischen oder konstitutionellen Aspekt ausübt
Dieser Einfluss ist je nach dem Grade der Einwirkung verschieden,
und wir wissen, dass er bei den Säugetieren am ausgesprochensten
ist. Kastrations- und Transplantationsexperimente zeitigen hier ein
vollkommen anderes Ergebnis.
Bei der Berücksichtigung der hormonischen Umstimmung dieser
zweiten Gruppe ist es also klar, dass neben dem Determinations-
faktor noch ein anderer Faktor beachtet werden muss, dessen Ein-
greifen die Intersexualität erst zur Vollendung bringt, und ohne den
sie niemals in Erscheinung treten würde — die innere Sekretion.
Gründe und Art dieser Wirkungen werden wir noch später aus-
führlich zu besprechen haben.
Da wir vorher das psychische Verhalten von Intersexualitäts-
stufen des Schwamnispinners erwähnten, dürfte es interessieren, auch
das psychische Verhalten künstlich feminierter bzw. maskulinierter
Tiere zu beobachten; trotzdem sie keineswegs Zwischenstufen in
unserem Sinne darstellen. Aber sie zeigen uns erstens einen ganz
8] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 163
ähnlichen und nicht zusammenhanglosen Vorgang und zweitens den
starken Einfluss der Hormone auf bereits seit langer Zeit determinierte
Individuen. Wir werden auch beim Menschen ganz parallele Er-
scheinungen zu erwähnen haben.
Das feminierte Rattenmännchen zeigt den sog. Schwanzreflex
des normalen Weibchens; d. h. es hebt während der Verfolgung durch
das Männchen den Schwanz senkrecht hoch. Auch rüstet es sich
nie zum Kampfe gegen ein normales Männchen.
Das feminierte Rattenmännchen wird vom normalen als Weib-
chen aufgefasst und mit Deckversuchen verfolgt.
Das feminierte Rattenmännchen zeigt den Abwehrversuch des
normalen, nicht brünstigen Weibchens; d. h. es hebt ein Hinterbern
in die Höhe und führt mit ihm Bewegungen aus, die den Aufsprung
des verfolgenden Männchens abwehren sollen.
Das maskulinierte Weibchen erkennt ein brünstiges Weibchen
sofort als solches und verfolgt es. Es beriecht ein neuzugekommenes
Tier in typischer Weise, was das normale Weibchen nicht tut.
Bei der Beobachtung der psychischen Umkehr mehr oder weniger
extremer Intersexualitätsstufen fällt das parallele Verhalten der femi-
nierten bzw. maskulinierten Meerschweinchen und Ratten auf, das
wir eben besprochen haben. Bei aller Ähnlichkeit und sicherlich auch
Verwandtschaft des Verhaltens müssen aber doch hier zwei grund-
sätzliche und scharf zu trennende Unterschiede hervorgehoben werden:
1. Stellen die Versuchstiere niemals Intersexualitätsstufen dar.
Es sind noch niemals durch Transplantationen sexuelle Zwischen-
stufen erreicht worden.
2. Ist die Umkehr des Verhaltens durch künstliche und gewalt-
same Eingriffe in den bereits seit langer Zeit geschlechtsdeter-
minierten Körper hervorgebracht worden.
Wir wissen aber nun durch die Goldschmidtschen Ver.
suche, dass zur Hervorbringung der Intersexualität eine Determination
nach der Vereinigung der Keimzellen.notwendig ist, und wir wissen
ferner, dass bei Vögeln und Säugetieren zu ‘diesem ersten Faktor noch
ein zweiter treten muss, ohne den der erste nicht wirksam sein
kann — die innere Sekretion. Bei den Ratten und Meerschweinchen
nun ist künstlich der 2. Faktor umgestellt worden. Der 1. wies eine
bestimmte geschlechtliche Konstellation auf. Deshalb eben wurden
nun die besprochenen Formen der Inversion erreicht, weil die
Zwischenstufen durch beide Faktoren bedingt werden.
Wie wir uns die Komposition des ersten Faktors vorzustellen
haben, erklären die Goldschmidtschen Analysierungsversuche
am Schmetterling befriedigend. Wir werden später noch sehen, in
164 Kurt Wolf. [9
welcher Weise diese auch speziell auf den Menschen angewandt
werden können. Es bleibt noch übrig, das Zustandekommen des
2. Faktors zu deuten, der ja bei den Intersexen nicht künstlich her-
vorgerufen wird, sondern bereits im Laufe der fötalen Entwicklung
zustande kommen muss. Es muss also nach dem eben Gesagten hier
eine Störung oder frühzeitige antagonistische Einwirkung der inneren
Sekretion vorliegen, die durch bestimmte, uns vorläufig unbekannte
Umstände bedingt wird.
Man weiss, dass der Fötus auf einer bestimmten Stufe seiner Ent-
wicklung indifferent ist, und sich die seinem Geschlecht zuge-
hörigen Eigentümlichkeiten erst später herausbilden. Die anders-
geschlechtlichen Charaktere treten zurück, sind aber noch beim Er-
wachsenen als Rudimente erkennbar. Dies Zurücktreten der anders-
geschlechtlichen Charaktere glaubt man durch eine spezifische Hor-
monwirkung bedingt, die das genetische Geschlecht über die Zwischen-
stufen siegen lässt. Der Fötus produziert also zur Zeit seiner In-
differenz die Hormone beider Geschlechter. Das ihm genetisch zu-
kommende Hormon muss aber auf einer bestimmten Stufe der Ent-
wicklung — sei es durch seine Qualität, sei es durch seine inten-
sivere Stärke — das andersgeschlechtliche Hormon unterdrücken.
Diesen Zeitpunkt hat Poll den Terminationspunkt T genannt, und
durch seinen früheren oder späteren Eintritt wollen wir uns die
Geschlechtseinstellung des Individuums bewirkt denken. Es bleibt
nun die Frage zu beantworten, in welcher Weise dieser Terminations-
punkt die Geschlechtsfaktoren M und W beeinflusst, oder wie er mit
ihnen in Verbindung zu bringen ist. Diese Verbindung ist
nurdenkbar, wenn TinirgendeinerForm die quanti-
tative Abstimmung der Geschlechtsfaktoren zu ver-
ändern vermag, und zwar dergestalt, dass sie durch seine Wir-
kung in einem anderen Potenzverhältnisse zueinander stehen. Da
aber diese Faktoren nur in einem durchaus frühen Stadium abge
ändert werden können, so liegt es nahe, T bereits ebenfalls in der
Determination liegend anzunehmen. Man hat also den Beweis ge
schlossen, wenn man die Bedingtheit der hormonischen Realisation
nicht phänotypisch sondern genotypisch zu erklären vermag. Die
quantitative Abstimmung der Geschlechtsfaktoren ist es also im
Verein mit dem früheren oder späteren ‚Eintritt des Terminations-
punktes, die so die Reihe der sexuellen Zwischenstufen bewirkt. Der
Terminationspunkt wird zum Drehpunkt!
Goldschmidt hat nun, von seinen Forschungen ausgehend,
es versucht, eine Deutung auch der menschlichen konträren Sexualität
zu geben. Er lässt die Frage offen, durch welche Zufälle hier eine
10] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 165
abnorme Faktorenkombination zustande kommen könne. Seine An-
nahmen gründen sich auf Hypothesen, denen nur ausgiebig verwertete
Ahnentafeln, die ihm jedoch nicht vorlagen, Halt zu verleihen ver-
mögen. In der vorliegenden Arbeit ist es unternommen worden, die
von Goldschmidt postulierten Stammtafeluntersuchungen zu
geben, und es war, bei Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte
interessant, zu untersuchen, ob die menschliche Intersexualität sich
wirklich nach ähnlichen Gesetzen bestimmen lässt.
Zur Analyse wurde eine bestimmte Form der klinisch soge-
nannten Homosexualität ausgewählt, die sogleich erörtert werden soll.
II. Material und Methodik.
Die Homosexualität ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern
bekannt gewesen. Sie steht in keinem Zusammenhange mit Kultur
oder Zivilisaton uind ist demzufolge ein Phänomen, das vollkommen
unabhängig von Volk oder geographischer Begrenzung ist. Ihre
Diagnose ist im allgemeinen ein der Klinik entnommener Begriff und
stellt somit einen Standpunkt dar, der sich mit biologischen Begriffen
nicht ohne weiteres zu decken braucht, Er müsste zu diesem Zweck
erst den Erfahrungen über Wesen und Vererbung des Geschlechtes
angepasst werden. Trotzdem sind wir bei der Auswahl eines Materials
nicht sofort in der Lage, die letztgegebenen Regeln beobachten zu
können, da das Wesen der Individuen, die wir zu untersuchen Ge-
legenheit haben, sich uns gewissermassen in einer Projektion dar-
stellt, die wir erst klinisch und in zweiter Reihe biologisch zu ver-
werten vermögen. Das klinische Bild der Homosexualität aber stellt
sich dem Beobachter in einer ausserordentlichen Mannigfaltigkeit dar,
die er erst sondern muss, um sie zu beherrschen. Um sie aber sondern
zu können, muss er imstande sein, die Erscheinung von den ver-
schiedensten Gesichtspunkten aus zu betrachten.
Jedem, der Gelegenheit hat, viele Homosexuelle zu beobachten,
muss die ungeheure Variabilität der verschiedenen Typen auffallen,
und man kommt im Verlaufe der Untersuchungen immer mehr zu
der Überzeugung, dass man hier eigentlich unter einem gemeinsamen
Namen Individualitäten vereinigt hat, die zwar phänotypisch das
Merkmal der inveıtierten Geschlechtsrichtung gemeinsam haben und
so stufenmässig in einander überzugehen scheinen, genotypisch aber
gänzlich verschieden voneinander sein können. So ergibt sich denn
als erste Aufgabe, für eine vererbungsbiologische Arbeit, unter der
Vielheit der Phänotypen eine engumschriebene Gruppe herauszu-
finden, die geeignet ist, unseren Anforderungen zu entsprechen und
166 Kurt Wolff. m
gleichzeitig eine gewisse Aussicht dafür zu eröffnen, dass die ge-
nische Komponente sich erbbiologisch fassen lässt, und dass wir es
nicht mit einer wenig greifbaren psychischen Aberration, sondern
mit einer Intersexualitätsstufe zu tun haben. Bei der psychischen
Analyse allein nämlich hat man immer wieder die Idee, dass zum
Zustandekommen dieser Abweichung von der normalen Korrelation
auch Faktoren mitsprechen können, die ihre Ursache in irgendwelchen
phänotypischen Alterationen hätten. Die psychischen Merkmale sind
nicht zu allen Zeiten vorhanden, sondern entwickeln sich viel später.
Sie kommen einerseits unabhängig von physischen Korrelationsaber-
rationen vor, wie andererseits diese wiederum auch ohne erstere in
Erscheinung treten. So gewinnen die psychischen Störungen erst
dann an Wert für unsere Untersuchungen, wenn sie mit physischen
einhergehen. Der Typ, der also allein für uns zunächst in Frage
kommen kann, ist der, der neben den psychischen Abweichungen
auch noch somatische aufzuweisen hat. Wenn auch nicht bestrittten
werden kann, dass körperliche Störungen ebenfalls durch phäno-
typische Faktoren hervorgerufen werden können, so bieten doch diese
im Verein mit den psychischen eine gewisse Sicherheit ihres keim-
plasmatischen Ursprungs. ' Dieser Typ ist der Typus inversus psycho-
somaticus genannt worden, und wenn im weiteren Verlauf der Arbeit
von Inversion oder Homosexualität die Rede ist, so ist nur diese
Form derselben damit gemeint; keineswegs aber der Begriff der Homo:
sexualität im landläufigen Sinne.
Während die psychische Inversion im allgemeinen bei jedem
Vertreter dieses Typs ein ähnliches Gesamtbild ergibt, nämlich die
Inversion von Geschlechtstrieb und Neigungen, liefert die physische
srscheinungsform einen durchaus wechselnden Eindruck. Hier stellen
sich Übergänge von fast reinem Mannestyp bzw. Frauentyp bis zum
Hermaphroditismus, zur Gynandrie bzw. Androgynie dar. Diese
letzten, stark ausgeprägten Formen, die oft mit Transvestitismus ein-
hergehen, sieht man natürlich verhältnismässig selten; auch wäre es
falsch, nun anzunehmen, dass jeder androgyne Mann bzw. jene gynan-
drische Frau oder jeder Hermaphrodit bzw. jeder Transvestit absolut
homosexuell sein müsste. Auf diesen Fehler hat bereits Hirsch-
feld hingewiesen. Aber es ist auffallend, dass die Mehrzahl dieser
Formen mit Homosexualität verbunden ist. Es wurden natürlich für
diese Arbeit nur solche Fälle ausgewählt, für die eine Inversion fest-
stand. Bei den weniger ausgebildeten Formen sieht man häufig nur
recht geringfügige Unterschiede, wie ein sehr zarter Knochenbau
oder ein weiches Fettpolster besonders der Brustmuskulatur beim
Mann. Diese Unterschiede können jedoch auch stärker hervortreten.
12] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 167
Man beobachtet dann beim Mann ein Zurücktreten des Adamsapfels
oder gar die Entwicklung von Mammae. In einem Falle gelang es
sogar, in einer sezernierenden Brustdrüse Kolostrum nachzuweisen.
Auch die Maße von Becken und Schultern verschieben sich bei diesem
Typ häufig dergestalt, dass das Becken breit und flach, ‚die Schultern
schmaler als das Becken sind. Ähnlich verhält es sich. mit der
Schambehaarung. Anstatt der Behaarung der Linea alba sieht man
oft die des Mons veneris. Die Behaarung des Gesichtes ist oft sehr
spärlich oder gar nicht vorhanden. Bei der homosexuellen Frau
scheint das Verhältnis in derselben Weise umgekehrt vorzuherrschen.
Ihre Stimme ist tief, ihr Adamsapfel trittt hervor. Die Mammae sind
oft nur schwach ausgebildet“, das Becken ist schmaler als die
Schultern. Die Schambehaarung geht oft auf der Linea alba weiter.
Die Oberlippe zeigt häufig einen Bartanflug. Ob allerdings die
Häufigkeit der psychischen Inversion der Frau der des Mannes ent-
spricht, kann wegen der geringen Zahl der Beobachtungen an dieser
Stelle nicht entschieden werden.
Es kann, wie bereits oben erwähnt, nicht genug davor gewarnt
werden, etwa jeden femininen Mann oder jede virile Frau von vorn-
herein als homosexuell anzusehen. Mit einer physischen oder psy-
chischen Inversion braucht keine Inversion des Geschlechtstriebes
einherzugehen. Die Diagnose der Homosexualität ist keineswegs so
leicht, dass sie auf den ersten Blick zu stellen ist. Erst genaue Be-
obachtung und Verwertung von Aufzeichnungen der Patienten ver-
mögen hier Klarheit zu schaffen. Der vorstehende Typ erschien je-
doch der für eine vererbungsbiologische Untersuchung geeignetste,
weil er allein die Vertreter einer mehr oder weniger physischen und
psychischen Inversion in sich schliesst. Er allein kann für eine
strenge kritische Untersuchung in Frage kommen, weil in ihm die
wenigsten Gefahren begründet liegen, unechte Homosexualität mit
einzubegreifen und so einen Typ zu verwerten, der zwar invertiert,
in gewisser Hinsicht aber nicht intersexuell ist.
Ausgeschaltet sind diese Gefahren natürlich nicht ganz; denn
man kann, wie erwähnt, kaum ermessen, welche Fülle von Faktoren
vermag, ein Verhalten in seinen Auswirkungen umzuändern. Der
eben besprochene Typ ist seinem Sinne gemäss in der vorliegenden
Arbeit der Typus inversus psycho-somaticug genannt worden.
Was nun die Auswahl und Beschaffung des Materials anbetrifft, so hat nur
der Typus inversus psycho-somaticus Berücksichtigung gefunden. Wenn man
besondere Komponenten der Homosexualität annimmt, so bildet der Typus in-
versus eben die meiste Gewähr, weil er der äusgebildetste ist! Ob und wie weit
diese Annahme zutrifft und wir die Berechtigung haben, von ihr zu sprechen,
muss dem späteren Teil der Untersuchungen vorbehalten bleiben. Die Einteilung
168 Kurt Wolff. [13
des Materials jedenfalls ist von diesem Standpunkte aus vorgenommen worden.
Es muss noch hinzugefügt werden, dass der Typus inversus sowohl bei seinen
Vertretern selbst als auch in deren ‚Ahnentafeln gewisse Eigentümlichkeiten
bietet. Diese, nämlich sein Verhältnis zur Neuropathie bzw. Psychopathie, sollen
in einer späteren Arbeit untersucht werden.
Die Beschaffung des Materials ergab insofern Schwierigkeiten, als sich nicht
alle Fälle direkt ermitteln liessen. Es mussten dann Aufzeichnungen und gut
und vollständig ausgefüllte Fragebogen zu Hilfe genommen werden, die das
Institut für Sexualwissenschaften als psychobiologische Fragebogen herausgibt.
Andere Fragebogen, die sich an die eben erwähnten anlehnen, wurden eigens für
die vorliegende Schrift ausgearbeitet. In diesen Fällen wurde ganz besonders
kritisch vorgegangen. Vieles, was erst für geeignet angesehen wurde, musste
dann bei der Sichtung des Materials wieder verworfen werden. Jeder einzelne
Fall ist viele Male auf seine Eignung hin geprüft worden. In den anderen
Fällen wurde eine persönliche, körperliche und psychische Untersuchung einge-
leitet; zuweilen konnten selbst Eltern und Verwandte beobachtet werden. Es
ist natürlich, dass diese Fälle am ausgiebigsten verwertet wurden. Bei der
Auswahl des Materials ist also auf das strengste lediglich der Probandus unter-
sucht worden, ohne jede Rücksicht auf Beschaffenheit von Aszendenz oder Ge
schwisterschaft. Dadurch wurde eine völlige Sicherung dagegen geschaffen,
dass etwa das Material einseitig nach dem Masse der familiären Belastung oder
der Verwertbarkeit für Erbforschungen ausgewählt wurde. So stellt denn auch
unsere Auswahl eine bewusste Beschränkung des gesamten Materials dar. Für
die Ermittlung der Gesetzlichkeiten spielt das aber keine Rolle; denn die
Erkennung der Zahlenregeln ist nur daran geknüpft, dass zwischen den Pro-
banden und ihren Geschwistern stets eine allgemein gültige Zahlengesetzlichkeit
herrscht.
Zum Schluss muss noch eine Erscheinung hinzugefügt werden, die bei der
Durchsicht des Materials auffallen musste. Das ist die geringe Anzahl: von Frauen,
die erfasst werden konnte. Unter den insgesamt 148 Homosexuellen finden
sich nur 8 Frauen. Der Grund liegt, glaube ich, in der Auswahl des Materials,
das stets rein zufällig erfasst wurde. Die physische Beschaffenheit der Frau ge-
stattet ihr, sich zu verheiraten und ihre Triebrichtung viel leichter zu verbergen
als es dem Mann möglich ist. Von dieser Gelegenheit wird die Frau aber um
so eher Gebrauch machen als Erziehung und Anschauung der Umwelt sie dazu
drängt, ihre Inversion zu verleugnen. Infolgedessen wird die Inversion des
Mannes numerisch viel stärker in Erscheinung treten, und diese numerische
Überlegenheit wird nur dann paralysiert, wenn vorsätzlich nach Frauen gesucht
wird. Das ist bei der Auswahl des Materials aber nicht geschehen. In jedem
Falle wäre es verfehlt, aus der zahlenmässigen Geringheit eines bestimmten
Materials ohne weiteres auch auf eine zahlenmässige Geringheit der weiblichen
Homosexualität zu schliessen.
1II. Das heredofamiliäre Vorkommen der Homosexualität.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Abweichungen von den
normalen Korrelationen der Geschlechter und der akzidentellen
Sexualcharaktere in verschiedenen Familien gehäuft vorkommen. In
der Literatur findet sich bereits der Hinweis, dass solche Störungen
14] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 169
auf psychischem Gebiete — sog. Homosexualität im landläufigen
Sinne —- bei nahen Verwandten — Vätern und Söhnen, Geschwister-
kindern, Onkeln und Tanten, Brüdern und Schwestern -— in einem
verhältnismässig hohen Prozentsatze vertreten sind. So hat
v. Römer (die erbliche Belastung des Zentralnervensystems bei
Uraniern, geistig gesunden Menschen und Geisteskranken: Jahrb. f.
Sexuelle Zwischenstufen Jahrg. 7 Bd. 1) in 25% der Fälle ein
familiäres Vorkommen der Erscheinung beobachtet. Hirschfelds
Zahlen (Die Homosexualität des Mannes und des Weibes) erreichen
diese Höhe zwar nicht, weisen aber doch immerhin einen beträcht-
lichen Prozentsatz auf. Er gibt in seinem diesbezüglichen Buche an,
in 23,200 der Fälle ein familiäres Vorkommen der Homosexualität
gefunden zu haben. Um seine Untersuchungen und Resultate klar zu
kennzeichnen, ist es am besten, ihn selbst sprechen zu lassen: „Ich
fand nicht ganz so hohe Zahlen (wie Römer), doch immerhin so be-
trächtliche, — 23,2% — dass kein zufälliges Zusammentreffen ob-
walten kann. In nahezu der Hälfte der Fälle handelt es sich um
Bruder und Schwester. Unter 58 urnischen Geschwistern, die mir
persönlich oder dem Namen nach bekannt sind, finden sich 23 mal
Bruder und Schwester, 21 mal homosexuelle Brüder, darunter 2 mal
Zwillingsbrüder, 3mal homosexuelle Schwestern, 6 mal 3, 1mal 5,
1 mal 4 urnische Geschwister; 28 mal sind sämtliche (2, 3, 5) Kinder
homosexuell.‘
Es bleibt nun übrig, zu erörtern, wie sich diese Zahlen zu dem
vorliegenden bestimmteren, d. h. nach physischen und somatischen
Abweichungen orientierten Material verhalten, das zwar z. T. auch
von Hirschfeld beobachtet worden ist, aber nach den hier zu-
grunde gelegten Begriffsbestimmungen ausgelesen wurde. Hierbei
ist zu beachten, dass weder der Begriff Römers noch Hirsch-
felds sich mit den hier behandelten Intersexualitätsstufen deckt,
sondern dass diese eine nach biologischen Gesichtspunkten getroffene
Auswahl desselben darstellen.
Von den 113 untersuchten Familien kennen wir 79 = 700%% mit nur einem be-
hafteten Familienmitglied; bei 34 tritt also die Homosexualität familiär in Er-
scheinung. Dieses Ergebnis entspricht also einem Satz von 30% und steht
somit zwischen den v. Römer und Hirschfeld gefundenen Zahlen, soweit
man diese überhaupt zum Vergleiche heranziehen darf ‘und will.
Wenn man die Familien einzeln in Betracht zieht, so zeigt sich das Vor-
kommen der Inversion bei Bruder und Bruder in 20 Fällen. Bei Bruder und
Schwester in 3 Fällen, bei Onkel und Neffe in 10 Fällen, bei Onkel und Nichte
—; bei Tante und Neffe in 2 Fällen, bei Tante und Nichte in 2 Fällen, bei
(seschwisterkindern in 5 Fällen, und zwar in 3 Fällen bei Geschwisterkindern
väterlicherseits, in 2 Fällen mütterlicherseits. Bei Vater und Sohn zeigt sich
Arehiv für Frauenkunde. Bd. X H 2. 12
170 Kart Wolff. [15
das Vorkommen der Homosexualität in 2 Fällen, und zwar sind in dem einen
Falle alle Söhne homosexuell, im anderen die Hälfte.
In 6 Familien finden sich die eben geschilderten Erscheinungen neben-
einander, und zwar dergestalt, dass in einer Familie Grossonkel und Vettern
(Brüder), in 3 Onkel und Neffen (Brüder), in einer Tante und Neffe und Nichte
(Geschwister) und in einer Onkel, Tante und Neffen (Brüder) behaftet sind. Wenn
wir also die erhaltenen Ergebnisse nach ihrer Häufigkeit ordnen, so stehen Ge-
schwisterfälle (24) in erster Linie; sie machen 2200 sämtlicher Familien aus.
In 2. Reihe stehen die Fälle von Onkel und Neffe mit 8,8%, in 3. Reihe
von Geschwisterkindern mit 4,14%, in 4., 5., 6. Reihe von Tante und Nichte.
Tante und Neffe, Vater und Sohn mit je 1,7%.
Es kommen in dem vorliegenden Material folgende Kombi-
nationen also nicht vor:
1. Homosexuelle Mutter und homosexuelle Kinder.
2. Homosexueller Vater und homosexuelle Tochter.
3. Homosexueller Onkel und homosexuelle Nichte.
Diese Häufung der Triebstörung in Familien mit zu mindest
einem in unserem Sinne anormalen Mitgliede — dem Probauden —
Kanu klinisch durch zwei völlig verschiedene Meinungen erklärt
werden. Beide Ansichten haben, auf so verschiedenen Standpunkten
sie stehen mögen, ein Recht darauf, so lange als daseinsberechtigt
angesehen zu werden, wie nicht ganz bestimmte und umschriebene
Beweise biologischer Art eindeutig gegen die eine oder die andere
sprechen. Die eine Richtung — die psychoanalytische — steht
einer konstitutionell begründeten Komponente der Homosexualität
durchaus skeptisch gegenüber. Sie negiert eine Vererbung und führt
die Erscheinung der Inversion auf irgendwelche späteren, wohl
meist im Kindesleben auftretenden psychischen Einflüsse zurück.
Diese Erinnerungsbilder der Kindheit, die sich meist auf irgendwelche
homoerotischen Akte oder Gesichte beziehen, werden — wie uns
diese Schule lehrt — später verdrängt und damit der Bewusstseins-
sphäre entzogen. Was übrig bleibt und nach aussen in Erscheinung
tritt, ist die Umwandlung des Geschlechtstriebes.
Die psychoanalytische Schule würde sich also zu der Frage
der Inversionshäufung in den Familien so stellen, dass sie sie
durch eine Beeinflussung der zuerst homosexuell gewordenen Mit-
glieder erklärte. Gegen diese Deutung spricht die Tatsache, dass
in dem vorliegenden Material zwei Brüder von allerfrühester
Jugend an bei verschiedenen Pflegern und in verschiedenen Städten
erzogen wurden und doch beide den Typus inversus psycho-somaticus
ergaben. Hierzu könnten die P’sychoanalytiker wieder sagen, dass dann
eben beide an den verschiedenen Wohnorten ähnlichen Einflüssen
unterlegen seien. Diese Annahme hat nur recht geringe Wahrschein-
16] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 171
lichkeit für sich, um so mehr, als das Material auch zahlreiche Fälle
von nahen Verwandten ergibt, die so lange nichts von ihrer gleich-
geschlechtlichen Veranlagung wussten, bis eben diese sie zufällig
zusammen führte, oder bis sie sich in homosexuellen Vereinen
trafen und dort zu ihrem grössten Erstaunen erkannten. Auch
könnte durch diese Erklärung wohl in manchen Fällen die psychische
Inversion niemals aber die somatische verstanden werden.
Biologisch würde die Auffassung der psychoanalytischen Schule
also bedeuten, dass die Triebstörung eine Modifikation der mensch-
lichen psychischen akzidentalen Sexualunterschiede ist. Unter den
geeigneten Umfeldbedingungen liegt diese Reaktionsform zur Reali-
sation bereit, und zwar in jeder menschlichen Konstitution. Die
Modifikation in dieser Richtung wäre also als eine allgemein genische
Eigenart der Spezies „Mensch“ zu betrachten.
Die andere Richtung stellt sich in den schroffsten Gegensatz
zur psychoanalytischen Schule. Sie nimmt unbedingt eine konsti-
tutionell begründete Komponente für die Homosexualität an und sieht
diese in der Hauptsache in einer anderen Artung der Sexualhormone;
dergestalt, dass die Geschlechtsdrüsen des männlichen Homosexuellen
z. T. ein eigentlich für das weibliche Geschlecht bestimmendes,
die der homosexuellen Frau ein für das männliche Geschlecht aus-
druckgebendes Inkret hervorbringen. Diese Richtung würde sich
ihrer biologischen Einstellung nach gegebenenfalls der Annahme einer
Vererbung weit eher geneigt erweisen. Sie wird unterstützt durch die
Beispiele vom Pseudohermaphroditismus, die Neugebauer (Der
Hermaphroditismus beim Menschen: Beobachtung Nr. 432, 872, 965,
986, 1108 u. S. 470) anführt und die teils durch ein Ovotestis, teils `
durch ein Adenoma testiculare ovarii bzw. testiculi ovotestes bedingt
gewesen sein sollen. Als eine Stufe in der Richtung zum Hermaphrodi-
tismus ist nach der Ansicht dieser Lehre auch die Homosexualität zu
betrachten, und sie hat diesem Gedanken Ausdruck gegeben, indem
sie diese irı den Begriff der sexuellen Zwischenstufen einreihte. So be-
stechend diese Theorie aber auch ist, ein Umstand spricht unbedingt
dafür, sie nur vorsichtig und mit grösster Kritik aufzunehmen; ab-
gesehen nämlich davon, dass die Frage einer funktionierenden Ovo-
testis noch lange nicht entschieden ist, hat sich auch in keiner
der bisher untersuchten Keimdrüsen eine andersgeschlechtliche
Substanz im mikroskopischen Bilde oder in chemisch-physiologi-
schen Untersuchungen mit Sicherheit nachweisen lassen. Alle in
dieser Richtung angestellten Untersuchungen haben schliesslich ein
negatives Resultat ergeben.
12*
172 Kurt Wolf. [17
Diese — wie man sie nennen kann — innersekretorische Rich-
tung könnte die familiäre Häufung der Homosexualität durch eine
Mutation erklären, indem sie das Keimplasma durch irgendwelche
Umstände nach der gegengeschlechtlichen Seite hin verändert glaubt:
in dem Sinne, dass bei gegebenen Umfeldverhältnissen eine abnorme
Reaktion eintritt, und zwar dergestalt, dass das Abirren der akziden-
tellen Sexualdifferenzierung nicht eine Spezies, sondern eine Linien-
eigenschaft bestimmter Biotypen darstellt. Mit der Annahme der
Mutation ist selbstverständlich zugleich eine Vererbung gegeben:
alsoein gesetzlich bestimmtes, wenn auchinnerhalb
gewisser Grenzen variables Vorkommen einer ähn-
lichen Erscheinung.
Man könnte nun schliesslich noch eine diese beiden Vorstel-
lungen — Psychoanalyse und innere Sekretion — vermittelnde
Anschauung verteidigen. Angenommen nämlich, dass die Modi-
fikation tatsächlich eine so grosse Rolle bei der Entstehung sexueller
Abweichungen spielt, wie sie die Psychoanalytiker vermuten, wäre
es möglich, auch eben dieser Modifikation selbst eine Erblichkeit
zuzusprechen. Wir müssten dann modifikatorische Gene annehmen,
die, nur bestimmten Individuen eigen, ihre Wirkung bei geeigneten
Umfeldverhältnissen entfalten würden. Was also nach Annahme
der psychoanalytischen Schule eine allgemeine genische Reak-
tion bedeutet, wäre nach dieser Theorie eine nur besonderen
Individuen zugehörende erbliche Modifikabilität. Diese Individuen
würden auch spezifischen Einwirkungen ebenso mit der Inversion ant-
worten, während andere sich diesen gegenüber völlig reaktionslos
verhalten würden.
Gelänge es, in den vorkommenden akzidentellen Sexualabwei-
chungen ein genischgesetzliches Verhalten — Erblichkeit — nach-
zuweisen, so wäre damit zugleich die konstitutionelle Eigenart der
erwähnten Triebstörungen bewiesen; allerdings nur für diese unter-
suchten und besonderen Fälle. Es muss jedoch auch hier wieder be-
achtet werden, dass das Vorkommen modofikatorischer Störungen
durchaus nicht ausgeschlossen werden soll oder darf. Sprechen
irgendwelche Ergebnisse gegen die Erblichkeit, so sprechen diese
gleichzeitig — wenn auch nicht unbedingt — gegen das Vor-
handensein einer konstitutionellen Komponente. Es kommt dann
aber auf ein Spiel mit der Bedeutung oder der Definition des Konsti-
tutionsberriffes hinaus, indem man dann annimmt, epigame Ge-
schehnisse vermöchten die Komposition (Poll) eines Lebewesens
in wesentlichen Teilen umgestalten, so dass diese veränderte Reaktions-
18] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 173
art nunmehr ebenfalls zu einer Charaktereigenart der Persönlichkeit
geworden sei.
Wir werden im folgenden sehen, ob und wie weit die Durch-
arbeitung von Ahnentafeln dazu beitragen kann, die Entscheidung
für eine der eben genannten Richtungen zu erleichtern — Modi-
fikation oder Mutation —, die alle in fast gleicher Weise Meinungen
und Umstände für oder gegen sich haben.
IV. Die Vererbung der Homosexualität und das Ergebnis
der Familienuntersuchungen nach der Weinberg schen
Methode.
Bei der Untersuchung jedweden Erbgangs muss man sich zu-
nächst die Frage vorlegen, nach welchen Gesetzen sich derselbe voll-
zieht. Der Erbgang der Störungen in den akzidentellen Sexualdiffe-
renzierungen würde der Aufmarksamkeit der früheren Beobachter
wohl kaum entgangen sein, wean es sich um ein so einfaches Ge-
schehen wie Monohybridität, Dominanz und Rezessivität oder ge-
wöhnliche Heterozygotie gehandelt hätte. In der Tat lässt das uns vor-
liegende Ahnentafelmaterial ein derartiges Verhalten mit grosser Sicher-
heit ausschliessen. Bei der Annahme einer Monohybridität müssten
wir erwarten, dass beim Vorhandensein homosexueller Kinder
mindestens eins der Eltern ebenfalls homosexuell wäre. Oder umge-
kehrt, dass, wenn eins der Eltern homosexuell ist, die Kinder zum
grösseren oder geringeren Teil dieselbe Veranlagung aufweisen. Dies
ist aber bei dem vorliegenden Material fast gar nicht der Fall. Nur
in zwei Ehen finden wir, dass behaftete Väter behaftete Söhne
haben, in allen anderen Fällen stammen die Nachkommen von in
bezug auf die Homosexualität phänotypisch völlig unbehafteten Eltern.
Ob sich also die Annahme der Monohybridität auf die Dauer wird
halten können, wird sich im Laufe der folgenden Untersuchungen
noch erweisen; denn erst die genaue Untersuchung des Prozentsatzes
behafteter Kinder erlaubt einen Schluss auf die Faktorenzahl, die bei
dem Zustandekommen unserer Intersexualitätsstufen eine Rolle spielt.
Wenn wir die uns vorliegenden Geschwisterschaftstypen betrachten, so
haben wir zunächst zwei Hauptgruppen zu unterscheiden: nämlich Geschwister-
schaften mit gesunden Eltern (negativ konkordant im Sinne Haeckerts) und
Geschwisterschaften mit homosexuellem Vater (patro positiv diskordant). Die
noch denkbaren Kombinationen: Geschwisterschaften mit homosexueller Mutter
(matro positiv diskordant) oder homosexuellen Eltern (positiv konkordant)
sind bei unserem Material leider nicht vorhanden: eine T,ücke, deren Ausfül-
lung mit Ahnentafelmaterial dringend erforderlich scheint. Die vorher erwähnten
Gruppen muss man sich der Übersicht halber wieder in verschiedene Unter-
174 Kurt Wolf. [19
abteilungen zerlegt denken. Wir haben also dann folgende Kombinationen zu
unterscheiden:
A. Negativ konkordante Ehen:
a) nur heterosexuelle Kinder,
b) nur homosexuelle Kinder Monotyp (Poll,
c) homosexuelle Söhne,
d) homosexuelle Töchter Dityp
e) homosexuelle Söhne und Töchter.
B. Patro positiv diskordante Ehen:
a) nur hetlerosexuelle Kinder,
b) nur homosexuelle Kinder Monotyp
c) homosexuelle Söhne,
d) homosexuelle Töchter Dityp.
e) homosexuelle Söhne und Töchter.
Das Bild der Ahnentafeln zeigt nun, dass in unserem Falle für die Gruppe A
nur die Unternbteilung a ausfallen muss, da ja doch vollkommen heterosexuelle
Geschwisterschaften natürlich nicht untersucht worden sind. Dass sie vor-
handen sind, wird niemand bestreiten. Für die Gruppe B fallen alle Unter-
suchungen mit Ausnahme von b und c fort. Diese Erscheinung ist sicherlich
eine Folge der noch ımmer zu geringen Zahl der beobachtsten Familien. Im
übrigen muss, was die Erklärung für das Vorkommen der Unterabteilungen an-
betrifft, aus bestimmten Gründen auf das folgende Kapitel verwiesen werden.
Was uns in diesem beschäftigen muss, ist die Zusammensetzung der Elternpaare
und ihr Einfluss auf die Geschwisterschaften.
Für eine vererbungsbiologische Berechnung kann die Gruppe B nicht in
Betracht kommen, da in ihr überhaupt nur zwei Familien vorhanden sind.
In der weitaus grössten Mehrheit stammen also die homosexuellen Nach-
kommen von phänotypisch unbehafteten Eltern! Dies wird nicht nur auf das vor-
liegende Material passen, sondern, da dieses in bezug auf die Eltern. rein zufällig
ausgewählt ist, wird es auch klinisch für die Gesamtheit im ganzen zutreffend
sein. Warum es aber auch biologisch für die Allgemeinheit Gültigkeit zu haben
scheint, wird ebenfalls im nächsten Kapitel auseinandergesetzt werden.
Wenn von den insgesamt 113 Familien die beiden in Gruppe B gehörigen
abgerechnet werden, so bleiben uns 111 Familien mit 451 Kindern. Unter
diesen 451 Kindern finden sich 145 Homosexuelle, was einem Satze von 32,15%
entsprechen würde. Die Arbeiten von Weinberg haben uns nun gezeigt,
dass aus einem derartigen Material auf derartige Weise gewonnene Zahlen ohne
weiteres als unrichtig betrachtet werden müssen.
Die Art, in der das Material ausgewählt worden ist, muss auch die Methode
bestimmen, es zu berechnen. Das Material ist nun so ausgewählt worden, dass
jeweils ein Homosexueller untersucht und analysiert worden ist, der dann über
Geschwister und Familie hat Auskunft geben müssen. Es hat also — wie Wein-
berg sich ausdrückt — eine einseitige Auslese stattgefunden. Diese Auslese trägl
keinen repräsentativen, d. h. keinen für die Allgemeinheit gültigen Charakter,
da dem U'ntersuchenden die Familien mit einer grösseren Anzahl Behafteter eher
zu Gesicht kommen als die mit einer kleineren oder gar nur einem Individuum.
20] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 175
Das Ausleseverhältnis wird also stark zuungunsten der behaftet armen Familien
und zugunsten der behaftet reichen Familien verschoben. Die Folge dieser Ver-
schiebung wiederum ist ein Behaftetenüberschuss, den Weinberg für diese
Art der Auswahl mit seiner Probandenmethode zu paralysieren gelehrt hat.
Der Gedankengang der Probandenmethode ist nach Ju st in Kürze folgender:
„Anstatt des naiven Vorgehens, alle rezessiven Nachkommen zu zählen und ihr
Verhältnis zur Gesamtzahl festzustellen, fragt Weinberg nach den Ge-
schwistern derjenigen Rezessiven, die dem Untersuchenden zu (Gesicht ge-
kommen sind. Denn die Geschwister dieser Rezessiven sind in ihrer (resamtzahl
von diesen unabhängig, abhängig dagegen lediglich von der Erbkonstitution
ihrer Eltern und spiegeln in ihrer prozentualen Zusammensetzung unverzerrt das
Gesamtbild wieder. Die Summe der Rezessivengeschwister muss also das Resultat
der Kreuzung heterozygoter Eltern ergeben. Die zur Beobachtung gekommenen
Rezessiven nenn!. Weinberg ‚Probanden‘, die erst in zweiter Jinie, also bei der
Untersuchung der Geschwister erfassten „Sekundärfälle“. Letztere werden erst
dann wieder zu Probanden, wenn Gelegenheit gegeben wird, sie zu untersuchen.
Der Rezessivenüberschuss wird also dadurch auf die Norm zurückgeführt,
dass man gar nicht nach den Probanden selbst, sondern nach ihren rezessiven
Geschwistern fragt, deren Summe dieselben Regeln aufweisen muss wie die
Summe der Probanden.‘ = | ` |
In eine von Weinberg für derartige Untersuchungen aufgestellte Tabelle
wurde nun auch unser Material eingesetzt.
Es ergab sich natürlich von selbst, dass nicht alle Geschwister in die Be-
rechnung mit hineingezogen worden sind. Die Eigentümlichkeit der Anlage
macht es zur Bedingung, die direkt oder indirekt erfassten Individuen erst von
einem bestimmten Alter an in die Berechnung einzuschliessen; nämlich von dem
Alter an, in dem eine Entscheidung in bezug auf die Ausgestaltung ihrer psychi-
schen und physischen Sexualmerkmale getroffen werden kann. Poll hat
dieses Stadium das Stadium der Entscheidbarkeit genannt. Man weiss, dass die
Richtung des Geschlechtstriebes in der Zeit der Pubertät bei sehr vielen Per-
sonen eine besonders schwankende ist, und es gibt Forscher, die dieses Phä-
nomen als für alle Menschen gültig annehmen wollen. Tatsache ist, dass diese
Erscheinung ausserordentlich häufig ist. Mir selbst haben etwa 75% der von mir
befragten (Homosexuellen und Heterosexuellen) = 400 eine derartige Schwankung
zugestanden. Es schien also nach dem eben Gesagten sehr von Vorteil zu sein,
das Stadium der Entscheidbarkeit möglichst hoch anzunehmen. Es wurde für
die vorliegende Arbeit auf 16 Jahre festgesetzt. Die Individuen unter 16 Jahren
wurden ebenso wie die Fehl- und Frühgeburten oder im Kindesalter Ver-
storbenen für die Hauptberechnung ausgeschaltet und unter dem Sammelbegriff
„Unentscheidbare‘‘ zusammengefasst. Dieses Verfahren bedeutet nur dann einen
Fehler, wenn erhebliche Unterschiede in der Absterbeordnung in der Zeit vor
oder in dem Entscheidbarkeitstermin für die Gruppe der Behafteten und Unbe-
hafteten anzunehmen wären. Es ist keine Tatsache bekannt, die für die vor-
liegende Intersexualitätsstufe auf eine solche differentielle Ausmerzung hinweisen
würde. So kürzt der Fortfall dieser Gruppe in unschöner aber unvermeid-
barer Weise das vorhandene Material, verschiebt aber, was entscheidend ist, in
keiner Weise die Proportion.
Bei der Einordnung des Materials in die Tabelle ergibt sich nun folgendes
Bild:
176 Kurt Wolff. [21
Kinder- Zah! der Homosexuellen rezessiven
Ge- Un- | Ge-
schwister-ientscheid-| ohne Un- schwister-
schaften bare Tas; Pro- schaften
are der Fro-
gesamt | banden
S.P S S. Y. S. Y. S. Y
(P—1) (X—1)
115 68 451 145 116 29 337 31
Es verhalten sich also die Erfahrungen der Probanden über das Zahlen-
verhältnis von:
Sekundäre Fälle 31
alle Geschwister 337°
Dieses Verhältnis entspricht einem Werte von:
9,2%.
Es wäre nun verfehlt, den erhaltenen Wert ohne weiteres als vollkommen
richtig zu betrachten. Wir haben aus einer sehr grossen Reihe eine kleine
herausgeschnitten, und das Resultat würde sich bei der Berechnung von grösseren
Reihen in bestimmten Grenzen verschieben. Wir müssen also der Variabilität
dieses Wertes Rechnung tragen und tun dies, indem wir den mittleren Fehler
suchen, um den das bekannte Teilergebnis von dem uns immer unbekannten Ge-
samtresullate abweichen kann. Um der grösseren Genauigkeit willen wurde, wie
üblich, der dreifache mittlere Fehler errechnet.
Bei Anwendung der Formel m = +y Pre ergibt sich dann für den
mittleren Fehler m = + 1,5.
Der dreifache mittlere Fehler ist also H- 4,5.
Wenn man den so erhaltenen dreifachen mittleren Fehler mit der erhaltenen
Prozentzahl in Verbindung setzt, so ergibt sich eine Schwankung zwischen
13,7% ‚als oberer und 4,7% als unterer Grenze, die den dihybriden Idealwert von
6,2 in sich schliesst.
Dieses Zahlenergebnis schliesst aus, dasses sich bei
dem Erbgeschehen um Monohybridismus handeln kann.
EswidersprichtjedochnichtdereinfachenAnnahme,dass
zweiunabhängig voneinander mendelnde Gene das Phäno-
men bedingen.
Wenn wir also in einem kurzen Rückblick das Resultat dieses
Kapitels zusammenfassen, so fällt ausser dem eben erwähnten Prozent-
satz vor allem die eigentümliche Tatsache auf, dass weitaus die
grösste Mehrheit der Geschwisterschaften aus konkordant negativen
Ehen stammt. Nur ganz wenige stammen aus patropositiv diskor-
danten Ehen. Von diesen Hauptgruppen aber sind in unserem
Material wieder nur ganz bestimmte Umnterabteilungen vertreten.
Zu erklären, wie viele der in dieser Arbeit nicht vorkommenden
22] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 177
Kombinationen auch für die Allgemeinheit ausgeschlossen bleiben
dürfen und warum, soll nun untersucht werden.
V. Die moderne Auffassung der Geschlechtsbestimmung und
die menschliche Intersexualität.
Es ist unverkennbar, dass die rein klinische Betrachtungsweise
solcherlei Ergebnissen gegenüber versagen muss. Da drängt sich
vielmehr die Notwendigkeit auf, im Sinne der Goldschmidt:
schen Potenz-Hypothese über Geschlechtsbestimmung die beobach--
teten Zahlen biologisch zu verwerten. Selbstverständlich hat man
nicht das Recht, auf Grund rein statistischer Untersuchungen ge-
fundene Zahlenverhältnisse auf jederzeit im Experiment prüfbare
Ergebnisse zu übertragen. Wenn in folgendem versucht wird, in
der exakten Sprache der Mendelforschung eine Arbeitslıypothese
vorzulegen, so geschieht es einerseits, um die gefundenen Ergebnisse
in der denkbar strengsten und eindeutigsten Form auszusprechen,
andererseits vorausblickend konkrete Fragestellungen aufzurollen, von
denen die weitere Untersuchung ausgehen kann, um die angegebene
Deutung als richtig oder falsch und in welcher Richtung zu er-
weisen. Bei der Anwendung der im ersten Kapitel erwähnten Ideen
auf den Menschen ist zu "beachten, dass hier das männliche Ge-
schlecht das heterozygote ist. Wir haben also, wie erwähnt, wenn
wir M den Männlichkeitsfaktor und W den Weiblichkeitsfaktor
nennen, folgende Formeln zu unterscheiden: Für den Mann (M)Ww,
für die Frau (M)WW. Hier unterdrückt also beim Mann der Faktor
(M) den Faktor W, während bei der Frau die beiden Faktoren W
den Faktor (M) nicht zur Wirkung kommen lassen. Hieraus folgt
wieder, dass der Faktor (M) höherwertig sein muss als der Faktor W.
Bei einer zahlenmässigen Veranschaulichung können wir dem Faktor
(M) die Potenz 4, dem Faktor W die Potenz 3 zuerteilen, so dass
sich die nun erhaltenen Formeln folgendermassen gestalten: Für den
Mann ‘(M),W,w, für die Frau (M),W,W..
Wenn wir nun den vorliegenden Typ der Homosexualität als ein
Intersex im Goldscehmidtschen Sinne betrachten, so würde dieser,
wie bei den Schmetterlingen Goldschmidts durch ein abnormes
quantitatives Valenzverhältnis der Faktoren gegeben sein. Das würde
‘die Annahme bedeuten, dass in irgend einer Zygote oder in einem
Gameten W, in W, mutativ übergegangen ist, und eine Vereini-
gung zwischen den Geschlechtszellen mit der höheren und normalen
Valenz zu irgend einer Zeit stattgefunden habe, wenn also beim
Manne (M) = W wird. Dann entstehen zwangsläufig in der nächsten
178 Kurt Wolff. [23
Generation, da das W des Männchens stets vom Weibchen stammt,
männliche Individuen von dem vorher genannten Typus, und diese
wollen wir für unsere vereinfachte Ausdrucksweise und Darstellungs-
ziele vorläufig als die hier behandelte Intersexualitätsstufe definieren.
Auf diese Weise gelingt es jedoch nicht, das Vorkommen inter-
sexueller Frauen zu erklären, da beispielsweise die Formel (M),W,W,
eine ganz extreme Frau bezeichnen würde. Ferner würde niemals ver-
standen werden können, dass die Intersexualität beim Menschen
ersichtlich nicht monohybrid spaltet, wie das in den Schmetterlings-
versuchen für die bei diesen entsprechende weibliche Intersexualität
der Fallist. Um derartige Spaltungsverhältnisse zu erhalten, bedürfen
wir der Annahme eines 2. Faktors, und als solcher kommt in erster
Linie ein Terminationsfaktor in Betracht, der imstande ist, den Zeit-
punkt des Eintritts von Gleichgewicht oder Ungleichgewicht
zwischen (M) und W zugunsten von (M) zu verschieben; d. h. also
ein Faktor, dessen Wirkung wir dahin veranschaulichen können,
dass er in einer Dosis bei Heterozygotie die Wertigkeit von W um 1,
in zwei Dosen bei Homozygotie die Wertigkeit von W um 2 er-
niedrigt. Dieser Faktor aber kann nur in dem bereits im ersten
Kapitel erwähnten Drehpunkt zu suchen sein. Je früher dieser eintritt
um so stärker, nehmen wir an, tritt beim Menschen der Weib-
lichkeitsfaktor, —- je später er eintritt, um so stärker tritt der
Männlichkeitsfaktor in Erscheinung. Bei der Annahme, dass TT
die Norm darstellt, also die Absenz von T., bedeutet (Tt) das
spätere und (tt) das ganz späte Erscheinen des Drehpunktes. Mit
dieser Formulierung kommt man nun auch auf die Möglichkeit, ein
weibliches Intersex durch die Faktorenkombination (M),W,W tt zu
erklären. Alle diejenigen Individuen, bei denen ein Überwiegen von
(M) oder W stattfindet, fallen nicht in den Begriff unseres Intersexes.
Wir haben also nach den eben gegebenen Definitionen folgende Gruppen
männlicher und weiblicher Individuen zu unterscheiden:
Frauen: Männer:
(M,W,W,TT (M,W,wTT (Intersex)
(M,W,W,Tt (M),W,wTt
(M),W,W tt (M).W. wtt
(M,W,W,TT =
M, WW, Tt _
(MW, W;tt —
(M,W,W,TT (MW, wTT
M). W. W.Tt (NM), We Dt
(M,W,W,;tt (Intersex.) (M),W ‚wtt
Die oben erwähnten Gruppen ergeben sonach 54 verschiedene Ehekombi-
nationen, in denen die Ehen behaftet X behaftet 1 mal, behafteter Mann X un-
24] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 179
behaftete Frau 8 mal, behaftete Frau X unbehafteter Mann D mal und unbehaftet x
unbehaftet 40 mal vorkommen.
Bei der Untersuchung dieser Kombinationen ergibt sich zunächst die auf-
fällige Erscheinung, dass zwei homosexuell behaftete Eltern (M),W,wTT x
(M),W;W,;tt nur unbehaftete Kinder erzeugen müssen.
W,T W,W,Tt (normales Mädchen)
wT W,wTt (normaler Knabe)
(Gametenkombination.)
Diese Beobachtung wäre als ein Experimentum crucis für die vorstehenden
Ausführungen zu betrachten. Leider kann die Richtigkeit dieser Kombinationen
infolge der Seltenheit des Vorkommens durch keinen Fall unseres Materials be-
wiesen werden.
Die 8 Ehen behafteter Mann X unbehaftete Frau ergeben folgende Resul-
tate, die nach dem obigen Schema berechnet sind:
1. (M),W,wTT x (M,W,W,TT = Alle Söhne homosexuell
Alle Schwestern normal.
2. (M,W,wTT x (M),W,W,Tt = Die Hälfte der Söhne homosexuell.
Alle Schwestern normal.
3 (M,W,wTT x (M,W,Witt == Alle Kinder gesund.
4. (M,W,wTT x (M),W,W,TT = Die Hälfte der Söhne homosexuell.
Alle Schwestern normal.
5. (M,W,wTT x (M,W,W,Tt = Die Hälfte der Söhne homosexuell.
Alle Schwestern normal.
6. (M,W,wTT x (M,W,W;tt = Alle Kinder gesund.
1. (M,W,wTT x (M,W,W,TT = Alle Kinder gesund.
8. (M,W,wTT x (M,W,W,Tt == Alle Kinder gesund.
Die Ergebnisse der bisher besprochenen Kombinationen zeigen
uns eine biologische Erklärung für das Häufigkeitsverhältnis, insofern
nämlich, als ja erstens heterosexuelle Kinderschaften nicht unter-
sucht wurden, die homosexuellen Eltern dieser also uns von vorn-
herein entgangen sein müssen. Zweitens aber sind von den 8 Kom-
binationen behafteter Mann und unbehaftete Frau die Hälfte der
Kinderschaften in ihrer Gesamtheit ebenfalls gesund. Auch diese
Eltern waren also aus der Sammlung des Materials ausgeschaltet;
es sei denn, dass der Vater selbst zufällig Proband war.
Was die UInterabteilungen der patropositiv diskordanten Ehen
anbelangt, so zeigen uns die Berechnungen, dass d) und e), die, wie
erwähnt, in unserem Material nicht vorhanden sind, auch für die
180 Kurt Wolff. [25
Gesamtheit der möglichen Fälle ausgeschaltet bleiben dürften. Das
Vorkommen von e) ist nur durch die Kleinheit der menschlichen
Familien gegeben. Von den hier vorhandenen Ehen besitzen also 4
gesunde Kinder und 4 nur homosexuelle Söhne. Alle weiblichen
Nachkommen aus diesen Ehen sind unbehaftet.
Es bleibt noch übrig, nach denselben Regeln die 5 Kombinationen
aus den matropositiv diskordanten und die 40 Kombinationen aus
den konkordant negativen Ehen zu untersuchen.
Die Berechnung ergibt folgende Resultate:
Matropositiv diskordante Ehen:
1. (M,W,wTt x (M,W,Wjtt= Alle Kinder gesund.
2. (M,W;,wtt > (M,W,Wjtt= Alle Kinder gesund.
3. (M,W;,wTT x (M,W,Wjtt = Alle Kinder gesund.
4. (M),W;wTt x (M,W,W,;tt = Die Hälfte der Töchter homosexuell.
Alle Söhne normal.
5. (M,W;,wtt x M,W3;Wjtt = Alle Töchter homosexuell.
Alle Söhne normal.
Bei der Unterabteilung der matropositiv diskordanten Ehen würde also
c) und e) ausschalten; b) ist wie vorhin nur möglich durch die Beschränktheit
(ler menschlichen Familie. Es sind also 3 Ehen mit nur gesunden Kindern und
2 mit homosexuellen Töchtern vorhanden. Alle männlichen Nach
kommen aus diesen Ehen sind unbehaftet.
Konkordant negative Ehen.
1. ON), Welt xv (M,W,W,TT = Die Hälfte der Söhne homosexuell.
Alle Töchter normal.
2. (M),W,wTt x (M)W,W,Tt = !/ der Söhne ist homosexuell.
Alle Töchter normal.
3. (M,W,wTt x (M),W,Witt = Alle Kinder gesund.
4. (M),W,wTt x (M,W,W,TT = !/s der Söhne ist homosexuell.
Alle Töchter normal.
5. (M,W,wTt x (M),W,W,Tt = !/s der Söhne ist homosexuell
Alle Töchter normal.
6. (M,W,wTt x (M)W,W;tt = Alle Kinder gesund.
7. (M,W,wTt x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund.
8. (M,W,wTt x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund.
9. (M),W,wtt x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund.
10. (M,W,wtt x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund.
LL. (M,W,wtt x (M,W,Witt = Alle Kinder gesund.
12. (M),W,wtt x (M,W,W,TT=Alle Kinder gesund.
13. (M),W;,wtt x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund.
14. (M),W,wtt x (M,W,Wj;tt = Alle Kinder gesund.
15. ON, Wett x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund.
16. (M,W,wtt x (MWW,W,Tt = Alle Kinder gesund.
17. (M),W;wTT x (M)\W,W,TT = Alle Söhne homosexuell.
Alle Töchter normal.
18. (M),W,;wTT x (M,W,W,Tt =: !/a der Söhne homosexuell
Alle Töchter normal.
26] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 181
19. (M,W,wTT x (M,W,Witt = Alle Kinder gesund.
20. (M),W,wTT x (M,W,W,TT = '/» der Söhne homosexuell.
Alle Töchter normal.
21. (M,W,wTT x (M),W,W,Tt = !/ı der Söhne homosexuell.
Alle Töchter normal.
22. (M,\W,wTT x (M,W,W;tt = Alle Kinder gesund.
23. (M,W,wTT x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund.
24. (M,W,wTT x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund.
25. (M,W,wTt x (M,W,W,TT = !/: der Söhne homosexuell.
Alle Töchter normal.
26. (M,W;wTt x (M„W,W,Tt = '/ der Söhne homosexuell.
: Alle Töchter normal.
27. (M),W;,wTt x (M,\W,W;tt = Alle Kinder gesund.
28. (M),W,wTt x (M,W,W,TT = !/ı der Söhne homosexuell.
Alle Töchter normal.
29. (M,W;,wTt x (M,W,W,Tt = !/s der Söhne homosexuell.
t/a der Töchter homosexuell.
30. (M,W,wTt x (M),W,W;tt = !/s der Töchter homosexuell.
Alle Söhne normal.
31. (M,W,wTt x (M,W;W,TT= Alle Kinder gesund.
32. (M),W,wTt x (M),W,W,Tt = !/s der Töchter homosexuell.
Alle Söhne normal.
33. (M),W;,wtt x (MWW,W,TT= Alle Kinder gesund.
34. ON), Wett x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund.
35. (MW ;,wtt x (M,W,Witt = Alle Kinder gesund.
36. (M,W;,wtt x (MWW,W,TT= Alle Kinder gesund.
37. (M,W;wtt x (M,W,W;,Tt = '!/s der Töchter homosexuell.
Alle Söhne normal.
38. (M,W,wtt x (M,W,W;3tt =!/a der Töchter homosexuell.
Alle Söhne normal.
39. (M),W;wtt x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund.
40. (M,W;,wtt x (M),W,W,Tt = Alle Töchter homosexuell.
Alle Söhne normal.
Die Betrachtung der vorstehenden Kombinationen ist imstande,
uns zu erklären, wie aus zwei vollkommen gesunden Eltern homo-
sexuelle Nachkommen durch Potenzverschiebungen entstehen können.
Von den 40 eben angeführten Fällen sind 23 solche mit nur
gesunden Kindern, 11 solche mit homosexuellen Söhnen, 5 mit
homosexuellen Töchtern, und einer mit homosexuellen Söhnen und
Töchtern. |
Wenn man alle 54 Kombinationen in Betracht zieht, so sieht man,
dass die Homosexualität der Söhne in bezug auf ihre Anzahl eine
Schwankung zwischen allen und !/,, die der Töchter ein gleiches Mass
aufweist. | .
Es bleibt noch übrig, die im vorigen Kapitel nach klinischen
Gesichtspunkten gegebene Einteilung der Geschwisterschaften nach
unseren biologischen Ergebnissen zu korrigieren. Wir haben nun zu
unterscheiden :
182 Kurt Wolff. [27
A. Konkordant positive Ehen:
a) Nur heterosexuelle Kinder (100%).
B. Patropositiv diskordante Ehen:
a) Nur heterosexuelle K'nder (50%).
b) Homosexuelle Söhne nit stets heterosexuellen Schwestern
(50%0).
C. Matropositiv diskorda .. Ehen:
a) Nur heterosexuelle . inder (600/0).
b) Homosexuelle Töchter mit stets heterosexuellen Brüdern
(40%).
D. Konkordant negative Ehen:
a) Nur heterosexuelle Kinder (57,5%).
b) Homosexuelle Söhne (27,5%).
c) Homosexuelle Töchter (12,5%).
d) Homosexuelle Söhne und Töchter (2,5%).
Daraus ergibt sich, dass im Durchschnitt aus allen Ehen in
überwiegender Anzahl nur heterosexuelle Geschwisterschaften
stammen müssen.
Es ist auf Seite 15 erwähnt worden, welche Kombinationen
in unserem Material nicht vorhanden sind. Nach den nunmehrigen
Ergebnissen ist noch zu untersuchen, welche Kombinati ..:n auch in
der Gesamtheit überhaupt nicht vorhanden sein könen. Es ehlen
klinisch im Material :
1. Homosexuelle Mutter und homosexuelle Kinder.
2. Homosexueller Vater und homosexuelle Tochter.
3. Homosexueller Onkel und homosexuelle Nichte.
Die Gruppendurchsicht der matropositiv diskordanten und patro-
positiv diskordanten Ehen zeigt uns nun, dass homosexuelle Mütter
nur homosexuelle Töchter, homosexuelle Väter nur homosexuelle
Söhne haben können. Es fehlen biologisch und damit tatsächlich im
Material also nur:
1. Homosexuelle Mutter und homosexuelle Tochter.
2. Homosexueller Onkel und homosexuelle Nichte.
Durch unsere Betrachtungen ist nur die Möglichkeit des ersten
Falles erwiesen, die des zweiten nachzuprüfen sind wir vorläufig
ausserstande.
VI. Zusammenfassung und Ergebnisse.
Lie hier gegebene Vorstellung geht von dem Gesichtspunkte
aus, dass die zentralisierte Hormonenproduktion beim Säugetier
28] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 183
von Hause aus genetisch abgestimmt ist. Es bedarf wohl keiner
Betonung, dass ein zygotisch festgelegtes Valenzverhältnis modi-
fikatorisch noch in hohem Ausmasse, verändert werden kann, wie
die Versuche über Kastration und Transplantation ja ohne weiteres
beweisen. Modifikatorisch hormonise: ‚d. h. also rein phänotypisch
durch intra- oder extrauterine Schi. sale bedingte phänotypische
Intersexualität einerseits und zygotıs ' hormonisch bedingte Inter-
sexualität andererseits sind wir nicä.' imstande zu unterscheiden,
ebensowenig wie wir die Idiotie durey! intrauterine Meningitis von
einer ldiotie auf keimplasmatischer Grundlage zu trennen vermögen.
Ein, wenn auch unsicherer Anhaltspunkt, für die Annahme geno-
typisch hormonaler Intersexualität ist in dem ausserordentlich früh-
zeitigen Auftreten irgendwelcher Intersexualitätscharaktere zu er-
blicken. Aber auch dieser Anhaltspunkt sagt uns nur, dass der die
Intersexualität bestimmende Faktor zu einer sehr frühen Zeit in
Wirkung getreten ist. Je früher er auftritt, um so mehr Wahrschein-
lichkeit für seine genetische Bedingtheit ist vorhanden. Diese ist mit
Sicherheit nur dann anzunehmen, wenn sie vor den uns ja unbe-
kannten Drehpunkt fällt.
Wir können jedoch den 'genetischen Ursprung eines Intersexes .
mit grösserer Wahrscheinlichkeit für eine grössere Gruppe von
Individuer!ännehmen, wenn wir für sie oder ihre Nachkommen
bestinhnte biologische Gesetze anzunehmen berechtigt sind. Diese
Gesetze exakt zu beweisen, kann nur die Aufgabe gross angelegter
Forschungen sein und ist keineswegs im Laufe weniger Jahre zu be-
wältigen. Die vorstehende Arbeit soll nur den Versuch einer Er-
klärung bedeuten, keineswegs eine exakte genische Erklärung selbst.
Diese zu geben wird um so schwerer fallen, als beim Menschen ja
das ausgesprochenste Hilfsmittel der Botaniker und Zoologen, das
Experiment, gänzlich fortfallen muss, und die Ahnentafeln, als ein
sehr unzulänglicher Ersatz, seine Stelle einnehmen. Trotzdem scheint
es, als ob selbst bei unserem geringen Material bereits vererbungs-
biologische Gesetze in Erscheinung treten:
1. In 30% der untersuchten Familien kommt die
Homosexualität (in unserem Sinne) gehäuft vor. Be-
stimmte Verwandtschaftskombinationen, die auch
in unserem Material nicht auftreten, müssen nach
den Erklärungen auf S. 27 für die Gesamtheit ausge-
schlossen werden. 2. Die durch die Weinbergsche
Probandenmethode gewonnene Zahl (aus Ehen unbehaftet
Xx unbehaftet) v on 9,2 -L 1,50%% bzw. --4,5schliessteineMono-
«
— 72
184 Kurt Wolff. [29
hybridität aus und spricht für Dihybridität. 3. Für
Dihybridität sprechen ebenfalls die Ausführungen
im 5. Kapitel, nach denen bei Voraussetzung der
Dihybridität die Erzeugung von Intersexen nur auf
der Mendelung der Faktoren W und T beruht: Auch
aus normalen X normalen Ehen können hiernach
intersexuelle Zwischenstufen entstehen. Ein be-
sonderer Belastungsfaktor für die Homosexualität
existiert infolgedessen nicht. 4. Auch die mensch-
liche Intersexualitätscheintalsoinihrer Mehrzahl
nur die Folge von Valenzverschiebungen der Ge-
schlechtsfaktoren zu sein!
Kritiken.
Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden.
Ss:
ER
Halban und Seitz: Biologie und Pathologie des Weibes. Ein Handbuch
der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Verlag von Urban und Schwarzenberg,
1923,
Kein zusammenhängendes gynäkologisches Werk der neueren Zeit kann
freudiger begrüsst werden als das Halban-Seitzsche Handbuch. Wird doch
in ihm ein gerade von Konstitutionsforschern schon lange geforderter Wunsch der
Erfüllung nahe gebracht. Der Gynäkologe tritt heraus aus dem engen Kreis seiner
Fachwissenschaft, die reine „Frauenheilkunde“ erweitert sich zur Frauen-
kunde. Es darf für die Freunde des ArchivsfürFrauenkunde und für
seinen Herausgeber eine Genugtuung sein, dass ihre Bemühungen und Anregungen
so tief Wurzel geschlagen haben. Man muss anerkennen, dass auf den von
Max Hirsch 1912 vorgezeichneten Wegen frauenkundlicher Forschung reiche
Saat aufgegangen ist, und dass in dem weitgespannten Rahmen des Archivs für `
Frauenkunde dem ärztlichen Denken ein grosser Schatz von Erkenntnissen und
Fragestellungen geboten wird, so dass in weiterer Zukunft mächtiger Auftrieb
ärztlicher Bildung und fruchtbare Durchdringung ärztlichen Berufsinhaltes zu er-
warten ist. Das vorliegende Werk vonHalban-Seitz ist auf diesem Boden er-
wachsen. Die Herausgeber sagen im Vorwort „Mehr und mehr kommt aber
allenthalben der Grundsatz zum Durchbruch, dass nur eine biologische Denkungs-
weise die Grundlage der Medizin bilden kann, und dementsprechend darf
die moderne Gynäkologie nicht eine reine Frauenheilkunde sein, sondern sie
muss auf dem Boden der Frauenkunde aufgebaut sein.“ Aber im Sinne
der von Hirsch vertretenen Frauenkunde ist selbst der biologische Rahmen zu
eng. Grenzgebiete wie Psychologie, Psychiatrie, Kriminalistik, Soziologie, Sta-
tistik, Anthropologie, Ethnologie und Vorgeschichte, Philosophie und Pädagogik,
individuelle und soziale Hygiene, Vererbungslehre und Familienforschung müssen
überschritten werden. In dem Handbuch von Halban und Seitz ist das
auch mehrfach geschehen. Es braucht nur auf die Beiträge von Walthard,
Lenz, Reuter, Stratz und Max Hirsch hingewiesen zu werden.
Die bisher erschienen Lieferungen sind verheissungsvoll. Das Werk soll nicht
nur die Krankheitszustände der weiblichen Geschlechtsorgane schildern, es soll
alles zusammenfassen, was von Einfluss auf Entstehung und Behandlung dieser
Krankheiten vom Augenblick der Zeugung bis zum Grabe ist. Es muss daher
seine Grenzen weiter stecken, als das die bisherigen Handbücher getan haben.
Breit und erschöpfend soll neben der Anatomie vor allem die Physiologie und die
physiologische Anatomie behandelt werden. Zur Vervollständigung wird die ver-
gleichende Anatomie, Morphologie und Pathologie der höheren Tiere heran-
gezogen. Die wichtigen konstitutionellen Fragen, Rassenlehre und Rassenhygiene,
Arehiv für Frauenkuude. Bd. X. H. 2. 13
186 Kritiken. [2
Vererbungsgesetze und soziale Einflüsse finden Berücksichtigung. Das Vorwort
verspricht weiter eine Würdigung seelischer Vorgänge auf die Entstehung und
Heilung scheinbar körperlicher Leiden. Wie man sieht: ein weit gestecktes Ziel,
das des Interesses weitester Kreise sicher sein kann.
Erschienen sind bisher 5 Lieferungen. Den Anfang macht Halban mit
einem Kapitei Allgemeine Symptomatologie und Diagnostik in der Frauenbeil-
kunde. Hier ist besonders der Abschnitt über den Schmerz, speziell den Bauch-
schmerz hervorzuheben, der in dieser Ausführlichkeit ın gynäkologischen Werken
bisher nicht zu finden war.
Polano: Gynäkologische Untersuchungslehre schliesst sich an. Dies
Kapitel ist besonders reich illustriert. Erwähnenswert scheint mir hier der Ab-
schnitt über die Untersuchung mittels optischer Instrumente, Röntgenphotographie
mittels Pneumoperitoneum. Untersuchung der Eileiter auf Durchgängigkeit und
Untersuchung des Gleichstromwiderstandes der Haut.
Eine prachtvolle Leistung ist das Kapitel von Köhler: Medikamentöse und
Organtherapie.. Schon die Nennung der Kapitelüberschriften würde zu weit
führen. Ich beschränke mich darauf, anzugeben, dass das Kapitel wohl alles er-
wähnt, was bei der Behandlung des spezifischen und unspezifischen Fluors, der
Gonorrhöe mit ihren Komplikationen, des Krebses erwähnenswert scheint.
Kapitel über Antikonzipientia, Abortiva, Emenagoga, schliessen sich an. Organo-
therapie, Aphrodisiaka usw. folgen. Kurzum eine Fundgrube für den Forscher,
und um so besser zu gebrauchen, als jedem Kapitel eine reiche Literaturangabe
beigegeben ist.
Lindigs Proteinkörpertherapie erhält seinen Wert dadurch, dass der
Autor auf diesem Gebiet selbstschöpferisch tätig war.
Den Abschluss der ersten Lieferung bildet eine gross angelegte Arbeit von
Seitz über Röntgen- und Radiumbehandlung, ein Kapitel, das kaum einer
besseren Hand hätte anvertraut sein können.
Die zweite Lieferung, mit der das ganze Werk beginnen soll, gibt eine Ge-
schichte der Gynäkologie aus der bewährten Hand des Wiener Autors
J. Fischer. Er führt uns aus der präliistorischen Zeit über das Altertum (Baby-
lonier, Assyrer, Ägypter, Juden, Inder, Perser, Griechen, Römer) zum Mittelalter
(Byzanz, Araber, Germanen, Schule von Salerno usw.) und in die Neuzeit. Das
reich illustrierte Kapitel endet mit einem China und Japan betreffenden Anhang
und gibt ein überaus interessantes Bild vom Werden unserer Fachwissenschaft.
Es würde zu weit führen, wollte man alle Kapitel des Werkes im einzelnen
genau besprechen. Wir finden als Schluss der Lieferung weiter von Lubosch:
Normaie Entwicklungsgeschichte der weiblichen Geschlechtsorgane des Menschen.
Mit wehmütigem Gedenken schlägt man die dritte Lieferung auf, in der
Mathes auf über 100 Seiten die Konstitutionstypen des Weibes, insbesondere
den intersexuellen Typus schildert. Aus seinem „Schlusswort‘‘ seien die nach-
folgenden Gedanken wiedergegeben. „Je mehr ich mich mit der Erforschung der
Konstitutionstypen beschäftigt habe, desto mehr musste ich erkennen, dass die
vom Hausarzt mühsam auf empirischem Wege erworbene Kenntnis der „Natur“
seiner Pilegebefohlenen diesen sehr zum Heile gereichen könne. Die Aufgabe
der Konstilutionsforschung ist es nun, das, was der Hausarzt erst durch lange
Erfahrung empirisch erwerben konnte, lehrhaft zu vermitteln und jedem Anfänger
begreiflich zu machen, dass die individuellen Lebensvorgänge nicht mit Mass-
stab und Zirkel gemessen, nicht ınit der Wage gewogen oder im chemischen
oder bakterivlogischen Labvratorium erschlossen werden können. Es ist ein
falscher Weg, der eingeschlagen wird, wenn man einer Erscheinung, einem
Objekt, mit dem man gedanklich nichts anzufangen weiss, mit Messen und Wägen
an den Leib rückt. Das Messen und Wägen ist erst am Platz, wenn man weiss,
warum man messen und wägen soll und muss, dann wenn man das Objekt ge-
danklich schon bezwungen hat.“
3) Kritiken. 187
Dass dieses Kapitel gerade für Leser dieses Archivs von besonderem Inter-
esse ist, braucht nicht betont zu werden.
Über Vegetations- und Wachstumstörungen spricht im nächsten Kapitel
der Berner Klinker Guggisberg. Zwergwuchs und Riesenwuchs sind die
ersten Kapitelüberschriften, Agenitalismus, Eunuchoidismus, Hypergenitalismus
schliessen sich an. Reich illustriert geben diese Kapitel Einblicke in Wachstums-
typen, wie sie in dieser Klarheit und Ausführlichkeit bisher in gynäkologischen
Lehr- und Handbüchern nicht zu finden waren. 2 kleinere Arbeiten über Osteo-
malazie und Chlorose von demselben Autor schliessen sich würdig an.
Dem Fachgynäkologen am meisten Neues aber bietet die 4. Lieferung
mit ihrer vergleichenden Anatomie der weiblichen Geschlechtsorgane der Haus-
säugetiere, bearbeitet von Schmaltz, weiter mit der Arbeit vonDrahn über:
Der weibliche Geschlechtsapparat von Kaninchen, Meerschweinchen, Ratte und
Maus, und der Rassenlehre von Stratz (Haag). Diese Lieferung bringt dann
noch den Schluss der schon erwähnten Luboschschen Normalen Entwick-
lungsgeschichte der weiblichen Geschlechtsorgane des Menschen und den Anfang
der Physiologie der weiblichen Genitalorgane von Fränkel (Breslau). Dass
die Stratzsche Arbeit besonders reichhaltig illustriert ist, versteht sich für
den, der Stratz Werke kennt, von selbst.
Diese kurze Übersicht der 4 ersten Lieferungen möge zeigen, was das
Halban-Seitzsche Werk bietet. Dass Druck und Ausstattung voll und ganz
den Friedensstand, d. h. Vorkriegszustand erreicht haben, braucht nicht besonders
betont zu werden. Es ist ein Genuss sich in das Werk in all seinen einzelnen
Teilen zu vertiefen. Je nach Erscheinen weiterer Lieferungen wird über ein-
schlägige Arbeiten berichtet werden. E. Sachs, Lankwitz - Berlin.
Grotjahn: Soziale Pathologie. Versuch einer Lehre von den sozialen Be-
ziehungen der Krankheiten auf Grundlage der sozialen Hygiene. (3. neubearb.
Aufl. Verlag von Julius Springer, Berlin 1923.)
Die erste Auflage dieses Buches ist 1911 erschienen und stellte zweifellos
einen Markstein dar für die jüngste Phase unserer neuzeitlichen Medizin, die
soziale Hygiene. Waren auch bis dahin die Krankheiten der Menschen bereits
vereinzelt und gelegentlich einer Betrachtung von sozialen Gesichtspunkten aus
unterzogen worden, so stellte die soziale Pathologie den ersten Versuch einer
systematischen Durcharbeitung der Materie dar. Die jetzt vorliegende
Auflage unterscheidet sich von den beiden voraufgegangenen darin, dass sozial-
hygienisch interessierte Ärzte zur Bearbeitung von Einzelkapiteln herangezogen
worden sind.
Die Beziehungen der einzelnen Erkrankungen zur sozialen Umwelt sind
vorwiegend nach folgenden 6 Gesichtspunkten abgehandelt: 1. die soziale Be-
deutung einer Krankheit wird in erster Linie bestimmt durch ihre Häufigkeit.
Demnach erhalten selbst leichte Affektionen allein durch ihre ausgedehnte Ver-
breitung oft erhebliche soziale Wichtigkeit. 2. Dabei ist jedoch ausschlaggebend
die Gleichartigkeit des sich abspielenden Vorgangs bei den zahlreich neben-
einander bestehenden Einzelfällen. 3. Die wichtigsten Beziehungen zwischen
krankhaften Zuständen und sozialen Verhältnissen liegen auf ursächlichem Ge-
biete. Viele Krankheiten entstehen nicht nur primär aus sozialen Ursachen,
sondern ungleich mehr werden sekundär durch die begleitenden sozialen
Nebenumstände in ihrem Verlaufe entweder günstig oder ungünstig entscheidend
beeinflusst. Daraus ergibt sich, dass: a) die sozialen Verhältnisse die Krank-
heitslage schaffen oder begünstigen; b) die sozialen Verhältnisse die Träger der
Krankheitsbedingungen sein können; c) die sozialen Verhältnisse die Krankheite-
erregung vermitteln und d) den Krankheitsverlauf beeinflussen können. Die Ein-
wirkung der sozialen Verhältnisse ist wiederum verschieden je nach Stabilität
und Qualität der allgemeinen sozialen Lage. 4. Die krankhaften Zustände werden
durch soziale Verhältnisse nicht allein in Entstehung und Verlauf bedingt, sondern
13*
188 Kritiken. [4
sie beeinflussen auch ihrerseits wieder die sozialen Zustände, insonderheit Be-
völkerungsbewegung, Volkskraft und Arbeitsleistung; speziell durch die Art
ihres Ausgangs: in Tod, Heilung, Verschlimmerung, Siechtum, Veranlagung für
andere krankhafte Zustände und Entartung. 5. Möglichkeit und Ausmass ärzt-
licher Behandlung bei sozialpathologisch wichtigen Krankheiten und Feststellung
des Veränderungsgrades der Krankheiten im sozialen Leben. 6. Möglichkeit der
Beeinflussung des Verlaufs krankhafter Zustände und ihre Verhütung durch
soziale Massnahmen. Letzterer Punkt gibt zugleich die notwendige enge Ver-
knüpfung zwischen der sozialen Hygiene und der Eugenik.
Es folgt dieser Abhandlung der einzelnen Krankheitsgruppen ein allgemeiner,
folgende Fragen umfassender Teil: 1. soziale Wertung der Krankheitsgruppen
und ihre soziale Bedingtheit. 2. Der soziale Wert der ärztlichen Betätigung.
3. Der soziale Wert der hygienischen Betätigung und die soziale Hygiene.
4. Der soziale Wert des Krankenhaus- und Anstaltswesens. .5. und 6. die
quantitative und die qualitative Rationalisierung der menschlichen Fortpflan-
zung. Die beiden letztgenannten Kapitel lenken eingehend die Aufmerksamkeit
auf die Erscheinung des Geburtenrückganges und die dysgenische und eugenische
Rolle der Geburtenprävention. Hans Haustein, Berlin.
Walter Frey: Herz und Schwangerschaft. Mit 15 Abbildungen und einem
Geleitwort von W. Stöckel und A.Schittenhelm. Verlag von G. Thieme,
Leipzig 1923.
Ein Grenzgebiet fruchtbar bearbeiten kann nur der, der in beiden Diszi-
plinen gut ausgebildet ist, sonst gibt es Stümperarbeit. Eine Bearbeitung des ım
Titel genannten Fragekomplex unter Benutzung des Materials einer geburts-
hilflichen Klinik durch einen internen Fachmann hat uns bisher
gefehlt; der Internist sah die Fälle meist allzu schwarz, da er nur die Frauen
zu sehen bekam, die wegen übler Folgen der Schwangerschaft zu ihm kamen. So
kommt es, dass man immer wieder als Geburtshelfer sehen muss, dass der
konsultierte Internist mit dem Rat zur Schwangerschaftsunterbrechung sehr
schnell zur Hand ist. Durch Benutzung und Nachuntersuchung des in der Kieler
Frauenklinik zusammenströmenden Materials ist es dem internen Kliniker Frey
gelungen, in geradezu vorbildlicher Weise die Fragen zu lösen, die sich bei
der Komplikation von Schwangerschaft mit Herzleiden ergeben können, und
eine Grundlage zu schaffen, die für jedes weitere Arbeiten richtunggebend
bleiben wird. Frey verwendet das ganze Rüstzeug einer gut geleiteten modernen
inneren Klinik, Röntgenuntersuchung, volumetrische Pulsuntersuchungen, Gefäss-
untersuchung, Auskultation usw. Die Untersuchungen wurden auf Herzgesunde,
scheinbar Gesunde mit relativer Klappeninsuffizienz und organische Herz-
schädigungen ausgedehnt. Die Frage der Herzvergrösserung und ihre Ursachen
werden besprochen. Der Einfluss der verschiedenen Geburtsperioden exakt ge-
prüft und in jedem Kapitel eine klärende Zusammenfassung gegeben, die die
Lektüre des Buches erleichtert.
Selbstverständlich wird auch der extrakardiale Kreislauf in den Betrach-
tungsbereich bezogen. Schliesslich ist ein Kapitel der Prognose und ein weiteres
der Behandlung gewidmet. Und der Schluss der Arbeit? „Für die Behandlung
der Klappenfebler ist die Beurteilung der Suffiziens des Herzens und ausserdem
das Vorhandensein oder Fehlen frisch entzündlicher Veränderungen von prin-
zipieller Bedeutung. Der Nachweis der Dekompensation eines Herzens während
der Gravidität begegnet zuweilen gewissen Schwierigkeiten. Zyanose und Dys-
pnoe liefern die sichersten Kennzeichen, und ausserdem die Untersuchung des
Radikalpulses auf Druck und Volum. Die wichtigsten Zeichen für das Bestehen
einer akut entzündlichen Endokarditis sind die Tachykardie, das Vorhanden-
sein einer (sekundären) Anämie und der Nachweis subfebriler Temperaturen."
Bei Fällen mit akuter Endokarditis oder Myokarditis befürwortet Frey die Unter-
brechung der Gravidität in jedem Stadium der Schwangerschaft. Die Mitral-
5] Kritiken. 189
stenose — und hier besteht ein Gegensatz zu den bisherigen Anschauungen der
Gynäkologen, den Frey aber wohl begründet, nimmt keine Sonderstellung ein.
Klappenfehler ohne Dekompensation, ohne entzündliche Veränderungen bieten
keine Indikation zur künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft. Die Pro-
gnose der Vitien im allgemeinen .erscheint im Hinblick auf Schwangerschaft,
Geburt und Wochenbett gar nicht besonders ungünstig.
Wir haben hier ein Werk vor uns, das man nicht nur mit Genuss liest,
sondern das dem dGeburtshelfer, der die Frage der Schwangerschaftsunter-
brechung oder Erhaltung nicht leichtsinnig entscheiden mag, ein guter Ratgeber
sein kann, der ihm hilft, in dieser so heiklen Frage das Richtige zu treffen.
Das Werk unterscheidet sich von anderen, die vielleicht ein grösseres Material
bearbeiten, dadurch, dass alle Herzen von demselben Untersucher durchunter-
sucht wurden, so dass der Autor sich in keinem Fall auf alte klinische
Journale anderer zu stützen brauchte, die doch immer mehr oder weniger in
speziellen Fragen zu versagen pflegen. Wir könnten entsprechende Werke auch
über die anderen Komplikationen der Schwangerschaft gut gebrauchen.
