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Full text of "Archiv für Frauenkunde und (Eugenetik, Sexualbiologie und) Konstitutionsforschung 9.1923-10.1924"

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ARCHIV 


FÜR 


FRAUENKUNDE 


UND EUGENETIK/ 
SEXUALBIOLOGIE UND 


KONSTITUTIONSFORSCHUNG 


UNTER STÄNDIGER MITARBEIT VON 


Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Anton, Halle; Prof. Dr. Baisch, Stuttgart; Prof. Dr. Bärsony, 
Budapest; Dr. Marie Bernays, Mannheim; Dr. Agnes Bluhm, Lichterfelde ; Prof. 
Dr. Brandt, Kristiania; Prof. Dr. Broman, Lund; Prof. Dr. Bucura, Wien; Prof. Dr. 
Devoto, Mailand; Geh. Ober-Med.-Rat Prof. Dr. Dietrich, Vortr. Rat i. Minist. d. 
Innern, Berlin; Havelock Ellis, London; Prof. Dr. Eugen Fischer, Freiburg i. Br.; 
Prof. Dr. H. Freund, Frankfurt a. M., Prof. Dr. Füth, Köln; Rudolf Goldscheid, 
Wien; Prof. Dr. Grotjahn, Berlin; Prof. Dr. Haecker, Halle; Prof. Dr. K. Hegar, 
Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Henkel, Jena; Prof. Dr. Hoehne, Greifswald ; Prof. Dr. 
von Jaschke, Giessen ; Privatdozent Dr. Kammerer, Wien; Obermedizinalrat Prof, 
Dr. E. Kehbrer, Dresden; Prof. Dr. Kermauner, Wien; Prof. Dr. Knauer, Graz; 
Geh, Rat Prof. Dr. Kossinna, Gross-Lichterfelde; Prof. Dr. Külz, Altona; Geh. 
Hofrat Prof. Dr. v. Lilienthal, Heidelberg; Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Martius, 
Rostock; Prof. Dr. A. Mayer, Tübingen; Geh. Hofrat Prof. Dr. Menge, Heidelberg; 
Prof. Dr. Mombert, Freiburg i. Br.; Geh. Hofrat Prof. Dr. Opitz, Freiburg i. B.; 
Dr. Placzek, Berlin ; Prof. Dr. Polano, München: Prof. Dr. Poll, Berlin; Geh. 
Med.-Rat Prof. Dr. Posner, Berlin; Sanitätsrat Dr. Prinzing, Ulm; Prof Dr. 
Reifferscheid, Göttingen; Dr. Barbara Renz, Breslau; Dr. Rohleder, Leipzig ; 
Prof. Dr. Sergi, Rom; Geh. Hofrat Prof. Dr. Seitz, Erlangen; Geh. Med.-Rat 
Prof. Dr. Sellheim, Halle a, S.; Geh. Med.-Rat Prof, Dr. Sommer, Giessen; 
Prof. Dr. Spann, Brünn; Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Sudhoff, Leipzig; 
Prof. Dr. Stratz, den Haag; Prof. Dr. Strohmayer, Jena; Prof. 

“Dr. Tandler, Wien; Hofrat Dr. Theilhaber, München; Prof. Dr, 
Westermarck, Helsingfors; Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Winter, 
Konigsberg; Prof. Dr. M. Winternitz, Prag ; Prof. Dr.Wyder, 

Zürich; Ministerialrat Prof. Dr. Zahn, München: Prof. Dr. 
Zangemeister, Marburg a. L.; Prof. Dr. Ziemke, Kiel. 


HERAUSGEGEBEN VON 


DR MAX HIRSCH 


BERLIN 


BAND IX 





LEIPZIG - VERLAG VON CURT KABITZSCH 


— 





Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten. 


Druek der Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G.. Würzburg. 


Inhalt des IX. Bandes. 


Originalarbeiten: 


Elster, Dr. Alexander, Eugenetische Lebensbeseitigung 

Greil, Prof. Dr. Alfred, Keimesfürsorge . 

Hirsch, Dr. Max, Sexualwissenschaft und — —— 

— Nachruf auf Iwan Bloch 

Kraus, Prof. Dr. Fr., Geschichte und Wesen des Konetitationeptobleme 

Krische, Dr. P., Zur Soziologie des Geschlechtslebens 5 

Mathes, Prof. Dr. Paul, Die Ba der Soxualkonstitution für die 
Gynäkologie K a 

Mühsam, Prof. Dr. Richard, Die ‘Sexualkonstitution. in der Chirursis 

Oppenheim, Dr. Stefanie. Die sekundären Geschlechtsmerkmale am 
menschlichen Schädel . $ 

Peritz, Prof. Dr. G., Über die Wechselbeziehungen von Keimdrisen SE 
Nervensystem 

Posner, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. C., Die Bezualkonstitution ı in der Andrologie 

Weil, Arthur, Sexualwissenachaft und Sexualreform in den Vereinigten 
Staaten . 


Wissenschaftliche Rundschau: 


RassenhygieneundGeburtenregelung. Von Dr. Helene Stöcker 

Sexual-hygienische Bedeutung der Prostituierten-Tuberku- 
lose. Von Dr. W. Samson 

Diagnose und Therapie der Sterilität. Von Dr. E H. Pirkner 

Erfolgreiche Transplantation von Affentestikeln auf den 
Mann, mit Darstellung der histolog. Beobachtungen. 
Von Dr. E. H. Pirkner . . . peg 

Versuche der Bestimmung der Kbnutzung des Seiblichen Or- 
ganismus im Zusammenhang mit der Geburt und der 
allgemeinen Konstitution. Von Dr. Bublitschenko . 


DasFrauenproblem inkommunistischen Gemeinwesen älterer 


und neuerer Zeit. Von Margarete Weinberg . 

Ab- und Entartung der Konstitution durch Deet 
nosen und Keimesfürsorge. Von Prof. L. Haberlandt 

Zur Wertung von Deszensus und Prolaps bei der ländlichen 
Arbeiterfrau. Von Dr. Hans Kritzler 

Entstehung der geschlechtlichen mt Von Prof. Dr 
C. Fries ae aan Tante al Be de et ee ee Sr Ze a rt 


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Seite 
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201 


204 


IV Inhalt des IX. Bandes. 


Sexualwissenschaftliches Beiheft: 


Barth, E., Geschlecht und Stimme . ; 

Crzellitzer, Über die zn der r Göburtenreihenfolge für die Qualitat 
der Kinder . ; 

Hirsch, Dr. Max, Mitteilungen aus einem Sch wurserichläverfahtenn — 
einen Arzt wegen Fruchtabtreibung und fahrlässiger Tötung 

Hartmann, Die biolog. Grundlagen der Sezualkonstitution . i 

Hirschfeld, Über Intersexualität beim Menschen 

Hübner, Sexualkonstitution und Rechtsleben 

Krische, Zur Soziologie des Geschlechtslebens — 

Kretschmer, Über die psychologischen Grundlagen der Besuälkönsiitutich 

Kronfeld, Die Bedeutung der Untersuchungen von Ernst Kretschmer 
über Körperbau und Charakter für die Sexualwissenschaft . 

Derselbe, Zusammenfassender Bericht der non über Konstie 
tution und Sexualität . ; 

Thomalla und Kronfeld, Filnrdokumente zur Sesualwissenschaft 


Verhandlungen der ärztlichen Gesellschaft für Sexual- 


wissenschaft und Eugenetik in Berlin . . . . . 148, 


Seite 
143 


221 
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217 
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Wissenschaftliche Randechau, 


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wird mit äusgezöchnetem. Tiie. angéwandat bei: Hypoplasie der Mamma, ; 
‚des Ulerus, dertlituris, Beschwerden das Klimakteriums, Hysterie, 
"Betisdischer Migräne, Frigieität. Bchwäche- und Erschöglings- 
zuslände serunllen, Ursprungs; Chloröse, Ainenorrhoe, Stoft. ` 
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Iwan Bloch 7. 
Ein Nachruf‘), 


Wir stehen an der Bahre eines Mannes, von dem man mit ge- 
rechtem Urteil sagen darf, dass er den Besten seiner Zeit genug 
getan. Iwan Bloch, dessen sterbliche Hülle wir heute begraben, 
hat nicht nur für die Gegenwart gelebt. Sein Werk, gross und ab- 


geschlossen, wurzelt in der Vergangenheit und strahlt in die Zukunft. 


Mit dem Instinkt des Forschers hat er auf den Wissensgebieten, die er 
betrat, Wertvolles und Bleibendes geschaffen. Mochte er am Ausbau 
desjenigen Gebietes arbeiten, dem er Namen und Inhalt gegeben 
hat, der Sexualwissenschaft, mochte er den forschenden Geist rück- 
wärts richten in die Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin 
oder mochte er als Freund der Bücher sich in Druckwerke und 
Urkunden vertiefen. 


Alles geben die Götter, die Unendlichen 
Ihren Lieblingen ganz. 

Alle Freuden, die unendlichen, 

Alle Schmerzen, die unendlichen ganz. 


In diesem Sinne darf Iwan Bloch ein Liebling der Götter 
genannt werden. Mitten auf das lange schmerzenreiche Kranken- 
lager der letzten Wochen sind ihm die reichen Freuden des 50. Ge- 
burtstages gelegt worden, an dem ihm Freunde und Vertreter der 
Wissenschaft gesagt haben, was er ihnen bedeutet. Das zu wieder- 
holen, ist hier nicht der Ort. Heute gilt es Abschied zu nehmen 
und ihm Dank mitzugeben in die Gründe der Ewigkeit. Den Dank 
seiner Freunde und den Dank der Wissenschaft, welche verhüllten 
Hauptes an seiner Bahre trauert. Max Hirsch, Berlin. 


1) Gesprochen an der Bahre des Toten am 23. November 1922. 


Arehiv für Frauenkundo. Bd. IX. HA. 1. l 


Keimesfürsorge. 


Von 
Prof. Dr. Alfred Greil, 


Innsbruck. Anatomie. 


Unermesslich ist die Belastung und Schädigung des Volks- 
körpers durch die angeborenen Erkrankungen und krankhaften Zu- 
stände, die Hemmungs- und Fehlbildungen, Wucherbildungen und 
Gewächse, Geistes- und Sinnesstörungen, das artwidrige 'Triebleben, 
die Schwächezustände aller Art, die gesteigerte Anfälligkeit und Ge- 
fährdung für Krankheitserreger und Vergiftungen der Nachkommen 
gesunder Eltern. Unsummen von Volksvermögen werden für die 
Aufzucht, Pflege und Bewachung dieser geistig und körperlich ver- 
krüppelt mit abnorın entstandenen oder in vollendetem Zustande ge- 
schädigten Organen geborenen, langsam dahinsiechenden „Kultur- 
menschen“, der Gesellschaftsfeinde und gefährlichen Menschentypen 
geopfert. Unrettbar sind die zu spät in ärztliche Behandlung kommen- 
den, in tiefer Bewusstlosigkeit von Krämpfen durchtobten, noch voll- 
kräftigen oder durch unstillbares Erbrechen und dauernden Speichel- 
fluss — bis 2 Liter pro Tag — ganz verfallenen, blutleeren oder 
durch Gehirnblutung plötzlich bedrohten, infolge von Netzhaut- 
blutungen dauernd erblindeten, vollkommen gelähmten, halluzinie- 
renden, gesund in. die Ehe getretenen Hochschwangeren oder die 
frisch, auffallend leicht entbundene, bedrohliche Verschlimmerung der 
Beschwerden aufweisende Gattin eines vollkräftigen Mannes, die 
Tochter gesunder Eltern, die Schwester gesunder Geschwister. Un- 
erschöpflick mannigfaltig sind die Leichenbefunde, die schweren 
Schädigungen der Stoffwechselorgane, der Leber, Niere, Nebenniere 
und Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse und Milz, des Herzmuskels 
und Gehirns bei Mutter und Kind. — Um so dringlicher und nutz- 
bringender werden die Aufwendungen für die Aufdeckung nnd Ver- 
hütung so schwerer Familienübel, solch sozialen Auswurfes, der 
Verluste an sozialer Arbeitsfähigkeit werden. Diese wichtigsten sozial- 
hygienischen Vorkehrungen der Vererbungshygiene können nicht 


2] Keimesfürsorge. 3 


rasch und grosszügig genug ins Werk gesetzt werden, weil sie zu- 
gleich blühende Mütter, gesunden, artgemässen Keimzellen entsprosste 
Keimlinge, die entstehenden Keimdrüsen der Früchte wie die Eizellen 
der Mütter zu schützen haben. | 

Die Befunde an den ausgestossenen Keimlingen der ersten 
Wochen, älteren Fruchtsäcken, an den in allen Entwicklungsstuien 
mit der mannigfaltigsten Ab- und Entartungen der Keimblätter und 
Fruchtanhänge, Organschädigungen Frühgeborenen, an den überkräftig 
entwickelten, hilflos dahingerafften Säuglingen, den nach kurzem 
fabelhaftem Aufblühen verfallenden, oder nach wenigen Monaten 
normalen Gedeihens erblindenden, vollkommen erlahmenden, in tief- 
ster Verblödung verfallenden, geradezu verendenden Kindern hoch- 
stehender Kulturmenschen, die Leichenbefunde an den in allen 
Schwangerschaftsmonaten von der dritten Woche an jählings oder in 


: schleichendem Siechtume nach schwerem Leidenswege der Schwanger- 


schaftsvergiftung erlegenen Mütter weisen eine unerschöpfliche 
Mannigfaltigkeit auf. Das erste, alamierende Auftreten dieser Ab- 
und Entartungen, der erstmalige Erwerb der artwidrigen Entwick- 
lungsbedingungen muss verhütet werden, denn vererbte Folge- 
erscheinungen dieser verhängnisvollen erworbenen Eigenschaften 
können bestenfalls nur eingedämmt werden. 
Schwangerschaftsvergiftungen entstehen durch übermässige 
Wucherung der in die Gebärmutterschleimhaut eingebetteten Keim- 
blasenwand, des Trophoblast. In diesem beispiellosen Nährboden 
treibt dieses winzige (0,5 mm) rasch sich vergrössernde Bläschen 
nach allen Richtungen Sprosse vor, wurzelt sich ein, zerreisst das 
umspinnende Blutgefäss-Kapillar-Netz. Alle diese radienartig sich 
plump verästigenden, durch Querbalken verbindenden und schwarm- 
artig perifer auflösenden Fortsatzbildungen bringen das umgebende 
durchwucherte Gewebe zum Zerfalle, eröffnen Blutgefässe, so dass 
die Keimblase des Menschen zum Unterschied von sämtlichen Säuger- 
keimen von vielen Haftzotten gehalten in einem langsam durch- 
rieselten mütterlichen Blutbade schwimmt. Wie die nackte Keim- 
blasenwand und die Zottengrenzschichte — der Trophoblast — ins 
Keimblaseninnere ein zähflüssiges, quellendes, milchglasartig durch- 
scheinendes, beim Kochen dicht ausfallendes Lösungsgemisch — 
Trophoplasma — abscheidet, so produzieren auch jene 'soliden 
äussersten, noch nicht von fötalen Blutgefässen durchzogenen Aus- 
wüchse dasselbe Gemisch. So vorteilhaft das zähflüssige Nährlösungs- 
gemisch für den Aufbau und die freie Raumentfaltung, den Ober- 
flächengewinn des Keimlinges ist, so schädigend wirkt eine über- 
mässige Einmischung dieses für eine erwachsene Mutter vollkommen 
1* 


4 Alfred Greil. [3 


blutfremden, altersfremden, geschlechts und individualfremden 
Lösungsgemisches in die mütterliche Blutbahn. Wie sich der Darm 
auf ungewohnte Nahrung einstellt, so verarbeiten auch die blut- 
bildenden Organe der Mutter diese von den noch nicht von den 
fötalen Gefässen durchzogenen Spitzen- und Wurzeltrieben der sich 
verzweigenden und vermehrenden Zotten abgeschiedenen zustands- 
fremden Stoffe, insbesondere Schleim und schleimige Substanzen von 
hoher Quellbarkeit. Wenn aber von unzähligen, frei flottierenden, 
unförmig gestalteten Zottenauswüchsen, die beim Spitzenwachstuın 
nicht aufgebraucht werden, von wurzelartig die Schleimhaut durch- 
wühlenden, mütterliche Gefässe umscheidenden und eröffnenden Aus- 
wüchsen, Tapeten und Wandverdickungen der mütterlichen Blut- 
räume beständig, schliesslich von einer Fläche von 4 Quadratmeter 
diese quellenden Stoffe eingemischt werden, so versagen die akti- 
vierten mütterlichen blutbildenden Organe. Der Eintritt dieser 
quellenden Substanzen in die Grenzschichten von 26 Billionen mütter- 
licher Zellen, in vollausgebildete Gehirn-, Leber-, Nieren- und Gefäss- 
zellen steigert in kleinen förderlichen Dosen den Umsatz; auf die 
Dauer verlieren jedoch die Zellen die Herrschaft über ihre Ein- und 
Ausfuhr und es kommt gerade an den am meisten beschäftigten und 
beanspruchten Stoffwechselorganen zu schweren Schädigungen des 
Zellstoffwechsels. Für einen zu fast 96% aus Wasser bestehenden 
Embryo, einen sich rasch verzweigenden Zellenstammbaum, für so 
oft wiederholte Zellteilungen ist die Zusammensetzung des quellenden 
.Trophoplasmas ebenso nutzfähig, wie für erwachsene, besonderen 
Einzelverrichtungen angepassten Gewebszellen und teilungsunfähig 
gewordene Zellarten schädlich. In vielen Fällen flocken sich die 
eingemischten Trophoplasma- und die Blutkolloide gegenseitig aus; 
es kommt je nach der stets verschiedenen Zusammensetzung und 
Zusatzgeschwindigkeit des Trophoplasmas zu Ausfällungen in der 
Blutbahn, zu schweren Ernährungsstörungen, welche namentlich in 
der Leber und Niere grosse Verheerungen anrichten können. Die 
Leber sondert zu zähflüssige Galle ab, diese wird in den feinsten 
Gallenwegen eingedickt; es bersten diese Haargefässe und das Blut 
wird durch Monate mit Gallensäuren und gallensauren Salzen über- 
mässig beladen. Es quellen die Zottenbüschel in den Kapselräumen 
der Niere und verlegen die Ursprungstätten der Harnbildung; es leidet 
die Ernährung der Nierenschläuche; die Niere versagt in schleichend 
zunehmendem Masse, bis die bedrohliche Zurückhaltung harnfähiger 
Stoffe zu völliger Harnlosigkeit führt. Der Eintritt quellender 
Kolloide verändert die Durchlässigkeit sämtlicher Zellstrukturen 
insbesondere aber der Leber und Nierenzellen für Zucker; — durch 


4] Keimesfürsorge. 5 


Nebennierenreizung gesteigert. Am gefährlichsten werden aber 
für das Kind die Trümmer der mitten aus gesteigerter Tätigkeit durch 
Ernährungsstörungen oder direkte Zellschädigungen teilweise zer- 
fallenden mütterlichen Stoffwechselorgane. Die Leber wird auf die 
Hälfte eingeschmolzen, fettig entartet befunden ; Nieren-, Nebennieren-, 
Speicheldrüsen-, Haut- und Milchdrüsen-, Gehirntrümmern, Zellbestand- 
teile und halbfertige Produkte der Zelltätigkeit werden vom mit- 
geschädigten Zottentrophoblast wahllos durchgelassen, treten ins fötale 
Blut ein und schaffen durchaus artwidrige Entwicklungsbedingungen. 
Vielfach stimmen die Leichenbefunde bei Mutter und Kind überein. 
Unzählige mit dem Leben Davongekommene offenbaren die schweren 
Schädigungen aller Organe, die unerschöpflich abwechslungsreiche 
Art der Vergiftung in verschiedene Alterstufen, bei Beanspruchungen 
— liegen in Couveusen, in den Anstalten für verkrüppelte und 
schwachsinnige Kinder, in Blinden-, Taubstummen- ‘und Besserungs- 
anstalten, Gefängnissen-, Irren- und Siechenhäusern, endigen als 
Selbstmörder und Desperados. Gerade die kräftigsten, vollwertigen, 
für den sozialen Organismus leistungsfähigsten, werdenden Mütter, 
insbesondere die Erstgeschwängerten sind der Vergiftung am meisten 
ausgesetzt; viele offenbaren bei dieser eingreifendsten Leistungs- 
probe des weiblichen Körpers bis dahin vollkommen unerkannte 
mütterliche oder grossmütterliche Vergiftungen. Einkindersterilität 
der Mütter ist oft mit voller Unfruchtbarkeit des Kindes zugleich 
erworben. Blutbildende Organe, Keimstätten und das Gehirn werden 
stets am schwersten betroffen. Bei einer folgenden Schwangerschaft 
einer in ihrer Gesamtheit, nicht nur in den Eierstöcken ge- 
schädigten Mutter brechen die Vergiftungserscheinungen — Kopf- 
schmerz, Schwindel, Ohnmacht, Erbrechen, Speichelfluss, Sodbrennen, 
Magendruck, Sehstörungen, Mattigkeit, Zuckungen, juckende Haut- 
ausschläge, Schweisse, Durchfälle, Atemnot, Aufquellung, abnorme 
Gewichtszunahme, Harnverhaltung, Gelbsucht, um so frühzeitiger und 
heftiger aus. Die monatelang in ihrer Entstehung geschädigten 
Nachkommen können ganze Familien verseuchen und durch Paarung 
mit andersartig Geschädigten eine unabsehbare Mannigfaltigkeit an- 
geborener Erkrankungen und krankhafter Zustände schaffen. Syphilis, 
Tuberkulose und Alkohol erlangen erst durch diese ererbten, die 
Widerstandskraft schwächenden bzw. den Nährboden vorbereitenden 
Schädigungen ihre volle, von Fall zu Fall verschiedene Wirksamkeit. 