/ E. Sachs, Lankwitz-Berlin.
Hermann Zondek: Die Krankheiten der endokrinen Drüsen. Ein Lehr-
buch für Studierende und Ärzte. Verlag von Julius Springer, Berlin 1923.
Verf. hat sein Werk wohl absichtlich frei von allen den grundlegenden
physiologischen Fragen und biologisch-konstitutionellen Erörterungen zu halten
gesucht, welche den klinischen und lehrbuchmässigen Charakter des-
selben hätten beeinträchtigen können. Was auf diese Weise entstanden ist, das
ist eine in ihrer Materialfülle oft bewunderungswürdige, in ihren Fragestellungen
aber nicht eben tiefe klinische Darstellung von Krankheitsbildern
— ebenfalls nicht unter der leitenden Maxime, dass die Dysfunktion einzelner
endokriner Organe oder der einzelne abnorme Konstitutionstyp in den Vorder-
grund tritt, sondern aus grober Krankenhaus-Empirie heraus. Für den Prak-
tiker, an den bei dieser Behandlung des Stoffes offenbar in erster Linie ge-
dacht wurde, sind zu viele, praktisch noch unverarbeitbare Details auf-
geführt; der als Forscher Interessierte wird diese Fundgrube von Finzelmaterialien
gerne und dankbar hinnehmen, ohne aber Neues darin zu finden. Einzelne
Kapitel sind schwach und unzulänglich; so etwa dasjenige über präsenile
Involution. Psychologisches und Psychopathologisches fehlt fast gänzlich, wiewohl
die Involution, der Infantilismus, der Eunuchoidismus usw. denn doch einigen
Anlass zu entsprechenden vertiefteren Hinweisen geboten hätten. Überhaupt ist
der Gesichtspunkt der Darstellung ein recht enger, nichts-als-internistischer. Auch
stehen die monströseren Abweichungen, offenbar aus didaktischen Gründen,
gegenüber den weit häufigeren Durchschnittsfällen etwas zu stark im Vorder-
grunde.
Es wäre vielleicht nicht schade gewesen, wenn dieses Buch erst nach drei
bis fünf Jahren weiterer Forschung in Druck gegangen wäre. So bleibt zu
erbitten, dass der kundige Verf. für die nächste Auflage den oft noch spröden
Stoff durch eine vertieftere, physiologisch fundierte Formung in manchen
Einzelheilen umgestaltet, insbesondere die Beziehungen der Krankheiten zu den
Konstitutionstypen mehr herausarbeitet, und die Darstellung mehr als bisher
unter den leitenden Gesichtspunkt der grundlegenden Probleme des Gesamt-
gebietes bringt. — Die grösste Zierde des Buches ist der Reichtum und die
Schönheit seiner Bildermaterialien, für die Verfasser und Verleger
besonderen Dank verdienen. Ä Kronfeld, Berlin.
Hüssy: Die Schwangerschaft in ihren Beziehungen zu den anderen Ge-
bieten der Medizin und ihre biologischen Probleme. Mit 8 Textabbil-
dungen und 18 Kurven. Verlag von Ferdinand Enke, Stutigart 1923.
Was bisher in Lehrbüchern und Zeitschriften ungeordnet und schwer auf-
findbar über die physiopathologischen Probleme der Schwangerschaft geschrieben
190 Kritiken. | [6
steht, ist hier zum ersten Male unter einheitliche Gesichtswinkel und übersicht-
lich zusammengefasst. In dem Widerstreit der Meinungen tritt die persönliche
Auffassung der Verfasser naturgemäss mit starker Betonung hervor. Der Heraus
geber selbst hat die Vererbungsprobleme, Schwangerschaftsdauer, Geschlechts
bestimmung, biologische Graviditätsdiagnose, Schwangerschaftstoxikosen, Innere
Krankheiten, Nervenkrankheiten, Geisteskrankheiten, Gynäkologische Krankheiten,
Ohrenkrankheiten behandelt. Werdt hat die Beeinflussung der normalen
Organe durch Gravidität, Forster Befruchtung, Einbettung und Plazention;
sowie die Biologie der Plazenta; Knüsel die Augenkrankheiten; Zollinger
Unfälle, Vergiftungen und Gewerbekrankheiten; Kircher chirurgische Erkran-
kungen, Jost die Tuberkulose, Forster die Erkrankungen des Eies ge
schrieben. Umfangreiche Literaturverzeichnisse dienen dem wissenschaftlichen
Arbeiter auf diesem noch ganz im Werden begriffenen Gebiete. Die Indikation
zum künstlichen Abort und zur Sterilisation werden in allgemeinen Grundsätzen
besprochen. Dabei werden Gesichtspunkte qualitativer Bevölkerungspolitik hervor-
gehoben. Max Hirsch, Berlin.
Holmes: A Bibliography of Eugenics. University of California Publications
in Zoologie. Vol. 25. University of California Press Berkeley, California 1924.
Wenn ich nicht irre, ist das die erste bibliographische Übersicht über die
gesamte eugenetische Literatur. Das Archiv für Frauenkunde hatte es sich zum
Ziele gesetzt, die frauenkundliche Literatur unter Einschluss der Eugenetik
zu sammeln, und hatte auch in den ersten Bänden erfolgreich damit begonnen.
Der Krieg hat die Fortsetzung dieses Unternehmens vereitelt, doch soll damit
demnächst von neuem begonnen werden. Mit Befriedigung sehen wir, dass die
vorliegende Bibliographie durch zweckmässige Einteilung und Lückenlosigkeit
den Verlust ersetzt. Sie ist eine wertvolle Bereicherung und Unterstützung gerade
unserer wissenschaftlichen Arbeit. + Max Hirsch, Berlin.
v. Reitzenstein: Das Weib bei den Naturvölkern. Mit 265 Abbildungen
und 11 Tafeln. 485 S. Text. Grundpreis in Halbleinen 40 M. Verlag von
Neufeld und Henius, Berlin 1923.
In diesem Werke wird ein Stück Frauenkunde dargeboten aus den An-
fängen der Entwicklung menschlicher Kultur. Viele Erscheinungen der Gegenwart
im Leben des einzelnen und der Völker erhalten die rechte Beleuchtang erst,
wenn sie im Spiegel primitiver Anfänge betrachtet werden. Seien sie anthropologi-
scher, ethnologischer, biologischer, psychologischer, pathologischer, sozialer oder
kultureller Art. Wer frauenkundliche Aufschlüsse sucht, für den ist das Werk von
Reitzenstein eine ergiebige Quelle. In seinen 5 Hauptabschnitten wird
die Anthropologie des primitiven Weibes, seine Stellung zu Mann, Kind und
Öffentlichkeit, sein häusliches, sein geistiges Leben, seine Stellung in Kunst und
Dichtung behandelt. Denjenigen, welcher nur ärztliches sucht, lohnt reicher
Fund an physiologischen und sexualbiologischen Mitteilungen. Die Betrachtungs-
weise ist durchaus gegenwartsstark durch konstitutionelle und innersekretorische
Blickrichtung. Die soziologischen Beziehungen der Fruchtbarkeit, des Geschlechts-
verkehrs, der weiblichen Tätigkeit, die Geschlechtssitten im Leben, in Kunst und
Dichtung, die rechtliche Stellung des Weibes in der Volksgemeinschaft und in der
Familie, Körperschmuck und Körperpflege, kurz eine Fülle von Stoff wird ver-
arbeitet, deren Zusammenfassung nur dadurch möglich geworden ist, dass nur
wesentliches erwähnt wird.
Aber ein Vorzug verdient besondere Betonung. Das soeben in kurzer Über-
sicht genannte Material erscheint nicht in ungebundener Zusammenfügung von
Einzeltalsachen. Vorgängen und Erkenntnissen, wie es so oft in ethnologischen
Darstellungen üblich ist. Sondern das ganze ist zusammengefasst zu einem ein-
heitlichen Bilde von greifbarer Plastik und warmen Leben. Und als Bindung
dient eine einfache, klare, fremdwortlose, oft dichterisch schöne Sprache.
7 Kritiken. 191
Und dieser schöne Inhalt erscheint in einem seiner würdigen Gewande,
welches der Verlag sich zu grossem Verdienste anrechnen darf.
Max Hirsch, Berlin.
Schmidt: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. IV.
Benedetto Croce, Constantin Gutberlet, Harald Höffding,
Graf Hermann Keyserling, Wilhelm Ostwald, Leopold Ziegler,
Theodor Ziehen. Mit Namensregister zu Bd. I-IV. Verlag Felix Meiner,
Leipzig 1923.
Das Werk weitet sich. Es tritt hinaus über die Grenzen der akademischen
Offizien und des deutschen Reichs. Es rundet sich und fasst die ersten 4 Bände
durch Register zu einer Übersicht zusammen. Der vorliegende Band steht dem
Mediziner besonders nahe durch Mitarbeiter wie Ostwald und Ziehen. Es
ist immer wieder bemerkenswert, wie mit besonderer Einstellung jeder Autor
an die doch immerhin gleiche Aufgabe herangeht. Hier wird ein Stück Kultur-
arbeit geleistet, welches die Gegenwart erhellt und in die Zukunft leuchtet.
Max Hirsch, Berlin.
Schwalbe: Diagnostische Technik für die ärztliche Praxis. Ein Hand-
buch für Ärzte und Studierende. Bearbeitet von Amersbach usw. Heraus-
gegeben von J. Schwalbe. Verlag von G. Thieme, Leipzig 1923.
Dieses Werk bildet den Abschluss der von Schwalbe herausgegebenen
Lehrbücher und Sammelwerke. Es enthält wohl lückenlos alles, was in der
Sprechstunde, am Krankenbett und im Laboratorium vom Arzt an technischen
Mitteln’ der Diagnostik angewendet und gekannt wird. Die Anordnung des Stoffes
ist mit der von dem Herausgeber gewohnten Übersicht und Durchdachtheit ge-
troffen, die so naheliegende Gefahr lästiger Wiederholungen, Belastung mit
überholten, der Geschichte angehörenden, oder mit für die Praxis noch nicht
reifen Methoden, vermieden. Es ist ein Lehr-, Fortbildungs- und Nachschlagebuch
für den allgemeinen und spezialistischen Praktiker. Ein Führer durch alle dia-
gnostischen Nöte. Max Hirsch, Berlin.
Brockhaus: Handbuch des Wissens. In vier Bänden. 6. gänzlich um-
gearbeitete Auflage von Brockhaus kleinem Konversationslexikon. Mit über
10000 Abbildungen und Karten im Text und auf 178 einfarbigen und 88 bunten
Tafel- und Kartenseiten und mit 87 Übersichten und Zeittafeln. Verlag von
F. A. Brockhaus, Leipzig 1923.
Man kann nur mit dem Gefühl des Stolzes auf dieses Werk deutschen
Fleisses und Unternehmungssinnes schauen, vollendet in einer Zeit, in welcher
Körper, Geist und Gemüt von schweren Lebenssorgen bedrängt waren. Wen das
kleine Lexikon in den Jahren vor dem Kriege durch die Lücken seines Wissens
begleitet hat, wird in Anschauung dieser neuen Auflage den ungeheueren
Fortschritt des Unternehmens ermessen können.
Es ist natürlich unmöglich, sich innerhalb weniger Wochen ein Urteil über
die Vollständigkeit eines solchen universalen Wörterbuches zu bilden. Die Stich-
proben, welche ich in dieser Zeit während der laufenden Arbeiten machen
konnte, haben durchaus befriedigt. Namentlich erscheinen mir die Erläuterungen
des Textes durch Abbildungen und Übersichten als wertvolle Unterstützung der
Belehrung.
Dass nicht alle Fachwissenschaften lückenlos, besonders in ihren neuesten
Ausdrücken, vertreten sein können, versteht sich bei der Art des Unternehmens
von selbst. Dem Verlage werden Hinweise auf Fehlendes gewiss erwünscht sein.
Und so tut der Leser gut, sich darüber im Laufe des Gebrauches Aufzeich-
nungen zu machen. Mit Bezug auf Frauenkunde, Sexualwissenschaft, Eugenetik,
Fortpflanzungslehre, Bevölkerungslehre, Fruchtabtreibung usw. wären mancherlei
Fehlanzeigen zu melden.
192 Kritiken. [8
Aber diese Lücken beeinträchtigen den grossen literarischen und volks-
erzieherischen Wert des Werkes nicht, dessen Preis sehr mässig genannt
werden muss. Max Hirsch, Berlin.
Diepgen: Geschichte der Medizin. Zweite vermehrte Auflage 1. Teil:
Altertum. Verlag von Walter de Gruyter & Co., Berlin 1923.
Dieser kurze Abriss ist ganz vorzüglich. Er stellt die Heilkunde im Orient,
in Hellas und Rom dar und gibt einen festgefügten Rahmen, der von dem
Leser je nach Bedürfnis mit Sonderstudien ausgefüllt werden kann. Ein um-
fangreiches Register hilft zurecht. Die folgenden Teile dürfen mit Spannung
erwartet werden. Der Anfänger auf dem geschichtlichen Gebiet der Medizin
kann nichts Besseres tun, als sich dieses Führers bedienen.
Max Hirsch, Berlin.
Waibel-Seuffert: Leitfaden für die Prüfungen der Hebammen. 7. Aufl.
Verlag von J. F. Bergmann, München 1923.
Dieses altbewährte Unterrichtsbuch von Waibel hat E. v. Seuffert in
Anpassung an neuere Forschungsergebnisse und an das höhere Bildungsniveau
der Hebammenschülerinnen von heute erheblich vervollständigt. Anordnung
und Folge der Fragen sind dieselben geblieben. So darf das Buch auch weiterhin
als literarische Grundlage für die Aus- und Fortbildung der Hebammen dienen.
Vielleicht würde ein eingehendes Sachregister dem Nachschlagezweck dienlich
und für die nächste Auflage nachzuholen sein. S.
Walther: Kurzer Leitfaden der praktischen Geburtshilfe. In Anlehnung
an das Preussische Hebammenlehrbuch 1920 für Hebammen, Hebammenlehrer,
Medizinalbeamte und Ärzte. Mit 50 Abbildungen. Verlag von Elwin Siaude,
Osterwieck 1923. S
Titel und Untertitel geben Inhalt und Zweck des Leitfadens bekannt. Die
grosse Erfahrung des Verf. in langdauernder Tätigkeit als Hebammenlehrer ver-
bürgt lücklose und eindringliche Darstellung des unerlässlichen Wissensstoffes.
Das Buch ist als Ergänzung, nicht als Ersatz des Hebammenlehrbuches gedacht
und deswegen auch mit vielen Hinweisen auf dieses versehen. Es dient also der
Hebamme nach vollendeter Ausbildung als Berater, zu Nachprüfungen und
Wiederholungen und bildet so ein wertvolles Mittel zur Hebung der Leistungs-
fähigkeit des Hebammenstandes. S.
G. Schmorl: Die pathologisch-histologischen Untersuchungsmethoden.
12. und 13. neubearbeitete Auflage. Verlag von F. C. W. Vogel, Leipzig 1922.
Es hiesse Eulen nach Athen tragen, wollte man über das rühmlichst be-
kannte und weil verbreitete Schmorlsche Werk viele Worte der Empfehlung
machen. Dies Buch bedarf keiner Empfehlung mehr, denn jeder, der pathologisch-
histologisch arbeiten will, weiss schon durch Tradition, dass er keinen besseren
Wegweiser und Ratgeber findet, als den Schmorl. Trotzdem nur solche
Methoden aufgenommen sind, die sich auf pathologisch-anatomischem Gebiet
bewährt haben, ist das Buch auch für normale histologische Untersuchungen
durchaus zu gebrauchen. Der Abschnitt über das Nervensystem ist entsprechend
der Bedeutung, die sowohl die normale wie die pathologisch-histologische For-
schung dieses Gebiets neuerdings genommen hat umgearbeitet worden (mit Unter-
stützung von Dr. Schob). Durch Ausmerzung älterer Methoden, die durch bessere
ncue ersetzt wurden, wurde verhindert, dass der Umfang des Buches vergrössert
wurde. Westenhöfer, Berlin.
M. Vaerting: Wahrheit und Irrtum in der Geschlechterpsychologie.
Grundpreis brosch. 4 M., geb. 5 M. Verlag von G. Braun, G. m. b. H., Karls-
ruhe 1923.
Das Buch ist der zweite Band der „Neubegründung der Psychologie von
Mann und Weib. Über den ersten Band: Die weibliche Eigenart im Männerstaat
sf A
- ~
9) Kritiken. 193
und die männliche Bigenart im Frauenstaat ist bereits früher in dieser Zeitschrift
berichtet worden. Konnten wir uns bei der Besprechung des ersten Bandes
durchaus nicht immer mit den Anschauungen und Beweisführungen der Ver-
fasser (Mathilde und Mathias Vaerting) einverstanden erklären, so können wir
dem Inhalt des zweiten Bandes im grossen und ganzen durchaus zustimmen.
Der Grundgedanke des Werkes, der an zahlreichen Berufen und menschlichen
Beziehungen und Einrichtungen abgewandelt wird, ist der, dass überall da, wo
die beiden Geschlechter miteinander in geistige Berührung kommen, z. B. im
Schulleben und im Gerichtsverfahren usw. mit einer sexualen Beeinflussung und
daher auch mit einer dadurch bedingten einseitigen Einstellung und Beeinflussung
des Urteils zu rechnen ist. Diese sexuale Beeinflussung nennt Vaerting die
Sexualkomponente. Es ist allerdings nicht richtig, dass das etwa eine neue
Erkenntnis sei, sie ist für jeden aufmerksamen Beobachter des menschlichen
Lebens eine altbekannte und wohl auch oft genug im praktischen leben ge-
würdigte Tatsache. Das soll aber keineswegs das Verdienst Vaertings, diese
Beziehungen an zahlreichen Beispielen nachzuweisen und sie so einem grossen
Kreise verständiich beizubringen, schmälern. Dadurch, dass wie im ersten
Bande ausgeführt ist, die Herrschaft in den modernen Staaten von Männern
ausgeübt wird, ist infolge der einseitigen Sexualkomponente auch die einseitige
männliche Auffassung die herrschende ‘und sind Irrtümer der Geschlechter.
psychologie entstanden. Demnach sieht Vaerting das Heil weder in der ein-
seitigen Männerherrschaft noch Frauenherrschaft „Fingeschlechtliche Vorherr-
schaft lastet stets auf beiden Geschlechtern. Erst die Herrschaft beider Ge-
schlechter, die Gleichberechtigung, wird uns mit der Ungerechtigkeit zugleich
von der Unfreiheit erlösen‘'.
Es ist unmöglich im Rahmen eines kurzen Referats auf Einzelheiten des
Buches einzugehen, das zweifellos auf jeden, der es liest, ausserordentlich
anregend wirken und wohl manchem wie ein Licht in das Dunkel seines Unter-
bewusstseins leuchten wird. Ganz besonders ist das Werk zu empfehlen Erziehern
und solchen Leuten, die dazu berufen sind an den Reformen unseres staatlichen
und gesellschaftlichen Lebens verantwortlich mitzuarbeiten. Notwendiger aber
scheint mir das Studium des Werks und die Verarbeitung seiner Gedanken für
den Mann als für die Frau, nicht weil wir im Männerstaat leben, sondern weil
die „Sexualkomponente‘“ bei der Frau viel mehr im Bereich des Bewusstseins
liegt als bei dem Manne. Das beruht aber nicht auf irgendwelchen politischen
und sozialen (Männerstaat oder Frauenstaat) oder kulturellen Einwirkungen,
sondern einzig und allein in uralten vererbten Anlagen und Eigenschaften, die
aus einer Zeit stammen, in der es keine Zweigeschlechtlichkeit gab. In diesem
Sinne herrscht die Frau (das weibliche Geschlecht) auch heute im Männer-
staat, wie sie es schon tat, als es noch gar keinen Staat gab und wie sie
es auch in Zukunft tun wird. Westenhöfer, Berlin.
Adele Wiener: Entstehung und Wesen von Natur und Kultur. Versuch
einer Transitologie als Wissenschaft der Übergänge. Verlag von Wilhelm
Braumüller, Wien und Leipzig 1923.
Dass man die Entstehung und das Wesen der Kultur einigermassen erfassen
und darstellen kann, versteht sich. Wie aber jemand heute über die Entstehung
und das Wesen der Natur (?!) auch nur einigermassen sicheres aussagen will, ist
schon schwerer verständlich. Aber kaum fassbar wird es erscheinen, wenn
jemand auf hundert Seiten diese Probleme mit ihrer Lösung glaubt vorführen
zu können. Wenn man auch manchen Ausführungen der Verfasserin, und zwar
besonders auf sozialem (Gebiete zustimmen, und überhaupt anerkennen kann,
dass die Tendenz ihrer Arbeit von hohem sittlichem Gefühle getragen ist, so ist
doch andererseits der schwerwiegende Einwand zu erheben, dass ihre Kenntnisse
auf naturwissenschaftlichem und speziell biologischem Gebiet nicht ausreichen,
194 Kritiken. - [10
um dem Thema gerecht zu werden, wie könnte sie sonst unter anderem auf S. 23
behaupten, dass ‚vor 2000 Jahren aber die Ähnlichkeit zwischen Mensch und
Menschenaffen wohl noch nicht gross war“. Westenhöfer, Berlin.
H Ziemann: Beitrag zur Bevölkerungsfrage der farbigen Rassen.
Sonderabdruck aus: Metron. Vol. IIl Nr. 1 1928. (Internationale statistische
Rundschau.) Ferrara Italia, Casa edürice Tadei.
Lass die Bevölkerungsfrage der farbigen Rassen nicht nur vom Standpunkt
dieser Rassen selbst oder vom Standpunkt des Naturforschers und Anthropologen
von Interesse ist, sondern aufs innigste zusammenhängt mit der Möglichkeit
Kolonien in tropischen Ländern auszunützen, ja, dass jede koloniale Tätigkeit
mit dem Bestand der farbigen Rassen steht und fällt, ist heutzutage eine aner-
kannte Tatsache. Die Erhaltung und gegebenenfalls Vermehrung dieser Bevölke-
rungen ist daher vielleicht die wichtigste Aufgabe der Kolonialvölker, zu denen
wir Deutsche ja leider nicht mehr gehören. So kommen auch die Ausführungen,
die Ziemann macht, leider nicht mehr uns zu gute. Aber wenn sie dazu bei-
tragen, der farbigen Bevölkerung der Kolonialländer zu nützen, so wird Zie-
mann, der frühere langjährige Medizinalreferent in Kamerun, doch seine
Genugtuung haben. In seiner Abhandlung, die reiches statistisches Material aus
den früheren deutschen Kolonien enthält, führt er die Gründe der relativen
Bevölkerungsarmut und die speziellen Ursachen der Kindersterblichkeit auf und
gibt die Mittei an, die zur Behebung dieser Mängel angewandt werden müssen.
f Westenhöfer, Berlin.
Wilhelm Strohmayer: Die Psychopathologie des Kindesalters. Vor-
lesungen für Mediziner und Padagogen. 2. Auflage. Verlag von J. F. Berg-
mann, München 1923.
Das bekannte, ausgezeichnete Werk hat in der zweiten Auflage eine
Bearbeitung erfahren, die besonders die Tübinger Arbeiten in die Darstellung
cinbezogen hat. Seine Vorzüge braucht man im einzelnen nicht mehr zu rühmen;
auf die feinfühlige Einstellung zu den Werten der Freudschen Forschung sei
ebenso hingewiesen wie auf die Entschiedenheit, mit welcher dem Arzte der
Primat vor dem Pädagogen zugesprochen wird. Die kindlichen Psychopathien
bieten freilich noch immer einer wirklich genugtuenden psychopathologischen
Analyse Trotz; hier ist noch weites, ungenügend bestelltes Feld für die ‚Forschung.
Bezüglich der Schizophrenie deckt sich Verfassers Standpunkt mit dem modernen:
Bei allen psychotischen Syndromen Jugendlicher an diese Möglichkeit denken;
und dort selbst bei anscheinend ganz katatoniformen Erscheinungen im Kindes-
aller durchaus noch mit der Möglichkeit einer guten Prognose rechnen. Leider
fehlt in dieser Auflage noch (bis auf eine kurze Andeutung) das Gebiet der
Folgezustände nach lethargischer Enzephalitis. Kronfeld, Berlin.
Gaston Vorberg: Über den Ursprung der Syphilis. Quellengeschicht-
liche Untersuchungen. Verlag von Julius Püttmann, Stuttgart 1924.
Verf. beschäftigt: sich mit dem zeitlichen und regionären Ursprung der
Syphilis, insbesondere mit der Frage, ob sie nach der Entdeckung Amerikas
von diesem Erdteil eingeschleppt worden sei, und kommt zu dem Ergebnis, dass
dies nicht der Fall war; vielmehr wàr sie seit jeher endemisch, und ihr Ur-
sprungsland ist nicht mehr zu ermitteln. Zar Leistung dieser relativ mageren
Resultate bedurfte es aber einer unendlich mühevollen kritischen Sammlung
und Sichtung der einschlägigen historischen Quellenwerke und der Beseitigung
des darin vorhandenen Wustes schiefer, z. T. abergläubischer Fehl- und Vor-
urteile. Durch diese Einzelarbeit ist das Werk interessant. Es ist vom Verlag
mit vorbildlicher Schönheit des Druckes und der Abbildungen ausgestaltet.
Kronfeld, Berlın.
11) Kritiken. ® 195
Kaupe und Küster: Mutter und Kind. Ratgeber für Bräute, Mütter und
Pflegerinnen. Mit 10 Abb. im Text; geh. 1,45 M., geb. 1,65 M. Verlag von
A. Marcus & E. Weber (Dr. jur. Albert Ahn), Bonn 1922.
Dr. Walter Kaupe, Kinderarzt und leitender Arzt des Säuglingsheims
Lungstrastift und des Vereins Säuglings- und Genesungsheim Bonn, und Prof. Dr.
Hermann Küster, Frauenarzt, leitender Arzt der Frauenklinik und Ent-
bindungsanstalt an Dr. Lahmanns Sanatorium, Weisser Hirsch, konsultierender
Frauenarzt der Woaldparkkrankenanstalt Blasewitz, zeichnen als verantwort-
liche Autoren. Ihre ausgedehnte praktische Betätigung auf dem grossen Ge-
biete Mutter und Kind veranlasste sie, den zahlreichen guten Werken, die zu
den Einzelfragen Mutter oder Kind erschienen sind, ein beide Teile als zn-
sammengehörige Einheit behandelndes hinzuzufügen. Um das Gesamturteil vorweg
zu nehmen: das Buch ist gut, bürgt aber doch für den Laien, selbst für, den
gebildeten, an manchen Stellen etwas zu viel Wissenschaft. Wenn man sich
seit Jahrzehnten mit hygienischer Volksbelehrung beschäftigt und als General-
sekretär des Landesausschusses für hygienische Volksbelehrung in Preussen
in den letzten Jahren diesen Aufklärungsfragen besonders nahe getreten ist,
kommt man immer mehr zu der Überzeugung, dass man bei seinem Hören und
Lesen wenig oder gar nichts voraussetzen darf; je einfacher, desto besser.
Einige spezielle Kleinigkeiten. Nach Ansicht des Herrn Küster entsteht
kein Schaden, wenn den Schwangeren keine Zulagen gegeben werden, ‚da wir
doch ohnedies mehr als nur das Notwendige essen‘. Also machen alle Menschen
ihr ganzes Leben hindurch Überernährungs- also Mastkuren. Glücklicherweise
essen die Schwangeren nicht nach Gramm und Kalorien, sondern nach instink-
Deem Bedürfnis und nehmen infolgedessen um soviel mehr, als der Aufbau
des Embryo erfordert; sonst lebt das Kind auf Kosten der Mutter. — S. 35.
„Die Gesamtmenge der Nahrung soll eher zu knapp als zu reichlich sein.‘ Nur,
sie soll genügend sein. „Der Alkohol, ein Gift für das Herz und die Nieren,
das auch auf das Kind übergeht, sollte gemieden werden.‘ Sehr richtig und
vernünftig. — „Doch mag ein mässiger Genuss von Bier und Wein für den,
der daran gewöhnt ist, verträglich sein usw. oder Liköre in Menge sind Gift.“
Dieser 2. Absatz widerspricht dem ersten und ist in seiner Tendenz falsch.
Zwei Seelen wohnen auch in der Brust manches Autors. Das Gift, das auch auf
das Kind übergeht, soll gemieden werden. Geht es bei dem daran Gewöhnten
nicht auch auf das Kind über? Oder soll dieses schon vor der Geburt davon ge-
nährt werden?“ Kennt der Autor nicht die Erbgesetze. Ich finde diese Zwie-
spältigkeit gar nicht in der Ordnung. Die Angst vor dem Bekennen — und
man wird beiden Teilen gerecht. Likör in Mengen Gift? Nein „Herr Kollege:
Alkohol = Gift.“ Auch 0,01 Morphium ist Gift. —
S. 39. „Ein Korsett ist für die Frauen, die daran gewöhnt sind, eine
Wohltat.“ Gibt es nicht bessere Wohltaten? S. 62 heisst es bei dem Siechtum
des Wochenbettes: „Alkohol in jeder Form dürfte entbehrlich sein, Liköre sind
verboten.‘ Enthalten Bier und Wein keinen Alkohol? — Wieder mangelnder
Bekennermut! Beim Speisezettel amüsierten mich die Spargelspitzen. „Man
nehme" wenn man hat. — S. 88: „Gewiss ist der Alkohol in Übermass oder von
solchen, die ihn nicht vertragen können genossen, ein schweres Gift.‘ Aber
Herr Kollege! Ist Morphium für die Morphinisten oder weil es die Morphinisten
in grossen Mengen vertragen, kein schweres Gift? Derlei Sätze müssen in einem
Archiv für Eugenetik mit Entschiedenheit und Entrüstung zurückgewiesen
- werden, weil sie unwissenschaftlich und schädlich sind, ‚„dysgenetisch‘“.
S. 103: „Bezüglich des Alkoholgenusses, der ebensowenig wie mässiger
Kaffee- und Teegenuss zu verbieten ist, raten wir natürlich zu Mässigkeit.“
Bravo Herr Kollege! Auch wenn nachgewiesenermassen der Alkohol in die
Milch der Stillenden übergeht? — Also Alkohol — Kaffee — Tee! —
Bornstein, Berlin.
196 ' Kritiken. [12
Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung.
Brosch. 515 S. 8° Sibyllen- Verlag, Dresden, 1922.
Als Leverrier 1846 den Ort angab, an dem ein noch unbekannter
Planet (Neptun) gesucht werden müsste, der die Uranusbahn beeinflusste, war er
als vorwärts gewendeter Prophet auf dem mathematisch-physikalischen Gebiet
besser daran, wie unsere rückwärts gewendeten Propheten auf dem biologischen.
Obgleich der Verf. sich sagt, dass die erste Entwicklung des Menschen
viel problematisches habe, bietet er uns das von ihm entworfene Bild zur
Prüfung an. Ven dem Ur Ostaffen stammt der Pithekanthropogonëus (= P.A.G.)
in einer schwächeren und stärkeren Form. Er war nicht mehr Baum-, sondern
schon wesentlich Bodentier, während die früheren Vorläufer des Menschen
Baumtiere waren. Aus jener stärkeren Form gingen Gorilla und Mensch hervor.
Der P.A.G. hatte schon menschenähnliche (gewölbte) Schädelbildung, frei von
Knochenkämmen, von Raubtiergebiss u. a. m., lief vierfüssig. Von ihm also
stammen der Reihe nach homo Primigenius, h-Trinilis (Java = Pithekanthropus
erectus), Neanderthalensis, Aurignacensis, Recens. Der h-Primigenius war körper-
lich und geistig getreues Abbild seines tierischen Vorläufers. Die Körperaufrich-
tung war zunächst noch, wie beim P.A.G. unvollständig. Die erste Entwicklung
habe sich auf gerölligem Felsboden abgespielt, wo es wohl viel Steine, aber
wenig Bäume gab. Auf abhängigem Boden genügte oft statt des Werfens das
Wälzen der Steine. Der erste Mensch ist dasjenige Wesen, dessen Entwicklung
erstmalig unter das Prinzip der Körperausschaltung trat. Nicht durch
Gehirn und Beine ist ein Tier zum Menschen geworden, sondern durch den
Übergang von tierischem Entwicklungsprinzip zum Menschheitsprinzip. Damit
das nicht wie ein idem per idem ‚aussieht, hören wir, den Anstoss zu diesem
Übergang gab die ausserkörperliche Abwehrmethode. Deren Möglichkeit be-
ruht auf der Hand; sie machte den Menschen zum Menschen. Nun braucht ja
aber der Affe auch die Hand? Bei ihm stehe das „Werkzeug“ aber in keinerlei
positiver Beziehung zu seiner Entwicklung. Dagegen ist das Entwicklungs-
prinzip des Menschen die Körper-Ausschaltung. Dadurch ist der Mensch wesens-
verschieden vom Tier; seine Entwicklung ist nicht eine Steigerung der tierischen.
sondern eine von anderer Art. Aus der Einheit dieses Prinzips folgt auch die
Einheit der Menschheit.
Durch die ausserkörperliche Anpassung erfährt der Mensch eine Be
freiung von der Naturbeschränktheit, eine Einbusse an Instinkten.
Der Mensch war zuerst sprachlos und ohne Feuer. Die Menschheit
ist mit einem Schlag entstanden, geboren „mit dem Augenblick der
ständigen Übung der Steinabwehrmethode‘ ; bei ihr büsste er den Kletter-
fuss ein, weil er sich aufrichten musste, um die Steine zu wälzen und zu
werfen. Verf. hält die Existenz des Tertiärmenschen für unwiderruflich belegt.
Er brauche ja noch kein Feuer gehabt zu haben. Alles also aus dem unschein-
baren Entwicklungsprinzip der Körperausschaltung hervorgegangen. So ganz
durch Zufall? Nein. Sondern ohne den Zwang des Kampfes wäre das nie ge-
kommen. In langem, hartem Daseinskampf wurde die Abwehr mit Steinen ge-
übt und verbessert. In Wirklichkeit war der Urmensch nicht der Jäger, sondern
das gehetzte Wild. Mit der Geburt des Menschen ging nun freilich ein tiefer
Riss durch die gesamte organische Welt, der Mensch und Tiere für immer von
einander trennte. Der Mensch bedeutet einen Umschlag, nicht eine Steigerung
gegen das Tier. Aber wenn auch die Natur zwei grundverschiedene Entwick-
lungs-Prinzipien innerhalb der organischen Lebenswelt geschaffen hat, so müsse
man doch zugestehen, dass der Mensch im Affen schon ideell angelegt gewesen
sei und insofern kein Zufallsprodukt. Die mechanistische Entwicklung besitze
auch Zielstrebigkeit, sei zugleich tendenziös fortschrittlich. Ein sinnvolles Ge-
schehen sei anzunehmen. Wir könnten dem Geschick nicht dankbar genug sein,
dass der Mensch den Weg zur Menschwerdung eingeschlagen habe. Da die
Kulturentwicklung aufwärts gehe, so werde der Pessimismus eines Schopen-
13] Kritiken. 197
hauer entlarvt, seiner falschen Voraussetzung beraubt und mache geradezu
einem blühenden Optimismus Platz.
Da es an Platz fehlt, so füge ich nur hinzu, dass ich auch glaube duo
cum faciunt idem non est idem. Der Affe, der mal Steine wirft, ist nicht
ein Wesen, in dem der Mensch schlummert. Der ist auf einem anderen
Zweige gewachsen. Analoga gibts bei den Tieren; aber nicht Identitäten.
Wenn wir auch nicht aufhören werden, die kontinuierliche Entwicklung er-
kennen zu wollen, so wird man wohl viel tierische Analogien als solche ein-
schätzen. Die zähen Bemühungen, im Tiere menschliches zu finden, sind trotz
allem darauf verwendeten Scharfsinn wenig überzeugend. Auch die seit einigen
Jahren besonders betriebene Affen-Beobachtung, die mit gespanntem Blick auf
die Sensation der Tierwerkzeuge und -Sprache harrt, scheint leider in der
Hauptsache aussichtslos. K.Bruchmann, Berlin.
Dr. Hans F. K. Günther: Rassenkunde des Deutschen Volkes. Mit
14 Karten und 537 Abbildungen. III. Aufl. 518 S. 8°, geb. 11 Goldmark.
Verlag von J. F. Lehmann, München 1923.
Diese Rassenkunde ist schon mit vielem Beifall aufgenommen worden.
„Keinem Aufmerksamen kann es entgangen sein, was das Ziel dieses Buches be-
gründet: Die Ertüchtigung des Deutsches Volkes“ so heisst es beim Verf. S. 420 A.
Über das Germanische Gebiet hinaus greifen die vier europäischen Rassen, als
die der Verf. 1. die nordische, 2. die westische, 3. die ostische, 4. die dinarische
nennt. Unter ihnen steht körperlich,. geistig, nach geschichtlichen Leistungen
die hochgewachsene, langschädlige, schmalgesichtige, nordische Rasse an erster
Stelle. Ihre Urheimat war in Nordwest-Europa; Schweden, Norwegen, Däne-
mark, Schleswig-Holstein, Nord. und Ostseeküste (188: 140.333). Ob etwa
Nord- und Westeuropa auf einen gemeinsamen Ursprung, eine Rassen-Einheit in
frühester Zeit zurückgehen, wissen wir nicht (245), ebenso wenig, wie Rassen
überhaupt gemacht werden — eine Unterabteilung der Lotzeschen Formel:
wie Sein gemacht wird, wissen wir nicht. Doch kann, nach dem Gehörten
wenigstens, aus einer Rasse bis zu gewissem Grade eine andere werden —
analog, könnten wir uns denken, wie etwa Helium aus Radium. Die andern
Rassen des heutigen Europa (ausser der nordisch-westischen) würde man
kaum auf eine gemeinsame Urform zurückführen können, und gar die Zurück-
führung aller europäischen Rassen auf eine gemeinsame Urform wäre schon
gleich der Zurückführung europäischer und asiatischer Menschen auf ein ge-
meinsames Urmenschenbild (245 f... Auch der Verf. erklärt sich gegen Asien als
Heimat der sogen. indogermanischen Sprachen (383). Über Körperlichkeit und
Begabung jener obigen nordischen Rasse als Korrelate tappen wir im Dunkeln
(160), wie wir auch von den Blut-Reaktionen, Anfälligkeiten von Krankheiten
u. dgl. noch nicht genug wissen (140, 142). In Deutschland und ganz Europa
‚wohnen jetzt Mischlinge (209, 386). Die Entnordung beginnt schon etwa mit
dem 6. Jahrhundert, eine besondere Beschleunigung erfuhr sie mit dem Ende des
18. Jahrhunderts (359). Der Schwund der nordischen Rasse erfolgte durch
Kriege, Wanderzüge, bei Aufsaugung durch die Städte (153). Man fragt unter
unserer Mischlings-Bevölkerung nach Kelten und Slawen. Von allen nordischen
Völkern sind für Deutschland die Kelten und Germanen am wichtigsten, die
zweitletzte und letzte Welle der Nordrasse, die sich etwa von 900—200 v. Chr.
ausbreitete. Von Süddeutschland und der Ebene zwischen Rhein und Weser
aus begann der Vorstoss der Kelten nach dem späteren Gallien, wohl zwischen
1000 und 600 (307). Die Kelten werden bei ihrem ersten Erscheinen als hoch-
gewachsen. blond, blauäugig geschildert (313). Ihre Urheimat ist angeblich
Süddeutschland und das Donautal. Nun die Slawen: „Eine slawische Rasse gab
und gibt es nicht. Menschen, die man slawisch findet, sind meist ostisch-nordisch
oder mongolisch-nordisch‘‘ (356). Aber die Urslawen (354) waren ein nordi-
sches Volk, das sich aus einer in östlicher Richtung abgewanderten Gruppe
198 Kritiken. d
nordischer Rasse gebildet hatte, stark genug, dem Osten Europas die slawischen
Sprachen aufzuzwingen. Die Urslawen, die Oberschicht der slawischen,
damals wohl nordisch-ostischen, -dinarischen, -mongolischen Völker, die eine
besondere Bestattung erfuhr, waren nordischer Rasse wie die Germanen;
s. auch 355. Slawische Sprache ist nicht = slawische Rasse. Von Rassen-
Mischung ist wohl zu unterscheiden "Völkermischung. Dass Rassen-Mischung
günstig wirken müsse, ist gar nicht allgemein zu erwarten (326). Es scheint,
dass jeder Untergang eines Volkes mit indogermanischer Sprache bedingt ist
durch Versiegen des Blutes der schöpferischen, d. h. Nord-Rasse (330). Bei
unserer „Allmischung‘‘ und namentlich bei unserer starken Entnordung ist die
Frzeugung einer „Deutschen Rasse‘ keine Möglichkeit der Deutschen Zu-
kunft (237). Die nordische Rasse mag etwa 60% des Deutschen Blutes aus-
machen (208), die ostische 20%, die dinarische 15%, die westische Zou Kann
man denn für diese Reste der schwindenden nordischen Rasse überhaupt noch
etwas tun? Wer es glaubt (409 f.), muss sich dabei von dem Gedanken leiten
lassen: eine folgerichtige, reine und werterzeugende Entfaltung deutschen
Lebens ist nur möglich aus dem Blut und Geist der Nordrasse heraus (410).
Könne durch hygienische, staatliche Einrichtungen zum Schutze für die kämpfen-
den Reste der nordischen Rasse beigetragen werden? Da müsste der Staat erst
die Überzeugung von der unersetzlichen Bedeutung der nordischen Rasse ge-
wonnen haben. Jedenfalls sei alles zu tun, damit die Geburtenzahl der nordischen
Menschen sich hebe (416). Mit grosser Gewissenhaftigkeit wendet sich der Verf. in
einem „Anhang‘‘ (432f.) dem Zionismus und den mit ihm zusammenhängenden
Volks- und Rassefragen unter Benutzung von Autoren wie Goldmann,Gold-
stein, Buber u. a. zu. Die Chasaren-Frage wird 468f. erörtert. Die lehr-
reichen Karten und die oft interessanten zahlreichen Abbildungen sind besonders
als wertvoll hervorzuheben. Was der Gang der Geschichte sein wird? Vergeb-
lich ists zu fallen ins bewegte Rad der Zeit? Wird der Mischlings-Charakter der
Bevölkerung doch immer ausgeprägter werden? Vgl. übrigens Gust. Kossinna,
Die Indogermanen. I. Teil: Das indogermanische Urvolk. 79 S. 8. Leipzig 1921.
Verlag Kabitzsch. ` K Brochmann, Berlin.
Max Bauer: Liebesleben in deutscher Vergangenheit. Mit 75 Abbildungen
nach alten Meistern. 3890 S. Verlegt bei Dr. P Langenscheidt, Beriin W. 15,
1924.
Das Liebesleben in deutscher Vergangenheit schildert der Verfasser in
14 Abschnitten. Sehr gross ist die Zahl der Urkunden, die er für seine Zwecke
zusarnmengebracht hat. Dazu sind dem Text mehr als 70 Abbildungen einver-
leibt. Es lässt sich rühmen, dass wir ein deutliches und ungefärbtes Bild
erhalten. Der Verf. tut recht daran, dass er auf alle Schönfärberei verzichtet.
Jene Sitten sind nicht selten unseren analog, zeigen aber auch, dass Perversität
sehr wohl ohne Hochkultur denkbar ist. In manchen Sitten (z. B. den Badesitten)
hat man anders empfunden als wir, in der Schminkerei ziemlich gleich (323);
war ihr doch sogar Penelope nicht ganz abgeneigt. Es erscheinen vor uns Bauern
und Ritter, Klerus und Klöster, Frauenhäuser und fahrende Frauen, Tänze und
Spiele, Ehe und ausserehelicher Verkehr, Schönheitsideale und Mode, Liebes-
zauber und der entsetzliche, unerträgliche Hexenwahn. Im Abschnitt Hofluft
ist vom Mätressenwesen und besonderen Scheusslichkeiten im Fürstenleben
die Rede (ein Sohn Philipps von Hessen). Ekelhafte Roheit, schmähliche, nieder
trächtige Bedrückung, Rechtsbeugung gegen Arme, Unfreie, Machtlose treten als
düsterste, traurigste, schrecklichste Züge ununterbrochen hervor. Verhältnis-
mässig unbedeutend sind Regungen der Frauenfrage in Nürnberg 1449 (S. 322);
abweichend von unseren offiziellen Sitten ist, dass 1434 die Herren von Ulm die
zum Frauenhaus führenden Strassen beleuchteten, damit der Kaiser Sigismund
den Weg dahin nicht verfehlen möchte. Die Berner wiederum stellten dem
Kaiser und seinem Gefolge drei Tage hindurch das Bordell kostenlos zur Ver-
fügung, was der Herrscher durch ein herzliches Dankschreiben anerkannte
15] Kritiken. 199
(weiteres S. 138). Über Nackt-Tänze nach Turnieren in Frankreich S. 40. Die
Vergangenheit hatte auch ihre grotesken Namen für Tänze (232) und ihre Tanz-
Psychose, wie unsere gute, fein gebildete Gesellschaft. Nun, hatte doch der
berühmte Prediger auch zeitweise seine kleinen Schwächen (2,8). Das liebevolle
Kloster Gnadenzell erscheint auch hier S. 93 wie in dem Buche von Dr. G. Jung
Die Geschlechtsmoral des Deutschen Weibes im Mittelalter. Leipzig 1921. S. 206 £.
K. Bruchmann, Berlin.
Alexander von Gleichen-Russwurm: Liebe, eine Kritik der ver-
liebten Liebe. 392 S. Verlag von Julius Hoffmann, Stuttgart.
Von den zwei bekannten Triebkräften Hunger und Liebe ist die zweite
die bei weitem paradoxere. Der Verf. erklärt uns zunächst, was er unter
verliebter Liebe versteht und verschont uns mit dem „Kampf der Geschlechter“
und ähnlichen Kostbarkeiten. Vielmehr entrollt er uns in den Abschnitten Eros,
Amor, Minne, Frau Venus, Kupido, Der Liebe Erziehungsamt, Von der Ritter-
schaft des Eros, was nach Völkern und Zeiten über die Liebe gedacht und in
ihr von berühmten Paaren erlebt worden ist. Sein Thema ist also nicht in
europäische Grenzen eingeschlossen, sondern grenzenlos auch in dem Sinne,
dass die Literatur darüber unendlich ist. Der damit verbundenen Gefahr gelegent-
lich trivial oder fade zu werden, entgeht der Verf. dadurch, dass er kultur-
psychologisch ist und durch seine höchst mannigfaltigen Studien. Einen tief-
gehenden Unterschied zwischen Osten und Westen stellt er gleich im Anfang
fest (5 f.). Der Leser kann nun die ungeheuren Gegensätze der Zeiten und Völker
mustern. Ja, die Welt ist voller Widerspruch; und wenn Goethe in der 19. Röm.
El. widernatürliche Verirrungen der Liebe nennt, so sind sie verglichen mit
den Torheiten der gesamten Geschichte unbedeutend, noch abgesehen von den
Possierlichkeiten, die Goethe nachsichtig scherzend anführt ... deswegen
Jungfern und Junggesellen Im Frühling sich gar geberdig stellen (Gleich und
Gleich). Durch einige Namen sei auf den Inhalt des inhaltreichen Buches hin-
gewiesen. Indien, Ägypten, Griechen (Freundschaft und sogen. Platonische
Liebe), Römer, Hellenismus, Christentum und Puritanismus, Minne, Italien und
Frankreich seit der Renaissance, Petrarka, Boccaccio, Michelangelo und Vittoria
Colonna, Schakespeare, Schäfereien, Rousseau, Wieland, die Romantiker, La-
martine, George Sand, Leopardi, Wagner und Mathilde Wesendonck; die Ver-
Findung von Musik und Liebe in der Oper. Zu Ovids Erzählung vən Tiresias
(Venus huic eral utraque nota) findet sich die Analogie, dass ein Inder wegen
Beleidigung eines Gottes einige Zeit in eine Frau verwandelt war. Aus helle-
nistischer Zeit klingt etwas an Romeo und Julia an (S. 84). i
K. Bruchmann, Berlin.
J. Harnik: „Schicksale des Narzissmus bei Mann und Weib.“ Internationale
Zeitschrift für Psychoanalyse. 1928 H. 8.
Verf. sieht die Pubertät für das Mädchen durch eine neuerliche Ver-
drängungswelle gekennzeichnet, von der gerade die Klitorissexualität betroffen
wird. Die „vielfach bis dahin geübte Klitorismasturbation‘ wird aufgegeben.
Für das Unbewusste des halbwüchsigen Mädchens ist die erste Menstruation
eine Kastrationsblutung und wirkt wie eine „Kastrationsdrohung‘. Mit der Aus.
bildung der bis dahin latenten weiblichen Sexualorgane scheint eine Steigerung
des ursprünglichen Narzissmus aufzutreten. Also in der Vorpubertät: „männlich
gerichtetes Sexualleben, Klitoriserregbarkeit, Klitorismasturbation; in der Puber-
tät: „Verstärkung der Sexualhemmnisse, Hervortreten der sekundären Ge-
schlechtsmerkmale, Entwicklung zur ‚Schönheit‘, Steigerung des Narzissmus.“
Seltsam ist die psychoanalytische Ausdeutung der ersten Menstruation als
Kastrationsblutung. Vor der Pubertät soll das kleine Mädchen virtuell, d. h.
in der Phantasie einen Penis besessen haben; mit der Pubertät entwickelt sich
aber bei ihr die „Schönheit“, das Verlangen, ihre „Reize auszubilden, die das
200 Kritiken. [16
sexuell und ästhetisch Reizende für den Mann werden sollen. Diesen Reizen
gilt auch ihre narzistische Selbstliebe, die sie nicht nur für die dem Weibe
sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl entschädigt, sondern auch für
das Aufgeben der infantilen Männlichkeit, für den Verlust ihres Penis. Zwischen
dem Genilale und dem narzistischen Ich bleiben zeitlebens die allerintimsten
Bezielungen bestehen, ja das Genitale ist vielleicht der Kristallisationskern der
narzistischen Ichbildung. Die Unterdrückung der Klitorismasturbation und die
Einschränkung der Klitoriserregbarkeit soll in der Regel eine Vorbedingung
für die richtige, vollwertige Ausbildung der weiblichen Reize sein. Die verdrängte,
von ihrem ursprünglichen Ziele abgelenkte und doch zugleich mit der ganzen
Wucht der Pubertät strömende verstärkte Genitalität soll sich sozusagen auf
Kollateralwegen auswirken und mit ihren Libidoquantitäten die Geschlechts-
merkınale bilden helfen. Placzek, Berlin.
M. Josef Eisler: „Über hysterische Erscheinungen am Uterus“. Inter-
nationale Zeitschrift für Psychoanalyse. IX. Jahrgang. 1928. H. 3.
Es kann nicht wundernehmen, dass die Psychoanalyse sich an der Tat-
sächlichkeit psychischer Abhängigkeit oder gar Beeinflussbarkeit von menstru-
ellen und. Geburtsveränderungen nicht genügen lässt, sondern sie mit ihrer
Methodik zu enträtseln sucht. Selbst von den Vorgängen, die durch unzulängliche
Entwicklung der inneren Geschlechtsorgane bedingt werden, will sie nur die
anatomische Unterentwicklung aussondern, doch die funktionale, auch den
Drüsenapparat betreffende, die mit anderen endokrinen Drüsen vielfach zu-
sammenarbeitet, für sich reservieren. Ob Amenorrhöe — Ausbleiben der regel-
mässigen Blutung — oder Dysmenorchöe — das Gesetz der Periodizität durch-
brechende und sich in plötzlich auftretenden Blutungen von unbestimmter
Dauer äussernde Blutung, der Psychoanalytiker entdeckt in dem Ausbleiben
der Blutung ein „Konversionssymptom.‘* Das beteiligte Organ lehnt es cin-
fach ab, die von der Natur befohlene Aufgabe zu leisten.
In solchem Falle sei das Gefühlsleben von dem Wunsche gelenkt, ein Mann
zu sein. „Dieser Wunsch ist seinem ganzen Wesen nach infantiler Natur und
hat seinerzeit vermocht, die normalen weiblichen Strebungen in der Weiter-
entwicklung zu hemmen oder niederzuhalten.‘‘“ Der Wunsch ist nicht immer un-
bewusst, ja oft liegt er fast greifbar im psychischen Material — in den Phanta-
sien, Charakterbildungen usw. — zutage, doch kann er als konfliktbildender
Faktor den Ablauf der Affekte modifizieren und das psychische Verhalten in
weitgehendem Masse abändern. Unter seinem Einflusse dünkt sich das Weib
von der Natur benachteiligt und schafft sich bei genügender Stärke und unter
gleichzeitigem Gegendruck der verdrängten Weiblichkeit einen Ausweg in das
neurotische Symptom. Dieses letztere präsentiert sich dann als Ausdruck des
sog. „Männlichkeitskomplexes‘‘. Die Amenorrhöe ist nur die eine Modalität einer
solchen krankhaften Lösung, indem sie nämlich in der uterinen Schleimhaut Ent-
gegenkommen findet.
Auch die besondere Komplikation der „vikariierenden Menstruation‘ kommt
in Frage, die ‚ectopie menstruelle‘, wo Nasen-, Lungen-, Magenblutungen be-
obachtet wurden, die genau die Zeit der Monatsregel einhielten. Sogar Kehl-
kopf, Schilddrüse, Auge und Ohr sollen Ersatz für die unterbliebene Menstruation
leisten können, alles angeblich erogene Zonen, die auf Grund einer — phylo-
genetischen — Abgestimmtheit die Rolle des ablehnenden Organs übernehmen.
Auch einfachere, nicht eigentlich krankheitbildende Ursachen können in Frage
kommen und die zeitliche Regelmässigkeit der Menstruation verändern, so ge-
wollte Ablehnung des Geschlechtsverkehrs aus irgendwelchem Grunde. Immer
also der plastische Einfluss psychischer Kräfte, ein Einfluss, der im Einzelfall
soweit gehen soll, dass in einen Falle die Menstruation 5 Jahre andauerte, um
sich gegen den Ehemann zu schützen (Shok durch unzüchtigen Antrag). Nun
ist es wohl richtig, dass eine Abhängigkeit der Menstruation vom Seelenleben,
17) Kritiken. 201
bzw. eine Wechselwirkung zwischen beiden ‚besteht. Aufregung, plötzlicher
Schreck, geistige Störungen können die Menstruation hemmen, auf der anderen
Seite verändert die Menstruation oft auffallend die Gemütslage. So unanfechtbar
diese Erfahrungstatsachen sind, ist wohl ein wirklicher Beweis bisher dafür
gegeben, dass eine psychische Abwehr aus irgendwelchen Gründen den Ein-
tritt und die Dauer der Menstruation nach Belieben zu beherrschen vermag?
Oder soll man gar die Möglichkeit einer 5 Jahre dauernden Menstruation dis-
kutieren, und zwar als Abwehrvorrichtung gegen den Ehemann? Um zu
solchen Überzeugungen zu zwingen, bedarf es anderen und beweiskräftigeren
Materials.
Was von der Schleimhaut des Üterus gilt, soll auch von seinen musku-
lösen Gewebselementen gelten. Bekannt ist ja deren reflektorische Reiz-
lähigkeit, wie eine unzeitgemässe Wehentätigkeit nach Schreck, gewisse Schmerz-
empfindungen, Krämpfe, Unterleibsempfindungen zur Zeit der Regel, die Reiz-
fähigkeit soll aber bis zur Schwangerschaftsunterbrechung gehen können infolge
einer hysterischen Anlage, wenn eine ambivalente Anlage besteht, Schwanken
zwischen dem Gefühl der Liebe im Bewussten und dem Gefühl des Hasses im
Unbewussten (?). Leider — Eislers Beweismaterial nicht ‚überzeugend.
Placzek, Berlin.
S. Jessner: „Körperliche und seelische Liebe‘. Belehrende Vorträge über
das Geschlechtsleben. 1. und 2. Lieferung. Verlag von Curt Kabitzsch, Leipzig.
Gemeinverständliche Vorträge sollen es sein, die ganz zwanglos, in unter-
haltend-belehrendem Ton das wesentliche über Ziele und Wege, Freud und
Leid des Geschlechtstriebes aufrollen, ohne dabei wissenschaftlichen Problemen
aus dem Wege zu gehen. Eine verdienstliche, doch ungemein schwere Aufgabe,
wenn die solcher Absicht drohenden Gefahren der Verflachung und Oberfläch-
lichkeit vermieden werden sollen. Sie wurden in glücklichster Weise vermieden,
wie schon diese ersten Lieferungen des Werkes beweisen, und das kann nicht
wunder nehmen bei einem so erfahrenen Autor, dem die Ärzteschaft schon so
manches wertvolle Buch zu danken hat und der bislang als einziger Ver-
treter die Sexualwissenschaft zu lehren gerufen ist. Ungemein anschaulich zeigt
Verf. zunächst die Fortpflanzungsvorgänge, unterstützt seine Worte noch durch
instruktive farbige und andere Bilder, zeigt des Menschen Werdegang, die tief-
greifenden Umwälzungen durch die Pubertät, die atypischen Triebrichtungen
und auch die übertragbaren Geschlechtsleiden. Vielleicht empfiehlt es sich, in
einer späteren Auflage die Perversitäten nicht unter „krankhaftes Geschlechts-
leben‘‘ abzuhandeln, da, wenn irgendwo, dann auf diesem Gebiete das Wort
„krankhaft“ nur recht vorsichtig angewandt werden sollte. Auch ästhetische
Werturteile über diese Triebrichtungen könnten fortbleiben. Höchst erfreulich
ist des Verí. Stellungnahme zu den Freud schen Lehren. „Was soll die Kritik
zu solchen kühnen Annahmen sagen? Meines Dafürhaltens kann diese sich nur
vollkommen ablehnend verhalten. Ein Säugling ist satt und zufrieden, und das
betrachtet man als erotische Befriedigung. Wer versteht das?“ Nach -cingehender
Würdigung der seltsamen Lehren sagt Verf.: „Dificile est satiram non scribere.
Es ist schwer, dabei seinen Ernst zu wahren, wie es wissenschaftlichen Betrach-
tungen doch zukommt. Eine solche Überweisheit wird zur Unweisheit.“ Und
diese harte Ablehnung trotz durchaus anerkennender Wertung so manches Kern-
gedankens von Freud! — Den weiteren Heften des Jessnerschen Buches
kann man hoffnungsvoll entgegensehen. Placzek, Berlin.
Albert Hellwig: „Okkultismus und Strafrechtspflege.‘‘ Über die Ver-
wendung von Hellsehern bei Aufklärung von Verbrechen. Verlag von Ernst
Bircher, Bern-Leipzig 1924.
In einer Zeit, die stärker denn je mystischen Einflüssen hingebungsvoll
zuneigt und transzendente Deutungen erwartungsvoll, gläubig aufnimmt, kommt
Arehiv für Frauenkunde. Bd. X, H. 2, 14
202 Kritiken. [18
das Hellwigsche Buch besonders zeitgemäss und willkommen, spricht doch
aus ihm ein scharfsinniger Denker, der durch jahrelange Beschäftigung mit
okkultistischen Dingen das vielgestaltige Wissensgebiet in mustergültiger Weise
sich zu eigen machte und mit der nüchtern wägenden Einstellung des hervor-
ragenden Juristen vorbildlich durchdrang. So spricht aus jeder Zeile der Fach-
mann allerersten Ranges. Klar und überzeugend zergliedert er dem; wissens-
durstigen Leser zahlreiche Geschehnisse, wo Hellseber zur Aufklärung rätsel-
hafter Verbrechen hinzugezogen wurden, zeigt er die Fehlerquellen, wie sie ein-
seitige, unkritische Einstellung, fixierte Erwartung, unbewusste Unterstützung
durch den Rat Suchenden schafft, er zeigt aber auch die geschickte, menschen-
kundige, jede Blösse ausnutzende, oft mit raffinierter Technik arbeitende Manier.
Und das Schlussergebnis aus all seinen überreichen Erfahrungen, die noch durch
eindringendes Aktenstudium erweitert sind?
Nirgends ein Beweis für das Vorkommen okkulter Kräfte und noch weniger
ein Beweis für deren nutzbringende Verwertung. Im Gegenteil ungeheuerliche,
in ihrer Tragweite kaum ausdenkbare Gefahren durch Verdächtigung Unschuldiger,
skrupellos heraufbeschworen, aufs Geratewohl, mitunter phantastisch zugestutzt.
Trotz alledem erklärt Verf. ruhig, dass vielleicht noch die Möglichkeit
hellseherischer Kräfte erbracht werden kann, ein mustergültiges Vorbild von Ob
jektivitäl, das nachzuahmen man nur den okkultistischen Phantasten dringend
empfehlen kann. Es wäre zu wünschen, dass das Buch zu diesem Endziele
weiteste Verbreitung fände. Placzek, Berlin.
S. Ferenczi und Otto Rank: „Entwicklungsziele der Psychoanalyse.“
Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis. Internat. psychoanalyt. Verlag,
Leipzig- Wien- Zürich.
Seltsam, höchst seltsam, wie es selbst in den Köpfen der ‚unentwegten‘
Freudianer zu dämmern beginnt. ‚„Fehlentwicklungen‘‘ werden freimütig be-
kannt. So wird offen zugestanden, dass die Methodik, die sich in der
Regel auf das Anhören, resp. die breite Schilderung von Symptomen oder
perversen Regungen beschränkte, nicht wesentlich therapeutisch wirke. Da
wird das Sammeln von Assoziationen eine missverständliche Art der Analyse
genannt. Da wird von „einem weniger harmlosen Deutungsfanatismus' ge
sprochen, die Symptomanalyse als längst überholt bezeichnet, das Wort Kom.
Dez — man staunel — ‚beinahe nichtssagend‘ gewertet, ein unbrauchbar
gewordenes Rudiment aus früherer Zeit! Was wird sein Entdecker Jung
dazu sagen? Oder soll auch er abgeschüttelt werden? Man höre: „die Komplex-
analyse verleitet den Patienten leicht dazu, seinem Analytiker angenehm zu
sein. „So kamen Krankengeschichten zustande, in denen die Patienten Erinne-
rungen erzählen, offenbar erdichten.‘‘ Wenn das ein Nicht-Freudianer gesagt
hättel Als extremes Beispiel für die Subjektivität solcher Komplexvorlieben
wird Stekel zitiert und ihm nachgesagt, dass er „dieselben neurotischen
Symptome zuerst auf Sexualität, dann auf Kriminalität, endlich auf Religiosität
zurückführte.‘“ Das ist hart und lieblos gegen einen Freudschüler ersten
Ranges, wenn auch eines später boykottierten, zumal wenn der Vorwurf in dem
Satz ausklingt: „Er mag ja, da er alles Mögliche behauptet hatte, auch mit
manchen seiner Einzelbehauptungen recht behalten.‘ Man höre und staune aber
über das folgende erfreuliche Selbstbekenntnis: „Besonders häufig geschah
es, dass Jdie Assoziationen des Patienten unzeitgemäss aufs Sexuelle hingelenkt
oder er dabei belassen wurde, wenn — wie so häufig — mit der Erwartung
in die Analyse kam, dass er fortwährend nur von seinem aktuellen oder infan-
tilen Sexualleben zu erzählen habe.“ Als „verhängnisvoller Irrtum‘ wird es
bezeichnet. dass man niemand vollständig analysiert glaubte, der nicht auch
theoretisch in alle Einzelheiten der eigenen Abnormität eingeweiht wurde. Wie
seltsam klingt es. dass man anfänglich in jedem Neurosenfalle ausnahmslos
sexuelle Traumen der Kinderzeit entdeckte, sich nun aber überzeugte, dass
19] Kritiken. 203
manches so entdeckte Trauma unmöglich vorgekommen sein konnte. Also
alles, wie Ref. schon vor Jahren behauptete. Endlich kommt herzerfrischend
ein Bekenntnis, dass in der Analyse keineswegs das blosse Finden eines Fehlers
(in der Entwicklung) zugleich therapeutische Wirkung bedinge. Einen begreif-
lichen, aber verhängnisvollen Irrtum nennen es die Autoren. `
Diese Blütenlese selbst zugestandener Irrtümer sagt genug, muss als
erfreuliche Selbstkritik bezeichnet werden. Jedenfalls wird der Leser der Schrift
erkennen, dass ein grosser Teil der früher unumgänglichen Forderungen für
eine wirksame Analyse fallen gelassen wurde und nur Reste übrig bleiben, die
jetzt noch als Grundpfeiler anerkannt werden. Ob sie auch in Zukunft bestehen
bleiben werden ?? Placzek, Berlin.
Alexander Moszkowski: „Der Venuspark“. Fantasien über Liebe und
Philosophie. Fontane & Co., Berlin 1923.
Ein Naturwunder dieser schöpferische Geist, der mit jedem neu zurück-
gelegten Jahre eine gesteigerte geistige Spannkraft und Produktivität erweist.
Immer fesselnder, immer eigenartiger werden seine Problemstellungen und er-
reichen im vorliegenden Buche eine Höhe wie noch nie zuvor. Wie fesselnd
schon der seltsame Gedanke, den Begriff der Zeit zugunsten einer zeitlosen
Ewigkeit auszulöschen und die Gegenwartsmenschen von der Überzeugung zu
erfüllen, dass sie schon in grauer Vorzeit als Wesensverwandte über die Erde
wandelten und in neuer Gestaltung wieder auferstanden — und nan von den
Denkern der Antike die Mysterien der Liebe unter Beherrschung der wissen-
schaftlichen Erkenntnis bis in die Neuzeit tiefgründig erörtern zu lassen! Im
Mittelpunkt der Erzählung steht die Gottheit Venus Urania, ihr zunächst der
Liebeshof der berühmten Hetäre Lais, und hier tauchen sie alle auf, die be-
rühmten Griechen, und halten Zwiesprache, seelenwandlerisch schon erfüllt von
allem Wissenswerten früherer und späterer Zeit. Staunend, bewundernd sieht
Ref. wieder einmal das ungeheure Wissen des Verf. auf philosophischem, mathe-
matischem Gebiete und sogar auf dem ihm so fernliegenden Gebiete sexual-
wissenschaftlicher Probleme, staunend auch, wie Verf. dieses Wissen mit
souveräner Selbstverständlichkeit beherrscht und zu scharfsinnigster Kritik
wertet. Nicht verwunderlich, dass gar manches Rätsel der Sexualprobleme von
diesem scharfsinnigen Denker neu gesehen und eigenartig erhellt wird, ein
Ansporn mehr für jeden sexualwissenschaftlich interessierten Arzt, sich in das
Werk zu vertiefen, das sein Verfasser so bescheiden nur als „Fantasien“ kenn-
zeichnet. Den Einzelheiten des Werkes auch nur andeutungsweise kritisch
nachzugehen, so lockend es auch wäre, verbietet leider der zur Verfügung
stehende Raum. Placzek, Berlin.
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, mit besonderer Berück-
sichtigung der Homosexualität. Herausgegeben im Namen des wissen-
schaftlich-humanitären Komitee von Magnus Hirschfeld. 23. Jahrgang.
246 Seiten. Verlag von Julius Pültmann, Stuttgart 1923.
Der 23. Jahrgang des Jahrbuches für sexuelle Zwischen-
stufen bringt zunächst aus der Feder des Herausgebers Magnus Hirsch-
feld, eine grössere Arbeit unter dem Titel „die intersexuelle Konsti-
tution“. Sein Zwischenstufensystem, das er als ein Ördnungsprinzip, nicht
als eine Theorie aufgefasst wissen möchte, begreift zwischen den beiden Polen
der Variationsreihe, nämlich zwischen der Homosexualität und der Hetero-
sexualität, die Zwischenformen des Transvestitismus, der Bisexualität und des
Metatropismus auf der seelischen Linie, der Androgynie, des Pseudohermaphrodi-
tismus und des Hermaphroditisınus auf der morphologischen Linie Wenn
Hirschfeld sein Schema mit der Konstitutionslehre und mit den Ergebnissen
der Inkretionsforschung in Beziehung bringt, erhebt er es nun eben doch zur
Dignität einer Theorie, was den heuristischen Wert der Angelegenheit ja nur
erhöht. aber eine gründliche Diskussion notwendig macht.
14*
`
204 Kritiken. [20
Belangreich sind auch die eingehenden Bemerkungen über Bisexualität
und über eine Sonderform der Homoerotik, den von ihm sogenannten Erotypus
(supervirile Ephebophile).
Arthur Weil berichtet über neueste Ergebnisse auf dem Gebiete der
experimentellen Geschlechtsbestimmung („Geschlechtsbestimmung und
Intersexualität‘). Er geht ein auf Zawadowskys Kastrationsver-
versuche an Hühnervögeln und an Antilopen, die zu dem Ergebnis führten, dass
bei Hühnervögeln das weibliche Geschlecht heterozygotisch, das männliche homo-
zygotisch ist, wogegen bei Antilopen die Verhältnisse umgekehrt liegen. Weil
überträgt dann Zawadowskys Ergebnisse und Thesen auf das Gebiet der
Erforschung der menschlichen Intersexe und stellt eine Reihe von Arbeits-
hypothesen auf.
An Hand dreier ausführlich geschilderter Fälle beschreibt Arthur
Kronfeld einen bestimmten Typus metatropischer Frauen,
die alle eine besondere Form sexualer Antinomik erleben. Sie alle leiden an
einem praktisch unlösbaren Problem ihrer Sexualität, an der Unvereinbarkeit
des Weiblichen und des Unweiblichen ihrer Doppelseele. „Die Weiblichkeit in
ihrem Wesen lässt den Vollzug metatropischer Aggressionen in der Wirklichkeit
nicht zu; die metatropische Eigenart aber verhindert diese Frauen an der Er-
füllung erotisch-sexuellen Wunscherlebens.‘
In seiner „der Pathicus‘ überschriebenen Abhandlung zergliedert
Michaelvon Muromzeff die Seelenart des passiven Homosexuellen. Mit
Recht deckt er die masochistischen Wünsche des pathischen Empfindens auf,
vergisst aber die dabei wesentliche narzissistische Komponente, den Selbstgenuss.
Als solcher und nicht als altruistischer Opfergedanke ist die pathische Selbst-
'hingabe in den meisten Fällen zu verstehen. Dies geht denn auch aus des Ver-
fassers Auffassung des pathischen Sexualerlebens als eines sublimierten Maso-
chismus hervor: das wesentliche ist das Bewusstsein des Pathikus, der sexuellen
Befriedigung seines Partners zu dienen, und der Lustgewinn, den er aus diesem
Bewusstsein zieht.
Die sehr originelle Arbeit gibt vielerlei Hilfen für die Einfühlung in
passiv-homosexuelle Seelenartung und in die den pathischen Prostituierten be-
herrschenden Empfindungen, welche aber auch beim metatropischen Mann hetero-
sexueller Richtung vielfach realisiert sein mögen.
Die von Muromzeff geförderten Einsichten erweisen die Notwendigkeit,
für die verschiedenen Formen pathischen Empfindens, unter denen der Maso-
chismus ja nur die seltenste und gröbste darstellt, einen neuen generellen Namen
zu prägen. Auch der Sadismus ist ja in Wahrheit lediglich eingefühltes patbisches
Empfinden, eine Art von Identifikationsvorgang.
In einem „offenen Brief an den Herausgeber der Jahr-
bücher über Louise Michel“ verteidigt die amerikanische Freiheits-
kämpferin Emma Goldmann ihre verstorbene Freundin, die Barrikadenheldin
Louise Michel gegen die von v. Levetzow ihr angemutete homo-
sexuelle Empfindungsart. Die auf blosse Indizien gestützte Diagnose v. Levet-
zows bekämpft Emma Goldmann ihrerseits mit Indizien und vermag
so das Problem nicht zur Lösung zu bringen.
In einer kurzen Skizze betitelt: Franz von Holstein und Hein-
rich Bulthaupt, gibt Dr. Richard Meienreis eine kurze Lebens-
beschreibung der beiden miteinander bekannten Künstler, die beide homosexuell
waren.
In einer langen und reich dokumentierten Abhandlung: die Rolle der
HomoerotikimArabertum, spricht Prof. Dr. Karsch von der starken
Verbreitung homoerotischer Empfindungsweise und homosexueller Betätigung
unter den Arabern, und von der Freiheit und der unbedenklichen Wahrhaftigkeit,
mit der in diesem Volke das Thema der Homosexualität in Schrifttum und täg-
lichem Leben von jeher behandelt wurde. 'Ein bedeutsamer Beitrag zur Geschichte
des Geschlechtslebens der Völker. Walter Wolf, Berlin.
21] Kritiken. 205
O. F. Scheuer: Friedrich Nietzsche als Student. 79 S. 8°. Albert Ahn,
Verlagsbuchhandlung, Bonn 1923.
Mit Benutzung der zahlreichen Literatur und unter mehrfachen Berichti-
gungen seiner Vorgänger gibt der Verf. anscheinend völlig genaue Nachricht
über Nietzsches Leben auf Schule ‘und Universität. In Bonn war er einige
Zeit Farbenstudent und hatte auch eine Mensur — eigentlich ganz ohne Anlass.
Trotz starker Kurzsichtigkeit drängte er auf Ableistung seines militärischen
Dienstjahres. Er musste aber nach 5 Monaten wegen eines schweren Unfalls ent-
lassen werden. Ohne noch promoviert zu haben wurde er 1869 (geb. 1844) auf
Empfehlung von Ritschl als Professor nach Basel berufen. „Muss selber
nun Philister sein‘ schrieb er seinem Freunde v. Gersdorff.
K. Bruchmann.
Briefe Schleiermachers, ausgewählt und eingeleitet von Hermann
Mulert. Propylaen-Verlag, Berlin 1923.
Wer sich mit der Persönlichkeit Schleiermachers, den man wohl als
den grössten deutschen Theologen seit Luther bezeichnen darf, befasst hat, dem
werden diese Briefe eine willkommene Ergänzung und Gelegenheit sein, das
hohe Menschentum dieses Mannes zu erkennen. Unter diesem Gesichtspunkt ist
die Auswahl der Briefe getroffen. Der grösste Teil ist an Frauen gerichtet, deren
Umgang in seinem Leben von besonderer Bedeutung gewesen ist. Damals war wie
heute vieles ins Wanken gekommen von Herkommen und Überlieferung in Wissen-
schaft und Leben. Schleiermacher gehört zu den Baumeistern der neuen
Zeit. Angefeindet und verfolgt und vieler Früchte beraubt. Besonders bemerkens-
wert sind die Briefe an Eleonore Grunow, Henriette Herz, Rahel
Levin. Seine tiefe Neigung zur erstern und seine Freundschaft zu den beiden
anderen zeigen den Mut und die Selbstsicherheit eines Mannes, welcher das
Gesetz seines Handelns in sich selber trägt. Wie wenige Werke gewährt diese
Briefsammlung einen Einblick in die geistige Struktur der Zeit im Anfange des
19. Jahrhunderts. Aus ihr darf die Gegenwart Hoffnung und Mut schöpfen zu
Erhebung und neuer Entwicklung. | Max Hirsch, Berlin.
Marta Marquardt: Paul Ehrlich als Mensch und Arbeiter. Deutsche
Verlagsanstalt, Stuttgart 1924.
In der von Richard Koch geschriebenen Vorrede wird Ehrlich der
erste Nachfahre des grossen Parazelsus genannt, insofern er von dem Wunsche
und Streben nach spezifischen Heilmitteln erfüllt ist. In diesem Suchen aus
dem Innern der Natur heraus, unabhängig von Zufall und Forscherglück unter-
scheidet er sich von Pasteur, Koch und Behring, die ihm im Gegen-
ständlichen so verwandt sind. Die pietätvollen Aufzeichnungen der Verfasserin,
welche 13 Jahre seine Helferin gewesen ist, geben ein lebensvolles Bild des
Menschen mit vielen persönlichen Zügen anscheinend kleiner, aber doch
scharf kennzeichnender Art. Es zeigt besonders den Menschen in seiner genialen
Einseitigkeit, die von ihm mit voller Bewusstheit immer weiter getrieben wird.
So wird es zugleich ein wertvoller Beitrag zur Psychologie des genialen Schaffens.
Max Hirsch, Berlin.
Max Brod: Leben mit einer Göttin. Verlag von Kurt Wolf, München.
Hier rollt sich das Drama des Eifersuchtswahns ab, dessen psychologische
Höhen und Tiefen dem Psychiater wertvolle Einblicke eröffnen. Göttin wird
der Gegenstand der Liebe genannt, weil seine Seelenlage dem Verständnis des
Liebenden, der durch sie zum Verbrecher wird, unerreichbar entrückt ist.
Der Wechsel ihrer Stimmung erfolgt wie nach einem Naturgesetz, das noch un-
ergründet ist. So kommt er zu dem Schluss: „Frauen reden nur scheinbar
dieselbe Sprache wie wir‘ und ‚ist es ein Widerspruch, dass das Meer heute
stürmt und morgen klar und blau daliegt?' Aber diese Erkenntnis kommt nach
der Tat. ‚Misstrauen ohne Beweis, das ist Eifersucht.‘ „Mit allen Krankheiten
kann man leben, nur mit erkranktem Vertrauen nicht.‘ Der Roman schüttet ein
Füllhorn seelenkundlicher Erkenntnisse aus. Max Hirsch, Berlin.
Verhandlungen
der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Konstitutionsforschung.
Sitzung vom 17. Januar 1924.
1. Generalversammlung. Der Schriftführer erstattet den Jahresbericht,
der Kassierer den Kassenbericht. Der Vorsitzende gibt bekannt, dass der Preis
der ärztlichen Gesellschaft für die beste Bearbeitung des Themas: Sprechen
anatomische Merkmale für das Angeborensein der Homosexualität? der unter
dem Kennwort „Konstitution“ eingegangenen Bearbeitung zuteil geworden ist.
Verfasser ist Dr. Arthur Weyl zur Zeit New York. Die Arbeit ist im
Archiv für Frauenkunde veröffentlicht Bd. X, H. 1. ;
Bei den Neuwahlen des Vorstandes werden gewählt: 1. Vorsitzender Herr
Posner, stellvertretende Vorsitzende die Herren Brugsch, Max Hirsch,
Westenhöfer, Schriftführer die Herren Kronfeld und Schuster,
Kassierer Herr O. Adler, Beisitzer die Herren Kraus, Bumm, Lepp-
mann, L. Pulvermacher, Körber. Durch Kooptation ferner Herr
Peritz.
Es wird einstimmig beschlossen, Herrn Kraus zum Ehrenmitgliede der
Gesellschaft zu ernennen.
Wissenschaftlicher Teil: Herr Posner, Die Naturphilosophie als Vor-
läuferin der Sexualwissenschaft und Konstitutionsforschung. (Im Original
gedruckt in Bd. X. Heft 2 dieses Archivs.)
Aussprache:
Herr Julius Schuster. Die Beziehungen der deutschen Naturphilo-
sophen zu den Griechen sind auch für die Geschichte des Konstitutionsproblems
bedeutsam. Schon Galen betont in der „Kleinen Kunst‘, dass es ausser dem
Gesunden und Kranken etwas gibt, was weder gesund noch krank ist. Die
Krankheiten werden bezogen auf drei Dinge: Körper, Ursache und Symptom.
Wenn ein Organismus nur unter gesunden Zuständen lebte, brauchte man
weder Mediziner noch Medizin. Wenn cine Ursache sich geändert hat, ist der
Arzt da: damit fängt die Behandlung an. Bei dem Bau des Schädels können
nach Galen Teile konstitutionell bestimmt sein, so die protuberantia occipitalis.
Das historische Verdienst der deutschen Naturphilosophie ist es, das innere
Leben des toten Gerippes der Morphologie, vor dem sie stand, erforscht zu
haben. Dabei fiel auch Licht auf das sexuale Problem. Oken sagt: „Wer in
der organischen Welt das Geschlecht leugnet, begreift das Rätsel der Welt nicht.“
Der von Goethe gefundene Begriff der Metamorphose leuchtete tief hinein in
Probleme der Konstitution und des Geschlechts, wie die von mir im Turm der
Bibliothek zu Weimar entdeckten Goetheschen Öriginalzeichnungen zur Meta-
morphose der Pflanze beweisen (erschienen bei W. Junk 1924). Den Begriff
der Metamorphose hat der naturphilosophische Mediziner Karl Friedrich
Burdach auf die Geschlechter übertragen und wurde 1814 durch seine Schrift
„Die Metamorphose der Geschlechter oder Entwicklung der Bildungsstufen, durch
2] Verhandlungen. 207
welche beide Geschlechter ineinander übergehen‘ zum Vorläufer der Zwischen-
stufen-Theorie.
Möchten recht viele aus der historischen Betrachtung das Gefühl geschöpft
haben, mit der Erweiterung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft zur Konsti-
tutionsforschung eine Tat getan zu haben. Das wäre ganz im Sinne der Vorläufer
und Begründer dieser Wissenschaft: „Des Mannes schönste Feier ist die Tat“
(Goethe).
Herr Kronfeld. Die von Schelling ausgehende spekulative Natur-
philosophie der Romantik befand sich in einer grundsätzlich anderen
denkerischen Einstellung zur Natur als alle empirische Einzelforschung, und war
sich dessen voll bewusst. Sie vollzog, auf intuitiver Begründung, synthetische
Konstruktionen. Anstatt des seit Aristoteles methodisch festgelegten Verfahrens
der Analyse und genetischen Theorie der Naturgegebenheit setzte sie einen
übersteigerten, rein morphologisch verbleibenden, die Kausalbetrachtung ab-
lehnenden Platonismus. Es lassen sich zwar auch gegenwärtig Parallelerschei-
nungen gewisser naturphilosophischer Art hierzu feststellen — weniger geniale,
aber sicherer fundierte als die romantischen: die Gefahr und Willkür dieser
philosophischen Richtungen in ihrer Anwendung auf Natur ist jedoch grösser
als ihr — nie beglaubigter — Gewinn an neuen Gesichtspunkten. Gerade die
Konstitutionsforschung sollte davor behütet bleiben, damit sie nicht in ihren
Methoden Anstoss bei der wirklichen Naturforschung erregt. Was sie
gebraucht, sind neue exakte empirische Arbeitsweisen. Dem widerspricht
nicht, dass phirosophisch die Begriffe Ganzheit, Gestalt, Persönlichkeit,
Konstitution einer analytischen und genetisch-kausalen Bearbeitung niemals ganz
ohne Rest zugänglich sind.
Herr Max Hirsch: Wenn je ein Mensch zum Naturforscher geboren
gewesen ist und dieser natürlichen Berufung zur fruchtbarsten Auswirkung
verholfen hat, so ist es Goethe Das muss — entgegen dem zünftigen
Widerspruch zu seinen Lebzeiten und auch noch heute — immer wieder mu
allem Nachdruck und mit vollem Rechte betont werden. In die Breite und in
die Tiefe geht sein forschender Sinn. Chemie, Physik, Geologie und Mineralogie,
Astronomie und Meterologie, Zoologie und Botanik, Physiologie und Biologie
verdanken ihm wertvolle Anregungen, Erkenntnisse und Entdeckungen. Wäre
hier der Ort dazu, so liesse sich erweisen, dass Goethes naturwissenschaftliches
Denken seinem Zeitalter um 100 Jahren vorausgeeilt ist. Der Entwicklung-
gedanke, die Grundlage aller Naturwissenschaft der Gegenwart, war hell in ihm
aufgegangen. Kein geringerer als Charles Darwin sagt, dass Goethe,
Darwin und St. Hilaire zu gleicher Zeit zu gleichen Ansichten über die Ent-
stehung der Arten gekommen seien.
Auch das, was wir heute Konstitutionsforschung nennen, steht seinem
Gedankenkreise durchaus nahe. In seiner Metamorphose der Pflanzen, welche
erst jetzt durch die Entdeckung neuer Handzeichnungen von Goethe durch
Julius Schuster in ihrer ganzen Bedeutung erkannt werden kann, macht
Goethe auf ein doppeltes Gesetz aufmerksam ‚erstens auf das Gesetz der inneren
Natur, wodurch die Pflanzen konstituiert werden, zweitens auf das Gesetz der
äusseren Umstände, wodurch die Pflanzen modifiziert werden.“ Da haben wir
Wort und Begriff der Konstitution, ihre Begründung in ererbter Keimanlage.
Daneben den Begriff „Modifikation“ im Sinne der modernen Vererbungslehre.
Goethe hat ferner alle seine Bemühungen dem Nachweis des Typischen
gewidmet und hat in seiner Gestaltlehre, die er Morphologie genannt hat, 1795
Grenzen und Arbeitsrichtung dieser neuen Wissenschaft dargelegt. Indem er
nicht nur die Feststellung der Körperformen durch den Anatomen und Anthro-
pologen, sondern auch die Erforschung der inneren Gesetze, auf denen das
Leben der organischen Natur beruht, durch die Mittel der Physik und Chemie
208 Verhandlungen. [3
verlangt, indem er ferner des psycho-physischen Komplexes gedenkt, gibt er
seiner Gestaltlehre einen ganz modernen biologischen Inhalt, der ganz dem ent.
spricht, was die Konstitutionswissenschaft von heute bedeutet.
Herr Posner, Schlusswort. Aus dem Verlaufe der Diskussion könnte
man schliessen, dass ich einen Lobeshymnus auf die Naturphilosophie und den
Vitalismus angestimmt hätte. Beides lag mir selbstverständlich fern — ich
habe mich nur bemüht, unparteiisch aufzuzeigen, wie sich vor einem Jahr-
hundert die Anhänger jener Richtungen mit Fragen abzufinden suchten, die uns
jetzt von Neuem beschäftigen. Auch wer noch so „exakt“ gerichtet ist, wird aus
solchem historischen Rückblick immerhin einigen Stoff zum Nachdenken ent-
nehmen können. Wenn die romantisch gerichteten Ärzte ganz besonders mit dem
Begriff der Lebenskraft gearbeitet haben, so lag dies im Zuge ihrer Zeit. Es
wird sich vielleicht verlohnen, die Entwickelung des Vitalismus zum Neo-
vitalismus, die sich so rasch nicht darlegen geschweige denn beurteilen lässt,
später einmal eingehender zu behandeln.
Herr Kurt Berliner: Die Bedeutung der Hormone in den ver-
schiedenen Lebensaltern des Menschen. (Im Original gedruckt in Bd. A.
Heft 2, dieses Archivs.)
Sitzung vom 21. Februar 1924.
Herr Julius Heller: Die ärztlich wichtigen Rechtsbeziehungen des
ehelichen Geschlechtsverkehrs. (Erscheint als Nr. 7 der Monographien zur
Frauenkunde ım Verlage von Curt Kabitzsch in Leipzig.)
Aussprache:
Herr F. Strassmann: Es wird vielleicht eine nicht unerwünschte Er-
gyänzung des Vortrages des Herrn Heller sein, wenn ich Ihnen berichte, wie
sich die ärztliche Sachverständigentätigkeit in der Praxis der Ehestreitigkeiten
darstellt, welche Fragen hier an uns herantreten und in welcher Häufigkeit.
Ich habe zu diesem Zwecke mein Material aus ‚einem grösseren Zeitraum
zusammengestellt, und zwar habe ich aus technischen Gründen die 11/, Jahr-
zehnte von 1906 bis 1920 gewählt. Freilich habe ich meine Gutachten aus diesen
Jahren nicht vollständig verarbeitet. Es war mir bei der Kürze der Zeit, die
mir zur Verfügung stand, nicht möglich, die psychiatrischen Gutachten in Ehe-
streitigkeiten, die ich innerhalb dieses Zeitraums erstattet habe und die an anderer
Stelle registriert sind, herauszusuchen. Ich kann nur sagen, dass dese Gut
achten ziemlich zahlreich waren. Sie betrafen zu einem Teil die Frage, ob die
Bedingungen der Ehescheidung wegen Geisteskrankheit gegeben sind, zum
andern die, ob die Ehe nichtig sei, weil ein Teil bei der Eheschliessung geistes-
krank und geschäftsunfähig war, oder weil seine geistigen Mängel und seine
krankhafte Anlage dem anderen Teil damals nicht bekannt waren und somit ein
error in persona vorlag, endlich drittens die Frage, ob geistige Defekte oder
vorübergehende Erregungzzustände die Verantwortlichkeit für schwere Ehe-
verfehlungen ausschlossen oder wenigstens so weit herabminderten, dass sie
nicht mehr als schwer anzusehen waren.
Von diesen Fällen abgesehen habe ich 52 andere zusammenstellen können.
Die Zahl ist zu klein, um statistische Schlüsse darauf aufzubauen. Ich will
nur anführen, dass auf die neun Vorkriegsjahre durchschnittlich 22/, Gut-
achten jährlich kamen, auf die 4 Kriegsjahre je 5, auf die 2 Nachkriegsjahre
je 4. Da der mir zugeteilte Bezirk !/, von Gross-Berlin umfasst und da die Ge
richte vielfach andere Sachverständige als die angestellten Gerichtsärzte hören,
schätze ich die Zahl der ärztlichen Gutachten. die in Ehestreitigkeiten innerhalb
Berlins erfordert wurden, etwa auf das Zehnfache meiner Zahlen.
Unter diesen 52 handelte es sich 29 mal um die Geschlechtskrankheit
eines Eheteils, zumeist um Lues (einmal um kongenitale), etwas seltener um
4] Verhandlungen. 209
Gonorrhöe. Entweder wurde unter Behauptung einer solchen Erkrankung, die
schon zur Zeit der Eheschliessung bestanden hat, die Ehe angefochten, einmal
nach 20 Jahren und 4 normalen Geburten: oder es wurde Erkrankung erst in
der Ehe angegeben und darauf die Behauptung des Ehebruches als Schei-
dungsgrund gestützt, oder aber es kamen noch andere Fragen vor: ob ein
Zusammenleben für den anderen Teil gefährdend sei, ob die Kinder (vorhandene
oder zukünftige) gefährdet würden, es wurden Kurkosten beantragt u. dgl.
mehr. In einer erheblichen Zahl von Fällen konnte die Behauptung der Ge-
schlechtskrankheit nicht bestätigt werden. Mehrfach wurde z. B. bei behaupteter
Lues nur eine gewöhnliche Schuppenflechte gefunden. Hier und da ist die
Blutentnahme zur Wassermannschen Reaktion verweigert worden. Eine völlige
Verweigerung der Untersuchung überhaupt kam mir nicht vor.
In 15 weiteren Fällen handelte es sich um geschlechtliche Unfähigkeit des
Mannes, in 5 um solche der Frau. Darunter betrafen 2 Gutachten denselben
Mann in 2 aufeinander folgenden Ehen. Die Unfähigkeit wurde manchmal auf
Geschlechtskrankheiten zurückgeführt, ich habe diese Fälle aber nur unter
dieser Rubrik gezählt. Zumeist wurde wegen solcher Unfähigkeit die Nichtigkeit
der Ehe verlangt. Einmal wurde Scheidung verlangt wegen angeblich in der
Ehe durch Onanie entstandener Impotenz und damit Vorliegens eines unsittlichen
Verhaltens. Bei den Männern wurde zumeist Beischlafsunfähigkeit behauptet,
gelegentlich aber auch Nichtigkeit wegen Zeugungsunfähigkeit bei erhaltener
Beischlafsfähigkeit verlangt und wenn die Behauptung bestätigt wurde, was ein
paarmal durch den Befund der Azoospermie geschah, auch anerkannt. In anderen
Fällen sollte aus der Zeugungsunfähigkeit des Mannes bei stattgehabter Geburt
Ehebruch der Frau erschlossen werden, einmal wurde von den Verwandten des
Mannes, der an Tuberkulose verstorben war, die Illegitimität des 248 Tage
nach seinem Tode geborenen Kindes behauptet, von mir aber als nicht sicher
feststellbar erklärt. In einigen Fällen konnte aus den übereinstimmenden Angaben
der Eheleute die tatsächliche Impotenz des Mannes mit genügender Sicherheit.
bewiesen werden. Als Ursache fanden sich Kriegsneurasthenie, Frigidität auf
dem Boden der Debilität, vorzeitiges Altern. Verhältnismässig oft wurde dabei
Fjaculatio praecox angegeben. Öfter war die Betätigung der behaupteten
Unfähigkeit nicht möglich. In dien 5 Fällen, in denen sich die Klage gegen die
Ehefrau richtete, deren Geschlechtsteile angeblich verkrümmt seien und dergleichen
mehr, war nie eine Abnormität nachweisbar. Hervorzuheben ist vielleicht ein
Fall, in dem behauptet wurde, dass der Frau der Kitzler operativ entfernt
sei und damit das Organ des Lustgefühls und dass dem Manne der dauernde
Verkehr mit einer Frau, der dieses fehlte, nicht zugemutet werden könne. Die
grundsätzliche Frage ist nicht entschieden worden, da die Behauptung jener
Operation sich als aus der Luft gegriffen erwies. Tatsächlich war der Frau der
eine Eierstock vor der Ehe, der andere in der Ehe entfernt worden. Die Be-
hauptung des Mannes, dass bei Eingehung der Ehe schon der andere Eierstock
krank und funktionsunfähig gewesen sei und damit Konzeptionsunfähigkeit
bestanden habe und ein Anfechtungsgrund gegeben sei, wurde vom 1. Operateur
nicht bestätigt.
Nur dreimal bezog sich mein Gutachten auf die Frage der Verweigerung
der ehelichen Pflicht. Der Punkt ist allerdings häufiger in den Prozessen, in
denen ich tätig war, ausgeführt worden, doch ist ihm, soweit ich sehe, weiter
nicht nachgegangen worden, was ja begreiflich ist, da er nicht objektiv und
durch Zeugenaussagen, wie andere Gründe der Ehescheidung und Eheanfechtung
festzustellen ist und auf diese daher mehr Wert gelegt wurde. Einmal wurde
die Verweigerung dem Manne vorgeworfen und durch den objektiven Befund.
der bei der Frau völlige Jungfräulichkeit ergab, unterstützt: zweimal der Frau.
darunter ist einer besonders merkwürdig. Hier klagte der Ehemann gegen seine
74 jährige Frau, mit der er in 43 jähriger Ehe eine Reihe von Kindern erzeugt
hatte, wegen solcher Verweigerung. Die Frau gab sie zu, rechtfertigte sich mit
210 Verhandlungen. [5
Herzleiden und Gebärmuttervorfall. In der Tat bestand bei ihr eine schwere
Arteriosklerose und ein Vorfall von Scheide und Gebärmutter hohen Grades.
Ich erklärte ihre Weigerung für gerechtfertigt. M. H.! Ich bin natürlich der
Meinung, dass das Gericht gut tut, möglichst häufig ärztliche Sachverständige
zuzuziehen, aber in diesem Falle will ich gern zugeben, dass auch ohne mein
Gutachten hätte entschieden werden können.
Herr Otto Adler: Auf zwei Punkte möchte ich eingehen, von denen
Herr Heller den Vaginismus gestreift, den anderen — die geschlecht
liche Empfindungslosigkeitdes Weibes — Herr Strassmann
mit einem Fragezeichen angedeutet hat.
Der Vaginismus gehört nach dem Vortragenden zu denjenigen Störungen
des Geschlechtslebens, welche auf Verlangen des anderen Ehegatten durch
Operation zu beseitigen sind. Im Weigerungsfalle kann die Ehe vom Manne
mit Vorteil angefochten werden.
Ich möchte vor dieser Verallgemeinerung des Operationszwanges bei
Vaginismus dringend warnen! Der Vaginismus ist nur in einem kleinen
— vielleichtdemkleinstenTeilaller Fälle — ein operativ zugängliches
Leiden. Gewiss sind Hymenalreste, zuweilen auch innere Verwachsungen aus-
lösende Krampfmomente. Aber nur in diesen Fällen heilen Messer und
Narkose, in allen anderen — der überwiegenden Zahl! — nützt die Operation
nichts, sondern sie kann neuen erheblichen Schaden hinzufügen! Der Vagi-
nismus ist ähnlich wie der epileptische Krampf ein psychisches Leiden
und wie man bei der Epilepsie nur die verhältnismässig seltenen lokalen
Formen (Jackson) operiert, so sollte man auch beim Vaginismus
zurückhaltend sein. Ein Operationszwang bei drohender Eheauflösung dürfte
oft genug ein ärztlicher und juristischer Doppelfehler sein!
Die andere interessante Frage: Wie urteilt der Richter über die Ehe mit
einer geschlechtskalten Frau? hat der Vortragende nicht berührt,
dagegen warf Herr Strassmann diese Frage bei seinem Falle von vor-
geschobener Klitoris-Exzision auf.
Der „kalten Frau“ habe ich in meiner Monographie über diesen Gegen.
stand ein eigenes juristisches Kapitel gewidmet !). Ich bin dabei zu folgender
Schlussfolgerung gekommen:
„Es dürfte sich meiner Meinung nach nicht leicht ein Richterkollegium
finden, welches auf die mangelhafte Empfindung der Frau hin dem Manne
allein das Recht zuspräche, die Ehe anzufeinden. Gewiss! es liegt für ein
empfindsames, sensibles und höherstehendes Geschlechtsbedürfnis des Mannes
sicherlich ein Manko, ein .Irrtum über eine persönliche Eigenschaft des
anderen Ehegatten“ (8 1333 BGB.) vor. Der Betreffende wäre bei vor-
heriger „Kenntnis der Sachlage‘ diese Ehe sicherlich nicht eingegangen.
Trotzdem wird diese feine Nuancierung der Auffassung des Geschlechts-
verkehrs schwerlich in einem richterlichen Urteil als Stütze der Anfechtung
figurieren. Solange die rein mechanischen Verhältnisse für einen normalen
Koitus bei beiden Teilen vorhanden sind, wenn womöglich Kinder dieser Ehe
existieren, dürften vermutlich die feinen Seelenschwingungen einer unbe-
friedigten Sexualität des Mannes als „nebensächlich“ ad acta gelegt
werden. — — —
Dies waren die Ausführungen der letzten (II. Auflage der vorgenannten
Monographie. Inzwischen haben sich die schüchternen Hoffnungen auf ein
„feiner nuanciertes“ Urteil verwirklicht. Ich bin in der Lage für die neue im
Druck befindliche IV. Auflage folgendes Urteil des Düsseldorfer Landgerichts
anzuführen: |
1) Dr. Otto Adler, Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes.
Verlag H. Kornfeld, Berlin. 4. Auflage im Druck.
6] Verhandlungen. 211
Entscheidungsgründe.
„Die auf § 1333 BGB. gestūtzte Klage ist begründet. Nach den
Bekundungen der Sachverständigen Dr. X. und Dr. Y. leidet die Beklagte
an sexueller Hysterie. Sie ist zwar normal gebaut und eine Beiwohnung
ist möglich, ihr Scheideneingang ist aber sehr eng, so daß ein Mutterspiegel
kaum eingeführt werden kann. Sie gibt auch an, dass der verstorbene
Frauenarzt Dr. Z. durch häufige Eingriffe versucht hat, den Scheideneingang
zu weiten, um den geschlechtlichen Verkehr zu ermöglichen. Bei Berührung
der Genitalien ist sie äusserst empfindlich, die Gebärmutter und die Eier-
stöcke sind nicht ganz voll entwickelt (?) und selbst bei schonender tmanueller
Untersuchung schmerzhaft. Es besteht bei ihr eine Abneigung gegen den
normalen Geschlechtsverkehr, die sich bis zum Ekel steigert. Dagegen
empfindet sie weder Libido noch Voluptas. Nach jeder geschlechtlichen Be-
rührung tritt eine starke nervöse Abspannung bei ihr ein.
Ob dieBeklagtenach diesem Befunde beiwohnungs
fähig ist, kann dahingestellt bleiben, jedenfalls leidet
sie an einer geschlechtlichen Empfindungslosigkeit
gegenüber dem Kläger, die diesen berechtigt, wegen
Irrtums über diese persönliche Eigenschaft der Be-
klagten die Ehe anzufechten, da anzunehmen ist, dass
ihm diese Eigenschaft bei Kenntnis der Sachlage und
bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von
deren Eingehung abgehalten haben würde (vgl. Entsch. d.
RG. im Recht 1915 Nr. 2290 u. 2291). —
Der vorliegende Fall gibt kein ganz reines Bild der idiopathischen Empfin-
dungslosigkeit. Einige Schlagworte des ärztlichen Gutachtens: ‚Hysterie‘, „Ekel“,
der „enge Scheideneingang‘‘, „die nicht voll entwickelten Eierstöcke und Gebär-
mutter“, „die Empfindlichkeit bei Berührung der Genitalien“ (Vaginismus ?)
werden ihren suggestiven Einfluss auf das Urteil kaum verfehlt haben. Immerhin
erhebt sich das Urteil am Schlusse vollkommen selbstlos darüber hinaus und
stellt „die geschlechtliche Empfindungslosigkeit dem
Kläger gegenüber“ als eigentlichen Entscheidungsgrund klar und unein-
geschränkt hin.
Das Urteil ist nur ein erstinstanzliches — es fehlt ihm noch die Sanktion
durch das Reichsgericht. Die Zahl der „frigiden‘‘ Frauen ist so übergross, dass
es nicht schwer fallen sollte, eine Ehe-Anfechtung aus diesem Grunde einmal
vor das höchste Gericht zu bringen.
Herr Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg betont, dass er mit dem Vor-
tragenden dahin übereinstimme, dass die Berufsrichter sich mit der grössten
Sorgfalt und Liebe in die Psychologie der Eheprobleme vertieft hätten, und dass
er der Anerkennung des Vortragenden, dass die Richter nicht weltfremd diesen:
Problem gegenüberstünden, durchaus zustimmen müsse. Der Vortrag des
Vortragenden zeige aber auch, wie alles noch im Fluss sei, und wie dringend
wünschenswert es erscheine, dass die Rechtsprechung Gelegenheit habe, zu den
neu auftauchenden Problemen Stellung zu nehmen, insbesondere die Fortschritte
der Wissenschaft und Psychologie bei der Auslegung des Rechts zur Anwendung
zu bringen. Unter diesen Umständen erscheine es besonders bedauerlich, dass
durch die neue Verordnung die Revisionstätigkeit in Ehescheidungssachen eine
so erhebliche Einschränkung erfahren habe, dass an eine weitere Fortbildung
des Ehescheidungsrechts durch eine höchstrichterliche Rechtsprechung nicht
gedacht werden könne.
212 Mitteilungen. Ä [1
Mitteilungen.
Aufforderung.
Die ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Konstitutionsforschung
hat in der Vorstandssitzung vom 6. Dezember 1923 auf Anregung des damaligen
Vorsitzenden Max Hirsch beschlossen, den Lebensschicksalen der Eunuchoiden
nachzugehen, über welche nur wenig bekannt ist, und zu diesem Zweck eine
Sammelforschung zu veranstalten.
Sie richtet an alle, welche Material besitzen oder beschaffen können, die Bitte
um Mitarbeit wie folgt:
Sehr geehrter Herr Kollege!
Im Auftrage der „Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Konstitutions-
forschung“ wenden sich die Unterzeichneten an Sie mit der höflichen Bitte, bei-
liegenden Fragebogen freundlichst ausfüllen zu wollen. Es handelt sich um eine
Rundfrage, die sich mit der Lebenskurve, dem sozialen und psychischen Ver-
halten der Eunuchoiden und ihrem katamnestischen Ergehen statistisch beschäftigt.
Die Gesellschaft wäre Ihnen bei der grossen Bedeutung des Problems für die
Konstitutionsforschung für eine Beantwortung der Fragen dankbar. Falls es Ihnen
zu grosse Mühe bereiten sollte, die Krankengeschichten im Hinblick auf die zu
beantwortenden Punkte durchzusehen, so würden die Unterzeichneten gern bereit
sein, die Fragebogen nach eingesandten Krankenblättern selbst auszufüllen. Dass
Ihre Fälle nicht etwa durch diese Sammelforschung Ihrer eigenen Bearbeitung und
Veröffentlichung vorweg genommen werden, und dass auch bei einer statistischen
Veröffentlichung Ihre gütige Unterstützung dankbar erwähnt werden wird, bedarf
keiner Versicherung.
Das Ergebnis der Sammelforschung soll im Archiv für Frauenkunde und
Konstitutionsforschung veröffentlicht werden.
Einsendungen ausgefüllter Fragebogen, einschlägiger Krankengeschichten —
— letztere zur Einsichtnahme für kurze Zeit — werden erbeten an die zweite
med. Klinik der Charite, Berlin N, z. H. von Prof. Dr. Peritz.
Wir hoffen auf Ihre Mitarbeit und zeichnen
Mit kollegialer Hochachtung
Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft
und Konstitutionsforschung in Berlin.
i. A.: der Vorstand.
Begriffserklärung.
Der Eunuchoidismus ist eine angeborene Entwickelungsstörung, als deren
wichtigstes Symptom die Aplasie bzw. Hypoplasie der Genitalien anzusehen ist.
Der Penis ist besonders klein, der Hoden erbsen- bis bohnengross oder gar nicht
palpabel, das Skrotum ziemlich verkümmert. Ferner fehlen als Zeichen der
mangelnden Geschlechtsreife die sekundären Geschlechtsmerkmale (mangelnde Be
haarung, Kastratenstimme).
Körperlich sind 2 Typen zu unterscheiden:
1. Dereunuchoide Fettwuchs: Charakteristische Form und Lokalisation
des Fettansatzes (Obere Augenlider, Mammae, Unterbauchgegend, Cristae iliacae,
Nates). Eine mässige Skelettdisproportion ist vorhanden.
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Aus der Frauenklinik der Universität Halle a. S. (Direktor: Geh.
Med.-Rat Prof. Sellheim).
Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“.
Von
Hugo Sellheim.
Mit 8 Abbildungen im Text.
Nachdem ich bei einer Frau den Beweis habe führen können,
dass es sich bei ihr um einen an den absoluten Kastraten heran-
reichenden „Kastratoidısmus“ mit höchstens einem Minimum von
Eierstocksfunktion handelt, halte ich mich für verpflichtet, dieses
Krankheitsbild, nach dem man ausweislich der Klagen in der Literatur
so lange vergeblich gesucht hat, dem Kreise der engeren Fachgenossen
vorzuführen. 1
Bei einem 21jährigen Mädchen fiel den Eltern vor zwei Jahren ein Hinken
auf. Seit der Zeit bestehen Klagen über Schmerzen, die von der linken Hüfte
nach dem Knie hin ausstrahlen. Die Beschwerden machen sich namentlich beim
stärkeren Gebrauch der Beine geltend und verschwinden mit der Ruhe.
Ein Vierteljahr später traten dieselben Erscheinungen in der rechten Hüfte
auf. Der Gang wurde watschelnd.. Während die Beugung der Beine im Hüft-
gelenk frei war, wies die Abduktion sowie die Rotation eine starke Behinderung
auf. Anamnese und Untersuchung liessen die gewöhnlichen Formen der Hüft-
gelenkserkrankung ausschliessen.
Röntgenologisch wies das Skelettsystem eine gewisse Kalkarmut auf,
wodurch die Knochenstruktur, besonders die Bälkchenzeichnung, deutlicher ins
Auge springt.
Die Mehızabl der Epiphysenfugen ist sehr gut erhalten (Abb. 1).
Am unteren Ende von Radius und Ulna erwies sich neben der strichförmigen,
etwas unregelmässigen Aufhellung an der Epiphysenlinie der Knochen kalkreicher.
1) Auswertung des Falles inbezug auf die Ätiologie der dabei gleichzeitig
vorhandenen Osteochondritis juvenilis hat in der Zeitschrift für Chirurgie bereits
stattgefunden. — Vgl. Lieschied und Sellheim, Osteochondritis und endokrine
Störung. Deutsche Zeitschr. f. Chirurg. 185. Bd.
Arehiv für Frauenkunde. Bd. X. H.3. 15
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3] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid‘“. 217
Beiderseits besteht Coxa-vara-Bildung. Links ist der Befund ähnlich wie
rechts.
Der Beginn, die Symptome und der besonders an beiden Hüftgelenken er-
hobene Röntgenbefund sind so charakteristisch, dass von chirurgischer Seite an
der Diagnose „Osteochondritis deformans coxae juveniles duplex“
— ein von Perthes im Jahre 1910 gewählter Name — nicht gezweifelt
werden kann.
Die Skeletterkrankung besteht in ciner hochgradigen Störung des normalen
Knorpelknochenbaues.
In der Ätiologie spricht man von einem angeborenen Zustand mit Störung
dor Knochenkernbildung, Ernäbrungsstörung, Entwicklungsstörung des Skeletts,
Trauma, Rachitis, Tuberkulose, Lues, bakterieller Schädigungen, statischen Ein-
flüssen oder einer Kombination von allen möglichen Ursachen. Auch wurden
daneben Störung der inneren Sekretion, z. B. Hypothyreoidismus gelegentlich
beobachtet !); Störung der Keimdrüsentätigkeit wird erwähnt.
Neuerdings werden ausser der Osteochondritis deformans coxae juvenilis
in der Literatur auch Lokalisation an anderen Körperstellen, z. B. am Fusse
beschrieben. Das Wesentliche der Erkrankungsform igt, dass sie die Stellen des
Skeletts befällt, die noch wachsen, und dass der dort vorhandene Knorpel in
seiner Verknöcherungstendenz geschwächt ist, also, was für die
weitere Behandlung des Themas wichtig ist, eine sigenarlige Ossifikations-
schwäche des Knorpels.
Der vorliegende Fall bot nicht nur wegen der multiplen Osteo-
chondritis chirurgisches Interesse. Es handelt sich auf den ersten
Blick um eine schwere Störung der inneren Sekretion der
Ovarien.
Um den Fall richtig zu beurteilen und einzureihen, schicke ich
eine kurze Bemerkung über die Charakterisierung der Eier-
stocksstörungen und ihre Nomenklatur voraus.
Unter Kastraten versteht man männliche und weibliche Individuen, bei
welchen die von Haus aus gut angelegten Keimdrüsen früher oder später, also
frühestens unmittelbar nach der Geburt, zerstört oder entfernt wurden. Eunuchen
sind männliche Personen, bei welchen neben der Kastration auch noch gleich-
zeitig eine Ablatio penis stattfand. Wegen dieser gründlicheren Ausrottung ihrer
Sexualfunktion werden die Eunuchen in ihrer Verwendungsweise als Harems-
wächter den nichts als Kastraten vorgezogen.
Ausser diesen künstlich radikal verschnittenen Personen gibt es auch noch
solche, bei welchen eine mehr oder weniger ausgesprochene Unterentwicklung
der Keimdrüsen vorliegt. Da sie in den Folgeerscheinungen den Eunuchen ähn-
lich sehen, hat man sie als Eunuchoide bezeichnet. Da aber das wesentliche
Vergleichsmoment nicht das Fehlen des Penis ist, das den Eunuchen auszeichnet,
sondern die Verkümmerung der Keimdrüse, ausserdem der Zustand bei Mann
und Frau vorkommt, ist die Bezeichnung Eunuchoid wohl nicht gut gewählt und
besser durch das Wort „Kastratoid“ zu ersetzen.
Ob es neben den Kastratoiden mit angeborener Unterentwick-
lung und dementsprechend mangelhafter Funktion ibrer Keimdrüsen
1) Ausführlicher Literaturbericht bei Lieschied und Selllieim l. c.
15*
218 Hugo Sellheim [4
auch noch angeborenen vollkommenen Defekt beider Keimdrüsen gibt,
ist bis heute zweifelhaft geblieben.
Tandler und Grosz!) welche sich mit dem Gegenstand ein-
gehend beschäftigt haben, kommen wenigstens zu dem Schluss, dass
die in der Literatur beschriebenen Fälle von angeborenem beider-
seitigem Fehlen der Testikel („Anorchie“) einer wissenschaftlichen
Kritik nicht stand halten.
Ein angeborener Mangel beider Eierstöcke wird nur für lebens-
unfähige Missgeburten zugegeben, kommt also für die Beobachtung
am lebenden Menschen auch nicht in Betracht.
Über die Wirkung von Frühkastration beim Manne sind wir gut
unterrichtet, da aus der Verschneidung ein Gewerbe zur Gewinnung
von treuen Haremswächtern und vielleicht auch noch Diskantsängern
gemacht wird. Über frühzeitige Verschneidung bei Frauen existieren
dagegen nur Reiseberichte, die im allgemeinen als unzuverlässig an-
gesehen werden.
Wie solche Gerüchte entstehen, darüber habe ich eigene Erfah-
rungen machen können. Ich habe seinerzeit viele Kastrationsversuche
an allen möglichen männlichen und weiblichen Tieren ausgeführt ?).
Die Arbeiten wurden in der damaligen schreibmaschinenlosen Zeit
für die Drucklegung abgeschrieben und zwar in einem Gefängnis von
einem merkwürdigen Manne, über dessen Herkunft man nichts wusste.
Er gab sich als Arzt aus und führte sich dementsprechend auf, ohne
irgend welchen Ausweis für die Berechtigung, diesen Beruf auszuüben,
beibringen zu können. Die Revision des Gepäckes bei der Haftent-
lassung des Abschreibers förderte umfangreiche Manuskripte über Reisen
in fernen Ländern zu Tage. Darin spielten eigene Beobachtungen
über Frühkastraten männlichen und weiblichen Geschlechtes beim
Menschen eine grosse Rolle! Der einsame Schriftsteller hatte seine
Phantasie dazu benutzt, eine in meinen Schriften erwähnte Lücke
auszufüllen. Fingierten menschlichen Frühkastraten waren in geschickter
Weise die analogen Veränderungen angedichtet, die ich in den ihm
zum Abschreiben übergebenen Arbeiten bei Tieren festgestellt hatte.
Wäre man diesem Betrug nicht rechtzeitig auf die Spur gekommen,
ı) Tandler und Grosz, Die biologischen Grundlagen des sekundären Ge-
schlechtscharakters. Berlin, Julius Springer, 1913, S. 44 u. 8. 52.
?) Zur Lehre von den sekundären Geschlechtscharakteren. Hegars Beitr.
z. Geb. u. Gyn. Bd. 1 u. 2. 1898. — Kastration und Knochenwachstum. Hegars
Beitr. z. Geb. u. Gyn. Bd. 2. Heft 2. 1899. — Kastration und sekundäre Ge-
schlechtscharaktere. Hegars Beitr. z. Geb. u. Gyn. Bd. 5. Heft 3. 1902. —
Einfluss der Kastration auf das Knochenwachstum des geschlechtsreifen Organis-
mus und Gedanken über die Beziehungen der Kastration zur Osteomalazie. Zeit-
schrift f. Geb. u. Gyn. Bd. 74.
5] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 219
so dürfte dem Mangel einer einleuchtenden Literatur über männliche
und weibliche Frühkastraten heute abgeholfen sein.
Beim Weibe besitzen wir bis jetzt also weder die Beobachtung
von angeborenem völligem Defekt der Eierstöcke, noch von einer
zuverlässig verbürgten Frühkastration. Wir verfügen lediglich über
Fälle von angeborener mangelhafter Ausbildung und unzulänglicher
Funktion von Eierstöcken, dem immerhin noch ziemlich unklaren
Bild des weiblichem Hypogenitalismus, Hypovarismus, weiblichen Eu-
nuchoiden oder besser Kastratoiden.
Da bei teilweisem Ausfall der Keimdrüsenfunktion Körper und
besonders Genitaltraktus in ihrer Entwicklung gehemmt werden und
auf einem normalerweise zu durchlaufenden Jugendstadium verharren,
so sind mit dem Kastratoidentypus auch infantile Merkmale ver-
bunden. Das Wesentliche ist aber in solchen Fällen wohl nicht der
Infantilismus, sondern der Kastratoidentypus, es sei denn, dass man
sich auf den Standpunkt stellen wollte, es gäbe ja auch im Embryo
ein Stadium, in dem die Keimdrüse noch mehr oder weniger unent-
wickelt sei; das Stehenbleiben auf dieser Stufe daher auclı ein Infan-
tilismus (beziehungsweise Fötalismus) wäre, wogegen ja schliesslich
nichts einzuwenden sein dürfte. Es erhebt sich dann nur die Frage,
ob der unterentwickelte Zustand der Keimdrüse, des Sexualcharakters
und des Organismus überhaupt auf ein und dieselbe retardierende
Ursache zurückzuführen, oder ob der Infantilismus des übrigen Ge-
schlechtscharakters erst sekundär von dem Infantilismus der Keim-
drüse abhängig zu denken sei. Vor allen Dingen wäre dann schwierig,
die Grenze zu ziehen, weil ja schliesslich die Frau durch und durch
weiblichen Sexualcharakter aufweist. Jedenfalls bestehen Beziehungen
zwischen „Kastratoidismus“ und Infantilismus, Wir wissen nicht
genau, inwiefern vielleicht alle Grade von Infantilismus etwas mit
einer primären oder sekundären Keimdrüsenstörung direkt oder in-
direkt zu tun haben.
Bemerkenswert ist auch der Einfluss des Eierstocksaus-
falles auf die übrigen Drüsen mit innerer Sekretion.
Mangelhafte Anlage, gestörte Entwicklung und Hypofunktion des
Oyvariums sollen ihrerseits den rechtzeitigen Abbau der Thymus und
des Iymphatischen Systems hindern. Ein grosser Thymusrest soll
zurückbleiben und kompensatorisch Hyperplasie der Thyreoidea und
der Hypophyse eintreten').
Da es nun selbstverständlich ist, dass die körperlichen Eigen-
tümlichkeiten kastratoider Personen im allgemeinen denen der Kastraten
ı) Walthard, in Menge-Opitz Handbuch der Frauenheilkunde. 4. Aufl. 8. 249.
220 Hugo Sellheim. [6
entsprechen und sich nur durch den Grad der Ausbildung unter-
scheiden, so sind für unsere Beobachtung gerade die Fälle von Kastra-
toidismus am interessantesten, welche sich infolge frühzeitiger hoch-
gradiger Funktionsstörung der Eierstöcke so weit an den Früh-
kastratentypus annähern, dass sie sich mit ihm in ihrer äusseren
Erscheinung fast oder ganz decken.
Für den weiblichen Kastratoidismus (Eunuchoidismus) liegt nach
der neusten Zusammenstellung in der Literatur (Guggisberg)') die
Hauptschwierigkeit für die Abgrenzung des Krankheitsbildes darin,
dass wir über die Folgen der Frühkastration nur sehr dürftig auf-
geklärt sind. Wir können uns einzig auf Angaben von Roberts
und Miklucho Macley stützen.
Dr. Roberts beschreibt in einem Werke über eine Reise von
Delbi nach Bombay weibliche Kastraten. „Die von ihm untersuchten
Personen waren ungefähr 25 Jahre alt, gross, muskulös und voll-
kommen gesund. Sie hatten keinen Busen, keine Warzen und keine
Schamlıaare. Der Scheideneingang war vollkommen verschlossen und
der Schambogen so eng, dass sich die aufsteigenden Äste
der Sitzbeine und die absteigenden der Schambeine fast
berührten?). Die ganze Gegend der Schamteile zeigte kene Fett-
ablagerung, ebenso wie die Hinterbacken nicht mehr entwickelt waren
wie bei Männern während der übrige Körper hinreichend mit Fett
versehen war. Es war keine Spur einer Menstrualblutung oder eine
deren Stelle vertretende vorhanden, ebenso kein Geschlechtstrieb“ ®).
Bei den von Miklucho Macley beschriebenen weiblichen Früh-
kastraten fehlte auch der Geschlechtstrieb. Die Fettentwicklung war
gering, die Fettverteilung nicht typisch weiblich.
Das ist die einzige Grundlage für die Beurteilung des frühzeitigen
weiblichen Keimdrüsenausfalls, deren Sicherheit selbst, da es sich
lediglich um Reiseberichte handelt, nicht ohne weiteres erwiesen sein
dürfte. |
Im allgemeinen scheint der Eunuchoidismus beim weiblichen Ge-
schlecht überhaupt selten zu sein. Das Ergebnis der Literaturzu-
saımnmenstellung ist ein recht klägliches. In den zahllosen Publika-
tionen der letzten Jahre über dieses Krankheitsbild sind nur ganz
1) Guggisberg, Vegetations- und Wachstumsstörung in Halban-Seitz
Biologie und Pathologie des Weibes, Urban u. Schwarzenberg 1924. Lief. 8.
TI Von mir gesperrt gedruckt, weil auf diese diagnostische Feststellung, wie
wir unten sehen werden, viel ankommt.
`) Nach Bischoff, Beweis der von der Begattung unabhängigen periodi-
schen Reifung und Loslösung der Eier der Säugetiere und des Menschen als der
ersten Bedingung ihrer Fortpflanzung. Giessen 1844, J. Rickersche Buchhand-
lung. S. 41.
7] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid‘. 221
spärliche Angaben über weibliche Eunuchoide vorhanden, deren Ab-
grenzung zudem noch nach dem Urteil von Guggisberg auf grösste
Schwierigkeiten stösst. Meist handelt es sich nicht um wahre Eu-
nuchoide, sondern nur um Erkrankungen mit einem gewissen eunuchoiden
Einschlag. Aschner!) vertritt sogar die Meinung, dass man bezüglich
des weiblichen Eunuchoidismus über die theoretische Definition nicht
hinauskommt. |
Jedenfalls sind nach dem sachverständigen Ausspruch von Gug-
gisberg Krankheitsbilder, die den von Roberts und Macley
beschriebenen Frühkastraten genau entsprechen, bis jetzt noch nicht
veröffentlicht worden. Aschner?) schreibt kurz und bündig: „Einen
Eunuchoidismus des Weibes, ähnlich wie beim Manne, gibt es über-
haupt nicht“.
Nach diesem Stande der Angelegenheit wäre ein Fall von wirk-
lichem, mit unseren theoretischen Berechnungen übereinstimmendem
Kastratoidismus geeignet, erwünschte Klarheit zu bringen. Man könnte
zu den von Roberts und Macley gegebenen Schilderungen Zutrauen
gewinnen und annehmen, dass sie nicht nur ihre Phantasie haben
spielen lassen, sondern dass ihnen tatsächlich Frühkastraten zu Ge-
sicht gekommen sind. Wir hätten damit einen sicheren Ausgangs-
punkt für die Beurteilung des Kastratoidismus. Es wäre dem seit-
herigen, in der Literatur beklagten Mangel eines Falles von echtem
Kastratoidismus abgeholfen und wir hätten in Zukunft in einem solchen
ausgesprochenen Stadium der Erkrankung eine feste Grundlage für
die Beurteilung und Abgrenzung ähnlicher Grade.
Die Bedeutung unseres Falles liegt darin, dass nach dem charakte-
ristischen Befunde und der weitgehenden Übereinstimmung mit den
Angaben von Roberts und Macley an dem an Frühkastration
heranreichenden kastratoiden Typus nicht mehr gezweifelt werden kann.
Das Mädchen war niemals menstruiert. Über die Einwirkung einer beson-
deren Schädlichkeit im Embryonallehen oder im Kindesalter ist nichts herauszu-
bringen. Es bestehen keine ausgesprochenen weiblichen Neigungen, keine Neigung
zum Manne, kein Geschlechtstrieb. Die Intelligenz ist mässig. Die Frau leidet
sehr unter dem Gefühle, nicht weiblich zu sein und wünscht, wenn irgend mög-
lich, dringend Abhilfe.
Die Untersuchung in Narkose ergibt: über mittelgrosse Person, ausser-
ordentliche Länge der Diaphysen an den langen Röhrenknochen. Fettpolster ist
fast nicht vorhanden. Es besteht eine auffallende Magerkeit. Von einer fürs
weibliche Geschlecht charakteristischen Fettverteilung kann keine Rede sein. Die
mageren Hüften, Nates und Oberschenkel fallen direkt auf. (Abb. 5 u. 6.) Die
Schädelform ist brachyzephal. Kopthaar blond, wenig dicht, mittellang. Der
Gaumen ist gut gewölbt, die Zähne sind gut gestellt. Die Schilddrüse nicht ver-
!) Zitiert bei Guggisberg.
2 Konstitution der Frau. J. F. Bergmann, 1924. S. 811.
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11] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid‘“. 225
als ein plattes Gebilde von 1’/s—2 cm Breite zwischen Jen Fingern abrollen.
Er spitzt sich nach oben zu und geht über in ein Körperchen von etwa Lin em
Dicke, ?/« cm Breite und höchstens 2 cm Länge (Abb. 5). Unten, wo das Gebilde
an die Scheide ansetzt, ist es etwas breiter, verjüngt sich etwas nach der Mitte
und verbreitert sich dann auch wieder etwas nach oben. Nach hinten und unten
fühlt man viele gurrende Darmschlingen, wahrscheinlich im tiefen Douglas. --
Ein dem Eierstock ähnlicher Körper ist nirgends zu entdecken, obwohl man,
wenn auch mit grosser Mühe, selbst die Gegenden vor dem oberen Teil der
Articulationes sucro-iliacae absuchen kann. Rechts und links fühlt man etwas
oberhalb von der Grenze zwischen Scheide und oben aufsitzendem kleinen Körper
ganz feine Stränge, die in der Richtung der Ligamenta sacro-uterina um den
Mastdarm herumziehen.
Die Spiegeluntersuchung ergibt auf dem Knöpfchen im Scheidengrund
in der Mitte eine etwa 2 mm haltende Öffnung.
Eine feine, etwa 2 mm starke Sonde geht auf eine Strecke von etwa 2 cm
leicht ein. Man wird also in der Annahme bestärkt, dass es sich hier um die
Porto vaginalis und ein daran nach oben anschliessendes Uteruskörperchen
handelt (Abb. 5).
Zum Schluss wird noch die Portio vaginalis e einer doppelkralligen Zange
angehakt und daran der rudimentäre Uterus heruntergezogen. Nun lässt sich
mit grösserer Deutlichkeit bei der Rektaluntersuchung nachweisen, dass in der
Tat ein ganz kleiner Uterus mit kleiner Portio vaginalis, kleinem supravaginalem
Teil des Halses und darüber auch einem kleinen Körper vorhanden sind (Abb. 5).
Von dem zierlichen Fundus gehen nach links und rechts deutliche Stränge
herüber, die sich nach den Seiten etwas zuspitzen und sich dann für das Gefühl
verlieren. Aber auch jetzt ist mit der grössten Mühe nichts von einem eierstock-
ähnlichen Gebilde zu entdecken.
Die Diagnose lautet: Fehlen des Beta und seiner typi-
schen weiblichen Verteilung. Vollständiger Mangel von Brustdrüsen-
gewebe, stärkste Unterentwicklung der Brustwarze, starke Entwick-
lungsstörung am Haarkleid, an den äusseren Genitalien und am
Introitus, mässige Unterentwicklung der Scheide, minimaler kanali-
sierter Uterus, infantiles Becken. Typische Malproportionen des
Knochengerüstes wie beim Kastraten.
Die vollständige Aplasie der Brust legt den Gedanken nahe, dass
die Eierstöcke überhaupt nicht vorhanden sind. Immerhin ist die
Unmöglichkeit, sie zu fühlen, noch kein Beweis für ihr vollständiges
Fehlen. Sie können mangelhaft deszendiert, abnorm hoch liegen, so
dass sie, besonders unter den vorhandenen, in dem engen Becken-
ausgang liegenden Untersuchungsschwierigkeiten vom tastenden Finger
nicht erreicht werden könnten. Jedenfalls besteht eine an vollständiges
Fehlen der Eierstöcke grenzende Funktionslosigkeit.
Diese rein gynäkologische Untersuchung wurde noch nach ver-
schiedenen Richtungen ergänzt.
Zunächst wurde festgestellt, dass ein grösserer Tymusrest nicht
existierte. Die Schilddrüse ist normal. Im Röntgenbild zeigte sich
ie Hypopliyss erwies SE SE
— LH EE ——— Rü- = ;
— an — SS SE
onknochen. noch.’ —
— —9
Se De ere es ; n Ge
ARRIE oe? deng ee bb. al EN
Bean ieh
Sketetts und Ele ken den. Lk: Stee fall gestörten
; H J— n geh ms einem Bltek auf d Ce —
13] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 227
(Abb.6 und Abb. 7), sowie aus einem Vergleich der einzelnen Knochen-
masse hervor. Besonders auffallend wird die Störung in den Propor-
tionen, wenn man die Körperlänge in Kopfhöhen ausdrückt. In der
Norm soll die Körperlänge acht Kopfhöhen betragen. Unser Vergleichs-
fall hat es nur auf sieben einhalb Kopfhöhen gebracht. Bei unserem
Kastratoiden machen neun Kopfhöhen die Körperlänge aus. Das Mass
in Kopfhöhen soll (Stratz) wichtiger sein als die absolute Körperlänge.
Die von Herrn Prof. Grund zweimal vorgenommene Stoff-
wechseluntersuchung ergab keine erhebliche Abweichung in den
Oxydationsprozessen.
Ich lasse das Protokoll kurz folgen: Am 16. VI. 23 Grundumsatz (nüchtern)
— 1168 Kalorien pro Tag (verbrannt — 165,6 ccm O, pro Minute). Das heisst
inbezug auf den Normalwert nach Benedict, der 1227 Kalorien pro Tag be-
trägt, eine Umsatzverminderung von 4,7°/o, was innerhalb der normalen Schwan-
kungen liegt.
Vergleich der Skelettmasse zwischen Normal- und Kastratentypus.
Normaltyp. Kastratentyp.
Körpergrösse . . . .: 200m) 1,65 m 1,61 m
Körpermitte . . . . . . . . In Höhe des oberen 16 cm unterbalb
Symphysenrandes der Spinallinie
Kopf:
Kopfhöhe . . . » 2 2 2 2 20. 22 cm 18 cm
Seggelsche Linie . . . . . . . . Genau in der Mitte Oberhalb der Kopf-
der Kopfhöhe höhenmitte
Grösster Querdurchmesser des Kopfes 14,25 cm 16 cm
Kopfumfang (Mitte der Stirn) . . . 55 52
Mentookzipitallinii. 185 , 17,5 ,
Frontookzipitallinie . . . . 2... 185 , 16 e
Haargrenze — Scheitelhöhe . . . . 55 , 25 „
Glabella —Baargrenze . . . . . . 5 S 45 „
Nasenlöcherhöhe — Glabella . . . . 6 a 5 5
Kinn — Nase . . 2. 2 2200. Ah 5 6 „
Unterkiefergelenk — Kinn . . . . 115 , 115 ,
Kinn — Unterkieferwinkel . . . . 95 , 9,25 „
Rumpf:
Kinn — Brustwarzenhöhe `, . . . . = Kopfhöhe 22 cm 17 S
Brustwarzenhöhe — Nabel . . . .. 24 cm SE
Verbindungslinien zwischen Oberarm-
gelenkpfannen und Brustwarzen
schneiden sich . . . .» 2.2... Im Nabel Im Nabel
Oberschenkelpfannenverbindungslinie
— Nabel u 4 ee a: AE 13,5 cm 7 cm
Wirbelsäulenlänge . . . . 2... 66 , Luftlinie 56, Gesamt-
länge 62 cm
Oberarmgelenksentfernung . . . 27 , 25 cm
228 Hugo Sellbeim. [14
Normaltyp. Kastratentyp.
Obere Extremität:
Klavikula.. . . ge y 185 „ 16 cm
Akromion — Mittelfingerspitze € wn g VI o, 3 ,
Achselhöhle — Mittelfingerspitze . . 69 . 14 ,
Entfernung zwischen den Spitzen der
Mittelfinger . . . 173 , 179 ,
Differenz zwischen Körpergrösse ind
Entfernung zwischen den Spitzen
der Mittelinger. -. . ..... 8 , 18 ,
Akromion — Olekranon . . . 35 , 38,5 „
Olekranon — Processus styloideus ulnae 25 , 26,5 ,
Processus styloideus ulnae — Mittel-
fingerspitze - » : 2 200 0a 185 , 185 ,
Zeigeingerlänge . . . . 2.2. H u 9: j
Zeigefingergrundglied . . . .» . . 5,5. 48 5,
Handgelenkumfang . . . » .... 16 , 15 à
Ellenbogengelenkumfang . . 4 , 20,5 »
Mittelfingerspitze bei hängenden E 18,5 cm über dem 12 cm über dem
Kniegelenkspalt ; Kniegelenkspalt;
80,5 cm unter der 38,5 cm unter der
Spina iliaca Spina iliaca
Entfernung zwischen Processus ensi-
formis — Spina iliaca . . . ; 35 cm 27 cm
Processus ensiformis — Spina — 36 , 29 „
Sternumlänge.. . . . 2 2 2000. 17 , l5 ,
Untere Extremität.
Spina-Symphysenmitte . . . ... 15,5 „ 16 „,
Spina iliaca — Trochanter. . . . . 8 „ 9,
Distautia spinarum . . ....n 28 S 24 5
Trochanter — Fusssohle . . . . . 86 = 96 „
Spina iliaca — Kniegelenksspalt . . 46 „ 49 „
Kniegelenksspalt — Malleolus lateralis 40 , 43 „
Fusslänge . . . . Dr en ar k 24 , 23 ,
Fussspannumfang . . . . . 2... 4 , 30 ,
Knieumfang . . . 2 2 2 2 202. 28 , 33 „
Nach Aufnalıme von | Liter Milch erhöht sich der Minutenverbrauch an
Sauerstoff auf 194,1 ccm, das sind 1370 Kalorien pro Tag. Die spezifisch-dyna-
mische Wirkung beträgt 17,2°/o, was als normal anzusehen ist. Dann 18. VII. 28.
Grundumsatz nüchtern — 1187 Kalorien pro Tag (verbrannt an Sauerstoff pro
Minute — 168,2 ccm). In bezug auf den Normalwert nach Benedict (1217 Ka-
lorien pro Tag) Umsatzverninderung von 2,4°;o.
Nach Belastung mit 1 Liter Milch erhöht sich der O,-Verbrauch pro Minute
auf 196,6°/o, das sind 1387 Kalorien pro Tag. Die spezifisch dynamische Wirkung
auf den vorigen Nüchternwert beträgt 16,9 °/o.
Damit ist eine irgend wie nennenswerte Abweichung vom nor-
malen Stoffwechsel nicht nachzuweisen. Im übrigen wird heutzutage
15] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 229
ja so wie so mit dem Ausfall der Eierstocksfunktion eine Abweichung
in den Oxydationsprozessen kaum mehr in Zusammenhang gebracht.
Wichtiger erscheint es uns durch die Abderhaldensche Blut-
untersuchung Anhaltspunkte dafür zu bekommen, ob Eierstocks-
gewebe im Körper vorhanden sei, oder sich vermissen liesse, da diese
Frage bei der klinischen Untersuchung zunächst offen geblieben war.
Untersuchungsergebnis des Serums.
Dialysierverfahren Interferometer
Serum allein |
E + Hoden — -—
» + Ovarien (+) 1,52 ais
> + Schilddrüse [(+)] 2,23 0/0
„ + Thymus — 0,81 °/o
á + Nebenniere — —
„ + Hypophyse — 1 f
5 + Uterus +1. 2,23 °/o.
Herr Abderhalden schrieb zu diesem Resultat ganz unum-
wunden, „es ist natürlich nicht ganz leicht, das Ergebnis zu erklären.
Da das Dialysierverfahren und das interferometrische Verfahren das
gleiche Ergebnis gezeitigt haben, muss schon etwas besonderes vor-
liegen. Das interferometrische Verfahren ist das feinere. Ich weiss
für den Ausfall der Reaktion keine andere Erklärung als die, dass
ganz bestimmt Ovarium vorhanden sein muss.“
Ich muss sagen, ich habe den diagnostischen Mut Abderhaldens
geradezu bewundert. Viele Laboratoriumsforscher sind zurückhalten-
der: Zeig mir deinen Patienten und ich sag dir meine Diagnose!
Hier wurde aus dem Blute allein mit absoluter Sicherheit eine Diagnose
gestellt, die mit dem klinischen Befund zunächst in einem weitgehen-
den Widerspruch zu stehen schien, denn wir neigten nach der voll-
kommenen Aplasie der Brustdrüse und Brustwarze und dem Mangel
jeglichen charakteristischen Tastbefundes sehr stark zur Annahme
eines vollkommenen Defektes der weiblichen Keimdrüsen.
Durch diese Abderhaldensche Untersuchung waren wir in den
Stand gesetzt, das Resultat unserer klinischen Untersuchung in voll-
kommener Weise zu ergänzen. Wir mussten annehmen, dass
im Körper, wenn auch dem tastenden Finger unerreich-
bar, weibliche Keimdrüsen vorhanden wären, dass es sich
also nicht um einen angeborenen völligen Defekt der Eierstöcke, wie
es scheinen könnte, also um einen echten, natürlichen Kastraten,
sondern nur um eine an den vollkommenen Defekt grenzende Unter-
funktion der Eierstöcke, also den lange gesuchten echten Kastratoiden,
handele.
230 Hugo Sellheim. [16
Von grossem praktischen Interesse ist das Zusammen-
treffen des kastratoiden Befundes mit dem eigentüm-
lichen Krankheitsbild der multiplen Osteochondritis und
insbesondere mit der Osteochondritis deformans coxae juvenilis. Um
den vermuteten Zusammenhang herauszusetzen, muss ich etwas weiter
ausholen.
Das Zusammentreffen von Kastratoidentypus und
Östeochondritis legt uns eine Ursache der rätselhaften Erschei-
nung nahe, an die in der Literatur noch nicht oder zu wenig ge-
dacht zu sein scheint.
Der in unserem Falle eklatant nachgewiesene Ausfall der Keim-
drüsenfunktion führt ja, wie ich experimentell durch Frühkastration
für männliche und weibliche Tiere nachgewiesen habe!) an sich zu
einer Knorpelknochenwachstumsstörung — im Sinne einer Ossifika-
tionsschwäche des Knorpels, wie sie die Osteochondritis auszeichnet
— und zu einer sich vor allen Dingen im Offenbleiben der Epiphysen-
linien aussprechenden Störung im ganzen Wachstum. Bei einer Hündin
z. B., die ein ganz abnormes Höhenwachstum zeigte, waren die Epi-
physenlinien noch in Tätigkeit zu einer Zeit, in der das Knochen-
wachstum bei einer Wurfschwester schon längst zum Abschluss
gekommen war. |
Meine Experimente hatten für das männliche und weibliche Geschlecht den
Beweis erbracht, dass durch die Verschneidung im jugendlichen Alter ein sonst
um die Pubertätszeit in Erscheinung tretender, die ganze Knorpel-Knochen-
Produktion hemmender und sie zu relativem Abschluss bringender Einfluss aus-
geschaltet wird. Dass dieser Einfluss von der Keimdrüse seinen Ausgang nimmt,
war klar, ebenso dass er ein sowohl von Testikeln als auch von Ovarien zuerst von
der Pubertätszeit abgesonderter chemischer Stoff sein müsse. Natürlich ist der
Zusammenhang auch so denkbar, dass der Ausfall der Keimdrüse erst den Anlass
gibt zur Produktion eines wirksamen Agens einer auderen Drüse mit innerer
Sekretion.
Es lag nahe, das auf diese Weise erkannte Rätselhafte innerer Sekretions-
produkte der Keimdrüsen weiter zu studieren. Dazu erschien die Feststellung
des Einflusses der Kastration auf den ganzen geschlechtsreifen Organismus
zweckmässig.
Es musste der Umweg über die vergleichende anatomische Untersuchung
gewählt werden. Freilich darf beim Bestreben, die von Tieren gewonnenen
Resultate auf den Menschen zu übertragen, dann die Vorsicht nicht ausser Acht
gelassen werden.
Geeignete Studienobjekte für die Frage des Zusammenbanges von Knochen-
wachstum und Knochenstoffwechsel mit der Keimdrüsensekretion nach Abschluss
1) Sellhleim, Kastration und Knochenwachstum. Hegars Beitr. z. Geb.
u. Gyn. Bd. 2. Heft 2. 1899 und Der Einfluss der Kastration auf das Knochen-
wachstum des geschlechtsreifen Organismus und Gedanken über die Beziehungen
der Kastration mit Osteomalazie. Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 74. S. 269.
17] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid‘. 231
des Skelettwachstums, sind Tiere, welche ausweislich ihres Geweihwechsels im
reiferen Lebensalter Knochen im regelmässigen Wechsel produzieren und in der
Produktion wieder nachlassen und sie zum Abschluss bringen.
Das Geweih ist ein ans dem Stirnbein durch Vermittlung des Stirnzapfens
herauswachsender Knochen.
Zwischen Geweihwachstum und Fortpflanzung besteht bei vielen Tieren
zum mindesten ein deutlich ausgeprägtes, abwechselnd seitliches Verhältnis. Das
Ergebnis meiner Versuche war folgendes: Beim kastrierten männlichen Rehkitz
bleibt die Bildung des geweihtragenden Stirnzapfens (Rosenstock), der normaler-
weise schon im ersten Jabr gebildet wird, und damit jegliche Geweihbildung aus.
Dagegen bot das geschlechtsreife Tier für unsere Nachforschung zwischen
seinem Eigenwachstum und Fortpflanzungswachstum ein eigeuartiges abwech-
selndes Verhältnis. Das Knochenwachstum am Geweil fällt in die Zeit ge-
schlechtlicher Unproduktivität; sein Abstossen in die Zeit geschlechtlicher Pro-
duktivität.
Wartet man mit der Kastration, bis die Tiere älter geworden und die
Stirnzapfen gebildet sind, so tritt etwas Merkwürdiges ein: Die Verschneidung
setzt eine permanente Knochenproduktion anstelle des regel-
mässig intermittierenden Knochenwachstums,. |
Für diese auffallende Umstimmung des intermittierenden ins permanente
Knochenwachstum ist es ganz gleich, in welcher Jahreszeit die Kastration vor-
genommen wird. Ein bereits fertiges Geweih wird als letztes Erzeugnis des
periodischen Knochenwachstums bald abgeworfen und an seine Stelle tritt das
stetig wachsende Gehörn. Ein zur Zeit der Verschneidung noch im Wachsen
begriffenes Geweih wächst dagegen sofort im Sinne unentwegter Zunahme
weiter!).
Bei ausgewachsenen 'lieren mit periodischem Knuchenwachstum, z. B. am
Geweib, entfiel also mit der Spätkastration der das Knochenwachstum temporär
hemmende und zum Abschluss bringende Faktor.
In unserem Falle sehen wir diese von mir nachge-
wiesene typische primäre Ossifikationsschwäche des
Kastraten deutlich ausgesprochen. Es liegt also der
Gedanke nahe, lediglich in der Beanspruchung eines
solchen von Haus aus ossifikationsschwachen, unfertigen
Skelettes, ohne Hinzutunanderer seither angeschuldigter
Faktoren, die Ursache für die sekundäre, an den Haupt-
belastungsstellen auftretende multiple osteochondri-
tische Störung zu sehen. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob
der Ausfall der Ovarialfunktion an sich oder die dadurch bedingte
oder eine andere Störung in der Symphonie der inneren Sekretion
die Schuld an dem Defekt des ganzen Wachstums trägt.
Jedenfalls scheint uns das in unserem Falle nachgewiesene Zu-
sammentreffen von endokriner Störung und der darauf gegründeten
1) Sellheim, Der Einfluss der Kastration auf das Knochenwachstum des
geschlechtsreifen Organismus und Gedanken über die Beziehung der Kastration
zur Osteomalazie. Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 74.
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H.3. 16
232 Hugo Sellheim. [18
Verknöcherungsschwäche mit multipler Osteochondritis geeignet, die
Aufmerksamkeit auf einen ätiologischen Zusammenhang zu
lenken, an den in der Literatur seither nicht oder zu wenig gedacht
worden ist, wenn endokrine Störung auch nicht immer so stark in
Erscheinung zu treten braucht wie in unserem Falle.
Diese Theorie erweist ihre Fruchtbarkeit, indem sie
sofort praktische Konsequenzen zeitigt.
Auf die Vermutung einer endokrinen Störung als Ursache der
sonst schwer zu beeinflussenden Osteochondritis gründet sich unser
Plan die Störung genauer zu definieren und auf den Eierstock zu
lokalisieren, um dann durch künstliche Einverleibung der ausfallenden
Stoffe die gestörte Symphonie der inneren Sekrete wieder herzustellen
und durch Ausschaltung der Grundkrankheit rationell Heilung an-
zustreben. |
Wo, wie ın unserem Falle, das klinische Bild und der anato-
mische Befund auf eine Funktionsstörung und Unterfunktion des Eier-
stockes so deutlich hinweisen, dürfte daher (nachdem die Einverlei-
bung von Eierstockspräparaten laut Angaben in der Literatur?) wenig-
stens bei Eunuchoiden keinen Erfolg gezeitigt hatten), der Versuch
der Eierstockstransplantation durchaus gerechtfertigt er-
scheinen.
Die erneute Aussprache mit dem Mädchen ergab den dringenden
Wunsch, sie, wenn irgend möglich, ins Weibliche umzustimmen, weil
sie sich in diesem Zustande, der schon in ihrem Äusseren jegliche
Weiblichkeit vermissen liess, ganz unglücklich fühlte.
In dieser Richtung freilich war ihr nichts Sicheres in Aussicht
zu stellen. Man konnte immerhin versuchen, durch die Einpflanzung
eines Eierstockes ihren wenig weiblichen oder unweiblichen Charakter
mehr zu verweiblichen.
Was sagt dazu aber die klinische Erfahrung?
Man hat in der Gynäkologie alle Arten von Bierstockstrans-
plantation vorgenommen.
Umpflanzung am selben Individuum = Autotransplantation, Überpflanzung
von einem menschlichen Weibe auf das andere = Homoiotransplantation und
Übertragung von Tiereierstöcken auf Menschen =- Heterotransplantation. Die
Ansichten über die Resultate sind ganz verschieden. Der Begeisterung auf der
einen Seite steht ein vernichtendes Urteil auf der anderen Seite gegenüber.
Am erfolgreichsten erscheint noch die Autotransplantation. Von ihr
wird viel Gebrauch gemacht, wenn man aus technischen Gründen bei operativer
Entfernung entzündlicher Adnexschwellungen die Eierstöücke in jugendlichem Alter
mit entfernen muss, aber doch die Eierstocksfunktion und die Menstruation
erhalten möchte. Es wird dann der Eierstock aus dem Konglomerat heraus-
1) Guggisberg, |. c. S. 187.
19] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 233
präpariert und wieder eingepflanzt. Die Erfolge sind ziemlich gut. Es besteht
Aussicht, die Ausfallserscheinungen hintanzubalten und auch die Periode über
einige Zeit wiederkehren zu lassen.
Des Versuches wert ist auch die Homoiotransplantation. Es wird
davon z. B., so weit man bis jetzt seben kann, mit recht gutem Erfolg zur
Heilung der mit Hypovarismus verbundenen Sterilität Gebrauch gemacht'). Man hat
gesehen, dass die Periode regelmässig wurde und auch Schwangerschaft eintrat.
Versuche, bei alten Frauen die Periode und damit die Blüte der Jahre im
Sinne einer „Verjüngung“ wieder zu erwecken, sind dagegen nicht sehr er.
mutigend ausgefallen. Wohl ist es gelungen, Uterusblutungen einige Male wieder
zu erzeugen, auch ein vorübergehendes gewisses Aufblühen vielleicht wieder zu
erzielen. Weniger erwünscht waren aber die psychischen Veränderungen.
Die so behandelten Frauen gerieten in hochgradige sexuelle Erregung, drängten
nach Hause und bedrängten dort ihre Männer mit ihren unzeitgemässen und
ihrern Alter nach gänzlich unangebrachten Gelüsten. Einer dieser Männer hat in
seiner Verzweiflung an die Klinik berichtet, „seine Alte sei ganz toll geworden“ ?).
Dagegen bestehen hinsichtlich der Erfolge der Heterotransplantation,
trotz einiger günstiger Mitteilungen in der Literatur, grosse Zweifel.
In unserem Falle schien nach dem Erfolgder Homoio-
transplantation bei Hypovarismus die Aussicht auf Er-
folg einigermassen gegeben, weil eigene, wenn auch noch in
ihrer Funktion schlummernde Eierstöcke, nach der Abderhalden-
schen Reaktion angenommen werden durften und man durch die Im-
plantation von funktionsfähigem Eierstocksgewebe einer anderen Frau
vielleicht eine Anregung der eigenen Eierstöcke zum Funktionieren
annehmen konnte.
Die Besserung des Zustandes brauchte sich (in unserem Falle
auch) nicht auf die äussere Form, insbesondere die Entwicklung der
Brustdrüse, und die Gefühlsumstimmung zu beschränken. Man durfte
vielleicht noch weiter denken. Da man einen kanalisierten, wenn
auch nur minimalen Uterus gefunden hatte, so waren vielleicht auch
kanalisierte Eileiter vorhanden. Damit tauchte ein Hoffnungsschimmer
auf, diese im Wachstum zurückgebliebenen Organe zum Nachwachsen
und vielleicht zur Funktionsfähigkeit erwecken zu können. Für die
Tragweite dieser Hoffnung war natürlich der innere Befund mass-
gebend, so dass es dringend erwünscht erschien, der Transplantations-
operation einen Einblick in die Bauchhöhle vorausgehen zu lassen,
wie ja auch bei der Transplantation bei Hypovarismus ganz allgemein
die Forderung aufgestellt wird, die Eierstöcke vor der Operation einer
Revision zu unterziehen’).
t) Paul Sippel, Schwangerschaft nach homoioplastischer Uvarientrans-
plantation bei Hypovarismus. Zentralbl. f. Gyn. 1924. Heft 1/2. S. 15.
2) Bumm, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft f. Gynäkol. Berlin.
Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 84. S. 814.
3) Sippel, l. c. S. 15.
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21] Endlich ein echter, weiblicher ,Kastratoid“. 235
achse steht etwa in der Körperlängsachse. Die Ligamenta infundibulo-pelvica
sind auffallend dünn, etwa '/« cm dick. Die Ligamenta ovarii propria sind lang
und dünn, die Ligamenta lata sind beiderseits dünne, etwa 4 cm breite zarte
Gebilde. Die Ligamenta rotunda sind als dürftige Stränge angedeutet. Sie ver-
laufen fast in der ganzen Ausdehnung mit den Ligamenta lata zusammen quer
durchs Becken. Die Ligamenta sacro-uterina sind als ganz feine Stränge ange-
deutet, mehr füblbar als sichtbar. Eine Plica vesico-uterina ist so gut wie nicht
vorhanden, dagegen ist eine Plica recto-uterina deutlich ausgeprägt und verhältnis-
mässig tief.
Der rechte Eierstock und ein Teil der rechten Tube werden entfernt.
Die mikroskopische Untersuchung sollte einen Anhaltspunkt dafür geben,
inwieweit die Hoffnung auf die Erweckung der Eierstocksfunktion und Tuben-
funktion durch die Ovarienimplantation gerechtfertigt wäre.
Beiderseits etwa 3 cm vom Uterus entfernt wird in der vorderen Peritoneal-
platte des Ligamentum latam ein 4—5 cm langer querer Schnitt angelegt. Rechts
wird zwischen den beiden Peritonealplatten mit dem Finger stumpf ein Bett ge-
graben. Das zu implantierende Ovarium von der 25Jahre alten Patienten ist
5—6 cm lang, 3 cm breit, 1 cm dick. Es wird aus dem Abdomen der gleich-
zeitig operierten Frau entnommen, vom Hilus bis zum konvexen Rande mitten
durch das Corpus luteum hindurch gespalten. Auf der rechten Seite wird die eine
Eierstockshälfte in das vorher angelegte Bett versenkt und das Peritoneum durch
eine fortlaufende Katgutknopfnaht darüber vollständig geschlosssn. Auf der
linken Seite wird in den mit dem Finger nur wenig gedehnten Peritonealschlitz
die andere Hälfte des Eierstockes in der Weise implantiert, dass die funktio-
nierende Oberfläche dos Eierstockes in die freie Bauchhöhle hineinragt. Dazu
wird der Rand des Eierstockes mit den Wundrändern des Peritonealblattes des
Ligamentum latum ringsum durch 10 feine Katgutknopfnähte vereinigt. Ausser-
dem wird der Eierstock durch zwei feine Katgutknopfnähte in der Mitte seiner
Fläche an die Wundfläche im neuen Bett hineinfixiert, also durch eine Art
Matratzennaht auf die den Grund der Wunde bildende hintere Platte aufgesteppt.
Der Eierstock liegt also der Unterlage fest an und sein Rand ist ringsum mit
Peritoneum vereinigt.
DiehistologischeUntersuchung vonEierstockundTube
wurde von Herrn Prof. Stieve besorgt. Es stellte sich heraus, dass
zahlreiche Primordialfollikel stellenweise wie im Eierstock des neu-
geborenen Mädchens und eine für die grosse Zahl der Primordial-
follikel verbältnismässig kleine Zahl von in Entwicklung begriffenen
Follikeln vorhanden ist. Die wachsenden Follikel gedeihen höchstens
bis zu einem an die Reife heranreichenden Stadium, um dann der
Follikelatresie zu verfallen. Man findet von solcher Follikelatresie
herrührende Corpora fibrosa und candicantia, aber nirgends ein auf die
normale Ovulation mit Corpus luteum Bildung zurückzuführendes Rück-
bildungsprodukt eines Follikels. Zwischenzellen waren vorhanden.
Die mikroskopische Besichtigung der Eierstöcke ergibt also ein
eigenartiges Bild. Trotzdem alle anatomischen Vorbedingungen für
die Ovulation in bestem Grade geboten sind, reichliche Primordial-
follikel, alle Stadien von in Entwicklung begriffenen Follikeln, kommt
236 Hugo Sellheim. [22
es nicht zu regelmässiger Eireifung und Eiablieferung und ihren Folge-
zuständen der Corpus luteum- Bildung usw. Die Follikelentwicklung
macht kurz vor der Reife Halt und die bis zu gewissen, oft bis an
den Reifegrad ziemlich nahe heranreichenden Follikel gehen durch
Follikelatresie zugrunde. In diesem Falle ist es nicht richtig, von
einer Unterentwicklung des Eierstockes zu reden, sondern nur von
einer unvollkommenen Funktion eines an sich gut ausgebildeten
Organes. Was aber dahinter steckt und diese eigentümliche Art der
Unterfunktion des Eierstockes bedingt, ist nicht ohne weiteres er-
sichtlich.
Man darf aus dem Vergleich des anatomischen Befundes mit dem
klinischen Bilde vielleicht den vorsichtigen Schluss wagen: Alle im
Eierstock anatomisch nachweisbaren Gebilde, Primordialfollikel, wach-
sende Follikel, der Reife mehr oder weniger nahestehende Follikel,
atretische Follikel und daraus entstandene Corpora albicantia und
candicantia, sowie Zwischenzellen sind nicht imstande, die dem nor-
malen Eierstock zugeschriebene innere Sekretion vollkommen hervor-
zubringen.
Es erhebt sich die Frage, wo liegt die Ursache für diese eigen-
artige Hemmung in der Funktion des von Natur aus gut aus
gestatteten Eierstockes? Man kann in der Tat in unserem Falle
nicht von einer Hypoplasie des Eierstockes, sondern nur von einer
Hypofunktion sowohl in aussensekretorischer als auch innensekreto-
rischer Richtung sprechen.
Am Eileiter zeigte die Schleimhaut nur ganz wenig oder ein-
fache Falten, die Muskulatur war sehr dürftig entwickelt. Eierstock
und Eileiter hatten ungefähr das Aussehen von Organen aus dem
8.—10. Lebensjahr, soweit man darüber Vermutungen hegen kann.
Danach war wenigstens etwas Hoffnung berechtigt, durch Im-
plantation den mit reichlich Primordialfollikeln ausgestatteten, in
seiner Funktion auf einer freilich recht frühen Entwicklung stehen-
gebliebenen eigenen Eierstock der Kastratoiden zur Funktion anzu-
regen, und auch Uterus und Eileiter bis zur Funktionsfähigkeit nach-
wachsen zu lassen. Ob diese Theorie berechtigt ist und die so weit
gehende Forderung in Erfüllung gehen wird, bleibt abzuwarten; denn
so etwas braucht Zeit.
Auch die weiter berechtigte Forderung auf Umstimmung ins Weib-
liche, Anregung von Wachstum der Keimdrüsen, Erweckung eigener
Ovulation, Geschlechtstrieb, typische Umstellung des weiblichen —
liegt noch im Schosse der Zukunft.
Aber die eine nächstliegende Hoffnung hat sich bereits erfüllt
und sie ist allein schon die ganze Operation wert. Die Beschwerden
23] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 237
von seiten der Knorpelknochenerkrankung sind prompt ver-
schwunden. |
Damit ist ein Teil unseres wissenschaftlichen Suchens wenigstens
zunächst befriedigt. Wir halten uns für berechtigt, den Erfolg als
Gewinnst zu buchen, und auf die Richtigkeit unserer Annahme einen
Schluss zu ziehen, dass die durch die Eierstockstransplantation günstig
beeinflusste endokrine Störung die Grundursache der zur Heilung
gebrachten Osteochondritis gewesen sein dürfte.
Wir haben es im vorliegenden Falle mit einem weiblichen Kastra-
toiden zu tun, bei dem, so weit sich im Grade der Ausbildung des
Geschlechtscharakters und an den charakteristischen Abweichungen
des Skelettbaues nachweisen liess, die Eierstocksfunktion gleich Null
war. Damit wurde der in der Literatur so lange ver-
misste echte Kastratoid nachgewiesen, dessen Mangel so
lange beklagt wurde. Es dürfte durch diese Art Nullpunkt von
Eierstockfunktion ein Standard für die Beurteilung des Kastratoidis-
mus überhaupt gegeben sein.
Immerhin verriet der Eierstock seine Anwesenheit durch die
Abderhaldensche Serumreaktion, was diese feine Untersuchungs-
methode für einschlägige Fälle ganz besonders empfehlenswert er-
scheinen lässt. Für das Auftreten der Abderhaldenschen Reak-
tion bildete vielleicht der atretische Follikel das histologische Substrat.
Vermutlich hatte der Ausfall der inneren Sekretion über die
gewöhnliche Störung des Skelettbaues hinaus zu einer eigenartigen,
mit Störung des Knorpelknochenwachstums einhergehenden Knochen-
erkrankung, der Osteochondritis geführt, die durch Einpflanzung eines
gesunden Eierstockes anscheinend prompt gebessert werden konnte.
Es liegt die Annalıme nahe, dass auch in Fällen von weniger endo-
krinen Störungen, die ja in allen möglichen Abstufungen vorkommen
und die ja durchaus nicht immer und allein durch den Ausfall von
Keimdrüsenfunktion bedingt zu sein brauchen, das Knorpelwachstum
gehemmt wird und durch eine normale oder vielleicht gar übermässige
Belastung, weil unfertigen, empfindlichen Skelettsystems zu dieser
oder jener Form der Osteochondritis führen kann.
Die Auffassung kommt nicht unvermittelt.
Die Osteochondritis ist nicht die einzige Knochenerkrankung,
die von der Umstimmung des Getriebes der inneren Sekretion thera-
peutisch beeinflusst werden kann.
Es scheint das vielmehr eine ganz allgemeine Eigentüm-
lichkeit der Knochenerkrankung überhaupt zu sein. Ich
erinnere nur an die Osteomalazie, die durch Schwangerschafts-
238 Hugo Sellheim, Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. [24
unterbrechung und in schweren Fällen durch Kastration geheilt
werden kann. .
Der scheinbare Widerspruch, dass eine Knochenerkrankung, die
Osteochondritis, durch das Einsetzen des Eierstockes und die andere
Knochenerkrankung, die Osteomalazie, durch die Herausnahme eines
Eierstockes geheilt werden kann, klärt sich dahin auf, dass wir es
ja mit zwei Faktoren zu tun haben, erstens mit einem das Knochen-
wachstum zum Abschluss bringenden, der im normalen Eierstock tätig
ist und zweitens mit einem das Knochenwachstum wieder wie in den
Jugendjahren anregenden, der vom Eierstock aus gehemmt wird und
der durch die Herausnahme des Eierstockes mobil gemacht werden
kann. Man braucht bei der Heilung der Osteomalazie vielleicht aber
gar nicht auf diese Wirkung zurückzugreifen. Es gibt auch noch
eine andere Erklärungsmöglichkeit.
. Schwangerschaftsunterbrechung und Kastration bedeuten die
Unterbindung des Wachstums über die Grenzen des Organismus
hinaus, um die dadurch freiwerdenden Wachstumskräfte dem Eigen-
wachstum des Organismus, seiner Reparatur, im Falle der Osteo-
malazie der Ausheilung dieser Krankheit zu gute kommen zu lassen.
Ferner beilen bekanntlich in der Schwangerschaft Knochenbrüche
schlecht.
Rachitis sucht man mit Erfolg durch Einverleibung von
Hypophysen- und neuerdings Nebennierenpräparaten günstig zu beein-
flussen.
Wir konnten durch vorliegende Untersuchung erneut zeigen, dass
normales Knochenwachstum und seine pathologische Störung weit-
gehend unter dem Einfluss innerer Sekretion stehen.
Es wird durch unsere spezielle Studie die ganz allgemeine Er-
fahrung bestätigt, dass durch Erfassung des endokrinen Getriebes und
seiner Störungen ein Stück der Therapie nach dem anderen in den
Bann der inneren Sekretionsforschung hineingezogen wird.
Immerhin bewegen wir uns trotz solcher gelegentlichen Lichtblicke
auf reichlich dunklem und widersprechendem Gebiete. Nur emsige
und unbefangene Forschung kann weiterhelfen. Das wenige Sichere,
das wir an Forschungsmitteln haben, müssen wir dankbar benützen.
Am meisten ist von dem Rüstzeug der Abderhaldenschen Unter-
suchung zu erwarten, die wenigstens in unserem Falle einen glänzenden
Beweis ihrer diagnostischen Leistungsfähigkeit gezeigt hat.
Das menschliche Kinn,
seine Entstehung und anthropologische
Bedeutung",
Von
Professor Dr. M. Westenhöfer, Berlin.
Mit 18 Abbildungen auf Tafel.
M. D. u. H.! Diejenigen von Ibnen, die meinen Vortrag vor
zwei Jahren über die Erhaltung von Vorfahrenmerkmalen beim Menschen
in dieser Gesellschaft gehört haben, werden sich vielleicht noch erinnern,
dass ich damals auf Grund der von mir beobachteten Unterschiede in der
Morphologie von Milz und Nieren zwischen dem Menschen und der
Mehrzahl der Säugetiere, insbesondere der Anthropoiden, darauf hinwies,
dass es nötig werden könnte, unsere Anschauungen über die Herkunft
des Menschen einer erneuten Durchsicht zu unterziehen). Es liegt nahe,
dass man, um ein solches Unternehmen zu beginnen, zu allererst sich
an solche Merkmale hält, die als ausgesprochen menschliche gelten
und dass man versucht, ihre Entstehung und phylogenetische Her-
kunft herauszubekommen. Ein solches Merkmal ist nun das mensch-
liche Kinn. Es hat daher stets in den Erörterungen der Anatomen
und Anthropologen eine grosse Rolle gespielt und über seine Ent-
stehung und Bedeutung ist eine grosse Literatur entstanden. Erst
noch vor kurzem, im Jahre 1920, hat in einer überaus sorgfältigen
Bearbeitung der Ehringsdorfer Skeletreste Hans Virchow auch die
Frage der Entstehung des Kinns und die wichtigsten in der Literatur
darüber niedergelegten Anschauungen einer eingehenden Besprechung
unterzogen, ohne freilich selbst zu einer befriedigenden Lösung des
Problems zu gelangen ®). Im Nachfolgenden werde ich versuchen an
ı) Vortrag, gehalten in der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethno-
logie und Urgeschichte am 12. April 1924.
2) Über die Erhaltung von Vorfahrenmerkmalen beim Menschen, insbesondere
über eine progonische Trias und ihre praktische Bedeutung. Mediz. Klinik 1923.
Nr. 37 (Verlag von Urban u. Schwarzenberg. Berlin N 4.)
2) H. Virchow: Die menschlichen Skeletreste aus dem Kämpfer’schen Bruch
im Travestin zu Ehringsdorf bei Weimar. Jena, bei Gustav Fischer 1920. (Ebenda
Literaturangaben.)
240 M. Westenhöfer. [2
der Hand zahlreicher vergleichender Objekte, die ich hier aufgebaut
habe und deren Photographieen auf einer Tafel vereinigt ich herum-
gebe, sowohl die Entstehung wie die anthropologische Bedeutung des
menschlichen Kinns klarzustellen. Ehe ich aber auf mein Thema
eingehe, muss ich eine Bitte an Sie richten, nämlich diese Objekte
so unvoreingenommen wie möglich zu betrachten, ich möchte fast
sagen als reine Laien, und sich in Ihrem Urteil nur von den Objekten
selbst beeinflussen zu lassen und alles dasjenige, was in Ihrem
Gedächtnis aus der Literatur über diese Dinge niedergelegt ist,
vollkommen zu verbannen, als ob es niemals existiert hätte. So habe
ich es nämlich auch gemacht und nur so bin ich zu meinen neuen
Ergebnissen gelangt; die Literatur habe ich erst durchgesehen, als
ich mit meinen Untersuchungen fertig war, eine Arbeitsmethode,
die ich auch sonst, nicht zum Schaden meiner Beobachtungen und
Schlussfolgerungen, anzuwenden pflege. Dabei wird freilich oft genug
manche Arbeit, was die Möglichkeit der Veröffentlichung angeht, um-
sonst gemacht, der persönliche Gewinn aber, der im eigenen Erleben
der Probleme besteht, ist unberechenbar und ein dauernder.
I. Die Entstehung des Kinns.
Das Kinn ist bekanntermassen ein Vorsprung in der Mitte des
Unterkiefers und kommt in seiner charakteristischen Ausbildung nach
allgemeiner Annahme nur beim Menschen vor. Das Kinn selbst ist
also ein Teil des Unterkiefers und dieser wiederum trägt und enthält
in seiner oberen Hälfte das Gebiss des Unterkiefers. Es ist natur-
gemäss und entspricht unseren modernen Anschauungen, dass die
einzelnen Teile, aus denen irgendein lebendes körperliches Gebilde
besteht, sich nicht nur räumlich, sondern auch funktionell in weit-
gehendstem Masse beeinflussen. Ein grosser blühender Zweig der
Anatomie, die von W. Roux begründete Entwicklungsmechanik, be-
schäftigt sich hauptsächlich mit diesen Beeinflussungen. Es ist
daher unmöglich, einen solchen Teil, wie das Kinn für sich zu be-
trachten, man muss ihn im Zusammenhang mit den übrigen Teilen
des Kiefers betrachten, Weichteilen sowohl wie festen Teilen. Die
Weichteile, nämlich Haut, Muskeln, Sehnen, Bänder, Gefässe und Nerven,
können wir vorläufig ausser acht lassen. Sie haben selbstverständlich
ihre Bedeutung, besonders für die Bewegung, und beeinflussen in
mancher Richtung auch die Form im Einzelnen. Uns interessiert
aber hauptsächlich die Form im Ganzen. Wir wollen annehmen,
dass die mazerierten, von Weichteilen befreiten Knochenpräparate,
die Sie hier vor sich sehen, etwa als fossile Funde in unseren Besitz
3] Das menschliche Kiun, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 241
gelangt wären und wir die Aufgabe hätten, diese Knochen in eine
genetische Reihe zu bringen. Die Präparate stammen zum grösseren
Teil aus dem hiesigen naturkundlichen Museum, für deren gütige Über-
lassung ich dem Direktor des Museums, Herrn Prof. Zimmer, sowie
den verschiedenen Abteilungskustoden, den Herren Prof. Matschie
und Dr. Pohle, Herrn Prof. Pappenheim und Dr. Ahl ich auch
an dieser Stelle meinen besten Dank ausspreche. Zum Teil stammen
sie aus dem meiner Obhut unterstellten Pathologischen Museum in der
Charite. Um die Vergleichung zu erleichtern und sie gewissermassen
ganz auf die Form (statt auf die Grösse) zu konzentrieren, habe ich
die Abbildungen ungefähr in der gleichen Grösse anfertigen lassen.