Bei jeder Schwangerschaft besteht die Möglichkeit zu schwerster 
Schädigung vollwertiger Keimlinge, zum Erwerbe tiefgreifendster 
Störung körperlicher und geistiger Leistungen. Ärzte, insbesondere 
Irren-, Schul- und Gerichtsärzte haben daher bei der Beurteilung 


6 Alfred Greil. [6 


von angeborenen konstitutionellen, krankhaften Zuständen aller Art, 
insbesondere von Geistesstörungen und Schwachsinn, abnormem Trieb- 
leben in erster Linie über die Schwangerschaft der Mutter Erhebungen 
zu pflegen, erst in zweiter Linie in der weiteren Verwandtschaft, der 
Aszendenz und den Kollateralen. Stets ist nach den Bedingungen 
des ersten Auftretens der Erkrankung in gesunden, unbescholtenen 
Familien zu fahnden. Nur in reinen, frischen Fällen lässt sich die 
Keimlingsschädigung von der Schädigung der Ei- und Samenbildung 
abgrenzen. Es ist aber auch im artgemässen Entwicklungsgange 
vollkommen unmöglich, den tiefgreifenden Einfluss der Frucht- 
ernährung auf den Entwicklungsgang, deren gewaltige Erfolge gegen 
das Befruchtungswerk abzugrenzen. Die Säuger stammen von eier- 
legenden Kloakentieren ab, die dotterarm geworden sind. Es war 
für die Entwicklung des Gehirnes, der Sinnesorgane und der Haut 
ein unabsehbarer Gewinn, als die Keimlinge sich nicht mehr im 
Wasser, sondern am Lande, in der Sonne, im nutzstoffreichem, Lösungs- 
gemisch der innersten Hülle (Amnios) entwickelten. Noch viel grösser 
war der Erfolg, als sie sich in der Höhlung der Gebärmutter und 
einzig der Erfolg der Menschwerdung: der Einbettung der winzigen 
Keimblase mitten in die Schleimhaut selbst, in ein langsam durch- 
rieseltes Blutbad. Sämtliche Organe, in erster Linie das Gehirn haben 
ihre Weiterentwicklung, den Erwerb ihrer besonderen Bauart und 
Leistungsfähigkeit, ihre eigenartige Vollendung durch diese Art der 
Fruchternährung erlangt. Diese Wirkung ist der Befruchtung gleich- 
zustellen. Die ganze dotterschwere Eikugel der Vögel wird als Erbe 
bezeichnet, deren Menge und Beschaffenheit der Dottermitgift wirken 
entwicklungsbestimmend, so muss auch der Ersatz für die weitest- 
gehende Dotterverarmung, die Fruchternährung ins Erbe einbezogen 
werden. Ei-, Samen- und Fruchtbildung (in der Gebärmutter) bilden 
eine unlösbare Erbschaft. Alles Angeborene ist ererbt. Ebenso tief- 
greifend beeinflussen aber auch Überschuss, Mangel, oder abnorme 
Mischung des mütterlichen. Nutzstoffangebotes den Formwechsel und 
sämtliche Formerwerbungen des Keimlinges. Die Fruchternährung 
dient nicht dazu, um einen festabzesteckten Bauplan auszuführen, 
sondern sie beherrscht den stets umstandshedingten Erwerb sämtlicher 
Gebilde. Ebenso wie es bei den vor 20.000 Generationen lebenden 
Urmenschen nicht im einzelnen bestimmt war, dass ihre heutige 
Nachkommenschaft durch die Art ihres Zusammenwirkens, des Ge- 
meinschaftsdenkens, -fühlens und -schaffens, in Ausnützung der Um- 
weltsbedingungen, der Bodenschätze, der Pflanzen- und Tierwelt, der 
Siedelungs-, Wander- und Transportgelezenheiten einen so reich ge- 
gliederten Volkskörper bilden werden, dass Gestirnbahnen berechnet, Ge- 


6) - Keimesfürsorge. 7 


hirnbahnen aufgedeckt, motorlose Flugzeuge und Mikroskope, Mörser 
und drahtlose Verständigungsmittel erfunden und gebaut, — Religionen, 
Tragödien und Opern ersonnen werden, ebensowenig ist in der Keim- 
zelle das Werk der Entwicklung irgendwie im einzelnen starr vorge- 
zeichnet. Alles muss erst beim Zusammenwirken der Abkömmlinge 
erworben werden, alles wird durch die jeweiligen sich zum Teil erst 
während der Bildung ergebenden, örtlichen Umstände bestimmt. Darin 
besteht die Grossartigkeit und die Gefährdung der Entwicklung; darin 
wurzelt die Macht und die Verantwortung des Arztes. 

Ursache der Ab- und Entartung der Nachkommenschaft gesunder 
unbescholtener Eltern, des ersten Auftretens schwer Erkrankter und 
Verbrecher, verhängnisvoller Krankheitsbereitschaft sind die durch 
die Kulturentwicklung (Überkultur), die Ausschaltung der ursprüng- 
lichen Fortpflanzungsverhältnisse bedingten Abänderungen der Be- 
dingungen der menschlichen Entwicklung. Nur der Rückblick auf 
die stammes- und kulturgeschichtliche Entwicklung, die Erkenntnis 
ihrer grundsätzlichen Übereinstimmung mit den Gesetzmässigkeiten 


der Keimesentwicklung ermöglicht die Aufdeckung und Verhütung 


der Gefährdung. 
Alle Säuger stammen von eierlegenden Vorfahren ab, die um 
grosse, dotterschwere, durch den Eileitermuskelschlauch vorwärts- 


. gedrängte, befruchtete Eier, Eierklar und Kalkschalen bzw. Horn- 


schalen abschieden. Dieser Vorgang ist durch die Einschränkung 
des Eiwachstumes im derben, bindegewebsreichen Eierstock, mit der 
Entfaltung der Milchdrüsen und Nebennieren abgeändert worden. Das 
am Ende der Brunst ausgepellte, winzige (0,3—0,06 mm grosse), lang- 
sam durch den Flimmerstrom des Eileiters vorwärtsgerollte Säugerei 
erreicht die Stätte‘ dieser Abscheidung erst nach deren Abklingen 
5—8 Tage nachher. Durch die Ansprüche der rasch aufquellenden, 
beim Schwein auf 1 Meter Länge heranwachsenden Keimblase, wird 
die bereits abgeschwollene Schleimhaut zur Wucherung gebracht. 
Scharf auf die Anlagerungsfläche des Keimschildes beschränkt ent- 
stehen auch noch bei den Menschenaffen mächtige Schleimhautpolster, 
während zwischen den Keimblasen, z. B. bei Hunden, Kaninchen, 
eine ganz geringfügige Schwellung besteht. Wird durch heftige 
Bewegung — Sprung vom Tische oder stürmische Liebesspiele des 
Gatten — das befruchtete menschliche Ei aus dem Eileitertrichter 
in die Bauchhöhle gebeutelt, so entwickelt sich die winzige (0,5 mm) 
Keimblase auch am Bauchfellgrunde (Douglas) oder an der Vorder- 
fläche des Mastdarmes, auf kargem Nährboden in artgemässer Weise. 
Ebenso wie die heranwachsende Eizelle im Eierstocke durch ihre 
Ansprüche die mächtige Entfaltung der sie kapselartig umgebenden 


8 Allkrod Greil. [7 


Nährzellenschichte (Eifollikel) fördert — wie ferner die Eierstöcke 
durch. ihre Abfallquote den Gesamtumsatz fördern — Grosskunden 
vergleichbar, die an Zahlungsstatt neue Filialen errichten — 
so beherrscht auch der wachsende Keimling bei sämtlichen Wirbel- 
losen und Wirbeltieren mit Fruchternährung durch seine Ansprüche, 
die Absättigung der hohen Umsatzfähigkeit, den Nährboden. Die 
Säugerentwicklung würde in rasendem Tempo erfolgen, wenn das 
arterielle nutzstoffreiche Nabelvenenblut nicht mit Körpervenenblut 
vermischt sämtlichen Organen zugeführt würde — mit Ausnahme 
der sich überaus mächtig entwickelnden Leber, welche ganz ähn- 
lich wie der Mutterkuchen durch Zufuhr unvermischten Blutes ent- 
steht und so überaus rasch heranwächst. So sind auch der Ent- 
wicklung einer in einer 0,01 mm dünnen Umhüllung liegenden 
Säugerkeimblase in den gefährdeten ersten Wochen dadurch gewisse 
artgemässe Schranken gesetzt, dass die Einpflanzung und Einbettung 
in die Schleimhaut nicht am Höhepunkt der Brunst, in eine aufs 
dreifache hochgeschwellte Schleimhaut mit vollgepfropften Drüsen 
und prall erweiterten Blutgefässen erfolgt, sondern in einen von 
seinem Nutzstoffreichtum entspannten abgeschwollenen, aber immer- 
hin noch reich durchbluteten, reaktionsfähigen Nährboden. Diese 
Umsatzbedingungen sind ohnedies unvergleichlich günstiger als bei 
den wochenlang allmählich das Eierklar aufzehrenden Vorfahren 
(Protamnioten), so dass eine hochgeschwelite, blutreiche mit Zucker 
(Glykogen), Fetten (Cholesterin, Lezithin, Neutralfett), Eiweisstoffen 
und Salzen (Elektrolyten) vollgesättigte Schleimhaut ein artwidrig 
überstürztes Wachstum einleiten würde. Naturvorgänge dürfen indess 
nie nach menschlichen Zweckmässigkeitsgründen beurteilt werden; 
die Einschränkung des Eiwachstumes hat zwangsläufig das ver- 
spätete Eintreffen der Keime nach Ablauf der Brunst bewirkt, 
welches sich im Kampfe ums Dasein als vorteilhaft erwiesen hat. 
Lebend gebärende, fruchternährende Haifische und Echsen gewähren 
den dottenbeladenen, kleine Keimscheiben bildenden Keimlingen 
sowohl nach Menge wie Beschaffenheit bei weitem nicht so nutzstoff- 
reiche Nährlösungen. Die Abscheidung der Gebärmuttermilch der 
Widerkäuer ist verschieden vom Brunstausfluss und wird erst durch 
den Reiz der wachsenden Keimblasen angeregt. 

Zufällig bei Operationen, von Verunglückten und Selbst- 
mörderinnen gewonnene artgemässe menschliche Keimlinge der 
zweiten und dritten Woche weisen nur in der Umgebung des winzigen 
Keimlinges Schwellung und Blutreichtum, Drüsenfüllung der Schleim- 
haut auf; im übrigen basteht keine mensuelle Schwe’lung. Diese 
Normalkeime sind artgemäss am Ende der ersten Woche nach Beginn 


8] Keimesfürsorge. 9 


der Menses (zur Zeit der grössten Begierde und wie die Schwänge- 
rungen durch Kriegsurlauber beweisen, auch der grössten Empfäng- 
lichkeit des Weibes) befruchtet und ca. 8 Tage nachher in eine 
frisch verheilte Wundfläche, eine ruhende Schleimhaut der Zwischen- 
zeit eingebettet. Diese erfährt in ihrer Gesamtheit durch die Anwesen- 
heit eines 0,5 mm Keimes keine Veränderung. Erst infolge der 
Trophoplasmaeinmischung quillt die Schleimhaut sowie andere 
mütterliche Organe etwas auf. 

Die Menstruation des Menschen ist somit ebenso wie die ihr voll- 
kommen entsprechende Brunst der Säuger — wahrscheinlich hatten 
die Urmenschen vor 20000 Generationen ebenso wie die Eskimo-. 
weiber nach älteren Berichten noch eine Frühjahrsbrunst nach langer 
Wintersterilität — eine weibliche Affäre geworden, eine Entspan- 
nung sämtlicher Stoffwechselarten der Abkömmlinge eierlegender 
Vorfahren. Die Gebärmutterabscheidung leitet sich zwar vor der 
Eihüllenbildung ab, hat aber ihre ursprüngliche, der Fortpflanzung 
dienende Leistung eingebüsst. In dem Masse, als die Dotterbildung so 
weitestgehend eingeschränkt wurde, nahm die Eileiter- und Gebär- 
mutterabscheidung zu. Jedes Tier erlangt durch die Ansprüche seiner 
Keimdrüsen seine volle Geschlechtsreife und hat auf der Höhe dieses 
Umsatzes das Bestreben seine Geschlechtszellen auszustossen (Detu- 
meszenztrieb). Die (250—)500 Millionen Samenzellen eines einzigen 
Auswurfes würden zur Kugel zusammengeballt das 5 fache Volumen 
einer monatlich ausgestossenen, grösstenteils aus Dotter bestehenden 
Eizelle — einer Zwillingsschwester — ausmachen. Dieses Missver- 
hältnis gegenüber der Samenentleerung und der eierlegenden Vor- 
fahren wird durch die Menstruation gedeckt. Deshalb hat sich diese 
Abscheidung erhalten, obgleich sie für die Fortpflanzung wertlos, 
durch unvergleichlich vorteilhaftere Einrichtungen ersetzt wurde, die 
Schritt für Schritt mit dem Wachstum des Keimlinges von diesem 
beherrscht, erworben werden — auch nicht mehr anreizend wirkt. 

Die Kulturentwicklung hat einen Zustand herbeigeführt, welcher 
beim Urmenschen sicherlich noch nicht bestand: die Häufung und 
Abkürzung des mensuellen Wellenganges und dessen Zusammen- 
treffen mit der Schwangerschaft. Bei keinem Freiwild laufen Brunst- 
wellen durch die Trächtigkeitsperiode. Durch diese Abänderung wird 
die Entscheidung der Frage ermöglicht, ob die von äusseren Um- 
ständen (Jahreszeiten) unabhängig gewordene Menstruation, die im 
Durchschnitte 28tägige Welle durch eine Stauung angesammelter 
Produkte der blutbildenden Drüsen entsteht, oder aber die Folge 
einer tatsächlich periodisch ungleichen Tätigkeit dieser Organe, vor 
allem der Leber, Schilddrüse, Milz, des Hirnanhanges und Knochen- 


10 | Alfred Greil. [9 


markes ist. Der Embryo würde im ersteren Falle eine solche Stau- 
ung sicherlich nicht aufkommen lassen; es wäre vollkommen aus- 
geschlossen, dass Schwangere während jeder Schwangerschaft in 
genauer Periodik aus einem Nebenhorn der Gebärmutter oder aus 
der Nase bluten. Dieser Zustand kann nur durch einen rasch auf- 
tretenden, vom Fötus nicht so rasch zu bewältigenden Überschuss, 
also eine wirkliche Periodik, durch vermehrte Abscheidung der Blut- 
bestandteile bewirkt werden, für welche sich aus dem zellulären und 
zellenstaatlichen Leben bei Wirbellosen und Wirbeltieren mancherlei 
Analogien anführen liessen. Dieser Wellengang wird in vorbildlicher 
Weise vererbt, betrifft auch Männer, namentlich jenseits des Über- 
gangsalters (monatliche Schwindelanfälle, Mastdarm-, Nieren- 
blutungen). Sämtliche Eier der Mutter sind auf die Welle eingestellt, 
alle Keimblätter, Primitiv- und Dauerorgane der: Keimlinge machen 
die Welle mit, vor allem der Trophoblast. Bei der fünften Welle 
setzen die Kindsbewegungen ein, bei der zehnten. Welle erfolgt die 
Geburt. Vergiftungserscheinungen, Aborte fallen auf Wellengänge. 
Das fünfmonatliche Töchterchen kann bereits einen regelmässigen 
Wellengang beginnen. Monatliches Nasenbluten, Hautausschläge 
gehen mitunter der ersten Menstruation voran, oder ersetzen sie. 
Auch solche nie menstruierte, ältere Virgines werden schwanger: ein 
neuerlicher Beweis, wie überflüssig die menstruelle Hochschwellung 
der Schleimhaut für die Einbettung des Keimlinges ist. So sind 
sämtliche Organe von ihrer Entstehung an, sämtliche Zellen, alle Zu- 
wachszonen, alle Zellorgane und deren Zuwachszentren auf die Wellen 
schon während der Fruchtentwicklung eingestellt und erreichen ihre 
Höchstleistungen nicht in gleichmässiger Ausdauer sondern in be- 
stimmten Zeiträumen. Viele Frauen fühlen sich nie so wohl, so 
schaffensfreudig, wie während der Menses. 


Während des Abschwellens der Brunst wuchert die entspannte Nähr- 
zellenschicht der ausgelösten, ausgepellten Eizelle (0,3 mm) — die aufgeplatzte, 
haselnussgrosse, geborstene Blasenwand (Granulosa) entspannt und von einem 
dichten Gefässnetz umsponnen mästet sich diese Zellschicht, bildet Dotter- 
farbstoffe aus und wandelt sich so zum kirsch- bis walnussgrossen sog. 
gelben Körper. Allmählich verfetten und verfallen die übermästeten Zellen 
und werden durch derbe Narbengewebswucherung ersetzt. Diese Erscheinung 
hat weder bei eierlegenden noch bei fruchternährenden Formen ursächliche 
Beziehungen zum Eintritte der Brunst. Der Eileiter der Vögel ist zur Zeit 
der Lösung des ersten Eies bereits auf das zwanzigfache seiner Länge herange- 
wachsen, mächtig verdickt und vollbereit zur Eierklarabscheidung; der gelbe 
Körper entsteht aber erst nach der Eiablage. Die Häufung der mensuellen 
Wellen hat es mit sich gebracht, dass die Bildung des gelben Körpers — die 
Lipoidmast der geplatzten Granulosa — durch eine folgende Welle sozusagen 
aufgefrischt, ein bereits im Abklingen begriffener Vorgang neu entfacht wird. 


10] Keimesfürsorge. 11 


So kommt es, dass der gelbe Körper der vorhergehenden Eilösung während des 
Anschwellens der nächsten Welle aufblüht, weil ihm ein zunehmend ge- 
steigertes Nutzstoffangebot dargereicht wird. Es teilen sich also die heran- 
reifende Eizelle, der geplatzte Follikel der vorhergehenden Welle und die 
Gekärmutterschleimhaut in den Überschuss. Sobald aber die letztere infolge 
der Biutaustritte und der Ernährungsstörungen des Gewebes in ihren ober- 
flächlichen Schichten zerfällt und das weite offene Ventil einer blutenden 
Wundfläche eröffnet wird, sinkt mit einem Schlage das hohe Nutzstoffangebot 
und der aufgeblühte, gelbe Körper verfällt in kurzer Zeit. Die Abbaustoffe 
der übermästeten, verfetteten Zellen dienen der Narbenbildung des mächtig auf- 
schiessenden Bindegewebes und werden zum geringen Teile auch im grossen 
Kreislaufe den verschiedensten Zellarten als Bausteine zugeführt. So über- 
nimmt also bei der Entspannung des Stoffwechsels der gelbe Körper gewisser- 
massen die Rolle eines dotterschweren Eies. Bei besonders mächtigem Auf. 
blühen und Blasenbildung (Abscheidung eines grauweissen Gallertkernes) kann 
sogar die Gebärmutterabscheidung überflüssig werden; der gelbe Körper fängt 
so viel ab, dass es nicht zur äusseren Brunst kommt; es unterbleibt das Rindern 
der Kühe, tritt aber sofort ein, wenn von der Scheide aus die deutlich fühl- 
bare Blase zerquetscht wird. Auch beim Menschen sind solche Fälle be- 
obachtet. Andererseits kann durch Unterwertigkeit des Eifollikels bei mangel- 
hafter Ausbildung eines gelben Körpers die Blutung besonders stark und an- 
dauernd werden. Eine knapp vor der Menstruation ausgeführte Kastration 
kann zu einer verfrühten Blutung führen. Diese Anteilnahme des gelben 
Körpers an der Entspannung einer folgenden Welle ist also eine durchaus 
nebensächliche Erscheinung. Von einer ‚Drüsenwirkung‘‘, behufs ‚„Vorberei- 
tung der Eieinbettung‘, kann überhaupt keine Rede sein. Der so tief in der 
Vorgeschichte wurzelnde, in unzähligen Geschlechtsfolgen vererbte Wellengang 
sämtlicher Stoffwechsel- und Erfolgsorgane wird nicht von einer so nebensäch- 
lichen Lokalreaktion beherrscht. Dagegen sprechen also vor allem folgende 
Gründe: das Eintreten der ersten Brunst bei eierlegenden und fruchternähren- 
den Tieren ohne gelbe Körper; — der Wellengang während der Schwanger- 
schaft ohne Ausbildung von gelben Körpern bei unterbrochener Eibildung, die 
beim Menschen, Hunden und. Katzen nach totaler Kastration beobachtete 
oftmals vollkommen regelmässig eintretende Brunstfolge — sowie der Wellen- 
gang beim Manne, insbesondere die periodische Beschwerden nach den Wechsel- 
jahren bei beiden Geschlechtern. 