Manche Präparate sind also relativ mehr oder weniger verkleinert,
manche vergrössert dargestellt. (Eine beträchtliche Anzahl der Ab-
bildungen mussten der Kosten wegen weggelassen werden.)
Ich beginne mit der Demonstration des Kiefers vom Hai (Prio-
nodon oxyrhynchus, Abb. 1), eines der einfachsten Fische aus der
Gattung der Knorpelfische. Wir sehen den schmalen, fast band.
artigen, biegsamen (knorpeligen) Kiefer, der mit mehreren Reihen
dünner dreieckiger stachelähnlicher Zähne besetzt ist. Diese Zähne
sitzen auf dem Kiefer obendrauf, ohne Verbindung mit dem Knorpel,
und sind stark nach einwärts, nach der Mundhöhle zu, gerichtet.
Die hinteren Reihen liegen sogar fast parallel zur Kieferoberfläche.
Ein Blick auf diese Zähne und ihre Beziehung zu dem Kiefer genügt,
um uns zu vergewissern, dass diese Zähne nicht zum Beissen ein-
gerichtet sind und ibre verhältnismässig lose Verbindung mit dem
Kiefer zeigt ausserdem noch, dass sie auch als Haltezähne nicht
allzu stark belastet und zweifellos bei stärkerer Gewalteinwirkung
leicht abgenutzt und verloren gehen können. Dementsprechend zeigt
auch der Kiefer eine schwache Ausbildung. Er verhält sich etwa
wie ein dünner, in der Mitte gebogener Stab, der sich immer mehr
im Dickendurchmesser verringert und schliesslich vorn so abgeplattet
und verdünnt ist, dass die Zahnreihen wie auf einem dünnen Band
hintereinander stehen.
Das nächste Präparat zeigt das Vorderende eines Dorsches,
eines Knochenfisches (Gadus morrhua, Abb. 2), nämlich Unter- und
Oberkiefer und das sogenannte Os intermaxillare, welch letzteres die
oberen Zahnreihen trägt. Ausser den hier sichtbaren Zähnen ist
hervorzuheben, dass bei diesem Fisch, wie bei vielen anderen eben-
falls, was ja jeder Hausfrau bekannt ist, der ganze Rachen und die
Kiemenbögen mit unzählbaren, oft wie kleine Moospflänzchen in
Büscheln und Gruppen zusammenstehenden grösseren und kleineren
Zähnchen besetzt ist. Alle diese stachelförmigen Zähne, die wenigstens
242 M. Westenbhöfer. [4
im Bereich der Kiefer eine festere, wenn auch immer noch ziemlich
lose Verbindung mit dem darunter liegenden knöchernen Hartgebilde
aufweisen, als in dem zuerst gezeigten Fall des Haies, sind wie
Widerhaken nach einwärts in die Mundhöhle gerichtet. Während
das Intermaxillare, das das Obergebiss trägt, einem einfach ge-
krümmten Stabe vergleichbar ist, zeigt der Unterkiefer eine deutliche
seitliche Abplattung und Erhöhung, woraus man wohl auf eine stärkere
mechanische Beanspruchung dieses Knochens in der Richtung von oben
nach unten schliessen kann, obwohl von einem eigentlichen Beissen
bei der Anordnung des Gebisses keine Rede sein kann.
Der Bogenteil des Unterkiefers steht auf der Unterlage senkrecht
und es springen beiderseits am oberen und unteren Rande der Kiefer-
äste in der Kieferfuge je 2 kleine halbkugelige Höckerchen über das
Niveau nach vorn vor, die den Eindruck von Verstärkungen der
Kieferastendigungen erwecken, die häutig oder knorplig, jedenfalls
nicht knöchern miteinander vereinigt sind.
. Die nächsten beiden Präparate zeigen die Gebisse von Riesen-
schlangen (Pythonreticulatus); in Abb. 3 (dem jüngeren Exem-
plar) ist der ganze Kopf mit dargestellt. Hier zeigt sich dank der
Grösse und Stärke der Zähne die Einwärtsrichtung der Zähne fast
noch deutlicher als bei den Fischen. Sie sind mithin auch bei diesen
Tieren nicht zum Beissen, sondern hauptsächlich zum Festhalten der
Beute eingerichtet. Die Zähne stehen aber in viel festerer Verbindung
mit dem Kiefer als in den vorigen Fällen; sie befinden sich in kleinen
runden Gruben im Kiefer eingelassen, die ausserdem noch einen über
die Oberfläche des Kiefers hervorstehenden Rand besitzen, wodurch
die Befestigung der Zähne noch erhöht wird. Auch diese Zähne sind
stachelförmig. Der Unterkiefer zeigt deutlich die Umwandlung eines
wie beim Hai flachen bandartigen Stabes in einen zwar immer noch
etwas rundlichen aber doch deutlich in die Höhe gekanteten Stabes,
d. h. einer länglichen Knochenspange, bei der der Höhendurchmesser
grösser ist als der Breiten- (Dicken-) Durchmesser. Er ist auch be-
deutend kräftiger als beim Dorsch. Die Unterkiefer der Schlangen
zeichnen sich dadurch aus, dass die beiden seitlichen Äste vorn nicht
miteinander knöchern, sondern nur häutig verbunden sind, wodurch
es den Schlangen ja ermöglicht wird, unverbältnismässig grosse Tiere
zu verschlingen. Diese Kieferäste zeichnen sich im Gegensatz zu den
vorhin beschriebenen Fischen aber noch dadurch aus, dass sie am
vorderen Ende mehr oder weniger scharf zugespitzt sind, eine
Zuspitzung, die, wenn wir die beiden Präparate miteinander ver-
gleichen, um so spitzer und schärfer ist, je stärker die Zähne ein-
wärts gekrümmt sind, so dass man sofort den Eindruck bekommt, dass
5) Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 243
der Grad dieser Zuspitzung von dem Grade der Krümmung der Zähne
abhängig ist. Man könnte mit einem gewissen Recht diesen Vor-
sprung des Unterkiefers nach vorn als Kinn bezeichnen. Allerdings
tritt es bei dem mit Weichteilen bedeckten Kopf nicht in Erscheinung.
In dem abgebildeten Präparate tritt dieser Vorsprung deswegen
besonders stark in Erscheinung, weil das vorderste Zähnchen aus-
gefallen ist, so dass der Vorsprung länger erscheint, als er in Wirk-
lichkeit ist. Man kann den Vorsprung vielleicht in Parallele zu den
halbkugeligen Vorsprüngen beim Dorsch setzen. Sowohl die Vorsprünge,
als auch die Andeutung der Alveolarbildung, wie die kräftigen Zähne
und ganz besonders die erhebliche Stärke und Härte der Kieferäste
zeigen uns deutlich, dass die Bewältigung der Beute an den Schlangen-
kiefer bedeutend höhere Anforderungen stellt als es beim Fisch der
Fall ist. Wir können aus dem Vergleich der 3 bisher beschriebenen
Kiefer treffiende Schlüsse über die Art der Beuteergreifung und -Be-
handlung machen.
Die Fähigkeit der Schlangen, eine Beute zu verschlingen, die be-
deutend umfangreicher ist als (hr eigener Kopf, verdanken sie der
freien Beweglichkeit der vorn nicht vereinigten Kieferäste, zwischen
deren Enden sich eine Art von Band befindet. Inwieweit dieses eine
Weiterentwicklung des auch bei anderen Reptilien und fast allen
Fischen in mehr oder weniger starkem Masse vorhandenen Sym-
physengewebes des Kiefers darstellt und ob auch bei diesen Tieren
eine, wenn auch viel geringere Möglichkeit des Auseinanderweichens
der Unterkieferäste vorhanden ist, z. B. beim Verschlingen einer zu
grossen Beute, will ich dahingestellt sein lassen. Wir werden nachher
Fischgebisse kennen lernen, wo echte Nage-, Beiss- und Zerkleinerungs-
zähne vorhanden sind und dementsprechend auch eine häutige oder
knorplige Kieferfuge kaum angedeutet, sondern die Kiefer vorn fast oder
.ganz knöchern vereinigt sind.
Bei dem nächsten Präparat, dem Unterkiefer eines afrikanischen
Krokodils (Crocodilus niloticus) sehen wir die Stachelzähne an dem
langen Kiefer in verhältnismässig spärlicher Anordnung in den Knochen
in besonderen Gruben versenkt, die teilweise einen erhöhten Rand
aufweisen; alle Zähne zeigen noch eine leichte Krümmung nach innen,
auch sie sind offenbar weniger zum Beissen als zum Festhalten der
Beute bestimmt. Im Gegensatz zu den auseinander weichenden Unter-
kieferästen bei den Schlangen sind hier die beiden Kieferäste etwa
bis zur Hälfte der Gesamtlänge vorn in Gestalt einer Naht ziemlich
fest aneinander gelegt, wodurch die Festigkeit des Knochens zweifel-
los erheblich verstärkt wird, sie wird gewissermassen verdoppelt und
dadurch gegen Bruch gesichert. Wir sehen dementsprechend im
244 M. Westenhöfer. | | [6
Gegensatz zu dem gekanteten Unterkiefer der Schlange, wie der
Unterkiefer des Krokodils in seinem vorderen, der Länge nach ver-
schmolzenen Abschnitt nahezu rundliche Stabform darbietet, während
erst in seinem hinteren nicht verschmolzenen Abschnitt eine leichte
Kantung eintritt. Das vordere Ende der beiden vereinigten Kiefer
zeigt keine besondere Form, es ist leicht abgerundet und lässt die Zu-
spitzung wie bei der Schlange vermissen, so dass wir ohne weiteres
. den Schluss ziehen können, wie er sich ja aus dem ganzen Bilde
ergibt, dass irgend eine nennenswerte Krafteinwirkung in irgend-
einer bestimmten Richtung auf den Vorderteil des Kiefers nicht
eingewirkt hat. Eine bewegliche Kieferfuge braucht das Krokodil dank
der Möglichkeit, das Maul gewaltig weit aufzusperren, nicht.
Wir haben bis jetzt an den gezeigten Präparaten gesehen, wie
sich der Unterkiefer bei nach einwärts gerichtetem Gebiss (Einwärts-
Klinodontie) verhält. Eine je grössere Gewalteinwirkung (Zug und
Druck von innen nach aussen) das Gebiss bei der Einwärts-Klinodontie
auszuhalten hat, um so mehr befestigen sich die Zähne im Kiefer
bis zur Bildung von Alveolen, um so mehr erhöht sich der Kiefer,
er wird gekantet und es kann sogar zur Bildung einer nach vorn
gerichteten Spitze wie bei den Schlangen kommen. Im Falle des Kro-
kodils wird die Verstärkung durch eine ausserordentlich lang gestreckte
Synostose bewirkt. Diese Umwandlungen sind zurückzuführen auf
die Wirkung, die von der Funktion des (Grebisses und der Art der
Beute in mechanischer Weise auf den Kiefer ausgeübt wird.
Wir gehen über zu einer zweiten Reihe von: Kiefern, nämlich
solchen, bei denen das Gebiss nach auswärts gerichtet ist, wenigstens
in seinem vorderen Abschnitt, bei denen also eine Auswärts-
Klinodontie besteht. Wir beginnen mit solchen Kiefern, bei
denen die Klinodontie nur gering entwickelt ist. In den Abbildungen
6 und 7 sehen Sie den Unterkiefer eines erwachsenen Gorilla be-.
ziehungsweise eines Macacus. Genau entsprechend der Schrägstellung
der Schneidezähne sehen Sie den Kiefer in seinem vorderen Abschnitt
in steiler schräger Linie nach abwärts und hinten gewissermassen
sich verflüchtigen. Dass nun in der Tat diese Vertlüchtigung oder
um diese Erscheinung mit einem wissenschaftlichen Ausdruck zu be-
legen, diese Atrophie oder dieser Schwund der vorderen Kieferrundung
und Kantung abhängig ist von dem Grade der Auswärts-Klinodontie,
das zeigt sich sofort, wenn wir ‚höhere Grade derselben betrachten,
wie sie in den Abbildungen 8 (Hund), 9 (Pferd) und 10 (Schwein
vorbanden sind. Je schräger nach aussen, gewissermassen je flacher
und schaufelförmiger die Schneidezähne nach aussen und vorn ge-
richtet sind, um so stärker ist die Atrophie des Vorderkiefers. Das
7] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 245
Schiff mit hohem aus dem Wasser herausragendem Bug, das vergleichs-
weise der Kiefer der Affen, besonders der Anthropoiden darstellt, hat
sich beim Pferd und Schwein in einen ganz flachen niedrigen Kahn ver-
‘ wandelt, dessen vorderer Rand fast im Wasser versinkt, während er
beim Hund wie der Bug eines flachen Fischerkahns sich noch leicht
über die Wasseroberfläche erhebt. Beim Schwein (Abb. 10) gewinnt
man den Eindruck, dass durch die grossen Hauer die Tendenz zur
horizontalen Verflachung des Unterkiefers, wie sie in vollendeter
Weise beim Pferd (Abb. 9) sichtbar ist, unterbrochen wird und der
der Einsenkung der Hauer entsprechende Teil ausserdem noch
verdickt ist. Die Ursache, die diese Umwandlung der Kiefer-
form herbeigeführt hat, kann in nichts anderem liegen, als in der
mechanischen Einwirkung, die über das Gebiss auf den Kiefer-
knochen eingewirkt hat. Die Gewalt, die beim Beissakt, d. h.
beim Erfassen und Festhalten der Nahrung, auf das Gebiss wirkt,
pflanzt sich in gleicher Richtung nach physikalischen Gesetzen auf
den Knochen fort und bedingt durch Abbau einerseits und Verstärkung
andererseits diejenige Form, die dem Druck den stärksten Widerstand
leisten kann. Wir brauchen uns z. B. nur vorzustellen, dass bei
gleicher Konfiguration der Kiefer die Schneidezähne des Pferdes und
des Schweines senkrecht stünden und dass auf sie mit gleicher Stärke
derselbe Druck ausgeübt würde, wie er bei diesen Tieren tatsächlich
ausgeübt wird, um einzusehen, dass beide Kiefer bei dem ersten
kräftigen Biss glatt durchbrechen würden, ganz abgesehen davon, dass
schon vom künstlerisch-ästhetischen Standpunkt aus eine solche Formen-
zusammenstellung uns als unmöglich erscheinen würde: schön, gut
und nützlich sind eben identisch.
Dass diese Überlegungen durchaus richtig sind, geht ohne weiteres
hervor aus einer weiteren Reibe von Präparaten. Sie sehen in den
folgenden Präparaten von Pagrus-Pagrus und Chrysophrys
(Abb. 11) die Kiefer von Fischen, die teils mit spitzen, teils mit
stumpfen kegelförmigen starken Zähnen fast wie ein Raubtiergebiss be-
setzt sind. Die Zähne sind auswärts-klinodont und stecken mit ihren
Wurzeln in tiefen Gruben des Knochens, die sie voll und ganz ausfüllen.
Die Kieferäste sind hochgekantet, der vordere Teil der Kieferrundung
fliehend in einem Grade, der etwa einer Zwischenstufe entspricht,
die man sich zwischen Affe und Hund denken könnte. Die Atrophie
entspricht genau dem Grade der Klinodontie. Am beweisendsten aber
ist das Gebiss vom Fische Sargus Capensis (Abb. 12). Hier sehen
wir ganz schräg und flach aus dem Kiefer nach vorn gerichtet und
wirklich diegerade Verlängerung des vollkommen flachen schalenförmigen
Kiefers darstellend ausserordentlich zierliche und feine hohlmeisselförmige
246 M. Westenhöfer. [8
Schneidezähnchen herauskommen, an deren lange schmale Krone sich
eine noch längere und schmälere Wurzel anschliesst, die lose in echten
tiefen Alveolen steckt. Das Gebiss dieses Fisches stellt gewissermassen
das Extrem der Auswärts-Klinodontie dar, während das des Haies
in Abb. 1 das Extrem der Einwärts-Klinodontie darstellt: In beiden
Extremen ist der Kiefer, was Höhe und Stärke angeht auf ein
Minimum reduziert, was ja sehr begreiflich ist, da in beiden Fällen
die einwirkende Kraft den Knochen fast tangential trifft, wobei
im Falle des Haies auch die absolute Kraft verschwindend gering,
während sie bei Sargus zweifellos ziemlich beträchtlich ist. (Ich möchte
nicht unterlassen, bei der Demonstration dieser merkwürdigen
Fischgebisse darauf hinzuweisen, wie man an ihnen in wundervoller
Weise die verschiedensten Formen und Grössen von Zähnen und die
Entstehung zusammengesetzter Zähne aus einfachen Zapfen- oder
Kegelzähnchen studieren kann, die übrigens auch beim Menschen
nicht allzu selten vorkommen (Emboli). Da diese Frage uns indessen
hier nicht beschäftigt, brauche ich nicht darauf einzugehen.)
Die Auswärts-Klinodontie hat noch eine weitere Folge für die
Morphologie des Kiefers, die ebenfalls bezüglich ihrer Ausbildung von
dem Grade der Klinodontie abhängig ist, das ist die Entwicklung
einer sogenannten Basalplatte. Diese stellt, wie wir an dem
Affenkiefer Abb. 13 sehr schön sehen können, eine Knochenplatte dar,
welche an der Innenseite des Kiefers an seinem vorderen Ende die
beiden Kieferäste miteinander verbindet und so eine Verstärkung des
Kiefers, gewissermassen einen Schutz gegen das Auseinanderbrechen
der Kiefer, darstellt. In Wirklichkeit ist sie freilich nichts anderes, als
eine Synostose der nach vorn und oben zu etwas verlängerten und verbrei-
terten Kieferastendigungen im Bereiche des Bogens. Schon beim Krokodil
sahen wir, wenn auch nicht die Entwicklung einer Basalplatte, aber
doch bezüglich der Wirkung etwas Ähnliches, nämlich das Aneinander-
legen der vorderen Hälften der nicht verbreiterten und verstärkten
Kieferäste. Je stärker die Auswärts-Klinodontie, um so stärker und
um so weiter nach hinten reichend ist die Entwicklung der Basal-
platte. Sie fehlt vollkommen bei den Tieren mit Einwärts-Klinodontie
und bemerkenswerterweise auch bei den genannten Fischen mit
Auswärts-Klinodontie, deren Kiefer sogar nicht einmal immer fest
knöchern miteinander sind, sie stossen meistens nach Art einer fast
linearen Synostose in der Mitte zusammen. Das lässt darauf schliessen,
dass das Beissen bei diesen Tieren trotz der Ähnlichkeit der Klino-
dontie mit den höheren Säugetieren in anderer Weise, jedenfalls nicht
mit derselben Gewalt vor sich gehen muss als bei diesen. Während
bei den Säugetieren der Unterkiefer im Kiefergelenk gegen den einen
9] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 247
festen Widerstand darbietenden mit dem Kopf innig verschmolzenen
Oberkiefer angepresst wird, fehlt bei den Fischen ein derartiges festes
Widerlager, gegen das der Unterkiefer gepresst wird. Würde z. B.
ein solcher Fischunterkiefer mit der gleichen Kraft gegen das Inter-
maxillare gepresst werden, so müsste man bei dessen lockerer Be- .
festigung mit dem auch an und für sich mannigfach und locker zu-
sammengesetzten Kopfskelett erwarten, dass dieses aus den Fugen
ginge. Wahrscheinlich drückt der Fisch seine starken Kiefer gegen
den harten Gegenstand, den er bearbeitet (Muscheln, Korallen usw.),
indem er mit Hilfe der Flossen seinen ganzen Körper einschliesslich
des Kopfes gewissermassen gegen den festen Gegenstand „stancht“
und dadurch den Kopf fixiert. Wir werden übrigens nachher sehen,
dass auch das Kopfskelett bei solchen Fischen sich unter der Einwir-
kung des Beissens und bei beweglicher Beute erheblich umwandeln
und verstärken kann. Bei Sargus capensis wird eine Art Basal-
platte vorgetäuscht in Gestalt einer grossen Anzahl dichtgedrängt
stehender knopfförmiger Zähnchen, die die Innenfläche der fast hori-
zontal stehenden muldenförmigen Unterkieferbogen völlig zudecken und
so erheblich verstärken.
Wir verstehen ausserdem, wie bei Klinodontie bei jedem Kiefer
als dritte mechanische Folge eine gewisse Neigung bestehen muss,
sich d. h. den Kieferbogen zu verlängern und eine Schnauze zu bilden.
Während dieses bei der Einwärts-Klinodontie infolge der geringeren
Gewalteinwirkung nicht so unbedingt nötig ist, muss bei der Aus-
wärts-Klinodontie mit der Zunahme der Schrägstellung der Vorder-
zähne auch eine Verlängerung des Kiefers entsprechend der mehr
oder weniger tangenitalen Krafteinwirkung stattfinden. Ist Zahn-
stellung und Kieferrichtung fast parallel geworden, dann hört auch
gewöhnlich die Verlängerung auf, sie findet ihr natürliches Ende.
Daraus ergibt sich der Satz, dass die Rundung des Kieferbogens,
ob mehr spitz, oval oder kreisförmig, hauptsächlich
abhängig ist von der Stellung der Vorderzähne.
Wenn wir so gesehen haben, wie sich der Kiefer bei Klinodontie
verhält, so haben wir jetzt zu untersuchen, wie verhält er sich bei
Orthodontie? |
Es ist klar, dass auch bei Orthodontie, bei der die Zähne senk-
recht im Kiefer stehen, dieselben mechanischen Gesetze gelten, wie
bei Klinodontie. Wenn die Zähne senkrecht im Kiefer stecken und
die Gewalteinwirkung beim Beissen senkrecht auf die Oberfläche der
Zähne erfolgt, so muss ein Kiefer daraus hervorgehen, der nach allem,
was wir im vorhergehenden Abschnitt auseinandergesetzt haben, hoch-
gekantet sein und einen mehr oder weniger runden, kreisförmigen
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 3. 17
248 M. Westenhöfer. [10
Bogen bilden muss. Ein solcher Kiefer kann keine Basalplatte oder
nach hinten verlängerte, die Äste verbindende Synostose haben, ein
solcher Kiefer kann nur kurz sein, ein solcher Kiefer muss in seinem
vorderen Abschnitt im Bereiche der Rundung oder des Bogens un-
gefähr dieselbe Höhe haben wie an den seitlichen Abschnitten der
Kieferäste. Einen Kiefer, der ungefähr diesem Zustande entspricht.
kann ich Ihnen hier zeigen und zwar von einem dem Fisch Pakuü oder
Piaractus brachypomus (Abb. DL Bei diesem Fische sehen
wir einen hohen Unterkiefer mit einem grossen runden parabolischen
Bogen. In der Mitte des Kieferbogens springt aussen etwa oberhalb
des unteren Randes eine Spitze fast wie ein Kinn oder besser wie
ein Rammsporn vor. Die Zähne stehen absolut senkrecht in dem
Kiefer. Jedoch ist dabei zu bemerken, dass diese Zähne, die pracht-
voll geformte, breite in der Mitte eine kleine spitze Erhebung tragende
Schneidezähne darstellen, eigentlich nur aus einer Krone bestehen und
mit ihrer Hinterfläche in die Vorderfläche des Kieferbogens ein-
gebettet sind, sie stehen also eigentlich gewissermassen vor dem Kiefer.
Es kann die mechanische Wirkung auf den Knochen nicht so intensiv
sein, wie wenn die Zähne mit tiefen Wurzeln im Kiefer selbst be-
festigt wären. Vielleicht ıst hierauf der Umstand zurückzuführen,
dass der Kiefer im Bereich des Bogens nicht ganz so hoch ist wie
im Bereich der Seitenteile. An der Innenseite zeigt dieser Kiefer
eine deutliche Verstärkung, die man als (vertikal stehende) Basalplatte
ansprechen könnte, wenn sie nicht ebenfalls zwei Schneidezähne
trüge, wodurch ihre Deutung als Basalplatte hinfällig ist, obwohl
sicher eine Verstärkung des Kiefers dadurch geschieht. Man könnte
sogar geneigt sein, die im Vergleich zu den übrigen bisher be-
sprochenen Fischen auffallend geringe Zahl von Zähnen in Verbindung
zu bringen mit der Orthodontie, d. h. der neuen und ganz anderen
Art der Nahrungsaufnahme. Bei diesem Fisch übrigens ist das
Kopfskelett so stark verknöchert und in seinen einzelnen Teilen so
fest miteinander verbunden, dass man hier die Möglichkeit, ja Wahr-
scheinlichkeit zugeben muss, dass der Unterkiefer mit grosser Gewalt
gegen den Oberkiefer gepresst werden kann, dass die beiden Zahn-
reihen wie Äxte auf den gefassten Gegenstand einschlagen können,
ohne dass für den Zusammenhalt des Kopfes eine Gefahr besteht.
Dieses Fischgebiss ist also auch imstande, frei bewegliche Gegen-
stände zu fassen und zu zerschneiden.
Ich zeige Ihnen ferner den Schädel eines Negers (Abb. 15), bei
dem Sie im Oberkiefer eine starke Prognathie (Klinognathie nach
H. Virchow) mit Klinodontie sehen, so dass die hintere Fläche der
oberen Schneidezähne fast horizontal steht. Die Zähne des Unterkiefers
11} Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 249
sind orthodont') und beissen derartig gegen das Obergebiss, dass, wie
ganz deutlich zu erkennen ist, die Schneidezähne des Untergebisses
an ihrer Oberfläche horizontal abgeschliffen sind. Auf dieses Gebiss
hat demnach der Beissdruck nahezu senkrecht eingewirkt (Aufbiss).
Dementsprechend sehen wir einen hochgekanteten fast kreisrunden
Unterkiefer, an dem ein Kinn kaum angedeutet erscheint.
Im Anschluss hieran zeige ich Ihnen den isolierten Unterkiefer
(Abb. 4) und den Schädel eines Europäers (Abb. 14). Bei beiden
sieht man einen hochgekanteten schön gerundeten Unterkiefer
ohne jedes Zeichen einer Basalplatte, dagegen mit einem ausge-
sprochenen Kinnvorsprung. Die Zähne stehen orthodont im Unter-
kiefer, wir sehen aber, besonders deutlich an dem isolierten Unter-
kiefer, dass die Kronen der Zähne eine ganz leichte Biegung nach
einwärts machen und dass die Zahnreihe des Unterkiefers nicht nur
binter der Zahnreihe des Oberkiefers im Bereich der Schneidezähne
verschwindet, sondern auch, dass die Beisskante der Schneidezähne
am vorderen oberen Rande schräg abgeschliffen ist, mit anderen
Worten die Schneidezähne des Unterkiefers beissen hinter der Beiss-
kante der oberen Schneidezähne vorbei. Man nennt diese Art des
Beissens den Scheerenbiss, weil die beiden Schneidezahnreihen
wie die Klingen einer Scheere sich aneinander vorbeibewegen. Alle
die anderen Kiefer mit Auswärts-Klinodontie, die wir besprochen
haben und ebenso das Gebiss des vorhin gezeigten Negerschädels zeigen
den sogenannten Aufbiss, wobei Zahnkante gegen Zahnkante trifft
und die Schneidekanten beim Gebrauch gleichmässig horizontal ab-
geschliffen werden. Besonders deutlich zeigt dies auch der Affen-
schädel (Abb. 16)?). Bei Scheerenbiss und Orthodontie wirkt die Beiss-
gewalt nicht vollkommen senkrecht auf den darunterliegenden Knochen
wie etwa bei Orthodontie und Aufbiss, sondern die Gewalt wirkt in
leicht schräger Richtung von oben innen nach unten aussen. Die
Folge davon muss sein, dass auch die Knochenverstärkung in dieser
Richtung sich ausbilden muss. Das Resultat dieser Wirkung ist aber
nichts anders wie die Entstehung des Kinns. Die Kinnbildung
des Menschen ist mithinzurückzuführen auf seine Ortho-
dontie und seinen Scheerenbiss. Es versteht sich nach diesen
Ausführungen von selbst, dass die Kinnbildung zwar eine ausgesprochen
1) Nach Adloff stehen beim Menschen selbst bei Progn athie die Zähne
besonders ihre Wurzeln, stets orthodont (Das Gebiss des Menschen und der Anthro-
pormorphen bei Jul. Springer 1908).
2) Es ist ausserordentlich lehrreich, immer wieder die Reihenfolge der
Abb. 14—16 anzusehen. In den Lehrbüchern der vergleichenden Anatomie und
Anthropologie pflegt die Reihenfolge, wenn sie angeführt wird, genau umgekehrt
zu sein, aus Gründen, die im folgenden Abschnitt erläutert werden.
17*
250 M. Westenbhöfer. [12
menschliche Eigentümlichkeit ist, dass sie aber bei den einzelnen
Menschen individuell ganz verschieden stark oder schwach oder gar
nicht aufzutreten braucht je nach der Stellung und Funktion des
Gebisses. Die bei dem Fisch Pakü und bei den Schlangen angedeuteten
ähnlichen Bildungen, deren Entstehungsmechanik aber anders ist, wird
man daher höchstens als kinnähnlich, besser aber als äussere Kiefer-
stacheln bezeichnen, worauf im zweiten Teil zurückgekommen wird.
Würde man einem tüchtigen Ingenieur den Auftrag geben, einen
horizontal gehaltenen runden, etwa halbkreisförmig gebogenen Stab
in der Weise an seiner Oberfläche, d. h. von oben her zu belasten,
dass die Druckrichtung immer stärker werdend nacheinander alle
Winkel von 0—180° durchläuft und der-Belastung entsprechend den
Stab so zu formen, dass er der Belastung am besten Widerstand
leistet, d. h. seine Druckfestigkeit bewahrt, so könnte die Lösung nicht
anders ausfallen, als die Natur sie uns in den verschiedenen Kieferformen
bei den verschiedenen Zahnstellungen und den daraus sich ergebenden
Druckwirkungen auf den Kieferknochen vormacht und wie sie in klassi-
scher Weise die beiden stärksten Extreme zeigen : Das einwärts-klinodonte,
fast tangential liegende Gebiss des Hais (Winkel von fast 0°) und
das auswärts klinodonte, fast tangential liegende Gebiss von Schwein
oder Pferd oder Sargus (Winkel von fast 180°), zwischen denen genau in
der Mitte das orthodonte Gebiss des Pakü (90°) und des Negers und
das zwar ebenfalls orthodonte, aber bei der Funktion leicht einwärts
klinodont wirkende Gebiss des europäischen Menschen steht.
II. Die anthropologische Bedeutung des Kinns.
Es dürfte niemand daran zweifeln, dass die älteste Bezahnung
der aus dem vordersten Kiemenbogen umgewandelten Kiefer wie über-
haupt die Zahnbildung in der Mund-Rachenhöhle von dem diese Teile
überkleidenden Ektodern ausging und dass diese einfachen Hautzähn-
chen, wie wir es beim Hai und Dorsch gesehen haben, mit ihrer
Spitze nach einwärts gerichtet sind. Im Laufe der Phylogenie muss
aus dieser Einwärts-Klinodontie über die Orthodontie der Weg zur
Auswärts-Klinodontie gegangen sein, ein Weg, der zweifellos durch
die Umweltbedingungen, in denen die Organismen gelebt haben, vor-
geschrieben wurde. Und wir können mit einem gewissen Recht die
Behauptung aufstellen, dass, wie die stärkste Einwärts-Klinodontie
den einfachsten und primitivsten Zustand des Gebisses, so die stärkste
Auswärts-Klinodontie die weitest gehende Entwicklungsstufe darstellt.
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet können wir nicht anders
als erklären, dass die menschliche Kieferbildung mit ihrer Ortho-
dontie und der Ausbildung eines Kinnes einen Zustand darstellt, der
13] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 251
unmittelbar der Einwärts-Klinodontie folgt, d. h. der in den frühesten
Beginn der Säugetierzeit verlegt werden muss, ja man könnte
sogar behaupten, dass der Scheerenbiss einen Zustand darstellt, der
noch an ein Stadium vor der Säugetierzeit (Reptilien) erinnere. Man
könnte hierin noch bestärkt werden, wenn man sich die Kiefer
menschlicher Embryonen betrachtet. Ich habe hier 3 mazerierte
menschliche Schädel von 8, bezüglich 19, bezüglich 30 cm Umfang,
sie stammen also etwa aus dem 4., 6. und 8. Fötalmonat. Wir sehen,
wie bei diesen Föten die Unterkieferäste vorn in der Mitte noch nicht
vereinigt, sondern durch einen dreieckigen Spalt, dessen Spitze im
Alveolarfortsatz liegt, mehr oder weniger getrennt sind (Abb. 17).
Denken wir uns von diesen Kiefern den Alveolarfortsatz entfernt, so
würden wir auf beiden Seiten eine ziemlich niedrige, aber doch gekantete
Knochenspange vor uns haben, die an ihrem vorderen unteren Ende
in eine eben angedeutete und nach vorn leicht vorspringende Spitze
ausläuft d. h. ein Gebilde, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem
Unterkieferast einer Schlange hat, und zwar ist dieser kinnähnliche
Vorsprung schon deutlich, obwohl derjenige Teil, der dem mensch-
lichen Unterkiefer eigentlich erst endgültig und ganz besonders stark
den Kinnvorsprung verleiht, nämlich die Kinnknöchelchen, noch
gar nicht vorhanden sind, wenigstens nicht bei den beiden kleinsten
Schädeln. Die Kinnähnlichkeit wird besonders dadurch noch verstärkt,
als unmittelbar an den Vorsprung sich eine leichte Grube anschliesst,
deren Vorhandensein beim Kiefer des Erwachsenen das endgültige
Kinn ganz besonders stark hervortreten lässt. Die Kinnknöchelchen
entwickeln sich in dem weichen Gewebe zwischen den vorderen Enden
der beiden Kieferäste und vereinigen sich im Laufe des ersten Lebens-
jahres mit einander und mit den angrenzenden Kieferendigungen zu
einem festen, von dem Kiefer nicht weiter trennbaren Teil, dem so-
genannten Kinntetraeder, der von vorn als sogenanntes Kinn-
‘dreieck sichtbar und bei den verschiedenen Menschen ganz ver-
schieden stark ausgeprägt ist. Es ist nun bemerkenswert, dass diese
Kinnknöchelchen nur beim Menschen vorkommen, woraus gewissur-
massen a priori der Schluss gezogen werden kann, dass die Kinn-
bildung von diesen Knöchelchen abhängt. Es liegt nahe, die Er-
klärung hierfür auf demselben Wege zu versuchen, wie diejenige für
die Entstehung des Kinnes. Ich zeige zum Vergleich den Unterkiefer
eines l4tägigen Schimpansenkindes (Abb. 18). Zunächst fällt
die ausgezeichnete Rundung des ganzen Unterkiefers auf, die der
eines menschlichen Neugeborenen kaum nachsteht. Alle Zähne (Milch-
gebiss) stehen ausgesprochen orthodont im Kiefer. Dementsprechend
ist der Kiefer allenthalben gleich hoch und zeigt weder die Aus-
252 M. Westenhöfer. [14
bildung einer Basalplatte noch eines Kinnes. Die Kieferfuge
(Synostose der Endigungen der beiden Kieferäste) geschieht in einer
in der ganzen Ausdehnung gleichmässig ausgebildeten zackigen Naht
(sie ist leider auf dem Bild durch den Faden verdeckt). Nirgends
ist Platz oder ein weiches Gewebe in grösserer Menge vorhanden,
in dem sich Sonderknöchelchen entwickeln könnten. Dieser Befund
zeigt sehr deutlich, dass die Kinnknöchelchen des Menschen
zwar eingeschaltet sind in die Synostose des Kiefers, dass sie unter
keinen Umständen aber mit den bekannten Nahtknochen zu vergleichen
sind, sondern, dass sie Bildungen ganz besonderer Art, nämlich
echte Schaltknochen, sein müssen. Diese Bildung, die nicht aus
den Nahträndern, sondern mitten aus dem weichen Mesenchymgewebe
zwischen den beiden Kieferenden entstanden ist, wie das an dem
8 Monate alten Fötus schön zu sehen ist, kann nur aus einer funktionellen
Anpassung entstanden sei. In diesem weichen offenbar zur Knochen-
bildung befähigten Spaltgewebe zwischen den leicht zugespitzten Kiefer-
endigungen müsste sich Knochen nach denselben mechanischen Ge-
setzen bilden, nach denen sich Knochensubstanz im Organismus über-
haupt bildete, und zwar in dem Augenblick als die Druckverhältnisse
sich an dieser Stelle änderten. Das aber geschah zu der Zeit, als
die vorher einwärts-klinodonten Widerhakenzähne sich
umwandelten in die orthodonten Scheerenbisszähne. Die
Kinnknöchelchen und der aus ihnen hervorgehende Kinntetraeder
machte den orthodonten Kiefer überhaupt erst gebrauchsfähig, indem
sie sein Auseinanderweichen beim Beissen verhinderten. Würden wir
z. B. den beweglichen Schlangenkiefer zu einem einheitlichen Knochen
vereinigen und befestigen wollen, so müssten wir in dem die Kiefer-
enden verbindenden Weichteilstrang Knocheneinlagerungen eintreten
lassen ganz nach Art der Kinnknöchelchen. Solange das nicht der
Fall wäre, würden die Enden trotz ihrer Annäherung immer wieder
auseinanderweichen, zumal wenn diese Eigenschaft durch lange Genera-
tionen hindurch erbmässig fixiert wäre. Kinnknöchelchen und Kinn-
tetraeder sind somit funktionell dasselbe was die Basalplatte bei den
auswärts-klinodonten (weiterentwickelten) Säugetieren ist. Da in Wirk-
lichkeit das Kinn oder das Kinndreieck nur die Vorderseite eines die
ganze Dicke des Knochens einnehmenden Tetraeders darstellt, so könnte
man diesen nicht mit Unrecht in Anlehnung an den Begriff der Basal-
platte den Basaltetraeder oder die Basalpyramide nennen. Wie
die Basalplatte eine schräge bis horizontale einwärts-
klinoide Verstärkung des Kiefers darstellt, so stellt also
das Kinn, speziellder Kinntetraeder eine vertikale bezüg-
lich mehr oder weniger auswärtsklinoide, zwischen die
15] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 253
KieferästeindieKieferfugehineingeschobene orthotische
Verstärkung des Kieferbogens dar. Diese vertikale
(auswärts-klinoide) Verstärkung musste verloren gehen, als die horizontale
(einwärts-klinoide) sich ausbildete und so sehen wir, wie die Entwicklung
der Kinnknöchelchen bei all denjenigen Säugetieren ausbleibt, die
auswärts-klinodont sind. Bemerkenswerterweise bleibt die Bildung
von Kinnknöchelchen auch dann aus, wenn, wie hier bei dem Schim-
pansenkind-Kiefer, abgesehen von der vollkommenen Naht-Synostose,
die Kieferbildung noch stark an die menschliche und damit auch an
die Reptilien-Bildung erinnert. Dieser Schimpansenkiefer zeigt in der
Tat am unteren vorderen Rande der beiden Kieferastendigungen einen
Vorsprung, den man leicht geneigt sein könnte mit dem menschlichen
Kinn zu identifizieren und doch ist das nicht statthaft, denn dieser
Vorsprung entspricht zwar demjenigen, den die menschlichen Embryonen
noch vor der Anlage der menschlichen Kinnknöchelchen ebenfalls
zeigen, aber nicht dem Teile, der später das Kinn der Hauptsache nach
bildet. Da kein Anthropoide jemals Kinnknöchelchen zeigt, ist es.
fraglich, ob diese in seiner Phylogenie überhaupt vorhanden und etwa
gänzlich rudimentär geworden seien. Das ist nicht sehr wahrscheinlich,
irgend wann müsste man doch einmal einen atavistischen Rückschlag
beobachtet haben. Daraus könnte man aber den Schluss ziehen, dass
der menschenähnliche Unterkiefer des Schimpansenkindes doch mit
dem Menschen oder dessen Vorfahren nicht direkt etwas zu tun zu
haben braucht, dass er z. B. das Stadium der Orthodontie so rasch
überwunden und zu dem der Klinodontie übergegangen ist, dass
weder Kinnknöchelchen noch echtes Kinn sich entwickeln konnten.
Es ist vielleicht aber auch möglich, dass bei reiner Orthodontie die
Druckverhältnisse so geartet sind, dass die freien Kieferendigungen
sich vereinigen können (wie beim kindlichen Schimpansenkiefer) ohne
dass die Kinnknöchelchen als Schlusssteine nötig sind, während bei
der leicht einwärts klinoiden Orthodontie (dem Scheerenbiss) die
Kieferendigungen leichter auseinandergedrückt werden können, sodass
die Kinnknöchelchen die Lücke ausfüllen müssen '!).
ı) 14 Tage nach meinem Vortrag demonstrierte Hauschild in der Gesell-
schaft naturforschender Freunde in Berlin kindliche Unterkiefer aus dem ersten
Lebensjahr, bei denen er zeigen konnte, dass an die Kieferendigungen innerhalb
der Lücke je ein kleines Muskelbündel des m. digastricus sich ansetze, das erst
im Laufe der weiteren Entwicklung durch die Bildung und Vereinigung der Kinn-
knöchelchen mit den Kieferendigungen verschwinde. Hauschild glaubt, dass
das Vorhandensein dieser feinen Muskelzüge die primäre Vereinigung der Kiefer-
endigungen zu einem Ganzen verhindere. Dass die Existenz eines Muskels
zwischen zwei Knochenteilen die Verknöcherung derselben verhindern kann, ist
gewiss möglich, aber im vorliegenden Fall geschieht die Verknöcherung in kurzer
254 M. Westenböfer. [16
Der Schimpansenkind-Kiefer zeigt uns aber trotz des Fehlens
der Kinnknöchelchen auf Grund seiner überall fast gleichmässigen
Höhe, seiner schönen Rundung, dem leichten Vorsprung und nicht
zuletzt der ausgesprochenen Orthodontie, die die Milchschneide-
zähne in den Alveolen zeigen, eine grosse Ähnlichkeit mit einem
menschlichen Unterkiefer aus dem ersten Lebensjahr, nur ist der
Unterkiefer, ebenso wie der Oberkiefer, dank besonders der stärkeren
Entwicklung des Gebisses entschieden plumper als beim menschlichen
Neugeborenen und Säugling im ersten Lebensjahr. Betrachten wir den
zu diesem Unterkiefer gehörigen Schädel (Abb. 18), so fällt uns die
ganz besondere Wölbung und fast kugelige Beschaffenheit des Gehirn-
schädels sofort in die Augen und auch hier drängt sich uns die grosse
Ähnlichkeit mit dem Schädel eines neugeborenen Menschen auf. Der
Hauptunterschied allerdings besteht abgesehen von der genannten
grösseren Plumpheit des Ober- und Unterkiefers darin, dass der Kopf-
umfang dieses 14 Tage alten Schimpansen 10 cm weniger beträgt
als der eines neugeborenen Menschen, d. h. 24:34 cm. Aber die
Ähnlichkeit zwischen dem Schimpansen- und Menschenkind einerseits
ist bedeutend grösser als die zwischenSchimpansenkind und Schimpansen-
erwachsenen andererseits.
‚Wenn wir alle diese Momente zusammennehmen und wenn wir
insbesondere noch einmal die Reihe der Gebisse betrachten, so scheint
ein Zweifel darüber, an welche Stelle in der Reihe wir den Menschen
Zeit ja doch trotz des Vorhandenseins der Muskelbündel. Aber vor allem ist die
viel wichtigere Frage von Interesse, wie kommt dieses Muskelbündel dazu, sich
gerade an die Kieferendigungen zu inserieren? Es ist ja klar, dass das nicht
geschehen könnte, weon kein Platz da wäre. Es kann also auch so sein, dass
die Lücke im Kiefer nicht etwa erhalten bleibt, weil der Muskel dort inseriert,
sondern dass der Muskel dort inseriert, weil die Lücke da ist. Zum Beweis
dieser letzten Ansicht habe ich mit gütiger Unterstützung des Assistenteu am
anatomischen Institut, Herrn Dr. Kniepkamp, den Kiefer einer Riesenschlange
präpariert und konnte feststellen, dass bei geschlossenem Munde in die Lücke
zwischen die freien Kieferendigungen sich das beide Enden verbindende Kiefer-
band nach vorn hineinlegt. An dieses Band inseriert sich an der Stelle, wo es
sich an den vorderen Teil des Kiefers anlegt (anscheinend als Fortsetzung einer
Aponeurose eines breiten Mundboden-Kiefermuskels) ein kräftiger Muskel, von
dem eine besondere Portion hinter und lateral von dem Bande sich unmittelbar an
den Knochen des Kieferendes inseriert. Der Muskel kommt von den Knorpel-
ringen der Luftröbre ber. Ich darf mithin zwar nicht die Deutung, die ich ablehne,
wohl aber den Befund Hauschilds als wichtige und stützende Ergänzung zu
meinen Ausführungen über das Problem des Kinns buchen, ohne zunächst die
Frage zu berühren, in welchem Verhältnis (z. B. phylogenetischen) dieser Schlangen-
muskel zu dem des menschlichen Säuglings steht, wie es ja überhaupt unmöglich
ist, alle sich aus meiner Betrachtung ergebenden Einzelfragen auch nur annähernd
festzustellen, geschweige denn schon jetzt zu beantworten.
17] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 255
zu setzen haben, ausgeschlossen. Man könnte den Versuch machen,
irgendeinem unbefangenen Laien den menschlichen Unterkiefer in
die Hand zu geben mit der Aufforderung, ihn an diejenige Stelle der
Reihe zu setzen, wo er seiner Beschaffenheit nach hingehört: er würde
ihn ganz gewiss an die Stelle setzen, wo ich ihn auch hingesetzt
habe, nämlich hinter die Fische und Reptilien und vor jedes andere
Säugetier.
Wir können uns leicht vorstellen, wie aus dem einwärts-klinodonten
der orthodonte und aus diesem der auswärts-klinodonte Kiefer wird.
Der umgekehrte Weg wird uns kaum möglich erscheinen und ist
wohl auch niemals vorgekommen. Bezüglich des Vergleichs des Ge-
bisses selbst des Menschen und der Anthropoiden hat schon Adloff
gegen Walkhoff einen gleichen Standpunkt eingenommen, indem
er geneigt ist, die „senkrechte Stellung der Schneidezähne, wie sie beim
Menschen vorhanden ist, für die primitivere zu halten“ 1). Der mensch-
liche Kiefer kann mithin niemals aus einem Affenkiefer entstanden sein,
wohl ist aber das Umgekehrte möglich. Der Vorfahre, der beiden ge-
meinsam sein soll, kann, was seine Kieferbildung angeht, niemals
affenähnlich, sondern er muss menschenähnlich gewesen sein. Darauf
deutet auch alles dasjenige hin, was ich vorhin über das Schimpansen-
kind ausgeführt habe: es hat in seiner Kindheit menschenähnlichere
Züge als später und wir werden hier mit Recht das biogenetische
Grundgesetz Haeckels zur Anwendung bringen.
Hier ist ferner die Stelle, eine zweite Überlegung einzuschieben.
Wenn wir sehen, wie bei dem Schimpansenkind, abgesehen von seiner
geringen Grösse der Gehirnschädel eine so auffallende, fast mensch-
liche Dominanz über den Gesichtsschädel aufweist, so wird in uns
die Beobachtung in Erinnerung gerufen, die wir bei der Mehrzahl
der Säugetiere machen können, dass in der Embryonalzeit und noch
kurze Zeit nach der Geburt der Gehirnschädel im Gegensatz zu den
späteren Lebenszeiten ein deutliches Übergewicht über den Gesichts-
schädel zeigt, d. h. dass diese Tiere in ihrer Embryonalzeit bei schon
bestehender vollkommener Differenzierung aller einzelnen Teile in
ihrer Kopfbildung eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit dem
Menschen darbieten. Ich darf da vielleicht auch auf die be-
kannten vergleichenden Abbildungen hinweisen, die Haeckel in
‘seiner Anthropogenie gegeben hat?). Alle diese Tatsachen bedeuten
1) J. c. S. 109.
2) Wenige Tage vor Durchsicht des ersten Korrekturbogens lese ich in dem
1. Heft des vor kurzem neu erschienenen Anthropologischen Anzeigers
(Herausgeber R. Martin-München, Schweizerbartsche Verlagsbuchbandlung in
Stuttgart) ein kurzes Referat (W. Scheidt) einer Arbeit Bolk’s aus den Ver-
256 M. Westenböfer. [18
doch wohl nichts anderes, als dass der Säugetierstamm insgesamt
gewissermassen den Wegzum Grosshirn eingeschlagen hatte, dass
diese Entwicklung aber in um so stärkerem Masse gehemmt wurde,
je klinodonter das Gebiss, d. h. je stärker und mächtiger die Fress-
werkzeuge wurden. Dieser Entwicklungsgang ist ja leicht zu ver-
stehen und ist in ähnlicher Weise wiederholt schon betont worden.
Wir wissen aus zahlreichen anderen Beispielen, dass. wenn ein Teil
sich besonders stark entwickelt, er so viel Nahrung in Anspruch
nehmen muss, dass andere Teile darunter leiden müssen. Die Mög-
lichkeit einer starken Entwicklung der im Kopfe liegenden und den
Kopf zusammensetzenden Teile war ja in der Zeit gegeben, als die
Wirbeltiere aus dem Wasser an das Land gingen und ihre ausser-
ordentlich blutreichen Kiemen verloren. Fast den Hauptteil des Blutes
der Kiemenarterien, die nun zum grössten Teil zurückgebildet wurden,
musste schon aus anatomisch-topographischen Gründen neben den zu-
erst ja sehr einfachen Lungen der Kopf erhalten. Die grosse Hals-
schlagader hat z. B. beim Menschen ein Kaliber, das fast demjenigen
der Beckenschlagader entspricht, von der nicht nur die Beckeneinge-
weide, sondern auch die unteren Extremitäten versorgt werden. Von
der Umwelt musste es abhängen, welchen Weg die neuen Landwirbel-
tiere, insbesondere die Säugetiere beschritten, ob das freiwerdende
Blut zur Entfaltung der Fresswerkzeuge oder des Gehirns verwandt
wurde. Hierauf werden wir noch zurückkommen.
Wir haben gesehen, dass unmöglich der Mensch von einem affen-
ähnlichen Vorfahren abstammen kann. Das Umgekehrte ist wahr-
scheinlicher. Der in seiner drastischen Fassung ja schon längst als
unrichtig oder besser ungenau erkannte Satz, dass der Mensch vom
Affen abstamme, müsste daher, freilich ebenso ungenau und irre-
führend, umgewandelt werden in den Satz, dass der Affe vom Menschen
abstamme. In gleicher Weise wird die noch viel wichtigere und uns
öftentlichungen der holländischen Akademie der Wissenschaften über „Das Pro-
blem der Orthognathie“. Bolk behauptet, dass nach gewissen Unterscheidungs-
merkmalen, die die Schädelbasis bei Ortho- und Prognathie betreffen, „alle Säuge-
tiere im Fetalleben orthognath sind; der Zustand erhält sich jedoch nur beim
Menschen und einigen Affen. Demnach ist die Orthognathie als fixierte fetale
Eigenschaft anzusprechen. Die Umwandlung derselben in den prognathen Zustand
ist phylognetisch älter‘. Die Behauptung einer fetalen Orthognathie fügt sich
ausgezeichnet in den Rahmen meiner Ausführangen ein, ja scheint sie sogar
zu bestätigen, insbesondere was meine Bemerkungen über das Verhältnis von
Gehirn- und Gesichtsschädel im fetalen Leben betrifft. Der Schlusssatz des Referats
zeigt allerdings, dass der Verfasser durchaus nicht auf dem gleichen Standpunkt
zu stehen scheint, den ich einzunehmen für richtig halte, offenbar deswegen, weil
er durch die traditionellen Anschauungen ebenso befangen ist, wie manche
andere Untersucher, die schon dicht vor der richtigen Erkenntnis standen.
9] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 257
unmittelbar berührende Frage beleuchtet, in welchem Verhältnis
die bisber gemachten fossilen Menschenfunde zu uns
stehen. Niemand zweifelt heute daran, dass sie Entwicklungsstufen
des Menschen darstellen, die der unsrigen vorausgingen, d. h. dass
wir uns über diese diluvialen Funde hinaus weiter entwickelt hätten.
Wir brauchen aber nur die Unterkiefer des Ehringsdorfer-, des
Mauer- oder des Hauserschen Le Moustier-Menschen vor
uns aufzustellen, um sofort zu sehen, dass diese Menschen mit den
plumpen Kiefern, dem fliehenden Kinn und der Auswärts-Klinodontie
mit Aufbiss nicht unsere Vorfahren gewesen sein können. Die Merk-
male, die sie bieten, zeigen, dass sie über die primitive Orthodontie
sich hinausentwickelt hatten. Sie sind zwar Menschen, aber nicht
die Verbindungsglieder, das „Missing link“ zwischen dem „tiefer-
stehenden“ Affen und „höherstehenden“ Menschen, sondern umgekehrt,
sie sind Verbindungsglieder zwischen dem primitiveren einfacheren
Menschen und dem weiterentwickelten Anthropoiden oder besser und
richtiger, sie sind ein Zweig der wahrscheinlich aus gemeinsamer
Wurzel stammenden menschenähnlichen Wesen, der sich nicht in der
Richtung zum heutigen Menschen, sondern infolge anderer Umwelt-
einwirkungen zu den Anthropoiden hin entwickelt hat. Ganz all-
gemein wird es wohl zutreffen, dass je frühzeitiger die Trennung er-
folgte, je abweichender die Lebensbedingungen wurden, mmer mehr anch
eine morphologische Verschiedenheit eintreten musste. Wenn wir die
menschenähnlichen Affen Anthropoide oder Anthropomorphe nennen,
so steht nichts im Wege, diese fossilen Menschen allgemein als
Theroide oder Theromorphe und speziell als „Pithekoide“, d.h.
als Tier- bezügl. Affenähnliche zu bezeichnen. Das gilt mit grosser
Wahrscheinlichkeit für die ganze Neanderthal-Rasse. Es ist durch-
aus wahrscheinlich, dass diese „Theromorphen“ oder „Nachmenschen“
in ihrer Embryonal- und Kinderzeit viel menschenähnlichere Züge,
insbesondere einen grösseren Gehirnschädel aufwiesen, wie das heute
noch die Anthropoiden zeigen, aber es ist schon zweifelhaft,
ob sie etwa Kinnknöchelchen hatten. Dagegen spricht schon die
'auffallende Aushöhlung der Kinngegend, wie sie z. B. der Kiefer
von Mauer zeigt. Überhaupt sind die menschlichen Rassen viel-
leicht leichter zu begreifen, ihre Entstehung und ihre Beziehungen
untereinander vielleicht leichter zu erforschen, wenn man sie einmal
von dem Gesichtspunkt als fliessende Übergänge zu den tierischen
Formen, d. h. inwieweit sie sich aus primitiven menschlichen Formen in
theromorphe weiter entwickelthaben, betrachtet. Die Neanderthal-Rassen
sind vielleicht vom orthodonten Kinn- und Gehirn-Menschen vernichtet
worden, spärliche Reste vielleicht in den menschlichen Verband überge-
258 M. Westenhöfer. [20
gangen, so dass man hie und da noch Andeutungen an diese Rasse in unserer
Bevölkerung antrifft. Das Vernichten und Ausrotten ist ja von jeher
eines der wesentlichen Merkmale des Homo sapiens gewesen. Genau
betrachtet geht dieser Vernichtungsprozess heute noch vor sich, wenn
wir an die Australier und Neger Afrikas denken, wenn wir überhaupt
an die Verhältnisse der weissen Europäer zu allen farbigen Rassen
denken, die wohl alle mehr oder weniger theroid weiter entwickelt
sind als der Weisse. Wenn dem so ist, so müsste heute noch der Aus-
spruch Cuviers gelten: L’homme fossile n’existe pas, welchem Aus-
spruch ich nur das Wort encore hinzufügen möchte. Das ist ja durch-
aus nicht so unwahrscheinlich, wenn wir an die zwar zugänglichen aber
noch unerforschten Teile der Erdrinde und an die von ewigem Schnee
und Eis bedeckten, ehemals tropischen Polargegenden und die in den
Fluten der Ozeane versunkenen unzugänglichen Erdteile denken. Es
ist überhaupt misslich, und hätte schon längst zum Widerspruch auf-
fordern müssen, dass aus so verschwindend wenigen und dazu noch
unvollständigen Funden aus einem kleinen Teil der Erdoberfläche so
weitgeliende und bedeutungsvolle Schlüsse über die Abstammung des
Menschen und seine Stellung in der Natur gezogen wurden. Diese
Schlüsse und vorgefasste Meinung (Primaten-Stellung) waren es auch,
welche die wahre Deutung des menschlichen Kinnes bis heute un-
möglich machten und so verhinderten, dass dieser „angulus mentalis“
der Angelpunkt der Anthropologie wurde, von dem aus man die Kenntnis
vom Menschen in Bewegung hätte setzen können, wie Archimedes mit
seinem Hebelgesetz die Erde: Ads uoi noü orð xal yy xuýow.
Wir können also nicht behaupten, dass der Mensch das höchst-
entwickelte Säugetier sei. Wir haben keine Berechtigung, den Menschen
und die Menschenaffen als Gruppe der „Primaten“ an die Spitze der
Tierwelt zu stellen. Ist doch diese Einteilung, die in allen ernsten
naturwissenschaftlichen Werken durchgeführt ist, auch heute trotz
der fortgeschrittenen Erkenntnis nichts anderes als der Ausdruck
der aus der mosaischen Schöpfungsgeschichte übernommenen An-
schauung von dem besonders gottähnlichen Wesen des Menschen
als der „Krone der Schöpfung“. Wir müssen auf Grund der vor-
liegenden Tatsachen uns durchaus bescheiden und ehrlich zugeben,
dass die Mehrzahl der Säugetiere sich weiter entwickelt hat als
wir. Es ist überhaupt nicht angängig bei der Betrachtung der
Welt der Organismen von höherer oder niedrigerer Entwicklung zu
sprechen; wir können nur von einfacher oder weiterfortgeschrittener
d. h. Weiter-Entwicklung sprechen. Sie geht gewissermassen in einer
Ebene, in der Horizontalen, nicht in der Vertikalen, vor sich, die
uns durch die Schichten der Palaeontologie vorgetäuscht wird. Jeder
21] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u anthropologische Bedeutung. 259
Organismus ist für sich betrachtet gleich hoch oder gleich niedrig
entwickelt. Jedes Werturteil aber ist hinfällig und zu verwerfen,
schon desswegen, weil bei denselben Wesen einzelne Teile auf ein-
facherer Stufe stehen bleiben, während andere sich weiter entwickeln
können. Nach welchen Gesichtspunkten will man dann ein Wert-
urteil abgeben? Die Hauptsache für jeden Organismus ist doch, dass
er seiner Umwelt möglichst vollkommen angepasst ist, sodass ihm
sein Bestand gewährleistet wird. Wir Menschen haben, wenn man will, das
ganz besondere Glück gehabt, dass dank der Orthodontie und der
geringen Entwicklung unserer Fresswerkzeuge sich das Gehirn stärker
entwickeln konnte Wenn man uns treffend bezeichnen wollte, so
müsste man, den Begriff des Menschen identifizieren mit dem Begriff
Gehirntier (a potiori fit denominatio), womit freilich nicht gesagt
ist, dass man ihn allein so nennen dürfte, denn es gibt Tiere, z.B. der
Walfisch, dessen Gehirnentwicklung, wenigstens was Reichtum der Win-
dungenangeht, das menschlicheübertrifft. Der Mensch istaber dasjenige
Gehirntier, das mit Hilfe seines Gehirnes in weitestgehendem Maasse
die Erde und die auf ihr lebenden Wesen beeinflusst, meistens noch
dazu in einer Weise, die berechtigte Zweifel an der Nützlichkeit und
dem Vorteil dieser Entwicklung erwecken.
Wenn wir uns nun fragen, welchem Umstande verdankt
der Mensch dieses Stehenbleiben seinesKiefers und seines
Gebisses auf primitiver Stufe, so müssen wir nach den Um-
weltbedingungen forschen, unter denen er gelebt hat und die eine
Weiterentwicklung der Fresswerkzeuge oder mit anderen Worten, die
die Schnauzenbildung verhindert hat. Zunächst könnte ja schon daran
gedacht werden, dass es genügt hätte, dass die Gebirnentwicklung bei
der Landtierwerdung so rasch und intensiv eingesetzt hätte, dass eine
stärkere Blutversorgung der Kauwerkzeuge nicht eintreten konnte.
Das wäre aber nur möglich gewesen, wenn die Umwelt eine solche
relativ geringe Inanspruchnahme der Kauwerkzeuge gestattet hätte.
Wir kommen also auch bei dieser Fragestellung wieder zur Umwelt
als dem ausschlaggebenden Faktor. Umwelteinwirkung und Vererbung
sind ja die beiden Pfeiler, zwischen denen das Leben gewissermassen
pendelt. Wir müssen für den Menschenvorfahren eine Umwelt suchen,
bei der er zwar eines Gebisses zwecks Festhaltung und Zerkleinerung
der Nahrung bedurfte, bei der aber die Anforderungen besonders hin-
sichtlich der Ergreifung der Beute nicht besonders grosse gewesen
sein konnten. Die Anforderungen, die an sein Gebiss gestellt wurden,
und die Art, wie er die Nahrung zu sich nahm, muss eine andere
gewesen sein, wie sie etwa die Affen im Urwald hatten. (Ich lasse
mit voller Absicht die Extremitätenfrage aus dem Spiele, deren Bear-
260 M. Westenhöfer. [22
beitung eine besonders reizvolle, aber sehr schwierige Aufgabe dar-
stellt und will nur darauf hinweisen, wie reich an inneren Wider-
sprüchen z. B. die Tbeorieen über die Gestaltung des menschlichen
Fusses sind. Zuerst soll er ein Greiffuss gewesen sein, angepasst an
das Baumleben, dann soll er sich an den Gang auf dem Boden an-
gepasst haben. Dann kam das merkwürdige Wesen auf den Gedanken
wieder auf die Bäume zu klettern, aber nun nicht mehr mit dem
Greiffuss, sondern mit dem nun sich neu ausbildenden „Kletterfuss“‘. Und
dann ging das Wesen wieder auf den Boden und läuft nun heute noch mit
einer Art „Kletterfuss‘‘ herum. Den endgültigen Beweis aber aller dieser
Theorieen hält man für erbracht, weil in Australien einige Neger (natürlich
nur die männlichen) zur Ausübung ihres Berufes als Palmweinzapfer eine
besondere Klettertechnik ausgebildet haben). Im Gegensatz hierzu bitteich
Sie, sich zunächst noch an meinen Vortrag vor zwei Jahren zu erinnern.
Damals führte ich aus, dass der Mensch ım kindlichen Zustande und bei
einem gewissen Prozentsatz auch im erwachsenen Zustande Einrichtungen
in seinem Blinddarm, seiner Milz und seinen Nieren hat, die auf eine
frühere Vorfahrenstufe hinweisen (Progonismus), Einrichtungen, die
er bezüglich der Milz und Nieren mit gewissen Gruppen von Säugetieren
teilt, die vorwiegend am oder im Wasser leben und die man daher auch
als Wassersäugetiere bezeichnet. Ich habe daraus den Schluss
gezogen, dass vielleicht auch in der menschlichen Vergangenheit ein
solches Stadium eines Wassersäugetiers vorhanden gewesen sein, ja
noch bis in die Zeit der Menschwerdung gereicht haben könnte.
Schon damals habe ich den Zweifel durchblicken lassen: ob es wahr-
scheinlich sei, dass bei einer solchen Annahme der Mensch ein Urwald
bewohnendes Klettertier gewesen wäre. Der menschliche Wurmfort-
satz nimmt eine Mittelstellung ein zwischen der des reinen Fleisch-
fressers und der des reinen Pflanzenfressers, in der Mehrzahl der
Fälle ist er klein, 5—8 cm lang, so dass es eine ganze Anzahl Autoren
gibt, die der Meinung sind, dass er sich im Zustand der Rückbildung
befindet. Ob das in Wirklichkeit so ist, steht noch dahin. Ich
glaube, dass wenn er wirklich rückgebildet wird, es nicht infolge
primärer Funktionsaufhebung geschieht z. B. durch Änderung der
Nahrung, sondern weil er beim erwachsenen Menschen infolge des
aufrechten Ganges aus seiner ursprünglichen Lage verschoben und
dadurch zu Erkrankungen prädisponiert wird. Der menschliche Blind-
darm kann ebenso gut von einem Fleisch- wie Pflanzenfresser ab-
geleitet werden. Ein solches am Wasser lebendes Säugetier würde
sehr wohl eine Umwelt finden, die eine stärkere Entwicklung des
Gebisses bei der relativen Weichheit der Nahrung überflüssig macht.
Man könnte sogar noch den Umstand, dass der Mensch unbehaart ist,
23] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 261
früher aber sicher einmal behaart war, in Analogie zu dem relativen Haar-
schwund bei Wassersäugetieren (Wale, Robben, Nashorn, Flusspferd)
setzen, zumal es bis jetzt keine andere plausible Erklärung gibt. Auch
die Leichtigkeit, mit der das menschliche Unterhaut-Fettpolster zu
starker Entwicklung gebracht werden kann, welche Fähigkeit offenbar
schon ein vorzivilisatorischer Besitz ist (ich erinnere an die sogenannte
Venus von Bassompiere) würde mit der genannten Auffassung in
Einklang stehen. Auch die bisher ohne befriedigende Lösung gebliebene
Frage der verschiedenen Pigmentierung der Menschen hängt viel-
leicht mit diesem Problem zusammen (z. B. nicht Pigmentverlust
des Weissen, sondern Pigmentvermehrung des Farbigen).
Dass nach Aufhören des Wasserlebens, trotz der nun neuen Um-
weltbedingung das Gebiss und der Kiefer sich nicht weiter zu ent-
wickeln brauchten, das könnte unser damaliger Vorfahr der mittler-
weile eingetretenen stärkeren Entwicklung seines Gehirns, der Ent-
wicklung seiner Hand und dem aufrechten Gang verdanken, drei
Dinge, die ihm die Möglichkeit gaben, seine Umwelt nach eigenem
Willen und in bewusster Weise zu beeinflussen und sich dienst-
bar zu machen. Solche Wasserzeiten für den’ Menschen könnten
ganz gut zur Kreidezeit oder noch früher bestanden haben. Wenn
wir uns daran erinnern wollen, dass die sagenhaften Erzählungen und
bildlichen Darstellungen von Land- Wasser- und Luftdrachen, die
sich in dem Sagenschatz aller Völker finden, noch in unserer Kinder-
zeit in das Reich der Fabeln und Märchen verwiesen und als niemals
wirklich existierend betrachtet wurden, sohaben uns die paläontologischen
Forschungen eines Besseren belehrt. Die menschliche Tradition reicht
ausserordentlich weit zurück und sicher ist, dass der Mensch nichts er-
finden kann, was nicht wirklich existiert, auch die kühnste Phantasie ver-
mag das nicht. Irgendwo knüpft sie an die Wirklichkeit an. So ist
z. B. für mich die Sage von Beowulfs Kampf mit dem Drachen unter
Wasser ein solcher Hinweis, dass der Mensch im Wasser mit solchen
Drachen lebte und kämpfte. Haben sich die Drachen im Laufe der
Zeit ihre Existenzberechtigung bis zur Handgreiflichkeit erkämpft,
so wird auch für den ersten Urmenschen dieser Wasser-Existenz-
Nachweis im Laufe der Zeit vielleicht auch noch erbracht werden: Wir
wollen nur nicht nachlassen ihn zu suchen. Vorläufig lebt erja nur in den
Sagen und Märchen, in der dunklen Erinnerung der heutigen Menschen.
Meine Damen und Herrn! Sie werden leicht unterschieden haben,
was an meiner Darstellung rein tatsächlich und was hypothetisch ist.
Die dargestellten tatsächlichen Dinge schliessen sich eng an die vor-
geführten Präparate an und die daraus unmittelbar gezogenen Schluss-
folgerungen entsprechen den Gesetzen der Logik und unseren Kennt-
262 M. Westenhöfer, Das menschliche Kinn, seine Entstehung usw. [24
nissen über die Entwicklung von organischen Gebilden. Diese Schluss-
folgerungen zwingen dazu, die bisherigen Anschauungen über die
Stellung des Menschen in der Tierreihe und insbesondere seine Stellung
zu den Anthropoiden und den bisher gemachten fossilen Funden von
Grund aus neu zu gestalten, gewissermassen umzudrehen. Die sich
daraus weiter ergebenden Schlüsse, insbesondere alle Bemerkungen
über eine aquatile Lebensweise sind, wenn auch nicht ganz ohne
triftige Gründe und Anhaltspunkte doch noch hypothetischer Natur.
Diese Hypothese ist aber eine echte Arbeitshypothese — hat sie
mich doch auch zu den heute vorgetragenen Beobachtungen geführt —
und ich spreche sie nicht aus, ohne mir die Verpflichtung aufzuerlegen,
in dieser Richtung weiter Untersuchungen anzustellen, über deren
Ergebnis ich Ihnen in absehbarer Zeit hoffe Bericht erstatten zu
können. Allerdings hoffe ich dabei auch, dass der eine oder andere
Anatom oder Zoologe durch meine Darstellung angeregt, sich ver-
anlasst sehen wird, in gleicher Richtung zu forschen, selbst wenn es
mit der Absicht geschehen sollte, meine Beobachtungen und Schluss-
folgerungen zu widerlegen. Irgend ein Nutzen und ein Fortschreiten
unserer Erkenntnis’wird sich doch daraus ergeben.
Verzeichnis der Abbildungen.
(Erklärung im Text.)
. Kiefer vom Hai (Prionodon oxyrhynchus).
. Kiefer vom Dorsch (Gadus morrhua).
. Kiefer der Riesenschlange (Python reticulatus).
. Kiefer des Menschen (Europäer).
. Kiefer vom Pakuü (Piaractus brachypomus).
. Kiefer eines Gorilla.
. Kiefer eines Macacus.
. Kiefer vom Hund.
. Kiefer vom Pferd.
10. Kiefer vom Schwein
11. Kiefer vom Chrysophrys.
12. Kiefer von Sargus capensis.
13. Kiefer von Macacus (Ansicht von innen und oben, 2 Zähnchen ausgefallen).
14. Schädel eines Europäers.
15. Schädel eines Negers.
16. Schädel eines Macacus.
17. Schädel eines 6 Monate alten menschlichen Foetus.
18. Schädel eines 14 Tage alten Schimpansen.
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Neue Untersuchungen
des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin.
Von
Dr. Felix A. Theilhaber, Berlin-Wilmersdorf.
Die nachfolgenden Untersuchungen legen die Wandlung der
Geburtenvorgänge in ihrer wesenhaften Bedeutung dar.
Das Geburtenproblem ist ein vielfältiges. Es hat Beziehungen
und Verankerungen an biologischen, staatspolitischen, juristischen,
ökonomischen und ethischen Bedingtheiten. Auch der Arzt als Ver-
treter der Biologie und als Hüter der Volkshygiene hat Interessen
an der Geburtenbewegung und gliederte deshalb die Nachwuchs-
ziffern der Medizinalstatistik an. In dieses Interesse teilen sich der
Sexualwissenschaftler, der Gynäkologe, der ärztliche Beschützer der
Säuglingsfürsorge, der Kinder- und Schularzt, der Sozialhygieniker,
selbst der Praktiker und der Hausarzt, alle die Berater der Öffent-
lichkeit und der einzelnen Familien. Die Entwicklung der Sexual-
vorgänge und der Familie verlangen nun im Wandel ihres Bildes eine
neue Einstellung.
Prinzing, der Altmeister der Medizinalstatistik, hat die Kräfte der
Geburteneinschränkung noch nicht ermessen. Die ökonomischen Ursachen lässt
er in seinem umfassenden Standardwerk nur für die Gegenden gelten, wo der
Ackerbau die Wirtschaft beherrscht. Wo die Menschen von Handel und Industrie
leben, sei die steigende und fallende Kurve der Geburten auf Sitten, Gebräuche
und Gesetze (also auf Frühehe und Ehebeschränkungen, Verteilung von Stadt
und Land) zurückzuführen. In der Studie „Das sterile Berlin" (Berlin 1913)
habe ich den Nachweis versucht, die stärksten Kräfte, die die Reduktion der
Nachwuchsziffer bewerkstelligen, in den ökonomischen Voraussetzungen zu finden.
Max Hirsch gelangte im gleichen Jahre in seiner eingehenden Studie über
die Geburtenfrage und die Prävention (Würzburg 1913) zu ähnlichen Schlüssen —
unabhängig von mir. Die Mehrzahl der Statistiker und besonders die nam-
haftesten glaubten aber die Tendenz und die Beweggründe des Gebürtenrück-
ganges in Abrede stellen zu können.
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Ve
3] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 265
Jahre zurückzugehen, die Geburten sinken naturgemäss stärker in der
Kriegszeit, um sich nach dem Kriege zuerst fast so weit einzu-
stellen, dass die Zahl des Jahres 1913—14 erreicht wird. In den
letzten Jahren zeigt sich ein weiteres Absinken. Diese allgemeine
Entwicklung ist ja bekannt. Ä
Tabelle II.
XI. und weitere Geborene in Berlin 1881—1921.
70 5 7920
Nicht so sehr verbreitet ist die Kenntnis der Entwicklung der
Eheschliessungen mit Berücksichtigung der ehelichen Geburten. Zeigt
man die Zahl der Heiratenden, so ergibt sich, dass bereits zu Bezinn
dieses Jahrhunderts die Ziffer der Eheschliessenden grösser ist als
die ihres Nachwuchses. Nun muss man berücksichtigen, dass ein
Teil der Eheschliessenden zum zweiten Male heiratet und dass ein
18*
266 Felix A. Theilhaber. [4
Teil der unehelichen Geburten von Eheleuten legitimiert wird. Aber
wenn man diese Ziffer auch berücksichtigt, so genügt der Nachwuchs
der ehelichen längst nicht mehr die Zahl der Eheleute zu ersetzen
und es ergibt sich noch immer die Tatsache, dass nadh dem Krieg
ungefähr 100 Eheschliessenden nur 50 ehelich geborene gegenüber-
Tabelle III.
IX. Geborene in Berlin 1821—1921.
a ——
IT ID
VTWITIIITT
ITIWIITIT
——
III
Zi
7680 di 90 9 /900 05 70
stehen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass ein steigender
Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt nicht zu Eheschliessung und
überhaupt nicht zur Mutterschaft kommt.
Die Entwicklung der ganzen Geburtenfrage ‚wird vollkommen
klar, wenn wir die Geborenen in den einzelnen Familien durch-
sehen. Wir verfolgen also die Kurven der Erst-, Zweit-, Dritt-
5] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 267
Geborenen usw. in der Bevölkerung. Wir sehen die einzelnen Phasen
durch und verfolgen die Statistik der kinderreichen Familien. Dabei
gewinnen wir folgenden Überblick: Seit dem Anfang der acht-
zigerJahrebestehteinharmonischer,fastabsolutge-
setzmässig mathematischer Prozess, der nicht nur zu
einer Einschränkung, sondern zu einem vollkommenen Ver-
Tabelle Iila.
V. Geborene.
schwinden der fünft- und mehrgeborenen führt.
Man hätte bereits 1890 die Ziffer der 6., 7., 8., 9., 10. Geborenen
usw. für das Jahr 1923 voraussagen können auf Grund der bereits
bestehenden Entwicklung und hätte sich darin nicht getäuscht. Der
Krieg spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Er gibt sich in
unseren Bildern als eine kleine ‚Aussparung, als ein unwichtiges
Intermezzo, das in keiner erheblichen ‚Weise die grosse Linie der
268 | Felix A. Teilbaber. [6
Entwicklung beeinflusst. Es ist absolut falsch, den Krieg für die
Gestaltung der Dinge verantwortlich zu machen, deren gewaltiges
Tabelle IV.
Ill. Geborene.
Sich-verändern bereits seit den achtziger Jahren deutlich und un-
verkennbar in Erscheinung tritt.
7] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 269
Aus raumtechnischen Gründen sind allerdings die Kurven der
VIL.-, VII., VI.-, sowie der 1V.-Geborenen weggelassen worden. Sie
bieten nicht viel wesentlich anderes.
Die kinderreiche Familie ist zum ‚Aussterben verurteilt. Sie
ist so stark zurückgedrängt, dass wir bereits mit dem Nachwuchse
daraus zu rechnen aufhören können. Wir lernen also, dass die
Fruchtbarkeitsperiode der natürlichen ungehemmten Fruchtbarkeit
etwa vom Jahre 1882-85 anfängt, ihren Charakter zu verlieren,
Tabelle V.
II. Geborene 1881—1922.
85 90 II T900 O. 70
und dass von dieser Zeit an eine Geburtenbeschränkung einsetzt,
welche die hohe Kinderzahl immer stärker, immer zielbewusster
ausschaltet. Sodann lernen wir eine zweite Phase der Geburten-
entwicklung kennen:
Mit dem Beginn der neunziger Jahre begegnen
wir auch einer Reduktion der Dritt- und Viert-
geborenen. Etwa ein Jahrzehnt wiederum später folgt die dritte
Etappe der Fruchtbarkeitsentwicklung. Von der Mitte des
ersten Jahrzehntes unseres Jahrhunderts folgt die
270 `” Felix A. Theilhaber. [8
Kurve der Erst- und Zweitgeborenen der übrigen
rückläufigen Entwicklung. Bis dahin entsprach im grossen
und ganzen die Zunahme der Erst- und Zweitgeborenen der Zunahme
der Eheschliessungen. Von nun an beobachten wir also eine erheb-
liche Verstärkung kinderloser Ehen. Rechneten wir vordem mit einem
Tabelle VI.
1. Geborene 1881—1922.
—
Ausfall von etwa 1200 kinderloser Ehen, so entsteht bereits eine
von Jahr zu Jahr steigende Unsumme unfruchtbarer Ehen, die
entweder somatisch oder intellektuell bedingt unfruchtbar bleiben.
Der Krieg hat die Kurve der Drittgeborenen nicht wesentlich beein-
flusst. Gegenüber 7000 Drittgeborenen der Generation, die in den
9] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 271
achtziger Jahren die Blüte ihrer ‚Fruchtbarkeit hatte, treffen wir
jetzt den vierten Teil an, ‚bei den Zweitgeborenen ist es die Hälfte
der ursprünglichen Zahl, obwohl sich trotz des Ausfalles von Männern
im. Kriege die Zahl der zeugungsfähigen mit der Ziffer der Berliner
Bevölkerung von 1890 die Wagschale hält. Die Erstgeborenen waren
1920 etwa 16000, um aber im letzten Jahr bereits auf 10000 nach-
zugeben.
Die Entwicklung der Kurve der Erstgeborenen ist noch nicht
ganz klar. Berücksichtigen wir die Jahre nach dem Krieg zusammen,
so entspricht die Zahl der Erstgeborenen im Durchschnitt etwa der
Ziffer der neunziger Jahre, wobei die in der Fruchtbarkeitsperiode
stehende männliche Bevölkerung ungefähr der Zahl jener Zeit ent-
spricht, bringt man die Erstgeborenen aber mit der Statistik der
Eheschliessenden zusammen und setzt sie in ein Verhältnis mit
den immer das Jahr vorausgegangenen Heiraten, dann wird auch
hier ein Rückgang offenbar, der aber nicht das Ausmass der übrigen
Geburteneinschränkung angenommen hat. Die Elft- usw. Geborenen
sind z. B. von einem ‚Höhepunkt von knapp 1000 (recte 997, anno
1889) Geborenen bereits auf 71 anno 1921 herabgesunken, die
Zehntgeborenen in derselben Zeit von 700 auf 70, die Achtgeborenen
von 1500 auf 150, die Siebtgeborenen von 2000 auf 200, die Sechst-
geborenen von 3000 auf 350, die Fünftgeborenen von über 4000
auf 600, die Viertgeborenen von 5500 auf 1000, die Drittgeborenen
von 7000 auf über 2000.
Der Rückgang vollzieht sich also ziemlich proportional. Von
Elf- und Mehrgeborenen sehen wir 1921 nur noch 7% der früheren
Zeit, von Zehntgeborenen 10%, etwa ebenso viele Neuntgeborenen und
‚Acht- und Siebentgeborene, die Sechstgeborenen sind knapp 12%, die
Fünftgeborenen 15%, die Viertgeborenen 180%, die Drittgeborenen
3500, die Zweitgeborenen etwa 75%. Es handelt sich hier um Durch-
schnittswerte, welche einen gewissen Überblick vermitteln sollen.
Aber man kann daraus wohl sehen, wie bedeutungslos z. B. die
Vielgeborenen geworden sind, von denen statt zehn durchschnittlich
eines auf die Welt kommt. Da dieser Prozess, der bereits seit
40 Jahren in durchaus konsequenter ‚Weise sich entwickelt, die
Tendenz hat zur Ausschaltung der Vielgeborenen zu führen, so
ist mit grosser Wahrscheinlichkeit zu rechnen, dass wir im Jahre
1923 noch nicht mit dem Ende dieses Vorganges zu rechnen haben.
Um dem Einwurf zu begegnen, als wären alle diese Dinge nur
durch den Krieg bedingt, ist es nötig, cie Verteilung der Bevölkerung
auf die einzelnen Jahresklassen anzusehen. Es würde den Raum zu
sehr ausfüllen, wenn jede Jahresklasse einzeln aufgeführt würde.
272 Felix A. Theilhaber. [10
Dis Bevölkerung der Jahrgänge 20—40 Jahre z. B. betrug in Berlin
männlich 244 000 310 000 370 000 404 000 308 000
weiblich 227 000 322 000 387 000 422 000 359 000
Infolge des Krieges steht also die männliche Bevölkerung etwa
auf dem Status des Anfanges der neunziger Jahre, die weibliche
auf der Höhe der Mitte dieses Jahrzehntes.
Tabelle VII.
Auf 100 Eheschliessungen des Vorjahres kamen I. Geburten
in Berlin (1881—1921.)
Eine weitere Tabelle zeigt, dass die Erstgeburten bis zum Jahre
1905 etwa 60-—70%0 auf 100 Eheschliessende ausmachen. Im Krieg
waren sie bis auf 400% gesunken und nach einem energischen Nach,
ziehen der Erstgeborenen nach den Eheschliessungen gehen sie
doch wieder 1921 auf 50 herab, so dass also nur auf jede zweite
Eheschliessung das Jahr darauf ein Erstgeborener kommt.
Damit lässt sich nicht leugnen, dass in den letzten zwei Jahr-
zehnten des vorigen Jahrhunderts zuerst das Dreikindersystem, dann
das Zweikindersystem angestrebt wurde, dass dieser Vorgang bereits
vor dem Kriege überholt wurde durch die Ausschaltung der Frucht-
barkeit überhaupt. Der Wille zur Ehe deckt sich nicht mehr mit dem
Willen der Ersehnung der Familie im Sinne der Einbeziehung der
11] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 273
Kinder. Die Ehe wird als sexuelles Erlebnis losgelöst von der
Zeugung.
Die Auszählung der Geborenen nach ihrer Reihenfolge lässd einen
weiteren wichtigen Schluss auf die Zahl der weiblichen Wesen
überhaupt zu, die zur Mutterschaft gelangen.
Tabelle VII.
Bevölkerungsaufbau 1921.
71000
männliche
(22000 ,
weibliche Personen
Altersklassen
20-30 Jahre im Durchschnih‘
Unsere Statistik mag einen Augenblick ausser acht lassen, wann
die erste Schwangerschaft jedes Weibes tatsächlich stattfindet. Wir
nehmen einmal an, dass dieses Ereignis sich mathematisch bei jedem
‚Weibe im 24. Lebensjahr vollzöge. Nun finden wir diesen Jahr-
gang (bei der Auszählung von 1919) mit 22000 weiblichen Wesen
und 14682 männlichen besetzt. Da wir wissen, dass die Bevölke-
rung seit 1919 sich nicht verminderte, sondern durch Zuzug ge-
wachsen ist, so ist für die letzten Jahre mit keinem Ausfall an ge-
274 Felix A. Theilhaber. [12
schlechtsreifen Elementen zu rechnen. Gleichwohl kommen also auf
einen Jahrgang von 22000 weiblichen Wesen und 15000 männlichen
nur 10000 Erstgeborene, so dass wir'also von 100 weiblichen Wesen
überhaupt nur noch bei 45% wenigstens eine Geburt erleben und von
100 Männern 75 Väter werden. Die Kurven zeigen das enorme
Anschwellen der Eheschliessungen nach dem Krieg und die Zu-
nahme der Erstgeburten, die deren natürliche Folge sind. Wenu
trotz der Heiratsepidemie die ins Wanken geratene Kurve der Zweit-
geborenen den Rückgang der Vorkriegszeit weiter fortsetzt, danu
ist dieser Rückgang keine vorübergehende zufällige Erscheinung.
Tabelle IX.
Geburtenfolge inden Jahren 1885. 1910 u 1921.
Entwicklung der Geburten in Berlin
Auf 100 Ersigeberene hamen
m Jahre:
H
/
/
/
Militza-
CI wes 1910 D /327
Man kann die Zweitgeborenen auf die Zahl der geschlossenen Ehen
oder noch besser ebenso auf die Altersbesetzung, auf einen Durch-
schnittsjahrgang der Bevölkerung beziehen und bemerkt, dass von
über 22000 weiblichen Wesen heute nur 6000 oder 27% zu einer
zweiten Geburt kommen oder auf die 15000: Väter bezogen 40%.
In den siebziger Jahren kamen auf 100 Erstgeborene ca. W
Zweitgeborene, 1910 waren es noch 77, dann sinkt die Zahl und
fällt so stark, dass jetzt 44 Zweitgeborene je 100 Erstgeborenen
gegenüberstehen.
Schon während des Krieges ergab sich, dass die Geburten von
den Ereignissen stärker als die Eheschliessungen beeinflusst wurden.
Die Heiratsziffern sanken in den Kriegsjahren auf 3/, der Vorkriegs-
13] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 275
zeit, die Geburten aber auf durchschnittlich die Hälfte. Wir haben
die Zahlen für die Zeiten um und nach dem Siebenjährigen Krieg
und für die napoleonischen Kämpfe und für 1870/71. Selbst in
diesen Kriegszeiten war die Geburtenziffer dreimal so hoch wie jetzt
in Friedenszeiten. Der Kontrast zwischen der Zahl der Heiratenden
und der Ziffer ihres Nachwuchses tritt trotz aller Fehlerquellen
überall stark hervor.
Tabelle X.
Statistik der unehelichen Geburten in Berlin 1881—1923.
Die Ehe ist eine Form des sexuellen Bündnisses zwischen Mann
und Frau, dem früher ständige Geburten entsprangen. Von diesem
primitiven Typus hat sich die Berliner Bevölkerung freigemacht.
Sogar die Unverheirateten haben sich von dem Zwang
losgelöst. Die Zahl der unverheirateten Mädchen war früher eine
nicht allzu bedeutende. Der Männermangel lässt heute 22000 Mäd-
chen nur 15000 Männer in den Altersklassen, die am Krieg beteiligt
276 Felix A. Theilbaber. [14
waren, gegenüberstehen. Wirtschaftliche Not verstärit die Unmög-
lichkeit der Eheschliessung resp. die späte Heirat.
Die voreheliche „Sittlichkeit“ hat infolge der Berufstätigkeit
des Mädchens, der Erlebnisse während des Krieges und der voll-
kommenen weiblichen Emanzipation sicher nicht zu einer stärkeren
sexuellen Abstinenz des Mädchens geführt.
1923 begegnen wir 3000 unehelichen Geburten gegenüber
10000 vor dem Krieg.
Früher trug die uneheliche Schwangerschaft noch einen wesent-
. lichen Prozentsatz zur ‚Volksvermehrung bei. Die Kurve der un-
ehelichen Geburten dürfte zeigen, dass auch hier eine noch radikaler
wirkende Umwälzung, die aber erst seit den letzten Jahren vor dem
Kriege und nach demselben wesentlich in die Erscheinung tritt:
Die Abkehr von der Gebärtätigkeit. Die älteren Ehefrauen, die am
meisten Kinder geboren hatten, kamen also zuerst zu dieser Er-
kenntnis, die dann allmählich auf die jüngeren Ehefrauen übergriff
und nun bei den Jugendlichen, bei den Arbeiterinnen, den Dienst-
mädchen und allen denen, die das Hauptkontingent der unehelichen
Mutter stellten, um sich greift. Diese Einschränkung der unehe-
lichen Geburten erfolgt vermutlich durch die Abtreibung, da gerade
der Geschlechtsverkehr der Jugendlichen noch nicht in weitem
Masse durch Präventivmittel vor der Empfängnis sich schützt. Es
bleibt also nur Zunahme der ‚Abtreibung als Schlüssel der Erklärung
übrig. Bei der wie es scheint Gesetzmässigkeit der Entwicklung ist
mit einem weiteren bedeutsamen Nachlassen der unehelichen Ge-
burten in den nächsten Jahren zu rechnen.
Es bleibt also die Entwicklung der Geburten auf die Frucht-
barkeit der Ehen beschränkt. Die überschüssigen Jahrgänge, die im
Krieg künstlich von der Heirat zurückgehalten wurden, haben all-
mählich die äussere Möglichkeit der Heirat finden können. Obwohl
jede Jahresklasse der 20er Jahrgänge nur mit 15 000 jungen Männern
besetzt war, trafen wir in den ersten Friedensjahren 20 —25 000
Ehekandidaten jeden Geschlechts. Damit ist der Überschuß der
Unverheirateten erschöpft!
Die letzte Entwicklung lässt bereits diese starke Heiratsbeteili-
gung abflauen. Es kommt keine Reservearmee aus dem Krieg mehr
in Frage und die wirtschaftliche ‚Not, die in Konstanz zu treten
scheint, veranlasst wahrscheinlich sogar eine Einschränkung der
Familienbildung.
In aller Mund sind ja die ökonomischen Probleme der Woh-
nungsnot, Arbeitslosigkeit, des mangelhaften Verdienstes. Die
Menschen kommen nun zu einer Art von Selbsthilfe. Sie nehmen
15] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozestes in Berlin. 277
eine weitgehende Beschränkung des unfruchtbaren Teiles der Be-
völkerung, die nur zehrend am Volksvermögen Anteil nimmt, vor.
Damit vollzieht sich eine bisher noch nirgends beobachtete starke
Umstellung der Bevölkerung.
Wir haben jetzt einen Altersaufbau, wobei die Klassen 20 bis
40 Jahre ca. je 38—40 000 Individuen zählen, dagegen ist der Nach-
wuchs 1923: 19000, also nach ‘Abzug der Säuglingssterblichkeit
nicht einmal die Hälfte.
Es entspricht also der geschlechtsreifen Bevölkerung nur etwa
50% Nachkommenschaft. Diese Berechnung stimmt überein mit den
von mir getroffenen Bestimmungen, wonach eine Geburtenquote
von 38 auf 1000 gebärfähige Frauen das Einkindersystem; repäsentiert.
Es kamen um diese Form der Statistik hier anzuführen auf je 1000 gebär-
fähige Frauen in Preussen.
| auf dem Lande in Berlin
1876:80 183 149
1891/95 182 106
1900/10 169 82
1913/21 40
1923 35
Die deutliche Umwälzung, die sich in der ganzen Fruchtbarkeitsentwick-
lung verfolgen lässt, erstreckt sich ferner auch auf das Alter der Gebärenden.
Es bekamen unter 100 Müttern ihr 1. Kind
im Jahre 1914 1921
20 jährig 6 4
—25 , 43 35
—30 „ 34 38
35 „ 11 17
—40 „ 4 5
—45 , 1 1
Die Verschiebung der Zeit, in der die Berlinerinnen Mütter wurden, ist auf-
fallend. 1914 war die Hälfte bis 25 Jahre alt, 1921 sind es knapp 40% und
statt der 160% über 30 jährigen sind es 23%0 geworden. Es ist recht lehrreich
zu sehen, wie spät heute die Frauen ihr erstes Kind bekommen. Das zweite
Kind wurde geboren von Müttern:
das 3. Kind:
1914 1921 1914 1921
— 20 jährig 2 1 0,4 —
—25 ,„ = 83 24 20 10
—30 , 40 40 40 32
—3 e 18 25 24 37
—40 ` 6 9 12 16
usw. 1 2 4 T
Der Turnus der Schwangerschaften war ehedem der, dass in
der ersten Hälfte der zwanziger Jahre das erste Kind kam, wenige
278 Felix A. Theilhaber, [16
Jahre nachher das zweite und das dritte so, dass vor dem 30. Jahr
das dritte Kind schon da war.
Jetzt stellt sich das dritte Kind in der Hauptsache bei der
schon in den dreissiger Jahren befindlichen Mutter ein. Die Zeit-
räume der Schwangerschaften sind mehr auseinandergezogen, an
Stelle der früher häufigen jugendlichen Mutter treten die älteren
Mütter selbst bei den ersten Kindern.
Das werktätige Mädchen heiratet eben spät und empfängt noch
später. Diese banale Weisheit gibt sich auch in dieser Statistik
wieder. Also nicht nur die berühmte Scheu vor dem Kinde ver-
anlasst den Geburtenausfall, sondern, wie wir völlig beweiskräftig
dartun können, eine rein soziologisch - wirtschaftliche Erscheinung.
Sie verringert die Zahl der unproduktiven Bevölkerung. Bei dem
Bevölkerungsaufbau von früher kamen durch-
schnittlich zwei Kinder auf einen Erwachsenen,
während jetzt das gerade Gegenteil sich durchzu-
setzen begonnen hat. Wir haben mit 2 Erwachsenen auf
1 Kind zu rechnen. Die Anpassung des Menschen an die Wirtschafts-
verhältnisse gibt sich auch darin kund.
Die Untersuchungen, die an der bäuerlichen Bevölkerung ge-
macht wurden, ergaben, dass überall wo Kinder eine wirtschaft-
liche Stärkung bedeuteten, nirgends das Zweikindersystem in Er-
scheinung trat. Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass gerade
bei den wohlhabenden Bauern, deren Kinder keine billige Arbeits-
kraft für die Eltern darstellen, ebenfalls vielfach schon früher die
Geburtenbeschränkung wahrgenommen wurde.
Der Drang der Bevölkerung nach einem besseren Leben lässt die
Einsparung heute im Haushalt besonders stark in der Kinderbeschrän-
kung sich zeigen. Nachteile sind damit frąglos verbunden. Aber in einer
Zeit, in der den breiten Massen tatsächlich die Mittel für die gute
Aufzucht der Kinder, für die Nahrung, Bekleidung, Wohngelegenheit
usw. fehlen, ist diese Beschränkung eine vor allem segensreiche.
Selbst wenn der Arzt sich dagegen stemmt, kann diese Entwicklung
nicht mehr aufgehalten werden. Sie wird in der, wie hier gezeigt
wurde, geraden Linie der Entwicklung weitergehen und keine noch
so wohlgemeinte Vorstellungen werden die Ereignisse beeinflussen.
Wenn die Fruchtbarkeit der Berliner Bevölkerung um die Hälfte
niedriger ist als die französische, so bedeutet das noca nicht einen
50o niedrigeren Tiefstand der Moral. Es ist meines Erachtens nach
nur ein Beweis für die schwere wirtschaftliche Beeinträchtigung
der Eltern durch den Kinder,segen“ und die zur Durchführung
gelangende ökonomische Rationalisierung, d. h. Regelung der Ge-
17] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 279
burten durch den Verstand. Bei dem heissen Verlangen vieler
Frauen, ihre Bestimmung als Mutter zu erfüllen, gibt sich der
Niedergang der Geburten als ein Kennzeichen unserer Gesellschafts-
ordnung. Letzten Endes aber dürfte er ein Glück bedeuten, in
einer Zeit, in der das Menschenleben wertlos und die Zahl der
Menschen vielfach als zu gross erscheint. In dem Niedergang der
Geburten liegt so eine gesunde Reaktion gegen die stellenweise
unsinnige und unbeaufsichtigte Überfüllung der Welt, der Länder
und der Grossstädte. Der Zukunft wird es vorbehalten sein, aus
dieser Entwicklung die kulturfördernden Tendenzen zu erfass:n und
sie vorzuspannen den Bestrebungen, die das Glück der Menschen
propagieren.
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110 S.
II. Wissenschaftliche Rundschau.
Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
Ist der Arzt zur temporären ovariellen Sterilisierung
berechtigt? (Erwiderung an Herrn Professor Dr. L. von Haber-
land", Von Alfred Greil, Innsbruck. Sippel berichtet jüngst
im Zentralblatte für Gynäkologie über erfolgreiche Überpflanzung von
Eierstöcken in die Bauchdecken von Frauen im Alter von 20—30 Jahren
mit unregelmässiger Eireifung, Unterentwicklung der Gebärmutter und
dadurch bedingter Unfruchtbarkeit. Der eingepflanzte Eierstock wirkt
auf den gesamten Stoffwechsel und insbesondere den Umsatz der Ovarien
so fördernd, dass sich die monatlichen Blutungen regelmässig einstellen
und sogar Schwängerung möglich wird. — Durch Einpflanzung von
Ovarien in Hündinnen wurde Brunst und Laktation hervorgerufen. —
Haberlandt erzielte durch Implantation von Ovarien trächtiger
Kaninchen in die Rückenmuskulatur ruhender, nicht trächtiger Stall-
tiere eine vorübergehende Hemmung der Eireifung, eine temporäre
Sterilisierung — soferne die Implantate anwuchsen. Wurden die
Ovarien resorbiert, so war keinerlei Hemmung zu beobachten. Die
Implantation von Ovarien nicht trächtiger Tiere beeinträchtigte das
Follikelwachstum in keiner Weise. — Wie sind nun diese einander
scheinbar vollkommen widersprechenden Befunde mit einander in Ein-
klang zu bringen?
Allen drei Fällen ist gemeinsam die totale Vernichtung sämtlicher
Oozyten, die diffuse, ausnahmslose Follikeldegeneration (Atresie). Die
enorme Konzentrationsarbeit und Energiespeicherung dieser Riesen-
mastzellen wird durch die Einschränkung und Aufhebung der Blut-
versorgung jählings unterbrochen. Auch die in promotorischen Wechsel-
wirkungen hochgezüchtete nahverwandte Granulosa wird derart mitbe-
schädigt, dass sie der Dekomposition verfällt. Die in reicher Fülle
entstehenden, hochwertigen Abbauprodukte der atresierenden Follikel
sind nun der umschliessenden, vaskularisierten Interna — der durch
eindringende Kapillaren und Bindegewebe abgebröckelten Aussenlage
des einheitlichen Stammfollikels — also den nächsten Verwandten der
Granulosa ein zustandseigenes gewebseigenes Nutzstoffangebot von
höchstem Energieinhalte. Die reaktive Hypertrophie der Interna
1) Wissenschaftliche Rundschau des Bandes IX. dieses Archives: Haberlandt:
Ab- und Entartung der Konstitution durch Gestationstoxikosen und Keimesfürsorge.
310 Wissenschaftliche Rundschau. [2
erreicht namentlich beim Kaninchen enorme Grade, so dass die implan-
tierten Ovarien eine ebenso üppige Entfaltung und Wuchermast des
interstitiellen Gewebes aufweisen wie jenes der Hoden in der Umge-
bung käsiger Tuberkel, von Chorionepitheliomen, bei schweren toxischen
und vorzeitigen Altersabiotrophien, marantischen Greisen, ganz herab-
gekommenen Malaria- und Neoplasmenkachektikern. Zahlreiche Analo-
gien an anderen Organen und Geweben liessen sich anführen. — Ein
guter Teil der Abbauprodukte gelangt jedoch in den Kreislauf und
bildet ein rapide, ganz unvermittelt einsetzende Vermehrung der
physiologischen, andauernd eingemischten Abbauquote der andauernden
Follikelatresie. Kommen doch von den zur Zeit der Geburt, spätestens
im zweiten Lebensjahre vollzähligen 400000 Oozyten der menschlichen
Ovarien im ganzen Lebenslaufe höchstens 400 zur Vollreife und Aus-
pellung; alle übrigen minderwertigen oder ungünstig gelagerten unter-
liegen der Konkurrenz und ihre hochwertigen Abbauprodukte (Autolysate)
wirken vor allem in qualitativ elektiver Hinsicht promotorisch auf den
Gesamtorganismus; allerdings nicht in so hohem Grade, wie die elektiven,
höchstwertige Baustoffe der Nukleoproteidsynthese betreffenden, den
Stoffverkehr qualitativ beeinflussenden Ansprüche des höchstaviden
Follikelapparates.. Wir bestreiten auf das entschiedenste aus andern-
orts ausführlich dargelegten Gründen die Richtigkeit der Theorie der
inneren Sekretion, welche auf massloser Überschätzung der Beweis-
kraft des einseitig, ohne zureichende Gegenprobe ausgeführten Experi-
mentes aufgebaut ist. Noch nie sind durch Injektionen die Erschei-
nungen der Frühkastrationen aufgehalten worden, welche durch den
Ausfall der elektiv wirkenden Ansprüche der wachsenden Gonaden an
den Aufnahmstätten, des Emporschraubens der Umlaufquote höchst-
wertiger Baumaterialien entstehen. Diese werden bei Pubescenten
auch anderen, minder aviden Formationen angeboten, welche ohne
Gonaden niemals so hohe Anforderungen stellen können. Sind die
Gonaden entfernt, dann beherrschen andere ausbaufähige, in ihrer
Eigenart elektiv wirkende Formationen (Skelett, Gehörn) die Situation.
Wir bestreiten es ferner auf das entschiedenste, dass mystische Inkrete
des Corpus luteum die Menstruation hervorrufen. Es erscheint sonach
vollkommen begreiflich, dass durch die in ganz exorbitanter Weise
eingemischten Autolysate der implantierten Ovarien ganz unvermittelt
eine hochwertige Abbauquote den eigenen Ovarien und dem übrigen
Soma, allen Stoffwechsel- und hömopoetischen Organen zugeführt wird
und dadurch die Fertilität gesteigert, die vita sexualis durch solche
Reizkörperbehandlung bei Amenorrhoischen günstig beeinflusst werden
kann.
Werden nun einem ruhenden, nicht brünstigen Kaninchen (Stall-
tiere) die Ovarien eines trächtigen Tieres, welches nach dem Wurfe
am sichersten zu belegen gewesen wäre, einverleibt, heilen sie ein, so wird
der promotorische Effekt der Abbauquote durch einen gegenwirkenden
Faktor vereitelt. Bei den Deziduaten wird durch die Abscheidung
sämtlicher nicht vaskularisierter Zotten- und Wurzelwerkabschnitte
der Plazenta, durch solche Einmischung eines zähflüssigen nutzstof-
reichen Nährlösungsgemisches der gesamte mütterliche Organismus im
Sinne einer komplexen, einschleichenden Reizkörperbehandlung aktiviert,
3) Wissenschaftliche Rundschau. 311
in erhöhten Umsatz versetzt, so dass er den wachsenden Ansprüchen
des Keimlings geradezu zuvorkommen kann. Von dieser Leistung-
steigerung werden vor allem die Ovarien, die Nebennieren und Mammae
betroffen, doch auch sämtliche Stoffwechselorgane, der gesamte hämo-
poetische Apparat. Daher die überaus mächtige Entfaltung des
interstitiellen Apparates. Sind nun solche Ovarien überpflanzt und
angeheilt, so tritt die auch noch durch die umfassende Follikelatresie
lokal geförderte, mächtig hypertrophierte Interna der vergrösserten
Oearien mit den wirtseigenen Ovarien in ein Konkurrenzverhältnis.
Niemals sind sämtliche Organe des Körpers zugleich und gleichmässig
in Aktion, niemals sind sämtliche Kapillaren gleichweit geöffnet, sondern
der weitaus überwiegende Teil verengt und geschlossen (Plenus venter
non studet libenter, usw.). Derartige Balanceverschiebungen kommen
jederzeit und allenthalben vor und sind dem Physiologen etwas durch-
aus Geläufiges. Was sich hier im grossen zwischen den Ovarien, ferner
zwischen paarigen Organen abspielt, besteht in kleinerem Massstabe,
aber nach demselben Prinzipe zwischen den Follikeln und dem Corpus
luteum, der nach der Auspellung der Eizelle plötzlich entspannten,
unter günstigere Stoffwechselbedingungen gelangten und daher reaktiv
so mächtig hypertrophierenden Granulosa. Werden die Corpora lutea
eines Meerschweinchenovars entfernt, so reifen die Follikel rascher
heran; gelänge es, eine ebenso grosse Zahl ausser den bereits sich
mästenden zur glatten Einheilung und reichlicher andauernder Gefäss-
versorgung zu bringen, so würde das Follikelwachstum sicherlich noch
mehr gehemmt werden als unter den physiologischen Bedingungen.
Es wäre doch widersinnig, wollten wir diese einfache Sachlage dahin
missdeuten, dass wir sagen: die Corpora lutea menstruationis, also die
‚nach der Auspellung der Oozyte entspannt hypertrophierte Granulosa :
hemme durch ihre mystischen Inkrete die nachbarlichen, gewebseigenen
Follikel. Eine der Oozyte nahverwandte, zu ihr bei gewissen Wirbel-
losen in ganz strengen genealogischen Verhältnissen stehende Zell-
schichte, welche nur durch die Ansprüche der von ihr umschlossenen
Oocyte zu so eigenartiger Leistungsteigerung und Abänderung gebracht
wurde, also eine ganz typische Nährzellschichte wird doch nicht nun
plötzlich durch Hormonproduktion die Nachbarfollikel schädigen! Das
widerspräche doch durchaus dem Sinne des Wortes „Hormone“. Wir
führen also den Erfolg des Haberlandt’schen Experimentes auf eine
Stoffwechselkonkurrenz, auf die Etablierung ganz neuer, höchst avider
Gefässprovinzen zurück. Bei der histologischen Untersuchung der
Wirtsovarien würde Haberlandt sicherlich keine Steigerung der
physiologischen Follikelatresie gefunden haben. Wahrscheinlich hat
die Resorption der nicht eingeheilten Ovarıen den Umsatz der wirts-
eigenen Ovarien gesteigert, die Fertilität erhöht. Es würde zuweit,
führen, an dieser Stelle auch noch die übrigen zwingenden Analogiebe-
weise anzuführen, die an anderen Orten ausführlich dargelegt sind}).
Haberlandt führt das Ergebnis seines Versuches auf eine Inkre-
tion der implantierten Ovarien zurück und von dieser, unseres Er-
2) Gefährdung der Konstitution durch temporäre Sterilisierung des geschlechts-
reifen Weibes. Zeitschr. f. d. ges. Anatomie Il. Zeitschr. f. Konstitutionslehre,
Bd. X/3. 1924.
Arehiv für Frauenkunde. Bd. X. H.3. 21
312 Wissenschaftliche Rundschau. [4
achtens durchaus irrigen und unphysiologischen Annahme ausgehend
wandte Haberlandt in der Fortführung seiner Versuche statt des
Implantationsverfahrens die Injektion von Extrakten an. Die Extrakte
aus gelben Körpern nicht trächtiger Kühe ergaben keine befriedigenden
Resultate. Erst als die Firma Merck sich herbeiliess, die Eierstöcke
trächtiger Kühe aufzusammeln und den bekannten z. T. unkontrollier-
baren Zertrümmerungs-, Macerations-, Digestions- und Extraktverfahren
zu unterziehen, mit welchen von demselben Rohmaterial Präparate von
diametral verschiedener Wirkung hergestellt werden können — so dass
das einzig Spezifische die Fabrik ist, aus der sie stammen (Zondek,
Gley) — gelang die temporäre Sterilisierung — unter Verwendung ganz
exorbitant hoher Dosen. Nach dem Arndt-Schulzschen Gesetze reizen
alle Agentien, auch Gifte in kleinen Dosen, fördern in mittleren, hemmen,
lähmen in grossen und zerstören in maximalen, das physiologische
Mass weitaus übersteigenden Mengen einverleibt. Während Martin
und Puppel durch vorteilhafte Dosierung von Plazentaroptonen bei
Infantilen die Ausbildung des Uterus und die Menstruation fördern,
auch die Wehentätigkeit helfend und heilend beeinflussen konnten,
brachte Haberlandt es fertig, dass die Weibchen mit eingezogenen,
fest angezogenen Beinen in der Käfigecke sassen, allen hartnäckigen
Annäherungsversuchen der Männchen widerstrebten oder schreiende
Laute ausstiessen. Um dieses Resultat der temporären angeblich hor-
monalen, in Wirklichkeit aber intoxikatorischen Sterilisierung zu er-
reichen waren z B. in 25 Tagen 100, in 15 Tagen 60, in 13 Tagen 80
Ampullen Luteinextrakt, oder in 15 Tagen 100 Ampullen subkutan
und 71 Ampullen enteral, innerhalb 30 Tagen 188 Ampullen subkutan und
10 Ampullen enteral des Placentaroptons nötig (Rockefellerstiftung).
Nach dem Abklingen dieser offensichtlichen Vergiftungserscheinungen
waren die Tiere wieder belegungsfähig, warfen aber weniger (und z.T.
kümmerliche) Junge als die unter den artgemässen physiologischen
Bedingungen belassenen Stalltiere.
Ich habe die Anwendung dieses Verfahrens auf das menschliche
Weib in den beiden von Haberlandt einer abfälligen Kritik unter-
zogenen Abhandlungen als ein Verbrechen gegen keimungsfähiges Leben
bezeichnet und Gesetze gegen solche das ärztliche Prestige nicht minder
als die Probandin schädigenden Eingriffe verlangt, die bereits dem
grossen Publikum vorgeschlagen wurden. Es ist infolge der dadurch
ermöglichten Skrupellosigkeit des Kongresses nicht abzusehen, dass
von den vollzählig vorhandenen Oozyten einzelne nicht ganz abgetötete,
in ihrer so gewaltigen und vielseitigen Konzentrationsarbeit bei der
Eimast beeinträchtigt und geschädigt ausgepellt und befruchtet werden.
Unterbergers Mahnruf wird durch keinerlei Beschwichtigungsversuche
zu entkräften sein. Ich stehe nicht an, die Anwendung der ovariellen
temporären Sterilisierung durch Einverleibung toxisch wirkender Mengen
von Lutein- und Plazentarpräparaten als gänzlich unstatthaft zu be-
zeichnen.
') Luteinreaktion und Menstruation. Archiv für Gynäkologie, Bd. 121.
5] Wissenschaftliche Rundschau. 313
Stimmen des Auslandes zur Abort- und Bevölkerungs-
frage. In Nr. 1 des Zentralblattes für Gynäkologie, 1924 hat
v. Jaschke den Vorschlag gemacht, zur Einschränkung des kriminellen
Abortes das Strafgesetz dahin abzuändern, dass die Frau, welche die
Abtreibung an sich vornehmen lässt, straffrei bleibt, die abtreibende
Person aber schwer bestraft werden soll. Der Vorschlag hat zum
Teil freudigen Widerhall gefunden, denn jeder wird eine Einschränkung
der Abtreibung wünschen. Ein anderer Vorschlag wurde von
Reifferscheid (Zentralbl. f. Gynäkol. 1924, Nr. 9) gemacht, man solle
die Verhandlungen wegen Fruchtabtreibung den Geschworenen entziehen
und den Strafkammern überweisen. Gegen den Vorschlag v. Jaschkes
hat Lönne-Gelsenkirchen (Zentralbl. f. Gynäkol. 1924, Nr. 25) einge-
wendet, der Vorschlag würde zu einer Vermehrung der Selbstabtreibungen
führen, da die Selbstabtreibung dann straflos sei. L. geht auf die
Methoden der Selbstabtreibung ein, führt ziemlich überzeugend aus,
dass die Fälle der Selbstabtreibung schon jetzt sehr zahlreich seien
und dann ungeheuer zunehmen müssten. Die Selbstabtreibung sei
aber noch gesundheitsgefährlicher für die Mutter als die durch meist
sachkundigere Personen, die als Lohnabtreiber fungieren, das Leben
der Mutter stelle besonders in kinderreichen Familien aber einen
wesentlich grösseren sozialen Wert dar als das Leben des einzelnen
Kindes. Die Abtreibungen würden aber ferner in der überwiegenden
Mehrzahl von Mehrgebärenden vorgenommen. Daher sei der Vorschlag
v. Jaschkes unzweckmässig. Der Vorschlag wurde dann nochmals
vonDreyer und Eberhard unterstützt, von Max Hirsch (Zentralbl.
f. Gynäkol. 1924, Nr. 9) dagegen als unzweckmässig bezeichnet. Es
müsse gleiches Recht für alle gelten, von diesem fundamentalen Rechts-
grundsatz könne der Gesetzgeber nicht abgehen. Er empfiehlt unter
Hinweis auf seine beiden Monographien über die Fruchtabtreibung eine
Gesetzesbestimmung ähnlich der österreichischen und schweizerischen,
wonach derjenige, welcher eine von ihm geschwängerte Person der
Not und Hilfslosigkeit preisgibt, mit Gefängnis bestraft wird. Dadurch
würden wohl dıe durch Not veranlassten Abtreibungen verringert, nicht
allerdings diejenigen, welche zur Vermeidung von gesellschaftlicher
Achtung und Schande geschehen.
Auch mm den Vereinigten Staaten ist die Abortfrage zu einem
Problem geworden. Auch dort nimmt man an, dass 80—85°/, der
Aborte auf Verheiratete kommen. In der Sitzung der Geburtshilflichen
Gesellschaft von Philadelphia v. 12. Okt. 1923 führte nun Schumann
(Am. J. of Obst. and Gyn. 1924, Aprilheft) aus, dass, da die gesetz-
lichen, religiösen, erzieherischen und hygienischen Mittel bis jetzt
nichts gegen den kriminellen Abort vermocht hätten, man der Allge-
meinheit in gewissem Masse die Benutzung der antikonzeptionellen
Mittel erleichtern solle. Norris wendete dagegen ein, dass kein Ge-
setz der Welt dieser Regulierung gewachsen sei. Niemand könne
sagen, wie gross die Familie sein solle, wann die Antikonzeption
einsetzen solle. Er glaubt, je weniger die Arzte mit dem Problem
zu tun hätten, desto besser sei es. John G. Clark, der berühmte
Radiotherapeut der Cleveland Clinic, stimmt zu, dass es äusserst
schwierig sei, die kriminellen Aborte einzuschränken. Dr. Goodell
21*
314 Wissenschaftliche Rundschau. 16
habe gesagt, es gäbe zwei Dinge, wofür eine Frau durch die Hölle
gehe, das eine, ein Kind zu bekommen, wenn sie steril sei, das andere,
der Frucht ledig zu werden, wenn sie die Folgen fürchte. Auf der
einen Seite bedeute die Belastung mit wiederholten Kindbetten für
einzelne Frauen eine Grausamkeit, auf der andern sei Antikonzeption
ein Menschenmord. Eine Verbreiterung der antikonzeptionellen Mittel,
die doch in den breiteren Volksschichten nicht zur Anwendung kommen
könnten, sei deshalb bedeutungslos und in den besser situierten
Schichten, deren Fortpflanzung für die Allgemeinheit besonders erwünscht
sei, sei deren Kenntnis doch vorhanden. Er fürchte, dass heute, wo
Gespräche über sexuelle Dinge fast zum Tischgespräch geworden seien,
die antikonzeptionellen Mittel das unmoralische Leben junger Leute
fördern würden. Das Übel des kriminellen Abortes habe durch alle
Zeiten existiert und werde weiter existieren, es könne nur durch
gesetzgeberische Massnahmen eingeschränkt werden.
Brooke M. Anspach weist darauf hin, dass besonders in den
oberen Gesellschaftsschichten die Geburtenzahl nieder sei. Die Geburten-
zahl bei den eingeborenen Amerikanern sei sehr viel niederer als bei
den Zugewanderten. Es sei Pflicht der Intelligenten, sich zu vermehren,
die Gesetzgebung aber sei machtlos. Im Schlusswort bedauert Schu-
mann, dass die Diskussion zu keinem Ergebnis geführt habe.
Diese Diskussion, welche mit bemerkenswerter Objektivität geführt
wurde, ist auch für uns in Deutschland nicht ohne Interesse, sie
beweist, wie vorsichtig man mit gesetzgeberischen Massnahmen sein
muss und sie beweist auch, dass selbst in dem wirtschaftlich so hoch-
stehenden Amerika das Problem sehr aktuell ist.
März 1923 hielt Geo. W. Kosmak, der Schriftleiter des Am.
Journ. of Obst and Gyn. in der New Yorker Geburtshilflichen Gesell-
schaft einen Vortrag, wonach beschlossen wurde, die Frage der Geburten-
kontrolle (Birth control) in das Programm unter die soziologischen
Fragen aufzunehmen. Es wurde ein Fragebogen an alle Mitglieder
der Gesellschaft verschickt, der 22 Fragen enthielt. Davon war Frage I:
Soll die Frage der „birth control“ von der New Yorker Geburts-
hilflichen Gesellschaft wissenschaftlich ventiliert werden, und zwar
mit Rücksicht auf den allgemeinen Wunsch nach einem Ausspruch
der autoritativen medizinischen Gesellschaften darüber? Die Frage
wurde von 25 mit Ja, von 15 mit Nein und von 13 gar nicht beant-
wortet. Auf die weiteren Fragen, ob die Gesellschaft selbst solche
Studien unternehmen soll, ob die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft
ihren Patienten nötigenfalls Anweisungen bezüglich Konzeptionsregu-
lierung geben, welche Methoden sie hierbei empfehlen usw., sei
hier, da es zu weit führen würde, nicht näher eingegangen. Jeden-
falls waren es im ganzen 68°/, der Mitglieder der New Yorker Geburts-
hilflichen Gesellschaft, welche sich für ein Studium der Fragen durch
die Gesellschaft aussprachen. In der Diskussion sagte Dickinson, der
für 1924 zum Präsidenten aller Vereinigungen der Geburtshilflich-gynä-
kologischen Gesellschaften gewählt ist, dass er sich als Vorsitzender
der ärztlichen Gruppe des Komitees für mütterliche Wohlfahrt von
New York mit der Frage beschäftigt habe. Dieses Komitee habe
Schritte getan, um zu veranlassen, dass in geeigneten Fällen durch
7) Wissenschaftliche Rundschau. 315
die grossen Kliniken Brooklyn Hospital, Long Island Coll. Hosp.,
Sloane Hosp. usw. antikonzeptionelle Mittel abgegeben werden. Es
sollte jedesmal der Name des verordnenden Arztes dabei angegeben
werden. Er empfiehlt weiter, wissenschaftliches Material zu sammeln,
sich von Propaganda aber fern zu halten. Das Komitee, das unter seiner
Leitung steht, studiert 1. Fruchtbarkeits- und Sterilitätsfragen, ins-
besondere die Frage der Verhütung der Konzeption; 2. es sammelt Fälle
dieser Art, um die Frage praktisch zu prüfen, es unterhält ein Bureau
zur Bearbeitung der Fragen, aber nicht, um Anweisungen zu geben.
Auf der einen Seite bestehe bei vielen hervorragenden Männern und
Frauen die Ansicht, dass die Frage für wissenschaftliche Beurteilung
noch nicht reif sei, auf der andern Seite sei die Empfindung allge-
mein, dass „etwas geschehen müsse“, was im Einklang mit den sozialen
sowie den Interessen der Familien sei. Dickinson führt dann noch
aus, dass in Holland vielfach eine weiche Gummikappe für die Vagina
angewandt werde, in England werde die Zervixkappe empfohlen. Er
meint, dass weder Holland noch England die Mittel für Nachunter-
suchungen hätten, und dass es daher die Aufgabe der Amerikaner
sei, die Frage zu studieren.
Die sozialpolitisch und medizinisch gleich interessanten Verhand-
lungen sollten im vorstehenden wiedergegeben werden, ohne dass
Stellung dazu genommen wurde. Die Verhandlungen zeigen, dass die
angesehensten Körperschaften und Korporationsvorstände der Ver-
einigten Staaten mit anerkennenswertem Freimut an die geheime
Wunde rühren, welche in vielen Familien an deren Mark frisst und
vor der auch der Arzt das Auge schliesst.
Robert Kuhn-Karlsruhe.
Biologie, Physiologie, Pathologie. Klarheit der Begriffe
“ und Einigkeit in ihrer Anwendung sind Vorbedingung wissenschaftlichen
Denkens und Meinungsaustausches. Begriffsbestimmung ist erstens
Aufgabe der Erkenntniskritik. Begriffsbestimmung beruht zweitens
auf Übereinkunft. Es muss aber verlangt werden, dass diese den
Gesetzen der Logik und der Sprachbildung gerecht wird.
Erkenntniskritische Auseinandersetzungen sind nicht jedermanns
Sache, werden meist nicht gelesen und daher wenig beachtet. Sie
sind Vorbedingung jeder Begrifisbestimmung, können aber hinter den
Kulissen der literarischen Bühne erledigt werden.
Mit dem Worte „Biologie“ wird Missbrauch getrieben und
Verwirrung gestiftet. Biologie ist die Lehre von den Lebens-
erscheinungen im allgemeinen. Die Biologie beschreibt, analysiert
und erklärt. Sie bedient sich der physikalischen, chemischen und
psychologischen Betrachtungsweisen und Arbeitsmittel. Mit Hilfe
des Versuches setzt sie Bedingungen und beobachtet und erklärt
Ablauf und Ergebnis. Sie stellt auch Versuchsbedingungen, welche
von den normalen abweichen, und beobachtet und erklärt ihre
Wirkungen. Sie umfasst also auch die Pathologie. Biologie begreift
demnach die Gesamtheit aller Lebenserscheinungen, der Formen
316 Wissenschaftliche Rundschau. [8
und Funktionen des Organischen. Es ist mithin falsch, von „bio-
logischen und seelischen Ursachen“, von „Lebens- und Krankheits-
problemen“, von „Biologie und Pathologie“ usw. zu sprechen.
Physiologie ist die Lehre von den Verrichtungen der Organismen,
ihrer Organe und Gewebe, ihren Beziehungen zueinander und zum
gesamten Körper und ihren Veränderungen aus inneren zum Gesamt-
betriebe notwendig gehörenden Ursachen.
Pathologie ist die Lehre von den krankhaften Veränderungen
der Organismen, ihrer Formen und Verrichtungen, aus äusseren nicht
notwendig zum Betriebe gehörenden Ursachen.
Physiologie und Pathologie sind also Teile der Biologie. Es ist
demnach, um ein Beispiel für viele zu nennen, falsch von „Biologie
und Pathologie des Weibes“ zu reden. Es muss entweder heissen:
„Biologie des Weibes“ oder „Physiologie und Pathologie des Weibes“.
Die medizinische Ausdrucksweise muss zur Genauigkeit Virchow-
scher Begriffs- und Wortbildung zurückkehren.
| Max Hirsch-Berlin.
— ——— — 1
II. Kritiken.
Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden.
Halban und Seitz: Biologie und Pathologie des Weibes. 5. u. 6. Lieferung.
Verlag von, Urban und Schwarzenberg, Berlin-Wien 1924.
Guthmann gibt auf fast 200 Seiten ein Lehrbuch der physikalischen Heil-
methoden. Er bespricht, und fast stets ab ovo, die Mechanotherapie (Massage,
ihre Technik, Wirkung, Indikation und Gegenindikation; die Belastungstherapie
inklusive Metreuryse; die Stauung und Saugbehandlung; Gymnastik nach Wir-
kungsweise, Technik und Anwendung, Pessarbehandlung); ferner die Elektro-
therapie, wobei den physikalischen, chemischen und biologisch-physiologischen
Grundlagen eine lange Auseinandersetzung gewidmet ist. Es folgt ein Kapitel
über Thermotherapie mit Technik, Indikationen und Gegenindikationen. Eine
80 Seiten lange Abhandlung über Lichttberapie beschliesst die Arbeit, bei deren
Lektüre man jeden Augenblick die Hand des sachverständigen Phyeikers fühlte,
die aber in ihrer bebaglichen Breite und Ausführlichkeit das überschreitet, was
man sonst in einem Handbuch eines Spezialfaches zu finden pflegt.
Inhaltlich ausgezeichnet und trotzdem von angenehmer Kürze ist die Arbeit
von Laqueur: Bäder und Wasserbehandlung in der Gynäkologie.
Sie gibt eine vorzügliche Einführung in die Hydrotherapie und Balneologie. Auch
sie gibt einen guten Überblick über die physiologischen Grundlagen und die Technik
der Anwendung.
Den Höhepunkt dieser Lieferung bezeichnet aber die Walthardsche Arbeit
über Psychotherapie, „Historisches“, die Ätiologie der psychisch bedingten Neu-
rosen im weiblichen Genitale, die Psychotherapie der psychisch bedingten Neu-
rosen im weiblichen Genitale, Psychodiagnostik psychoneurotischer Störungen im
weiblichen Genitale und ihrer psychischen Ursachen, die Behandlung der psychisch
bedingten Organneurosen von der psychischen Seite her (kausale Psychotherapie)
sind die Kapitelüberschriften. Besonders der erste Abschnitt ist in seiner gedrängten
Kürze klassisch zu nennen. Das Kapitel Atiologie krönt der Satz: Egozen-
trismus neben konstitutionellen Ursachen ist „die wesentliche Ursache der psychisch
bedingten Neurosen. Diese Erkenntnis ist um so wichtiger, weil Egonzentrismus
psychisch-therapeutisch greifbar ist“. Die Arbeit schliesst mit dem Gedanken:
Die letzte und vornehmste Aufgabe des Psychotherpeuten ist die Prophylaxe
psychisch bedingter Organneurosen im Sinne der Loslösung vom Egonzentrismus.
Walthards Beitrag ist hervorragend gelungen und gewährt eine Fülle von
Anregungen.
Die 6. Lieferung bringt an erster Stelle das gross angelegte Werk Aschners:
Beziehungen der Drüsen mit innerer Sekretion zum weiblichen
Genitale. Gerade das Aufblüben der Konstitutionslehre musste der Lehre von
der inneren Sekretion neue Impulse geben. Aschners Arbeit ist eine Fundgrube, in
der man alles findet, was die letzten Jahre auf diesem Gebiet neues gebracht haben;
318 Kritiken. [2
dass Aschner an dieser Forschung selbst sehr beteiligt war, gibt seiner Arbeit
das Gepräge. Einem physiologischen Teil folgt ein pathologischer. „Allgemeines
über die Therapie der Blutdrüsenerkrankungen* bildet den Schluss. Aschner
vertritt überall den Standpunkt, dass die lokalisierte Krankheitsbetrachtung ein
überwundener Fehler sei; so kommt er z. B. zu dem in seiner Allgemeinheit
übertriebenen Satz: „Operative und radiotherapeutische Kastration, aber auch
eine zum Ausbleiben der Menstruation führende Uterusextirpation bei Myom oder
Metropatbia haemorrhagica, bezw. ovariellen Blutungen, darf nicht mehr gemacht
werden“. Wenn er dann zum Schluss schreibt: „Ich verfüge über eine grosse
Anzahl von Beobachtungen, wo einzig und allein die Regelung der Verdauung die
unregelmässigen Uterusblutungen beseitigt hat, so wird diese Erfahrung wohl kaum
von vielen Seiten geteilt werden. Ist es doch ein Unterschied, ob man durch
Regelung des Stoffwechsels einem Leiden vorbeugt, oder ob man ein bestebendes
heilen will; glaubt er wirklich durch Aderlass oder Purgieren die Blutungen
beseitigen zu können, die durch ein submuköses Myom bedingt sind?
Trotz dieser Einseitigkeiten in der Darstellung liest sich Aschners Arbeit
sehr gut und ist ein vollwertiger Beitrag des hervorragend schönen Werkes von
Halban und Seitz.
Kellers vergleichende Physiologie der weiblichen Sexual-
organe bei den Säugetieren beschreibt ein Grenzgebiet, das dem dafür
Interessierten vielerlei Lesenswertes gibt, aber doch nur sehr bedingt notwendig
ist für ein Handbuch der Pathologie und Biologie des menschlichen Weibes.
Um so freudiger ist es zu begrüssen, dass ein Forscher wie Lenz einen
Beitrag: Erblichkeitslehre und Rassenhygiene (Eugenik) beigesteuert
hat. Er erörtert zuerst die allgemeinsten Gesetze der Erblichkeit. Kapitel II ist
der Bestimmung des Geschlechts und dem Geschlechtsverhältnis gewidmet. Wenn
Lenz dabei zu Ratschlägen über das Verhalten bei der Kohabitation zum Zweck
einer Kuabengeburt kommt, so haftet diesen Vorschlägen reichlich viel Theoretisches
an. Praktisch erprobt scheint seine Methode noch nicht zu sein. „Erbänderung
und Auslese“ ist des III. Kapitels Überschrift, „Die Bedeutung der Erbanlagen für
Krankheit und Sterblichkeit“ (soweit sie für den Frauenarzt von besonderer Bedeu-
tung sind) die des IV. Hier bespricht Lenz auch die erbliche Bedingtheit der
Konstitution. Dies Kapitel ist im übrigen sehr reichhaltig; es berührt die Frage
der Geburt, der Stillschwäche, Krebs und vieles andere. „Die Ursachen der Ent-
artung* ist der Inbalt des V. Abschnittes, „Fragen der Rassenhygiene (Eugenik)“
bilden den Schlussteil. Dieser Abschnitt scheint mir im Vergleich zu den ersten
Kapiteln etwas zu kurz gekommen. Fragen wichtigster Art, Eheberatung, Ver.
wandtenehe, künstliche Verhütung der Befruchtung, künstliche Fehlgeburt: jede
einzelne Frage wert, ein Buch zu füllen, werden auf einigen kurzen Seiten abge-
handelt. Trotz dieser Einschränkung liest sich Lenz’ Beitrag sehr gut, er gibt
grade dem Frauenarzt, für den viele der genauer erörterten Fragen Neuland,
sind, eine gute Übersicht über die die Erblichkeitslehre erfüllenden Probleme.
Baisch’ „Hygiene und Diätetik des Weibes in und ausserhalb
der Schwangerschaft“ bringt dem Erfahrenen nichts Neues. Das mag z. T.
an dem Thema liegen, z. T. liegt es aber auch an der Darstellung, der die persön-
licbe Note fehlt. Das tritt besonders in den ersten Abschnitten hervor, die die
Kindheit bebandeln. Hier hätte ein erfahrener Kinderarzt (man denke an Czernys
Schriften) zur Bearbeitung herangezogen werden sollen.
Ganz anders wirkt der Beitrag von Max Hirsch, „Frauenarbeit und
Frauenkrankheiten‘“. Hirsch betont, dass hier zum ersten Male in einem
Handbuch der Frauenkrankheiten ein Kapitel Sozialgynäkologie erscheint.
Er dehnt seine Arbeit aber weiter aus; so wird es zu einer „Frauenkunde" in
bewusstem Gegensatz gegen das Organspezislistentum, das genitale Symptome
behandelt und darüber andere Organe, konstitutionelle und psychische Grundleiden
und soziale Faktoren vernachlässigt. Sollten, so will es dem Referenten erscheinen
nicht beide Richtungen ihre Berechtigung haben?
3] Kritiken. 319
Frauenarbeit mindert mehr noch als die Fortpflanzungsfähigkeit den Fort.
pflanzungs willen, besonders die ausserhäusliche Arbeit der Frau.
Hirsch teilt seinen Beitrag in 2 grosse Teile: Allgemeine und spezielle
Pathologie. Er geht den Ursachen der weiblichen Berufskrankheiten nach. Nicht
die Arbeit an sich schädigt, sondern der Arbeitsort, die Arbeitszeit, die Intensität
der Arbeit und die Einförmigkeit der Arbeitsverrichtung. Dazu treten chemische
und toxische Einwirkung gewerblicher Gifte und Betriebsunfälle. Schwere Folgen
hat das anhaltende Stehen bei der Arbeit. Anschauliche Kurven von Mortalität
und Morbidität geben ein Bild dieser Schädlichkeiten.
Besondere Bedeutung hat die Berufstätigkeit der Kinder und Jugendlichen.
Sie führt zu Entwicklungshemmungen lokaler und allgemeiner Art. Berufsarbeit
erzeugt oft die durch bestimmte Konstitutionen bedingte Krankheitsbereit-
schaft, besonders bei den sog. Asthenischen. Das wirksamste Mittel hier-
gegen ist das Verbot jeglicher Berufsarbeit von Kindern und Jugendlichen bis
zum 18. oder 20. Jahre, Ausschliessung aller weiblichen Arbeiterinnen aus Betrieben
mit gewerblichen Giften, Arbeitsverbot für schwangere und nährende Frauen. Die
Konstitutionspathologie verspricht für die Erkenntnis und Behandlung der Ent-
wicklungshemmungen mancherlei Fortschritte. Ähnliches wie für die körperliche
Überanstrengung gilt auch für die geistige, der besonders Schülerinnen und Stu-
dentinnen ausgesetzt sind. Interessant ist Hirsch’ Behauptung, dass unter allen
Frauenberufen keine Beschäftigung der Frauengesundheit so wenig Gefahren bringt
wie Hochschulstudium und akademischer Beruf.
Der Einfluss der Berufsarbeit auf Beckenbildung und Allgemeinerkrankung
wird genauer besprochen und die Resultate statistisch belegt; der Einfluss der
Fabrik- und Heimarbeit miteinander verglichen. Aus allem geht hervor, dass die
Lohnarbeit der Fran nur ein Notbehelf ist, der aufgegeben wird, sobald sich
Gelegenheit zur Heirat findet. So kommt die Heimarbeit einem Volk und Staat
erhaltenden Interesse entgegen. Heimarbeit kann aber nur unter der Voraussetzung
ihrer gründlichen Sanierung gelten gelassen werden; denn der Einfluss auf die
Fortpflanzungsleistung ist ein sehr grosser; dabei spielen gewerbliche Gifte eine
grosse Rolle.
Die spezielle Pathologie weist auf die Schädigungen der einzelnen Organe
hin (Senkungen, Endometritis, Kolitis bedingt durch jahrelanges Arbeiten im Sitzen)
und behandelt zuletzt die gewerblichen Vergiftungen (Arsen, Quecksilber, Schwefel-
kohlenstoff, Benzol usw.)
Aus diesem kurzen Referat der bedeutungsvollen Arbeit sieht man, wieviel
die Sozialgynäkologie schon geleistet hat und wie berechtigt die Aufnahme dieses
Arbeitszweiges in ein Handbuch der Biologie des Weibes ist.
E. Sachs, Berlin-Lankwitz.
Garre, Küttner, Lexer: Handbuch der praktischen Chirurgie. 5. um-
gearbeitete Auflage. 6 Bände. Dritter Band: Chirurgie des Bauches. Mit 166
teils farbigen Abbildungen. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart 1923.
Dieses Handbuch stellt nun schon lange das notwendige Rüstzeug des Chirurgen
dar. Die neue Auflage hat alles Wesentliche den neuen Forschungen und Erfahrungen
entnommen. Die Chirurgie der Bauchdecken ist von Steinthal, die des Peritoneums
von Körte bearbeitet. Dieser hat auch das Allgemeine über Bauchoperationen
sowie die Chirurgie des Pankreas geschrieben. Die Chirurgie des Magen und
Darms, welche in der ersten Auflage von Mikulicz bearbeitet war,ist von Kausch
übernommen und weitergeführt worden. Garre hat die Klinik des Ileus und die
Leber, Capelle den Wurmfortsatz und die Gallenwege, Graser die Hernien,
Heinecke die Milz, A. Borchard Mastdarm und After abgehandelt.
Diese kurze Angabe gibt ein Bild vom Inhalt, die Namen der Autoren spannen
die Erwartungen hoch, sie werden ganz erfüllt. Das Bildmaterial hätte vielfach
reicher und anschaulicher sein können. Manche Abbildungen, insbesondere von
Instrumenten, sind überflüssig. Max Hirsch, Berlin.
320 Kritiken. [4
L.R.Grote: Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Dritter Band.
Verlag von Felix Meiner, Leipzig 1924.
Dieser neue Band greift über die Grenzen Deutschlands hinüber nach Amerika,
Holland, Schweden und Ungarn. Hemmeter, Tendeloo, Petren und Koranyi
stellen ihr Leben und Wirken dar. Ausser ihnen treten von deutschen Forschern
Lorenz, Payr und Rehn auf den Plan. Was Grundsätzliches über diese neuartige
Geschichtsschreibung zu sagen ist, kann nicht mit jedem neuen Bande widerholt
werden. Meine Stellung dazu ist unverändert wie Bd. 9 S. 104 des Archivs dar-
getan. Dagegen darf ich mit Befriedigung sagen, dass meine Freude an dem
Unternehmen gefestigt und gewachsen ist. Wir gewinnen eine medizinische Welt
voll warmen Lebens. Nicht historische Tatsachen werden aufgereiht. Die Werk-
stätten menschlichen Geisteslebens erschliessen sich, wir sehen die Gedanken
wissenschaftlicher Forschung in Ursprung, Entwicklung und Auswirkung. Ver-
gangenheit, (iegenwart und Zukunft fluten ineinander. So erleben wir Geschichte
der Medizin. Max Hirsch, Berlin.
Arnold Huber: Theodor Billroth in Zürich 1860—1867, Züricher Medizin-
geschichtliche Abhandlungen. Band I, herausgegeben von G. A. Wehrli und
und N.G.Sigerist. Verlag Seldwyla, Zürich 1924.
Mit diesem Bande tritt eine neue medizingeschichtliche Reihe in die Literatur,
deren Rahmen über Volksmedizin, lokale und Kulturgeschichte und allgemeine
Medizingeschichte weit ausgespannt ist. Dieser erste Band gibt einen Einblick
in die von den Herausgebern erfolgte Methodik geschichtlicher Forschung und
Darstellung. Sie ist nicht historische Aufreihung, sondern stoffliche Gliederung
und dokumentarische Darbietung bringen das Gegenständliche dem Leser un-
mittelbar nahe, versetzen ihn fühlbar und teilnehmend in die Lebensverhältnisse
des Gelehrten, dem die Darstellung gilt, und geben so einen Eindruck auch
von seiner Menschlichkeit. Wie wertvoll, ja unerlässlich das ist, dafür gibt es
keinen eindringlicheren Beweis als das Leben und Wirken Billroths. Dieser
Stern erster Ordnung am Himmel der Chirurgie war in seinen menschlichen Eigen-
schaften ebenso preis- wie liebenswert. Die meisten seiner Fakultätsgenossen
turmhoch überragend, war er weit entfernt von jeder autoritären Abschliessung
und Überheblichkeit, von jeder kleingeistigen und engherzigen Fakultätszünftelei.
In freimütiger Anerkennung dessen, was ausserhalb der Universitäten an wissen-
schaftlichen Leistungen vollbracht wird, hat er sogar für ordentliche Lehrstühle
Forscher vorgeschlagen, die nicht seine Assistenten, nicht Dozenten und nicht
Professoren waren. Gerechtigkeitsgefühl, Ebrlichkeit und Mut der Überzeugung
waren die Grundzüge seines Wesens. So ist er vorbildlich als Arzt, Lehrer und
Vertreter seines Faches im Lehrkörper der Universität.
Max Hirsch, Berlin.
Alexander Elster: Sozialbiologie. Bevölkerungswissenschaft und Ge-
sellschaftshygiene.e Achter Band des Handbuchs der Wirtschafte- und
Sozialwissenschaften. Herausgegeben von Adolf Günther und Gerhard
Kessler. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig 1923.
In diesem Werke wird zum ersten Male von sozialwissenschaftlicher Seite
der Versuch gemacht, Sozialwissenschaft und Biologie zu vereinigen. Dass dieser
Versuch nur von einem Autor unternommen werden kann, welcher auf beiden
Gebieten über ein erhebliches Mass von Wissen und Verständnis verfügt, ver-
steht sich von selbst. Und man muss Elster zugestehen, dass er diese Vor-
aussetzung in hohem Masse erfüllt. Fussend auf der Rechts- und Staatswissen-
schaft, ist er mehr als ein Jahrzehnt beflissen, die Forschungswege der sozialen
Hygiene mitzugeben und über die Ergebnisse in sozialpolitischen und Zeitschriften
der öffentlichen Hygiene zusammenfassend und kritisch zu berichten. Erfüllt er
somit auch die obengenannte Forderung nach Wissen und Verständnis, so darf
5] Kritiken. 321
doch nicht versäumt werden zu sagen, dass Wissen und Verständnis, durch
Literaturstudium erworben, für die Darstellung biologischer Probleme nicht
genügen. Die Biologie ist eine Wissenschaft, die durch Lektüre nicht gelernt
werden kann. Wer sich darauf beschränkt, oder wie der Verfasser durch seinen
Bildungsgang darauf beschränkt worden ist, der bleibt der Biologie gegenüber '
immer Laie, sei seine Belesenheit und sein Wissen noch so bedeutend. Die
Biologie muss Gegenstand eigenen Studiums sein, sie kann nur an den Quellen
der Forschung gelernt ‘werden, sie muss erfabren und erlebt sein. So wird der
geisteswissenschaftliche Soziologe wohl imstande sein, die biologischen Tatsachen,
soweit sie erhärteter Bestand der Lebenslehre sind, an die Sozialwissenschaft
heranzubringen. Dagegen wird es ihm nicht gelingen, die umstrittenen Probleme
der Biologie in ihrer Tiefe zu erfassen und in warmer Anschaulichkeit dar-
zustellen. So vortrefflich Elster das erstere gelungen ist, so sehr leidet seine
Darstellung an der zu zweit gerügten Schwäche.
Als das Kernstück der Verständigung zwischen Sozialökonomen und Biologen
bezeichnet Elster die qualitative Bevölkerungspolitik, deren theoretische Grund-
legung er im zweiten Teile seines Werkes zu geben sich bemüht. An dieser Stelle
wird jener oben gekennzeichnete Zwiespalt offenbar. Die sozialwissenschaftlichen
Darbietungen sind vortrefflich, die naturwissenschaftlichen allzu blutleer und zu
sehr mit dem Werkzeug des Philosophen durchgearbeitet. Das bedeutet für das
Gesamtwerk wie gesagt einen Mangel. Gleichwohl aber wird der nur natur-
wissenschaftlich eingestellte Biologe aus diesen sozialbiologischen Auseinander-
setzungen mit Gewinn hervorgehen. Besonders empfohlen seien ihm die Ab-
schnitte über Eugenese, Eutanasie und Eubiotik, über Körperkonstitution und
Klassenbildung, über Familie, Rasse und Nation, über die sozial betonte Krankheit.
Wenn heute die qualitative Bevölkerungspolitik als einzig mögliche und
selbstverständliche zur Erörterung steht, so darf der Gegensatz zu der vor dem
Kriege von den meisten und sogenannten massgeblichen Stellen betriebenen
quantitativen Revölkerungspolitik nicht vergessen werden. Sie erhielt ihre
amtliche Beglaubigung durch den Gesetzentwurf vom Jahre 1919, welcher die
Quantität der Bevölkerung in die erste Reihe rückte und mit Polizeivorschriften
und Strafgesetzen die Fortpflanzung der Menschen überwachen und den Zeugungs-
willen lenken zu können glaubte. Aber es ist ein Irrtum anzunehmen, dass
erst die politischen Ereignisse des letzten Dezenniums der Eugenetik den Weg
geebnet hätten. Dieser Weg wäre auch obne die trüben Erfahrungen der letzten
Jahre gegangen worden, weil er in der geraden Linie der wissenschaftlichen und
kulturellen Entwicklung der Vorkriegszeit liegt. Die von Max Hirsch im
Jahre 1913 in die Frauenheilkunde eingeführte eugenetische Indikation
(Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, Band 38) betraf nicht nur,
wie man es irrtümlich so oft sagen hört, die Unterbrechung der Schwangerschaft.
Diese spielte im Gegenteil in Hirschs erster grundlegender Publikation eine
ganz untergeordnete Rolle und wurde erst später von ihm unter eugenetischen
Gesichtepunkten eingehender behandelt. Die erste Publikation von Hirsch
behandelte alle Teile des gsburtshilflich-gynäkologischen Denkens und Handelns
unter eugenetischen Gesichtspunkten — die Tubargravidität, Myomoperationen,
Strahlenbehandlung, Kaiserschnitt, Sterilisierung, fakultative Sterilität —, fügte
der gesamten Indikationsstellung die eugenetische Komponente ein und gab so
den ersten Anstoss dazu, dass die Eugenese in das medizinische Denken Eingang
fand. Heute steht, wie Elster mit Recht sagt, die gesamte Bevölkerungs-
politik unter eugenetisch-sozialbygienischer Problem-Einstellung.
Lobenswert ist das Bestreben Elsters, Sozialbiologie und Sozialhygiene
nicht zu einseitig körperlich aufzufassen und eine Vernachlässigung der geistigen
Kräfte der menschlichen Persönlichkeit zu meiden. Deswegen besonders er-
scheint mir Elsters sozialwissenschaftliche Betrachtung auch für den Biologen,
welcher Bevölkerungswissenschaft und Gesellschaftshygiene treibt, beachtens-
und lesenswert. Max Hirsch-Berlin.
-
322 Kritiken. [6
Robert Rössle: Wachstum und Altern. Zur 'Pbysiologie und Pathologie
der postfötalen Entwicklung. Verlag von J. F. Bergmann, München 1923.
Es ist Verlag und Autor Dank zu wissen, dass die beiden schon 1917 in
den Ergebnissen der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie er-
' schienenen Teile, nämlich die Pbysiologie und Pathologie des Wachstums und
des Alterns, in eine Monographie zusammengefasst worden sind. Mit diesem
Werke ist ein tiefer Einblick in die inneren Entwicklungsbedingungen des
Organismus gegeben. Das natürliche Wachstum und seine krankhaften Störungen,
die Physiologie und Pathologie des Alterns, werden so eingehend betrachtet, dass der
Arzt wie der Sozialhygieniker den wissenschaftlichen Boden erhält, auf dem sie in
Gemeinschaft mit dem Vererbungsforscher, dem Pädiater und Pädagogen die mensch-
liche Aufzuchtlehre begründen können. Max Hirsch-Berlin.
v. Krafft-Ebing, „Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichti-
gung der konträren Sexualempfindung“. 16. und 17. vollständig um.
gearbeitete Auflage von Albert Moll, Stuttgart. Ferdinand Enke, 1924.
Wer das Werden und Wachsen der Sexualwissenschaft bis zum gegenwärtigen
Wissensniveau nur einigermassen kennt, steht voll staunender Bewunderung vor
der genialen Intuition, mit der einst Krafft-Elbing in kühnem Wurf ein neues
Wissensgebiet mit einem Schlage aufrollte, in scharf umrissene Sondergruppen
gliederte und Grundbegriffe von so unerhörter Prägnanz hämmerte, dass noch heute
jeder Versuch, sie durch andere, angeblich treffendere zu ersetzen, scheitert. An dieser
Einschätzung der wissenschaftlichen Tat schmälert es nichts, dass inzwischen
manch neuer Baustein hinzukam und manche l,ehrmeinung sich von Grund aus
änderte. Solch in des Wortes eigenster Bedeutung klassisch gewordenes Werk
auch nach dem Tode des Verfassers lebensfähig zu erhalten, ist eine dankenswerte,
wenn auch ungemein schwierige Aufgabe. Die Pietät gegen den Autor gebietet
dem Herausgeber möglichste Wahruug des Gegebenen, die Wissensfortschritte
der Zwischenzeit zwingen zur Umformung und Neuschaffung. Mit bewunderns-
werter Anpassungsfähigkeit ist Moll dieser Aufgabe gerecht geworden, wie schwer
ihm auch manchmal die Arbeit geworden sein mag. Trotz pietätvoller Wahrung
der Grundanlage ist das Werk zu doppeltem Umfang gewachsen. Fast unauffällig
schmiegt sich das ungewöhnliche Erfabrungsgewissen Molls dem Grundwerk ein,
ergänzt eine neue prägnante Kasuistik wirksam das vorhandeue Lehrmaterial,
verschmilzt eine kritische Beherrschung der neuzeitlichen Wandlungen im Wissen
und Verstehen mit dem Grundstoff. Daneben aber zeigen völlig neue Kapitel,
wo Moll es für nötighielt, veraltete, unbrauchbar gewordene Anschauungen von
Grund auf zu ändern. (Erweiterung des Grundstoffs von 6 auf 22 Kapitel).
Bei der pietätvollen Wahrung der Grundanordnung mussten unvermeidbar
mannigfache Schwierigkeiten in der Verteilung des Stoffes entstehen. Recht oft
sieht Moll sich gezwungen, Tatsachen an einer Stelle nur andeutend zu erwähnen
und für deren Begründung auf andere Buchstellen zu verweisen, ein Verfabren,
das, durch die etwas unmodern gewordene Grundanordnung erzwungen, die
Schwierigkeiten zeigt und mitunter störend wirkt. Sehr erfreulich berührt die
überaus vorsichtige Stellungnahme des Herausgebers zu der neuzeitlichen Lehre
von der inneren Sekretion und hier besonders von dem Wesen und dem Einfluss
der „Pubertätsdrüse*. Hier hätte ein Hinweis auf die bedeutungsschweren
Untersuchungen Stieves, Tiedjes, Bendas, Berblingers die Zweifel an
Steinachs Ausdeutungen gezeigt und den Enthusiasmus über diese Lehren ge-
dämpft. Es ist eben noch immer strittig, ob die Zwischenzellen wirklich die
haben, Funktion dieihnen Steinach zuweist, weiter strittig, wieweit die Keimzellen
allein zur Erzeugung sekundärer Geschlechtscharaktere genügen, endlich strittig, ob
nicht die innersekretorische Tätigkeit der Keimdrüsen fast während des ganzen
intra- und extrauterinen Lebens stattfindet, wie Referent in seinem Lehrbuch
„Das Geschlechtsleben des Menschen“ nachdrücklichst betont.
7) Kritiken. 323
Nicht klar ist Referent die Stellung des Herausgebers zur geltenden Lehre
von der Anaethesia und Hypaesthesia sexualis geworden. Moll urteilt hier nur
nach dem Fehlen des Kontrektationstriebes, wo jede Neigung zum Weibe fehlt,
und nach dem Fehlen des Detumeszenztriebes, wo jeder Antrieb zu einem Ge-
schlechtsakt trots Neigung zu einem Weibe fehlt. Von diesen Anästhesieformen
will er „die sogenannte sexuelle Anästhesie (Dyspareunie)" der Frau trennen,
und diese, um Verwechselungen vorzubeugen, als „genitale Anästhesie“ bezeichnen.
Wie Moll nun das Fehlen des Wollustgefühls und seiner Endsteigerung, des
Orgasmus, bezeichnen will, geht aus der Darstellung nicht klar hervor. Hier
scheint es mir aber bei dem bestehenden Wirrwarr der Nomenklatur doch besser
und der Lebenserfahrung entsprechender, wenn man sich stets vor Augen hält,
dass Geschlechtstrieb, Wollustgefühl, Orgasmus zeitlich und örtlich getrennte
Empfindungsphasen sind, von denen jede allein fehlen kann. Schon ein Ausfall
wirkt bedenklich auf die Geschlechtskraft und noch stärker, wenn gleichzeitig
eine zweite Phase ausfällt. Gewiss ist es beachtenswert, dass Moll das vollständige
Fehlen des Geschlechtstriebes (Anerotismus), also den an sich schon höchst zweifel-
haften, während des ganzen Lebens und bei normal entwickelten Genitalien
bestehenden Defekt gar nicht erwähnt, es wäre aber instruktiver geworden, wenn
er die Vieldeutigkeit der „geschlechtlichen Unempfindlichkeit“ oder „Frigidität“
klar aufgezeigt hätte. Diese Bezeichnungen sind eben ohne erklärendes Beiwort
nicht zu gebrauchen, und es soll doch verhütet werden, dass jeder sich darunter
etwas anderes denkt. Soll eg Feblen jedes Triebes zu geschlechtlicher Betäti-
gung bedeuten? Soll es Ausbleiben des Orgasmus bei bestehender Lusterregung
bedeuten? Soll es Ausbleiben jeder Lusterregung bei richtig ausgeführtem Ge-
schlechtsakte bedeuten? Soll es Fehlen jeder Erregbarkeit der Klitoris und der
Vaginalschleimhäute bedeuten? Selbst wenn all die einzelnen Reizmöglichkeiten
wirklich ausbleiben, kann die Libido nicht in voller, selbst übermässiger Stärke
bestehen? Wenn aber die Libido fehlt, muss dann auch das Wollustgefühl
fehlen? Ist es aber, wenn die Libido unbezweifelbar ist, wohl angebracht, auch
von geschlechtlicher Unempfindlichkeit zu sprechen, wenn ein Mann die Wollust
nicht zu erwecken vermochte und der Gegenbeweis, dass sie nicht durch einen
anderen erweckbar ist, nicht geführt werden kann? Kann endlich nicht Libido
und Wollust bestehen und nur aus irgendwelchen Gründen der Orgasmus aus-
bleiben? Endlich, wenn Dyspareunie mangelhaftss oder gar fehlendes Wollust-
gefühl ist, wie nennt man ausbleibenden Orgasmus bei vorhaudenem Wollust-
gefühl? Deshalb sollte der Mangel jeglichen Geschlechtstriebes mit Anaesthesia
totalis, der schwächere Grad der Anästhesie mit Frigiditas sexualis, das mangelnde
Wollustgefühl mit Dyspareunie bezeichnet werden.
Sehr beachtenswert ist es, dass Moll die „kontiäre Sexualempfindung“ von
der Homosexualität trennt, wozu die erstschöpferische Darstellung des Begriffes
durch Westphal zwingt. Erst in der Folgezeit ist der Begriff mit Homosexualität
verwischt worden, und Referent bekennt freimütig, in seinem Lehrbuch das
gleiche getan zu haben. Moll bat sich demnach durch die historische Richtig-
stellung ein besonderes Verdienst erworben. Der erste Fall war ein hetero-
sexuell fühlender und handelnder, der von dem Verkleidungszwang beherrscht
wurde Hirschfelds spätere Prägung des „Transvestiten ist daher nach-
empfunden. Moll unterscheidetjetztfür den Verkleidungstrieb fünf Möglichkeiten
a) reine Zwangshandlung; b) Symptom der Homosexualität; c) ein Teil des kon-
trärsexuellen Seelenlebens bei Heterosexualität; d) nur ein ausgesprochen hetero-
sexuelles Kinfühlungs- und Nachahmungssymptom; e) Verkleidung aus anderen
Gründen,
Sehr beachtenswert ist das Kapitel „Homosexualität“. Im Gegensatz zu
Hirschfelderklärt Moll, dass die psychische Züchtung der Triebrichtung eine
Hauptrolle spiele und „fast niemals ganz ausgeschlossen werden‘ könne, eine
Ansicht, die er auch in seiner „Assoziationstherapie‘‘ praktisch nutzbar macht
und, wie ausdrücklich betont sei, mit oft überraschendem Erfolg. Wenn man die
324 Kritiken. [8
Periode des indifferenzierten Geschlechtstriebes berücksichtigt, so ergibt sich, dass
das primäre Auftreten nichts mit dem Eingeborensein zu tun hat; „denn ebenso
wie bei normalen Heterosexuellen in dieser Periode homosexuelle Triebe auf-,
tauchen können, haben in ihr typische Homosexuelle heterosexuelle Empfindungen.
In dieser Periode ist homosexuelle Empfindung nicht immer abnorm, krankhaft.
Entscheidend ist erst der Durchbruch im Laufe der Pubertät. Recht peinlich
werden es die Psychoanalytiker empfinden, dass Moll ihnen freimütig nachsagt,
sie brächten erst durch ihre Fragen nach homosexuellen Empfindungen und
Handlungen es schliesslich dazu, dass solche zu Unrecht angegeben werden. Sie
gingen überhaupt zu weit und könnten die Patienten schädigen. Die von Freuds
Schülern psychoanalytisch behandelten Fälle konnten Moll nicht von der Wirk-
samkeit dieser Methode überzeugen, ebensowenig deren Veröffentlichungen über
die Homosexualität. Moll findet, dass die Psychoanalytiker bei ihrem Handeln
den wichtigsten Suggestionsfaktor unterschätzen, gar nicht bedenken, dass die
Psychoanalyse oft nur der Träger der Suggestion und der Persönlichkeits-
wirkung ist.
Sehr dankenswert ist es, dass Moll die „auf glänzender Beobachtung“
beruhende Einteilung Krafft-Ebings beibehält. Sie ist tatsächlich noch immer
diebeste. Mit Krafft-Ebing hältauch Moll die Umwandlung der „psychosexuellen
Hermaphrodisie‘‘ durchaus für möglich. Durch Willenskraft, Selbstzucht, mora-
lische und hypnotische Behandlung, Besserung der Konstitution, Beseitigung von
Neurosen, vor allem Fernhaltung von perverser, psychischer und
physikalischer Masturbation sind die Empfindungen für das andere Ge-
schlecht zu stärken. Die charakterologische Zeichnung, dıe Hirschfeld von den
Homosexuellen entwirft, nennt Moll sehr schönfärberisch, denn unter den Homo-
sexuellen finden sich wohl prachtvolle Menschen, doch ebensooft Hallunken.
Wie günstig die Heilmöglichkeit werden kann, lehrt Fall 425, der überzeugt war,
ausschliesslich homosexuell zu sein, niemals eine heterosexuelle Neigung hatte.
Trotzdem verliebte er sich in eine durchaus normale Dame, die Liebe wird
erwidert und er heiratet sie. Die Ehe wurde glücklich. Der Fall beweist, dass
man „kaum jemals berechtigt ist, bei einem Homosexuellen zu sagen, dass er
ausschliesslich homosexuell séi“. Nachdrücklich betont Moll auch die Neigung
männlicher Homosexueller zu unreifen Knaben, hier sogar oft mit Sadismus
verbunden. Es ist eine recht. erstaunliche Zahl derartiger Vorkommnisse, die
Moll zum Beweise beliebig aus seiner Sammlung herausgreift. Er vergisst auch
nicht die Tatsache zu erwähnen, dass, je jünger die Kinder als Lustobjekte sind,
um so leichter ihr Geschlechtscharakter bei der Auswahl sich vermischt. Die
weibliche Homosexualität findet Moll „durch Verführung erheblich vermehrt“
Reine Homosexualität findet er eine Seltenheit. Die meisten empfinden gar
nicht konträr-sexuell, denn ihre Neigung ist nicht wie beim normalen Weibe.
Dieses neigt nicht zu unreifen oder heranreifenden Knaben.
Diese Stellung Molls zu dem Homosexualitätsproblem — und hier äussert
sich einer der kenntnisreichsten und erfahrungsreichsten Sexualforscher — muss
nachdrücklichst beachtet werden, denn sie kontrastiert diametral mit der An-
schauung Hirschfelds. Die Mollsche Anschauung muss um so mehr beachtet
werden, da die Nutzanwendung aus beiden Einstellungen grundverschieden ist.
Für Hirschfeld ist die Homosexualität eine Varietät, eingeboren bestimmt und
deshalb unabänderlich, und diese Auffassung ist bestimmend für den agitatorischen
Kampf um die Gleichberechtigung, die Verfechtung der Unabänderlichkeit des
Triebes schon in der frühesten Jugend, des weiteren auch um das Recht des
engeren Zusammenschlusses der homosexuellen Kreise. Im Gegensatz dazu
resultiert aus Molls Lehre zunächst für den Arzt, dass er nachdrücklichst jede
Züchtigungsmöglichkeit des Triebes verhüte, dass er das Triebleben in dem
undifferenzierten Stadium der Jugend besonders schütze, die Jugend vor jedem
Kontakt mit homosexuellen Kreisen bewahre und endlich die bestehende homo-
sexuelle Artung therapeutisch zu beeinflussen suche. Es klingt durchaus
9] Kritiken. 325
einleuchtend, dass psychische Einflüsse, wie sie auf die Magensekretion,
auf die Speicheldrüsen sichtbar einwirken, auch auf die Keimdrüsen einwirken
können. Deshalb erscheint Molls Behandlungsverfahren durchaus zielbewusst,
nämlich Darbieten normaler, Unterdrückung perverser Reize; Erzeugung
normaler, Unterdrückung perverser Phantasien (S. 699 ff). Hatte Referent nach
der ersten Veröffentlichung Molls an anderer Stelle sich in seinem Lehrbuch
noch zurückhaltend geäussert, so muss er jetzt, nach der eingehenden und über-
zeugenden Darstellung des Behandlungsregimes sich schon vielgeneigter äussern,
vor allem zur Nachprüfung unter Wahrung der Mollschen Direktivon auffordern.
Ein ungemein instruktives Kapitel hat Moll mit der Neubearbeitung des
forensischen Teils geliefert. Klar, anschaulich zeigt er die Stellung des ärztlichen
Sachverständigen vor Gericht, zögert aber auch nicht, bedenkliche Sachverstäudigen-
Leistungen als das zu bezeichnen, was sie sind, nämlich als Diskreditierung des
Arztes in foro. Das tut er nicht nur kritisch, sondern unter Anführung beweis-
kräftigsten Erfahrungs- und wissenschaftlichen Materials (S. 777 ff).
Zum Schlusse möchte Referent nicht unterlassen, auf einige Schönheitsfehler
aufmerksam zu machen, die in zukünftigen Auflagen vermieden werden köunten,
So berührt es verschiedentlich seltsam, dass von neueren Literaturerscheinungen
gesprochen wird, die in Wirklichkeit jetzt 60 und 70 Jahre zurückliegen. Auch
manche Druckfehler, so S. 676 „Pseudosexualität“ oder 678 „Edelmanier“ sollten
ausgemerzt werden. Endlich sei noch der folgende Satz als bedenkliche Sinn-
entstellung zitiert: „Wer wie ich wiederholt gesehen hat, welche Trauer in die
Familie des Opfers — z. B. eines Zopffetischisten (?) — kommt und wie einem
solchen Mädchen selbst die Heiratsmöglichkeit abgeschnitten wird‘.
Noch einmal sei anerkennend die Neuschöpfung des klassischen Werkes
gerühmt. Die Psychopathia sexualis rediviva wird Ärzten und Juristen in ihrer
neuen Form eine unerschöpfliche Lehrquelle werden. Placzek, Berlin.
Maria v. Ebner-Eschenbach: Letzte Worte. Aus dem Nachlass heraus-
gegeben von Helene Bucher. Rikola-Verlag, Wien 1923.
Aus der Durchsicht der Schätze des Ebner-Eschenbach Archivs ist diese Nach-
lese entstanden. Sie zeigt die grosse Erzählerin des 19. Jahrhunderts in ihrer
ganzen Freundlichkeit, Tiefsicht und Darstellungskunst, wie sie schon in einem
ihrer ersten Werke, den „Schloss- und Dorfgeschichten“ hervorgetreten waren.
Mit giühender Begeisterung hatte sie in früher Jugend gelobt, „dass ihre Werke
von der Bühne in Funken sprühen sollten“; ja sie hielt es für möglich, „der
Shakespeare des 19. Jahrhunderts zu werden. Aber ihren dramatischen Versuchen
blieb der Erfolg versagt. Wieder ein wichtiger Beitrag zu der Erkenntnis, dass
das weibliche Geschlecht zur dramatischen Kunst keine schöpferische Fähigkeit
besitzt. Max Hirsch, Berlin.
Karl Abraham: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf
Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen. Internat. psychoanalyt.
Verlag, Leipzig-Wien- Zürich.
„Uns Erwachsenen ist diese ursprüngliche Gleichsetzung von Beseitigung
und Verlieren mit Defäkation entfremdet, ja so weit entfremdet, dass die Psycho-
analyse in mühevoller Arbeit jene Spuren des primitiven Denkens aufdecken
muss und dann noch bei den Menschen ein ungläubiges Kopfschütteln erregt.“
Nicht nur dieser groteske Vergleich mit der Defäkation weckt ein ungläubiges
Kopfschütteln, sondern der gesamte Gedankengang, den hier ein Psychiater zur
Erklärung der manisch-depressiven Zustände aufrollt, Und dann wundert sich
noch der Verfasser, dass die klinische Psychiatrie sich um diese Ausdeutungs-
versuche nicht kümmert, spricht er von den auffallenden Einseitigkeiten der
klinischen Psychiatrie. Sie tut gut daran, wenn sie solche Ideen unbeachtet
326 Kritiken.
lässt. Oder soll sie kritisch prüfen, dass „der Melancholiker‘“ zur tieferen der
beiden Stufen der anal-sadistischen Phase regrediert, auf ihr aber nicht stehen
bleibt, sondern seine Libido einer noch primtiveren, der kannibalischen Stufe,
zustrebt, auf welcher die Einverleibung des Objektes zum Ziel des Triebes wird?
„Das aufgegebene, verlorene Liebesobjekt wird vom Unbewussten mit dem wichtig
sten körperlichen Ausstossungsprodukt — Kot — gleichgesetzt und durch den
ale Introjektion bezeichneten Vorgang dem Ich wieder einverleibt.*“ Soll man
kritisch das Entwenden von Geld als Kastrationsform prüfen, sympolistisch das
„Vermögen? Soll man kritisch prüfen, dass „die abundante Tränenproduktion
dem unbewussten Wunsch entsprach, in männlicher Weise zu urinieren“? Soll
man wirklich als neue Offenbarung nehmen, dass „in der Paranola der „Ver-
folger“ sich zurückführen lässt auf die unbewusste Vorstellung von einem Szybalum
im Darm des Kranken, welches von seinem Unbewussten mit dem Penis des
Verfolgers, d. h. des ursprünglich geliebten Wesens gleichen Geschlechts iden-
tifiziert wird?“ Da werden gewisse Fälle von Homosexualität darauf zurück-
geführt, „dass das Individuum sich den gegengeschlechtlichen Elternteil intro-
Jiziert hat“. Er hat also die Mutter in sich aufgenommen und muss nur in
- ihrer Art auf männliche Personen reagieren. Da wird die starke Nachwirkung
des Erlebnisses, dass ein Mann seine sterbende Mutter in seinen Armen hielt,
dahin gedeutet, dass hier die „unvergessene Situation vollkommen umgekehrt
wird, in welcher der Patient als kleines Kind in den Armen und an der Brust
der Mutter gelegen hatte“. Und zum Schluss die als Erkenntnis gepriesene Idee
Groddecks vom Introjektionsvorgange. Ein Patient ergraut im Anschluss an den
Tod des Vaters. Wie das kam? Weil er unbewusst sich dem greisen Vater
anzuähneln suchte, ihn dadurch gleichsam in sich aufnehmen und nun seinen Platz
bei der Mutter gewinnen wollte.
Wer nach dieser kleinen Blütenlese von Seltsamkeiten sich zum Studium
dieses Buches entschliessen will, mag es tun. Bereichert wird sein psychiatrisches
Wissen dadurch nicht werden. Placzek, Berlin.
S. Jessner: Körperliche und seelische Liebe. 3. und 4. Lieferung. Curt
Kabitzsch, Leipzig.