Die Kulturentwicklung hat nun in ca. 30% eine Durchbrechung 
der für sämtliche Säuger geltenden Gesetzmässigkeit der zeitlichen 
Folge: Brunst-Eilösung und Befruchtung herbeigeführt. Beim Kultur- 
menschen kann die Eilösung und der Entwicklungsbeginn in allen 
Zeiten des Wellenganges erfolgen. Damit wurde die Naturwidrigkeit 
der Keimeinbettung in der Hochspannung der folgenden mensuellen 
Welle ermöglicht, welche dem Kulturmenschen vorbehalten erscheint. 
Alle mit den schwersten Keimblättermissbildungen, unförmigen Wuche- 
rungen der Keimblasenwand (Trophoblast) der Zotten ausgeworfenen 
menschlichen Keimlinge sind in der zweiten Hälfte der Zwischenzeit 
befruchtet, vor oder während der folgenden mensuellen Welle ein- 


gebettet worden. Das enorme Angebot an hochwertigen Nutzstoffen 


12 Alfred Greil. (11 


(Glykogen, Lezithin, Cholesterin, Neutralfett, Eiweisskörper, Eiweiss- 
lipoid- und Eiweisseifengemische, Arsen, Jod, Kali, Phosphor, Schwefel 
usw.) hat artwidrig überstürztes Wuchern des hochreaktionsfähigen 
Keimes entfacht. Gleichzeitig wurde aber auch die Trophoplasmaein- 
mischung in die Schleimhaut erhöht. Bestandteile und Abbauprodukte 
dieses Lösungsgemisches reizen die Muskulatur und bewirken die 
Ausstossung. Ein Normalkeim ist um diese Zeit bereits drei Wochen 
alt und tritt mit artgemäss erworbenen Grundlagen, Keimblättern und 
Primitivorganen, mit pulsierendem Herzen in die erste Welle ein. 
Die Zahl der Herzschläge (wahrscheinlich ca. 120) dürfte in diesen 
Tagen erhöht, das Wachstum der Zottenspitzentriebe etwas gesteigert 
sein, wird aber durch die rasch fortschreitende Zottengefässbildung 
wieder eingeholt. Jene übermässigen Wucherungen eines zu früh, 
lange vor Ausbildung der Gefässe von der Welle überraschten, ganz 
unfertigen, in der kritischen Entwicklungsphase begr.ffenen Keim- 
linges hingegen werden nia mehr eingeholt, die peripheren. soliden oder 
aufgesplitterten Wucherungen und damit auch die erhöhte Tropho- 
plasmaabscheidung und -einmischung dauern Monate an. Bei jedem 
Wellengang wird die Wucherung aufs neue entfacht und wirkt durch 
die anfangs den Zellstoffwechsel fördernde Einmischung von Tropho- 
plasma auf die Blutbildungsorgane — insbesondere die Plasmadrüsen 
— (Leber, Schilddrüse, Hirnanhang, Milz, Knochenmark) umsatz- 
steigernd zurück, wodurch wiederum die Trorhoblastwucherung ge 
steigert wird. So ergeben sich verhängnisvolle Wechselwirkungen, 
welche schliesslich zu lähmenden zerstörenden Wirkungen überleiten. 
Wenn schon in der zweiten Woche die Krämpfe einsetzen, in der 
dritten Woche, knapp vor Beginn der Herztätigkeit des Keimlings 
infolge von Gehirmn- und Kehlkopfschwellungen in tiefster Bewusst- 
losigkeit der Erstickungstod der Mutter erfolgt, und die Zotten- 
wucherungen voll Vakuolen gefunden werden, so ist vor allem un- 
zeitgemässe Einbettung als Ursache anzugeben. Die Wirkung der 
Trophoplasmaeinmischung auf die blutbildenden Organe, die Er- 
höhung des mensuellen Wellenganges ist so nachhaltig, dass sogar 
nach vollständiger Entfernung der Gebärmutter einer unerkannt Früh- 
schwangeren — wegen Muskelgewächsen — genau zur Zeit des ersten 
Wellenganges Krampfanfälle und andere Schwangerschaftsbeschwer- 
den der Kastrierten ausbrechen. — Epilepsie und Veitstınz, Haut- 
ausschläge treten auch während der Menstruation besonders intensiv 
auf —. Es sind sogar 56 Tage nach der Geburt, zur Zeit der ersten 
wiedereintretenden Menstruation Krampfanfälle mit tiefer Bewusst- 
losigkeit beobachtet worden. Sicherlich bedeutet jeder Wellengang 
während der Schwangerschaft auch ohne offenkundige Beschwerden 


12) Keimesfürsorge. 13 


für Mutter und Kind, insbesondere aber für das Zottenwachstum 
und die periphere Ausbreitung dieses Impfgewächses eine kritische 
Periode (Aktivierung der Plasmadrüsen, sowie des gelben Körpers). 


Orthodoxe Jüdinnen konzipieren nach den Niddahvorschriften am 12. 
(5 4-7) Tage nach dem Eintritte der Regel und berechnen daher das Ende der 
Schwangerschaft nach 265 Tagen — begrenzt ist stets das Schwangerschafts- 
ende — durch die zehnte. Welle; der Entwicklungsbeginn kann bei wahlloser 
Konzeption variieren, die Verschiedenheit von Länge und Gewicht der Neu- 
geborenen, auch konstitutive Unterschiede sind z. T. darauf zurückzuführen. 
— Es bedeutet zweifellos einen rassenhygienischen Vorteil, den Erwerb eines 
"Rassenmerkmales, bestimmter Rasseneigentümlichkeiten, wenn auch der Ent- 
wicklungsbeginn rituell festgelegt wird. Der durch die Enthaltsamkeit bzw. Er- 
wartungspannung gesteigerte Orgasmus dürfte es bedingen, dass wie bei manchen 
Säugern die Kohnbitation die Eilösung, das Aufplatzen des blasenförmigen 
Eifollikels bestimmt. Es ist also anzunehmen, dass die Befruchtung wenige 
Stunden nach der Kohabitation erfolg. Der Keimling tritt dann in einem 
wenigstens in den Grundlagen artgemäss festgelegten Zustande, allerdings 
noch fünf Tage vor Beginn des Blutkreislaufes in die Höhe der ersten Welle ein. 
Die Entstebung des Bindegewebskernes, der Haargefässe der Zotten ist in den 
ersten Anfängen. Zweifellos bewirkt die bereits durch geringgradige aber an- 
dauerpde, unaufhörliche Trophoplasmaeinmischung des 2 mm Durchmesser 
aufweisenden Keimlinges etwas gesteigerte Blutbildung, das hohe Nutz- und 
Wuchsstoffangebot eine erhebliche periphere Wucherung und Trophoplasma- 
einmischung ins mütterliche Blut. Es kommt also sicherlich zu ciner leichten 
Aktivierung von Mutter und Kind, entschieden in höherem Grade, als bei einer 
Befruchtung am 4.—9. Tage, wenn der Keimling sich in eine vollkomınen 
ruhende Schleimhaut eingebettet hat, das Herz schon während des Anstieges 
des Wellenganges pulsiert und ein reich entfaltetes Zottengefässnetz bereits 
an der Entspannung der Welle teilnimmt, das Spitzenwachstum sofort von dem 
Bindegewebskern und den Gefässschlingen der Zotten eingeholt wird. Zweifellos 
haben die Juden ihre hohe Geschwulstdisposition — vielleicht auch einen 
grösseren Bindegewebsreichtum der Eierstöcke — ihre Neigung zu Stoffwechsel- 
krankheiten (Zuckerharnruhr, Fettsucht, Gicht), zu Nervenleiden, aber auch 
vorteilhafte Tuberkuloseresistenz dieser durch unzählige Generationen fort- 
gesetzten genau bestimmten Entwicklungsweise zu verdanken. Bucharische Juden 
Zentralasiens unterscheiden sich dadurch in besonders auffälliger Weise von 
den unter denselben Bedingungen lebenden Mohamedanern (Sarten, Turk- 
menen, Chiwinsen), deren Koran keine derartigen Bestimmungen aufweist. Igel 
haben durch eine derartige artgemäss gewordene Trophoplasmaeinmischung 
aus 5—7 Fruchtsäcken eine beispiellose Giftfestigkeit erlangt. Zungen- und 
Schnauzenbisse von Kreuzottern und Sandvipern haben keine Wirkung; der 
Igel zermalmt den Kopf der Giftschlange und frisst sie, ebenso wie spanische 
Fliegen, deren Auszug an der Haut verrieben, zehnmal so grosse Tiere tötet. 
Mäuse haben ihre hohe Geschwulstempfänglichkeit durch die Entwicklung in 
einem Blutbad und das Schmarotzertum an menschlichen Nahrungsmittel- 
beständen erworben. 


Die zweite Naturwidrigkeit der menschlichen Entwicklungsweise 
ist die andauernde Samenaufsaugung nach allzuoft wiederholten Bei- 


14 Alfred Greil. [13 


schlafe. Die bei der Maus acht Stunden nach dem Belegakt, beim 
beginnenden Zerfalle der Samenzellen eintretende enorme Einwande- 
rung angelockter weisser Blutzellen legt Zeugnis vom Nutzstoffgehalt 
der Entleerung ab. Jedes Säugerweibchen wehrt im Freileben das 
Männchen nach erfolgter Befruchtung. Der „Kulturmensch“ hat 
sogar den Beischlaf während der Geburt fertiggebracht. Das enge 
Zusammenleben der Geschlechter steigert auch bei gefangenen Tieren 
die Begierde. So taumelt der Kulturmensch ‚vom Begierde zum Ge- 
nuss und verschmachtet im Genusse nach Begierde“. Wie alle anderen 
Verrichtungen ist auch das Sexualleben eine Konstitutionsprobe, es 
offenbart individuelle Unterschiede des Trieblebens der Erregbarkeit, 
welche abnorme Entwicklungsbedingungen schaffen können. So ist 
auch die Menstruation (Eintritt, die Dauer und Stärke der Schleim- 
hautschwellung und -abscheidung, die Zwischenzeit) auch bei sonst 
gesunden Menschen erheblich verschieden und gleiches gilt sicher- 
lich auch für die Geschlechtstätigkeit des Mannes. Es können Wellen 
von abnormer Höhe zusammentreffen, auf welche nicht nur die Ge- 
schlechtszellen, sondern auch die Abscheidungen eingestellt sind, 
woraus artwidrige Wachstumsförderungen des Keimlinges in kriti- 
schen Perioden folgen. Das Weib kann durch übermässige Samen- 
aufsaugung geradezu sterilisiert werden, verändert seine Konstitution, 
das Knochenwachstum, den Gesichtsausdruck, die Stimme und 
Sprache. Goethes Wort — als Mädchen nicht zurücke — wird auch 
durch die Trophoplasmaeinmischung namentlich bei männlichen Föten 
in unabsehbarer Weise bestätigt. Auch das Zitat — Ihr habt Ver- 
nunft und braucht sie allein um tierischer als jedes Tier zu sein — 
wird dadurch verständlich, dass unvernünftige Lebensweise, Ahnungs- 
losigkeit der Gefährdung von Mutter und Kind durch die Schwanger- 
schaftsvergiftungen ein abnormes Trieb- und Affektleben der Nach- 
kommen bewirken. Das Ei bleibt nur wenige Stunden vollwertig. 

Die Kulturentwicklung hat Unbeschäftigten oder körperlich 
wenig Beanspruchten ein Schmarotzen an den Produkten der Nah- 
rungsmittelbereitung ermöglicht, welches bei Junggeschwängerten 
infolge der Einnistung eines so beispiellos wuchsfähigen Keimes ein 
artwidriges Angebot schaffen kann. Dadurch kann namentlich in den 
ersten drei Wochen das Keimblättergleichgewicht, die Grundlage der 
ganzen Organisation durch Wucherungen des Trophoblast schwer be- 
droht werden. Überimpfte gut- und bösartige Gewächse von geringer 
oder höherer Wuchsfähigkeit können durch Fütterung (Hanf, Milch, 
Zucker, Eier) sogar in auslesender Weise beeinflusst werden. Wie 
sehr muss die menschliche Keimblase (der Trophoblast) von der 
Beschaffenheit, dem Nutzstoffreichtum des benetzenden und um- 


14] Keimesfürsorge. 15 


spülenden mütterlichen Blutes abhängig sein, und durch ihren Ver- 
brauch die Aufnahmstätigkeit der Darmwand, die Umsetzungen des 
samten blutbildenden Apparates beeinflussen ! Die — früher — während 
der italienischen Flitterwochen in Kaviar und Ölfischen, Eierspeisen, 
Konfekt und schweren Mehlspeisen — Creme — und süssen Weinen 
schwelgenden Erstgeschwängerten hatten keine Ahnung, in welche 
Gefahren sie sich selbst und ihr Kind stürzten. Die Hungerblockade 
hat die Schwangerschaftsvergiftungen wesentlich eingeschränkt. Es 
sind aber Fälle vorgekommen, in denen, Frauen sich für die Schwanger- 
schaft besondere Zubussen (Eier, Milch) zu verschaffen gewusst 
haben —- sie kamen mit schweren Vergiftungen in ärztliche Be- 
handlung. 

Es sind Fälle N in denen Männer in der Eihölung nach 
schweren Krankheiten — Typhus, Scharlach, Rotlauf — infolge des 
gesteigerten Stoffumsatzes ihrer Samenbildung, der Steigerung der 
Leistungsfähigkeit ihrer Samenzellen schwere Schwangerschaftsver- 
giftungen verursacht haben. Auch jahreszeitliche Schwankungen 
können unter Umständen beim Zusammentreffen mit anderen art- 
widrigen Zufällen die Trophoblastwucherung und Trophoplasmaein- 
mischung beeinflussen. Der Verlauf von Hautausschlägen una 
Geisteskrankheiten deckt in sinnenfälligster Weise eine unabhängig 
vom mensuellen Wellengang verlaufende Periodik auf, welche vom 
Keimling in ganz anderer Weise registriert werden kann. 

Ein fünfter Faktor ist die Ausschaltung der ursprünglichen 
Bedingungen und Verhältnisse der geschlechtlichen Auslese: die 
wahllose Paarung. Die Zucht und Pflege der Haustiere hat deren 
Variabilität erheblich gesteigert, doch tritt diese Variationsbreite 
weit hinter die Folgen der Kulturentwicklung zurück. Neben der 
Verschiedenheit der äusseren Lebensbedingungen hat in gesunden, 
nicht durch Schwangerschaftsvergiftungen belasteten Familien, die 
Möglichkeit ungleicher Zellteilungen bei der Vermehrung der Ur- 
geschlechtszellen beider Eltern einen unabsehbaren Einfluss aus- 
geübt. Ungleiche Zellteilungen treten allenthalben bei gesteigertem 
Stoffumsatz bei den verschiedensten Zellarten ein und bilden eines 
der wichtigsten Mittel zum Erwerb der Ungleichheit von Gestalt, Bau 
und Leistung der Gewebe. Während bei allen übrigen Geweben diese 
Ungleichheiten in innigsten Wechselwirkungen die Erreichung 
höherer Gesamtleistungen, des Zusammenwirkens der Teile, der Kon- 
stitution bewirken, bedingen die Ungleichheiten der Ei- bzw. der 
Samenzellen individuelle Verschiendenheiten der Nachkommen. Die 
Keimstätten entstehen auch beim Menschen an denjenigen Orten des 
T mm Embryos, welche die günstigsten Stoffwechselverhältnisse dar- 


16 Alfred Greil. [16 


bieten: über den mit nutzstoffreicher Nährlösung gefüllten Urnieren- 
kammern genau so umstandsbedingt wie die Trophoblastwucherung 
‘im umspülenden mütterlichen Blute oder die Leber am Zusammen- 
flusse grosser arterielles nutzstoffreiches Blut führender Gefässe. 
Bei Einlingen wie bei eineiigen Zwillingen, Drillingen oder Vierlingen, 
deren Zahl erst am 8. Entwicklungstage entschieden wird — ab 
hängig vom Nutzstoffangebot — kommt genau so umstandsbedingt die 
Entstehung von 2 oder 8 Keimdrüsen zustande, in denen unter den 
obwaltenden günstigen Stoffwechselbedingungen eine absolut gleiche 
Teilung der Ur- und Vorgeschlechtszellen fast ausgeschlossen ist. Das 
Eiwachstum und die Samenbildung merzt zwar unzählige nicht voll- 
wertige Zellen aus. Die flinksten Samenzellen erreichen zuerst das 
Ei. Wie es grosse, mittlere und kleine Blutzellen derselben Art gibt, 
schlängeln sich in unter den 250000000 Samenfäden einer Ent- 
leerung auch vereinzelte grosse und kleine in einer überwiegenden 
Mehrheit normaler herum. Bei nervösen Menschen wurden auch 
doppelköpfige und doppelschwänzige Samenzellen in grösserer 
Zahl vereinzelt gefunden. Zweikernige Eizellen sind an reifen 
Follikeln noch nie beobachtet worden. Es besteht die Möglichkeit, 
dass geringgradige Variationen durch das Zusammentreffen 
gleichsinnig abweichender Geschlechtszellen nicht ausgeglichen 
sondern erhöht werden, dass mit dem Ausgleiche der geschlecht- 
lichen Verschiedenheit, der Entstehung einer vollwertigen Keimzelle 
auch besondere Leistungen, z. B. der Zellvermehrung, der Tropho- 
plasmabildung gesteigert werden könnten. Die äussere vom mütter- 
lichen Blute benetzte Keimblasenwand müsste diese Eigenart in erster 
Linie offenbaren. Es erscheint jedoch vollkommen ausgeschlossen, 
dass auf solche Weise unter normalem Stoffangebote der zur Ent- 
stehung von Schwangerschaftsvergiftungen nötige Grad der Über- 
produktion von Trophoplasma erreicht werden könne. Gröbere Ab- 
weichungen, etwa Befruchtung durch zweischwänzige Samenzellen 
müssten ferner auch zugleich an den inneren Gebilden der Keim- 
blase, am Embryo und Dottersacke erkennbare Wirkungen ausüben. 
Das Schicksal der Nachkommenschaft gesunder Geschlechtszellen 
wird oft durch artwidrige Wartezeit (Spätbefruchtung) besiegelt. 
Schon im Eileiter können artwidrige Entwicklungsbedingungen 
(Brunst, chronische Entzündungen) herrschen, nach der Ein- 
bettung kann jeder, auch vorbildlich artgemässe Keimling durch 
abnormes Stoffangebot zu den schwersten Ab- und Entartungen ge- 
bracht werden. Mit dieser Erkenntnis übernimmt der Arzt eine unge- 
ahnte Verantwortung, deren Tragweite durch die Ablehnung der 
Keimplasma- und Mosaiktheorien der Entwicklung, die Aufdeckung 


16] Keimesfürsorge. 17 


der durchaus umstandbedingten Erwerbsweise sämtlicher Organe, des 
gesamten Formwechsels bestimmt wird. Wie die gesamte Kulturent- 
wicklung der Menschheit der Erfolg des Zusammenwirkens und der 
Umweltsbildungen ist, wie es in den Urmenschen keineswegs vorher- 
bestimmt war, dass ihre Nachkommen alle die heutigen. Folgen des 
gemeinsamen Schaffens, Denkens, Fühlens und Handelns bestimmte 
Kulturauswüchse, Kultursiechtum aller Art, Kulturentartungen auf- 
weisen werden — alles hätte auch ganz anders werden können — 
ebenso ist das Siechtum, die Verkrüppelung des Kindes in der Keim- 
zelle gesunder Eltern nicht vorherbestimmt. Nur zu oft hat Überkultur 
zu günstige Lebensbedingungen Völker vernichtet; derselbe Vorgang 
wiederholt sich in einem noch viel grossartigeren, doch 
ebenso umstandsbedingten Werdegange binnen weniger Monate 
der Keimlingsentwicklung. Die Wechselwirkungen zwischen Kultur- 
und Keimesentartung sind fast unentwirrbar. 

In der heutigen menschlichen Gesellschaft leben aber unzählige, 
durch mütterliche, vielfach vollkommen unbeachtet gebliebene, ver- 
nachlässigte Schwangerschaftsvergiftungen in ihrem gesamten Körper- 
bau und den verschiedensten Verrichtungen Abgeänderte, welche bei 
ihrer wahllosen Paarung Zustände offenbaren, die ihrem individuellen 
Leben keineswegs hinderlich sind. Es besteht die Möglichkeit, dass 
sich gleichsinnig Veränderte — Aktivierte — zusammenfinden und 
durch die allzeit möglichen ungleiche Zellteilungen bei der Ge- 
schlechtszellbildung neue Mannigfaltigkeit der Vereinigung des ver- 
einten Wirkens der väterlichen und mütterlichen Zellorgane und 
Bestandteile ergeben. So können Aktivierungen, welche zudem im 
gesamten Stoffwechselapparat der Mutter gleichsinnig bestehen, er- 
heblich gesteigert werden. Der mütterliche Körper wird in solchen 
Fällen besonders stark auf die Trophoplasmaeinmischung reagieren 
und es können sinnenfällige Schwangerschaftsvergiftungen entstehen, 
welche in unbeachteten Vergiftungen der Mutter bzw. Schwieger- 
mutter begründet sind. Dann kann das Kind von einer schweren 
Schädigung ereilt werden, von welcher die Eltern oder Grosseltern 
noch verschont geblieben sind, Mutter und Kind unfruchtbar ‚werden. 
Aber auch in diesen Fällen sind dem Arzte noch nicht die Hände 
gebunden. In seine Hand ist es gelegt, eine rechtzeitig erkannte 
abnorme Aktivierung einzudämmen, besonders dann, wenn, der Körper- 
bau der Eltern auf Überwertigkeit der Geschlech*szellen schliessen 
lässt, alles zu verhindern, was den gefährdeten Keimling zu über- 
mässigem Trophoblastwachstum veranlassen könnte. Mit der Er- 
kennung und Verhütung der ersten Gewächse der Keimblasenwand 
werden unabsehbare Folgeerscheinungen verfindert. | 

Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 1. 2 


18 Alfred Greil. (17 


Aus den dargelegten Erkenntnissen ergeben sich folgende sozial- 
bzw. vererbungshygienische Vorkehrungen: 

A. Aufklärung in Schulen und Beratungsstellen, Unterweisung 
von Hebammen und Pflegepersonen: 

1. Über das Wesen und die Bedeutung der Menstruation. 

2. Über die ersten Entwicklungsvorgänge und die Entwicklungs 
bedingungen, die Gefährdung des Keimlinges als Impfgewächs. 

3. Über die Notwendigkeit, die Konzeption auf die erste Woche, 
höchstens die ersten 12 Tage nach Beginn der Menses zu beschränken, 
völlige Enthaltsamkeit bis zum 24. Tag; dann Befruchtungsmini- 
mum (2—-4%). Vermeidung übermässiger und besonders nutzstoft- 
reicher Nahrung. Nahrungseinschränkung während der mensuellen 
Wellen, gegebenenfalls Hungertage; Hautpflege, Schwitzbäder, Körper- 
bewegung, Regelung des Stuhlganges. 

4. Über das Wesen und den Erwerb der Schwangerschaftsver- 
giftungen, deren erste Anzeichen (S. 4) und Vorläufer, deren Be- 
deutung für Mutter und Kind. 


B. Errichtung von Konstitutionsambulatorien zur 
Aufdeckung und Verhütung von Konstitutionsanomalien, angeborenen 
Erkrankungen und krankhaften Zuständen, zur Ermittelung in Gang 
befindlicher Schwangerschaftsvergiftungen und zur Kontrolle und 
Behandlung ihrer Folgeerscheinungen. Es gliedern sich daher die 
Frauenabteilungen dieser Anstalten in vier Sektionen, welche bio- 
chemisch geschulten Ärztinnen ein reiches Arbeitsfeld eröffnen: 

I. Schwangerenuntersuchung, Führung von Personalblättern 
in 4—2 wöchentlichen, während und zwischen den mensuellen 
Wellen vorzunehmenden Untersuchungen mit folgender Einteilung: 

1. Anamnese: Alter; Kindheit, Pubertät, Menses, frühere 
Schwangerschaften, Infektionen und andere Krankheiten. Geschwister, 
Eltern, mütterlicher Schwangerschafts- und Geburtsverlauf; Aszen- 
denz, Kollateralen. — Letzte Menses, Kohabitationen, bisheriger 
Schwangerschaftsverlauf, -beschwerden und -störungen ; Kindsbewe- 
gungen, Menses. 

2. Untersuchung der Genitales: Schwellungszustände des äusseren 
Genitales; Uterusstand ; kindliche Herztöne, Beschaffenheit Frequenz; 
Mamma. 

3. Untersuchung des Körperbaues, der Körperoberfläche, allge- 
meines Konstitutionsschema; Abnormitäten, Infekte. 

4. Gewicht, Bandmass (Thyreoidea [Halsumfang]); Abdomen, 
Wade, Knöchel), Blutdruck, Pulsfrequenz, Temperatur; Augenhinter- 
grund; Nagelfalzgefässe. 


18] Keimesfürsorge. 19 


5. Reaktionsproben : Erb, Chvostek, Sehnenreflexe, Dermographis- 
mus, Adrenalin, Amylnitrit, Thyreoidpräparate. 

6. Harnprobe; Menge, spez. Gew. Reaktion; Gefrierpunkt, Sta- 
lagmometrie; chemisch: Eiweiss, Zucker, Azetonkörper, Azetessig- 
säure, Rest-N-, Harnstoff, Ammoniak-N-, Kreatinin, Kreatin, Indikan; 
Harnsäure, Aminosäuren ; Urobilin, Urobilinogen , Trockenrückstand; 
Elektrolyte. Sediment: hyaline, granulierte Zylinder, Blut. 

7. Blut durch ausgiebigen Aderlass gewonnen: Blutbild: Ver- 
teilungsgleichgewicht der Blutzellrassen und -arten, abnorme Zell- 
formen, Jugendformen; physikalisch: spezifisches Gewicht, Kryo- 
skopie, Refraktometrie, Stalagmometrie, Hämokrit, Gerinnungsge- 
schwindigkeit, Leistungsfähigkeit, Senkungsgeschwindigkeit und osmo- 
tische Resistenz der Blutkörperchen; chemisch: CO,-Gehalt, Globulin- 
fraktion des Gesamteiweisses, Fibrinogen ; Gesamtpurine, N- der ge- 
bundenen, der freien Purine; Rest-N-, Harnstoff, Harnsäuren, Amino- 
säuren; Indikan, Kreatinin, Kreatin; Alkaligehalt; Zucker, Azeton- 
körper, Gallensäuren, Bilirubin, Haematin, Methaemoglobin ; Lipoide; 
Blutasche; Fermente; spezielle serologische Proben: Abderhalden, 
Dialysier-Interferometrie, antitryptischer Titer; Kobralysə. 

8. Funktionsproben: Niere: Dilutions-Konzentrationgvermögen, 
Phloridzin, Jodkali, Phenolsulphonphatleinprobe; Leber: Galaktose-, 
Lävulose-, Dextrosebelastung. 

9. Therapeutische Ambulanz: Aderlass mit nachfolgender In- 
fusion von Lockescher Lösung mit 6°/,, Jodkalizusıtz; Heissluftbäder, 
Diuretika, Purgantia, Kolostrumpumpe; Seruminjektionen mit Normal- 
schwangeren- oder Pferdeserum; MgSO,-, Ca Cl, Injektionen und 
Ca-präparate peroral. Organotherapie (Schilddrüsen, Adrenalinprä- 
parate je nach Befund), Diät: Eier-, Fleischverbot; Vegetabilien, 
Gemüse, Früchte, Reis, Salzgemische, Säuerlinge. Nach Befund salz- 
arme Trocken-Brei-Kost. Haferkur, Bettruhe, mensuelle Hungertage. 

10. Internat für Dauerkontrolle und -behandlung leichterer Fälle. 
Hochschwangere und solche mit Haematin-, Bilirubin Befund ım 
Blutserum, praeeklamptischen Symptomen werden den Kliniken, Ge- 
bäranstalten bzw. Sanatorien, überwiesen. Privatpflege untersagt. 

I. Abteilung für Stillende und Säuglinge: postpartale Nach- 
wirkungen der Vergiftungen, Beobachtung zur Zeit der mensuellen 
Wellen, Gewächsmetastase;, Säuglingsblatt: Körperstatus, Länge, Ein- 
holung des Geburtsgewichtes; Gewichts-, Wachstums-, Temperatur- 
kurve; Gelbsucht; Funktionsstörungen; Reaktionen auf die Ernäh- 
rung und heisse Bäder; Blutprobe aus Schädelsinus (Blutzellen, Ge- 
rinnungsgeschwindigkeit, Globulinfraktion, Harnstoff, Harnsäure, 
Kreatinin, Zucker, Gallenfarbstoff, Gallensäure, Ca, Co, evtl. Harn- 


2% 


20 Alfred Greil. [19 


proben); Zahnen, Gehen, Sprache; körperliche, geistige Entwicklung ; 
Infektionskrankheiten ; Mastitis, Genitalblutungen, Hodenschwellung. 

III. Abteilung für Frauen und Kinder: Aufdeckung von Konsti- 
tutionsanomalien, des Energie, Stoff- und Formwechsels, insbe- 
sondere der Plasmadrüsen und des: Gefässsystemes, Geistes- und 
Sinnesstörungen, Insuffizienzen, Wachstumskurve, Pubertät, präcox, 
abnormes Triebleben, Gewächse. 

IV. Abteilung für Nullipare und Nichtschwangere: 

1. Konstitutionsschema; Körperbau, Masse, Gesicht, Schädel, 
Körperoberfläche, Haut, Gefässe, Behaarung, Drüsen, Eingeweide, 
Zeitpunkte, Pubertät, Menses; Gewächse. 

2. Blut-, Harnproben. 

3. Genitale, Mammae, Geschlechtsfunktionen. 

4. Neurologisch psychiatrischer Status. 

5. Familienanamnese. 

Das Nulliparen- und Nichtschwangerenblatt bietet die verläss- 
lichen Vergleichswerte für die Führung des Schwangerenblattes. Da- 
mit schliessen sich die Kreise. Die Archive dieser Ambulatorien 
werden auch für die Konstitutionsforschung von grösster Bedeu- 
tung werden, nicht nur vollen Einblick in die Schwangerschafts- 
veränderungen und -reaktionen ergeben, welche bisher aus Massen- 
untersuchungen zu bestimmten Perioden abstrahiert werden konnten. 
Lägen von den heute lebenden Kranken die Schwangerenblätter der 
Mütter vor, so wäre eine breite Grundlage der Krankheitsgeschichte 
gegeben. In Hinkunft wird aber die Führung dieser Protokolle 
die Kontrolle der Vorkehrungen sein, um die höher strebende und 
leidende Menschheit an ihrer Achillesferse zu schützen. Kliniker 
aller Spezialfächer werden gegenüber den mannigfachen Erkrankungs- 
möglichkeiten, angeborenen Erkrankungen und krankhaften Zu- 
ständen zunächst vom Ignorabimus befreit, weil auf Grund der ent- 
wicklungsdynamischen Erkenntnisse das EE synthetisch, 
konstruktiv aufgebaut werden kann. 

Die Errichtung der und Eheberatungs- 
stellen, die Verhütung der Schwangerschaftsvergiftungen ist die 
dringlichste Forderung der Volkswohlfahrtspflege, des Mit- 
menschentumes. Solange dieses Grundübel nicht entwicklungs: 
dynamisch aufgedeckt war und die Mosaik-Determinanten- und Keim- 
plasmatheorien dem Arzte die Hände banden, ihn zum fatalistischen 
resignierten Beobachter der Entfaltung krankhafter organbilden- 
den Substanzen und Keimbezirke, eines „starr und unabänderlich“ 
gedachten in die Keimzelle hineingeheimnissten Idioplassons, einer 
mystischen genotypischen Konstitution machte, konnte die Kultur- 








20] . Keimesfürsorge. | 21 


menschheit ahnungslos die Keimlinge unter die denkbar ungünstig- 
sten, artwidrigsten Entwicklungsbedingungen versetzen, keimendes 
Leben aufs schwerste schädigen und vernichten, blühende Mütter, 
vollwertigen Geschlechtszellen entsprosste Embryonen dem sicheren 
Tode, Föten elender Verkrüppelung, preisgeben. Ernst Häckeı 
hat jene Irrlehren als „Pseudomechanik engster Perspektive‘ leider 
umsonst gebrandmarkt. Ihm allein verdanken wir die.Grundlagen 
der heutigen Erkenntnisse. Sie sind dem Volke unentgeltlich dar- 
zustellen; die Bevölkerung muss so eindringlich aufgeklärt werden, 
dass die werdenden Mütter ohne Zwang, womöglich schon vor der 
Empfängnis, dankbar die Untersuchungsstätten aufsuchen, welche 
ıhnen die Gewissheit verschaffen, die gewaltige Entwicklungsarbeit 
unter menschenwürdigen Bedingungen zu verrichten, das keimende 
Leben und ihre eigene Existenz und Arbeitsfähigkeit zu beschützen. 

Unser Blick ist auf die Zukunft gerichtet. Der vollzogenen 
Tatsache angeborener Geistes- und Nerven-, Blut- und Stoffwechsel-, 
Sinnes- und Knochenerkrankungen, einer ererbten Veranlagung zur 
Gewächsbildung gegenüber ist der Arzt machtlos. Nur eine völlige 
Verkennung des Wesens der normalen und artwidrigen Entwick- 
lung, der Entstehungsbedingungen der Krebskrankheit lässt Hoff- 
nungen auf eine Dauerheilung erwecken. Alle biologischen und 
ärztlichen Erfahrungen müssen auf die Ei-, Samen- und Fruchtbil- 
dung, auf das so breite Angriffsflächen darbietende Impfgewächs 
des Keimlinges angewendet werden, damit uns nicht künftige Ärzte- 
generationen schwerer Unterlassungen zeihen. Der Kümmerwuchs 
der Kinder von Frauen, welche trotz verabfolgter Röntgenkastrations 
dosis geschwängert wurden, diese verhängnisvollen Analogien 
mit der Verkrüppelung und Sterilisierung von Jungen röntgen- 
bestrahlter Säuger haben Unterberger zum Mahnrufe veranlasst: 
„Wehe uns, wenn uns künftige Generationen wegen Missbrauches der 
Röntgenstrahlen verfluchen müssen“. Was soll man erst zu der 
von einem Physiologen (Haberlandt) vorgeschlagenen „zeitweisen‘ 
Sterilisierung durch Einpflanzung aktivierter Eierstöcke Schwanzerer 
auf Nichtschwangere oder der Einverleibung giftiger Mengen von 
Lutein- oder Sperminpräparaten, Adrenalin, Cholinbasen, sagen, welche 
doch den gesamten Oozytenbestand in seiner gewaltigen Energie- 
speicherung schädigen! Die Ehrfurcht .vor den Errungenschaften 
unserer Stammes- und Kulturdifferenzierung, der Grossartigkeit und 
Wucht der so tiefgreifend umstandbedingten Keimesentwicklung, die 
Ablehnung der Keimplasmatheorie verbietet es dem Arzte, seine 
Hand zu solchen Kulturwidrigkeiten zu rühren. In die Hand des 
Arztes ist, das Schicksal der Schwangeren, ihres Kindes, der Ge- 


22 Alfred Groil, Keimesfürsorge. [21 


schlechtszellen des letzteren wie der mütterlichen heranreifenden 
Eizellen gelegt. Diese drückende Verantwortung verpflichtet zur 
Vorlage folgenden Gesetzentwurfes zur Durchführung 
der ärztlichen Schwangeren-, Keimes- und Keim- 
lingsfürsorge: 

$ 1. Einführung eines ärztlichen Ehe(Paarungs)konsenses. Zur 
Sicherung der Erhebungen wird gefordert: a) das eidesstättige Bekennt- 
nis der Konstitutionskrankheiten in der Familie — auf Grund eines 
Fragebogens mit ärztlichen Erläuterungen, b) das eidesstättige Bekennt- 
nis venerischer Erkrankungen, Vorlage ärztlicher Behandlungsscheine 
insbesondere der Nachbehandlung bei Lues, sonstiger Infekte und 
Intoxikationen, c) der Obduktionszwang auf Verlangen des 'loten- 
beschauers, obligatorische Beilage ärztlicher Behandlungsscheine, 
d) die Protokolle (Gesundheitsausweise) der Konstitutionsambulatorien. 

& 2. Verbot der Kohabitation zwischen dem 12. und 24. Tage 
eines vierwöchentlichen Normalzyklus, dem 6.—16. Tage eines drei- 
wöchentlichen Zyklus. 

Bä Obligatorische Schwangerenkontrolle; Zeitpunkte nach Mass- 
gabe der Anordnungen des Eheberaters, des ärztlichen Ehekonsenses, 
in den zu errichtenden Konstitutionsambulatorien. 

8 4. Drakonische Freiheits und Geldstrafen für Paarungen 
ohne ärztlichen Konsens, dessen Abschrift der Matrikel beizulegen 
ist. Staatliche Unterstützungen für das Kind nur gegen Vorweis 
des ärztlichen Paarungskonsenses. 

8 5. Verbot der temporären Sterilisierungz nach Haberlandt 
und anderen Verfahren, welche als Verbrechen gegen keimungs- 
fähiges Leben zu ahnden sind. 

8 6. Anmeldepflicht für Totalkastration und Fruchtabtreibung. 

Beim uralten Kulturvolke der Chinesen wird der Arzt von den 
Gesunden entlohnt, welche an ihrem Haustore die durchbrochene 
Münze hinterlegen. Unsere Kulturdifferenzierung hat Keimesschädi- 
gungen von unabsehbarer Tragweite ermöglicht, welche nur dadurch 
kompensiert werden können, dass sich ein ansehnlicher "Tel der 
_ Ärzteschaft der Prophylaxe widmet und die therapeutisch tätigen Kol- 
legen vor dem deprimierenden non possumus bewahrt. So wird sich 
allmählich ein Umschwung anbahnen, welcher uns dem vom ersten 
grosszügigen Hygieniker Rudolf Virchow in tiefem ethisch- 
sozialen Empfinden gesteckten Ziele näher bringt: „Nicht heilen 
sondern verhüten.“ Nicht der schwer erkrankte Mitmensch, wohl 
aber die höherstrebende und leidende Kulturmenschheit kann von 
allen endogenen Konstitutionsfehlern, insbesondere der Krebskrank- 
heit geheilt werden Mors auxilium vitae. 





Die sekundären Geschlechtsmerkmale am 
menschlichen Schädel. 


Von 
Dr. Stefanie Oppenheim, München. 





Eine grosse Zahl sekundärer Geschlechtsmerkmale sind uns aus 
der Zoologie bekannt. Unbekannt bleibt jedoch häufig der Zusammen- 
hang mit dem Gesamtorganismus des Tieres. So sollen z. B. Katzen 
mit gelb-weiss und schwarz geflecktem Fell stets weiblich sein. Die 
im Reich der Insekten und Vögel stark variierende Grösse und Farbe 
beider Geschlechter, die verschiedene wechselnde Grösse bei Fischen, 
Amphibien und Säugern lassen sich je nach der Sexualfunktion des 
einen oder andern Geschlechts deuten. Sie sind zum grossen Teil 
erforscht. | 

Dass die Variabilität dieser Sexualmerkmale im männlichen 
Geschlecht grösser ist, ist schon Darwin gelegentlich seiner Unter- 
suchung an domestizierten Tieren aufgefallen. So sollen sich z. B. 
Muskelvarietäten 1/,mal häufiger bei Männern finden als bei Weibern, 
vermehrte Rippenzahl 3 mal häufiger bei den Männern, ebenso ver- 
mehrte Zahl der Wirbel. Ja, sogar die quantitative Häufung der 
sekundären Geschlechtsmerkmale soll! im männlichen Geschlecht 
grösser sein als im weiblichen. Darwin führt diess Erscheinung 
darauf zurück, dass das männliche Geschlecht mehr Nahrung zu 
sich nimmt, als für den Organismus des Lebewesens notwendig ist. 
Neuerdings neigt man zur Ansicht, dass die physische Inanspruch- 
nahme des Weibes zu Fortpflanzungszwecken und die schon mit 
den Entwicklungsjahren beginnende Einstellung ihrer Physis auf 
ihre Sexualaufgabe die mannigfaltige Ausbildung der sekundären 
Geschlechtsmerkmale in ihrem Körperbau einschränke. Denn man 
ist durch neuere Forschungen immer mehr zur Ansicht gekommen, 
dass die Keimdrüsen nicht nur dem Zweck der Fortpflanzung dienen, 
sondern dass sie auch noch durch innere Sekretion dem Körper Stoffe 


24 Stefanie Oppenheim, [2 


zuführen, die zum Aufbau des Individuum und zur Ausprägung 
seines Sexualcharakters verwendet werden. Fällt die Funktion der 
Keimdrüsen durch Krankheit oder durch operativen Eingriff weg, 
so fehlen auch in der Regel mit dem Ausfall der Sexualfunktion die 
Charakteristika des männlichen und weiblichen Habitus, es fehlen 
die sekundären Geschlechtsmerkmale. | 


So hat man bei Säugetieren beobachtet, dass nach Kastration 
z. B. der Stier eine andere Schädelform und längere Hörner erhält, 
dass. die Hinterbeine eine grössere Länge erreichen, dass bei Ebern 
hingegen die Eckzähne nicht zu Hauern auswachsen, dass der 
Schädel des Schafes überhaupt kleiner bleibt. Tandler und Gross 
sind der Meinung, dass der Kastratenschädel der Säugetiere über- 
haupt länger und breiter aber niedriger, sowie das Hirngewicht des 
kastrierten Rindes geringer ist. Ja, es sind auch Versuche gemacht 
worden, der Kastration die Transplantation der anders geschlechtlichen 
Keimdrüsen folgen zu lassen, wonach bei beiden Geschlechtern die 
äusseren Geschlechtscharaktere sich völlig in die Richtung des andern 
Geschlechts verschieben. Goldtschmidt!) beschreibt in seinem 
neuesten Buch ein solches von der Natur ausgeführtes Experiment, 
das bisher als einziges bekannt geworden ist. Bei Zwillingsgeburten 
von Kälbern nämlich ist 'es sehr selten, dass je ein normales Stier- und 
Kuhkalb geboren wird. Wenn beide Individuen nicht dem gleichen 
Geschlecht angehören, dann findet sich meist ein normales Stierkalb 
mit einem geschlechtlich abnormen Kuhkalb, der sogenannten Zwicke 
kombiniert. Denn die Zwillinge sind durch eine Blutgefässanastomose 
verbunden, so dass das gleiche Blut beide durchspült. Bei dem männ- 
lichen Fetus entwickelt sich der Hoden mit seiner innersekretorischen 
Drüse zuerst, bevor der Eierstock des weiblichen Fetus mit der 
Hormonenproduktion begonnen hat. So entwickelt sich letzterer Fetus 
unter dem Einfluss der männlichen Hormone, der Eierstock differen- 
ziert sich nicht weiter und alle sekundären Geschlechtscharaktere, 
die noch nicht ausdifferenziert sind, entwickeln sich in männlicher 
Richtung. 