Auch die neuen Lieferungen des Jessnerschen Werkes zeigen die didaktische
Fähigkeit des Autors, dem Laien ein gewichtiges und schwieriges Wissensgebiet
klar und nachhaltig wirksam vor Augen zu führen, Muss auch Verfasser aus
äusseren (Gründen manch Kapitel nur in groben Strichen skizzieren, das er gern
eingehender behandelte, so gelingt ihm trotzdem eine anschauliche, in die Tiefe
dringende Darstellung, die überall den wissensreichen, lebenserfahrenen Sexual-
forscher zeigt. Mit dem Schluss des grossen Kapitels „Erbsyphilis — Syphilia-
behandlung — Geschlechtsneurosen‘“ kommen wertvolle neue Kapitel über „Sexual-
ethik“, „das Schamgefühl“, „die sexuelle Abstinenz“, „liheschliessungsfehler‘‘
u.a.m. Wohl liesse sich in manchen Einzelheiten mit dem Verfasser rechten, mit-
unter sogar über .die subjektive, in Sexualfragen besonders leicht irreführende
ethische Wertung, doch wäre das unangebracht angesichts des Hauptzieles, das
Verfasser vorschwebt, nämlich zunächst auf ein Laienpublikum belehrend zu
wirken. Doch wegen dieses Endzieles ist es bedauerlich, dass oft sinnentstellende
Druckfehler sich finden, die richtig zu stellen der Laie nicht immer geeignet sein
dürfte. Ich nenne zur Probe: „. . . durch Paarung bei der Tierzüchtung
erzielte Ergebnisse“ S. 360 oder „ungeheure, endlose Gebiete liegen noch brach,
menschenleer und noch 8o befruchtungsfähig“ (!!), Schönheitsfehler, die bei einer
hoffentlich bald möglichen Neuausgabe ausgemerzt werden sollten. Dann könnte
aber auch die Frage der Illustrationen ventiliert werden. So vollendet sie sind
und so ausgezeichnet ihre Wiedergabe, sie wollen mir nicht recht zum Ganzen
passen. Placzek, Berlin.
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Carl Posner zum 70. Geburtstag.
Wir haben heute die Freude, Geheimrat Posner zu seinem
10. Geburtstage zu beglückwünschen. Wir tun das mit aller
Hochachtung, welche die Lebensarbeit des Mannes fordert, mit aller
Verehrung, welche seines Wesens Art in uns erregt, mit aller Herz-
lichkeit, welche sich in den Jahren fruchtbarer Zusammenarbeit in
uns gesammelt hat. | Ä
Posners wissenschaftlicher Lebensweg begann bei der Zoologie
und vergleichenden Anatomie. Mit einer Arbeit über den Bau der
Najadenkiemen erwarb er sich 1875 den Doktor der Philosophie.
Max Schultze, Leuckhardt, Max Wunderlich und
Wagner sind seine Lehrer gewesen. Seine ‚Publikationsstätte ist
das Archiv für mikroskopische Anatomie. Gleichzeitig findet die
Schwenkung zur pathologischen Anatomie statt. Er wird Assistent
bei Perls. 1877 wird das medizinische Staatsexamen beendigt,
1886 der medizinische Doktortitel erworben — von einer besonderen
Dissertation sah die Fakultät in Anbetracht früherer Arbeiten ab.
1887 erfolgt die Niederlassung in Berlin, wo auch schon der Vater
wirkte, der Begründer der Berliner klinischen ‚Wochenschrift und
Verfasser einer bekannten Arzneimittellehre, deren weitere Ausgaben
Ewald besorgte. In den folgenden Jahren gehen wissenschaftliche
und praktische Tätigkeit nebeneinander her. Reisen werden zu Stu-
dien verwendet. 1889 erfolgt die Habilitierung für innere Medizin
an der Berliner Universität. Die Vorlesungen gelten den Krankheiten
der Harnorgane, wozu bei Dittel in Wien die Grundlagen gelegt
worden sind. 1902 wird Posner zum beamteten Extraordinarius
ernannt, ohne dass ein Lehrauftrag damit verbunden ist.
Als literarisches Erbe übernahm Posner die Berliner klinische
Wochenschrift von seinem Vater Ludwig, und führte sie anfangs
mit Ewald, später allein weiter. Sie war ihm ein willkommener
Resonanzboden. Viel bemerkt und gern gelesen waren seine Kongress-
berichte und Redaktionsmitteilungen. Auch die Virchow-Hirsch’schen
Jahresberichte hat er eine Zeitlang redigiert.
Archiv für Frauenkunde Bd. X. H. 4. 22
328 Carl Posner zum 70. Geburtstag. [2
Als ständiger Sekretär des deutschen Reichskomitees für die
internationalen Kongresse kam er nach Rom, Paris, Madrid, Lissabon,
London, Petersburg und Moskau. Seine Bemühungen und Verdienste
um die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Völker waren gross.
Der Zusammenbruch der Kongresse durch den Krieg brachte ihm
nicht nur den Schmerz über die Zerstörung dieses Werkes, sondern
auch die Trauer um die Lösung vieler persönlicher Beziehungen.
Aber starkes Vaterlandsgefühl drängten diese Verstimmung bald
zurück. Überhaupt liegt Verbitterung seinem Charakter fern. Davor
kewahrt ihn der Reichtum seines Wesens und eine an den Grossen
des Schrifttums genährte Welt- und Lebensauffassung.
Von seinen urologischen Arbeiten sind am bemerkenswertesten
der Nachweis des konstanten Vorkommens von Eiweiss im Urin.
Die Koliinfektion der Nieren vom Darm, die Beobachtung von
Spermien und Zylindern im Dunkelfeld. Der klinischen Auswertung
dieser Untersuchungsmethode galt sein eifrigstes Bemühen. Weit
verbreitet waren seine beiden Werke, die Diagnostik der Harnkrank-
heiten und die Therapie der Harnkrankheiten, deren jedes drei Auf-
lagen erlebte. Seine „Vorlesungen über Harnkrankheiten“ — eine Zu-
sammenfassung der Diagnostik und Therapie — erschienen nur
in einer Auflage. Seine wissenschaftliche Führung in der Urologie
findet offensichtlichen Ausdruck durch seine Stellung als Vorsitzender
der Berliner urologischen Gesellschaft und als Ehrenmitglied der
deutschen urologischen Gesellschaft. Die 6. Tagung dieser Gesell-
schaft leitete er als Vorsitzender. Enge Freundschaft verband und
verbindet ihn mit Nitze, Hans Goldschmidt und Hans
Virchow.
Im Jahre 1920 übernahm Posner den Vorsitz der ärztlichen
(Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenetik. Seitdem ist es
lem Schreiber dieser Zeilen vergonnt, anfangs als Schriftführer,
später als Nachfolger Posners im Vorsitz, in enger und schöner
Zusammenarbeit mit ihm zu leben. In diese Zeit fällt das Aufblühen
und Heraustreten der Gesellschaft und der. Sexualwissenschaft aus
ihrem versteckten Dasein in die Öffentlichkeit fachwissenschaftlicher
Auseinandersetzung. Grosse programmatisch aufgebaute und abge-
wickelte Vortragsfolgen unter Beteiligung des In- und Auslandes
erweckten allgemeine Aufmerksamkeit. Den Höhepunkt bildeten die
Kongresse mit den Vortragsthemen: Innere Sekretion und Sexualität.
bemerkenswert durch das letzte Auftreten von Waldeyer als
Referenten, und der gemeinsam mit der forensisch-medizinischen
Vereinigung veranstaltete Kongress, welcher die Frage: Soll der
Staat ärztliche Heiratszeugnisse fordern ? von allen Seiten beleuchtete.
3] Carl Posner zum 70. Geburtstag. 329
An der Erweiterung der Gesellschaft durch Verbindung mit den
Konstitutionsforschern, welche unter meinem Vorsitz geschah, ist
Posner in persönlichen Vorbesprechungen und Verhandlungen
in hervorragendem Masse beteiligt gewesen. Es darf als glückliche
Fügung betrachtet werden, dass er nun in seinem Jubiläumsjahr an
der Spitze der Gesellschaft steht, der seine Arbeit der letzten Jahre
gewidmet war.
Diese vier Jahre, in denen es mir vergönnt gewesen ist, mit
Posner zusammen zu arbeiten, sind für mich nicht nur wertvoll
gewesen durch das, was ich von ihm sah und lernte, sondern auch
durch den nie getrübten Zusammenklang in Ziel und Streben und
durch den stets und schnell gewonnenen Ausgleich verschiedener
Meinung.
Ich habe mich nie mit der Graphologie befasst. Aber beim
Anblick der Schriftzüge Posners unter seinem Bilde drängt sich
mir der Eindruck auf, und ich kann ihn nicht abwehren: So wie der
Namenszug des Siebzigjährigen, wie jeder Buchstabe, gerade so
exakt, korrekt und vornehm ist der ganze Mensch.
So freue ich mich an dieser Stelle, welche auch mehrfach das
Sprachorgan des Jubilars gewesen ist, mit den Glückwünschen der
Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Konstitutions-
forschung meinen persönlichen Dank und meine persönlichen
Wünsche vereinigen zu können.
Max Hirsch, Berlin.
22*
Aus dem gerichtlich- medizinischen Institute der lettländischen
Universität in Riga.
Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin').
Von
F. v. Neureiter.
Das Thema: ‚„Gerichtliche Medizin und Konstitutionslehre‘, das
mir zur Berichterstattung aufgetragen, kann in doppeltem Sinne auf-
gefasst werden. Einerseits kann damit eine Überschau über jene Er-
gebnisse der Konstitutionsforschung gefordert sein, welche für die
Lösung gerichtlich-medizinischer Fragestellungen belangreich ge-
worden sind, andererseits lässt es aber auch die Deutung zu, dass
eine Besprechung derjenigen gerichtlich-medizinischen Probleme er-
wartet wird, bei denen wir zur vollen Klärung der Sachlage von dem
bei der gerichtsärztlichen Untersuchung erhobenen Befund auf die
Konstitution des zu begutachtenden Individuums zurückgreifen
müssen, auf die Konstitution, welche die besondere vom Durchschnitt
abweichende Art der Reaktion auf Reize bestimmt. Mein Referat
will sich bemühen, beiden Auffassungen vom Thema Rechnung zu
tragen, indem wohl von den gerichtlich-medizinischen Problemen, die
in Beziehung zur Konstitution und Konstitutionslehre stehen, aus-
gegangen, dabei aber immer auch der Förderung, welche die gericht-
liche Medizin durch die Konstitutionsforschung erfahren hat, ge-
dacht werde.
Bevor wir jedoch auf unser Thema näher eingehen, ist es notwendig.
über den Begriff der Konstitution Klarheit zu gewinnen und seinen Umfang
möglichst scharf zu umgrenzen. Leider sind die Autoren, die sich mit dieser
Begriffsbestimmung befassten, zu einer Einigung noch nicht gelangt, so dass
der Anschluss an eine der vielen bisher vorgeschlagenen Definitionen gleich-
zeitig auch eine Parteinahme beinhaltet. Allein so schwierig, wie’ sie bei der
1) Nach einem auf der 88. Versammlung Deutscher Naturforscher und
Ärzte in Innsbruck gehaltenem Vortrage.
332 F. v. Neureiter. (2
ersten Durchsicht der vorgetragenen Meinungen erscheint. ist diese Entschliessung
nicht. Denn abgesehen von kleinen unwesentlichen Differenzen in den einzelnen
Difinitionen dreht sich der ganze Meinungsstreit im Wesen um zwei Auffassungen,
die dabei um ihre Anerkennung ringen. Die eine, welche unter Konstitution
nur das ‚gesamte Erbgut, die durch die jeweilige Kombination der Erbfaktoren
bestimmte Entwicklung und ‚Reaktionsweise des Organismus‘ !) verstanden
wissen will, während die zweite den augenblicklichen Zustand des Organismus,
seine augenblickliche Körperverfassung als seine Konstitution bezeichnet. Die
beiden Auffassungen unterscheiden sich zunächst: ihrem Umfange nach von-
einander, indem die erste nur das Ererbte und Vererbbare umgreift, während
bei der zweiten neben der Erbmasse auch „alle durch die Einwirkung der Um-
welt und den Einfluss funktioneller Anpassung entstandenen Abänderungen und
Abweichungen von dem anlagemässigen Entwicklungsablaufe und der anlage-
mässigen morphologischen und funktionellen ‚Beschaffenheit des Organismus“ ?)
unter dem Begriff der Konstitution subsummiert werden. Damit ist aber auch
gesagt, dass für den Vertreter der ersten Meinung die Konstitution ein unab-
änderlich Gegebenes ist, während der Anhänger der zweiten Auffassung von
einer veränderlichen und veränderbaren Konstitution sprechen kann. Nun
erhebt sich die wichtige Frage, welcher Definition wir gerichtliche Mediziner
uns anschliessen sollen. Ist es bei der Lösung der uns in der Praxis vorliegenden
Probleme möglich und notwendig, bei jeder Eigenschaft in der Organisation
eines Individuums, der wir einen hemmenden oder fördernden Einfluss auf
den Ablauf einer bestimmten Reizwirkung zubilligen, entscheiden zu wollen,
ob sie in der Erbrinasse verankert oder erst durch Umweltseinflüsse erworben
ist? Ich glaube, dass diese Fragestellung, die natürlich für den Pathologen
von der grössten Bedeutung ist, in unserer Spezialdisziplin so gut wie keinen
Wert hat; für uns genügt es vollkommen, wenn wir das gegenseitige Kräfte-
verhältnis, in dem Körperverfassung und eine diese treffende Noxe stehen,
abschätzen und bestimmen lernen, das heisst wir können die Begriffe Körper-
verfassung und Konstitution gleich setzen, ‘obwohl wir uns im klaren sind, dass
die Körperverfassung keine letzte Einheit ist, sondern ein Gemisch, ein Amalgam
(Rössle) aus anlagenmässig gegebenen und erst später im Laufe des T,ebens
hinzu getretenen Elementen vorstellt.
Haben wir so den Begriff der Konstitution, wie er für unser Fach
brauchbar, umschrieben, so können wir nun beginnen jene Fälle
anzuführen und näher zu beleuchten, bei deren Begutachtung auf die
Körperverfassung des Individuums eingegangen werden muss, um eine
den Bedürfnissen des Rechtslebens entsprechende Klärung des Falles
zu vermitteln. Es wären dies ganz allgemein gesagt jene Geschehnisse,
bei denen das exogen auf den Körper zur Einwirkung gelangte Agens
unserer Erfahrung nach ungeeignet, zu schwach oder zu geringfügig
war, um eine bestimmte im speziellen Fall eingetretene Folge zu
l) Siehe Hart, C.: Konstitution und Disposition, Ergebnisse der all-
gemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie. : 20. Jahrg. S. 109. München
und Wiesbaden. 1922. n ~d
2) Bauer, J.: Die konstitutionelle Disposition zu inneren Krankheiten.
3. Aufl. Berlin. 1924. S. 4.
3] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 333
zeitigen, also jene Fälle, die uns erst verständlich oder verständlicher
werden, wenn wir die körperliche Verfassung des Organismus, der
von dem Ereignis betroffen, in den Kreis unserer Betrachtung ein-
beziehen und hier nun die Ursachen für die uns sonst unerklärliche
Wirkung suchen. Es sind die inneren Krankheitsursachen, als deren
Träger uns die Konstitution erscheint, die hiebei ausgeforscht werden
müssen und die ob den äusseren nicht vergessen werden dürfen, soll
es nicht zu einem Fehlurteile mit seinen für die Rechtspflege zu
schwer wiegenden Folgen kommen. Tatsächlich spielen die endogen
gegebenen Bedingungen für das Kranksein auch bei den Objekten
unserer Untersuchungen die grösste Rolle, wiewohl meistens eine
äussere Einwirkung auf den menschlichen Körper den Anlass für
unsere Arbeit bei Gericht abgibt. Gerade die moderne Rechtsentwick-
lung und Rechtsübung, die im Strafverfahren von der Erfolgshaftung
immer mehr zur reinen Schuldhaftung hinneigt, nötigt uns in jedem
einzelnen Falle genau abzuwägen, wieviel von dem, was im Organis-
mus durch ein äusseres Ereignis bewirkt wurde, auf Rechnung dieses
bzw. auf die im Körper selbst gelegenen Krankheitsbedingungen
gesetzt werden kaun, eine Überlegung, die um so leichter, sicherer
und bestimmter vonstatten gehen wird, je weiter die Konstitutions-
forschung mit ihren Ergebnissen gelangt ist. Insoferne wird unsere
Arbeit bei Gericht durch die Beschäftigung mit der Konstitutions-
lehre gefördert, insoweit ist es notwendig, dass sich der Gerichtsarzt
mit ihren Resultaten vertraut mache.
Damit haben wir den Standpunkt gewonnen, von dem aus wir
die uns in der Praxis zufliessenden Fälle in ihrer Beziehung zur
Konstitutionslehre durchmustern wollen. Den Anfang bilde dabei
die Besprechung jener Todesfälle, bei denen wir im Verlaufe der
Ermittlung der Todesursache genötigt sind, auf die Körperverfassung
des Individums einzugehen, um die den Tod bewirkenden Umstände
in ihrer Gesamtheit erheben und zu einander in ein richtiges Ver-
hältnis setzen zu können. Handelt es sich z. B. um einen Schädelbruch
infolge Herabstürzens aus grosser Höhe, liegt ein Ertrinkungstod
vor, so genügt es zur Diagnose der Todesursache vollkommen, wenn
wir die Spuren dieser Traumen an der Leiche nachgewiesen haben,
eine Berücksichtigung der Körperverfassung des getöteten Indi-
viduums ist zur Feststellung der Todesursache allein nicht weiter
notwendig. Anders liegen aber die Dinge, wenn der Tod eines Indi-
viduums nach einem Trauma eingetreten ist, obwohl die äussere
Noxe in ihrer Intensität gering war, obwohl uns die Erfahrung sagt,
dass der Mensch im allgemeinen derartige Schädigungen ohne wesent-
liche Beeinträchtigung seines Gesundheitszustandes ertragen kann.
334 F. v. Neureiter. [4
Ich habe hiebei vor allen die Fälle eines unerwartet plötzlichen
Todeseintrittes bei einem anscheinend gesunden Individuum nach
einer geringfügigen psychischen Erregung, nach einer.leichten Züchti-
gung, im Beginn einer Narkose, bei kleinen operativen Eingriffen,
bei einer therapeutischen Anwendung des elektrischen Stromes u. dgl.
im ‘Auge. Zu ihrer Aufklärung heisst es, die Leiche bei der anatomi-
schen Untersuchung genauest nach Zeichen abzusuchen, die als der
Ausdruck einer verminderten Widerstandskraft oder als die Repräsen-
tanten einer Körperverfassung erachtet werden dürfen, die zum Auf-
treten abnormer Reaktionen die Veranlassung geben kann.
Nun hat uns die Konstitutionslehre tatsächlich solche Anomalien
aufgezeigt, so dass unsere Aufgaben in der Praxis eigentlich nicht
allzu schwierig wäre. Wir hätten an der Leiche nur nach den
Manifestationen solcher Konstitutionstypen zu forschen, und könnten
dann, wenn wir sie für gegeben finden, die in der Literatur nieder-
gelegten Erfahrungen über ihren ungünstigen Einfluss auf den
Lebensablauf des Trägers zur Erklärung der im vorliegenden Falle
eingetretenen fatalen Reaktion heranziehen. Leider führt aber dieser
Vorgang nicht immer zum gewünschten Ziele und schafft dem Ob-
duzenten nicht jene Befriedigung, wie sie die restlose Aufklärung
eines Falles gewährt. Denn abgesehen davon, dass die Mehrzahl der
Mitteilungen, die über den Zusammenhang einer bestimmten Körper-
verfassung mit gewissen Krankheitszuständen handeln, den kritisch
veranlagten Leser in ihren Grundlagen und Schlussfolgerungen nicht
zufrieden stellen können, kommt noch hinzu, dass die hier in Betracht
zu ziehenden Körperverfassungen an der Leiche recht schwierig exakt
zu diagnostizieren sind. Der Subjektivität des Beobachters ist dabei
ein grosser Spielraum gelassen. Am besten ist dies bei jener Kon-
stitutionsanomalie zu sehen, die erfahrungsgemäss bei den obzitierten
Todesfällen am häufigsten zur Erklärung herangezogen wird, nämlich
beim Status thymico-Jymphaticus. Nun kann es gewiss nicht meine
Aufgabe sein, die Lehre vom Status thymico-Iymphaticus in ihrer
ganzen Komplexheit darstellen zu wollen, dafür ist heute bereits ein
lerufenerer Vertreter gewonnen und gehört worden !). Allein einige
wenige Worte der Stellungnahme, wie sie sich dem Gerichtsarzt bei
der Bearbeitung eines Materiales ergibt, glaube ich nicht unterlassen
zu dürfen. Dass es einen echten Status thymico-Iymphaticus als
Konstitutionsanomalie gibt, meine ich nicht bezweifeln zu dürfen, wie
auch, dass es uns mit Hilfe der Lehre von den Drüsen mit innerer
Sekretion einmal gelingen wird und gelingen muss, in das Wesen
und die Bedeutung dieser Körperverfassung näher einzudringen.
1) Prof. S chridde- Dortmund.
5] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 335
Heute sind wir allerdings von einer solchen Einsicht noch recht
weit entfernt, ja viel weiter, als man seinerzeit zu sein glaubte. Trotz-
dem kann mit dieser Konstitutionstype, soferne sie sich vom Nor-
malen abgrenzen lässt, operiert werden, sind wir doch im wissen-
schaftlichen Leben des öftern genötigt, mit Zuständen und Er-
scheinungen zu rechnen, von deren Wesen uns eine Erkenntnis
mangelt. Aber gerade die Abgrenzung dieser Konstitutionstype von
normalen, in den Bereich des Physiologischen fallenden Zuständen
an Thymus und Lymphapparat, macht in der Praxis die grössten
Schwierigkeiten und mindert darum den Wert des Befundes eines
Status -thymico-Iymphaticus, da die Gewissheit mit dieser Diagnose
wirklich pathologische Verhältnisse erfasst zu haben, wenn überhaupt,
zu mindest recht schwierig zu erlangen ist. So dass für uns Gerichts-
ärzte besonders die Frage, wie ein Status thymico-Iymphaticus an
der Leiche zu diagnostizieren ist, dringlich erscheint, da ja die ge-
sicherte Diagnose die Voraussetzung für alle Schlussfolgerungen
bildet. Leider ist da zu sagen, dass uns bisher keine exakten Hilfs-
mittel an die Hand gegeben wurden, die es uns erlaubten, eine echte
Hyperplasie von Thymus und Lymphapparat mit Bestimmtheit als
solche zu erkennen. Denn wir wissen nichts genaues über die normale
Verteilung des Iymphatischen Gewebes im menschl’chen Körper, wie
auch die Gewichtsbesimmung der Thymusdrüse nicht als jene Mass-
methode anerkannt werden kann, die uns die Hyperfunktion des Or-
ganes, auf die es allein ankommt, verlässlich offenbart, gar nicht zu
reden davon, dass die von einzelnen Forschern ermittelten Normal-
gewichte recht erheblich voneinander abweichen. Bei diesen
Schwierigkeiten in der Erkennung eines Status thymico-Iymphaticus
kann es uns weiter helfen, wenn wir uns die Bartelsche Lehre !\
„unutze machen, die den Status thymico-Iymphaticus nur als ein
Teilsymptom einer weit umfassenderen Konstitutionsanomalie näm-
lich des Status hypoplasticus ansieht und ihm daher noch andere
Merkmale in die Organisation zuordnet, Merkmale, welche allerdings
keineswegs alle unter sich gleicher Natur sind, indem ihnen nicht
nur Hypoplasien, sondern auch reine Missbildungen und Infantilismen,
ja sogar Hyperplasien zugezählt werden, Merkmale, die aber alle
die biologische Minderwertigkeit ihres Trägers dartun sollen.
Wenn jetzt eine kurze Übersicht über einzelne Symptome der
hypoplastischen Konstitution gegeben wird, so geschieht es, weil
manchen von ihnen ein besonderer Einfluss auf die Reaktionsweise
des Individuums zugemutet wird, ja sie sogar für den Todeseintritt
t) Bartel: Status thymico-Iymphaticus und Status hypoplasticus. Wien.
1912.
336 F. v. Neureiter. 6
verantwortlich gemacht werden. Natürlich bezieht sich das nicht
auf die für die Leistungsfähigkeit des Individuums belanglosen, nur
als Symptome einer allgemeinen Abwegigkeit zu wertenden Eigen-
schaften wie z. B. die Omegaform des Kehldeckels oder der Spitz-
bogengaumen, die Milz mit gekerbtem vorderen Rande, die Spuren
embryonaler Lappung aufweisende Niere, das Meckelsche Diver-
tikel usw., sondern auf Zustände, wie sie in einer Hypoplasie des
Gefässsystemes oder einer Hirnhypertrophie oder einer vorzeitigen
Verknöcherung der Schädelnähte gegeben sind.
Besonders die Hypoplasie des Gefässsystems — in ihrer dispo-
sitionellen Bedeutung allerdings neuerlich wieder umstritten — wurde
schon seit langem der Erscheinungsform eines Status thymico-
Iymphaticus zugezählt und zur Erklärung für den Todeseintritt in
gewissen Fällen herangezogen, bildet sie doch, durch eine abnorme
Enge der Aorta verbunden mit Kleinheit des Herzens und dünnen
zarten, selır elastischen peripheren Gefässen charakterisiert, des öftern,
wie schon Kolisko1) bemerkt, den einzigen pathologischen Befund.
den uns die Obduktion erheben lässt. Natürlich ist es notwendig,
um die Diagnose Hypoplasie des Gefässsystems stellen zu dürfen,
dass die Masszahlen des Aortenumfanges wirklich hinter den von
Kaufmann?) an grossem Materiale errechneten Durclschnitts-
werten zurückbleiben, eine Forderung, die in mancher Publikation,
die von einer Augustie der Aorta berichtet, nicht erfüllt ist. Sind
aber die Werte wirklich unternormal, handelt es sich also tatsächlich
um eine abnorme Enge des Gefässsystems, dann kann dieser Zustand
wohl zur Erklärung eines unerwartet plötzlichen Todeseintrittes heran-
gezogen werden. wobei man allerdings genötigt ist, eine dem (refäss-
system koordinierte anlagemässige Minderwertigkeit des Herzmuskels
zu supponieren, wie sie uns aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen
nicht unwahrscheinlich dünkt. Diese Annahme wird man machen
müssen, seit die Wieselsche ‘Hypothese, die sich auf eine mit
der Gefässhypoplasie verbundene Unterentwieklung des chromaffinen
Systems stützt, durch die Beobachtung von plötzlichen Todesfällen
bei Gefässhypoplasten, deren Adrenalsystem gut entwickelt war. in
ihrer Allgemeingültigkeit erschüttert wurde.
Ähnlich wie mit der Gefässhypoplasie verhält es sich mit der
Hirnhypertrophie, die entweder kombiniert mit einem Status thymico-
Iymphaticus oder allein vorhanden, zu einem plötzlichen Todesein-
tritte nach einer geringfügigen Schädigung in ätiologische Beziehung
ben
1) Kolisko: Der plötzliche Tod aus natürlicher Ursache. Dittrichs
Handb. d. ärztl. Sachverständigentätigkeit. Bd. 2. S. 729. Wien. 1913.
°) Kaufmann: Zur Frage der Aorta augusta. Inaug.-Diss. Jena. 1919.
7] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 337
gebracht wird. Und zwar sind es hier die mechanischen Verhältnisse
— das durch das grosse Gehirn bedingte Missverhältnis zwischen
Schädelinhalt und Schädelhohlraum —, die mechanischen Verhält-
nisse, welche das Auftreten irreparabler Störungen veranlassen
können, inden: bereits kleine Volumsschwankungen des Gehirns,
wie sie erfahrungsgemäss zahlreiche Reize auslösen, zu Hirndruck-
symptomen führen. Hiezu kommt noch, dass man solchen hyper-
trophischeu Gehirnen eine Disposition zu Hirnschwellungen zu-
schreibt. wodurch natürlich die Gefährlichkeit dieses Zustandes für
seinen Träger wesentlich erhöht wird.
İst bei der Hirnhypertrophie die Beschaffenheit des Gehirnes
für die Entwicklung eines Missverhältnisses zwischen Schädelkapsel
und Hirnvolumen verantwortlich zu machen, so ist es bei der vor-
zeitigen Schädelnahtverknöcherung, die gleichfalls unter den Sym-
ptomen eines Status hypoplasticus aufgezählt wird, das knöcherne
Gehäuse, welches durch die ihm innewohnende anormale Entwick-
lungstendenz auf das Gehirn raumbeengend wirkt und damit wieder
jenen bedrohlichen Zustand mit allen seinen Folgen schaffen kann,
wie er oben für die Hirnhypertrophie angedeutet wurde. Die prä-
mature Nahtsynostose ist bei unerwartet plötzlich Verstorbenen kein
allzu seltener Befund, ein Tod durch Hirndruck kann durch sie ver-
ursacht werden.
Damit haben wir einige Konstitutionsanomalien aufgezeigt, wie
sie die Konstitutionslehre ermittelt hat, die zu einem plötzlichen
Tode in kausalen Zusammenhang gebracht werden, indem in diesen
Zuständen die Ursache des Todes erblickt werden kann, während dem
äusseren Ereignisse, welches den Anstoss zum Ablauf der Reaktion
gegeben hat, nur die Rolle einer Gelegenheitsursache zuzubilligen
ist, die auch durch ein anderes Geschehnis hätte ersetzt werden
können. So dass wir bei der Begutachtung solcher Fälle berechtigt
sind, die im Organismus selbst verankerten Krankheitsbedingungen
in den Vordergrund zu stellen und ihnen, und nicht der äusseren Noxe,
die Schuld am Tode zuzuschreiben, eine Einstellung, die, von der
Auffassung ausgehend, dass jegliches Krankheitsgeschehen eine
Funktion von äusseren und inneren Krankheitsbedingungen ist, ihren
formelmässigen Ausdruck darin finden mag, dass bei den in Rede
stehendeu Todesfällen die inneren Krankheitsursachen ihr Maximum
erreichten, dem nur ein Minimum der äusseren entgegen steht. Also
gerade das umgekehrte Verhältnis von dem, wie es bei dem früher
zitierten Beispiele eines Schädelbruches nach Sturz aus grosser Höhe
gegeben war. Hier war der Tod den äusseren Bedingungen zuzu-
schreiben. während die inneren Ursachen vernachlässigt werden
338 | F. v. Neureiter, [8
konnten. Damit haben wir die beiden Endpunkte einer -Reihe fixiert.
in die sich sämtliche zur Beobachtung gelangenden Todesfälle ein-
ordnen lassen; ich sagte eine Reihe, da doch das Verhältnis von
äusserer und innerer Krankheitsursache nicht immer so einfach ist,
dass dem Maximum der einen ein Minimum. der anderen gegenüber-
tritt. Die beiden Grössen verhalten sich vielmehr von Fall zu Fall
je nach der Këorperverfassung und der äusseren Noxe ganz verschieden,
so dass ihre Relation immer bestimmt werden sollte. Allerdings
sind wir von der Möglichkeit, diese Forderung stets zu erfüllen,
noch weit entfernt: doch ist zu hoffen, dass es mit dem Fortschritte
der Konstitutionslehre gelingen wird, in jedem einzelnen Falle das
gegenseitige Verhältnis dieser beiden Krankheitsursachen genau zu
ermitteln. Auf diese Weise wäre dann dem Richter zur Beurteilung
des Schuldausmasses eine exakte Unterlage gegeben und, die Beachtung
der durch das schuldhafte Handeln heraufbeschworenen Folgen
könnte wesentlich eingeschränkt werden.
Für einzelne Todesarten ist uns die früher geschilderte, durch
die Konst:tutionsforschung geförderte funktionelle Betrachtungsweise
recht geläufig und ist auch bereits reichlich Material für ihre An-
wendung zusammengetragen worden, wie vor allem die Lehre von:
elektrischen Tode und von der Kohlenoxydgasvergiftung zeigt. Hier
lenkte aber auch die Erfahrung besonders eindringlich das Augen-
merk auf die im Inneren des Organismus verankerten Krankheits-
bedingungen ; wie könnte man sich denn das in der Praxis so häufig
zu beobachtende verschiedene Verhalten zweier Personen, die unter
gleichen äusseren Bedingungen verunglückten, erklären, wenn nicht
auf die individuelle Körperverfassung eingegangen würde. Dabei
kommen in diesen Fällen nicht nur jene Konstitutionsanomalien
in Betracht, die den Tod für sich allein verantworten können, sondern
auch andere Krankheitszustände wie z. B. ein Herzklappenfehler, eine
(sefäss-Sklerose, eine Nierenentzündung, Zustände, welche die Wider-
standskraft des Individuums wohl herabmindern, sie jedoch nicht
gänzlich aufheben.
Die bisher in aller Kürze aufgeführten Konstitutionsanomalien
erweisen sich für ihren Träger als ungünstig, indem sie seine An-
passungsbreite gegenüber schädlichen Reizen stark einengen. Ihr
Befund soll jedoch noch vielmehr dokumentieren können, denn sie
werden auch bei Selbstmördern recht häufig gefunden. So dass es den
Anschein hat, als ob mit diesen Zuständen nicht nur im Körperlichen
sondern auch im Seelischen eine verminderte Resistenzfähigkeit gegen-
über den Anforderungen des Lebens verbunden wäre, dass sie also
als das pathologisch-anatomische Substrat einer sich im Körper und
9] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 339
in der Psyche äussernden degenerativen Veranlagung, welche eine
biologische Minderwertigkeit bedingt, aufgefasst werden können. Aller-
dings ist hiebei einschränkend zu bemerken, dass diese Feststellungen
an Selbstmördern vornehmlich zu einer Zeit gemacht wurden, als
man mit der Diagnose eines Status thymico-Iymphaticus oder einer
Gefässhypoplasie viel weniger zurückhaltend war, als jetzt, zu einer
Zeit, da man Befunde am Thymus, Lymphapparat und Gefässsystem
schon als pathologisch wertete, die wir heute noch als normal an-
erkennen müssen. Trotzdem ist es nicht zu bezweifeln, dass der
Behauptung von der dispositionellen Bedeutung eines Status hypo-
plasticus zum Selbstmord eine Berechtigung innewohnt, denn die
Häufung seiner verschiedenen Stigmata, wie man sie an den Leichen
von Selbstmördern immer wieder beobachtet, ist recht auffallend.
Personen, die in ihrem körperlichen Baue viele Abweichungen von
der Norm: aufweisen, sind eben auch psychisch abwegig beschaffen
und weichen darum in ihren seelischen Reaktionen vom Typus leicht
ab, dem das Streben nach Erhaltung des Daseins eingeboren ist.
Bei der Besprechung der Anatomie der Selbstmörder ist es an
der Zeit, darauf hinzuweisen, dass nicht nur mehr oder weniger
beständige anlagemässig gegebene Zustände, welche die Körperver-
fassung bilden, zu einem Selbstmorde in kausale Beziehung gesetzt
werden dürfen. Diese fördernde oder eine Hemmung beseitigende
Rolle muss auch vorübergehenden physiologischen Zuständen, die
ja nach unserer Definition gleichfalls der Konstitution beizuzählen
sind, zugesprochen werden. Mit der Erwähnung des Zustandes der
Menstruation, der Schwangerschaft, der Pubertät, des Klimateriums,
des Seniums mag es dabei sein Bewenden haben, ist doch ihre Bedeu-
tung für das Entstehen einer den Selbstmord veranlassenden Ver-
stimmung allbekannt. Dieser Hinweis legt uns die Frage nahe, ob
nicht auch bei den Todesfällen, die wir früher im Auge hatten, der-
artige passagäre Zustände in der Körperverfassung an der Bewirkung
des Endergebnisses entscheidend teilnehmen können. Die Antwort
darauf lautet, dass ‘dem wirklich so ist, man denke nur ap den Zu-
stand der Verdauung, welcher für ein schwaches oder geschwächtes
Herz zu einer Erhaltungsgefährdung wird, wenn reflektorisch durch
die Vasomotoren oder durch die geänderte Zwerchfelltätigkeit in-
folge der Füllung des Magens das Herz über Gebühr beansprucht
wird. Mit der beispielsweisen Aufführung dieses physiologischen
Zustandes iw seiner Einflussnahme auf den Todeseintritt soll erklärt
werden, dass derartige geringfügige Verschiebungen in der Dauer-
verfassung des Individuums gleichfalls berücksichtigt und in Rech-
nung gestellt werden müssen, wenn es gilt. äussere und innere
340 F. v. Neureiter. [10
Krankheitsbedingungen in ihrer gegenseitigen Wertigkeit bei der
Gutaehtenerstattung abzuschätzen. Natürlich sind hiebei die Schwierig-
keiten, zu einem richtigen Urteil zu gelangen, viel grösser, als z. B.
bei einem geplatzten Ulkus oder Aneurysma nach einem Trauma.
Fälle, die gleichfalls im Rahmen unseres Themas Erwähnung finden
müssen. u |
Damit wollen wir das Gebiet der Thanatologie verlassen und an
die Besprechung jener Zustände am Lebenden herantreten, die bei
ihrer Begutachtung ein Eingehen auf die Konstitution des Indi-
viduums erfordern. Zunächst seien da die Körperbeschädigungen
durch ein Trauma erwähnt. Bei ihnen ist es eigentlich selbstverständ-
lich, dass die Körperverfassung des von dem Trauma betroffenen
Individuums immer mit berücksichtigt werden muss, denn die Objekte
unserer Untersuchungen sind ja nicht Verletzungen, sondern verletzte
Individuen, ganz abgesehen davon, dass es zur Beurteilung des Schuld-
masses hier eben so notwendig ist, wie bei Todesfällen, die im Körper
selbst verankerten Krankheitsbedingungen zu kennen, um sie den
äusseren gegenüberstellen zu können. So ist z. B. ein Knochenbruchh
infolge des schuldhaften Verhaltens eines Dritten bei einem gesunden
Individuum und bei einem Tabetiker nicht gleich zu beurteilen, die
verschiedene Stellungnahme ergibt sich aber erst, wenn die schon
vor dem Unfall bestandene Körperverfassung der beiden verletzten
Personen in Rechnung gezogen wird. Das Auftreten nervöser Stö-
rungen, die Entwicklung einer Rentenhysterie nach einem Trauma
nötigt uns auf die Konstitution des Verunfallten, in welcher die Dis-
position zu derartig abnormen Reaktionen gegeben sein muss, einzu-
gehen, denn dem Trauma kommt in solchen Fällen nur die Rolle
eines auslösenden, nicht die eines verursachenden Faktors zu, wie
heute allgemein angenommen wird. Schliesslich sei noch des un-
günstigen Einflusses eines Diabetes auf die Heilungstendenz einer
Wunde oder der Gefahren einer blutigen Verletzung für einen
Hämophilen gedacht, um zwei weitere Beispiele für die Notwendigkeit
einer konstitutionellen Betrachtungswe'se bei der Begutachtung von
Körperbeschädigungen zu bieten. Allein nicht nur bei Körperver-
letzungen durch mechanische Mittel sondern auch bei solchen durch
(Gifte muss des öftern auf die einer abnormen Reaktion zugrunde
liegende besondere Körperverfassung des Organismus zurückgegriffen
werden. Das Phänomen der Idiosynkrasie, mit dem der Gerichtsarzt
nicht allzu selten zu operieren hat, ist ja nichts anderes als der Aus-
druck einer konstitutionellen Eigentümlichkeit, die sich in einem von
der Mehrzahl der Menschen abweichenden Verhalten auf die Einver-
leibung eines Giftstoffes kundtut. Die entweder in qualitativer oder
11] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 341
nur in quantitativer Beziehung ungewohnte Reaktionsweise eines
Individuums beweist eine Überempfindlichkeit des Organismus, die
ihren Grund nur in der Konstitution des Vergifteten haben kann.
Übrigens sind wir auch bei den physikalischen Krankheitsursachen
berechtigt von Idiosynkrasien einzelner Personen zu sprechen, wie
dies erst unlängst für die Wirkung der Röntgenstrahlen ermittelt
wurde, eine Feststellung, die bei der Begutachtung von Röntgen-
schädigungen nicht ausser acht zu lassen ist.
Bisher galt unsere Darstellung der Beziehungen zwischen Konsti-
tutionslehre und gerichtlicher Medizin durchwegs Problemen, die uns
die Arbeit bei den Strafgerichten zur Lösung aufgibt und bei denen
es auf eine scharfe Scheidung zwischen äusseren und inneren Krank-
heitsursachen ankommt. Natürlich werden ähnliche Fragestellungen
auch auf anderen Gebieten des Rechtlebens auftauchen und dann vom
Arzte gleichfalls unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Konsti;
tutionslehre zu beantworten sein. Allerdings ist die Einstellung auf
das endogene Moment beim Krankheitsgeschehen bei der Begutachtung
von Rechtsfällen nirgends so wichtig wie im Strafverfahren; am
wenigsten Bedeutung scheint sie mir für die Fälle; die nach den Nor-
men des Versicherungsrechtes beurteilt werden, zu besitzen. Denn
bei letzteren handelt es sich um die Zuerkennung eines Ersatzes für
verloren gegangene oder verminderte Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit ;
für sie genügt die Feststellung einer die: Arbeitskraft beschränkenden
oder aufhebenden Beschädigung und ihres Bedingtseins durch einen
Unfall. Die Trennung, wieviel der eingetretenen Folgen auf Rechnung
der Körperverfassung zu setzen und wieviel dem Unfallereignisse
selbst zuzuschreiben ist, erscheint dabei ganz unwesentlich, da die
Höhe des zu leistenden Ersatzes nicht nach dem Ausmasse des Ver-
schuldens eines Dritten, sondern ausschliesslich nach den Folgen,
die der Tinfall heraufbeschworen hat, bestimmt wird.
Dafür gibt: es im bürgerlicken Rechte noch einzelne spezielle
Fragen, deren Lösung uns die Konstitutionsforschung wesentlich
erleichtert. Ich meine damit die Beurteilung der Zeugungsfähigkeit
heim Manne und beim Weibe. Nicht dass wir uns jetzt nach Kenntnis-
nahme der Ergebnisse der Konstitutionslehre die Anwendung der
Untersuchungsmethoden, wie sie sonst bei der Entscheidung dieser
Fälle üblich waren, ersparen könnten, aber so mancher am Genital-
apparat zu erhebende Befund wird uns verständlich, wenn wir an
dem untersuchten Individuum die Zeichen eines Infantilismus, einer
hypogenitalen oder eunuchoiden Konstitution erheben, so manche von
dem Untersuchten vorgebrachte Behauptung über den abnormen Ab-
lauf seines (teschlechtslebens erscheint uns glanbwürdig, wenn am
342 F. v. Neureiter, Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. [12
Körper die Symptome einer der soeben aufgezählten Konstitutions-
anomalien zu finden sind. So dass unsere Tätigkeit auch in diesen
Belangen durch die Konstitutionslehre eine wesentliche Förderung er-
fahren hat. Schliesslich soll noch erwähnt sein, dass die Bemühungen
um eine individuelle Blutdiagnostik letzten Endes gleichfalls in der
Konstitutionsforschung fussen, denn alles was sich mit der Beschrei-
bung und der Erklärung von biologischen Erscheinungen am Indi-
viduum und nicht am Typus beschäftigt, gehört zum Aufgabenkreise
der Konstitutionslehre.
Damit finde unsere Darstellung, die den Berührungspunkten
zwischen gerichtlicher Medizin und Konstitutionslehre gewidmet war,
ihren Abschluss. Des Nutzens, den der gerichtliche Mediziner bei
der Erfüllung seiner Berufspflicht aus der Kenntnis der Lehre von der
individuellen Körperverfassung ziehen kann, ist dabei stets gedacht
worden. Allein so fruchtbringend sich für uns der konstitutionelle
Gedanke als Arbeitshypothese erwiesen hat, er kann auch schweren
Schaden stiften, wenn seiner Anwendung eine kritische Überlegung
mangelt. Und leider verfällt auch die Konstitutionsforschung, die
wie jede junge Lehre zu vorschnellen Verallgemeinerungen neigt.
leicht und des öfteren in den Fehler, Erscheinungen und Reaktionen
des Organismus auf die Konstitution beziehen zu wollen, bevor noch
andere Deutungsmöglichkeiten berücksichtigt und gewertet wurden ;
so dass die Mahnung, sich bei der Nutzniessung der Ergebnisse der
Konstitutionsforschung einer kritischen Zurückhaltung zu befleissigen.
nicht unberechtigt erscheint, zumal hier noch alles im Flusse ist
und daher manches, was heute als gesicherter Besitz gilt, schon
morgen abgetan sein kann.
Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus.
Von
Franz Prange, Berlın.
Die wachsende Einsicht in den Mechanismus und die Physiologie
der normalen Geschlechtsbestimmung und Geschlechtsdifferenzierung
durch Beobachtung und Experiment gestattet uns heute, auch aus der
auf den ersten Blick so verwirrenden Fülle hermaphroditischer Miss-
bildungen im Tierreich bestimmte Typen von Zwittern genauer abzu-
grenzen, die als genetisch einheitliche Gruppen anzusehen sind. Die
Erblichkeitsforschung einerseits hat wahrscheinlich gemacht, dass die
Vererbung des Geschlechts einen einfachen Fall einer Mendelschen
Rückkreuzung darstellt, derart, dass das eine Geschlecht heterozygo-
tisch, das andere homozygotisch für einen Geschlechtsfaktor ist. Auf
der anderen Seite haben die Studien über die Wirkungsweisen der
innersekretorischen Drüsen, spez. der Keimdrüsen, die grosse Bedeu-
tung derselben für die definitive Ausgestaltung der sekundären Ge-
schlechtscharaktere erwiesen.
Gerade die Ergebnisse der Keimdrüsentransplantation, die von
Harms und Steinach inauguriert einen tiefen Einblick in die ge-
schlechtsspezifische Wirkungsweise der Gonaden verschafft haben, und
vor allem die gelungene Ausbildung von männlichen und weiblichen
Sexualcharakteren in einem Individuum durch einen künstlichen Ova-
riotestis legten den Gedanken nahe, die Ursache der spontan auf-
tretenden teratologischen Zwitterbildungen von den ausgesprochenen
Formen des somatischen Hermaphroditismus bis zu den rein psycho-
sexuellen Inversionen der Homosexualität in einer zwittrigen Keim-
drüse zu suchen. Diese Annahme einer unbedingten Abhängigkeit
der sekundären Geschlechtscharaktere von der Hormonproduktion der
entsprechenden Keimdrüse hat aber schon innerhalb der Säugetier-
klasse keine volle Gültigkeit, da sehr ott Fälle beobachtet werden,
bei denen Keimdrüse und sekundäre Geschlechtscharaktere sich nicht
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 1. 23
344 Franz Prange. [2
entsprechen, worauf schon Neugebauer auf Grund seiner ausge-
dehnten Studien an menschlichen Zwittern hingewiesen hat.
Bei den Vögeln ist der geschlechtsspezifische Einfluss der Keimdrüse
nur sehr bedingt vorhanden, indem schon das Fehlen des Eierstockhormons
die Ausbildung der männlichen Geschlechtsattribute im kastrierten
weiblichen Tier auslösen kann, während bei den Amphibien bei
kastrierten Froschmännchen der für das männliche Geschlecht charak-
teristische Klammerreflex auch durch Injektion von Ovarialextrakt aus-
gelöst zu werden vermag. Bei den Wirbellosen darf eine innere Sekretion
der Keimdrüsen überhaupt geleugnet werden, wie diesbezügliche Ver-
suche an Schmetterlingen und Grillen ergeben haben. Es sind bei den
niederen Tieren die Somazellen auf Grund des ihnen durch den Ge-
schlechtschromosomenmechanismus immanenten Sexualcharakters im-
stande, von sich aus die homologe Geschlechtlichkeit hervorzubringen.
Erst im Verlauf der Phylogenese scheint dann eine immer grösser
werdende Abhängigkeit der somatischen Zellkomplexe von dem pro-
tektiven Reize einer geschlechtsspezifischen Hormonquelle sich heraus-
zubilden, die sich in der Keimdrüse lokalisiert hat. Diese Anschauung,
die besonders durch grundlegende Arbeiten Goldschmidts an
Schmetterlingen, Pezards, Godales u. a. an Vögeln sehr an Wahr-
scheinlichkeit gewonnen hat, gestattet, zunächst zwei grosse, genetisch
scharf voneinander getrennte Gruppen von Zwitterbildungen heraus-
zuheben, auf die Goldschmidt zuerst aufmerksam gemacht hat,
nämlich die der Gynandromorphen und Intersexe.
Bei den Gynandromorphen haben wir die Ursache in einer Störung
des X-Chromosomenmechanismus zu sehen, derart, dass wir Zellen
mit und ohne X-Chromosom erhalten. Die so in ihrem Chromosomen-
bestande verschiedenen Zellkomplexe, die daraus resultieren, werden
daher auch einen verschiedenen sexuellen Charakter haben, so dass
das Individuum aus männlichen und weiblichen Mosaikteilen zusammen-
gesetzt erscheint. Das bekannteste Beispiel sind die Eugsterschen
Zwitterbienen, die aus der Kreuzung zweier unterschiedlicher Rassen
hervorgegangen männliche und weibliche Merkmale in zahlreichen
Variationen bei demselben Individuum aufwiesen, wobei alle männ-
lichen Teile den Charakter der mütterlichen Rasse zeigten. Ähnlich
dürften die Verhältnisse bei den sexuellen Mosaikformen der Vögel
liegen, bei denen besonders die Halbseitenzwitter bekannt geworden
sind, nur wird hier das Endergebnis etwas kompliziert durch das
Hinzukommen der geschlechtsspezifischen Keimdrüsensekretion, was
ja bei den sexuell autonomen Zellen der Arthropoden nicht der Fall
ist. Hat eine Zelle ihren Chromosomenbestand erhalten, so ist auch
der definitive Sexualcharakter aller aus ihr hervorgehenden Organe
3] l Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 345
für das ganze Individualleben bestimmt. Das Wesentliche wäre
demnach beim Gynandromorphismus eine Störung des Verteilungs-
modus der Geschlechtschromosomen, die bereits auf dem Zwei-
blastomerenstadium erfolgen kann — es entständen so die bilateralen
Zwitter —, aber auch nocb bedeutend später, so dass etwa nur
ein Fuss, ein Flügelstück oder eine Antenne sich heterosexuell ent-
wickeln würde. |
Anders bei dem Phänomen der Intersexualität. Hier ist nicht
der Verteilungsmechanismus der Geschlechtschromosomen ge-
stört, sondern diese sind in ihrer physiologischen Wertigkeit
disharmonisch gegeneinander abgestimmt, so dass die durch den Ver-
teilungsmechanismus bestimmte genetische Geschlechtspersönlichkeit
noch ın einem relativ späten Stadium der Ontogenese eine Umkehrung
ins entgegengesetzte Geschlecht erfährt. Diese von Goldschmidt
an Kreuzungen verschiedener Schwammspinnerrassen studierten Inter-
sexe haben in ihrer larvalen Entwicklung einen „Drehpunkt“, dessen
zeitliches Erscheinen von der rassenmässig bestimmten Valenz der
miteinander rivalisierenden Geschlechtsenzyme abhängt. Alle dies-
seits des Drehpunktes schon differenzierten Sexualcharaktere ent-
wickeln sich im Sinne des durch den Chromosomenbestand gegebenen
genetischen Geschlechts, aber die beim Eintritt des Drehpunktes noch
plastischen, nicht ausdifferenzierten Geschlechtsattribute beenden ihre
Entwicklung im Sinne des anderen Geschlechts. So kann der Dreh-
punkt so früh einsetzen, dass zwar die Gonaden dem genetischen
Geschlecht, alle sekundären Charaktere jedoch dem entgegengesetzten
entsprechen. Oder bei späterem Drehpunkt werden auch noch Flügel-
färbung und Antennenbildung mehr oder minder den genetischen
Charakter tragen, während der Sexualinstinkt invertiert wird. Während
also beim gynandromorphen Individuum beide Arten von Geschlechts-
charakteren sich zeitlich nebeneinander entwickeln, geht ein
durch den Drehpunkt bezeichneter scharfer Schnitt durch die Onto-
genese des Intersexes; dieser entwickelt sich bis zu einem gewissen
Zeitpunkt als genetisches Weibchen (resp. Männchen), und vollendet
nach Eintritt des Drehpunktes seine Entwicklung als Männchen (resp.
Weibchen), soweit die sexualspezifischen Organsysteme noch plastisch
sind und die entsprechende Differenzierung zulassen.
Dieser Typus einer Genese zygotischer Intersexualität ist bisher
nur bei Arthropoden studiert worden, es erscheint nun aber auch
möglich, aus den Zwittererscheinungen bei Säugern Typen heraus
zu schälen, deren Genese nach Analogie der Schwammspinnerintersexe
einer Erklärung zugänglich ist, wenngleich das relativ klare Geschehen
bei letzteren durch das Hinzutreten der Keimdrüsensekretion bei den
23*
346 Franz Prange. [4
Wirbeltieren undurchsichtiger gemacht wird. Im Folgenden soll nun
der Versuch gemacht werden, an der Hand von vier Fällen zwittriger
Ziegen, die schon bei oberflächlicher Betrachtung auf Grund ihrer
ähnlichen anatomischen Verhältnisse die gleiche Gesetzmässigkeit ihrer
Entstehung vermuten lassen, die aus den Studien über Physiologie
und Mechanik der Geschlechtsbestimmung gewonnenen Ergebnisse auf
teratologische Formen der Wirbeltiere auszudehnen.
Es handelt sich um etwa neun Monate alte Tiere, die sich im äusseren
Habitus von gleichaltrigen weiblichen Artgenossen durch eine hypertrophische
Klitoris, männlichen Geschlechtstrieb, etwas gedrungenen Knochenbau, unter-
entwickelte Milchdrüsen, und männliche Behaarung unterscheiden, -wie sie am
Kopfe in Form von rückwärtsgebogenen Stirnlocken für das männliche Geschlecht
typisch ist. Die sodann vorgenommene Sektion ergab beim ersten Falle folgenden
makroskopischen Befund: Jederseits ein normalgebildeter 4x 2'iz cm langer
Hoden und Nebenhoden in der Inguinalgegend; durch das Fehlen des Skrotums,
dessen Bildungsmaterial zum Bau der Labia maiora verwandt war, ist daher
trotz des normalen Descensus testiculorum die typische Lokalisation der Hoden
unmöglich gemacht. Neben dem Ductus deferens läuft ein solider Strang kranial-
wärts, der sich als obliterierte Tube erweist, die in einen relativ zu den weib-
lichen Verhältnissen sehr kleinen Uterus duplex (5,5 cm Länge) — normalerweise
findet sich ein Uterus bicornis — übergeht. Der Uterus setzt sich ohne besondere
Andeutung einer Portio vaginalis uteri in eine qualitativ und quantitativ eben-
falls bypoplastische, jedoch durch Anwesenheit der typischen Faltenbildung als
solche deutlich charakterisierte Vagina fort; diese mündet etwas unterhalb der
beiden Mündungen der Samenleiter als enger, mit stricknadelstarker Sonde eben
passierbarer Kanal in die Urethra, um dann mit dieser einen 3,5 cm langen,
engen und undehnbaren Sinus urogenitalis zu bilden, dessen Orificiam externum
topographisch den normalen weiblichen Verhältnissen entspricht. Die Samenleiter
folgen in ihrem Verlaufe der lateralen Wand des weiblichen Genitaltraktus, um
dann an der erwähnten Stelle auf einer als Colliculus seminalis zu deutenden
Schleimhautfalte der Urethra auszumünden. Der in der uterinen Zone befindliche
Teil liegt innerhalb des Ligamentum latum, während der vaginale Teil in der
Muscularis der Vagina liegt; er zeigt hier eine deutliche ampullenartige, mit
Gallert erfüllte Erweiterung, die als Ampulla vasis deferentis aufzufassen ist.
Lateral sitzt in dieser Region jederseits eine etwa walnussgrosse höckerige
Drüse, die Vesicula seminalis, dem Samenleiter auf, in den sie distal von der
Ampulle mit einem sondierbaren Ductus excretorius endet.
Von den äusseren Genitalorganen erweist sich das als hypertrophische
Klitoris imponierende Gebilde als primär weiblich angelegt, was besonders durch
den für die Kavikornier typischen, etwa 1,5 mm langen Hautzapfen unterhalb der
Glans clıtoridis wahrscheinlich gemacht wird; die Glans entspricht einer ver-
kleinerten männlichen, und ist dorsal von einem Präputium umgeben, das sich
beiderseits in die Labia minora fortsetzt, die zwischen sich das enge Orificium
des Sinus urogenitalıs einschliessen. Die Corpora cavernosa lassen sich als etwa
kleinfingerdicker, fibröser Strang, der den männlichen Dimensionen kaum nach-
steht, bıs zu Jen unteren Schambeinästen verfolgen und zeigen auf diesem Wege
starke Windungen in lateraler und dorsoventraler Richtung, ein für das weibliche
Geschlecht typisches Verhalten. Die Urethra sensu strictiore besitzt eine Länge
— — — —
5] Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 347
von 3 cm, womit sie etwa die Mitte zwischen männlichen und weiblichen Ver-
hältnissen innehält. Ein Musculus cavernosus urethrae ist nicht vorhanden.
Überhaupt ist die Strecke, die den Sinus urogenitalis umfasst, in der vorliegenden
definitiven Bildung ausserordentlich verzerrt und bietet einer retrospektiven
Analyse gewisse Schwierigkeiten. Die Milchdrüsen zeigen nur minimales Drüsen-
gewebe. Die übrigen inkretorischen Drüsen zeigen sämtlich normale Befunde.
Am Skelett ist noch keine Verknöcherung der Epiphysenfugen erfolgt, eine im
Hinblick auf das Alter des Tieres nicht pathologische Erscheinung. Da es sich
um ein Exemplar der hornlosen Saanenziegenrasse handelt, die bei beiden Ge-
schlechtern nur einen etwa 1,5 cm hoben Knochenzapfen auf dem Os frontale
anstatt der bekannten Ziegenhörner trägt, findet sich dieses akzidentelle Ge-
schlechtsmerkmal auch nur in diesem Entwicklungsgrade vor. Interessant da-
gegen ist der Befund am Becken, dessen absteigende Schambeinäste an der
Symphyse einen Angulus pubis von etwa 85° bilden, während beim weiblichen
Geschlecht ein ausgesprochener Arcus pubis vorhanden ist. Wie Vergleiche mit
weiblichen und männlichen Becken zeigten, ist auch hier wieder ein intermediäres
Verhalten zu konstatieren, wie es auch von Stieve und Waldeyer bei
menschlichen Scheinzwittern beschrieben wurde’), Das Skelett in seiner Ge-
samtheit jedoch nähert 'sich in seiner groben Modellierung mehr dem männlichen
Geschlecht.
Abweichend ist bei Fall 2 das Verhalten der Hoden, deren Deszensus
vollständig unterblieben ist, sodass sie den Situs der Ovarien einnehmen. Hier-
durch ist eine wesentliche Verkürzung des Vas deferens, sowie des kranialen
Teiles der Uterushörner, die innerhalb des Ligamentum latum neben dem Kopf
des Nebenhodens blind enden, bedingt. Der Hoden selbst ist von weicherer
Konsistenz, mit 3 x 2 cm noch kleiner und gelblich blässer als der des vorigen
Falles, zeigt jedoch trotz der für einen Hoden ungewöhnlichen Lage die typische
Gefässversorgung, die besonders in dem charakteristischen Bilde des Plexus
pampiniformis zum Ausdruck kommt. Dem Hoden aufgelagert ist der Neben-
hoden, dessen Körper auffallend weich ist; dies Organ ist nicht mehr so scharf
herausmodelliert wie im vorigen Falle, die Dystopie hat Knickungen und
Windungen veranlasst, wodurch er etwas verändert erscheint. Trotzdem sind
Kaput, Korpus und Kauda voneinander zu unterscheiden. Die Ductus deferentes
laufen wieder an der lateralen Wand der Uterushörner resp. der Vagina kaudal-
wärts, um rechts und links neben letzterer in die Urethra zu münden. In der
Höhe des unteren Scheidendrittels bilden sie wieder ampullenartige Erweiterungen,
wenn auch nicht so lang und breit wie im Falle 1. Unterhalb der Ampullen
münden die Ductus excretorii der bier ebenfalls kleineren, etwa haselnussgrossen
Samenblasen in die Samenleiter ein. Uterus und Vagina sind wesentlich weiter
entwickelt, ersterer misst von dem blindgeschlossenen Horn bis zur Portio 12 cm,
letztere 11 cm. Die Uteruswand besitzt deutliche wulstförmige Erhebungen der
Mucosa, und die Vagina zeigt die typischen Rugae in ausgeprägtester Weise.
Die sich bis zu den Nebenhoden jederseits fortsetzenden Uterushörner zeigen
durchweg Uteruscharakter; eine Tube, auch im obliterierten Zustande, ıst nicht
vorhanden. Der Situs des weiblichen Genitaltraktus und seine Befestigungs-
mittel entsprechen der normalen weiblichen Topographie dieser Organe. Im
Übrigen decken sich die Befunde mit denen des vorigen Falles.
ı) Ein ähnliches intermediäres Verhalten des Skelettsystems hat Weil
durch ausgedehnte Messungen bei normalen und in ihrer Tıiebrichtung invertierten
Menschen festgestellt.
348 Franz Prange. [6
Fall 3 und 4 sind Zwillinge, die völlig identisch sind; ein Vergleich mit
Fall 2 zeigt nur noch eine weitere Entwicklung des Uterus im quantitativen
Sinne (14 cm), während Ampullen und Samenblasen im gleichen Sinne ver-
kleinert sind. Die histologischen Befunde entsprechen wieder durchaus denen
des vorigen Falles.
Besonderes Gewicht wurde auf die Untersuchung der Keimdrüsen gelegt,
denen ein besonderer Einfluss auf die Zwitterbildungen zugeschrieben wird, der
aus der Zwittrigkeit der inkretorischen Anteile der Keimdrüse resultieren soll.
Die als Keimdrüse erscheinenden Gebilde lassen sich schon makroskopisch
eindeutig als Hoden erkennen, wenn auch ihre Grösse erheblich hinter derjenigen
bei normalen Tieren zurückbleibt. Die Hodengrösse des normalen geschlechts-
reifen Ziegenbockes beträgt etwa 10,5 x 6 cm, während die Hoden der Zwitter
im Maximum nur eine Grösse von 4,5 x 2,5 cm aufweisen. Trotzdem ist die
anatomische Struktur im Prinzip durchaus normal; im Querschnitt lässt sich ein
deutliches, etwas exzentrisch gelegenes Mediastinum testis nachweisen, eine
Anzahl Vasa efferentia geht in den Kopf des Nebenhodens über. Die Tunica
albuginea ist von normaler Beschaffenheit und bildet mit dem Ligamentum latum
die einzige bindegewebige Umhüllung, ausgenommen im Falle 1, wo die Passage
durch den Anulus inguinalis auch zur Bildung einer Tunica vaginalis geführt
hat. Das braungelbe, ziemlich weiche Hodenparenchym ist in allen Teilen
durchaus homogen, von ovariellen Einsprengseln ist nichts zu bemerken.
Der maskuline makroskopische Habitus des Hodens wird durch das histo-
logische Bild bestätigt. Die Samenkanälchen bieten das typische Verhalten des
kryptorchen oder transplantierten Hodens. .Stets ist das Epithel einschichtig,
wenngleich man hier eine Differenzierung der indifferenten Spermiogonien in
echte Spermiogonien und Sertolische Zellen konstatieren kann. Das Plasma
ist nach dem Lumen zu scharf abgegrenzt. Es zeigt eine wabige Struktur, die
von Vakuolen herrührt, die sich an Gefrierschnitten mit Sudan lebhaft tingieren.
Nach dem Mediastinum zu flacht sich das Keimepithel ab, und die Zellen nehmen
den Charakter der platten Epithelzellen an. Das Zwischengewebe zeigt eine
‚grosse Ausdehnung, erscheint gegenüber dem normalen Hoden relativ vermehrt,
bleibt absolut jedoch hinter dessen Zwischengewebsmasse zurück, da die Ge-
samtgrösse des Zwitterhodens kaum ein Viertel der normalen beträgt. Auch
die Leydig-Zellen scheinen relativ vermehrt; während sie normalerweise nur
sehr sporadisch angetroffen werden, sind sie hier zu kleinen Gruppen bis zu 5
und mehr vereinigt. Sie sind übereinstimmend mit solchen aus normalen Hoden
gebaut, auch ist ihre Grösse ziemlich gleichartig, sodass das für den F-Zellen-
charakter (Steinach) nötige Kriterium der Grösse hier ausscheidet. Da sie
sich äusserst schwach mit Sudan tingieren, sind ihre trophischen Fähigkeiten
offenbar sehr mangelhaft entwickelt. Diese Annahme entspricht durchaus dem
Gesamtbefunde, nach dem eine männliche Keimdrüse vorliegt, die zwar noch in
abgeschwächter Form die typischen Reaktionen (Vermehrung der Leydig-
Zellen zwecks Regeneration des generativen Gewebes), jedoch weibliche Elemente
in keiner Form auch nur andeutungsweise erkennen lässt.
Die weiblichen Atribute unserer Fälle bestanden in einem Uterus
nebst Vagina, der dreimal die Verhältnisse einer solchen der prä-
menstruellen Ziege bot, also eines Tieres, dessen Keimdrüse ihre
protektire Wirkung noch nicht begonnen hatte, während im ersten
7) Neuere Anschauungen über Hermaphroditisinus. 349
Falle der weibliche Genitaltraktus einen Zustand hochgradiger Hypo-
plasie aufwies, der keine Parallele mehr zu irgend einem normalen
Stadium besass.
Das äussere Genitale war als nur primär weiblich bezeichnet
worden, die stärkere Ausbildung der Corpora cavernosa und der Glans
clitoridis sprach für eine spätere Maskulierung, deren Wirkung hier
die gleiche ist, die Lipschütz an dem weiblichen Genitale des im
jugendlichen Alter experimentell maskulierten Meerschweinweibchens
und Romeis kürzlich an einer maskulierten Hündin beobachtet
haben. Die genannten Organteile erfahren ihre definitive Fixierung
erst in der Pubertät und repräsentieren beim Weibchen eine Durch-
gangsform (Poll); eine präpuberale Maskulierung bedeutet hier die
Steigerung der letzteren in die männliche Endform als Fall ein-
sinnig gerichteter Versibilität. Es bleiben als weibliche Merkmale
nur Uterus und Vagina, und auch diese nur in einem Zustande, der
bestenfalls dem infantilen des normalen Weibchens gleicht und bloss
auf Grund der seinem Soma immanenten weiblichen Tendenz jenen
vorliegenden Entwicklungsgrad erreicht hat, der ausserdem noch unter
dem hemmenden Einflusse des Hodeninkretes stand. Im Gegensatz
hierzu zeigen die männlichen Geschlechtsmerkmale, soweit sie vor-
handen sind, von dem Fehlen der Spermatozoen in Hoden und Samen-
blasen abgesehen, durchweg den Grad der für das geschlechtsreife
Tier typischen Ausbildung, wie er physiologisch (Sekretion der Samen-
blasen, Libido sexualis, Behaarung) zum Ausdruck kommt.
Bemerkenswert ist das Fehlen des typisch männlichen Drüsen-
komplexes der Prostata. Dieser Drüsenkomplex entsteht embryonal
zu einer Zeit, wo die Samenblasen schon als lange röhrenförmige,
kraniolateral gerichtete Drüsen vorhanden sind. Dieses Faktum ist
von besonderer Bedeutung für das Verständnis des Nichtvorhanden-
seins der Prostata und der absoluten Kleinheit der Samenblasen.
Schon Pick macht bei Beschreibung seiner Schweinehermaphroditen
darauf aufmerksam, dass sie „als eine in den Verlauf des Vas deferens
eingeschaltete, gleichsam ampulläre Formation vollkommen aus dem
physiologischen Rahmen des Tieres heraustreten“, während sie nor-
malerweise zusammen mit den Samenleitern auf dem Colliculus seminalis
ausmünden, aus welchem Grunde er sie als „Pseudosamenblasen“
bezeichnet. Sie zeigen denselben kranialwärts verschobenen Situs
wie bei den Ziegenzwittern. Auch hier sind die Samenblasen in den
Verlauf des Samenleiters eingeschaltet, ihr Ductus excretorius mündet
in den letzteren weit oberhalb des Colliculus seminalis. Es liegt hier
eine Persistenz des embryonalen Zustandes vor, auf dem die Samen-
blasen ziemlich weit kranialwärts in die W olfschen Gänge einmünden,
350 Franz Prange. [8
weshalb im normalen Entwicklungsverlauf eine fortgesetzte Abschnü-
rung der Ductus ejaculatorii stattfindet, die bei den Zwittern aus-
geblieben ist, wodurch sich die Dystopie der „Pseudosamenblasen‘“
erklärt. Wie Pallin weiter am normalen männlichen Rinderfötus
beobachtete, ist in dieser Zeit der kaudale verschmolzene Teil der
Müllerschen Gänge stark angeschwollen, der kraniale Teil eine mit
Zylinderepithel ausgekleidete schmale Röhre. Der männliche Fötus
von 10 cm Länge erscheint in die eingeschlechtliche Richtung noch
nicht sehr verschoben, da auf diesem Stadium zwar schon der W olf-
sche Gang Samenblasen, die allerdings noch nach Art der definitiven
Pseudosamenblasen bei Zwittern lokalisiert sind, erhalten hat, anderer-
seits aber noch ein Uterus masculinus nebst Vagina in die Pars
prostatica einmündet. Bemerkenswert ist, dass die kranialen Partien
der Müllerschen Gänge bereits obliteriert sind, eine Entwicklung
der Tuben und der distalen Partien der Cornua uteri daher nicht
mehr möglich ist. Was nun die äusseren Genitalien angeht, so ist
beim 3,2 cm langen Schafembryo (Fleischmann) der sexuelle Di-
morphismus äusserlich nur durch die etwas grössere Dammlänge des
Männchens sichtbar, innerlich auch durch den englumigen Urogenital-
kanal der späteren Pars cavernosa urethrae. Der Phallus ist noch
völlig indifferent.
Was würde nun die Folge sein, wenn in diesem Stadium die bis
dahin in männliche Richtung orientierte sexuelle Tendenz in die
entgegengesetzte umschlagen würde? Die schon ziemlich weit ent-
wickelten männlichen Charaktere wie Hoden, Nebenhoden und Wolf-
sche Gänge mit ihren Samenblasen würden zwar nicht mehr obliterieren,
aber in ihrer Weiterentwicklung gehemmt, während nun die Derivate
der Müllerschen Gänge, soweit sie noch vorhanden und plastisch
genug sind, auf die ihnen adäquaten Impulse mit Wachstum reagieren.
Der Sinus urogenitalis, der bereits maskulinen Einflüssen ausgesetzt
war, die die erwähnte Englumigkeit bewirken und sehr frühzeitig
die Gegend des Colliculus seminalis modellieren, würde nun nicht
mehr jene maskuline Ausdehnung bis in die Regio umbilicalis er-
fahren, sondern die dem indifferenten und weiblichen Typus gemein-
same Kürze beibehalten. Der noch indifferente Phallus würde sich
in weiblicher Richtung entwickeln, ohne Spuren der ersten männlichen
Vergangenheit zu tragen. Tatsächlich entsprechen die Ziegenzwitter
diesem inversen Typus. Sie wären also sekundäre Weibchen resp.
intersexuelle Männchen (Goldschmidt, 1919). Der feminine Um-
schlag hat nicht bei allen zu gleicher Zeit stattgefunden, am spätesten
im Falle 1, dessen weibliche Merkmale infolge der schon gesunkenen
plastischen Kraft auch die geringste Entwicklung erfahren haben,
9] Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 351
während vice versa die männlichen Merkmale (teilweiser Deszensus,
grössere Samenblasen und Ampullen) besser zur Ausbildung gekommen
sind. In den anderen 3 Fällen ist das Verhalten der genannten
Merkmale bedeutend weiter nach der weiblichen Richtung verschoben,
da hier die weibliche Tendenz die entgegengesetzte früher überwunden
hat. Dass die in männlicher Richtung formenden Faktoren tatsäch-
lich ausgeschaltet waren, kommt in dem Fehlen der Prostata zum
Ausdruck, deren Entstehungszeit gerade in die kritische Periode der
sexuellen Version fällt. Ferner in der der embryonalen Topographie
zur Zeit des Umschlages entsprechenden Persistenz der kranialwärts
verschobenen Samenblasen. Auch die auffallend geringe Grösse der
Hoden, deren hauptsächlichstes Wachstum in die spätere Lebenszeit
fällt, spricht für ein Fehlen der maskulinen Impulse von diesem Zeit-
punkt ab.
Die Analyse der Ziegenzwitter hat ergeben, dass die Entwicklung
ın allen vier Fällen in männlicher Richtung begonnen hatte und erst
zu einer Zeit, in der das für die weiblichen Organe nötige Bildungs-
material schon teilweise wieder eingeschmolzen war (Fehlen der Tuben
und der kranialen Uteruspartien), der Drehpunkt aufgetreten und die
Entwicklung in weiblicher Richtung fortgesetzt war.
Ein Moment bedarf nur noch der Klärung, ohne die die Ana-
logie mit den intersexuellen Schwammspinnern falsch erscheinen könnte.
Auf dieses Moment, welches die sexuelle Natur des Säugerzwitters
verschleiert und infolge einseitiger Überschätzung der Wirkung der
inneren Sekretion bisher viele Analysen auf Irrwege geführt hat, sei
besonders aufmerksam gemacht. Wenn man von dem aktuellen Zu-
stand der Ziegenzwitter, d. h. zur Zeit der Sektion, ausgehend die
sexualspezifische Qualität der einzelnen Merkmale untersucht, so kommt
man zu der obiger Auffassung scheinbar widersprechenden Entdeckung,
dass die Erotisierung der Tiere durchaus maskulin ist. Der Ge-
schlechtstrieb, die Milchdrüsen, die Behaarung sind ausgesprochen
männlich; die Samenblasen sezernieren, das weibliche Genitale, dessen
Corpora fibrosa und Glans clitoridis bis zur Pubertät ihre Plastizität
bewahren, zeigt jene maskuline Hypertrophie, die Lipschütz am
maskulierten Meerschweinweibchen demonstriert hat. Das Skelett-
system, dessen wesentliches Wachstum ebenfalls in das präpuberale
Stadium fällt, zeigt einen, wenn auch nicht ausgesprochenen, so doch
überwiegend männlichen Habitus. Man sieht, es handelt sich durch-
weg um Merkmale, deren definitive Ausbildung für die männliche
Pubertät typisch und für die der protektive Einfluss der Keim-
drüse verantwortlich zu machen ist. Hier liegt nun jenes Moment,
dass die Analogie der Lymantria- und Capra-Zwitter äusserlich
352 | Franz Prange. [10
verwischt; während die intersexuellen Lymantria-Männchen alle
vom Drehpunkt ab entwickelten akzidentellen Geschlechtsmerkmale
in rein weiblicher Ausbildung zeigen, besitzen die intersexuellen Capra-
Männchen männliche sekundäre Sexualcharaktere. Dieser Widerspruch
löst sich einfach dadurch, dass eine Abhängigkeit der akzidentellen
Geschlechtsmerkmale von den Gonaden bei den Insekten nicht besteht,
wie ja die diesbezüglichen Untersuchungen unzweideutig ergeben haben,
während bei den Wirbeltieren der Grad der Ausbildung von dem Keim-
drüseninkret in hohem Masse abhängig ist. Eine männliche Keim-
drüse ist nun bei den intersexuellen Männchen beider Tierarten
vorhanden, ihre tatsächliche Existenz wird durch die Wendung am
Drehpunkt nicht beseitigt, wenn sie auch qualitativ und quantitativ
bei beiden Tierformen in der Entwicklung zurückbleiben muss. Ihre
Anwesenheit bei den Schmetterlingen macht sich nicht bemerkbar,
bei den Ziegen jedoch muss sie nach einiger Zeit, wenn auch in
abgeschwächtem Grade, die Wirkung ihres geschlechtsspezifischen
Inkretes an den Erfolgsorganen in der geschilderten Weise zum Aus-
druck bringen, wodurch die sekundäre Weiblichkeit verwischt er-
scheint. Aus der Analyse geht ferner hervor, dass die auch von
mir hier akzeptierte Ansicht der rein protektiven Wirkung der Keim-
drüsen prinzipiell verschieden ist von der formativen des Enzyms
der x-Chromosomen und des zugehörigen Antagonisten. Das Fehlen
der Prostata in unseren Fällen spricht hierfür. Obgleich ein Organ,
das erst in der Pubertät seine maximale Ausbildung erfährt, ist es
trotz maskuliner Erotisierung nicht vorhanden, da z. Zt. seiner
embryonalen Bildung die enzymatische Wirkung sich bereits nach
der weiblichen Seite hin verschoben hatte.
Die Annahme, dass die Ziegenzwitter als sekundäre Weibchen
aber mit Hoden und den von diesen abhängigen Erfolgsorganen
aufzufassen sind, bietet anatomisch-physiologisch durchaus keine
Schwierigkeiten, denn sie stehen ja unter den gleichen Bedingungen
wie die von Steinach kastrierten und nachfolgend durch Hoden-
implantation maskulierten Weibchen.
Dass die Vererbung in der Genese der Zwitterbildungen eine
grosse Rolle spielt, dafür sprechen auch die in dieser Richtung an-
gestellten Forschungen Hirschfelds, der bei 21 menschlichen
Zwittern 7mal feststellte, dass die Eltern derselben Vetter und
Base waren.
Zusammenfassung.
1. Die untersuchten vier Ziegenzwitter haben weibliche äussere
Genitalien, dagegen sind die Milchdrüsen unentwickelt, Geschlechts-
11] Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 353
trieb und Behaarung männlich. Die innere Anatomie zeigt einen
weiblichen Genitaltraktus mit männlichen und weiblichen Merkmalen:
die Keimdrüse ist ein Hoden obne Descensus von nicht normaler
Grösse, ohne Spermatozoen, mit rudimentären Samenkanälchen und
etwas vermehrter Zwischensubstanz.
2. Es sind keine Anhaltspunkte für einen teilweise weiblichen
Charakter der Zwischensubstanz aufzufinden, die die weiblichen
Merkmale der Tiere nach der Steinachschen Zwitterdeutung be-
dingt haben könnten.
3. Die Tatsache, dass bei zunehmendem Alter von Ziegen-
zwittern männliche Sexualcharaktere (Clitorishypertrophie, männlicher
Geschlechtstrieb) stärker hervorzutreten pflegen, weist vielmehr auf
eine normal männliche Inkretion des Hodens hin, wobei wir dahin-
gestellt sein lassen, ob dieselbe von dem reduzierten generativen Anteil
oder von den Zwischenzellen im Sinne Steinachs ausgeht.
4. Unsere Ziegenzwitter können nicht nach Analogie der Zwitter
bei Kälbern durch sekretorische Geschlechtsumstimmung infolge ver-
einigten Plazentarkreislaufes mit einem männlichen Zwillingsbruder
erklärt werden. Dagegen spricht, dass zwar Zwitter 1 neben einem
normalen Bock geworfen wurde, Zwitter 2 hingegen von derselben
Mutter eine normale Wurfschwester hatte. Dazu kommt, dass Zwitter
3 und 4 Wurfgeschwister von einer anderen Mutter waren.
5. Der Umstand, dass der Vater von Zwitter 3 und 4 bereits
mit anderen Müttern Zwitter gezeugt hatte (z. B. einen Zwitter
neben zwei Böcken), ebenso die Mutter von 1 und 2 mit verschie-
denen Böcken Zwitter warf, weist darauf hin, dass die Ursache der
Zwitterbildung bereits in den Keimzellen lag, dass es sich um zygo-
tische Intersexualität handelt. Nehmen wir ähnlich wie Gold-
schmidt zur konkreten Erklärung eine verschiedene Valenz der
Geschlechtschromosomen bei den Eltern an, so wäre für Zwitter 3
und 4 die einfachste Annahme, dass dem zwitterproduzierenden Bock
ein abnorm schwaches x, der Mutter aber zwei normale XX zu-
kämen. Die männlichen Nachkommen wären dann X, die weiblichen
Xx, erstere könnten wegen der relativ grossen X-Menge Intersexe
sein. Bei Fall 1 und 2 würde man den vorliegenden Verhältnissen
am nächsten kommen, wenn man annimmt, dass der Bock ein nor-
males x aufwies, die Mutter heterozygot war und neben einem nor-
malen ein besonders starkwertiges X besass. Die Nachkommen
würden dann sein: x und X Männchen, von denen letztere weibliche
Einschläge haben könnten. Ferner Xx- und xx-Weibchen, von denen
354 Franz Pıange, Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. [12
letztere intersexuell sein könnten. In der Tat hatten die Zwitter 1
und 2 männliche und weibliche Geschwister.
6. Keimdrüsenanlage einerseits und äussere Geschlechtsorgane
andererseits müssten auf eine intermediäre X-Masse verschieden
reagiert haben, so zwar, dass etwa für die Keimdrüse schon zu wenig
vorhanden war, um ein Ovar zu werden, sodass sie männlich wurde,
während die intermediäre X-Masse noch genügte, um die oben-
genannten Organe weiblich zu beeinflussen.
7. Die einmal männlich gewordene Keimdrüse bewirkt nach-
träglich durch ihre geschlechtsspezifische innere Sekretion eine mas-
kuline Beeinflussung der Klitoris, der Milchdrüsen, der Behaarung
und der Sexualinstinkte.
NaturwissenschaftlicheGrundlagen der klinischen
Konstitutionsforschung.
Von
d
Alfred Greil, Innsbruck.
Konstitution ist ein ausgeprägt, ursprünglich chemischer Begriff,
denn die Chemie behandelt die spezifischen, konstitutiven, bei Ortsver-
änderung unveränderlichen Eigenschaften der Körper. Zur Fest-
stellung dieser Beziehungen zu anderen Körpern und unseren Sinnes-
organen werden die Stoffe entweder unter unveränderten äusseren
Bedingungen erhalten (Zustandsanalyse), oder es werden die Daseins-
bedingungen in bestimmter, bekannter Weise systematisch abgeändert,
um de Reaktionen gegen dermassen aufgezwungene Zustandsände-
rungen zu ermitteln. Ist die Beschaffenheit der einzelnen Stoffe, sind
deren Unterscheidungsmerkmale, die grösseren Gruppen von Stoffen,
den einzelnen Zustandsarten zukommenden Eigenschaften ermittelt,
dann werden die allgemeinen Gesetzmässigkeiten abgeleitet. Das
letzte Ziel des Chemikeıs ist die Ergründung der genetischen Syste-
matik der Stoffe. Die Chemie ist so schon durch ihre Methodik
die Lehrmeisterin der allgemeinen und klinischen Biologie. Die Er-
gründung der genetischen Systematik der Einzelier wie der Viel-
zelligen, des gesamten Tier- und Pflanzenreiches, die Ermittlung der
Stellung des Menschen in der Organismenwelt, in deren konstitutionellen
Wechselbeziehungen sowie die genetische Systematik der Krankheits-
zustände ist das Ziel des Naturforschers im Ärzte Ohne Kenntnis
der Entstehung zellenstaatlicher Konstitution, der allgemeinen Gesetz-
mässigkeiten des stammes-, keimes- und kulturgeschichtlichen Werde-
ganges der Konstitution ist die Aufdeckung der Ursache angeborener
Leiden und krankhafter Zustände der Kulturmenschheit unmöglich.
So muss also der Arzt beim Chemiker in die Schule gehen, um die
Prinzipien der Konstitutionsforschung zu erfassen.
gg — —
356 Alfred Greil. [2
Isomere, aus denselben Stoffen bestehende Körper können eine
sehr verschiedene Konstitution haben, denn Konstitution bedeutet
nicht stoffliche Zusammensetzung, sondern die Grösse und Art der
Arbeitsfähigkeit eines Energiesystemes, also Arbeitsgrösse, Energie-
inhalt, die individualspezifische Art des Zusammenwirkens der Teile
eines geschlossenen Systemes. Die konstitutionellen Unterschiede sind
viel mannigfaltiger als jene der Zusammensetzung. Es ist die dornigste
Aufgabe der Chemiker, die konstitutiven Unterschiede isomerer Körper
zu ermitteln und dasselbe gilt mutatis mutandis für den Arzt. Niemals
lassen sich konstitutionelle Verschiedenheiten kompliziert zusammen-
gesetzter Körper schematisieren; in gewissen Fällen bestehen zwar
einigermassen hervorstechende konstitutionelle Besonderheiten. Je
grösser die Energieabgabe (-wandlung) einer Verbindung ist, um so er-
heblicher wird deren Konstitution verändert. Unter möglichst gleich-
mässigen, durchschnittlichen Aussenbedingungen treten die konstitu-
tiven Eigenschaften bzw. Verschiedenheiten der Stoffe weniger hervor,
so dass z. B. alle Gase dem Boyleschen Gesetze zu gehorchen scheinen.