Beobachtungen an menschlichen Kastraten sind selbstverständ- 
lich seltener: Abflachung des Hinterhauptes und Verkleinerung des 
Schädels sind nach Kastration bemerkt worden. Allbekannt ist ja, 
dass der Bart beim Manne wegfällt, Kehlkopf und Stimme auf der 
Stufe des kindlichen Typus verbleibt. 


1) Goldschmidt, R., 1920. Die quantitative Grundlage von Vererbung 
und Artbildung. Berlin, Springer, Heft XXIV der „Vorträge und Aufsätze über 
Entwicklungsmechanik der Organismen (herausgegeben von W. Roux) ` 


3] Die sekundären Gaschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 25 


Auch andere körperliche Veränderungen sind eingehend studiert 
worden, die beim Ausfall der Keimdrüsensekretion die Sexualmerk- 
male bei Mann und Weib mehr und mehr verwischen, so dass die 
beiden normalerweise differenten männlichen und weiblichen Typen 
in ihrer Erscheinung sich einander nähern. 

Aus dieser kurzen Darlegung geht also die grosse Rolle hervor, 
die die Keimdrüsensekretion im menschlichen Organismus zu spielen 
hat. Die Keimdrüsen sind also nicht nur Bildner der zukünftigen 
Generation, sondern sie sind, gemeinsam mit andern Drüsen des 
menschlichen Körpers der normale Ausgangspunkt der Bildung sekun- 
därer Geschlechtsmerkmale. 

Nur ein Teil dieser sekundären Geschlechtsmerkmale und zwar 
nur derjenige, der sich am menschlichen Schädel manifestiert, soll 
an dieser Stelle behandelt werden. 

Sowohl am männlichen wie am weiblichen Schädel sind eine 
ganze Reihe von Eigenschaften bekannt, die ihn deutlich dem einen 
oder andern Geschlecht zuweisen. Selbstverständlich wird es immer 
Schädel geben, deren Einreihung grosse Schwierigkeiten bereitet, weil 
sie Merkmale beider Geschlechter kombiniert an sich tragen. Diese 
Ausnahmen müssen vorerst beiseite gelassen werden, bis auch in 
diesen Fällen Erkennungszeichen gefunden sind, die einstweilen noch 
fehlen, um das Geschlecht eindeutig bestimmen zu können. 

Broca, der Begründer der Pariser Schule der Anthropologie, 
hat schon den Standpunkt vertreten, dass zur Beurteilung, ob ein 
Schädel männlich oder weiblich sei, es der Berücksichtigung des 
Gesamteindrucks bedarf, da der eine oder andere Geschlechtscharakter 
im Einzelfalle geringer ausgeprägt sein oder fehlen kann. Brocas 
Nachfolger Manouvrier hat im Jahre 1882 in einer Arbeit, be 
titelt: „Sur la grandeur du front et des principales régions du crâne chez 
l'homme et chez la femme‘‘, sein Hauptaugenmerk aut die Sexualdifte- 
renz am Schädel gerichtet und nennt in seinen Untersuchungen den 
männlichen Schädel einen „Typ parietal‘, den weiblichen einen „Typ 
frontal“, das heisst, dass beim Manne die Scheitelgegend, bei der 
Frau die Stirngegend stärker ausgebildet ist. Manouvrier kommt 
überhaupt zu der Ansicht, dass der Schädel in bezug auf seine Ober- 
flächenentwicklung im Verhältnis zur Basis beim Weib grösser ist 
als beim Mann. 

Auch Rebentisch kommt in seiner Untersuchung ‚Über den 
Weiberschädel“ im Jahre 1892 zur Überzeugung, dass im Grössen- 
verhältnis des Gesichts zum Gehirnschädel bei den Frauen in 360% 
ein bedeutendes Überwiegen des Gehirnschädels vorliegt, bei den 
Männern aber nur in 6%, und dass in 800% aller Fälle beim Manne 


26 Stefanie Oppenheim. [4 


dem allgemeinen Eindruck nach der Gehirnschädel gleichgross wie 
der Gesichtsschädel ist. Rebentisch hat ferner, was uns hier am 
meisten interessiert, die Schläfenlinien sowie die Warzenfortsätze 
untersucht, resp. mit den Worten gross, mittelgross und klein, oder 
sehr kräftig bis wenig kräftig ganz subjektiv eingeschätzt; er fand bei 
Männern in 64% der Fälle einen grossen Warzenfortsatz, bei Frauen 
nur in 180, einen kleinen hingegen in 13% bei den Männern und 
in 50% bei den Frauen, mittelkräftige Schläfenlinien in 46% bei 
Männern und 3800 bei Weibern, sehr kräftige in 5%0 bei Männern, 
aber nur in 2% bei Weibern. In der Grösse und im Gewicht des 
Unterkiefers sowohl wie im Schädelgewicht findet Rebentisch 
ebenfalls deutliche Sexualverschiedenheiten, die bei europäischen 
Schädeln viel mehr zutage treten als bei asiatischen. Für ihn be- 
stehen also die hauptsächlichsten Unterschiede in der geringeren 
Grösse des weiblichen Schädels, in der geringeren Entwicklung der 
Knochenvorsprünge für die Muskelursprünge und -ansätze, im Bei- 
Dehalten kindlicher Charaktere, wie geringe Entwicklung des Unter- 
kiefers, besondere Gestaltung der oberen Gesichtshälfte und der Stirn 
durch die geringere Ausbildung der Stirnhöhlen, im Überwiegen 
des Schädeldaches über die Schädelbasis und im Bestehenbleiben der 
Stirn- und Scheitelhöcker. 

Paul Bartels veröffentlichte im Jahre 1897 in seiner Studie 
über ‚„Geschlechtsunterschiede am Schädel“ ähnliche Resultate. Er 
findet in der Regel bei den meisten Männern ein Gewicht des Unter- 
kiefers, das 13—160 des Gesamtschädelgewichts ausmacht, bei den 
Frauen hingegen nur 12—15%. Auch fügt er hinzu, dass das weib- 
liche Gesicht in allen Dimensionen kleiner ist als das männliche. 
Ein wichtiger Geschlechtscharakter ist für Bartels die Ausbildung 
der Arcus superciliares, die knöchernen Augenbrauenbögen, die er 
beim Manne in 950%, bei der Frau nur in 13% gefunden hat. Hin- 
gegen ist nach ihm die Hinterhauptsbreite beim Weib absolut und 
relativ breiter. Zahlenangaben für diese Behauptung fehlen leider. 
Auch er fand starke Warzenfortsätze beim Manne in 820%, bei der 
Frau nur in 2200 aller Fälle ausgebildet. 

Ranke betont mit Nachdruck, dass bei den Frauenschädeln 
der altbayrischen Landbevölkerung in der Querrichtung die Wölbung 
des Schädeldachs die Breite der Schädelbasis weit beträchtlicher 
üherragt, als das bei den männlichen Schädeln der Fall ist. 

Dass das absolute Schädelgewicht des männlichen Individuum in 
allen Rassen grösser ist als bei der Frau, wurde schon erwähnt. 
Die Differenz zwischen den Geschlechtern ist oft recht bedeutend ; 
so kann ein mittlerer Unterschied bei den Deutschen von 160 g, 


5] Dıe sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel, 27 


bei Aino, der Urbevölkerung Japans, von 134 g bestehen. Ähnlich 
verhält es sich mit dem Gehirngewicht und dem Volum des Schädel- 
innenraumes, der Kapazität. Und doch betonen Waldeyer u. a. 
mit Recht, dass die Frau im Verhältnis zum Gewicht ihres Körpers 
das schwerere Gehirn besitzt. Da diese Erscheinung auch beim Kinde 
vorkommt, fand der Satz: „Die Frau stehe dem kindlichen Typus 
näher als dem männlichen‘ Eingang in die Wissenschaft. Er besteht 
etwa mit derselben Berechtigung, wie die Fundamentalgesetze der 
Anthropo-Soziologie von De Lapouge, der z. B. als das „Gesetz 
der Intellektuellen‘ folgenden Satz aufstellt: „Unter der Kategorie 
der intellektuellen Arbeiter sind die absoluten Schädeldimensionen 
insbesondere die der Schädelbreiten grösser‘. Beispiel: Bismarck, 
gebildete Engländer. 


Überhaupt ist die Verquickung der physischen mit den psychi- 
schen Vorgängen des menschlichen Organismus lange Zeit Gegen- 
stand höchsten Interesses gewesen. Nicht zum wenigsten haben die 
Möbiusschen Spekulationen auf dem Gebiet der Sexualdifferenz 
dazu beigetragen, einige Verwirrungen anzurichten. So sagt der Autor 
in seinem „physiologischen Schwachsinn des Weibes‘: „Körperlich 
genommen, ist, abgesehen von den Geschlechtsmerkmalen, das Weib 
ein Mittelding zwischen Mann und Kind, und geistig ist sie es, 
wenigstens in vielen Dingen auch. Im einzelnen gibt es freilich 
Unterschiede. Beim Kind ist der Kopf relativ grösser als beim Manne, 
beim ‘Weibe ist der Kopf nicht nur absolut, sondern auch relativ 
kleiner. (Dass dies unrichtig ist, hat Verf. bereits erwähnt.) Ich finde 
nicht selten bei mittelgrossen Weibern einen Kopfumfang von 51 cm. 
So etwas kommt bei Männern nicht vor, die geistig normal sind, 
nur bei krankhaft Schwachsinnigen, Idioten. Jene Weiber aber sind 
in ihrer Art ganz gescheit.“ 


Fast alle diese genannten Autoren haben am Schädel die Grössen- 
unterschiede zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gemacht; sie 
haben die gefundenen Differenzen beschrieben anstatt berechnet, 
und zwar indem sie die Merkmale vergleichsweise gegeneinander ab- 
wogen. Dass diese Forschungen uns nicht sonderlich gefördert haben, 
lag an der bisher gebräuchlichen Methode. Denn bis heute ist noch 
keine eindeutige Bestimmung der Geschlechtmerkmale am Schädel 
möglich. Es genügt z. B. nicht, anzugeben, dass das männliche Ge- 
biss kräftiger, der männliche Unterkiefer grösser ist als der weib- 
liche, sondern wir wollen zahlenmässig wissen, was in Wirklichkeit 
charakteristisch für beide Geschlechter innerhalb der einzelnen 
Rassen ist. | 


28 Stefanie Oppenheim. [6 
a 


Nach längeren Studien an Primatenschädeln bin ich zu der An- 
sicht gekommen, dass die Ausbildung der Muskulatur aus- 
schlaggebend ist für verschiedene sexuelle Veränderungen am Schädel. 
Um in Kürze anzudeuten, welche Veränderungen ich meine, verweise 
ich auf die verschiedene Ausbildung eines männlichen und eines 
weiblichen Gorillaschädels, an welchen diese Modifikationen am ekla- 
tantesten in die Augen springen. Es handelt sich sowohl um die 
Wirkung der Kau- als auch der Nackenmuskulatur auf den Schädel. 


Die Skelettmuskulatur unseres Körpers übt bekanntlich auf das 
allgemeine Knochenwachstum einen Reiz aus. Die knöcherne Unter- 
lage steht also in bestimmter Korrelation zu ihrer Muskulatur. Daher 
sind auch Schädel, an welchen eine kräftige Muskulatur angesetzt 
hatte, was sich an den Ursprungs- und Ansatzstellen am Schädel 
nachweisen lässt, weitaus schwerer als Schädel, an welchen eine 
schwache Muskulatur nur geringe Muskelmarken hinterliess. Wir 
erhalten einen Begriff von der Schwere und der verschiedenen Aus- 
bildung der Muskulatur, wenn wir z. B. Orang-utan und Mensch 
gegenüber stellen: Die Kaumuskulatur des Orang-utan wiegt im 


Durchschnitt 478 g 
die des Menschen nur 148 g 
Die Gesamtmuskulatur des Orang-utan wiegt 14300 g 
diejenige des Menschen aber 24 000 g 


Die Kaumuskulatur des Orang-utan macht also 3—31/,0% 
der Skelettmuskulatur aus, die menschliche Kaumuskulatur hin- 
gegen nur 0,60% seiner gesamten Skelettmuskeln. Diese grossen Unter- 
schiede der Muskeln des Kopfes sprechen sich deutlich aus in der 
starken Knochenauflagerung eines Orangschädels gegenüber dem 
reliefarmen Schädel eines Menschen. 


Bei dem männlichen und weiblichen Gorillaschädel fällt folgendes 
auf: Beide gehören der gleichen Rasse an. Der männliche zeichnet sich 
durch starke Sagittal- und Okzipital- Knochenkämme, durch einen 
grösseren Unterkiefer und dementsprechend grösseres Gebiss aus. Ferner 
ist die Hinterhauptschuppe stark abgeplattet und zeigt Spuren eines 
Muskelreliefs, das auf eine sehr stark ausgebildete Nackenmuskulatur 
schliessen lässt. Anders beim weiblichen Schädel, wo Knochen- 
auflagerungen, auch Aussenwerk genannt, völlig fehlen, das Gebiss 
kleiner ist und das Hinterhaupt eine Wölbung und nur wenig Muskel- 
relief zeigt. Hier haben wir zwei typische Vertreter für den Ge- 
schlechtsunterschied am Schädel. Die grosse Sexualdifferenz, die 
einzig durch die Ausbildung der Muskulatur hervorgerufen ist, fällt 
stark in die Augen. Dass auch das Gewicht der beiden Schädel ein 


7) Die sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 29 


verschiedenes sein muss, wodurch ein weiteres Geschlechtsmerkmal 
gegeben ist, ist klar. ` 

Ganz verschieden von den Vertretern der grössten Anthro- 
pomorphen verhalten sich die Schädel der Schimpansen. Beide Schädel, 
sowohl der männliche wie weibliche, haben infolge des gleichförmigen 
Gebisses eine weit weniger sexuell differenzierte Muskulatur; es 
fehlen die Knochenauflagerungen in beiden Geschlechtern gänzlich, 
die Schädel sind stärker gewölbt als die der Gorilla, und sind konse- 
quenterweise nahezu gleich gross und gleich schwer. Der Sexual- 
charakter am Schädel ist also beim Schimpanse weit weniger aus- 
geprägt als beim Gorilla. Dadurch wird die Bestimmung seiner 
Zugehörigkeit zum einen oder andern Geschlecht ausserordentlich 
erschwert. Auch die Schädelkapazität zeigt bei Schimpanse einen 
geringeren sexuellen Unterschied als bei Gorilla. 


Am menschlichen Schädel hat man bisher wenig Gewicht auf 
die sexuell-differenzierte Ausbildung der Kau- und Nackenmuskulatur 
gelegt. Die Beobachtungen an den Anthropomorphen führten aber 
zu der Frage, ob nicht auch für die sexuelle Differenzierung des 
nenschlichen Schädels die Muskulatur von Bedeutung sei. Ähn- 
lich wie bei Schimpanse macht aber die Feststellung der feineren, 
nicht wie bei Gorilla auf der Hand liegenden Unterschiede Schwierig 
keiten, diese genau zu fixieren. Und doch lässt sich durch Messung 
und Berechnung gewisser mit der Muskulatur zusammenhängender 
Merkmale die sexuelle Differenzaldiagnose des menschlichen Schädels 
vervollständigen. P TE TE E 

Der Ausgangspunkt dieser Untersuchungen blieb, wie gesagt, 
der Schädel. Zum Vergleich der Unterschiede resp. zur genaueren 
Feststellung der Richtigkeit der Befunde wurden die Messungen auch 
auf den Lebenden ausgedehnt, um am Kopf des Jugendlichen Wachs- 
tum und Wachstumsstillstand, am Kopf des Erwachsenen die ver- 
schieden starke Geschlechtsausbildung der Muskulatur zu beobachten. 


Die zum Vergleich beigezogenen Lebenden bestanden aus 821 
Individuen, darunter 169 deutsche Soldaten, auch 20 jüdische, ferner 
127 Krankenschwestern aus zwei verschiedenen katholischen und 
protestantischen Schwesternschulen, sowie 35 jüdischen; dann 192 
Knaben im Alter von 15—19 Jahren aus Züricher Mittelschulen und 
333 Mädchen im gleichen Alter, ebenfalls aus Züricher Mittelschulen. 
An Schädeln standen mir 134, ihrem Geschlecht nach bekannt, zur 
Verfügung; sie wurden in Paris im Museum des Jardin des Plantes 
und im Musde Broca vor Kriegsausbruch untersucht. Es waren 
Neu-Caledonier, Magyaren, Walachen, Rumänen und Franzosen. 





20 Stefanie” Oppenheim. [8 


Zur Beobachtung am Schädel wurden diejenigen Messpunkte ge- 
wählt, die am besten über die Ausdehnung der Muskulatur, resp. über 
die durch diese bedingte mehr oder weniger starke Knochenauflage- 
rung am Schädel auszusagen imstande waren. Das war in erster ` 
Linie für die Kaumuskulatur die Distanz der beiden Lineae temporales 
inferiores, die in der Gegend der Kranznaht am kleinsten zu sein 
pflegt. In dieser Gegend wurde sie auch gemessen. Je höher nun der 
Temporalmuskel am Schädel hinaufreicht, 1. desto grösser ist über- 
haupt seine Ausdehnung, und 2. desto kleiner ist die Distanz zwischen 
den beiden Messpunkten der sich gegenüber liegenden Schläfen- 
muskeln. Mit anderen Worten, je niedriger die gefundene Zahl, also 
je kürzer die Distanz, desto besser ist die Schläfenmuskulatur aus- 
gebildet. Über die Ausbildung der anderen Kaumuskeln orientieren 
uns am Gesicht die Jochbogenbreite und die Unterkieferwinkelbreite; 
auch die kleinste Stirnbreite kann uns dazu verhelfen, das Gesamt- 
bild zu komplettieren. Über die Nackenmuskulatur erhalten wir ein 
annäherndes Bild aus der knöchernen Unterlage des Hinterhauptes. 
Hier kommen besonders die Warzenfortsätze in Betracht, an denen 
fünf kleine und grosse Muskeln sowohl ansetzen wie entspringen. 
Mir schien die mehr oder weniger starke Ausbildung der Warzen- 
fortsätze von prinzipieller Bedeutung und zwar nicht nur die grösste 
Entfernung der beiden Warzenfortsätze von einander (a) (diese Linie 
würde etwa der grössten Hinterhauptsbreite entsprechen), sondern 
auch ihre kleinste Entfernung von einander (b), die auf den Spitzen der 
beiden Warzenfortsätze zu suchen ist. Durch diese beiden Masse 
und ihre relativen Werte sind wir imstande, zu erkennen, ob die 
Warzenfortsätze stark oder schwach ausgebildet sind, denn je grösser 
die Differenz zwischen der grössten und kleinsten Breite der Warzen- 
fortsätze, desto besser ist der Warzenfortsatz des betreffenden Schädels 
entwickelt. Diese Tatsache berechtigt zu dem Schluss, wie schon 
vorhin gesagt wurde, dass die Muskulatur der Unterlage entsprechend 
mehr oder weniger stark ist Auch die Schädellänge und -breite 
wurde gemessen, war aber nur von sekundärer Bedeutung. 


Beim Lebenden waren diese Masse ebenfalls deutlich abtastbar, so 
dass sie zum Vergleich herangezogen werden konnten. Die Kau- 
muskulatur des betreffenden Individuum wurde mittels eines harten 
Stückes Brot in Tätigkeit gesetzt, und das Individuum dabei an- 
gewiesen, solange tüchtig zu kauen, bis die obere Grenze des sıch 
durch den Kauakt bewegenden Temporalmuskels in der Kranznaht- 
gegend ermittelt war. Die Warzenfortsätze können beim Lebenden 
bei erschlaffter Muskulatur deutlich durch die Weichteile abtuschiert 


9] Die sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 31 


und ihre Grösse sowie ihre Entfernung voneinander mittels Taster- 
zirkels genau bestimmt werden. 


Von der Frage nach dem Geschlecht waren aber die Fragen 
nach der Rasse und dem Alter nicht zu trennen, denn je mehr sich 
im Laufe der Arbeit die Fragestellung vertiefte, um so wichtiger 
schien es, die Zusammenhänge dieser drei Faktoren zu untersuchen. 