Unter extremen Verhältnissen jedoch, bei niederer Temperatur und
hohem Drucke, je näher ein Gas seinem Verflüssigungspunkte gebracht
wird, werden die spezifischen, individuellen Eigenschaften um so
prägnanter. So muss auch der Mensch unter mannigfach abgeänderte,
ganz extreme, widrige Verhältnisse gebracht werden, um seine Konsti-
tution vollends zu offenbaren. Die Zustandsprobe, das Habitusbild,
muss systematisch durch die Reaktions (Funktions)probe ergänzt werden.
Der Chemiker schreitet systematisch von einfacheren zu kompli-
zierteren Verhältnissen fort, wenn er zuerst die Eigenschaften der ver-
schiedenen Zustandsarten, der Gase (konstitutive Grösse des in-
kompressiblen Volumens usw.), der Flüssigkeiten (Kompressibilität,
Wärmeausdehnung, spezifische Wärme, Oberflächenspannung, Lösungs-
eigenschaften), der festen Körper (Elastizität, optisches Verhalten,
innere Richtungsverschiedenheiten, Umwandlungsbedingungen und -er-
scheinungen polymorpher Körper) durch Zustandsprüfungen und die
dynamische Methode der Energiezufuhr ermittelt, sich dabei stets im `
physiko-chemischen Grenzgebiete bewegt. Die Konstitutions-
erforschung der einzelnen Stoffe setzt mit der qualitativen Analyse
ein. Darauf folgt die Ausscheidung der Elementarstoffe in wägbaren,
leichter analysierbaren einfacheren (bereits bekannten) Verbindungen,
oder in ihrer ursprünglichen Zustandsform (die quantitative Analyse).
Verbinden sich zwei Elemente mit einander, so entstehen in gewissen
Fällen unter besonderen Umständen mehrere, nur qualitativ gleich
zusammengesetzte Stoffe von verschiedener Konstitution (Gesetz der
multiplen Proportionen) im Gegensatze zu isomeren, konstitutionell
3) Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 357
verschiedenen Körpern, die aus qualitativ und quantitativ gleichen
Bausteinen bestehen. Solche Analogien sind für das biologische Kon-
stitutionsproblem von besonderer, prinzipieller Bedeutung. In metho-
discher Hinsicht für die klinische Konstitutionsforschung — diese
angewandte chemisch-physikalische Konstitutionserforschung unbelebter
Stoffe — vorbildlich ist der Chemiker bestrebt, aus den Folgen gegen-
seitiger chemischer Beeinflussung, aus der Entstehungsweise von Reak-
tionsprodukten die Konstitution, die (konstitutionellen) Verbindungs-
gewichte zu ermitteln.
Den ideellen Abschluss bildet die Darstellung der räumlichen
Anordnung der zusammenwirkenden Teile der Einzelmoleküle, die
Ermittlung der Konstitutionsformeln, der Bindungs- und Abhängig-
keits-, der Valenzverhältnisse der verbundenen (zusammenwirkenden)
Atome und deren Bestandteile, — der Anordnung der Bausteine (Raum-
erfüllung) von Stoffen gleicher Molargrösse und Zusammensetzung. Alle
diese Probleme, insbesondere das Problem der chemischen Verwandt-
schaft erheischen stete gegenseitige Anpassung und Ergänzung der
chemischen und physikalischen Methoden und Begriffe, um auf diesem
schwierigen Felde die Führung nicht zu verlieren.
Das gemeinsame Ziel aller chemischen und biologischen Konsti-
tutionsforschung ist die Feststellung der Energieverhältnisse, denn
diese sind die einzigen Tatsachen, welche wir von der Aussenwelt
wissen (W. Ostwald). Jeder chemische Vorgang ist definiert, wenn
die dabei beteiligten Energien nach Mass und Art bestimmt sind.
Der Zustand eines Körpers ist gleichbedeutend mit der Art und dem
Masse seiner Energie. Die Energetik findet in allen Naturwissen-
schaften ihre Anwendung, sie stellt den Zusammenhang zwischen den
einzelnen Wissenschaften her, denn Wissenschaft ist ein zusammen-
hängendes Ganzes. — Ruhende Energie kann keine Arbeit leisten; es
müssen Gleichgewichtsstörungen eintreten. Die Dynamik ist die Lehre
von den bewegenden Kräften, von den Bedingungen, unter denen
Gleichgewichtslagen verändert werden, Energiesysteme Arbeit leisten
können, denn Energiesysteme sind nur dann arbeitsfähig (II. Haupt-
satz), wenn Intensitätsdifferenzen entstehen nnd nur so lange arbeits-
fähig, als sich beim immanenten Ausgleichsbestreben Gelegenheiten
zum Entstehen neuer Konzentrationsgefälle ergeben. So ist das Mass
umwandelbarer Wärmeenergie in mechanische Arbeit eine Funktion
der Temperaturdifferenzen. Je weiter ein Energiesystem von der
statischen Ruhelage entfernt ist, oder durch Gleichgewichtsstörungen
gehalten wird, um so grösser ist seine konstitutionelle Arbeitsfähigkeit.
Belebte Körper haben die Fähigkeit ein solches bewegliches, dynami-
sches, arbeitsfähiges Gleichgewicht dauernd aufrecht zu erhalten. So
358 Alfred Greil. H
verknüpft also der Biologe damit den Begriff der Bestandfähigkeit
individualspezifisch gewordener Arbeitsgrösse. Reversible Zustands-
änderungen, etwa während der mensuellen Zyklik, der Schwanger-
schaft oder interkurrenter Erkrankungen werden als Konditionsände-
rungen bezeichnet. Dispositionen sind Teilerscheinungen der Konstitution,
des gesamten Stoff- und Energiewechsels, des Zusammenwirkens aller
Organe; diese Sonderung ist durch die Komplexität des Gesamt-
systems nötig geworden. Stets ist die Reaktion gegen zwangsweise
Abänderung der Daseinsbedingungen das wichtigste Mittel zur Er-
probung der Konstitution. Konstitutionslehre und Dynamik ergänzen
einander. Die Anwendung der Energiegesetze auf den entstehenden
gesunden und kranken Menschen, den Wiedererwerb einer artgemässen
Konstitution, den Neuerwerb einer neuartigen und pathologischen
Konstitution: die Dynamik der normalen und pathologischen Ent-
wicklung, Evolution und Involution, des Zusammenwirkens der Zellen
und Zellarten untereinander und mit anderen belebten und unbe-
lebten Körpern, die Erfüllung der Forderungen, welche Helmholtz
auf der 43. Versammlung deutscher Naturforscher (Innsbruck 1869)
und Wilhelm Ostwald gestellt haben, ist das letzte Ziel der klini-
schen Biologie. Damit fallen alle Schranken, welche der grübelnde
Menschengeist zwischen der belebten und unbelebten Natur, zwischen
Geist und Körper, Seele und Leib errichtet hat. Indem wir so auf
den von den Physikochemikern geschaffenen Grundlagen weiterbauen,
mit ihren Methoden und Begriffen weiterarbeiten, wird es uns möglich
werden auch den Zweck aller Wissenschaft: die Beherrschung der
Naturvorgänge, des keimenden Lebens zu erreichen und damit auch
unser letztes Ziel: die Verhütung des Neuerwerbes endogener Leiden
insbesondere der endogenen Geistesstörungen.
Nelımen wir an, es hätte sich eine Versammlung deutscher Natur-
forscher und Ärzte als allgemeines Verhandlungsthema das Wesen
und die Entstehung der menschlichen Konstitution und deren Stö-
rungen gesetzt, die Verhütung der angeborenen Leiden der Kultur-
menschheit, dieses Zentralproblem ärztlichen Denkens und Handelns,
diese ärztliche Prestigefrage, deren Lösung nur dem Naturforscher
im Arzte möglich ist. Wie müsste der Areopag der Referenten zu-
sammengesetzt sein, um dieser höchsten konstitutionellen Leistung
der Kulturmenschheit, des Zusammenwirkens der Naturforscher und
Ärzte zu entsprechen” In diesen Verhandlungen sollen Naturforscher
aller Kategorien in die Tragweite und Anwendbarkeit ihrer funda-
mentalen Erkenntnisse, in solche Möglichkeit der Vereinheitlichung
schier unabsehbarer, kumplexester Mannigfaltigkeit Einblick gewinnen.
andererseits die Ärzte im Vertrauen auf die Gesetzmässigkeit und
5] Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 359
physiko-chemische Begreifbarkeit aller Vorgänge des keimenden und
postnatalen Lebens bestärkt, sich der ungeahnten Macht und Ver-
antwortung bewusst werden, welche sie der Schwangeren, dem Keim-
ling, den mütterlichen und entstehenden fötalen Keimstätten gegen-
über besitzen. Es sollen die Traditionen der Begründer und der
Vertreter der Glanzperioden der Versammlungen, Lorenz Oken,
Alexander von Humboldt, Hermann von Helmholtz, Ernst
Haeckel und Rudolf Virchow gewahrt werden.
Das erste Wort hat der Physikochemiker zur Veranschaulichung der Elementar-
konstitution der letzten dynamischen Einheiten, des Atombaues. Wie die Wander-
sterne um ihre Sonnen, so kreisen die unter sich gleichen, negativ geladenen
Elektronen in planetenartigen Bahnen — bei den einzelnen Elementen in ver-
schiedener, spezifischer Zahl und Eutfernung (Quanten) — um den positiv geladenen
Atomkern, dessen Ladung der Elektronenzahl entspricht. Die konstitutionellen
Verschiedenheiten der Elemente sind sonach die periodische Funktion der ver-
schiedenen Kernladungszahblen, ihrer Atomkerne und der entsprechenden Elektronen-
zahlen und -bahnen. Alles ist ın steter Bewegung. Durch Atomzerfall entstehen
Umwandlungen der Elemente, deren Beschleunigung und Verzögerung bisher noch
nicht gelungen ist. Durch Bombardement mit a-Strahlen grösster Geschwindigkeit
konnten vom Stickstoff Wasserstoff- und Heliumatome abgespalten werden. Springen
Elektronen (infolge von Stössen der Nachbaratome) aus einer Bahn ın die andere
so findet keine gleichmässige, sondern eine quantenhafte, sprunghafte Energie-
wandlung statt, indem elektromagnetische Schwingungen in bestimmten Quanten
abgexeben werden. Darin besteht das Zusammenwirken der Teile der Atom-
konstitution, sowie der gleichartigen und verschiedenen Atome iu raumerfüllenden
Systemen (Gemengen). Die konstitutionellen Verschiedenheiten der lonen (Elektrizi-
tätsträger) bestehen vor allem in deren verschiedener Wanderungsgeschwindigkeit
und elektrischen Aufladung. — Sodann wird die genetische Systematik der Elemente,
das Wesen und die Entstehung der verwandtschaftlichen Beziehungen (Periodik),
des (konstitutionellen) Verbindungsbestrebens erörtert. Atomgruppen (Radıkale)
offenbaren ihre konstitutionelle, stöchiometrisch-dynamische Verschiedenheit in
ihrer verschiedenen Affinitätsb-anspruchung. Die Konstitution der Moleküle be-
steht in der Gesamtheit der zusammenwirkenden, ihre Affınitäten absättigenden,
darch ihre Sättigungskapazität verschiedenen Atome, ihrer Bındungs- und Ab-
hängigkeitsverhältnisse. Stets bedeutet sonach Konstitution eine Arbeitsgrüsse,
einen Energieinhalt. Dynamik ist die Lehre von der Arbeitsfähigkeit, den Ursachen
der Veränderung, der Entstehung und Wandlung beweglicher, veränderlicher,
arbeitsfähiger (dynamischer) Gleichgewichte. Als Beispiele werden die elektro-
Iytischen Gleichgewichtsverschiebungen im Lösungsbereiche, sowie die Berechnung
der Phasengleichgewichte angeführt. Zum Schlusse werden die Prinzipien der
chemischen Dynamik (Reaktionskinetik), die Aufstellung der Reaktionsgleichungen,
die Gesetzmässigkeiten des Zusammenwirkens verschiedener Stoffe, der Offen-
barung der Konstitution bei der Stoffwandlung, der Entstehung neuer Verbin-
dungen, höherer konstitutioneller Einheiten erörtert, welche so fundamentale
Analogien mit der Entstehung zellenstaatlicher, vielzelliger Energie-Reaktions-
systeme und Reaktionsprodukte — Konstitutionen — darbieten.
Das zweite Referat bebandelt das Wesen und den Ursprung der Konstitution
belebter Körper, dieser Auslese aus einer Unzahl komplexer Verbindungen, welche
nicht imstande waren, ein dynamisches Gleichgewicht selbsttätig aufrecht zu
Archiv für Frauenkuude Bd. X. H. 4. 24
360 Alfred Greil. [6
erhalten — denn Energiesysteme können nur dann Arbeit leisten, wenn unauf-
hörlich Intensitätsdifferenzen entstehen, während die alten ausgeglichen werden.
Die Fortschritte der Biochemie, Biopbysik und Kolloidchemie ergeben, dass belebte
Körper nur Spezialfälle, eine besunders komplexe Art des Zusammentretens und
Zusammenwirkens ion-, molekular-, kolloiddisperser und kolloidstrukturierter Teile
eines geschlossenen abgrenzbaren Ganzen mit enormer innerer Oberflächenentwick-
lung, Quellbarkeit, der Wegschaffung aller störenden, den Reaktionengang hemmen-
den Reaktionsprodukte sind. Durch diese immense innere Oberflächenentwicklang
kolloıdaler Systeme wird das Ineinandergreifen, diese zeitliche und räumliche
Verknüpfung physikalischer und chemischer Prozesse, der koordinierten Gruppen-
und der Krttenreaktionen des unaufhörlichen Stoff- und Energiewecbsels mit dem
Schmiermittel verschiedenartiger, selbst kolloidaler Fermente ermöglicht. Die
genetische Systematik dieser thermodynamischen, heterogenen, mehrphasigen,
vorwiegend emulsoiden, belebten Reaktions-Energiesysteme kann nur durch synthe-
tische Deduktion konstruiert werden. Aber die analoge Konstruktion der geneti-
schen Systematik der unbelebten Körper von den Uratomen (H') bis zu den
komplexest konstituierten Kristallen und Gesteinen, den Produkten der Humus-
bildung — andererseits die genetische Systematik der schleichenden und sprunghaften
Übergänge von den primitivsten Mikrobien zu den höchsten Säugetieren, von
indifferenten Deckepithelzellen der Urniere zum vollerwachsenen höchstdifferen-
zierten Kulturmenschon lässt es vollkommen ausgeschlossen erscheinen, dass die
Entstehung belebter Energiesysteme aus diesen Reihen herausfalle, der Vitalismus
irgendwelche Berechtigung habe. Und dieses felsenfeste Vertrauen auf die physiko-
chemische Begreifbarkeit alles Naturgeschehens, auch der komplexesten Vorgänge
im gesunden und kranken Menschen ist die Grundlage alles ärztlichen Denkens
und Wollens, Handelns und Hoffens.
Das dritte Referat betrifft die Entstehung der Variabilität der Konstitution,
die genetische Systematik der Protisten. Der Zellulardynamık, dieser kombinierten
Chemo-, Elektro-, Osmo-, Oberflächen-, Quellungs- und Thermodynamik lebender
Energiesysteme ist es versagt, die Entstehung solch’ konstitutionellen Zusammen-
wirkens aus unbelebten Zuständen zu verfulgen; jede Zelle, jedes Zellurganell,
jeder Kern, jedes Zentriol, jedes Chromatophor leitet sich von seinesgleichen ab.
Es kann nur durch den Vergleich der unabsehbaren Mannigfaltigkeit der zellu-
lären Strukturen, Funktionen und Korrelationen von den wenige u grossen, wahr-
scheinlich wirklich kernlosen Mikıokokken bis zu der 5 mm grossen Radiolarien,
deren Kern tausend Chromomeren ausbildet, durch die Zurückführung der total
verschiedenen Stoffwechsel zeigenden Protozoen und Protophyten auf indifferente
Urflagellaten das genetische System der beiden Lebensreiche, der Tier- und Pflanzen-
welt und der Erwerb ihrer konstitutionellen Wechselbeziehungen und -wirkungen
rekonstruiert werden. Der Hauptfaktor solcher Variabilität und Artbildung ist
analog der Komplikation der genetischen Systematik chemischer Individuen —
als deren Fortsetzung — die enorme Variabilität kolloider Systeme, deren gegen-
seitige Beeinflussung namentlich auch deren Zusammenwirken mit Ionen. Schon
die Grössenzunahme verschärft die Schichtenpotentiale, schafft Stoffwechselunter-
schiede (Membran, Hyalo-, Exo-, Endoplasma, perinukleäre Schale, Kern, intra-
nukleare Sphärenzentren). Der zweite Faktor ist veränderte Lebenslage durch
die Verbreitung oder hereingebruchene Umweltsänderungen; Zell- und Blut-
schmarotzer weisen Extreme solcher Konstitutionsänderungen auf. Der dritte
Faktor sind gleichfalls durch diesen zweiten Faktor geförderte regionäre, namentlich
den komplexen Zelleib betreffende Potentiale, lokale Struktur- und Leistungs
7] Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 361
unterschiede, welche im Einheitsbaue belanglos sind, durch die Zellteilung aber
fixiert werden, Konstitutionsunterschiede zwischen den Tochterzellen schaffen.
Auf solche Weise wurden nicht nur die sexuellen — bei Schmarotzern besonders
ausgeprägten — Unterschiede gezüchtet, sondern auch direkt Artunterschiede.
Der vıerte Faktor sind Ungleichheiten und Ungleichartigkeiten, welche erst
während der verjüngenden, reaktiven inneren Umwälzungen der Zellteilungen zu-
standekommen, so dass Tochterzellen von einander und der Mutterzelle ver-
schieden werden. Durcb Konibination dieser beiden Faktoren können erhebliche
asymmetrische, heteropolare, heterometrische Mitosen, alle Übergänge von quanti-
tativen zu qualitativen Verschiedenheiten der Konstitution entstehen, alle Grade
von der fluktuierenden Variabilität zu tiefgreifenden mutativen Ahänderungen.
Der fünfte Faktor, die wahllose Befruchtung (Amphimixis) kommt nur bei höheren
Protisten in Betracht. Bei kolonienbildenden Protisten mit Unterschieden zwischen
den zusammenwirkenden Einzelgliedern ist der endogene Faktor der Variabilität
evident, doch stets auch von exogenen Faktoren abhängig.
Das vierte Referat gilt der Entstehung der zellenstaatlichen Konstitution,
dem Erwerbe des Zusammenwirkens, der Leistungsverschiedenheiten, ungleichen
Wachstums, ungleicher Struktur- und Funktionsdifferenzierung der sich in ge-
schlossenem Veıbande vermehrenden Abkömmlinge der Keimzelle. Organisation ist die
Hervorbildung ungleich gestalteter, verschieden strukturierter, verschieden wirken-
der untergeordneter Teile aus einem einheitlich gestalteten und einheitlich wirken-
den Ganzen. Aus dem Zustande absoluter Indifferenz, wirklicher Gleichartigkeit
wird weitestgebende Ungleichartigkeit wieder oder neu erworben, gezüchtet,
schöpferisch geschaffen. So wird ganz neue zellenstaatliche Mannigfaltigkeit des
Zusammenwirkens aus dem Zustande absoluter Einzelligkeit also zellenstaatliches
Leben neu geschaffen und in diesem Sinne ist die Keimesentwicklung wahrhafte
Biogenesis. Die sich innerhalb der beengenden Eihüllen vermehrenden gleich-
artigen Zellen geraten unter mannigfaltigst verschiedene Lebenslagen und schlagen
daher eine gänzlich verschiedene Lebensweise ein. Wie bei chemischen Analysen
wird durch Veränderung der Umweltsbedingungen und dag Zusammen-, Aufein-
anderwirken der Teile die Konstitution, die Reaktionsfähigkeit erprobt und ganz
analog den Vorgängen im Freileben, an ausgebildeten, unter andere Daseins-
bedingungen geratenen Individuen neue Mannigfaltigkeit gezüchtet. Die unlös-
liche Korrelationsirias : Milieu-Struktur-Funrktion beherrscht auch all den Erwerb
solcher umschriebener Leistungssteizerungen und -abänderungen. Genau dasselbe
Prinzip beherrschte die gesamte stammesgeschichtliche Differenzierung der rezenten,
sowie der nicht bestandfähigen, total ausgestorbenen Formen der Tier- und Pflanzen-
welt, sowie die gesamte Kulturentwicklung der Menschheit, deren Ab-, Aus- und
Entartungen, deren Wechselwirkungen mit der Keimesab- und -entartung das
Zentralproblem der klinischen Biologie bilden.
Das fünfte Referat bringt die Anwendung der entwicklungsdynamischen
Erkenntnisse auf die Vererbungsdynamik. Sämtliche zellenstaatlichen Sonderunger,
alle Primitiv-, Dauerorgane und Adnexe, sämtliche Gewebe und Zellarten und
interzellulären Differenzierungen, also auch die Keimstätten und Geschlechtszellen
entstehen nach denselben Prinzipien umstandsbedingter Züchtung von Ungleich-
artigkeit aus dem Zustande absoluter Indifferenz, wirklicher Gleichartigkeit. Keim-
stätten erstehen in der gesamten Organismenwelt an denjenigen Stellen des werden-
den Zellenstaates, welche die günstigsten Stoffwechselbedinzungen darbieten. Bei
den Säugetieren ist das Deckepithel der Urniere ein solches Gebiet, denn die
Urnierenglomeruli werden durch die Plazenta von harnfähigen und harnpflichtigen
24*
362 Alfred Greil. [8
Schlacken entlastet und scheiden ein hochwertiges Nährlösungsgemisch in die
Kapselräume ab. Diese Energieanreicherung, die Etablierung eines solchen Kon-
zentrationsgefälles bedeutet für das indifferente kubische Deckepithel eine basale.
zustandseigene Nutzstoffzufuhr, wodurch eine enorme Umsatz-, Leistungsteigerung,
die Entstehung des Kemepithels — einem Dungeffekte vergleichbar — hervor-
gerufen wird. Im rubenden Deckepithel, vor Beginn der Urnierensekretion ist
es noch keineswegs vorherbestimmt, ob Genitalsarkome, Karzinome, dysplastische
mannskopfgrosse Gewächse, vollwertige oder unterwertige, abiotrophische, funk-
tionsunfähige, sich bald erschöpfende Keimstätten entstehen werden. Dies hängt
ganz von der Nutzstoffzufubr, der Lebenslage ab, in welche das indıfferente Deck-
epithel geraten wird. So ist auch die gesamte weitere Differenzierung der Keim-
stätten wie das Wachstum, die Mästung und Reifung jeder einzelnen Geschlechts-
zelle ganz und gar von der Blutbeschaffenheit abhängig. Keiue Zellart wird aber
von erworbenen Konstitutionsänderungen, von quantitativen und qualitativen Ab-
änderungen des Stoff- und Energiewechsels in so tiefgreifendem Masse betroffen,
wie die Eizellen bei ihrer enormen Konzentrationsarbeit, die Samenzellen bei ihrer
enormen Vermehrung. Am Elternindividuum gar nicht sinnenfällige Abänderungen
anderer Zellarten, Gewebe und Organe können in der Filialentwicklung in ganz
neuen zellenstaatlichen Reaktionen geoffenbart werden. In der Sprache der
Energetik bedeutet Vererbung die Übertragung von Energieinhalten und deren
Intensitätsdifferenzen. Als solche haben die sexuellen Differentiale zwischen den
diametral verschieden gestalteten wirkenden und befähigten Geschlechtszellen und
das während der Eimast erworbene Potential des polaren und geschichteten Ei-
baues zu gelten, denn bei solcher Mast auf 10 facher Leberzelldurchmesser konnte
die Oocyte nicht homaxon bleiben. So hat also: die Keimzelle eine durchaus
zelluläre Erbkonstitution. Kein einziges Glied dieses Consensus partiam kann als
Lebens- oder Erbträger bezeichnet werden : jedes einzelne Teilgebilde hat seine speziifi-
schen zellulären, ausschliesslich zelluläre Verrichtungen betreffenden Erbfunktionen,
deren Gesamtheit die Erbkonstitution ausmacht. Es ist vollkommen ausgeschlossen,
dass irgend eine zellenstaatliche Formation, Funktion oder Korrelation irgendwo
und irgendwie in der Keimzelle lokalisierbar unabänderlich determiniert ist. Weder
Chemo- noch Entwicklungsdynamiker sprechen von „Determinations- und Beali-
sationsfaktoren*, sondern lediglich von Reaktionsfaktoren. — Die enorme
Einschränkung der Eimast — bei Menschen auf 0,25— 0,85 mm ist durch die Etablie-
rung des maternfötalen Reaktionssystemes möglich geworden, dessen Wirksam-
keit den umstandsbedingten epigenetischen Wiedererwerb sämtlicher zellstaat-
lichen Formationen und Korrelationen entscheidend mitbestimmt. Am Neonaten
ist es fast unmöglich, das bei der elterlichen Keimstättenbildung, bei der Ei-,
Samen- und Fruchtbildung KErworbene im Gesannterbe, der gesamten Erbkonstitu-
tion voneinander zu sondern. Das maternfötale Reaktionsystem ist wie die
Ovarien eierlegender Formen als eine höhere konstitutionelle Einheit zu betrachten,
deren Wechselwirkungen für beide Teile ebenso förderlich wie verhängnisvoli
werden können.
Das Thema des sechsten Referates ist die Entstehung der Mannigfaltigkeit
der Vielzelligen: das Problem der Artbildung. Als Hauptfaktoren werden erörtert:
1. Die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Anordnung der Keimstätten, dieser
höchsten Potentialerwerbungen der entstehenden Zellenstaaten. 2. Die Mannig-
faltigkeit der Kibildung sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht; der
regionäre Potentialerwerb während der Eimast. Wie isomere Körper eine gänz-
lich verschiedene Konstitution haben können, so hätten Eizellen von gleicher
9] Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 363
stofflicher Zusammensetzung, aber verschiedener Stoffverteilung ihrer Reaktions-
produkte, der Dottermitgift, eine gänzlich verschiedene Entwicklungsfähigkeit.
Die Chromosomen sind in dieser fundamentalen Hinsicht ganz belanglos. 3. Die
verschiedene Beschaffenheit der von der Eizelle, Keimzelle, dem Follikelepithel
sowie den Geschlechtswegen abgeschiedenen Eihüllen. Dieselbe Keimzelle würde
sich in Eihüllen von anderen Permeabilitäts- und Kohärenzverhältnissen ganz
anders entwickeln. Arbeit wird immer nur gegen Widerstände geleistet, welche
daher zu den Integralbedingungen des Geschehens gehören. 4. Die Mannigfaltig-
keit der maternfötalen Wechselbeziehungen, welche von den primitivsten indezi-
dualen zu den komplexesten dezidualen, hämochorialen Verhältnissen alle erdenk-
lichen Komplikationen aufweisen und gleichfalls zu den Integralfaktoren des
Erwerbes zellenstaatlicher Konstitution gehören. 5. Die Abänderung postnataler
Stoffwechselverhältnisse in ihren Rückwirkungen auf die Ei-, Samen- und Frucht-
bildung; die durch Veränderung der Lebenslage hervorgerufene Abänderung der
Lebensweise, 'des gesamten Stoff- und Energiewechsels wie jenes aller Einzel-
zellen. 6. Varianten der Teilungen der Ur- und Vorgeschlechtszellen, wie solche
umstandsbedingt auch bei anderen Zellarten vorkommen, asymmetrische, hetero-
polare, heterometrische Mitosen, bei denen ungleiche Chromosomenteilungen und
-austeilungen die allerletzte Rolle spielen. Der Granularapparat, des Protoplasmas
(regionäre Verschiedenheiten), das Zentriol bietet reiche Gelegenheit zu ungleicher
Austeilung von unabsehbarer keimesgeschichtlicher Auswirkung dar. 7. Die
Amphimixis, die wahllose Befruchtung darf in ihrer Bedeutung für die Variabilität
gleichfalls nicht überschätzt werden, denn die Befruchtung ist in erster Linie
ein sexueller Differentialausgleich, eine verjüngende, lebengrettende Vereinigung
diametral verschieden gebauter und befähigter zusammenwirkender, auf- und mit-
einander reagierender Geschlechtszellen zu einer Gesamtkonstitution, eine gegen-
seitige Reaktions-Konstitutionsprobe, bei welcher keines der zusammenwirkenden
Teile unterschätzt werden darf. Jede Lokalisation widerspricht den konstitu-
tionellen Gesichtspunkten.
Im siebten Referat veranschaulicht der Gynäkologe die klinischen und patho-
logisch-anatomischen Befunde bei stoffwechselgestörten Schwangeren, die kern-
gesund, in bestem Wohlbefinden bestkonstituierten Samen aufgenommen hatten.
Diese (zumeist Erstgeschwängerte) sind Töchter vollkommen gesunder Eltern,
Schwestern vollwertiger Geschwister. In der ganzen Aszendenz bestanden keinerlei
endogene Leiden. Es werden die Quellungseffekte und Stoffwechselstörungen an
den verschiedenen Organen und Zellarten, die Wirkungen der Kolloidödeme, der
Kapillarschädigungen, der Überreizung der Plasmadrüsen insbesondere der Neben-
nieren, Leber, Hypophyse und Schilddrüse, die Folgen hämorrhagischer und anämi-
scher Infarzierungen, der diffusen Dekomposition lebenswichtiger Organe erörtert;
kurzum das nach Intensität, Kombination und zeitlichem Eintritte stets wechselnde
Krankbeitsbild einer urämischen, cholämischen, diabetischen, azidotischen, Entero-
intoxikation, der Folgen der Inanition, der Autointoxikation durch Zerfallsprodukte
der Leber, Niere, Nebennieren, Mamma, Hypophyse und Plazenta, des (sehirnes
und Herzmuskels, die schwere Kachexie. Jede dieser vergifteten Schwangeren
oder Wöchnerinnen ist ein Unikum. Die Eklampsie ist nur die alarmierendste,
aber nicht gefährlichste Abart oder Komponente. Nach der Schilderung dieses
Milieus menschlicher Entwicklung werden klassische Fälle missbildeter Keimblasen
und Fruchtsäcke, Embryonen und Föten aller Entwicklungsstufen vorgeführt, die
übereinstimmenden Sektionsbefunde bei Mutter und Kind erörtert.
Das achte Referat ist ein Sammelreferat der Pädiater, Internisten, Gynäko-
logen, Chirurgen, Psychiater-Neurologen, Ophthalmologen, Otiater, Dermatologen
364 Alfred Greil. [10
und Dentisten über die Komponenten und Auswirkungen der nicht lokalisierbaren
Grund- und Allgemeinleiden, der Konstitutionsstörungen und krankhaften Zustände,
der Erschöpfungszustände, der abnormen Mehr- und Minderleistungen, der Dys-
plasien und Dysfanktionen an den verschiedenen Organen, eine Analyse des gestörten,
stets die Gesamtheit betreffenden Consensus partium. Alle diese Kranken und
Krankhaften haben ein keimendes Leben unter abnormem Bedingungswechsel, in
krankhaften Lebenslagen durchgemacht. In den meisten Fällen ist nicht einmal
der postnatale Lebensgang.zu überblicken, geschweigedenn das pränatale Geschehen,
dessen Auswirkungen durch postnatale irreversible Zustandsänderungen kompliziert
werden können. Die Kliniker haben in ibrem Consensus partium die immense
Variabilität des Kulturmenschen — ganz analog dem Vorgehen der Chemiker,
Protistenforscher, Zoologen und Botaniker bei der provisorischen, orientierenden,
deskriptiven Einordnung der Elemente und Verbindungen, der primitiven Lebe-
wesen am Divergenzpunkte des Tier- und Pflanzenreiches, sowie der Mannig-
faltigkeit der letzteren — zunächst nach pathologischen Konstitutionstypen und
-krankheiten geordnet, wobei viele Fälle solcher Schematisierung widerstrebten.
Das Ignoramus bezieht sich auf die pränatale Entstehung der abnormen Konsti-
tution, nicht streng lokalisierbarer Grundleiden und krankhafter Zustände.
Das neunte Referat bringt die Theorie der Entstehung der Schwangerschafts-
störungen, des pathologischen konstitutionellen Zusammenwirkens zwischen Matter
und Keimling, und der genetischen Systematik der Konstitutionsstörungen des
Kindes. Der Naturforscher im Arzte hat das Wort. Unter Hinweis auf das
dritte Referat wird eine progame oder amphimiktische Entstehung der Schwanger-
schaftsstörungen bei negativer Familienanamnese abgelehnt, Vollwertigkeit der
Geschlechtszellen postuliert. Es wird die herrschende Anschauung, dass die
Menstruation den Zweck haba, „Empfangsvorbereitungen“ für den Keimling zu
treffen, dass die Einbettung in eine brünstige, hochgeschwollene, enorm hyper-
ämische, von Kali, Arsen, Jod, Eisen, Phosphor, Glykogen, Gliykoproteiden, Edelfetten,
Neutralfetten, Eiweiss geradezu strotzende Schleimhaut artkemäss sei, widerlegt
und darauf hingewiesen, dass bei keinem Säuger, keinem Menschenaffen solche
Naturwidrigkeit möglich sei. Nach artgemässer postmensueller Befruchtung hat
die Keimblase eine frisch regenerierte, im Ruhestoffwechsel befindliche Intervall-
schleimhaut durch ihre hoben Ansprüche exbaustiv zu destruieren. Dieser tief-
greifende Wechsel der Lebenslage bewirkt die Wucherung und gewebliche reaktive
Differenzierung der indifferenten kubischen einschichtigen Epithels der Keimblase
(des Trophoblast), die Züchtung der Plazenta — einem Dungeffekte vergleichbar.
Diese Keimblasenwand scheidet wie ein Plasmadrüsenfollikel ins Innere ein zäh-
flüssiges, hochwertiges Nährlösungsgemisch (das Trophoplasma) ab. Alle nicht
vaskularisierten, soliden und verzweigten Teile des reaktiv wucheruden Gerüst-
und Zotten-, Busch- und Wurzelwerkes, das Langhans- wie das Plasmodiuingespinst
scheiden aber dasselbe zähflüssige Lösungsgemisch einschleichend stetig zunehmend
ins mütterliche Gewebe, die mütterliche Blutbahn ab. Dadurch wird die deziduale
Wuchermast, die Hypertrophie und Quellung der Geschlechtswege und eine all-
mählich um sich greifende, den gesamten hämopoetischen Apparat erfassende
Umsatzsteigerung bewirkt, so dass die werdende Mutter den wachsenden An-
sprüchen des Keimlinges geradezu zuvorkommt. Wenn aber nun diese gesamte
Produktion der Keimblasenwand aus einem Zustande absoluter Indifferenz durch
den Wechsel der Lebenslage hervorgerufen wird, dann muss auch die Intensität,
Geschwindigkeit und Art der so entfachten Reaktıon ganz vom Zustande des
Endometriums, vom Nutzstoffangebote abhängig sein. — Eine quantitativ und quali-
LU Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 365
tativ überwertige Trophoplasmaeinmischung kann der mütterliche Fermentapparat,
der retıkuloendotheliale Apparat nicht artgemäss bewältigen. Nach anfänglicher
übermässixer Aktivierung kommt es zu Störungen des Zellstoffwechsele, vor-
nehmlich durch abnorme Permeabilitätssteigerungen der Zellmembranen. So wird
aus dem Agens ein Virus, ein Antigen, aus der physiologischen Gewächsträgerin
eine Gewächskranke, wenn die Einbettung in eine brünstige Schleimhaut erfolgt
oder allzureichliche Samenresorption, za häufige geschlechtliche Erregungen,
irrationelle Lebensweise das maternfötale Zusammenwirken abändern. — Es ist
nun die Aufgabe des Entwicklungsdynamikers, die Auswirkungen der Gestations-
toxonosen beim Wiedererwerbe der gesamten zellenstaatlichen Konstitution bei
der epigenetischen, umstandsbedingten Entstehung, der Züchtung aller zellen-
staatlichen Formationen, Funktionen und Korrelationen durch synthetische De-
duktion zu konstruieren und so die genetische Systematik der Konstitutions-
anomalienkrankheiten und krankhaften Zustände zu begründen, die gesamten
Wechselwirkungen der Kultur- und Keimesentwicklung, ab-, aus- und entartung
aufzudecken. Kein Organsystem reagiert auf dieses artwidrige Milieu so intensiv
und nachhaltig, wie die mütterlichen und die entstehenden fötalen Keimstätten.
Daraus ergeben sich die Komplikationen bei folgenden Schwangerschaften für
Mutter und Kind, andererseits Komplikationen der Schwangerschaften der Töchter
und Schwiegertöchter. Die väterlichen Zellorganellen der Keimblasenwand haben
auf das Wachstum und die Produktion des Trophoblast und daher auf den mütter-
lichen Organismus einen unabsehbaren Einfluss. In dıesem Sinne ist jede Schwanger-
schaft eine Konstitutionsprobe der Mutter wie der Spermie, welche durch art-
widrige Fortpflanzungsverhältnisse kompliziert werden kann oder diese kompliziert.
Das ist an der vollzogenen Tatsache nicht mehr zu entscheiden. Nur in diesem
Sinne kommt der Amphimixis bei der Entstehung komplizierter Vergiftungen
gewisse Bedeutung zu. i
Das letzte Referat hält der Hygieniker. Die Verhütung ‘der Schwanger-
schaftsstörungen und der dadurch bedingten endogenen Leiden und krankbaften
Zustände bei Mutter und Kind ist die vornehmste Pflicht des Arztes. Alle Vor-
kehrungen zur Bekämpfung der Infektionen und Intoxikationen sind so lange
halbe Arbeit, als nur der exogene Reaktionsfaktor und nicht auch die in vielen
Fällen zweifellos intrauterin erworbene Disposition, die Anfälligkeit, die Veran-
lagung zu besonderer Schwere des Verlaufes verhütet wird. Die kombinierte
Schwangeren-, Keimes- und Keimlingsfürsorge hat mit einer systematischen Auf.
klärung der Kulturmenschheit über die normalen und artwidrigen Fortpflanzungs-
bedingungen, die Gefahren der durch unsere Überzivilisation möglich gewordenen,
in etwa 20°/o der Fälle erfolgende Durchbrechung der fundamentalen zeitlichen
Folge: Brunstende — Ovulation — Befruchtung — Entwicklungsbeginn aufmerk-
sam zu machen.
Wenn weitausgebreitete Völker der Menarche zuvorkommen, die sie einem
Kiodsmord gleich erachten, wenn die Hebräer die Kohabitation zwischen dem
ersten und 12. Tage der Zyklik verbieten, ganze Völker aus rituellen Gründen
vegetarisch leben, dann haben auch die Ärzte das Recht, auf Grund biolo-
gischer Erkenntnisse die Konzeption zwischen dem 12. und 24. Tage nach
Beginn der Menstruation zu verbieten. Die Niddahvorschriften bewegen sich hart’
an der Gefahrenzone der Überrumpelung eines noch nicht vaskularisierten Keimes
durch die erste mensuelle Welle der Junggeschwängerten und zweifellos haben
die Juden gewisse konstitutionelle Eigentümlichkeiten diesem späten Konzeptions-
terınine zu danken. Ferner ist der bei Tieren im Freileben ausgeschlossene post-
366 Alfred Greil. [12
konzeptionelle Kongressus namentlich in den beiden ersten Monaten einzuschränken
und fir eine rationelle Lebensweise zu sorgen, damit die Entstehung des Rem.
linges, welche ganz im Sinne der Lamarck-Darwinschen Erkenntnisse in
allen Belangen, in jedem einzelnen Detail wie beim Gesamterwerbe der Konstitution
eine Iteaktionenfolge auf einen unaufhörlichen äusseren und inneren Bedingungs-
wechsel ist, in einem artgemässen Milieu erfolge. Da sich aber unzählige Töchter
und Söhne latent oder offenkundig stoffwechselgestörter oder vergifteter Mütter
paaren und bei der Schwangerschaft wie bei keiner anderen Gelegenheit solche
Konstitutionsanomalien geoffenbart werden, so muss eine obligatorische, während
der Zessionen vorzunehmende Schwangerenuntersuchung eingeführt werden, bei
welcher alle Erfahrungen, welche die Gynäkologen bei der Beobachtung und Be-
handlung der Gestafionstoxonosen gemacht haben, propbylaktisch zu verwerten
sind. Diese Untersuchungsstationen können mit Ehe-, Mutter- und Berufsberatungs-
stellen, Jugendfürsorge und Geschlechtskrankenberatungsstellen mit Untersuchungs-
stationen für Konstitutions- und Gewächskranke zusammengelegt werden, denn
es muss darnach gestrebt werden, schon im prägraviden Zustande das Konstitu-
tionsblatt aufnehmen zu können. So schliesst also der Hygieniker mit dem
bedeutsamen: Ceterum autem censeo, gravidam esse observandam.
Das Schlusswort hat der Philosoph — aber nicht einer unserer
Kathederphilosophen, die ohne alle naturwissenschaftliche Vorbildung
über das Verhältnis von Gott und Welt, Seele und Körper langatmige,
inhaltsleere Vorlesungen abhalten, sondern ein exaktkausal denkender
Naturphilosoph vom Schlage eines Helmholtz, Haeckel oder
Wilhelm Ostwald. Ist die Philosophie als Wissenschaft aller
inneren Erfahrung, als Inbegriff aller Erkenntnis, als kritische induktive
Metaphysik als System der Wissenschaften, als Ideenlehre die Königin
der Wissenschaften, indem sie die Einzelwissenschaften zusammen-
fasst, verknüpft, ergänzt, kontrolliert, zu einem geschlossenen, konsti-
tutionellen Ganzen vereinigt, ihre Voraussetzungen, Methodik und
Ergebnisse prüft, neue Entwicklungsrichtungen weist, Lücken auf-
deckt und vorausahnend ausfüllt, den Widerstreit der Meinungen ent-
scheidet — dann ist der die letzten Ziele absteckende, die letzten
Abschlüsse und Verknüpfungen leistende Arzt als Helfer und Förderer
ethisch sozialen Strebens, als Ratgeber zu natur-, art-, vernunit-, pflicht-
und berufsmässiger Lebensführung und Fortpflanzung, durch Regelung
des keimenden Lebens der König der Philosophen. Das letzte Ziel
aller Philosophie, aller Wissenschaft ist die Abwendung von Schädi-
gungen, die Herbeiführung erwünschter Verhältnisse, die vorteilhafte
Beherrschung der Natur. Aller Erkenntnisdrang wurzelt im Selbst-
erhaltungstriebe, im Streben sich zu behaupten, die Natur auszunützen,
Kommendes vorauszusehen, Unheil abzuwehren. Dieses Ziel kann
nur im Vertrauen auf die physikochemische Gesetzmässigkeit alles
Naturgeschehens erreicht werden, welches nur eine wahrhafte, von
allem scholastischen Dogmatismus befreite, auf breiter Erfahrungs-
basis fussende Metaphysik zu gewähren vermag. Wie oft ist das,
13] Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 367
was ursprünglich metaphysischen Ursprunges war, auf Grund induktiv
gewonnener Analogien Erschlossene und Vorausgeahnte, Vorausgesetzte,
Vermutete und Vorweggenommene später als Hypothese, Theorie durch
die hierdurch begründete Einzelwissenschaft bestätigt worden! Wie
ın der Atomdynamik so entzieht sich auch in der Dynamik der
pathologischen Keimesentwicklung so Vieles dem unmittelbaren Nach-
weise, kann nur durch Analogieschlüsse erkannt werden. Hauptsache
ist, dass sie zu praktisch verwertbaren Ergebnissen führen. — Der
Philosoph hat also die Fäden der Einzelwissenschaften dort aufzugreifen
und weiterzuspinnen, wo sie diese fallen lassen müssen. Dem konstitu-
tionellen Werdegange der gesamten Wissenschaft, dieses zentralen
Ausschnittes unserer gesamten Kulturdifferenzierung und sozialen
Organisation entsprechend können sich die Einzelwissenschaften nicht
vereinheitlichen; nach den auch unsere ındividuelle Organisation
beherrschenden Prinzipien sind sie als unselbständige, untergeordnete
Teile eines geschlossenen, einheitlich gebauten und primitiv einheitlich
arbeitenden Ganzen entstanden, verlieren nur zu leicht den Überblick
über die grossen möglichen Aufgaben und bedürfen stets philosophi-
scher Leitung. Die Metaphysik hat innerhalb der Einzelwissenschaften
allgemeine philosophische Fragen zur Geltung zu bringen, die Wechsel-
wirkungen der Einzelwissenschaften zu fördern und aus den konkreten
Darstellungen den abstrakt philosophischen Zuwachs einzuordnen,
damit wir zu einer einheitlichen, allumfassenden, widerspruchslosen,
praktisch verwertbaren Weltanschauung gelangen, welche auch auf
den gesunden und kranken Menschen, diese komplexesten Spezial-
fälle des Werdeganges Anwendung finden muss. Genau so wie die
Philosophie zu sämtlichen Einzelwissenschaften, verhält sich die
Konstitutionslehre zu sämtlichen medizinischen Sondergebieten. Alle
Konstitutionsforschung ist Korrelationsforschung, denn alles Isolierte,
Beziehungslose widerstrebt unserem Erkenntnisdrange. Das Zusammen-
wirken der Teile, die Abhängigkeitsbeziehungen systematisch im Natur-
ganzen bis zu den letzten dynamischen Einheiten aufzudecken, ist
das Ziel aller Philosophie und implizite auch der Konstitutionsforschung.
Der Beitrag, welchen der Arzt bestätigend und erweiternd leistet,
vollendet das Gesamtsystem. Welch’ gewaltige, sich immer mehr ver-
zweigende Kette beginnt mit dem normalen oder krankhaften Zu-
sammenwirken zwischen der Urniere und ihrem Deckepithel, woselbst
jegliche Analyse der Dynamik des keimenden Lebens ihren Ausgang
zu nehmen hat! Diese einheitliche Anwendung der Alles beherrschen-
den Prinzipien der Energetik, Dynamik und Reaktionskinetik auf das
Zusammenwirken gleichartiger und ungleichartiger Teile in primitivsten
wie komplexesten Ennergie- und Reaktionssystemen ist die Grundlage
368 Alfred Greil, Naturwissenschaftliche Grundlagen usw. [14
und der Erfolg naturphilosophischer Schulung. Zwei Ärzte, Robert
Julius Mayer und Hermann von Helmholtz haben den Natur-
wissenschaften das Erhaltungsgesetz geschenkt. Die systematische
Anwendung des zweiten Energiesatzes gestattet ungeahnte Verein-
heitlichung einer unabsehbaren Mannigfaltigkeit von Vorgängen der
unbelebten und belebten Natur, beim entstehenden gesunden und
kranken Menschen. Dies sind die letzten Verknüpfungen. Über-
wältigt von solcher Vereinheitlichung erinnern wir uns der Worte,
welche der grösste Naturphilosoph, W. Goethe zu Eckermann
sprach: „Inder Natur ist Alles viel einfacher, als wir es denken können,
aber verschränkter, als zu begreifen ist. Die Welt könnte nicht
bestehen, wenn sie nicht so einfach wäre.“ Fügt sich die klinische
Konstitutionsforschung in den Rahmen der allgemeinen, naturphilo-
sophischen Konstitutionsforschung, welche sämtliche Einzelwissen-
schaften umfasst und prüft, dann ist auch das höchste Ziel alles
philosophischen Strebens: die Sicherung der artgemässen Fortpflanzung
des Menschens, die Verhütung der endogenen Leiden und krankhaften
Zustände, der Einblick in den keimesgeschichtlichen Wiedererwerb
unserer geistigen Funktionen und die Verhütung endogener keimes-
geschichtlicher Geistesstörungen zu erreichen. Solche Bestätigung der
Allgemeingültigkeit einiger weniger, allumfassender Naturgesetze am
komplexesten Reaktions- und Energiesysteme des Weltalls begründet
und festigt unsere wahrhaft monistische Weltanschauung und ist das
Geheimnis aller ärztlichen Erfolge, die Ursache der inneren Freudig-
keit und vollen Zuversicht des Arztes.
Vgl.: Keimesfürsorge, Entstebung und Verhütung der Schwangerschaftsstörungen.
Leipzig. C. Kabitzsch 1923.
Entwicklungsdynamische Grundlagen des Konstitutions- und Vererbungspathologie.
Veıhandl. d. 33. Anatom.-Vers. Halle. 1924.
Dynamik des maternfötalen Reaktionssystemes. Verhandl. d. 17. Gynäkologen-
tagung. Arch. f. Gynäkol. Bd. 117. 1922.
Neue Aufgaben und Ziele des anatomischen Unterrichtes. Anatom. Anz. Bd. 57. 1924.
Ab- und Entartung der Konstitution durch Gestationstoxonosen. Zeitschr. f. Kon-
stitutionslehre. Bd. 8.
Entstehung angeborener Erkrankungen und krankhafter Zustände des Sehorgans.
Ebenda Bd. 9.
Entstehung krankhafter Zwittrigk.it und anderer Störungen der geschlechtlichen
Beziehungen. Ebenda Bd. 10.
Entwicklungsdynamische Theorie der Onkogenie. Zeitschr. f. Krebsforschung.
Bd. 20.
Aus der Universitäts-Frauenklinik zu Breslau.
(Direktor: Prof. Dr. L. Fraenkel.)
Die Entstehungsursachen und die eugenetische
Bedeutung der Mehrlingsgeburt.
Zugleich ein kasuistisches Sammelreferat über
Fünflingsgeburten.
Von e
Dr. med. Fritz Kiffner, Breslau.
Es soll die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, vor allem
die Ursachen der Entstehung von Mehrlingsschwangerschaften über-
haupt —- in allen ihren Konsequenzen — und ihre Wichtigkeit
letzten Endes auch in sozialer Hinsicht zu erwägen; daneben werden
sich auch einige klinisch interessante Dinge herausstellen. -— Um
sie vorweg zu nehmen:
]. Welche Beobachtungen sind hinsichtlich der Geburtspausen
vemacht worden
Uthmöller berichtet von einem Falle von Drillingsgeburt, bei der
eine (seburtspause von vier Tagen acht Stunden eintrat, was um so erstaun-
licher war, als bei Drillingen die bis dahin beobachtete längste Pause ein halber
Tag war. Bei Zwillingen freilich beobachtete Karson eine Pause von 44 Tagen!
Uthmöllers Behauptung, dass sein Fall der :erste nit derart langer Pause
sei, muss jedoch revidiert werden; denn Nijhoff und Blecourt zitieren
in ihrer Arbeit einen Fall von Fünflingsgeburt im. August 1873, bei der
Dr. Michel (v. Chaumont) persönlich anwesend war, wo
das erste Kind Montag früh
zwete ... Donnerstag abend
dritte „ Sonntag früh
vierte ~ Montag abend
fünfte .. nach sechs Wochen
geboren wurde.
Das fünfte Kind war im Uterus gestorben und zwar, nach den Veränderungen
an der Haut zu schliessen. wahrscheinlich zur Zeit der ersten Geburten.
370 Fritz Kiffner. E
Diese langen Geburtspausen sind beachtlich für die Frage der
Superfötation und Superfökundation, die uns auch noch zu be-
schäftigen haben wird. Zuvor aber noch einiges klinisch Interessante:
ll. Welche Frauen disponieren zu Mehrlingsgeburten ?
Nach Strassmanns Erfahrungen und der Beckmann-
schen Arbeit sind es Frauen mit doppelten Uterusformen.
Ill. Wie steht es ferner mit den Gefahren während und nach der
Geburt von Mehrlingen ?
Strassmann nennt den Abort die häufigste Gefalır bei Mehr-
lingen, da ein Kindesteil tiefer drängt und die Geburt in dem über-
füllten Fruchthalter anregt; sodann Blutungen post partum aus
der Plazenta; ferner durch Grösse und Expansionsbedürfnis des
Mutterkuchens bedingte Placenta praevia-Bildung und die Eklampsie-
gefahr durch Überlastung und Belastung des Körpers; sie soll vier-
mal stärker als bei Einlingsmüttern sein, und die Sterblichkeit da-
durch siebenmal grösser. Schliesslich ist noch erwähnenswert, dass
bereits überstandene Mehrlingsgeburt zu Placenta praevia disponiert.
Nach Jaschke sind „am harmlosesten bei der Mehrlings-
seburt die Anomalien von seiten des Geburtsweges“. Bedeut-
samer schon wie häufiger zu beobachten sind Störungen von seiten
der Geburtskräfte. Am bedeutsamsten sind -- das liegt in der
Natur der Sache -- Störungen im Geburtsverlaufe, die vom Geburts-
objekt ausgehen. Der (Geburtsmechanismus ist bei Mehrlingen
einfach, da die Früchte ja in der Regel kleiner sind als der Einling,
so dass selbst Querlagen und andere Lageanomalien nicht so ver-
hängnisvoll sind wie beim voll ausgetragenen Kinde ja so oft.
IV. Beachtung verdient weiterhin die Frage der Lebensfähigkeit
und -erhaltung der Mehrlinge.
Die ausgezeichnete Arbeit von Nijhoff zitiert 27 Fälle, unter
denen ein Kind (Fall Ravara-Pereira da Cruz) von den Fünflingen
50 Tage lebte und zufällig einem intermittierenden Fieber erlag.
Von einem auderen Fünflingsfall (Gartshore) heisst es: „alle lebend
und getauft und dem Anschein nach lebensfähig“.
Ja sogar bei den Sechslingen einer Negerfrau in Christiansberg
macht der Baseler Missionsarzt Dr. Vortisch, der ganz unmittelbar
nach der Geburt erschien, die Bemerkung: „die Säuglinge starben
mangels Pflege einer nach dem anderen in der nächsten Zeit“, woraus
also geschlossen werden kann, dass die Kinder lebensfähig er-
schienen.
Bei allen anderen Fällen freilich kamen die Kinder alle oder
zum Teil tot oder, wenn sie lebten, dann nur für Stunden oder
höchstens 14 Tage (ein Fall).
3] Mehrlingsgeburt usw. 371
Liest man die Literatur über Mehrlingsgeburten, so wird eigent-
lich immer nur der Fall als solcher registriert und in dem oder
jenem Punkte als besonders interessant befunden, niemals aber findet
man auch nur eine Andeutung von Bemühung um die Lebenserhal-
tung dieser Kinder.
Stolte sieht unter den familiär frühzeitig sterbenden Kindern
hauptsächlich drei Typen vertreten: einmal Lueskinder, wo eine
sachgemässe antisyphilitische Behandlung der Eltern die beste
Therapie bedeutet; dann die Kinder mit Neigung zu Infektionskrank-
heiten, bei denen eine rationelle Ernährungsweise eine wirksamere
Prophylaxe darstellt als der alleinige Versuch, die Infektion zu
verhindern; schliesslich noch die Kinder, deren frühzeitiges Sterben
eine Degenerationsfolge ist, so dass jede Therapie machtlos ist.
Aber gerade diese Gruppe ist damit den Fünflingskindern so
verwandt. Ich meine, die letzte Ursache liegt da eben in den Genen,
die wir durch Sanierung des Phaenotyps kaum beeinflussen dürften.
Man kann wohl nur das eine sagen: wie hohes Lebensalter der
Eltern die beste Garantie für Langlebigkeit der Nachkommen ist,
so auch für die Lebens fähigkeit derselben überhaupt.
Nur mit Zurückhaltung möchte ich an die Möglichkeit des
Inzuchtschadens denken analog den neuesten Beobachtungen Prof.
Demolls an Mäusen — bei diesen erwies sich eine Arsentherapie
als helfend — mit Zurückhaltung deshalb, weil noch in keiner
Weise erforscht ist, in wieviel Fällen frühzeitigen Sterbens der
Kinder auch einwandfrei gleichzeitig Inzucht vorliegt.
Mit der Erwähnung der Sechslingsgeburt der Negerfrau er-
scheint erneut die Frage der Superfoetatio bzw. = Fökundatio,
auf die wir bereits bei der Besprechung der Geburtspausen gestossen
sind; damit also die Frage nach der Entstehung der Mehrlings-
geburten überhaupt. Jetzt freilich in einer anderen Betrachtungs-
weise. Nämlich: wenn die Kinder länger gelebt hätten, könnte man
aus evtl. sich zeigenden Merkmalen von Rassendifferenz — die
Hautfarbe freilich würde uns zunächst im Stiche lassen, da auch
Negerkinder bei-und noch kurze Zeit nach der Geburt rosig aussehen
und die Pigmentierung erst später kommt — ersehen, ob die Bei-
wohnung auch noch eines anders-rassigen z. B. weissen Vaters un-
mittelbar vor oder nach der des Negervaters stattgefunden hat.
Damit möchte ich in die Erörterung dieser Frage eintreten, die
namentlich Nürnberger einer näheren Untersuchung unterzog.
Er führt aus:
„Die Befruchtungsvorgänge beim gleichzeitigen Reifen und Platzen mehrerer
Foltikel gestalten sich relativ einfach und durchsichtig: Befruchtung hier gleich-
372 Fritz Kiffoer. [4
zeitig Oder kurz nacheinander. Trotzdem treten speziell auch bei zweieiigen
Zwillingen zuweilen Umstände ein, die eine gleichzeitige oder kurz nacheinander
erfolgte Befruchtung der beiden Eier unmöglich erscheinen lassen.
Diese Momente sind:
1. Häufige auffallende Differenz in den Grössenverhältnissen der beiden
Früchte;
2. Bisweilen grosse Differenz ihrer Geburtstermine.
In einer historischen Übersicht zeigt sich, dass schon von H i ppokrates
Zeiten her Interesse und Aufmerksamkeit 'auf unsere Frage gelenkt waren. Dieser
grosse Meister erörtert sie in einer Schrift „peri epikyäseos“. Plinius erwähnt
Herkules und seinen Bruder Iphikles in diesem Zusammenhange; ferner jene
Frau, deren Zwillinge teils dem Manne, teils dem Ehebrecher ähnlich waren, und
die Magd, die von einer doppelten Beiwohnung an einem Tage ein ihrem Herrn
und ein dessen Verwalter ähnliches Kind gebar, sowie eine Frau, die, nachdem
sie ein Siebenmonatskind geboren hatte, in einem der folgenden Monate mit
Zwillingen niederkam. Plinius und Hippokrates nennen also Super-
foetatio die Befruchtung zweier Eier in Utero. Diese kann entweder gleichzeitig
erfolgen, wie bei der erwähnten Magd, oder einige Monate auseinander liegen.
wie im letzten Beispiel. Sie machen also ebenso wie auch neuere Gynäkologen
keinen Unterschied hinsichtlich der Länge der Zeit, die zwischen der ersten
Empfängnis und dem zweiten fruchtbaren Beischlafe, der die Superfoetation
bewirkte, verflossen ist. Erst Gruner tat ‘dies (in der vierten Ausgabe von
Metzgers ‚System der gerichtlichen Medizin“ $& 500).
Superfoekundation ist mit Sicherheit durch Erfahrungen aus der Tierwelt
erwiesen, z. B. bei Pferden, Hunden, Katzen, Kaninchen und ‘Schafen. Analoges
wäre durchaus möglich beim menschlichen Weibe. Die Geburt rassedifferenter
Zwillinge imponiert da eben besonders als stützendes Argument dieser Möglich-
keit, namentlich Berichte aus dem ehemals klassischen Lande der Mischehen
differenter Rassen: Amerika. Doch sind diese Berichte alle mit Vorsicht zu
verwerten, da zuwenig genaue Ängaben gemacht werden, und sich viele Unklar-
heiten darin finden.
Anders steht es mit der Frage der Superfoetation: oft weitgehende
Differgenz in der somatischen Differenzierung der Zwillinge und die zeitliche
Variationsbreite ihrer Ausstossung wurden als Beweis dafür angesehen, aber
durch Schatzs Entdeckung des dritten Kreislaufes besonders widerlegt.
Selbst Zwischenräume von Tagen und — freilich extrem selten — Monaten, lassen
sich dadurch erklären, dass hei Tier und Mensch Früchte zugrundegehen und
ausgestossen werden können. ohne «dass fie Weiterentwicklung Ader anderen in
utero eine Störung erfährt.
Dazu kommen sehr ernste physiologische Bedenken: 1. Verschmelzen Re-
flexa und Vera um die 12. Woche und bringen dadurch das cavum uteri zum
Verschwinden, so dass Ei und Spermatozoen inicht mehr zusammen können.
2. sistiert ja die Ovulation während der Gravidität.'
Ich selbst bin geneigt, selbst eine Superfoetation für möglich
zu halten, nämlich in dem Falle, dass bei der Wanderung der reifen
Kier eins oder mehrere aus irgendeinem Grunde eine Verzögerung
ihres „descensus“ erfahren haben und erst im cavum uteri erscheinen,
selbst wenn sehon eine Nidation eines anderen befruchteten Eies
5] Mehrlingsgeburt usw. 373
stattgefunden hat; denn eine erneute Ovulation ist ja dann gar
nicht nötig und selbst die bis jetzt als am längsten beobachtete
Geburtspause von 44 Tagen würde meine Annahme nicht wider-
legen, da in diesem Zeitintervalle noch hinreichend Platz zwischen
der Decidua reflexa und Vera war, um die Konzeption zu ermöglichen.
Bei der eben gemachten Betrachtung gingen wir von einer
Voraussetzung aus: dem gleichzeitigen Reifen und Platzen mehrerer
eineiiger Follikel. Ist das die einzige Möglichkeit, wie Mehrlinge
entstehen können? Nein, es liegen noch folgende Möglichkeiten der
Entstehung vor:
1. Reifen und Platzen eines oder mehrerer mehreiiger Follikel.
2. Trennung bzw. Auseinanderfallen der befruchteten Eizelle
im 2—6 (7) = Zellenstadium.
3. Ausbildung mehrerer Fruchthöfe aus einer Keimblase.
4. Befruchtung eines mehrkernigen Keimbläschens.
5. Befruchtung eines einkernigen Keimbläschens von mehreren
Spermatozoen.
Unterziehen wir diese sechs Möglichkeiten nunmehr einer
genaueren Betrachtung: zunächst das Reifen und gleichzeitige Platzen
mehrerer eineiiger bzw. eines oder mehrerer mehreiiger Follikel.
Sind beim Menschen überhaupt mehreiige Follikel gefunden worden’?
Hellin bearbeitete ganz speziell diese Frage und kam
auf Grund eingehender vergleichend-anat:mischer uni histologischer
Untersuchungen zusammenfassend zu folgendem Ergebnis: „Im Bau
ddes Ovars als Ganzem liegt die Ursache der mehrfachen Schwanger-
schaft und die mehreüge mehrfache Schwangerschaft der Uniparen
ist eine atavistische Erscheinung.“
Das bisher Gesagte betrifft nur die mehreiigen mehrfachen
Schwangerschaften. Gehen wir jetzt an eine andere Möglichkeit
der Entstehung der mehrfachen Schwaneersehaft, nämlieh die aus
einem Bi.
Das Haupteharakteristikum des eineiigen Mehrlings ist, «dass er immer
nur ein Chorium und eine Plazenta hat; das gemeinsame Chorium ist also primär
angelegt, nicht etwa durch eine Atrophie der zwischen den beiden Amnien gce-
legenen Chorien entstanden! Strassmann teilt die monochoriaten Zwillinge
noch in diamniote und monamniote. letztere wieder in unifuniculare und bifuni-
eulare und nennt die beiden Letzteren zusammen ‚‚difötale“ Zwillingsbildungen.
Tritt eine Verschmelzung der beiden ein, so kommt es zunr Bigeminus monofötalis.
Aber damit betreten wir das trebiet der Missbildungen, die hier nicht zur Bede
stehen. Hingedeutet sei nur noch auf die Embryombildung, die letzten Endes
mit in diese Reihe gehört, da das Embryom „sieh aus der Entwicklung einer
gesonderten oder sich verspätet teilenden Blastomere bidet. Uns interessiert
374 Fritz Kiffper. [6
vor allem die Frage: zu welcher Zeit begann die Teilung im Ei ın mehrere
Teile — 2--4 oder mehr —? Schon Aristoteles kannte die Entstehung
von zwei Embryonen aus dem Hühnerei mit zwei Dottern. Dareste, Mor.
ridia und Koch beobachteten Drillinge in einem Hühnerei, ja Condorelli
beschrieb sogar vier eindotterige Embryonen.
Ich halte es bei den dotterreichen Vogeleiern für durchaus
möglich, dass sich die 2—4 Embryonen durch direkten Zerfall
der Morula im 2-—4 Zellenstadium des animalen Poles bildeten.
Denn bei dem Dotterreichtum der Eier ist die Ernährung des Eies
schon von Anbeginn eine intensive, die wohl imstande ist, 2---4 Em-
bryonen auf einmal zu erhalten, während das menschliche Ei erst
durch seine Nidation und deren weiteres Umsichgreifen in den Genuss
einer solchen wirklichen, vollwertigen Ernährung, die dem Dotter
dort entspricht, kommt; also lange, nachdem die Furchung bereits
stattgefunden hat. Für Zwillinge wäre eine Teilung der Keimblase
im Furchungsstadium mit anschliessender gemeinsamer Nidıt:on noch
denkbar, 3—6 Teilungsprodukte indes müssten sich wohl doch so-
weit erschöpfen, dass sie Mühe hätten, durch ein genügend aggressives
Trophoblast die Plazentabildung vorzubereiten. Aber dann wären
es ja gar nicht mehr eineiige Mehrlinge im strengen Sinne des Wortes
selbst wenn die eben geschilderten Vorgänge der Nidation der
einzelnen Teilungsprodukte in utero in Analogie zu den sogenannten
„Schütteleiern“ doch möglich wären --, denn es müssten ja getrennte
C'horien und Plazenten entstehen!
Lie Analogie des menschlichen Eies mit den eben genannten
„Schütteleiern“ wäre doch wohl eine zu vage Hypothese -— das
Milieu, in dem sich die reifen Eier im lebenden mütterlichen
Organismus bewegen, ist ja ganz anders aufgebaut als das jener
hier, div noch dazu recht groben mechanischen Insulten ausgesetzt
werden ex sei «denn, dass unbekannte chemische Einflüsse die
gleichen Wirkungen herbeiführen können wie dort. Und schliesslich
gehören die Schütteleier als Bier von Reptilien und Amphibien
Tieren an, die eine ausserordentliche Regenerationsdentenz in sich
tragen; und diese Tendenz - von anderer Seite als „Totipotenz‘
bezeichnet - ist eben schon in der Keimzelle gelegen. Heiden-
haın äussert sich: „ein ausserordentlicher Kreis von Tatsachen
deutet mut aller Bestimmtheit darauf hin, dass jene Totipotenz
wenigstens in den niederen Formenkreisen ein charakter indelebilis der
kernhaltigen Plasmamasse ist“. Für das menschliche Ei dagegen lässt
auch diese Erklärungsmögliehkeit im Stiche, denn beim Menschen
bringt: es die von Driesceh sogenannte „ÖOmnipotenz“, d. h. die
Fähigkeit der einzelnen Zelle, überhaupt alle im Bereiche eines
7) Mehrlingsgeburt usw. 375
Keiimblattes liegenden entwicklungsgeschichtlichen Produktionen be-
sorgen zu können“, die Heidenhain als „einen Rest der ursprüng-
lichen Totipotenz‘ bezeichnet, höchstens zur Bildung von Geschwulst-
metastasenzellen (Heidenhain).
Von den von Döderlein, v. Franqué, Stoeckel,
v. Schuhmacher, Schwarz und anderen beobachteten mehr-
kernigen Eizellen, durch die man die Frage nach der Entstehung ein-
eiiger Mehrlinge um ein Bedeutendes gefördert zu sehen meinte,
möchte ich annehmen, dass sich vielmehr aus ihnen, falls sie be-
fruchtet sind, als grösster Prozentsatz die Embryome reķrutieren,
wenn überhaupt eine Furchung in diesem Falle angeregt wird. Dazu
würde Stoeckels Ansicht sehr gut passen, der zur Deutung eine
amitotische Zell- und Kernteilung annimmt, ein Vorgang, der ja
— etwas auffallend chaotisches in sich tragend — in der Geschwulst-
pathologie überhaupt eine so schwerwiegende Rolle spielt. Ich er
blicke, wenn dies zutrifft, — in Fortführung des oben bereits von
der Embryomentstehung Gesagten -- dann darin die letzte Ursache
zur Teratombildung überhaupt.
Mit der Annahme der Befruchtungsmöglichkeit zweikerniger
Eier als Grundlage eineiiger Zwillingsschwangerschaften kommen wir
also auch nicht weiter; für die eineiigen Mehrlinge, die uns be-
hesonders interessieren, erst recht nicht.
Denn „selbst angenommen, dass die Befruchtung eines solchen
Gebildes möglich sei, so müssten hier an zwei Stellen Richtungs-
körperchen ausgestossen werden, zwei Spermatozoen müssten ein-
dringen und zwei Furchungskugeln müssten sich bilden. Wenn dann
aber daraus zwei Keimblasen entstehen, dann müssen sich auch zwei
Chorien bilden, und diese müssten verschwinden, um das Bild der
eineiigen Zwillinge herzustellen“. Das mutet fast so an, als ob
uns die Natur nun immer den Gefallen tut, diese zwei Chorien
zu einem zu reduzieren, bloss damit es zum Bilde des eineiigen
Zwillings passt!
Eine andere Erklärungsmöglichkeit der Entstehung eineiiger
Zwillinge:
„Polyspermie“ (die Ursache läge also heim männlichen Teile).
Aber auch damit ist es nichts, denn wenn auch eine Entwicklung
durch mehrere Spermien angeregt wird (Boveri’s Versuche‘, so
wird doch niemals „ein über das Blastulastadium hinausgehender
normaler Organismus‘ daraus. Und auch beim zweikernigen Ei ist
selbst beim Seeigel die Befruchtung mit zwei Spermien nicht ge-
lungen; die Analogie für den Menschen ist also erst recht abzu-
lehnen, abgesehen von den bereits ausgeführten Erwägungen.
Archiv für Frauen kunde, Bä. E. H. A 25
376 Fritz Kiffner. [8
Zudem, wie kann man mit diesen Annahmen die Gleichgeschlecht-
lichkeit der eineiigen Mehrlinge erklären ? Dieses Kriterium scheint
mir gleichzeitig der Hauptwiderlegungsgrund der Ansichten
Höfers, Bromanns und Kästners zu sein, die Sobotta
noch durch andere schwerwiegende (Gegengründe widerlegt.
Höfer meint, dass durch die Befruchtung zweikerniger Eier durch
Spermien mit zwei Köpfen oder zwei Kernen in einem scheinbar
einheitlichen Kopfe eineiige Zwillinge entstehen könnten, Bromann
glaubt dasselbe von den zweischwänzigen Spermatozoen, Käst-
ner denkt sich „auf Grund seiner sehr eingehenden Betrachtungen
auf dem Gebiete der Erforschung der Doppelbildungen der Vögel“,
dass unter anderem auch aus einer Eizelle und ihrem abnorm
grossen und nicht abgetrennten ersten Richtungskörperchen Doppel-
biidungen sich entwickeln können. Nach Sobotta aber ist es in
keiner Weise erwiesen, dass aus zweikernigen Eiern überhaupt Doppel-
bildungen entstehen können.
Bleibt noch eine letzte Möglichkeit: die Ausbildung zweier
oder mehrerer Fruchthöfe auf einer Keimblase. Assheton sah
auf der sehr langgestreckten Keimblase eines Schafes zwei völlig
und weit voneinander getrennte areä embryonales, aus denen sich
also zwei Embryomen bilden müssen. Je nachdem: die beiden areä
embryonales dicht beieinander liegen, entstehen mehr oder weniger
verwachsene Doppelbildungen oder völlig isolierte Individuen. ,, Dies
sind in der Tat die ersten anatomischen Grundlagen für die Ent-
stehung eineiiger Zwillinge“.
Wir sind seitdem um einen ganz ausserordentlich wichtigen
Beitrag zur Klärung unserer Frage bereichert worden: durch die
Entdeckung von M. Fernandez, dass die sämtlichen 10 bis 12
Embryonen eines Wurfes bei einem südamerikanischen Gürteltiere
aus einem Ei entstehen und gleichgeschlechtlich sind. Dann unter-
suchten Newman und Patterson die nordamerikanische Form
Tatusia novemcinctum genauestens, welche ‚normalerweise und
absolut regelmässig 4 Junge gleichen Geschlechts wirft, die gemein-
same Chorien, aber getrennte Amnien haben und aus einer einzigen
Keimblase also auch einem einzigen befruchteten Ei entstehen, d. h.
in Wahrheit eineiige Vierlinge sind“.
Grassl sagt zwar, mit viel Berechtigung wie ich meine, mit
Analogie könne man alles beweisen, jedoch in vorliegendem Falle
sind die Vergleichsmomente, wie wir sehen werden, so überein-
stimmend, dass ein absoluter Analogieschluss durchaus am Platze ist.
Schon rein anatomisch zeigt der Uterus den gleichen Bau wie beim
Menschen: er ist einkammerig und auch die Adnexe liegen in der
9 Mehrlingsgebort usw. 377.
gleíchen Anordnung; nur die Tuben treten etwas distaler an den
Uterus heran. Sodann kommt immer nur ein grosses Corpus luteum
in den Ovarien eines graviden Tieres vor. In ihrer Zusammenfassung
äussern sich Newman und Patterson dahin, dass „die Keim-
blattinversion eine Bedingung darstelle, welche nicht erreicht werden
könnte durch die Vereinigung von mehreren Eiern, um eine einzige
Blase zu bilden.“ Dies sei „das stärkste Beweisstück für die spe-
zifische Polyembryonie, welches bisher zutage getreten ist‘ und nach
ihrer Meinung entscheidend ; ferner, dass das Vorkommen von teilweisen
oder rudimentären Embryonen ein Beweis gegen die Vorstellung sei,
dass die Mehrlinge sich von getrennten Eiern ableiten; denn es sei
schwer, sich vorzustellen, warum einige sich völlig entwickeln sollen,
während andere unter den gleichen Milieueinflüssen zurückbleiben.
Patterson behauptet weiter, dass die Vierlinge der Gürtel-
tiere durch eine „physiologische Isolation“ der 4 ersten Blastomeren
entstünden. Äusserlich wirklich bemerkbar freilich ist die Verteilung
der Embryonalanlage erst nach Auftreten der Keimblastinversion.
Aber ‚nach allem, was wir über den kausalen Zusammenhang der
Entwicklungsvorgänge wissen, müssen die Ursachen dazu viel früher
liegen“ (Sobotta). Derselbe Autor knüpft auch an den Begriff
„physiologische Isolation“ an und bezeichnet ihn als undenkbar.
Um zu verstehen warum, müssen wir erst einige Eigentümlichkeiten
kurz erörtern, die das Säugetierei in seiner Entwicklung gegenüber
(lem Ei der anderen Säugetiere hat. Bei der Maus z. B. sind die ersten
beiden Blastomeren von verschiedener Grösse; die grössere teilt
sich früher als die andere: ein 3-Zellen-Stadium entsteht, das aus
der Furchung anderer Wirbeltiereier nicht bekannt ist. Nun „holt
die aus der ersten Furchungsphase ungeteilt übriggebliebene grosse
Blastomere die Teilung nach, bevor die kleinen beiden Furchungs-
kugeln sich von neuem teilen und es kommt zum Vierzellenstadium“.
Aber auch da eine bei den Säugetieren (Maus, Kaninchen, Affe) fast
allenthalben in Erscheinung tretende Abweichung von den sonstigen,
Wirbeltiereiern: eine Zelle liegt in einer anderen Ebene als die
drei anderen. Danach ist nicht ersichtlich, warum es beim Menschen
anders sein sollte. |
Nun stellt Sobotta folgende Überlegung an: „geht man von
dem 4-Zellenstadium aus und nimmt man an, dass in diesem Stadium
eine Trennung des embryonalen und ausserembryonalen Materials
der späteren Keim- und Fruchtblase zustandekommt, derart, dass
das anfangs weit schwächere erstere aus der .isoliert - - besser: in
eigener Ebene -- liegenden einzelnen Blastomere hervorgeht, das
letztere, seinen Massenverhältnissen entsprechend aus den drei
25*
378 Fritz Kiffner. 10
anderen, so kann man sich das Zustandekoınmen des polyembryoni-
schen Verhaltens von Tatusia so denken, dass die „Embryonal“-
Blastomere (eben jene gesonderte) nach zweimaliger Teilung in vier
Blastomeren zerfällt und dann durch irgendeine, natürlich noch
ganz unbekannte Ursache, der innerliche Zusammenhang dieser vier
Zellen so gestört wird, dass jede von ihnen zur Ganzbildung fähig
wird. Dagegen findet für die drei „Extra-Embryonalen‘‘ Blastomeren
eine solche Störung des Zusammenhanges nicht statt, so dass sie
einheitliche Fruchtblase und Eihäute bilden. Andererseits bleibt natür-
lich der ‚„Embryonal-Blastomeren“-Bezirk und der der ausserem-
bryonalen Blastomeren in ständigem Zusammenhange. Auf dem eben
gekennzeichneten Wege muss nach allem, was wir über die Resultate
der experimentellen Embryologie wissen, eine Vierlingsbildung bei
gemeinsamem Chorium usw. entstehen. Beim eineiigen Zwilling ist
die isolierende Ursache im Stadium der Zweiteilung der Embryonal-
blastomeren eintretend zu denken. Dass das Amnion mit dem Embryo
sich vervierfacht, geht aus der Bildungsweise des Amnions bei Keim-
blattinversion hervor.‘ Nunmehr dürfte verständlich werden, warum
eine „physiologische Isolation“ im Vierzellenstadium undenkbar ist:
„es würde sich erstens auf diese Weise das ja namentlich in der ersten
Entwicklung des Menschen so auffällige Missverhältnis zwischen
embryonalem und ausserembryonalem Gebiete der Keimblase nicht
erklären, zweitens bliebe Jdas eigenartige lagerungsverhältnis der vier
ersten Blastomeren unverständlich“.
Zu diesen Darlegungen würde übrigens meine Ansicht über die
Möglichkeit einer Entstehung von 2--4 Embryonen durch direkten
Zerfall des animalen Poles der Morula des Vogeleies im 2—4-Zellen-
stadium recht gut. im Vergleich zu stellen sein. Nämlich so: was das
Vogelei schon von Anfang an „als Mitgift‘ von der Natur mitbekommt
- eben den Nahrungsdotter —, der Mangel daran wird beim holo-
blastischen Säugerei dadurch ausgeglichen, dass die „ausserembryo-
nale“ Blastomere durch ihr voraneilendes Wachstum auf ihre Weise
der „Embryonal“-Blastomere überhaupt erst eine Existenzbasis schafft.
Ferner wird durch Sobottas Hypothese auch die Asshetonsche
Beobachtung der Schafkeimanlage mit zwei Areae embryonales ver-
ständlich, die Strassmann mit Recht ‚die ersten anatomischen
Grundlagen für die Entstehung eineiiger Zwillinge nennt“. Nur darin
hat er nicht recht, wenn er fortfährt: „die Zwillinge in einfachem
Amnion beweisen nun weiter, dass auch nach der Bildung der Amnion-
falten noch eine Duplizität entstehen kann“. Denn beim Säugetier
entsteht das Amnion nicht durch Faltenerhebung, sondern durch
Höhlenbildung! Und so muss auch seine Einteilung der monochoriaten
DI Mehrlingegeburt usw. 379
Zwillinge in di- und monamniote dahin revidiert werden, dass man
sagen muss, die Sonderung in monamniote entspricht mehr einem
klinischen Einteilungsbedürfnis — bei genauerem Zusehen liegt sicher
fast stets nur eine scheinbare monamniotische Bildung vor —, als
dass sie entwicklungsgeschichtlich begründet ist.
Dagegen hat Weinberg recht, wenn er zu dem Ergebnis
gelangt: „unter den Zwillingen in einem Amnion spielen die Doppel-
misshildungen eine so hervorragende Rolle, dass Ahlfelds Ansicht
von der nachträglichen Verschmelzung zweier Amnien bei getrennten
Zwillingen in scheinbar einfacher Amnionhöhle einer gewissen Be-
rechtigung nicht entbehrt“. In einem anderen Punkte freilich irrt sich
Weinberg; nämlich wenn er behauptet: „das angeblich häufigere
Vorkommen in Gestalt und Lebensäusserungen besonders ähnlicher
Zwillinge bei den eineiigen ist bis jetzt nur eine theoretische For;
derung ohne positive Grundlage“. Denn was sollte sonst identischere
Merkmale haben, wenn nicht Organismen, die ein und demselben
Substrate entstammen? Dadurch wird auch eine ganz gleiche Verteilung
der Erbmasse ermöglicht. „Es ist folglich eine Forderung der Logik,
dass alle Unterschiede, welche eineiige Zwillinge darbieten, para-
typischer Natur sind. Ungleiche Teilung und nachträgliche Änderung
der Erbanlagen des einen Zwillines (Idiokinese) sind denkbar, aber
eine verschwindende Ausnahme (Siemens). Der Fall Nettle-
ship, in dem von eineiigen Zwillingen der eine rotgrünblind war,
während der andere normalen Farbensinn gehabt haben soll, könnte
allerdings als Stütze der Weinberg’schen Auffassung imponieren,
aber „man muss nach Ansicht von C. v. Hess damit rechnen, dass
die Diagnose der Rotgrünblindheit bzw. ihres Fehlens auf einem
Irrtum beruhte, da die Methoden zur Messung des Farbensinnes zu
der Zeit der Nettleship’schen Veröffentlichung noch ziemlich
unvollkommen waren. Es scheint der Verdacht begründet, dass es
sich um eine Störung der Manifestation bei dem einen Zwilling, und
nicht um Verschiedenheit der Erbanlagen handelt“ (Siemens). New-
man und Patterson widmen der Identitätsfrage einen besonderen
Abschnitt und machen für ihre Gürteltiere die Beobachtung, dass
selbst in einem so lächerlichen Merkmale wie in einem minimalen
Abweichen in der Zahl der Schuppen ihres Körpers die Tiere eines
Wurfes sich völlig gleichen. D. h. z. B., wenn ein Tier 5 Schuppen
weniger hat als ein anderes, so haben eben alle seine Nachkommen
diese geringe Zahl. Ja an einer anderen Stelle sagt Siemens:
„die Eineiigkeit wurde nur ausnahmsweise aus dem Eihautbefunde
diagnostiziert, in der Regel aus dem Vorhandensein einer für gewöhn-
liche Geschwister ganz unwahrscheinlichen Ähnlichkeit.“ Tch bin
380 Fritz Kiffner. 12
überzeugt, dass die Pubertätszeit, die ja von einer so einschnei-
denden Bedeutung für die körperliche und geistige Entwicklung
des Menschen ist und bei Geschwistern aus verschiedenen Geburten
sicher die augenfälligsten Unterschiede herauszumodellieren im-
stande ist, bei Mehrlingen aus einer Geburt wohl immer die
gleichen Wirkungen hinterlassen wird. Ich kann mir nicht vor-
stellen, dass beim eineiigen Zwilling z. B. der eine Akromegalie
bekommt, der andere nicht. Kurz, um mit Poll zu sprechen: „die
eineiigen Mehrlinge sind in der Tat die einzigen isozygotischen
Individuen d. h. Menschen mit identischem Erbgute. Die einzige
Möglichkeit ergibt sich daraus, unmittelbar analytisch verwertbare
Aufschlüsse über den Erbgang bestimmter Merkmale zu erhalten,
eine Methode, die, sonst eben beim zweckdienlich geleiteten und plan-
mässig geordneten Zuchtversuche anwendbar, der menschl'chen Erb
forschung verschlossen bleibt. Ist diese Vorstellung richtig, dann
muss die planmässige und kritische Durchforschung eines jeden erb-
verdächtigen Merkmales auf sein Abändern bei eineiigen Mehrlingen
hin allen Erbuntersuchungen menschl:cher Charak:ere als unentbehr-
liche Grundlage voraufgehen“. Damit wenden wir jetzt unseren Blick,
den wir durch Erkenntnisse gewissermassen aus der Vergangenheit
geschult haben, in die Zukunft. „R. Meyer hat bei der Besprechung
einer Doppelmissbildung auf die Verwertbarkeit dieser Vorkomm-
nisse für die Erkenntnis des Erbganges von Anomalien und Varietäten
hingewiesen.“ Polls Arbeit, die ich hier zitiere, ist vor allem der
Betrachtung des Erbganges der Linienmuster der Fingerbeeren ge-
widmet und enthält auf einer besonderen Tabelle noch eine Reihe
anderer erbverdächtiger Eigenschaften. Auf solche Weise ergeben
sich weittragende Konsequenzen für die Kriminalanthropologie, ge-
richtliche Medizin und Biochemie; nach Todd lassen sich Individuen
auf hämolytischem Wege unterscheiden. „Dann also müssten wirk-
lich gleicherbige Zwillinge - - also eineiige — sich auch mit Hilfe
dieser Methode als individualplasmatisch ähnliche Menschen erkennen
lassen.“ In der Mehrlingsforschung liegen also „Möglichkeiten ver-
erbungspathologischer Arbei:, we!che versprechen, unsere Kenntnisse
von der idiotypischen Bedingtheit menschlicher Krankheiten ent-
scheidend zu fördern, ja auf eine neue und breitere Basis zu stellen“.