Der charakteristische Knochenbau trat in den einzelnen Gruppen 
deutlich zutage. Aber auch der Einfluss der Schädelform war dabei 
unverkennbar. Die ausgesprochen langschädeligen Neucaledonier 
weichen z. B. von den anderen mehr kurzschädeligen Rassen in ver- 
schiedenen Punkten stark ab; es ist dabei nicht unwahrscheinlich, ` 
dass die Rassenprimitivität die Sexualunterschiede in bezug auf den 
Schädelcharakter stärker betont. Bei den 5 Schädelgruppen, die ich 
untersuchte, ist der weibliche Längenbreitenindex höher als der 
männliche. Eine Ausnahme bilden die Neucaledonier (LBJ = 
ő 72,4, 2 71,0), was der Regel bei den zivilisierten Rassen und auch 
meinen sonstigen Untersuchungen widerspricht. Wir finden näm- 
lich auch bei Gorilla den höheren Längenbreitenindex beim muskel- 
starken Männchen (& 82,4, ? 80,0), bei den muskelschwachen Hylo- 
batiden hingegen das umgekehrte Verhalten (& 79,0, 9 82,0). Die 
in der Regel geringere Schädellänge des Weibes ist durch die kleinere 
Stirnhöhle, schwache oder fehlende Protuberantia occipitalis externa 
wie überhaupt durch geringere Knochenauflagerungen in der Okzi- 
pitalgegend hervorgerufen. Feinere nicht durch Beobachtung oder 
Messmethoden allein genügend charakterisierte Merkmale habe ich 
durch Berechnungsmethoden festzulegen versucht. Dazu benutzte 
ich die in der Anthropologie gebräuchliche Methode der Berechnung 
der Typendifferenz, die das gegenseitige Verhältnis zweier 
Gruppen zueinander charakterisiert und deren Formel lautet D= 


100 (M,—M,) S z = wobei M, den Mittelwert des einen Gruppen- 


merkmals, M, den Mittelwert des andern Gruppenmerkmals, sowie 
c, die stetige Abweichung des einen Mittelwertes und ø, die stetige 
Abweichung des andern Mittelwertes der beiden Gruppen darstellt. 
Ist das Resultat eine hohe Zahl, so ist damit der Beweis der Ver- 
schiedenheit der beiden verglichenen Gruppen oder Rassen erbracht. 
Ist das Resultat eine niedrige Zahl, so spricht das für eine Ähn- 
lichkeit zwischen den beiden verglichenen Gruppen. Diese Formel 
lässt sich übrigens ebensogut auf die beiden Geschlechter, wie auf 
zwei Gruppen anwenden; ich habe sie dann nicht :Formel der per 
sondern der Sexualdifferenz genannt. 





32 Stefanie Oppenheim. [10 


Auch das individuelle Alter muss berücksichtigt werden. Jugend- 
lichen noch im Wachstum begriffenen Individuen fehlen die mar- 
kanten Merkmale, alten Individuen gehen sie wieder durch physio- 
logischen Knochenschwund verloren, so dass eine Orientierung über 
das Alter unerlässlich ist, will man sich nicht dem Verdacht, eine 
Reihe von Fehlerquellen im Verlaufe der Arbeit angesammelt zu 
haben, aussetzen. Die Untersuchungen der Knaben und Mädchen 
führten besonders zu interessanten Aufschlüssen, und hier zeigte 
sich der grosse Wert der Berechnungen, die weder durch Beob- 
achtung noch durch einfache Messung oder Indexbestimmung ersetzt 
werden können. Ich benutzte hierzu die Berechnung der mittleren 
_ Typendifferenzen D,, D,, .... . Dp, dividiert durch die Anzahl (p) 

der Merkmale, gemäss der Formel: Dm = 1/p (D; + Də... . Dp) 
= l/p3D. Ich habe für diese Berechnungen 3 Indizes, die aus 
Massen des Gehirnschädels zusammengesetzt sind (Gruppe A), einer 
Gruppe von 4 Indizes gegenübergestellt, die jeweils ein Mass des 
Gesichts- zu einem Mass des Gehirnschädels in Beziehung (Gruppe B) 
bringen. Für diese beiden Indexgruppen wurde die mittlere Typen- 
differenz gesondert berechnet (vgl. S. 13 und S. 14). Die mittleren 
Typendifferenzen der Indexgruppe A der 15—19 jährigen Knaben 
nehmen, wie aus meiner Berechnungen hervorgeht, ständig von 80 bis 
154 zu; die Differenz zwischen 16-, nahezu 18 jährigen ist geringer (sie 
bertägt 72,5) als zwischen 17- und 19 jährigen (die 88,7 beträgt), a. h. 
also, dass das Wachstum vermutlich im Alter von 17—19 Jahren ein 
intensiveres ist als im 17. Jahr. Ähnlich ist die Zunahme in der 
Indexgruppe B, vielleicht um etwas kleiner, dafür aber wie es 
scheint in den einzelnen Altersstufen konstanter. 


Anders bei den Mädchen, bei welchen von einer Abnahme der 
Differenz mit zunehmendem Alter gesprochen werden kann (von 
135 auf 80). Dass bei diesen Zahlen auch Zufälligkeiten im Spiele 
sind, geht aus den Tabellen hervor; denn wir haben es nicht mit 
einem homogenen Material zu tun. In den Schweizer Schulen, in 
welchen diese Messungen vorgenommen wurden, sind wohl in der 
Hauptsache Schweizerinnen, es finden sich aber auch einzelne Indi- 
viduen englischer, russischer, jüdischer, portugiesischer und anderer 
Herkunft darunter, die äusserlich akklimatisiert, dennoch ein von 
der Mehrzahl der Schülerinnen auffallend verschiedenes Element 
hereintragen, das nicht ohne Einfluss auf die Mittelwerte bleiben 
kann. Ausserdem zeichnen sich die Schweizer nahezu durchwegs 
durch schlechte Beschaffenheit des Gebisses aus, was wiederum von 
Einfluss auf die Kaumuskulatur ist. 


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Wë 


11] Die sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 33 


Immerhin als Ganzes betrachtet, geben die Zahlen ein über- 
raschendes Bild, das uns die Wachtumsverschiedenheiten während 
der Entwicklungszeit, vielleicht zum ersten Male in Zahlen, wieder- 
zugeben imstande ist. Es ist bekannt, dass die Entwicklungsjahre 
der Mädchen früher abschliessen als die der Knaben; nicht bekannt 
ist aber, dass dieser Prozess auch bis in Einzelheiten, wie es Schädel- 
resp. Kopfmerkmale sind, zu verfolgen ist. Hier wird das zunehmende 
Hirn- und Gesichtswachstum der Knaben durch nahezu kontinuier- 
liche Zahlenzunahme, der frühe Stillstand des Schädelwachstums 
der Mädchen durch Gleichmässigkeit resp. Abnahme der Zahlen- 
grössen deutlich. Während also ein Wachstum des Schädels bei den 
Knaben mit 19 Jahren noch nachweisbar ist, hat es bei den Mädchen 
schon mit 15 Jahren seinen Abschluss gefunden. 

.Irotzdem ist der Sexualcharakter am jugendlichen Kopf noch 
nicht ausgeprägt. Vergleicht man nämlich den im Wachsen be- 
griffenen Menschen beiderlei Geschlechts miteinander (nach der 
Formel der Sexualdifferenz), so zeigt sich ein gegenüber dem Er- 
wachsenen durchaus anderes Ergebnis, was in den geringeren. Zahlen- 
werten der Jugendlichen deutlich zum Ausdruck kommt. Hingegen 
haben die Warzenfortsätze schon von früher Jugend an eine typische 
Ausprägungsform und bilden ein Erkennungszeichen für einen 
männlichen oder weiblichen Schädel, weil die gefundene Differenz- 
zahl schon während des Wachstums sehr hoch ist (161,5). Demnach 
dürfte also die Ausbildung der Nackenmuskulatur als Kennzeichen 
für den männlichen und weiblichen menschlichen Schädel von 
grösserer Bedeutung sein als die Kaumuskulatur, denn die Indexwerte 
für Unterkiefer- und Schläfengegendausbildung sind im Jugendalter 
noch gering (zwischen 25 und 82). 

Während unter den von mir untersuchten Schädelgruppen die 
mittlere Typendifferenz bis auf 551 steigt, fand sich unter den er- 
wachsenen Lebenden als höchste Zahl 137 im weiblichen und 99 
im männlichen Geschlecht. Das ist ja auch ganz klar, denn selbst- 
verständlich stehen sich nord-, süd-, west-, ost- und mitteldeutsche 
Soldaten untereinander und auch diese den deutsch-jüdischen Soldaten 
näher, als die Schädelgruppen untereinander, die Vertreter der 
verschiedensten Rassen, wie Magyaren, Neucaledonier, Rumänen, 
Walachen, Franzosen und Russen sind. 

Aber diese Untersuchungen an Erwachsenen gewinnen erst an 
Interesse, wenn wir die Geschlechter miteinander vergleichen. Auch 
hier ist die Sexualdifferenz bei den Schädelgruppen ausgeprägter, 
als bei den erwachsenen männlichen und weiblichen Deutschen. 
Die Verschiedenheiten sind so auffallend, dass wir auch hier wie bei 

Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. |. 3 


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13] 


Die sekundären Geschlechtsmerkmale am menschlichen Schädel. 





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38 Stefanie Oppenheim, Sekundäre Geschlechtsmerkmale am menschl. Schädel. [16 


Fast durchgehend beträgt der Abstand zwischen den Geschlech- 
tern mit überraschender Konsequenz 6—7 Einheiten. Die absoluten 
Zahlen der Lebenden sind höher um den Betrag der Hautdicken, 
der Abstand aber nahezu der gleiche. 

Hiermit sind also Zahlen gefunden, die ein Kriterium für den 
Unterschied der Geschlechter bilden; sie geben einen Anhaltspunkt 
im Zweifelfall, wenn es gilt einen Schädel als männlich oder weib- 
lich zu diagnostizieren. Liegt die aus den vier gewählten Muskel- 
massen gefundene Zahl bei Schädeln unter 110 resp. über 114, bei 
Lebenden unter 116 resp. 123, bei Jugendlichen unter 116 resp. 118, 
so haben wir es zweifellos mit einem weiblichen resp. männlichen 
Schädel zu tun. 


Eugenetische Lebensbeseitigung. 


Von 


Dr. Alexander Elster, Berlin. 





Das moderne politische Geschehen, insbesondere der Weltkrieg — 
die Fortschritte der biologischen Erkenntnisse — und die Arbeiten 
für das neue Strafgesetzbuch — diese drei Momente sind es, die das 
Problem eugenetischer Lebensbeseitigung und namentlich das krimi- 
nalpolitische Problem der Abtreibung erneut in die ernste wissen- 
schaftliche Debatte werfen. Der Weltkrieg, der Hekatomben der 
besten, eugenetisch tüchtigsten Menschen hinweggerafft hat, lässt uns 
weniger ängstlich als früher über die Vernichtung lebensunwerten 
Lebens denken; die Vererbungslehre, namentlich der Mendelismus, 
erhebt, bei aller hier dringend gebotenen Vorsicht, doch das Haupt 
mit einem gewissen Anspruch, in bestimmten Fällen die Indikation für 
Minderwertigkeit des Nasciturus geben zu können; die Bemühungen 
um die Strafrechtsreform legen immer wieder die Pflicht nahe, für. 
so gewichtige Dinge wie die Bestrafung der Abtreibung und die 
Verkürzung eines lediglich zur absoluten Qual gewordenen Daseins 
eine möglichst glückliche Lösung zu finden. Dabei ist dann immer 
wieder der Hinweis auf die Tatsache geboten, dass das praktische 
Leben viel rascher mit solchen Problemen fertig ‚wird als der Staat 
oder die Wissenschaft. Die Abtreibungen nehmen dauernd zu, ihre 
Bestrafung nimmt im Vergleich zu der Häufigkeit der vorkommenden 
Fälle ab; der 8218 St.G.B. erweist sich nahezu als eine lex imperfecta; 
die Technik schreitet fort und kümmert sich, je mehr sie fortschreitet, 
um so weniger um rechtliche Hemmungen; und — schliesslich — 
der ethische Gesichtspunkt ist viel stärker schattiert, als es nach 
dem Wortlaut des Strafgesetzes den Anschein haben könnte Max 
Hirsch hat durchaus recht, wenn er (in seinem Vortrag bei den 
Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynä- 
kologie) betonte, dass der Zeugungswille und nicht das Strafgesetz 


40 Alexander Elster. E 


der einzige wirkliche Regulator der Geburtenzahl ist und dass ein 
Ausgleich der quantitativen Verluste der Bevölkerungsziffer nur 
dadurch erreicht werden kann, dass man sich ‚endlich auf den Boden 
der qualitativen Geburtenpolitik stellt. Viele denkende Ärzte haben 
sich mit eindrucksvollen Gründen solcher Auffassung angeschlossen. 
Der Jurist ist ebenfalls nicht mehr durchweg so engherzig und 
formalistisch, dass er mit Scheuklappen nur auf den Buchstaben des 
Gesetzes blickt, das wirkliche Leben abər als quantité négligeable 
betrachtet. Sehr förderlich für die tiefere Einsicht in alle die 
schwierigen juristisch-medizinischen Probleme ist eine neuere Schrift 
von Dr. Ernst Wachtel (Bamberg) „Sonderfälle der 
Fruchtabtreibung“ (Monographien zur Frauenkunde und 
Eugenetik, Sexualbiologie und Vererbungslehre, herausgegeben von 
Dr. Max Hirsch, Berlin, No. 3, Leipzig 1922, Verlag von Curt 
Kabitzsch), auf die hier zunächst näher eingegangen ‚sei. 

Der Verfasser, der Jurist ist, aber auch offenbar recht gute 
Einblicke in ärztliche Probleme besitzt, setzt sich in seiner Schrift 
die Aufgabe, zwischen den beiden einander diametral entgegen- 
stehenden Ansichten über die strenge Bestrafung bzw. Vie Straf- 
losigkeit der Fruchtabtreibung „einen Mittelweg zu finden, der den 
wirklichen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen und Zuständen 
unserer Zeit entspricht. Unter Zugrundelegung der Berechtigung 
der Abtreibungsbestrafung soll versucht werden, die dem geltenden 
Recht anhaftenden Härten dadurch zu beseitigen, dass für grosse, 
bestimmte Gruppen — Sonderfälle — Straffreiheit verlangt wird.“ 
Ich bekenne als meine Ansicht, dass das der allein richtige Weg ist, 
und muss sagen, dass dem Verfasser die Lösung! seiner Aufgabe — von 
Einzelheiten des Problems abgesehen — im wesentlichen durchaus 
gelungen ist. Er geht mit Recht von dem in unserem Kultur- und 
Wirtschaftsleben bestehenden Widerstreit zwischen frühem Er- 
wachen des Geschlechtstriebs und später Heiratsmöglichkeit aus, 
weist auf die hohe Zahl der kriminellen: Aborte hin und stellt sich, 
unter Abweisung entgegenstehender Ansichten, auf die Seite der- 
jenigen, die für den Regelfall und grundsätzlich an der Strafbarkeit 
der Abtreibung festhalten. Dem ist durchaus beizustimmen, selbst 
wenn man, wie Wachtel, den Fötus nicht als Rechtsubjekt, 
sondern als Rechtsobjekt, als Teil der Mutter ansieht, die katholi- 
sche Seelentheorie hier ablehnt und das Recht des Fötus wesent- 
lich als ein Recht der Mutter festlegt. Hierbei freilich entgeht 
Wachtel nicht einigem Widerspruch mit seinen eigenen Dar- 
legungen. Wenn der Naseiturus wirklich nur portio mulieris ist, dann 
müsste die Schwangere selbst ein Recht, nicht etwa wie ein Selbst- 


3] Eugenetische Lebensbeseitigung. 4] 


mörder, wohl aber wie ein Selbstverstümmelter haben, d. h. es würde 
sich nur um einen Verstoss gegen öffentlich-rechtliche Ansprüche, 
nicht aber um Tötung irgendwelcher Art handeln. Wachtel darf 
nicht gut die Einstellung als ‚„Tötungsdelikt“ ablehnen (S. 13) 
und dann (S. 19) von der „Vernichtung eines rechtlich geschützten 
Wesens, des Fötus‘‘ sprechen. Man muss vielmehr offen die Zwie- 
spältigkeit des Nasciturus als eines teilweise als Subjekt teilweise 
als Objekt (pars matris) zu wertendes Etwas zugeben und die straf- 
rechtliche Abwehr aus den verschiedenen Erwägungen der Inte 
gritätsverletzung der Mutter und der Tötung eines : werdenden 
Menschen zu verstehen suchen. Richtig ist dagegen .die grundsätz- 
liche Betonung auf Seite 14 des Buches: „Unter Sonderfällen der 
Abtreibung sind solche Fälle zu verstehen, in denen zwar der Tat- 
bestand der Abtreibung gegeben ist, Gründe aber, die eine Be- 
strafung rechtfertigen würden, nicht vorhanden sind.“ 

Das führt auf den Kernpunkt der Frage. Solche Gründe können 
Strafausschliessungsgründe sein oder auch Schuldausschliessungs- 
gründe, die also ein Delikt als gar nicht vorliegend bezeichnen. Dalıin 
gehört die Theorie des Notstandes, mit der sich Wachtel 
eingehend, aber meines Erachtens mit unrichtigem Ergebnis 
befasst. Unter anderem ist es Mittermaier, der den ärztlich 
indizierten Eingriff bei der Beseitigung oder Tötung der Leibesfrucht 
aus der strafrechtlichen Notstandslehre herleitet. Was Wachtel 
dagegen vorbringt, überzeugt mich nicht. Im §54 St.G.B. heisst es: 
„Bine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Hand 
lung ausser dem Falle der Notwehr in einem unverschuldeten, auf 
andere Weise nicht zu beseitigenden Notstande zur Rettung aus 
einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben des Täters oder ` 
eines Angehörigen begangen worden ist.“ Richtig ist die Betonung 
Wachtels, dass das Recht der Mutter das ‚höhere gegenüber dem 
Recht des Fötus ist. Daraus aber gerade muss man entnehmen, dass 
dieses Recht, wenn es zu seiner Wahrung der Beihilfe eines Arztes 
bedarf, diese Beihilfe mit in die Sphäre des Rechts hereinzieht und 
der Bestrafung entzieht (auch wenn der Arzt nicht — im Sinne des 
854 St.G.B. — mit der Schwangeren verwandt ist!) Was Wachtel 
aber insbesondere veranlasst, das Notstandsrecht nicht auf die ärzt- 
liche Operation bezüglich der Leibesfrucht als anwendbar zu erachten, 
ist die Forderung des $ 54, dass es sich um eine gegenwärtige 
Gefahr handele. Diese sei, meint Wachtel, in der Regel, wenn es 
zu einem auch gut indizierten ärztlichen Eingriff kommt, nicht 
gegeben. Diese Ansicht des Verfassers halte ich für verfehlt und 
stimme der von ihm abgelehnten Auffassung des Reichsgerichts durch- 


42 Alexander Elster.! (4 


aus zu. Nach letzterer Auffassung ist Gegenwärtigkeit der Gefahr 
schon dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit des Eintritts der 
Gefahr besteht, welche diese nach dem erfahrungsmässigen Verlauf 
der Dinge als nahe und nicht vermeidbar erscheinen lässt (R.G.St. 
Bd. 36, S. 339). In dieser Entscheidung heisst es sehr richtig u. a., 
dass „da, wo durch die Entbindung einer Schwangeren Gefahr für 
Leib und Leben droht, die Gegenwärtigkeit dieser Gefahr nicht 
um deswillen zu verneinen ist, weil das schädigende Ereignis — die 
Entbindung — zur Zeit der Anklagetat noch nicht unmittelbar 
bevorstand, und es wird darauf hingewiesen, dass da, wo Leib oder 
Leben der Schwangeren bereits durch das Bestehen der Schwanger- 
schaft gefährdet war, es der Annahme einer gegenwärtigen Gefahr 
nicht entgegenstehe, wenn die Entbindung auch erst nach Monaten 
zu erwarten sei.“ Freilich muss, wie das Reichsgericht hinzufügt, 
die Beseitigung der Gefahr nicht auf andere Weise möglich sein; 
denn das — möchte ich sagen — gehört als Moment zur Gegenwärtig- 
keit der Gefahr. „Gegenwärtig“ ist ja nicht das gleiche wie „dring- 
lich“, es ist etwas, dem man ‚entgegenzuwarten‘ hat, etwas Drohendes, 
das mit grosser Wahrscheinlichkeit, aber_unbestimmt wann ein- 
tritt. Durch das blosse Bestehen einer Schwangerschaft kann das 
Leben der Schwangeren gegenwärtig geschädigt sein, wie die 
ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts annimmt, und gegen- 
wärtig ist etwas, was trotz augenblicklicher Gefahrlosigkeit „unmittel- 
bar in eine Verletzung umschlagen kann“ (Ebermayer , Kommen- 
tar zum Strafgesetzbuch 2. Aufl. S. 235). Das eben liegt in dem Be 
griff der „Gefahr“ und Wachtel gesteht ja selbst zu (S. 26), „es 
wäre ein törichtes Verlangen, wollte man fordern, dass die Operation 
(Perforation) erst dann vorgenommen werden dürfte, wenn es sich 
wirklich während der Geburt zeigt, dass nur auf diese Weise die 
bestehende Gefahr für die Schwangere gelöst werden kann; viel- 
mehr ist der Arzt berechtigt, eine Frühgeburt einzuleiten, um die 
Perforation durchführen zu können, wenn die Verhältnisse die Wahr- 
scheinlichkeit der Unmöglichkeit der Geburt ersehen lassen“. Über 
den nun folgenden im allgemeinen sehr beifallswürdiren Ausfüh- 
rungen Wachtels bleibt dieser Schatten der meines Erachtens 
irrigen Auffassung über das Notstandsrecht liegen, und auch hin- 
sichtlich der Stellung des Arztes als berufensten Nothelfers hätte 
ich dem Verfasser mehr Wagemut im Sinne Bindings und weniger 
Zaghaftigkeit nach dem Buchstaben des Gesetzes gewünscht. Der ‚Arzt, 
der mit Einwilligung der Schwangeren den nach ıeigener bester Über- 
zeugung indizierten Eingriff vornimmt, handelt als kunstzeübter und 
um deswillen einzig möglicher Ausführender des massgeblichen 


5] Eugenetische Lebensbeseitigung.“ 43 


Willens der Schwangeren, derjageradedadurcherstrecht- 
lich massgebend wird, dass der berufene Fachmann 
die Indikation stellt! 