(Siemens). Wenn Strassmann die anthropologische Bedeutung
der Mehrlinge zum Teil mit auf der Basis Hellinscher Anschau-
ungen dahin zusammenfasst, «lass er sagt, sie stellten eine „seltener
werdende. rückständige Art der Fortpflanzung dar, die erhöhten Ge-
fahren für die Mehrlingsmütter und -früchte führten so - auf
sicherer zahlenmässiger Grundlage - eine weitere Einschränkung der
13] _ Mehrlingsgeburt usw. 381
Multiparität und den Übergang zu Uniparität herbei, und aus den
beigebrachten Beweisen (seine eigenen, bereits am Anfang erwähnten
und die Hellins) sähen wir, wie ‚mit langsamem aber chernem
Schritte die Entwicklung des Menschen fortschreitet‘“, so hat das
für den, der streng auf dem Boden der Entwicklungslehre steht, etwas
zweifellos Bestrickendes.
Anders wird und muss diese Dinge der eugenetisch Interessierte
bewerten: ihm werden die gewonnenen Erkenntnisse dazu dienen,
nun erst recht besonders die Ärztewelt, vornehmlich den Geburts-
helfer, aber auch den Laien auf die ganz ausserordentliche Bedeutung
der Mehrlingsgeburt hinzuweisen; denn durch die hier dargetanen
Erwägungen dürfte verständlich erscheinen, dass z. B. — nur um
eines herauszugreifen — das so schwer wiegende, stets aktuelle Thema
„Krankheiten und Ehe‘ ausserordentlich befruchtet wird, und dass
es höchst begrüssenswert wäre, wenn die leider fast ganz in Ver-
gessenheit geratene Institution des Hausarztes wieder zu ihrem vollen
Recht käme, ist doch der Hausarzt als der Vertraute der Familie
der berufenste Mann, in solchen Familien gerade mit Mehrlings-
geburten hinsichtlich ‘des Erbganges gewisser Erscheinungen und des
Verhaltens der Mehrlinge überhaupt ununterbrochen werivollste Be-
obachtungen zu machen; sodann können diese Erwägungen in ihren
letzten Konsequenzen wesentlich dazu beitragen, der eugenetischen Indi-
kation in Prophylaxe und Therapie, die Max Hirsch schon 1913 in
die gynäkologische Praxis eingeführt sehen wollte, ebenso zu weitester
Anerkennung zu verhelfen wie der dringenden Forderung desselben
Autors, dass „die Lehre von der Fortpflanzung, d. h. die Physiologie,
Pathologie, Therapie und Soziologie der Fortpflanzung in Zukunft
eine geschlossene Darstellung im Rahmen des geburtshilflich-gynäko-
logischen Unterrichts erfährt“.
Wir haben damit das Thema der Vererbung angeregt und
wollen noch kurz sehen, was wir bis jetzt darüber wissen, soweit
es die Mehrlingsgeburten angeht:
Strassmann erwähnt, dass in einzelnen fürstlicken Familien Jahrhun-
derte hindurch Vererbung von Zwilingen feststellban ist. Insbesondere ist die Ver-
erbung auffallend für Drillinge. Diese und mehr noch Vierlinge stammen häufig
von Eltern, die selbst Mehrlingsgeschwister sind., Man findet daher in der Aszen-
denz von Drillingen und Vierlingen häufig Zwillinge und in der Deszendenz von
Zwillingen nicht selten Drillinge. Es ist somit verständlich, dass auch bei einer
Frau Mehrlingsgeburten habituell sind. Mehrlinge sind nicht nur in weiblicher,
sondern auch in männlicher Linie erblich und zwar, wie man aus der Beob-
achtung einer Ärztin an. ihrer eigener Familie entnehmen kann, durch drei Genera.
tionen ersichtlich. Hellin weist an 148 Fällen die Heridität nach und be-
richtet weiter. daag man in der Tierzüchterei diesen Faktor benützt hat, um
bei Tieren solche Spezies zu erhalten, die zwei Junge statt einem produzieren,
382 Fritz Kiffner. [14
z. B. bei Schafen. Günstige Ernährungsbedingungen seien noch dazu von be:
sonders gutem Einflusse: so konnte z. B. ein Farmer schon im Herbst aus der
Qualität der Wiese, der Art des Wetters und Graswachstums vorhersagen, ol»
seine Schafe das nächste Frühjahr zwei, ‚eins oder keine Jungen haben würden.
Auch bei so gut wie allen anderen Fällen der Literatur war die Heridität zur
Mehrlingsgeburt fastzustellen. Zwei Fälle aus der Literatur möchte ich noch be-
sonders herausheben: es ist erstens die Fünflingsgeburt von Satteldorf am
9. 2. 1840; da hatte die ältere Schwester der Fünflingsmutter unter sieben
Geburten, zwei Töchter dieser Schwester unter drei und neun Geburten je
einmal Zwillinge. Das Referat schliesst mit den Worten: „diese Angaben
stammen aus den Familienregistern von Satteldorf und Umgegend‘“. Wir sehen
daraus, dass die Schallmayersche Forderung der Aufstellung erbbio-
graphischer Personalbögen (amtlich und obligatorisch) durchaus praktisch durch-
führbar wäre. „Die Chinesen gehen uns darin ‚mit bestem Beispiele voran.
gehören doch dort Familienstammbäume, die sich über mehr als dreitausend
Jahre erstrecken, nicht zu den Seltenheiten! Freilich sind sie nicht gerade
erbbiographischer Art, zeugen aber von einem bewunderungs- und nachahmens-
werten Familienkult. Auch bei den Sanıoanern soll jede Familie endlose Stamm-
tafeln ‘besitzen, auf die grosser Wert gelegt wird‘.
Als zweiter ‚Fall, den ich in diesem Zusammenhange bösonders hervorheben
zu müssen glaube, ist mir die Sechslingsgeburt von Castagnola bei Lugano vor
allem interessant. Der Referent des Falles Herr Dr. Vassalli berichtet u. a.:
„die Fruchtbarkeit in der Familie speziell und in jener Landschaft überhaupt
scheint ziemlich gross zu sein: fünf Vettern-Brüder waren Zwillingsväter, die
Schwester der Mutter der Sechslinge hat auch Zwillinge geboren. In der Ge-
meinde Castagnola mit 585 Einwohnern sind vom 1. 1. 1876 bis 10. 5. 1888
(also in 12 Jahren) 217 Geburten gemeldet! Davon 228 Einlinge, 5 Zwillinge,
1 Drilling, 1 Sechsling.‘‘ Dies ist um so erstaunlicher, als sonst auf 892 Ge-
burten eine Drillings-, und auf 895 eine Sechslingsgravidität kommt. Erinnern
wir uns daran, dass Rasse, Klima und sonstige Milieueinflüsse keinen absoluten
Kinfluss auf die Geburt von Mehrlingen ıhaben, so liegt der Gedanke nahe.
Inzest für möglich zu halten. ‘Ich bin um so mehr geneigt ihn anzunehmen,
als es sich hier um eine ausgesprochene Gebirgsgegend handelt; und in solchen
Gegenden ist heiraten untereinander ausserordentlich häufig, da eben geographisch
direkt bedingt. Infolgedessen erhalten sich auch anthropologische Merkmale
ın Gebirgsgegenden am reinsten — ich denke an die Sektierer in Kleinasien.
Leder erhielt ich trotz wiederholter Anfrage keine Antwort, die mir Gewissheit
über diese Fragen geben könnte.
Bevor ich meine Darlegungen schliesse, möchte ich noch eine mehr stati-
stische Arbeit über das Vorkommen von Mehrlingsgeburten rein quantitativ
und seine Gründe erwähnen: es ist die von Grass] über die Mehrlings-
geburten in Bayern. Grassl kommt zu dem Ergebnis, dass Städtebildung
und Industrie die Anlage zu Mehrlingsgeburten eines Volkes drückt. In
Franken nehmen die Mehrlingsgeburten bei den oberen Klassen ab, bei den
unteren zu, weil nach Grassis Ansicht „nicht entweder Varietätenbildung
oder Atavismus, sondern lediglich Abundanz, ein Exzess in der natürlichen
Fruchtfähigkeit, die Ursache der Mehrlingsgeburten ist, eben da ja Frauen
mit Mehrlingen überhaupt reiche Geburten haben. Grass] denkt dabei
an eine Analogie mit den Haselnüssen, bei denen er die Beobachtung macht,
15] Mehrlingsgeburt usw. 383
class immer, wenn es viele Haselnüsse gibt, dann auch die Doppelbildung des
Kernes häufiger ist; ebenso ist es nuch mt der Löwenzahnblütendoppel-
bildung. „Das Zusammenfallen von der Zahl und der Stärke der Entwicklung
mit der Zahl. der Doppelbildung ist entschieden auffallend.“ Mit diesen Er,
wägungen ist natürlich nichts in seinen Ursachen begründet, sondern lediglich
Jaut Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Tatsache bewiesen. Grassl schliesst
mit den Worten: „durch das Spezialstudium der Mehrlingsgeburten kommen wir
zur Lösung der vielumstrittenen Frage, ob die Abnahme der Geburtenziffer
bei den höchststehenden Kulturvölkern lediglich der Ausdruck moralischer
Insuffizienz ist, oder ob auch somäatische Verhältnisse mitspielen‘.
Aum Schlusse bringe ich, einer Anregung Herrn Prof.
Fraenkels (Breslau) folgend eine .zusammenfassende Uber-
sicht über die Fünflingsliteratur und beginne mit der ausgezeichı-
neten Monographie einer Fünflingsgeburt, die von Dr. Nijhoff und
Blecoeurt geschrieben ist, weil die genannten Autoren in einer
analytischen Übersicht zusammenfassen, was sich aus ihrem Fall und
dem Bericht von 28 anderen Fällen von Fünflingsgeburten ergibt,
so dass ich mir wohl eine ermüdende Einzelaufzählung der .Fälle
ersparen kann.
I. Andere Geburten und Familienantezedenzen:
Alle Frauen waren Mehrgebärende, ausgenommen ein Fall, und
meist auch ausserdem noch selber Zwillinge, oder aber es kamen
solche im der Familie sonst vor.
IL Zeitpunkt der Entbindung:
Die Fehlgeburten waren so entwickelt wie die Einlingsfehl-
geburten, nur die ausgetragenen Kinder standen, wenigstens hin-
sichtlich des Gewichtes, hinter der Norm zurück.
Hi. Dauer und Verlauf der Geburt:
Mit Ausnahme von 3 Fällen nur kurze Entbindungszeit. Nicht
gewöhnlicher Verlauf - d. h. spontane, bald aufeinanderfolgende
Geburt der Kinder, spontane Austreibung der Plazenta -- in 9 Fällen.
IV. Die Nachgeburt:
Plazenta in 4 Fällen
8
Angaben fehlen oft.
GZ Lë cs
37
39 > 2 37
Or
Aus den Mitteilungen darf man schliessen, dass bis jetzt kein
Fall von eineiigen Fünflingen beschrieben ist. Aus der Schil-
384 Fritz Kiffner. IL
derung der Eihäute ist zu entnehmen, dass alle Kombinationen ven -
eineiigen mit mehreiigen Früchten vertreten waren:
fünfeiig waren 2 (?) Fälle
dreieig . 3
zweieig . 2 e
viereig war wahrscheinlich keiner mit Sicherheit.
V. Zustand der Kinder und Lebensdauer:
Die meisten zwar lebend geboren, doch bald tot. Ein Kind lebte
DO Tage, sonst bis höchstens 14 Tage.
VI. Über das Geschlecht der Kinder gibt folgende Tabelle einen
guten Überblick:
Soweit notiert, waren geboren:
so 4x = l 20;
I; +4,2x= 2, u, —
2.+3.2x= A S u. 6 ,,
re ES 5 x eg RE u. 10 „
A LI, Es ID .„. u. A
EE 6x = 30 ,
23x 67% 48 9
Zusammen also 23 Fälle mit 67 Kuaben und 48 Mädchen.
Zu diesen 29 Fällen (der Fall N. — Bl. + 28 Fälle aus der Literatur
kämen noch drei Fälle von Bernheim 1904; ein Fall von Martini 1907; ein
Fall von Hehir 1922; ein Fall von Forster and Carson; ein Fall aus Genthin:
da er meines Wissens nach noch nirgends veröffentlicht ist, möchte ich' an
dieser Stelle die Korrespondenz zitieren, die ich dem freundlichen Entgegenkommen
des Herrn Kreisarztes in Genthin, dem bei der Entbindung anwesend gewesenen
Herrn Dr. Wernicke und Herrn Prof. Dr. Ricker, Magdeburg, verdanke.
Herr Dr. Wernicke schreibt: „die Fünflingsgeburt war am 7. März 1924.
Frau etwa 29 Jahre alt, fünf Jahre verheiratet, bisher .kein Kind. In der Ver-
wandtschaft keine Mehrlingsgeburten. Geburt: drei Jungen, zwei Mädchen.
Grösster 185 g, Kleinster 145 g.. alle zusammen 905 g.'Plazenta 440 g, fünf Frucht-
säcke. Häute an den berührenden Stellen verschmolzen, leicht ın zwei Blätter
zerlegbar. Nabelschnüre inserieren stark exzentrisch. In einem Fruchtsack eine
Insertio velamentosa. Die Plazenta im Kotyledonenteil nicht ganz einheitlich.
Acht Tage vor der Geburt Blutungen, die bis zur Geburt anhalten. Ein Kind
wurde spontan geboren, die Kinder wurden mit der Hand einzeln geholt. Nach-
geburt kam spontan.“ Herr Prof. Ricker fand nichts Neues daneben und
verwies auf die Städtische Frauenklinik in Magdeburg (Direktor: Herr Prof.
Bauereisen), welche das Präparat der Nachgeburt besitzt sowie die Mit-
teilung des Herrn Dr. Wernicke. -— Ferner «in Fall aus Satteldorf (9. 2. 1840).
der Nijhoff und Blecourt nicht bekannt gewesen zu sein scheint, ein Fall
aus der polnischen Literatur referiert im Zentralbl. f. Gyn. 191& S. 1116, —
der übrigens gleichzeitig Nijhoffs Angabe, dass in der gesamten polnischen
Literatur kein einziger Fall von Fünflingsschwangerschaft erwähnt ist. nach-
17] Mehrlingsgeburt usw. 385
träglich korrigiert. Leider geht aus dem Referat nichts: über das Geschlecht
der Kinder hervor; es heisst nur: eine Plazenta und fünf Nabelschnuren. — Im
ganzen also 38 Fälle, die bekannt sind.
Überblicken wir das Gesagte, so sehen wir, wie Fünflinge in
allen Kombinationen von ein- mit mehreiigen Früchten entstehen
können. Wir haben die Ursachen dieser Entstehung‘ erörtert und
dabeı erwähnt, welche Möglichkeiten fortfallen, welche am wahr-
scheinlichsten sind; wir haben ferner einen vergleichend - anatomi-
schen und entwicklungsgeschichtlichen Rückblick getan und mit
einem Ausblick dahin geschlossen, dass wir die Wichtigkeit der
Mehrlingsgeburten für Vererbungsfragen betonten.
Freilich bei der Erörterung der Entstehungsmöglichkeiten waren
wir. letzten Endes auf Analogieschlüsse aus der Säugetierwelt an-
gewiesen, die, mögen sie noch so bestechend sein, eben doch nicht
restlos das wahre Bild der Eientwicklung des Menschen in seinen
allerersten Stadien ersetzen können — bei den jüngsten bisher ge-
fundenen Eiern, denen von Peters und Bryce-Teacher, ist
die Entwicklung ja schon bis zur Area embryonalis vorgeschritten.
Erst wenn es gelungen sein wird, die Stadien vorher zu studieren,
können wir die Hypothese verlassen. |
Am Ende meiner Darlegungen angelangt, gebe ich mich der
Hoffnung hin, die Bedeutung der Mehrlingsgeburt für die eugene-
tischen Probleme und besonders für die Familienforschung ge-
nügend gewürdigt zu haben, so dass „direkte Ablehnung jeder Be-
dachtnahme auf die späteren Generationen“ (Schallmayer) nicht
mehr dem Stande der wissenschaftlichen Heilkunde entspricht.
Literatur.
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386
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1901, S. 88. — vi „Zur Kasuistik ger Fünflingsgeburt.‘‘“ Deutsch. med.
Wochenschr. 1899. Nr. 24.
Kritiken.
Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden.
Bernhard Aschner: Die Konstitution der Frau und ihre Beziehungen
zur Geburtshilfe und Gynäkologie. I. Band. Allgemeiner Teil. Verlag
von J. F. Bergmann, München 1924.
In diesem Werke macht Aschner den Versuch, der Frauenheilkunde und
Geburtshilfe das Fundament einer Humoralpathologie in modernem Gewande zu
geben. Es ist vorauszusehen, dass dieses Unternehmen die Ablehnung aller derer
erfahren wird, deren wissenschaftlichee Denken noch unlösbar mit lokalistischen
und organizistischen Anschauungen verknüpft ist, und deren ärztliches Handeln
sich in Technizismen erschöpft. Aber die Entwicklung der Wissenschaft drängt
mit Macht aus diesen Grenzen heraus.
Wenn man es nur wahr haben will, so muss man zugeben, dass wir schon
seit mehr als 10 Jahren, seitdem die Auswüchse der Bakteriologie überwunden
sind, in einer neuen Lehre von den Körpersäften stecken. Einer Lehre, welche
— ehrlich betrachtet — das ärztliche, wie das volks-medizinische Denken von
alters her beherrscht, und welcher die antike und die mittelalterliche Medizin ihre
therapeutischen Massnahmen entnommen hat. Und da kommt nun einer und hat
den Mut, auf seinem Fachgebiet die Folgerungen moderner Entwicklung zu ziehen,
und das ganze geburtshilfliche und gynäkologische Denken und Wissen seiner
Zeit auf einer Lehre von den Körpersäften aufzubauen.
Es versteht sich bei der Qualität des Autors von selbst, dass er diesen
Versuch durchaus im Rahmen der Erkenntnisse der modernen Biologie durchführt,
welche durch die Begriffe Zelle, Blutdrüse, Konstitution zu kennzeichnen sind.
Darum ist es falsch, von einem Rückfall in alte Irrtümer zu sprechen. Und man
braucht nur an Göthes Vergleich der Kulturentwicklung der Menschheit mit einer
aufwärtsstrebenden Spirale zu erinnern, um zu erkennen, dass Aschner mit
seiner Humoralpatbologie zwar einen alten Gedanken erneuert, aber dabei doch
auf einer höheren Ebene steht. Er sieht in der Anknüpfung der modernen Medizin
an historisch gewordene Begriffe und Anschauungen eine Renaissance und ordnet
sie ein in den allgemeinen Zug der Zeit in allen Wissenschaften und Künsten,
welcher die Tradition vergangener Zeiten aufsucht. Darin hat er zweifellos recht.
Wer zum Beispiel mit der Literaturwissenschaft vertraut ist, wird erkennen, dass
eine neue Romantik aufzublühen beginnt.
Als grundlegende Eigentümlichkeiten der weiblichen Konstitution bezeichnet
Aschner die grössere Schlaffheit der Faser, die grössere Ähnlichkeit mit dem
kindlichen Organismus, die grössere Reizbarkeit und Empfindlichkeit des Nerven-
systems, die schnellere Reproduktionsfähigkeit des Blutes, die grössere Produk-
tivität der festen Gewebe (Neoplasmen), dıe Neigung zu besonderen Krankheiten.
Das sind bekannte und wohl kaum bestrittene Dinge.
388 Kritiken. [2
Wertvoll ist die Betonung dessen, was er als Komplexion bezeichnet. Woher
er den Ausdruck nimmt, weiss ich nicht. In der alten Medizin bezeichnet Kom-
plexion die dem Anblıck zugängliche Zusammenfassung von Gesichtsausdruck und
Körperform als Bild des gesamten Gesundheitszustandes.
Aschner aber versteht darunter die Farbe von Haut, Haar und Augen
und Besonderheiten des Haarkleides. Seine Bezeichnung ist missverständlich und
ich rate sie zu ersetzen durch „Pigmentation“ oder einfach „Farbe“. Ihre Be-
deutung für die Konstitution ist richtig erfasst. Allerdings darf nicht vergessen
werden — und der Autor tut das auch nicht —, dass die Farbe im wesentlichen
eine Anpassungserscheinung an die Umwelt, insbesondere an das Klima ist.
Aschner beklagt mit Recht, dass die Farbe als Unterscheidungsmerkmal
der Konstitutionen in den neueren Werken hinter der Dimension zurücktritt. Er
betrachtet die Haut- und Haarfarbe als einen Ausdruck des Chemismus im Körper-
haushalt. Er betont ihre Abhängigkeit von exogenen Faktoren und ihre erbliche
Fixierung im Laufe von Generationen. Aber es entspricht nicht den Gesetzen der
Vererbungslehre, wenn er diesen Vorgang als Vererbung erworbener Eigenschaften
hinstellt. Er stellt eine Modifikation dar, welche nur so lange dauert, wie die
äusseren Umstände einwirken. Beachtenswert erscheint mir auch die Beobachtung,
dass Pigmentdisharmonien Konstitutionsanomalien darstellen.
Ein Eckstein in seinem humoralpathalogischen Gebäude ist naturgemäss die
Lehre von den Temperamenten und von den Beziehungen von Temperament und
Konstitution. Da finden sich viele Berührungs- und Schnittpunkte mit den
psychiatrischen Publikationen der letzten Zeit über Temperament und Charakter.
Aschner gebt insofern weiter, als er nicht nur der Dimension, sondern auch
der Pigmentation, dem Tonus und dem Geschlecht bei Aufstellung der Konstitu-
tionstypen eine grössere Bedeutung zuschreibt. Nicht ganz kommt auch in diesem
Abschnitt die erbliche Bedingtheit der Temperamente und psychischen Abnormi-
täten zu ihrem Recht.
Die Beziehungen zwischen Pigmentierung, Haarwuchs und Sexualität sind
so eng, dass der Verfasser daraus das erotische Temperament ableitet. Was
Aschner darüber sagt, verrät die tiefe Beobachtung des frauenärztlichen
Praktikers. SES |
So geht die Gedankenführung weiter über die Lehre von dem Tonus, von
den Körperdimensionen, von der Alterskonstitution zur eigent ichen Konstitutions-
pathologie. Die Dyskrasielehre des Autors kommt in allen diesen Teilen zam Ausdruck,
wird aber begreiflicherweise besonders eingehend behandelt in den Abschnitten,
welche die Krankheiten des hämatopoetischen und Iymphatischen Apparates, die
Stoffwechselstörungen und die Neoplasmen betreffen. Man muss freilich sagen,
ohne es an dieser Stelle im einzelnen begründen zu können, dass in manchen
Beziehungen mit der humoralen Lehre der modernen Biologie und Pathologie
Gewalt angetan wird.
So wenn er — um nur einige Beispiele für viele zu nennen — den Alt-
weiberbart im Klimakterium nicht nur als eins endokrine Erscheinung, sondern
zugleich als eine Fulge des Mangels an menstraeller Reinigung bezeichnet,
oder wenn Form, Dichte und Farbe der Haare durchaus immer mit der Kon-
zentration des Blutes und der Säfte in Beziehung gebracht werden und der
Aderlass als ein Heilmittel dagegen empfohlen wird. Wenn jede Schwangere
als ein plethorisches oder dyskrasisches Individuum zu betrachten sein soll, während
das doch nur für die allerdings sehr häufigen Schwangerschaftstoxikosen aller
Grade gilt. Das sind Einseitigkeiten und Übertreibungen, die der guten Sache
schaden. i
Aschner ist bemüht, in Übereinstimmung mit Beneke und im Gegensatz
zu Mariius und späteren Forschern neben der Verschiedenheit der Individuen
die typische, gruppenweise wiederkehrende Ähnlichkeit hervorzuheben. Ich glaube
auch, dass das der richtige Weg für Forschung und Denken ist, und bin ihn
selber bei der Untersuchung des Dvsmenorrhoeproblems gegangen. Die Syste-
3] Kritiken. 389
matisierung ist hergebrachtes und unentbehrliches Rüstzeug der Wissenschaft.
Man darf freilich nicht vergessen, dass Systeme und Typen keine Wirklichkeit
sind, sondern Kunstgriffe des Denkens. Deswegen sehe ich auch keinen realen
Gegensatz zwischen Beneke und Martius, sondern nur einen Unterschied in
der Denkmethode. Die Intuition eines Hippokrates wird auch mit den Mitteln
moderner Forschung nicht überholt werden können, mögen wir nun bei der
Systematisierung nach Beneke, Stiller, Brugsch oder Kretschmer ver-
fahren.
Ich stimme mit Aschner vollkommen überein, wenn er der Synthese zu-
strebt. Er tut das auf induktivem Wege über zahlreiche sorgfältige und tiefe Be-
obachtungen. Und auch darin stimme ich mit ihm überein, dass das synthetische
Prinzip kein rein dimensionales sein darf, sondern auch Farbe, Temperament und
Funktionen berücksichtigen muss. Aber wie man die so gewonnenen Erkenntnisse
zu übergeordneten Vorstellungen vereinigen kann, wird letzten Endes wieder
Sache der Intuition sein.
Was die Therapie anbelangt, so ist besonders bemerkenswert, dass Aschner
jede operative und radiotherapeutische Kastration verwirft, so lange überhaupt
noch eine Menstruation bei der Frau besteht. Als Ausnahmen lässt er nur die
vitalen Indikationen bei Karzinom und Tuberkulose gelten. Ich stimme mit
diesem Standpunkt seit langem überein. Mir scheint freilich, dass Aschner
zuviel Gewicht auf die menstruelle Blutreinigung legt, während doch der Ausfall
der inkretorischen Tätigkeit der Keimdrüsen das Entscheidende ist. Immerhin
müsste man ihm beistimmen für den Fall, dass es zuverlässige Methoden der
Behandlung gibt, welche beide Leistungen, Menstruation und Inkretion ungestört.
lassen. Die organische Substitutionstherapie wird von ihm sehr kritisch betrachtet.
Auch das erscheint mir nach ihren vielen Versagern vollkommen berechtigt. Der
Grund der Misserfolge liegt darin, dass eben doch die Organextrakte keine kau-
aalen Heilmittel im wahren Sinne sind, sondern nar unserer in zellular- und
organpathologischer Schule erwachsenen Auffassung so erscheinen. Es entspricht
dem humoralen Leitgedanken von Aschners Konstitutionsbiologie, dass er in
der Therapie konsequent den Weg der indirekten entgiftenden Methode geht. Die
endokrinen Störungen sind eben Allgemeinstörungen, und die im Vordergrunde
stehende Erkrankung einer Einzeldrüse ist nur Teilsymptom der allgemeinen
Dyskrasie. Diese Auffassung gibt unserem endokrinologischen Denken und Handeln
eine viel breitere Grundlage und verdient die sorgfältigste klinische Nachprüfung.
Ausserordentlich viel wäre im einzelnen noch zu dem Werke von Aschner
zu sagen. Es ist voll von eigenen Gedanken und Anregungen zu neuen Beob-
achtungen. Störend wirkt die breite Darstellung und die häufigen Wiederholungen.
Das Ganze hätte schärfer zusammengefasst werden müssen.
Aber über diesen Mangel hilft der grosse Vorzug hinweg, dass der Autor
ein selbständiger Denker und sein Werk nicht eines von vielen ist.
Max Hirsch, Berlin.
Hans Apfelbach: „Der Aufbau des Charakters‘, Elemente einer rationalen
Charakterologie des Menschen mit einem Anhang über die Gesetze der
erotischen Attraktion. Wilhelm Braumüller Wien, Leipzig 1924.
Allzulange hat die Psychologie und Psychopathologie die Charakterologie
des Menschen unbeachtet gelassen. Um so erfreulicher ist es, dass nunmehr die
Lösung des Charakterproblems von den verschiedensten Seiten angestrebt wird.
Ob die neuzeitlichen Ergebnisse eine wirklich entscheidende oder vorläufige
Lösungbringen,obWeiningers Ausdeutungsversuch ausder Geschlechtlichkeit oder
Adlers psychoanalytisches Mühen oder Kretschmers biologisch-peychiatrischer
Versuch den restlosen Erfolg bringt, ist zunächst gleichgültig. Bedeutungsvolles
Stützmaterial bringt die vielgestaltige Denkarbeit in jedem Falle, auf dem weiter
gebaut: werden kann. und solch wertvolle Aufbauarbeit hat Apfelbach im vor-
380 Kritiken. [4
liegenden Werk unter Heranziehung des ganzen Rüstzeuges der modernen Seelen-
kunde geleistet. In klarer Erkenntnis, dass die immer noch bestehende, bedauer-
liche Trennung von Psychologie und Psychopathologie nur Schaden bringt, hat
er die Erkenntnisse beider Wissensgebiete verschmolzen, ja selbst die psycho-
analytischen Forschungsergebnisse berücksichtigt, allerdings mit der gebotenen
Vorsicht, wie er selbst sagt. Einem solchen Werke in dem notgedrungen engen
Rahmen einer Kritik gerecht zu werden, ist nicht möglich. Nur in groben
Strichen kann sein Gedankengang aufgezeigt werden, um zu zeigen, was ein
eindringendes Studium des Originalwerkes verheisst.
Aus 6 fundamentalen Dimensionen baut sich dem Verfasser der Charakter
1. aus der (seschlechtlichkeit, 2. aus der Psychomodalität, 3. aus der Emotionalität,
4. aus der Moralität, 5. aus der Intellektualität, 6. aus akzessorischen Charakter-
elementen. Bei der Wertung der Geschlechtlichkeit geht Verfasser von dem
Weinigerschen Leitsatz aus, dass jedes menschliche Wesen beurteilt werden
müsse nach seinem Gehalt an M und W, d. h. an männlichen und weibiichen
Elementen. Verfasser nimmt diesen Leitsatz ale Tatsache, obwohl nichts weiter
feststeht, als dass aus der anatomisch einheitlichen Entwicklung des Geschlechts-
apparates nach der Ausdifferenzierung noch Reste des anderen Geschlechts rudi-
mentär erhalten bleiben. Sonst lehrt nur die Erfahrung, dass der reine Typus
des Mannes oder Weibes nicht selten vermisst wird, indem männliche sekundäre
Geschlechtscharaktere beim Weibe und umgekehrt weibliche beim Manne stellver-
tretend vorkommen. Damit ist aber noch keineswegs erwiesen, dass niemand
reiner Mann oder reines Weib sei. Wenn die Bisexualität wirklich Tatsche sein
sollte, so muss es zahlreiche Übergänge zwischen rein männlichen und rein
weiblichen Ckarakteren geben, eine Mannigfaltigkeit, die vornehmlich in den
tertiären Geschlechtscharakteren, schon weniger häufig in den sekundären nnd
am seltensten in den primären Geschlechtscharakteren sich zeigt. Je maskuliner
ein Mensch, um so schärfer sein Denkprozess. Deshalb ist das Weib, das ge-
fühlsmässig denkt, so suggestibel und wenig objektiv, Eigenschaften, die sich
natürlich proportional bei feminin veranlagten Männern finden müssen. Eine
analoge Verschiedenheit zwischen Mann und Weib zeigt sich im Wollen und
Handeln. Hier ist die Macht des suggestiven Einflusses besonders stark in der
Abhängigkeit vom Milieu, von der Mode, in der Fähigkeit zur Einfüblung.
Durchaus falsch ist der dogmatische Leitsatz, den Apfelbach aus dieser
Lebre für die Begabung und Fähigkeit des Schauspielers zieht (S. 20).
UnterPsychomodalität willApfelbach psychischen Sadismus und psychi-
schen Masochismus verstanden wissen. Hiermit will er also die Herren- und Sklaven-
naturen bezeichnet wissen, nicht aber irgendwelchesexuelle Perversion.
Auf der einen Seite energische, willensstarke, mutige, unternehmende Menschen,
auf der anderen Seite energielose, willensschwache, scheue, furchtsame. Dürfte
es schon schwer sein, diese Unterscheidung von der Sonderung maskaulin-
feminin scharf zu trennen, 80 dürfte es direkt verhängnisvoli sein, Begriffe wie
Sadismus und Masochismus in von Grund aus geänderter Bedeutung einzuführen.
Wie bisher alle Versuche, diese Begriffe auszumerzen oder durch andere Bezeich-
nungen zu ersetzen, scheiterten, so muss auch dieser Versuch scheitern, der diese
Begriffe von jeder sexuellen Abartung loszelöst wissen will. Verfasser glaubt,
trotz reiflichen Nachdenkens keine geeigneteren Worte gefunden zu haben. Das
ist bedauerlich, duch keineswegs ein Grund, sie in der veränderten Bedeutung zu
bringen. Sicherlich wird sich jeder als Sadist oder Masochist Bezeichnete, der
sich von jeder damıt vermuteten sexuellen Ab»artung frei weiss, solche Tituletur
nachdrücklichst verbitten. So werden Charakterisierungen, wie z. B. Goethe als
maskulin: masochistisch, Schiller als feminin sadistisch geradezu grotesk. Ebenso
die Trennung von sadistischen und masochistischen Charakterelementen in den
Musikstüvken und die Beurteilung der Instrumente. Das Klavier „in erster Lianie
für den Ausdruck sadistischen Empfindens geeignet‘, die Geige mehr für maskulin-
masochistische Eigenart, bei den Cellisten willApfelhach „bereitsan ihrem Äusseren
5] Kritiken. 391
soviel Schwermut und Masochismus* gefunden haben. Referent kann ihm aus
bester Kenntnis dieses Instrumentes und seiner Spieler verraten, dass er fast
durchweg lebensfrohe, heitere Menschen unter ihnen fand, sogar bei einem
Meister des Instrumentes auch einen Meister des Witzes. Hier hat also Ver-
Insser mit der Anwendung einer eingebürgerten und nur eindeutig verständlichen
Nomenklatur auf besondere Charaktereigenart einen schweren Fehlgriff getan,
Höchst zweifelbaft ist es auch, dass zwischen den Charakterelenıenten der Geschlecht-
lichkeit und der Psychomodalität kein originär bedingter funktioneller Zusammen-
hang besteht. |
Ungemein wertvoll ist das Kapitel über die Emotionalität. In überzeugender,
gedankenreicher Form zeigt Verfasser die Gradstufen und ihre Ausprägung in
den verschiedenen Temperamenten. Erst durch die Emotionalität erhalten die
Tendenzen des Charakters ihre Intensität, erst dadurch wird die Stärke der Töne
bestimmt. Der Grad der Emotionalität ist wesentlich bereits ab ovo bestimmt,
eine konstante, schon hereditär festgelegte Grösse. So kann es nicht wunder-
nehmen, dass die Hyperemotionaliät, die hohe psychische Ansprechbarkeit, sich
schon im Säugling verrät, dort durch grössere Lebhaftigkeit, häufigeren Stimmungs-
wechsel und durch die Stärke der Gemütsbewegungen auffällt. Für Verfasser ist die
Embotionalität eine Energiemasse, die sich am günstigsten in der Richtung der Lust
abträgt. Wird das irgendwie gehemmt, so muss sich die Energie einen anderen Weg zur
Entladung suchen, entweder in der traurigen Verstimmung oder in der expansiven
psychischen Erregung (cholerisches Temperament). Bei dem phlegmatischen
Temperament ist originäreine geringe psychische Energiemasse vorhanden. Vor-
bedingung dieser ganzen, äusserlich bestehenden Auffassung ist die Grundlehre,
dass die Energiemasse gegeben, verändert, ja „sublimiert* werden kann, so dass
z. B. die künstlerische Betätigung als Sicherheitsventil für grosse Affektınassen
dienen kann. Der Realist ist zur idealen Steigerung seiner Lust nicht fähig.
Die Moral ist für Verfasser eine selbständige, vom Geschlecht des Menschen
unabhängige charakterologische Konstante, nicht mehr ein Produkt der intellek-
tuellen Entwicklung, wie allzulange auch von psychiatrischer Seite angenommen
wurde. Es kann sogar sehr gut moralische Defektuosität uud intellektuelle
Vollwertigkeit neben einander bestehen. Endlich schildert er als Intellektualität
das Ensemble jener geistigen Qualitäten, durch welche Verstand, Urteilskraft,
Kombinationsfähigkeit, Auffassungsvermögen und Gedächtnis ihre spezielle Prä-
gung erhalten. Hierrunter überragt an Wert die Kombinationsfähigkeit, die dem
Grade der emotionellen Anlage proportional ist. Ein ungewöhnlich lehrreicher
Anhang „Die Gesetze der erotischen Attraktion“ beschliesst das tiefgründige,
&edankerreiche Werk, das jedem zu ernster Menschenbeobachtung Neigenden
dringlichst empfohlen werden kann. Placzek, Berlin.
M. von Arx, Olten: Körperbau und Menschwerdung. Konstruktionspläne.
Nach der Ballontbeorie und dem Prinzip der statischen Gleichgewichte.
Enthüllt durch eine Kausalanalyse der menschlichen Beckenform. Mit 110
Lehr und Beweissätzen, 130 Abbildungen im Text und 21 teils farbigen Tafeln.
Verlag Ernst Bircher, Leipzig 1922.
Das vorliegende Buch ist hervorgegangen aus Erwägungen und gynäkolo-
gischen Reflexionen über die mechanischen Vorgänge bei der Entstehung und
Ausbildung der Uterusprolapsee und ist dann auf das Gebiet der Statik der
ganzen Körperform ausgedehnt worden. Der erste Teil des Werkes enthält
ähnlich wie in einem mathematischen Lehrbuch Lehrsatz an Lehrsatz gereiht
das Beweismaterial nebst mathematischer Analyse und Synthese einer männlichen
und einer weiblichen Beckenform unter Benutzung auch physikalischer Experi-
mente. Der zweite Teil verwertet die Resultate des ersten Teils und legt die
Beziehungen zwischen der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklungs-
reihe dar, indem er speziell die mechanischen äusseren Faktoren berücksichtigt,
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 4. 26
392 Kritiken. [6
die für die „innere“ Organisation und Entwicklung der organischen Artsubstanz
in beiden Reihen mass- und ausschlaggebend sind. Die Kausalanalyse der
Beckenform gründet sich auf Beobachtungen normaler, nicht pathologischer
Vorgänge.
Das Neue ist zweifelsohne die Einführung der darstellenden Geometrie in
die Biologie, die eine exakte Vermessung der Körperform nach allen drei Raum-
dimensionen hin ermöglicht. Die trigonometrische Berechnung der Form gibt uns
vollkommenere Bilder über die wirklichen Grössenverhältnisse untereinander.
Dabei wird die statische Gleichgewichtslage der ganzen Form in Betracht gezogen.
So ist es dem Verfasser gelungen, auch die klomplexeste Form nicht nur kausal-
analytisch zu zerlegen, sondern auch synthetisch aufzubauen. Er hat eine
entwicklungsmechanische Morphologie im weitesten Sinne des Wortes unter
Zugrundelegung physikalischer und statischer Experimente geschaffen und dem
Begriff der Spezifität des Artprotoplasmas das Gesetz der Selbstregelung in Form-
und Kraftwechsel nach rein mathematischen Gesetzen hinzugefügt. Nicht das
spezifische Wachstum, sondern die differenzierten Widerstände bedingen die Form.
Wie sich der Aufbau eınes jeden einzelnen Knochens von selber genau ‚nach
den Gesetzen technischer Berechnung des Widerstandes der Stoffe gegen Zug-,
\Druck- und Dehnungsbeanspruchung vollzieht, so ist auch der Rumpf- und
Körperbau in seiner Gesamtheit das funktionelle Ergebnis aus der inneren Festig-
keit und Elastizität einerseits und ihrer äusseren, tellurischen Belastung in
weitestem Sinne anderseits.
Der menschliche Organismus erscheint in dieser Bewertung als Ballon
halbstarren Systems: die Rumpfwand ist in elastische und versteifte Quergurten-
segmente auflösbar, die die nötigen punkte trägt, die als Ansatz für die
kontraktil-elastischen Wandstücke dienen. „Jede L--bensfunktion sowie die Ver-
kettung von solchen, das „Leben“ überhaupt ıst nichts anderes als das Pendeln
der hochkonstituierten und selbstorganisierten Substanz umeine
chemisch-mechanische Gleichgewichtslage herum“. Das Buch birtet
eine unendliche Fülle von scharfsinnigen Beobachtungen, Kenntnissen, besonders
auch auf dem Gebiete der Mathematik, und Anregungen, die ihren Kinfluss auf
die verschiedensten Gebiete der Naturwissenschaften nicht verfehlen werden.
Max Berliner, Charlottenburg.
J. Jadassohn: Die Salvarsanbehandlunz der Syphilis. Versuch einer
gemeinverständlichen Darstellung. Vortrag gehalten in der Ortsgruppe Breslau
der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geszhlechtskrankheiten.
Verlag von Julius Springer, Berlin 1923.
Das kurze Büchlein (20 Seiten) verdankt seine Entstehung den Angriffen
gegen die Salvarsanbehandlung der Syphilis in der Tagespresse. So kurz und
vereinfacht, wie es für das Verstäuduıs von Laien möglich ist, werden die
Grundlagen der Parasitologie und Chemotherapie berühıt, wobei Ehrlichs Selbet-
versuch nıit dem Salvaısan zur Prüfung von dessen Unschädlichkeit gebührend be-
tont und sodann der historische Werdegnng der modernen Syphilistherapie geschildert
wird. Die moderne Syphilistherapie leistet mehr als jede andere frühere Metbode
und treibt nicht, wie die Tagespresse behauptet, das Gift von
aussen nach innen, „Die frischen Fälle werden mit höchster Wahrscheinlich-
keit schon mit einer Kur geheilt“. „Die ansteckungsgefährlichen Fälle werden ihrer
Ansteckungsgefährlichkeit sehr schnell entkleidet und die Zahl der ansteckenden
Rückfälle wird durch gründliche Salvarsanbehandlung ausserordentlich einge-
schränkt. Dadurch muss eine sehr starke Verminderung der Ansteckungen er-
folgen“. Der Mehrzahl der Ärzte dürfte dieses Büchlein, das ausdrücklich nur
für Laien geschrieben ist, nichts Neues bringen.
Max Berliner, Charlottenburg.
7] Kritiken. 393
Robert Köhler: Die Therapie des Wochenbettfiebers. II. Auflage, 176 S.
Franz Deutike, Wien 1924.
Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein so spezielles Werk wie das vorliegende
in verhältnismässig kurzer Zeit eine zweite Auflage erlebt. Sein Hauptwert liegt
nicht in der Verwertung eines grossen Krankenmateriale, sondern in der grossen
Kritik, mit der dies geschieht. Nach einem kurzen einleitenden Kapitel über die
‘ Prophylaxe folgt eine Besprechung der Allgemeinbehandlung, der Lokalbehandlung,
der chirurgischen Therapie und diesem als zweiter Hauptteil die medıkamentöse
Behandlung, eingeteilt in Antiseptika, Kolloidmetalle, Chemotherapie, Leukosti-
mulantien, Eiweisstherapie uud Serotberapie. Fast siets spricht der Autor aus
eigenen Erfahrungen. Wie jedem erfahrenen 'Therapeuten sind auch ihm neben
Erfolgen schwere Rückschläge nicht erspart geblieben, und so endet das kritisch
geschriebene Büchlein mit dem Satz, dass wirklich überzeugende Erfolge sich bis-
her auf keine Weise erzielen liessen. Die Chemotherapie gibt noch die besten
Ausblicke in die Zukunft. :
Ein sehr ausführliches Literaturverzeichnis beschliesst das Werk, an dem
der speziell interessierte Arzt nicht wird vorübergehen können. Köhler vertritt
als Halbanscher Assistent dessen Standpunkt, der in fast allem genau so zurück-
haltend bei der Therapie des Kindbettfiebers ist wie der seinerzeit von Winter
auf dem Strassburger Kongress vorgetragene. Besonders interessant waren dem
Referenten die hintereinander ahgebildeten Kurven, in denen bei anscheinend
gleich gelegenen Fällen mit demselben Mittel bald gar nichts, bald ein prompter
Erfolg erzielt werden konnte. Zu schliessen ist daraus, dass das post hoc noch
lange kein propter hoc ist. Trotzdem spricht aus dem Köhlerschen Buch keine
Resignation, sondern der Wille die Schwierigkeiten zu überwinden; möge eine
weitere Auflage über sicherere Mittel dazu berichten können.
E. Sachs, Berlin-Lankwitz.
Hermann Wintz, Erlangen: Die Röntgenbebandlung des Mamma-
karzinoms. Geb. 27 G.-M. Georg Thieme, Leipzig 1924.
Wintz gibt in diesem Werke, 'das neben 52 Textseiten etwa 90 photo-
graphische ganzseitige Abbildungen bringt, Grundlegendes zur Röntgenbehandiung
des Mammakarzınoms. Er geht von den physikalischen Grundlagen der Röntgen-
tiefentherapie des Brustkrebses aus, dessen erfolgreiche Bestrahlung eine viel
schwierigere Aufgabe darstellt als die Bestralilung des tiefliegenden Uterus-
tumors. Die biologische Forderung der Karzinomdosis auf das ganze Ausbreitungs-
gebiet des Karzinoms zu bringen, verlangt die Ausdehnung auf die ganze Axilla
und den Hals. Um eine exakte Dosierung zu erıeichen, muss die Streuung und
die Streustrahlungszusatzdosis berechnet werden, die vom Fokushautabstand und
der Grösse des Einfalifeldes abhängig ist. Ale physikalischen Fragen, die ın
Betracht kommen, werden besprochen; und, das sieht man an diesem Werke so
recht, es kommen viel mehr Fragen in Betracht, als man vor einigen Jahren
noch glaubte. Wintz bespricht im weiteren auch die Verteilung der Strahlen in
den Lungen, die Beeinflussung der Haut durch die rückwärtige Streustrahlung,
die Zusatzdosis, die Dosımetrie und ganz besonders genau dıe Einstelltechnik.
Ein 3. Kapitel dient der Besprechung der Ausschaltung der Ovarien durch Kastra-
tionsbestrahlung, die Wintz in jedem Falle für unerlässlich hält, um alle men-
struellen und Graviditätsreize auf die Mamma auszuschalten. „Schädigungen im
Anschluss an die Röntgenbestrahlung des Mammakurzinoms“, wozu die Lungen-
indu:ation, dıe Blutschädigung, die Indoxikation durch Röntgenstrahlen und die
Kombinationsschäden gehören, werden im 4. Kapitel besprochen. Besonders die
Lungeninduration ist ein bisher unbekanntes, klinisch sehr wichtiges Krankheits-
bild, das beim Hinzutreten einer Infektion (Grippe) zu sehr schweren Störungen
führen kann. Feuchte Umschläge, Diathermie, Expektorantien sind hierbei schäd-
lich. Die Induration heilt meist nach 1—1!'s Jahren aus, wenn sie vor jeder
Noxe bewahrt bleibt. |
26*
394 Kritiken. [8
Besprechung der Vor- und Nachbehandlung machen den Schluss des Text:
teiles, dem vorzügliche Abbildungen folgen.
Aus dem Werke spricht die Erfahrung eines Mannes, des bis ins einzelne
mit allen in Betracht kommenden Fragen vertraut ist. Man sieht daraus aber
auch, wie vielerlei beobachtet werden muss, um nicht zu schaden statt zu nutzen.
Schliesslich geht aus dem Werke von Wintz aber auch bervor, dass wir
noch lange nicht in allem klar zu sehen gelernt haben, d. h. dass die Frage der
Behandlung des Mammakarzinoms mit Röntgenstrahlen noch längst nicht im
positiven Sinne entschieden ist. Wintz’s Werk gehört jedenfalls zu denen, die
jeder studiert haben muss, der an die Strahlenbehandlung eines Brustkrebses
berangeht. E. Sachs, Berlin-Lank witz.
Wintz: Die Röntgenbehandlung des Uteruskarzinoms. Mit 50 Lichtdruck-
tafeln. Verlag von Georg Thieme, Leipzig 1924.
Das vornehm ausgestattete Büchlein will ein Hilfsmittel bei den Unter-
weisungen in der Röntgentiefentherapie, wie sie an der Erlanger Frauenklinik
gelehrt wird, sein. Vornehmlich behandelt es die dort gelehrte Einstelltechnik.
Insbesondere ist zu begrüssen, dass immer wieder betont wird, dass es bei der
Strahlenbehandlung nicht lediglich auf die Apparatur, sondern vor allem auf das
rein ärztliche Denken und Handeln bei Anwendung der Röntgenstrablen und
Behandlung des Kranken ankommt. Gerade dieser Umstand wird von Laien und
auch von Ärzten vielfach übersehen. Die Verworrenheit der Begriffe über die
Wirkung der vielerlei Strahlen, die therapeutisch jetzt verwendet werden, der
Umstand, dass keine äusserliche Wunde bei der Bestrahlung gesetzt wird und
Schmerzen nicht während der Bestrahlung gefühlt werden, lässt vielfach ganz
vergessen, dass wir es bei der Bestrahlung insbesondere von Geschwülsten um
‘eine Operation zu tun haben, die höchstes technisches Können und theoretische
Überlegung in jedem Einzelfalle voll und ganz erfordert. Mit Recht sind darum
2 Kapitel der Vorbehandlung und Nachhehandlung gewidmet, die dem Lernenden
zum Bewusstsein bringen, dass wir es nicht nur mit der Zerstörung der Geschwulst,
sondern mit der Aufgabe, den Gesamtorganismus eines schwerkranken Menschen
der Gesundung entgegenzuführen, zu tun haben.
Wertvolle Winke werden dem Strahlentherapeuten aus der Fülle der an der
Wintzschen Klinik gesammelten Erfahrungen gegeben. Die Einstelltechnik wird
durch eine Reihe vorzüglicher Abbildungen (Dud 30 ist allerdings nicht ohne
weiteres klar) genau erläutert und gibt, trotzdem sie lediglich auf die Erlanger
Verhältnisse zugeschnitten ist und meist schon Bekanntes bringt, auch den mit
anderen Apparaten und Mitteln arbeitenden Röntgentherapeuten mancherlei An-
regungen. Heinsius, Berlin-Schöneberg.
Marie Carmichael Stopes: Weisheit in der Fortpflanzung. Aut.
Übersetzung von F. Feilbogen. Institut Orell Füssli, Zürich.
Was Verfasserin zur Einschränkung der Fortpflanzung zu sagen weiss, ist
hierzulande sattsaın bekannt. Von Interesse ist nur, dass sie auch die immer
noch strıtiige, soziale und eugenetische Indikation verteidigt. Auch die Schonzeit
der Mutter nach einer Entbindung ist begründet. Weniger begreiflich, zum
ınindesten anfechtbar ist der Ratschlag, eine Schwangerschaft in der ersten Zeit
der Ehe zu verhüten. Gewiss geschieht das oft in junger Ehe und sogar Jahre
hindurch, doch richtig ist es nicht aus verschiedenen, hıer nicht näher erörter-
baren Gründen. Recht bedenklich ist aber die einschränkungslose Empfehlung
des Pessarium occlusivum, denn dieses ist kein absoluter Schutz und bedingt auch
im Einzelfalle Nebenschädigungen. Dass ein Deutscher, Mensinga, der Er-
finder war, hätte erwähnt werden können. Mit diesen Einschränkungen kann
das Buch empfohlen werden. Placzek, Berlin.
9] Kritiken. 395
S. Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie. Internat. psychoanalyt. Verlag.
Leipeig- Wien-Zürich.
Um den Hypothesen des Verfassers gerecht zu werden, muss man als Tat-
sache hinnehmen, dass er die Grundgedanken psychoanalytischer Denkweise über
die Sexualität als sichere, unverrückbare Basis nimmt und auf ibr anfbaut. So
begreift er zunächst unter dem Namen „Amphimixis der Erotismen oder der
Partialtriebe‘ die Überwindung der anfänglich beherrschenden Autoerotismen und
ihre Ablösung durch das Prinat der Genitalzone, in der sie nur noch als Vorlust-
mechanismen Geltung behalten. Beim normalen Ejakulationsvorgang sollen ure-
thrale und anale Innervationen zweckmässig ineinander greifen, soll ein unab-
lässiger Kampf zwischen der Entleerungs- und der Behaltungsabsicht stattfinden,
wobei schliesslich die Urethralität siegt. Schon in der Reibungsarbeit des Penis
sieht Verfasser die beiden Triebkräfte wirksam, im Eindringen dıe Ejakulations-
tendenz, in der Rückbewegung die Hemmungstendenz. Welch gekünstelte Deutung
des einfachen Friktionsmechanismus! Erst ‚aus einer Verschiebung der kon-
kurrierenden Grundkräfte, indem bald übermächtig der urethrale, bald der anale
Mechanismus wirksam wird, soll die Ejaculatio praecox bzw. die Ejac. retardata
zustande kommen. Die an der ersten Abart leidenden Kranken behandeln „ihren
Samen mit der gleichen Sorglosigkeit, als wäre er Harn, also als wertloses Aus-
scheidungsprodukt“. Andere Menschen „geizen mit ihrem Samen, wobei bewusst
oder unbewusst der Same dem Kote gleichgestellt wird“. Natürlich fehlt zur
Ausgestaltung der Ausdeutung nicht der Leitsatz, dass schon das Kind von der
Entleerung des Harns und der Zurückhaltung des Kotes einen Lustnebengewinn
erzielt, auf den wenigstens teilweise zu verzichten es nur dadurch lernt, dass
die Blase „vom Mastdarm etwas Zurückhaltung, der Mastdarm von der Blase
etwas Freigiebigkeit lernt“, ein Mischungsverbältnis, das auch entscheidend für
die Charakterbildung wird. Wo die Aufgaben von Blase und Darm vertauscht
scheinen — nervöse Diarıhö und Obstipation —, entdeckte Verfasser als Ursache
eine „verkappte Äusserung des Trotzes“. Als Zweck der ganzen Entwicklung
vom Ludeln des Neugeborenen über die Selbstliebe bis zum heterosexuellen
Begattungsakte glaubt Verfasser „einen anfangs ungeschickt tappenden, später
immer zielbewussteren und schliesslich zum Teil gelungenen Versuch zur Wieder-
kehr des Ich ın den Mutterleib“ zu erkennen. Der ganze Organismus erreiche
das nur halluzinatorısch, ähnlich wie etwa im Schlaf; dem Penis gelinge das
bereits partiell oder symbolisch, und nur das Genitalsekret habe das Vorrecht,
in Vertretung des Ich und seines narzistischen Doppelgängers, des Genitales,
auch real die Mutterleibssituation zu erreichen. Welche Bedeutung für den Ver-
fasser und seine Theorien der unaufhörliche, von Geburt an bestehende, regressive
Zug nach der Wiederherstelluug der Mutterleibssituation hat, lehrt seine Ansicht,
dass der Wirklichkeitssinn erst erreicht ist, wenn auf diese Regression endgültig
verzichtet wird und die Realität Ersatz bietet. Das erreicht man aber nur mit
einem Teil seiner Persönlichkeit. Schlaf- und Traumleben, sexuelles und Phantasie-
leben bleiben in der Sehnsucht nach Erfüllung jener Wünsche hängen. Schade
nur, dass Verfasser nicht erklärt, wie dieser alles beherrschende Drang zur Rück-
kehr in den Mutterleib mit dem weiblichen Streben nach dem Begattungsakte
vereinbar ist. Wenn das Dasein im Mutterleibe wirklich so nachhaltige Erinne-
rungsspuren in der Pryche des reifenden Kindes hinterlässt, dass es dauernd die
späteren Triebregungen lenkt, so bliebe es zum mindesten unverständlich, wie
dasselbe Mutterleibsdasein das weibliche Kind so gleichgültig lassen soll. Auch
dem weiblichen Kinde sorgen doch zunächst Pflegepersonen für die Illusion der
„Mutterleibslage, für die Wärme, die Dunkelheit, das Ungestörtsein‘. Warum
sollte das alles hier ohne Nacheffekt bleiben? Verfasser schreckt nun vor keiner
noch so kühnen Hypothese zurück. „Die Frau überlässt das Vorrecht, wirklich
in den Mutterleib einzudringen, dem Manne, begnügt sich mit phantasiemässigen
Ersatzprodukten und insbesondere mit dem Beherbergen des Kindes, dessen Glück
sie mitgeniesst.“
396 Kritiken. 110
Es würde zu weit führen, wollte ich der weiteren Ausgestaltung der Theorien
nachgehen. Selbst einen „thalassalen Regressionszug“, ein Streben nach Wieder-
herstellung einer verlorenen Lebensform in einem feuchten Milieu, das zugleich
Nährstoffe enthält, kennt Verfasser. Die Mutter als Symbol oder partieller Ersatz
des Meeres! Die Chorionzotten reproduzieren die Kiemenatmungsorgane der
Wassertiere!
Wie immer man die Hypothesen Ferenczis betrachten mag, selbst wenn
man sie nur als phantastische Exzentrizitäten eines eingeitig eingestellten Psycho-
analytikers würdigt, sie verdienen das Interesse des Lesers schon durch das Streben,
die rein biologische Auffassung der Genitalität durch Vermischung mit psychoana-
lytischem Denken auszudeuten. Für Ferenczi sind libidinöse Energien besonders
bedentsam bei der normalen wie pathologischen Organbetätigung, deshalb eine
lustbiologische Ergänzung notwendig. Er versteigt sich sogar zu Gedankengängen
wonach die meisten Symptome organischer Erkrankung auf eine neuartige Ver-
teilung der „Organlibido‘“ zurückführbar sind. Der Kern seiner Theorie bleibt
die Mutterleibsregression, und zwar nicht allein für die Genitaltheorie, sondern für
die Biologie überhaupt. Placzek, Berlin.
Karl Joël: Nietzsche und die Romantik. Il. Auflage. 246 Seiten. Preis
br. 7 M., geb. 9 M. Diederichs, Jena 1923.
Dass Nietzsche Romantiker war, wird manchen verblüffen. Denn war seine
wesentliche Eigenschaft, die Kritik, der Romantik so wesentlich, obgleich sie
ironisch die Wirklichkeit vielfach verneinte? Hat Nietzsche trotz seiner Sitten-
reinheit für Frömmigkeit und Christentum geschwärmt? Hatte er je einen Anflug
von romantischer Liebe, von der nicht schmeichelhaft aber zutreffend Schopen-
hauer spricht, indem er der romantischen Poesie Motive der abgeschmackten und
lächerlichen christlich- germanischen Weiberverehrung zuspricht und die der
faselnden und mondsüchtigen hypherphysischen Verliebtheit? Die Romantiker
liebten ferner fast alle Ideale, Nietzsche hatte viel Neigung, sie zu bekämpfen.
Aber davon abgesehen, dass Nietzsche nicht sowohl über die Früh- als die Spät-
romantik richtete, hatte er nach Karl Joöl einen gewaltigen Stimmungsumschlag
erlebt, dessen nur eine romantische Seele fähig sei, die uns der Verfasser (S. 69)
definiert, die z. B. auch aus einem Extrem sich ins andere stürzt. Ich glaube,
dass der Verfasser Nietzsche richtig klassifiziert; übrigens gibt er sich auch für
Schopenhauer diese Mühe (156—203). Zwischen Nietzsche nun und den Roman-
tikern, besonders Friedrich Schlegel, weist der Verfasser überraschend viel Par-
alellen nach. Aber auch Jakob Böhmes Denken wird zur Erläuterung berbei-
gezogen. Im Gegensatz zu den Philosophen, die sich meist schlecht vertragen,
sind die Mystiker wie mit ähnlichem Nervensystem ausgestattet — Wolfgang
Schultz macht in seiner interessanten altjonischen Mystik darauf aufmerksam
(Wien und Leipzig, 1907) — und die Romantiker haben das gleiche Naturell,
wenn sie auch zeitlich und räumlich getrennt sind und sich unterscheiden wie
z. B. Novalis und Nietzsche, der die „gärenden* Augen trotzdem gegen den
Himmel erhebt. Noch behandelt Karl Joël Nietzsches Verhältnis zur Antike
(214—263). Auch hier war Nietzsche turbulent, wie man wohl am kürzesten
sagen kann. Er war nach dem Verfasser „der grösste, vielleicht der einzige,
wahre Bacchant der Weltgeschichte“. Der Verfasser ist, scheint mir, oft etwas
zu gründlich. Damit dem Lector benevolus eine Bemerkung des Verlages ja nicht
ungenutzt bleibe, sei vom Umschlag zitiert . . . dass Joël mit seiner Betrachtung
Nietzeschen Geistes die feinste Psychologie unserer Zeit gibt.
K. Bruchmann.
Namenverzeichnis.
— —
A. | E. | Heinsius 394.
Abraham, Karl 325. Eberhard 313. — 300. en
Adler, Otto 210. v. Ebner-Eschenbach, Marıa Herder 98 —
Alsberg, Max 211. 825. - Gei — 60
— Paul 196. Eisler, M. Josef 200. Her n, ke Ki t 91
Anspach, Brooke M. 814. | — Rud. 100. | Hina k a id 81. 82
Apfelbach, Hans 389. Ellis, Havelock 72, 73. LM ? au op 96 97. 98
v. Arx, M. 391. Elster, Alexander 320. 102. 104 190, 191. 192°
Aschner, Bernhard 317,387. | Eulenberg, Herberi. 98. | 205, 207, 316, 318, 319,
B p | 820, 321, 322, 325, 329,
e eis ` S 9.
Baisch 318. | Fechner,GustavTheodo: 91. | Hirschfeld, Magnus 203.
Baerwald, Richard 91. Feilbogen, F. 394. Höffding, Harald 191.
Bauer, Max 198. Ferenczi, S. 202. Holmes 190.
Baum, Vicki 97. Ferrero, Guiglielmo 95, 96. Horney, Karen 75.
Benjamin, Harry 77. Finke, Heinrich 95. Huber, Arnold 320.
- Berliuer, Kurt 208. Flatau, Georg 81. Hüssy 189.
— Max 117, 392. Forel, August 81.
BI — 95. Förster - Nietzsche, Klisa- J.
= Bornétein 195. beth 99. Jadassohn, J. 392.
l Frank, Fritz 93. v. Jaschke 318
Braun, Lily 96. y .
Freund, H. 94 Jessner, S. 201, 326
Brausewetter, G. 97. E 8 i
Frey, Walter 188.
Brockhaus 191. Friedjung, Josef K. 77. K.
Brod, Max 205. Fröbes. J. 88. i
Bruchmann, K. 84, 86, 87, i Karwath, Juliane 97.
88, 89, 91, 98, 99, 100, G Kaupe 195.
101, 197, 198, 199, 205. Garré 319 ` Keller, A. 76, 818.
Brugsch, Th. 1, 102, 104. | Farre 819. ı Kessler, Gerhard 320.
Bucher, Helene 325 Gerster, Matthäus 97. i Keyserling, Hermann 191.
Buchn ai Eberhard 94 v. Gleichen - Russwurm, Kiffner, Fritz 369.
Bukofzer, E. 52, Alexander 199. Klages, Ludwig 82.
Bumke, Oswald 88. Goodell 313. Kleist, H. v. 98.
Greil, Alfred 309, 355. Koch, Rich. 71.
C. — ar 13. Köhler, Robert 393.
Caspary, Anna 99. Grotjahn 187. — Ce a 83.
Chamberlain, Anna 99. Günther, Adolf 320. Kosmak, Geo. W. 314.
— Houston Stewart 99. |— Hans F. K. 197. v. Krafft-Ebing 39,
Clark, John G. 313. Gutberlet, Constantin 191. Kronfeld 76, 91, 92. 102
Cohn, Georg 83. Guthmann 317. 189, 194. 207. ` i
Croce, Benedetto 191. Kuhn, Robert 815.
Czerny, Ad. 76. H. Küster 195.
D Haberlandt, L. v. 309. | Küttner 319.
: Halban 185, 317. L
Dickinson 314. Haring 95. `
Diepgen 192. Harnik, J. 199. Lahm, W. 18.
Dreyer 813. Hart 70. Laqueur 317.
Driesch, H. 89. Haustein, Hans 188. Lehmann, Gerh. 89.
398
Lenz, Fritz 70, 318.
Levy, Fritz 71, 77. 78, 103.
Lexer 319.
Lindemann, Walter 94.
Lönne 313.
Lorenz 320.
M.
Mamlock, G. 94.
Marcuse, Max 75.
Marquardt, Marta 205.
Mayreder, Rosa 82.
Messer, August 98.
Moll, Albert 322.
Moszkowski, Ad. 100.
— Alexander 203.
Mulert, Hermann 205.
Müller-Lyer, F. 100.
N.
Neureiter, F. v. 331.
Norris 313.
Novalis 98.
O.
Ostwald, Wilhelm 191.
P.
Payr 820.
Peritz 103.
Petren 320.
Placzek 72, 73, 75, 200, 201,
202, 203, 325, 326, 391,
894.
Posner, Carl 105, 206, 208,
327.
Prange, Franz 343.
Namenverzeichnis.
R.
Rank, Otto 202.
Ratzka, Clara 97.
Rehn 320.
Keifferscheid 313.
v. Reitzenstein 190.
Rosenberger, Karl 94.
Rössle, Robert 322.
Rutgers, J. 81.
S.
Sachs, E. 94, 187, 189, 319,
393, 394
Scheidt 70.
Scheuer, O. F. 205, 280.
Schittenhelm, A. 188.
Schlegel, Dorothea 95.
— Friedrich 9.
Schleiermacher 205.
v. Schlözer, Dorothea 96.
— Leopold %
Schmidt 191.
Schmorl, GG. 192.
Schopen, Edmund 93.
Schultz, Jul 86.
Schumann 313.
Schuster, Julius 206.
Schwalbe, J. 191.
Rn L. 94, 95. 185, 192,
17.
Sellheim, Hugo 215.
v. Seuffert, E. 192.
Sigerist, N. G. 320.
Spehlmann, Felix 136.
Stabel 104.
Stanley, J. L. 77.
Stöckel, W. 188.
SEN Marie Carmichael
| Strassmann, F. 208.
: Strohmayer, Wilhelm 194.
T.
Tendeloo 8320.
Theilhaber, Felix A. 263.
Thoreck, Max 77.
Tolstoj, Leo N. 89.
Tugendreich, G. 76, 77.
U.
Unger, Rud. 98.
V.
Vaerting, M. 92, 192.
Vierkandt, Alfred 84.
Vogelstein, Julie 96.
ı Vorberg, Gaston 194.
W.
Waibel 192.
| Walthard 317.
Walther 192.
Wehrli, G. A. 320.
Weil, Arthur 23.
Westenhöfer, M. 93, 192,
193, 194, 239.
Wiener, Adele 193.
Wée Tae 393, ?94
Witkop, ilipp 98.
Wolf, Walter 204.
Wolff, Kuıt 156.
Z.
Zanders, Marie 99.
Zawudowsky, M. 78.
Ziegler, Leopold 191.
Ziehen, Theodor 191.
Ziehmann, H. 194.
Zondek, Hermann 189.
Sachverzeichnis.
`
A.
Abderhaldensche Blutuntersuchung 229.
Abortfrage, Stimmen des Auslandes 313.
Altern, Einfluss der endokrinen Hor-
mone 13l.
— und Wachstum 322.
Anatomie und Physiologie (Bibliographie)
280.
Anthropologie (Bibliographie) 299.
Arzt, Berechtigung zur temporären ovari-
ellen Sterilisierung 309.
— und Kurpfuscher Y4.
Attraktion, erotische 389.
Aufbiss 249.
Auslese und Rassenbygiene 70.
Auswärts-Klinodontie :44.
B.
Basalplatte 246.
Basalpyramide 252.
Basaltetraeder 252.
Bauch, Chirurgie desselben 319.
Becken, Einblick 234.
Beckenform, Kausalanalyse 391.
Berlin, Geburtenauflösungsprozess 263.
Bevölkerungsfrage der farbıgen Rassen
94.
— Stimmen des Auslandes 313.
Bevölkerungswissenschaft und Gesell-
schaftshygiene 320.
Bibliographie 280.
SE Theodor, in Zürich (1860—1867)
320.
Biogenetisches Grundgesetz 255.
Biologie, Physiologie, Pathologie, Be-
griffsbestimmung 315.
Braun, Lily 96.
Briefwechsel von Friedrich und Dorothea
Schlegel 95.
— Schleiermachers 205.
Brunst, periodische 14.
Brustdrüsen, Aplasie 222.
C.
Cäsaren, Frauen derselben 96.
Chamberlain, Houston Stewart, Erinne.
rungen seiner Gattin 99.
|
|
Charakter, Aufbau desselben 339.
Charakterologie, rationale 389.
Chirurgie, praktische 319.
Chrysophrys, Kiefer 245.
Crocodilus niloticus 243.
D.
Denken, ärztliches 71.
— und Wissen 89.
Diagnostische Technik für die ärztliche
Praxis 191.
Dichter, Frauen im Leben deutscher 98.
Dorsch, Kiefer desselben 241.
Dıüsen, Krankheiten der endokrinen 189.
Dystrophia adiposugenitalis 130.
E.
Ehe, Hygiene 94. `
— Reform 93.
—- und Liebe, moderne Gedanken 72.
‚ Ehrlich, Paul, als Mensch und Arbeiter
ne ee a en — — — —
205.
Eierstocksstöruneen 217.
Ererstockstransplantation 232.
Eifersuchtswahn 205.
Einwärts-Klinodontie 244.
Entartung und Kultur 88.
Epithelkörperchen, Ausfall 128.
Erbkunde, moderne und Geschlechts-
bestimmung 156.
Ernährung des Kindes 76.
Eros, kosmogonischer 82.
Es, psychoanalytische Briefe 73.
Ethik und Soziologie 83,
Ethnologie (Bibliographie) 299.
Eugenetik (Bibliographie) 285.
Eunuchoiden, Lebensschicksale 212.
-— Merkmale 29.
Europäer, Schädei 249.
F.
Familienanthropologie 70.
Familienforschung, Bedeutung der ein-
eiigen Mehrlinge 369.
Familıenkunde, naturwissenschaftliche,
Einführung 70.
Familienuntersuchungen nach der Wein-
bergschen Methode 173.
400
Fettsucht im Klimakterium 133.
Fettwuchs, eunuchoider 212.
Fortpflanzung, Weisheit in derselben 394.
Frauen der Cäsaren 96.
— geschlecht-kalte 210.
— Konstitution und ıbre Beziehungen
zur Geburtshilfe und Gynäkologie 387.
— im Leben deutscher Dichter 98.
— sexuelle Träume (Pullutionen) 60.
Frauenberufe (Bibliographie) 303.
Frauenbewegung (Bibliographie) 303.
Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Hand-
buch 185.
Frauenstaat, männliche Eigenart darin
92.
Fünflingsgeburten, Sammelreferat 369.
6.
Gadus morrbua 241.
Gebundenheit, psychophysische 1.
Geburtenauflösungsprozess in Berlin 263.
Geburtshilfe, Leitfaden der praktischen
192.
Gehirn und Seele 81.
Gehirntier 259.
Genitalien eınes Hermaphroditen 130.
— eines Kastratoiden 223.
Gerichtliche Medizin unu Konstitutions-
lehre 331.
Geschichte der Medizin 192.
Geschiecht und Entwicklung der Ge-
schlechtsmerkmale 78.
— und Kultur 8.
— und Persönlichkeit 1.
Ge.chlechterpsycholugie, Wahrheit und
Irrtum 192.
Geschlechtsbestimmung, moderne Auf-
fassung 177.
— und moderne Erbkunde 156.
Geschlecht»bildung und Nebennieren-
rinde 136.
Geschlechtsmerkmale, Entwicklung der-
sılben 78.
Geschlechtsverkehr, ärztlich wichtige
Rechtsbeziehungen des ehelichen 203.
Gesellschaft, für Sexualwissenschaft und
Konstitutionsforschung 102, 206.
Gesellschaftshygiene 320.
Geselischaftslelhre 84.
Gorilla, Unterkiefer 244.
H.
Hai, Kiefer desselben 241.
nen Leitfaden für die Prüfungen
Hebridologie, Thesen 80.
Hermaphrodit. Genitalien 130.
Hermaphroditismus, neuere
ungen 348.
Herz und Schwangerschaft 18“.
Hochwuchs, eunuchoider 213.
Hoden, Zwischenzellen 13.
Anschau-
mm mm EE EE — — — — — — — — — — — — —
Sachverzeichnis.
Hodensubstanzimplantationen 77.
Hodentransplantation. neue Methode 77.
Homoiotransplantation bei Hypovaris-
mus 233.
Homosexualität, angeborene 23.
— heredofamiliäres Vorkommen 168.
— Jahrbuch 208.
— Vererbung 173.
Hormone, endokrine, Einfluss auf die
Konstitution in den verschiedenen
Lebensaltern 117.
Hüftbreite bei Homo- und Heterosexu-
ellen 34, 85, 37, 38.
Hydrotherapie 317.
Hygiene der Ehe 94.
— soziale 187.
Hymenvirgines, sexuelle Träume 62.
Hypophyse, Ausfall 129.
1.
Ich, Weg dazu 91.
Indikation, eugenetische 321.
Inseln der Weisheit 100.
Intersex 102.
Intersexualität und moderne Auffassung
der !seschlechtsbestimmung 177.
— männliche 161.
— weibliche 160.
— Ursprung beim Menschen 156.
J.
EE für sexuelle Zwischenstufen
Jungfrauen, Pollutionen 61.
K.
Kastratentypus des Skeletts 226, 227.
Kastratiouskomplex, Genese des weih
lichen 75.
Kastratoid, echter weiblicher 215.
— Röntgenbild der Hand 216.
Kind, Ernährung, Ernährungsstörun:en
und Ernährungstherapie 76.
— und Mutter, Ratgebar 195.
— Bedeutung seiner Sexualität für Eı
ziehung und ärztliche l'raxis 77.
Kindesalter, Psychopathologie 194.
Kinn, Entstehung und antbropologische
Bedeutung 239, 240, 250.
Kinndreieck 251.
Kınnknöchelchen 251.
Kinntetraeder 251.
Klimakterium, Fettsucht 133.
Konstitution, Einfluss der endokrinen
Hormone 117.
Konstitutionsforschung, klinische, na-
turwissenschaftlıche Grundlagen 355.
Konstıtutionslehre und gerichtliche Me
dizin 331.
Konstitutionspathologie 70.
Konversationslexikon, Brockhaus’ 191.
Körperbau und Menschwerdung 391.
Sachverzeichnis.
Krankenhausschwester 94.
Krankenpflege, Leitfaden 9.
Krankenpfleger 94.
Krankheiten der endokrinen Drüsen 189.
— soziale Beziehungen 187.
Krankheitsbereitschaft 319.
Kritiken 70, 185, 317, 387.
Krokodil, Unterkiefer 243.
Kryptorchismus 14.
Kultur und Entartung 88.
— und Geschlecht 82.
— und Natur, Entstehung und Wesen
133.
Kulturgeschichte (Bibliographie) 304.
Kunst (Bibliographie) 304.
Kurpfuscher und Arzte 94.
L.
Leben und Liebe, neue Horizonte 73.
— nach dem Tode 91.
Lebensalter, Einfluss der endokrinen
Hormone auf die Konstitution 117.
Lebensbilder s. Braun, Lily und Doro-
thea von Schlözer.
Lebensenergie und Sexualleben 81.
Leib und Seele 87.
Le Moustier-Mensch 257.
Libido,Entwicklungsgeschichte aufGrund
der Psychoanalyse seelischer Stö-
rungen 325.
Liebe, körperliche und seelische 201, 326.
— Kritik der verliebten 199.
— und Ehe, moderne Gedanken 72.
— und Leben, neue Horizonte 73.
Liebesleben in deutscher Vergangenheit
198.
Literatur [in iegrapbie) 304.
— eugenetische, Bibliograpbie 190.
M.
Macacus, Unterkiefer 244.
an Röutgenbehandlung
393.
Männerstaat, weibliche Eigenart darin 92.
Medızin der Gegenwart in Selbstdar-
stellungen 320.
— Geschichte derselben 192.
— philosophische Grundlagen 71.
Medizinalstatıstik (Bibliographie) 285.
Melhrlinge, eineiige, Bedeutung für die
Familienforschung 369.
Mehrlingsgebaurt,
369
Menschheitsrätsel 196.
Menschwerdung und Körperbau 391.
Mitteilungen 212.
Morphogenese, Thesen 80.
Mülier-Lyer, als Soziolog und Kultur-
philosoph 100.
Mutter und Kind, Ratgeber 195.
Ee Herz und Handskelett |
123.
Entstehungsursachen |
401
N
Narzissmus bei Mann und Weib 199.
Natur und Kultur, Entstehung und
Wesen’ 193.
Naturphilosophie, Grundprobleme 89.
— als Vorläufer der Konstitutions- und
Sexualforschung 105.
Naturvölker, Das Weib bei ihnen 190.
Neanderthal-Rasse 257.
Nebennirre, Hypofunktion 131.
Nebennierenrinde und Geschlechtsbil-
duug 136.
Neger, Schädel 248.
Neosex 18
Neugeborene, Grundsätzliches 93.
Neurastheuie, sexuelle 8I.
Nietzsche, der einsame 99.
— als Student 205.
— Zarathustra. Erläuterungen 98.
Novotestal 18.
O
Oberlänge und Unterlänge bei Homo-
und Heterosexuellen 36, 37, 39.
Okkultismus und Strafrechtapflege 201.
Operationssaal, chirurgischer 95.
Orgasmus 66.
Orthodontie 247.
P.
Pädagogik (Bibliographie) 296.
Pagrus-Pagrus, Kıefer 245.
Pakuü, Kiefer 248.
` Pathologie (Bibliographie) 288.
— — — — — —
— soziale 187.
Persönlichkeit und Geschlecht 1.
Philo-ophie (Bibliographie) 296.
— er Gegenwart in Selbstdarstellungen
1
— am Scheidewege &6.
Physiologie (Bibliographie) 280.
Piaractus brachypomus 248.
Pithekoide 257.
Pollutionen bei Frauen 60.
Posner, Zum 70. Gehurtstag 327.
Prionodon oxyrhynchus 241.
Progerie 134.
Progonismus 260.
Psychiatrie (Bibliographie) 292.
‚ Psychoanalyse 73.
`
i
1
l
— Entwickiungszıele 202.
— seelischer Störungen 325.
Psychologie (Bibliographie) 292.
, — experimentelle 88.
Psychomodalität 390.
Psychopatbia sexualis 322.
Psychopathologie des Kindesalters 194.
Psychotherapie 317.
Python reticulatus 242.
R.
— Bevölkerungsfrage der farbigen
194,
402 Sachverzeichnis.
Rassenhygiene und menechliche Aus-
lese 70.
Rassenkunde des deutschen Volkes 197.
Reform der Ehe 93.
Riese mit mässigem Hypotonus 125.
Riesenschlangen, Gebisse 242.
Riesen wuchs mit Zirbeldrüsenerkrankung
126.
Riesin mit akromegalem Typ 125.
Romane 97, 98, 205.
Rundschau, wissenschaftliche 309.
S
Sargus Capensis, Gebiss 245.
Scheide eines Kastratoiden 224.
Scherenbiss 249.
Schimpansenkınd 251.
Schleiermacher, ausgewählte Briefe 205.
Schlözer, Dorothea von 96.
Schulterbreite bei Homo- und Hetero- |
sexuellen 33, 35, 37, 38.
Schutzengel oder Würgengel 93.
Schwangerschaft, biologische Probleme |
189.
— und Herz 188.
Schwestern-Lebrbuch 94.
Seele und Gehirn 81.
— und Leib 87.
Seelenleben, weibliches 91.
Sexualempfindung, konträre 16, 322.
Sexualität, kindliche, ihre Bedeutung für
Erziehung und ärztliche Praxis 77.
— morphologische Grundlagen nach tier-
experimentellen Untersuchungen 13.
— und Suggestion 52.
Sexualleben, als Hauptfaktor der Lebens- Ä
energie 81.
Sexualpsychologie 52.
Sexualwissenschaft, Handwörterbuch 75.
Skelettbau einer normalen Frau 226.
-~ Kastratentypus 226.
Sozialbiologie 320.
Sozialhygiene (Bibliographie) 285.
Soziologie (Bibliographie) 301.
— und Ethik 83.
Spermatogenese, Vernichtung 15.
Standlänge beiHomo-undHeterosexuellen
35, 36, 39, 44.
Stationsschwester 94.
Statistik (Bibliographie) 301.
Status thymico-lymphaticus 70.
Steinach Operation 77.
Steinachscher Versuch 18.
Sterilisierung, temporäre ovarielle, Be-
rechtigung des Arztes 309.
Strafrechtspflege und Okkultismus 201.
Suggestion und Sexualıtät 52.
Syphilis, Salvarsanbehandlung 392,
— Ursprung derselben 194.
T.
Tagebuch Tolstojs 89.
Theroide 257.
Theromorpbe 257.
Thymus, Hyperfunktion 128.
‘Tiere, Analyse der Formenbildung 78
— periodisch brünstige 14.
' 'Yod, Leben danach 91.
Todesproblem ım Denken und Dichten
von Sturmund Drangzur Romantik 9%,
Transitologie als Wissenschaft der Über-
gänge 193.
Träume, sexuelle bei
tionen) 60.
Frauen (Pollu-
U.
Untergang der antiken Zivilisation 95.
Untersuchungsmethoden, pathologisch-
bistologische 192.
Uterus, hysterische Erscheinungen 200.
— Karzinom, Röntgenbehandlung 3%.
A,
Vaginismus 210.
Venus von Bassompiere 261.
Venuspark 203.
Vererbungslebre (Bibliographie) 282.
Verhandlungen der ärztlichen Gesell.
schaft für Sexualwissenschaft und
SE EE in Berlin 1u2,
206. |
Volkskunde (Bibliographie) 299
Vorgeschichte (Bibliographie) 299.
W.
Wachstum und Altern 322,
Wassersäugetiere 260.
Weib, Biologie und Pathologie 185, 317.
— bei den Naturvölkern 190.
Weibtum, Führer zu wahrem 97.
Wieland - Roman (der galante Stadt-
schreiber) 97.
Wissen und Denken 89.
Wissenschaft der Übergänge 193.
Wissenschaftliche Rundschau 809.
Wochenbettfieber, Therapie 393.
Würgengel oder Schutzengel 93.
Z.
Zanders, Maria, das Leben einer bergi-
schen Frau 99.
Zirbeldrüse 132.
Zivilisation, Untergang der antiken 95.
Züricher Medizingescbichtlicbe Ab-
handlungen 320.
Zwischenstufen, Jahrbuch für sexuelle
203.
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Zur Bsiksnreich erung, Züe Verhörung der Rhachitis, Sovis:
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