Sehr zutreffend kritisiert dann Wachtel die Unzulänglichkeit 
des Strafgesetzentwurfes von 1919 in der Abtreibungsfrage, wenn 
er (S. 44) sagt: „Im Interesse einer klaren Rechtsnorm wäre es dem- 
nach erwünscht gewesen, nicht bloss negativ von der Schwanger- 
schaftsunterbrechung ohne Einwilligung zu sprechen, sondern auch 
ausdrücklich diese Operationen für straflos zu erklären. Dass Straf- 
losigkeit der Wille des Gesetzes (scil. Gesetzentwurfs) ist, auch in 
den Fällen, wo die Nothilfe des § 22 nicht ausreicht, ergibt sich 
wohl zweifelsfrei aus der Denkschrift zu dem Entwurf von 1919 
(S. 231); aber es darf nicht vergessen werden, dass diese, wenn sie 
auch amtliches Material darstellt, nie Gesetz ist und kein Richter 
an sie gebunden ist.“ In dem Entwurf fehlt hier in der Tat ein wich- 
tiges Glied zwischen der Bestrafung der Abtreibung als solcher und 
der Bestrafung der Nothilfe gegen den Willen der Schwangeren, 
und es genügt nicht, wenn die Denkschrift (S. 231), immerhin beacht- 
licherweise!, sagt: „Nothilfe ist nach $ 22 Abs. 3 gegeben, wenn 
die Tötung der Frucht oder des in ‘der Geburt begriffenen Kindes 
unter pflichtmässiger Berücksichtigung der sich gegenüberstehenden 
Interessen erfolgt, um von der Schwangeren die gegenwärtige, nicht 
anders abwendbare Gefahr eines erheblichen Schadens abzuwenden, 
den die Schwangere zu tragen rechtlich nicht verpflichtet ist, und 
wenn die Handlung nicht gegen den Willen der Schwangeren be- 
gangen wird.“ 

Ob unter solchem „erheblichen Schaden, den die Schwangere 
zu tragen rechtlich nicht verpflichtet ist‘, gegebenenfalls auch die 
Geburt lebensunwerter Kinder zu verstehen ist, steht ebenso dahin, 
wie ja jegliche eugenetische Einstellung dem Entwurf in diesen 
Paragraphen fremd ist — ganz abgesehen davon, dass der zitierte 
Satz ja eben nur in der Denkschrift und nicht im Entwurfe selber 
steht. Das neue Strafgesetz sollte sich, was Max Hirsch zum ersten 
Male 1913 gefordert und begründet hat, dem eugenetischen Problem 
ernstlich zuwenden — so schwierig es auch bei dem gegenwärtigen 
Stande der biologischen Wissenschaft noch sein mag, mit einiger 
Sicherheit vorherzusagen, was man töten wird. 

Damit beschäftigen sich dann auch Wachtelg Ausführungen 
weiter (S. 47 ff.), und zwar in vorzüglicher, kenntnisreicher und vor- 
sichtig kritischer Art. Er betont sehr richtig, dass man sich darüber 
klar sein muss, wieviel gesunde Früchte eventuell geopfert werden 
müssen, um die kranken nicht zur Welt kommen zu lassen. Die 


44 Alexander Elster. [6 


Degenerationswahrscheinlichkeit bei syphilitischen, epileptischen, 
schwachsinnigen Eltern ist gross, bei Tuberkulösen z. B. gar nicht 
erheblich. Die Statistiken aus Trinkerfamilien und über die Nach- 
kommen luetischer Eltern sind erschreckend, andererseits gibt es 
(statistisch nicht erfassbare) Erfahrungen, nach denen von schwäch- 
lichen Eltern stammende, anfangs schwächliche Kinder sehr produk- 
:tive und wertvolle Glieder der menschlichen Gesellschaft und des 
Staates geworden sind. Mit Recht legt auch Wachtel — wie alle 
sorgsamen Beurteiler dieser Probleme — das Hauptgewicht auf die 
Verhütung des Missbrauchs der eugenetischen Indikation; er kommt 
zu dem Ergebnis, dass in den Einzelfällen, in denen nach Anschau- 
ung der medizinischen Wissenschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit 
die Geburt eines Minderwertigen zu erwarten ist, die eugenetische 
Indikation gestattet sein muss, dass aber dafür neben dem Facharzt 
noch ein beamteter Arzt zu hören ist. 

Eine Abart der eugenetischen Indikation zur Schwangerschafts- 
unterbrechung ist die sozialmedizinische bzw. unter Umständen auch 
die sog. ‚rein soziale Indikation“, auf die Wachtel dann noch 
im 3. Hauptteil seiner Schrift eingeht. Man kann eine solche Indi- 
kation als eine eubiotische bezeichnen und sie so in die Nähe der 
eugenetischen bringen, muss sich jedoch über die grundlegenden 
Unterschiede klar sein. Denn Eubiotik darf hier nicht mit Wohl- 
leben übersetzt werden, sondern muss auf gesundheitliches 
Wohlergehen bezogen werden. Insoweit muss sich die soziale Indi- 
kation der Schwangerschaftsunterbrechung entweder als sozial- 
medizinische darstellen, oder sie gehört gar nicht in den 
Rahmen unserer Betrachtung. Denn so sehr auch der Arzt im Einzel- 
fall als Mensch und: Arzt versucht sein mag, rein sozial zu indizieren, 
so muss er sich darübar klar sein, dass er damit seine Aufgaben 
überschreitet — falls eben nicht das medizinische Moment dabei 
eine Rolle spielt. Das wird jedoch meistens der Fall sein; denn 
es wird kaum eine wirkliche Verelendung geben, die nicht auch 
gesundheitlich von verderblichem Einfluss ist. So wird die sozial- 
medizinische Indikation von den meisten Autoren mit Recht als ein 
Teil der medizinischen dargestellt, und Wachtel erkennt dies Dinge 
klar und stellt sie gut und mit überlesener Kritik dar. Seine Be 
tonung, dass die sog. soziale Indikation nur yon Fall zu Fall ge 
stattet sein kann, ist richtig und drückt eben dadurch schon das 
ärztlich-medizinische Moment aus, während für generelle juristische 
und gesetzgeberische Festlegung der. Begriff der sozialen Indikation 
untauglich ist. Denn er ist überhaupt nur aus dem Gesichtspunkt 
der qualitativen Bevölkerungspolitik diskutierbar und schon damit 


7] Eugenetische Lebensbeseitigung. 45 


ist erneut das medizinische Moment betont. Dies ist auch das Wesent- 
liche bei der oben erwähnten sorgenden Frage, ob man mit einiger 
Wahrscheinlichkeit sagen könne, wie wert oder unwert das 
sein werde, was man durch Schwangerschaftsunterbrechung töte. 
Aber auch hier ist das medizinische Moment das richtunggebende: 
denn wenn man auch nicht weiss, was man vernichten wird, so weiss 
man doch, was für lebende Parentes man dadurch in 
ihrer Gesundheit und ihrem Zeugungswillen 
schützt. 

„Da der Staat heute nicht in der Lage ist, durch ausreichende 
Fürsorge für die Schwangeren, Gebärenden und Kinder in Asylen, 
durch Stillgelder und Erziehungsunterstützungen aller Art helfend 
einzugreifen, drängt sich die Frage auf, ob es nicht Pflicht des 
Staates ist, die Schwangerschaftsunterbrechung auf Grund sozialer 
Indikation zu gestatten“ (Wachtel S. 62). Dieser Gedanke ist 
nicht vertretbar; solange der Einzelne seine Willensfreiheit hat 
und solange Tüchtigkeit und Fleiss noch in der Lage sind, des 
Menschen wirtschaftliches Los zu bessern, solange kann man so 
nicht mit dem Staate rechten. Nur wer krank ist, darf so denken, 
und da tritt ja dann die sozialmedizinische Indikation in ihr Recht; 
jener Gedanke ist also keineswegs ein Grund für die soziale Indi- 
kation. Ebenso lehnt ja Max Hirsch mit Recht die rein soziale 
Indikation für den Arzt ab und weist sie, wenn sie überhaupt 
möglich erscheint, den Vormundschafts und Armenbehörden zu. 
Es ist also meines Erachtens Wachtel nicht zuzustimmen, 
wenn er die Gestattung der sozialen Indikation de lege ferenda 
fordert; nur sozialhygienisch oder sozialmedizinisch — so freilich 
weit und grosszügig gefasst — ist sie zu fordern. 

Ganz anders ist die Pflicht des Staates zu beurteilen für die 
Gestattung der Abtreibung, wenn die Schwängerung durch 
ein Verbrechen (Notzucht oder dergleichen) geschah. Wachtel 
stimmt in, dieser Hinsicht Spinner zu, der (in Gross’ Arch. LX) 
sagt: „Die Bestrafung der Abtreibung einer durch Verbrechen er- 
zeugten Frucht ist ein Rechtsmonstrum“. Ich möchte noch kräftiger 
sagen: Die durch fremdes Verbrechen Geschwängerte zu zwingen, 
die Frucht auszutragen, das Kind zu gebären, ist eine Barbarei 
schlimmster Sorte, deren sich der Staat niemals schuldig machen 
dürfte. Völlig zutreffend sagt Wachtel (S. 76): „Hat der Staat 
nicht die Ausführung des Verbrechens hindern können, so muss er 
wenigstens die Folgen des Verbrechens wieder gut machen.“ Das 
ist eine durchaus eugenetische Forderung — von ihrer humanitären 
Unerlässlichkeit ganz abgesehen. So nimmt es wunder, wenn 


46 Alexander -Elster. [8 


Wachtel (8. 79) hypothetisch meint, die Bedenken müssten jedoch 
zurücktreten, wenn der Staat und die Gesellschaft ein wirklich grosses 
Interesse an der Geburt des Kindes hätte; der Verfasser weist ja 
dieses Interesse aus eugenischen Erwägungen bezüglich des Kindes 
zurück; aber diese kommen doch erst in zweiter Linie hinter eugeni- 
schen und humanitären Gründen bezüglich der Mutter, deren Recht 
hier unbedingt vorgehen muss! — Natürlich ist auch hier alle 
Vorsicht gegen Missbrauch geboten, was sich durchführen lassen 
muss; insbesondere ist nicht leichthin der Tatbestand der Notzucht 
anzuerkennen, wenn die Geschwängerte irgendwie willentlich bei 
denı Koitus mitgewirkt hat und nur ihr Wille anders als mit Gewalt 
oder Drohung gebrochen worden war. Immerhin: in den Fällen, in 
denen wirklich verbrecherisch der Koitus aufgenötigt war, muss 
auch die Beseitigung der Frucht erlaubt sein. 

Zum Schluss seiner interessanten und beachtenswerten Schrift 
fasst dann Dr. Wachtel die Ergebnisse seiner Darlegungen in 
einen ausführlichen Gesetzesvorschlag zusammen, dessen wichtigste 
Sätze folgendermassen lauten: 

„Nicht strafbar ist der durch einen Arzt mit Einwilligung der 
Schwangeren vorgenommene, die Leibesfrucht tötende Eingriff, wenn 
er vom Standpunkte der ärztlichen Wissenschaft berechtigt war... 
Erfolgt die Unterbrechung der Schwangerschaft, um die Geburt 
eines minderwertigen Kindes zu verhüten, so kann die Indikation 
hierzu nur durch einen Spezialarzt gestellt werden. Dieser hat noch 
einen beamteten Facharzt zur Indikationsstellung zuzuziehen .... 
Tötung der Leibesfrucht einer Schwangeren mit deren Einwilligung 
ist nicht rechtswidrig, wenn gegenwärtige Lebensgefahr von der 
Schwangeren auf andere Weise nicht abgewendet werden kann.“ 

Diese Betrachtungen über die erlaubte und unerlaubte Ver- 
nichtung des keimenden Lebens wären in eugenetischer Hinsicht 
unvollständig, wenn man sie nicht in eine gewisse Parallele zu dem 
Problem der Euthanasie setzte. Ich will dieses andere Problem, 
das Problem der Tötung dessen, der sein Leben als unwert ansieht und 
auf Grund sozialmedizinischer Indikation es vorzeitig geendet zu 
sehen wünscht (unheilbar Kranke oder schwerst Verwundete), hier 
nicht ausführlich besprechen, möchte nur darauf hinweisen, dass 
die Klärung beider Probleme — der Eugenese und der Euthanasie 
— durch eine Vergleichung erleichtert wird. Auch bei der Euthanasie, 
die durch die schöne Schrift von Binding und Hoche „Dio Frei- 
gabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (2. Aufl. Leipzig 
1922 Felix Meiner) restlos klargestellt und mit überlegenem Menschen- 
tum erörtert ist, handelt es sich um eine humanitär-kulturelle, z. T. 





S e — 


Te _ -a 


9] Eugenetische Lebensbese:tigung. 47 


stark eugenische Forderung, bei der es behufs Beseitigung schwer- 
wiegender Bedenken nur darauf ankommt, ebenso starke Sicherungen 
gegen Missbräuche festzusetzen wie bei der Fruchttötung. Er- 
leichtert wird die Entscheidung hier, weil man ziem- 
lich genau wissen kann, was man tötet, die Prognose also fast absolut 
gesichert werden kann, und weil das Objekt des Eingriffs zugleich 
das Subjekt der Entschliessung sein kann; erschwert wird sie 
andererseits dadurch, dass es sich um eine volle Menschenseele handelt 
und dass die Ärzte hier mit grösserer Berechtigung als bei der 
Schwangerschaftsunterbrechung das Gefühl eines „Scharfrichter- 
tums“ haben, zu dem sie — die ja sonst all ihr Streben auf Erhal- 
tung des Lebens richten — sich nicht herzugeben ınüssen. Aber 
auch da werden Formen und Kautelen gesucht und gefunden werden 
können, die diese Bedenken zu verringern oder ganz zu beseitigen 
vermögen. Wenn — mit e Lilienthal — die Eugenetik „die 
Sorge für die möglichst grosse Zahl möglichst gesunder Menschen“ 
bedeutet, so gehört — alles in allem von höherer Warte betrachtet — 
die Euthanasie eng zu diesem Komplex von Problemen, der eine 
gewisse einheitliche Lösung verlangt. 


Wissenschaftliche Rundsehau.. 


Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


Rassenhygiene und Geburtenregelung. Es ist kein Zweifel: 
was der V. Internationale Kongress für Geburtenregelung in London 
brachte und was von der ganzen britischen Presse auch entsprechend 
gewürdigt worden ist, bedeutet eine entscheidende Entwicklung in 
Fragen der Geburtenhygiene, der bewussten Regelung der mensch- 
lichen Fortpflanzung. 

Um eines der Resultate, die der Öffentlichkeit den tiefsten Ein- 
druck machten, vorweg zu nehmen: eine geschlossene Versammlung 
von Ärzten, meist Mitglieder der Kgl. Britischen Medizinischen Ge- 
sellschaft, fasste — mit 161 von 164 Stimmen — die folgende Reso- 
lution: „Die Versammlung der Ärzte auf dem V. Internationalen 
Kongress für Geburtenregelung stellt fest, dass Geburtenregelung 
durch hygienische geburtenverhütende Methoden absolut zu unter- 
scheiden ist von Unterbrechung der Schwangerschaft und ihren 
physiologischen, rechtlichen und moralischen Erscheinungen. Der 
Kongress ist der Überzeugung, dass die besten geburtenverhütenden 
Methoden keineswegs der Gesundheit nachteilig sind oder zur Sterili- 
tät führen. | 

Ferner stellt die Medizinische Sektion des Kongresses fest, 
dass sie es für eine Angelegenheit von höchster Bedeutung hält, dass 
die Versorgung mit hygienischer geburtenverhütender Unterweisung 
eine anerkannte Pflicht des ärztlichen Berufes wird. Diese Unter- 
weisung sollte insbesondere von allen Hospitälern und öffentlichen 
Gesundheitszentralen gegeben werden, an die sich die ärmsten 
Klassen und diejenigen um Hilfe wenden, die durch vererbte Krank- 
heiten oder sonstige Defekte leiden.“ 

Es kann kein Zweifel sein, dass damit in der Tat eine Bresche 
gelegt ist in eine Mauer von Vorurteilen, die gerade in einer Frage 
von so grundlegender Bedeutung, wie die der menschlichen Fort- 
—— und Höherentwicklung, unendlich viel Schaden angerichtet 
aben. | i l 
Nietzsche, — neben Galton vielleicht einer der. bewuss- 
testen Kämpfer für eine Aufwärtsentwicklung sagt einmal: „Das Ge- 
bot: Du sollst nicht töten! ist eine Naivität im Vergleich zu dem 
anderen: Du sollst nicht zeugen!“ Es beginnt erst heute als ein sitt- 
liches Problem erkannt zu werden. Auch wenn nach der Erfahrung 


2] Wissenschaftliche Rundschau. 49 


les Weltkrieges leider niemand mehr glauben kann, dass das Gebot: 
„Du sollst nicht töten“ eine „Naivität“ sei — so werden wlı 
doch ernstlich Nietzsches Auffassung zustimmen, dass die Er- 
kenntnis der Bedeutung der Beherrschung der menschlichen Fort- 
pflanzung zu den wichtigsten Stadien in der Kulturentwicklung der 
Menschheit gehört. Daher verdient es der V. Internationale Kongress 
für Geburtenregelung, seinen Verlauf und die Bewegung selbst näher 
ins Auge zu fassen. 

Die Bewegung ging aus von der Malthusschen Lehre, dass die 
Zahl der Bevölkerung in viel schnellerem Masse wachse als die Nah, 
rungsmittel -— was bei ungestörtem Wachstum zu Verarmung und Not 
führe. Aber anstatt sich mit einem Heiratsverbot zu begnügen und im 
übrigen die Verzeihung der aus regeliosem Geschlechtsleben sich er- 
gebenden Konsequenzen vertrauensvoll dem lieben Gott zu überlassen, 
wie der selige Malthus es zynisch-verlegen vorschlug, -— sind die 
N eummalthusianer -- (diesen Namen gab der holländische Minister 
van Houten -- und die Lehre verkündeten die englischen Ärzte 
Dr. Charles und George Drystale) der Meinung, dass hier die 
menschliche Vernunft und Wissenschaft --- immer noch des Menschen 
allerhöchste Kraft — einzusetzen habe. Aber blieb diese Lehre (für 
die Männer und Frauen wie Charles Bradlaugh und Anni 
Besant Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ins Gefäng- 
nis gingen, was ihnen ermöglichte, in glänzenden Verteidigungsreden 
vor Gericht der Welt zum erstenmal die Bedeutung dieses Kampfes 
gegen die Verarmung klar zu machen), auch lange auf bestimmte iXreise 
beschränkt, —- allein die Tatsache, dass in gleichem Schritt mit der 
Verbreitung der Lehre auch die Kindersterblichkeit fiel -— musste 
zu denken geben. Besonders sichtbar war das in Holland, wo die 
Gesetze und die öffentliche Meinung gestatteten, dass von Ärzten, 
insbesondere von Dr. Rutgers, geleitete Unterweisungsstätten in 
hygienischer Geburtenverhütung eingerichtet wurden und die Kinder- 
sterblichkeit auf ein auffallend geringes Mass herabsetzten. Denn» 
diese Grundregel, die für den Eingeweihten selbstverständlich ist, 
muss für den Laien immer wieder hervorgehoben werden: überall 
wo die Geburtenziffer sinkt, sinkt auch die Kinder- 
sterblichkeit, wächst die Zahl der Überlebenden. 


Das bedeutet also, dass keineswegs — in absehbarer Zeit jeden- 
falls — damit das fruchtbare Wachstum, die Entwicklung der Be- 
völkerung getroffen wird, wenn an Stelle der „unfruchtbaren Frucht- 
barkeit“, die wir heute in den unteren Klassen und manchen weniger 
kultivierten Ländern haben mögen -— die bewusste Gestaltung der 
Fortpflanzung tritt. Ä 

Manche anderen Motive als die Malthus-Lehre sind im Laufe 
der letzten Jahrzehnte dazu gekommen : Medizin-, Sozial- und Sexual- 
wissenschaft, Eugenik, erhoben ihre Ansprüche. Dazu die trostlosen 
Folgen des Krieges in den meisten Ländern, die Vermehrung der 
Geschlechtskrankheiten, Unterernährung, Hungersnot. usw. helfen, um 
der Bewegung eine breitere Basis zu sichern --- sie auch denen als an- 
nehmbar und notwendig erscheinen zu Rassen, die Malthus gänzlich 
auf sich beruhen lassen wollen. 

Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 1. 4 





50 Wissenschaftliche Rundschan. [3 


Der IV. Internationale Kongress für (teburtenregeluung fand kurz 
vor dem Kriege in Deutschland in engster Verbindung mit (der ‚„Inter- 
nationalen Vereinigung für ‚Mutterschutz und Sexualreform“ statt, 
deren Organ „Die Neue Generation“ ich seit siebzehn Jahren heraus- 
zugeben die Freude habe. — Der V. Kongress der Bewegung findet 
das englische Urgan „The New-Malthusian‘ umgewandelt in eine „Neue 
Generation“ und die Organisation in eine „Neue Generationsliga" --— 
wohl ein Beweis, dass zwei Bewegungen, jede in einem andern Lande 
und charakteristisch für jedes dieser Länder -- doch amı Ende, durch 
die Macht der allgemeinen Entwicklung gedrängt --- in eine Linie 
zusammenlaufen, wenn auch Abweichungen und Besonderheiten ge- 
nug bleiben mögen. Vielleicht ein kleiner Trost für die nationalisti- 
sche Empfindsamkeit mancher ‘Kreise, dass hier die ,„Sieger“-Völker 
auch nichts Besseres zu finden wussten als Name und Art der „Be- 
siegten‘ zu akzeptieren. 

Möge es eine fruchtbare zukünftige Zusammenarbeit verh. is-en ! 

Is wäre unpsychologisch erwarten zu wollen, dass dieser inter- 
nationale Kongress, der wohl keineswegs aus lauter überzeugten Pazi- 
fisten bestand, nicht. noch Spuren des vergangenen aber noch nirgends 
restlos überwundenen Weltkrieges au sich getragen hätte. Das angio- 
amerikanische Element herrschte in hohem Grade vor; das konti- 
nentale war aus Valuta- und sonstigen Kriegsfolgegründen nur in ver- 
einzelten Exemplaren aus Schweden, Deutschland und Italien vertreten. 
Frankreich, das klassische Land der Geburtenregelung fehlte leider 
ganz, — So dass es für das Empfinden des kontinentalen Meuschen 
oft mehr ein Kongress der Anglo-Amerikaner als ein wahrhaft. inter- 
nationaler im alten weltumfassenden Sinne war. Eine solche Er- 
fahrnug zwingt nuwillkürlich, sich zugleich zu vergegenwärtigen. 
wieviel Millionen diese anglo-amerikanische Einheit umfasst - - die 
-— vereint -— den allergrössten Einfluss auf die Entwicklung der 
bisher bewohnten Erde auszuüben vermöchten. 


Aber -- das ist nun interessant zu beobachten --- serade in der 
Frage der Geburtenregelung bestehen ausserordentlich verschiedene 
Bedingungen für England und Amerika. Der alte englische bürger- 
liche Freiheitsgeist hat auch hier offenbar -— trotz aller Neigung zu 
sexueller Heuchelei, die man England nachsagt - eine Stätte indi- 
vidueller Gewissensfreiheit gerettet in Fragen der persönlichsten 
Lebensgestaltung. Wie es auch während des Krieges vor allem die 
englischen Kriegsdienstgegner waren, die zu Tausenden die sitt 
liche Freiheit des Gewissens — selbst der Übermacht des Staates 
gegenüber -— hochhielten. 

In England, insbesondere in London, werden z. B. gegenwärtig 
öffentlich in Säuglingsberatungsstellen unter ärztlicher Aufsicht An- 
weisungen zur Geburtenverhütung an die Mütter gegeben. In Deutsch- 
land z. B. würden, fürchte ich, trotz der Not der Zeit, sich Vorwände 
genug finden, um ähnlichen Unternehmungen sehr bald die Wirkungs- 
möglichkeit zu nehmen. Man braucht nur an die Kreise zu denken, 
die vor dem Kriege und während des Krieges in einem Gesetzentwurf 
ein Verbot aller Schutzmittel forderten. Nur mit Mühe und Not 
konnte seine Annahme durch eine kleine Anzahl mutiger Ärzte, die 


Ze 


4] Wissenschaftliche Rundschau. 5l 


vor den Konsequenzen, vor allem in Hinblick auf die damit drohende 
Zunahme der Geschlechtskrankheiten warnten, verbindert werden. 

Ähnlich steht es in Amerika. Die Einrichtung einer solchen 
Unterweisungsstelle für elende, überlastete Mütter führte zur Ver- 
haftung der klaren, bewundernswert energischen ämerikanischen Vor- 
kämpferin der Bewegung Mrs. Sanger in New York. Nach ihrer 
Freilassung führte sie den Kampf gegen ein Gesetz, das die Dis- 
kussion und Unterweisung in diesen Fragen zu verbieten schien, 
mit solcher Energie weiter, dass das Interesse an diesem Problem 
heute nicht nur ‘Amerika, sondern selbst Japan, China, Indien er- 
füllt. Dass die Bewegung heute auch diese Länder der grössten 
Geburtenzahl -- und damit der grössten Sterblichkeit — ergriffen 
hat, das ist vielleicht einer der ausschlaggebendsten Faktoren für 
einen Weltsieg dieser Forderung. Bisher war der stete Einwand 
aller Geburtenpolitiker, die das Problenı nicht vom individuell-humani- 
tären Standpunkt einer durch zu schnelle Aufeinanderfolge der Ge- 
burten erschöpften Mutter, sondern vom Interesse des Staates 
aus betrachten: „Wenn die alten Kulturvölker Europas ihre Kinder- 
zahl beschränken, werden sie die Beute der östlichen -— kinderreichen 

Völker des Ostens, der gelben Rasse werden!“ 

Ganz gleich, wie man zu «diesem Argument stehen mag: die 
Begründung von Gesellschaften zur Geburtenregelung in; Japan, Indien 
und China, das leidenschaftliche Interesse in der Presse und der 
Gesellschaft dieser Länder für das Problem macht es jedenfalls un- 
tauglich als Waffe gegen die Geburtenregelung aus europäisch- 
nationalistischen Gründen. Der Kongress hat sich ein historisches 
Verdienst erworben auch dadurch, dass dieser grosse Abschnitt der 
Entwicklung klar zum allgemeinen Bewusstsein gebracht wurde. 


Persönlichkeiten von anerkannter Bedeutung im geistigen Leben 
Englands haben dem Kongress ihre Unterstützung geliehen: Prof. 
Keynes, der Vorkämpfer gegen den Versailler Frieden war Vor- 
sitzender der medizinischen Sektion, Mr. Wells,’ der bekannte 
Schriftsteller und Vorkämpfer für die Abrüstung in Washington -vor 
einigen Monaten leitete die öffentliche Versammlung und gab einen 
Empfang in seinem Hause mit dem wundervollen Blick auf West- 
ninster und die Themse -- Havelock Ellis, der geniale Sexual- 
forscher war einer der Vizepräsidenten. Auf dem Bankett, das als 
Jahrhundert-Gedenkfeier an Francis Place abgehalten wurde, 
sprachen neben Wells und Dr. Drysdale, dem Sohn des Be- 
eründer der Bewegung, Prof. Dr. Robert Michels, Basel, 
Prof. Westermarck, Harald Cox und von amerikanischen 
Professoren Wilberfox u. a., die besonders .den Wiederbeginn der 
internationalen Zusammenarbeit begrüssten. 


Diese Zusammenarbeit ist noch nicht. überall reibungslos herzu- 
stellen. Das hat gerade auch dieser Kongress gezeigt, auf dem ich 
in einem Referat über „Krieg und Geburtenregelung‘“ die Notwendig- 
keit wahrhafter internationaler Gesinnung, die Anerkennung der 
Heiligkeit des menschlichen Lebens als Grundgesetz der mensch- 
lichen Gesellschaft forderte, die der Verschwendung und Vergeudung 
menschlichen Lebens durch Krieg und unfruchtbare Frucht- 

A8 


52 Wissenschaftliche Rundschau. [5 


barkeit Einhalt tun muss, wenn die menschliche Kultur nicht in 
Selbstzerfleischung zugrunde gehen soll. 

Aber diese Zusammenarbeit hat nun wieder begonnen -- und 
die persönliche Berührung muss ohne Zweifel klärend, fördernd 
wirken. Die „Nationale und Internationale Sektion“ nahm deshalb in 
diesem Sinne in ihre Resolutionen die Aufforderung an alle Regie- 
rungen auf, den Vorschlägen der Rassenhygiene nach dem Ausschluss 
Untüchtiger von der Fortpflanzung durch Geburtenregelung Gehör 
zu schenken, die Kenntnis der Geburtenverhütung besonders unter 
der ärmeren Bevölkerung zu fördern, wie durch die Förderung inter- 
nationaler Gesetze und Zusammenarbeit. die nationalen Rivalitäten 
auszuschliessen. 

Wie eng Menschen- Ökonomie und Völker- Ökonomie ver- 
knüpft ist, haben einsichtige Soziologen schon vor dem Kriege wissen- 
schaftlich nachzuweisen sich bemüht. Nun, wo wir alle eine so 
gründliche Belehrung durch den Augenschein erfahren haben, sollte 
es die gemeinsame Arbeit aller sein, die etwas von menschlicher 
Kultur erwarten, dafür zu kämpfen, dass diese beiden grössten Feinde 
der menschlichen Persönlichkeit: Krieg und unfruchtbare Fruchtbar- 
keit -- aus der Welt geschafft werden. 

Zu dieser hohen Aufgabe hat der V. Internationale Neu- 
malthusianer Kongress für Geburtenregelung einen wertvollen Beitrag 
geleistet — und es ist zu hoffen, dass noch manche klärende, segens- 
reiche Wirksamkeit von ihm ausgeht. 

Dr. Helene Stöcker, Berlin. 


Sexual-hygienische Bedeutung der Prostituierten-Tuber- 
kulose !). Während wir sonst bei unseren Massnahmen zur Bekämpfung 
der Tuberkulose ängstlich bestrebt sind, alle Infektionsquellen zu ver- 
stopfen, und eine ganz? Reihe von vorbeugenden Massnahmen vor- 
schreiben, um Gesunde zu schützen, die wenn auch nur kurz vorüber- 
gehend und gelegentlich in Berührung mit Tuberkulösen kommen, 
sind für diejenigen, welche in irgendeine Sexualgemeinschaft mit 
Tuberkulösen kommen, sei es ehelich oder ausserehelich, ganz be- 
sonders durchgreifende Vorsichtsmassregeln ausgearbeitet, um eine 
Übertragung der Krankheitserreger zu vermeiden. 

Die gewerbsmässige Prostituierte, welche infolge des höchst er- 
feichbaren Grades sexueller Promiskuität als besonders gefährlich 
und auch gefährdet hinsichtlich der übertragbaren Geschlechtskrank- 
heiten betrachtet werden muss, wird deshalb seit alten Zeiten durch. 
Gesetzesvorschrift einer besonderen ärztlichen Präventivkontrolle 
unterzogen. Die Tuberkulose ist hierbei von dem Gesetzgeber bisher 
nicht berücksichtigt worden, obgleich schon im Jahre 1905 Spil- 
mann-Nancy auf dem internationalen Tuberkulose-Kongress in Paris 


— —— —— 


1) Siehe dieses Archiv. Bd. 8. 8. 249. 





6] Wissenschaftliche Rundschau. 53 


die Ansicht vertreten hat, dass die Tuberkulose der Prostituierten 
als 'venerische Krankheit zu betrachten sei, da nach seiner Schätzung 
französischer Verhältnisse etwa 40% dieser Frauen der Tuberkulose 
erliest. Es darf heute als sicher gelten, dass die Mehrzahl aller 
Menschen in den grossen Städten frühzeitig in der Kindheit mit 
Tuberkelbazillen infiziert wird, diese Infektion aber ohne ernstere 
Erkrankung unter Zurücklassung eines gewissen Immunitätszustandes 
überwindet. Dieser letztere bedingt einen gewissen Schutz, der, 
wenn er durchbrochen wird, zu einer im späteren Alter auftretenden 
Erkrankung führt. Gewisse Schulen neigten zu 'der Auffassung, dass 
die Durchbrechung dieses Schutzes stets durch gewisse Ursachen 
von innen her erfolgt: durch die aus ihrer Latenz aufgerüttelten 
Krankheitserreger, also durch endogene Reinfektion. Heute 
weiss man, dass neben diesem Weg eine grosse Bedeutung der exo- 
genen späten Reinfektion zukommt, d. h. der Neuinfektion 
von aussen her, auf deren Verhütung die Mehrzahl unserer Be- 
kämpfungsmassmahmen sich aufbaut. Hierbei spielt auch die Erreger- 
menge insofern eine Rolle, als relativ grosse Bazillenmengen, so- 
genaunte massige Infektionen, den Ausbruch der Krankheit be- 
günstigen. 

Es ergibt sich, dass hier praktisch ausserordentlich u 
volle Fragen von einer Reihe von Faktoren abhängig sind, welche 
sich zum Teil auf das zeitliche und quantitative Eindringen der 
Tuberkelbazillen in den Körepr, zum anderen Teile un den Zustand 
des befallenen Organismus zur Zeit dieses Eindringens beziehen. 
Ich bitte hierbei zu beachten, dass Infektion und Erkrankung als 
(durchaus verschieden zu trennen sind. Verschärft werden die Vor- 
bedingungen zur Erkrankung durch wiederholte Infektionen der ge- 
nannten Art. Doch haben die auf exakter biologischer Tuberkulin- 
reaktion basierenden Untersuchungen gezeigt, dass auch ein ein- 
maliges Eindringen der Krankheitserreger in den menschlichen Körper 
zu ihrer Ansiedlung genügt, und diese Ansiedlung hat sich in be- 
sonders gut beobachteten Fällen auf Tag und Stunde nachweisen 
lassen. 

Das Problem der Tuberkuloseinfektion durch die berufsmässige 
Prostituierte ist nun gerade durch den besonders innigen Kontakt im 
Sexualverkehr und durch die hierbei günstigsten Bedingungen für die 
Massivität der Infektion je nach Massgabe der vorhandenen Krank- 
heitskeime charakterisiert. Es ist auch leicht. zu verstehen, dass es 
sich bei der grossstädtischen Bevölkerung, bei welcher über 90% 
bereits in der Kindheit tuberkuloseinfiziert sind, fast durchgängig 
um die exogene, massige, späte Reinfektion handelt. 

Begünstigend für die Tuberkuloseübertragung auf die Klientel 
der Kontrollmädchen wirkt die Beschreitung aller Infektionswege, 
wie sie durch die Mannigfaltigkeit und Intensität des Kontaktes 
hedingt ist. 

Ich brauche an dieser Stelle nicht näher auf die Bedeutung der 
verschiedenen Ansteckungswege einzugehen und kann mich mit dem 
Hinweise begnügen, dass sowohl der direkten Schmier- und Schmutz- 
infektion als auch der Tröpfcheninfektion Tür und Tor in intensivster 


E 


54 Wissenschaftliche Rundschau. ` | [7 


Weise geöffnet sind. Bei der oft erstaunlichen UTnsauberkeit der 
Mädchen hinsichtlich ihres Körpers und ihrer Wohnung, um deren 
Sanierung sich mangels Kenntnis der Erkrankungsfälle niemand 
kümmert, darf auch die Staubinfektion nicht vergessen werden. Was 
die eigentlichen Ansteckungsquellen der tuberkulösen Prostituierten 
anbelangt, so können die verschiedensten Organe des Körpers, wofern 
sie von der Krankheit befallen sind, zu einer Ausstreuung und 
Übertragung der Krankheitserreger führen. Voraussetzung ist nur, 
dass es sich um eine Form der Tuberkulose handelt, bei welcher die 
Bazillen aus den Krankheitsherden auch an die Oberfläche und damit 
auch in die Aussenwelt gelangen, also um eine sogenanute offen: 
Tuberkulose. 

Von sexualhygienischer Bedeutung sind hier alle diejenigen 
Krankheitsherde, die im wie auch immer gearteten Sexualverkehr 
die Infektion vermitteln können. Hierher gehören zunächst die 
Tuberkulose der Genitalorgane, der Haut, der Mundhöhle, de: 
Rachens und der Tonsille. 

Allen diesen Tuberkuloseformen kommt aber praktisch eine ganz 
untergeordnete Bedeutung zu, weil ihr primäres Vorkommen relativ 
selten ist und ein Teil von ihnen mit einer'besonderen Bazillenarmut 
einhergeht. Wir können uns daher ersparen, sie hier näher zu be- 
trachten. 

Die ganz überragende Bedeutung der Lungentuberkulose und 
ihrer etwaigen Komplikation mit der Kehlkopftuberkulose geht aus der 
zahlenmässigen Erhebung hervor, wonach in dem für die uns be- 
schäftigende Frage wichtigen Alter zwischen 15 und 60 Jahren die 
Tuberkulose aller anderen Organe zusammen mit 5,7% gegenüber 
der Lungentuberkulose mit 93.400 steht (berechnet auf 100 Tuber- 
kulosefälle in Deutschland 1907). Ä 

Das ist auch der Grund, aus dem ich mich in meinem Buche über 
„Prostitution und Tuberkulose“ 1) auf das Studium der TLungentuber- 
tuberkulose beschränkt habe, weil mit der Erfassung der lungen- 
tuberkulösen Mädchen die für die praktische Bekämpfung der Tuber- 
kulose wesentliche Arbeit getan ist. Bleibt noch hinzuzufügen, dass 
meine Untersuchungen hierüber sich auf die eingeschriebene Prosti- 
tution in Berlin beschränken, die Ergebnisse also nicht ohne weiteres 
auf die geheime, die kasernierte und die in anderen Städten sich 
findende Prostitution anwendbar sind. 

Über Art und Umfang der Lungentuberkulose unter den in Frage 
kommenden Personen existieren exakte, auf ärztliche Untersuchungen 
gegründete Angaben bisher weder in der deutschen noch in der 
ausländischen Literatur, wenn auch auf die ausserordentliche sexuell- 
hygienische Bedeutung dieser Dinge mehrfach kurz hingewiesen 
worden ist. 

Ich habe im Laufe der Jahre 1300 Mädchen auf der Untersuchungsstation 
der Berliner Sitlenpolizei unter Anlage eines Krankenjournals in jedem einzelnen 
Falle und unter genauester Registrierung aller Einzelheiten der Anamnese und 
des Status durchuntersucht. Aus diesem grossen Material, das an anderer 
Stelle klinisch und sozialmedizinisch ausführlich dargelegt ist, hebe ich hier 


1) Verlag Georg Thieme, Leipzig 1921. 








8] Wissenschaftliche Rundschau. 55 


folgende Punkte hervor: Es fanden sich im ganzen nahezu 12% mit aktiv 
tuberkulösen Krankheitserscheinungen behaftete Personen. Von diesen gehörten 
beinahe drei Viertel den leichteren Stadien an, der Rest den mittelschweren und 
schwersten. Von im ganzen nahezu 300 tuberkulös Frkrankten haben etwa 
ein Viertel bis ein Drittel eine ansteckende Form der Lungentuberkulose. Einen 
erossen Teil von diesen war dies auch aus bereits früher durchgemachten 
Krankenhaus- und Heilstättenkuren bekannt. Ja, die polizeilichen Stationen 
der deutschen Grossstädte kennen die Namen der kranken Mädchen genau, müssen 
sie aber, wofern sie nicht an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit leiden, 
weiter ungehindert ihrem Beruf nachgehen lassen. 

Interessant war auch die Tatsache, dass als Infektionsquelle für die 
Mädchen der lungenkranke Vater oder lungenkranke Geschwister in dem gleichen 
Umfange in Frage kommen wie ein lungenkranker Ehemann oder Bräutigam, 
dass also auch hier die exogene, massive, späte Reinfektion von entscheidender 
Bedeutung war. 

Auch die Behauptung, dass die an Tuberkulose erkrankten Mädchen durch 
ihr krankes Äussere nicht mehr begehrt würden, liess sich an Hand des über- 
wiegend günstigen Allgemeinzustandes in überzeugender Weise entkräften. Diese 
Annahme Irifft nur für gewisse terminale Stadien der Frkrankung zu. Die 
überwiegende Mehrzahl verhält sich trotz :fortschreitender und auch vor- 
geschrittener häufig ansteckender Erkrankung über Jahre äusserlich relativ 
gut, dem chronischen Charakter der Krankheit entsprechend. Diese bilden daher 
auch hinsichtlich der Zeit ihrer Infektionsfähigkeit eine ausserordtliche Gefahr. 

Auch das hauptsächlich betroffene Lebensalter zwischen 20 und 30 Jahren 
entspricht dem im allgemeinen für die Krankheit am meisten gefährdeten. 

Werfen wir noch kurz einen Blick auf die, wenn ich so sagen 
darf, besonderen Berufsschädlichkeifen und Krankheiten, welche die 
Entstehung der Tuberkulose bei den Kontrollmädchen begünstigen, 
so steht an erster Stelle die ungeheuere Exposition ihres Körpers, 
wie für die Geschlechtskrankheiten, so auch für die Tuberkulose. 
Paralysiert wird diese Exposition bis zu einem gewissen Grade durch 
die überraschend hohen Einkünfte, die eing besonders gute Ernäh- 
rung ermöglichen. Ich darf auf Einzelheiten in meiner Arbeit ver- 
weisen. | 
Erwähnen will ich nur das beachtenswerte Ergebnis meiner 
Untersuchungen, dass die Lues sich unter diesem hinsichtlich der 
allgemeinen Durchseuchung einzig dastehenden Menschenmaterial als 
im ganzen die Prognose die Tuberkulose nur um ein geringes ver- 
schlechternd erwiesen hat, keinesfalls liess.sich ein sünstizer Ein- 
fluss derselben auf die Tuberkulose nachweisen, wie dies früher von 
vielen Autoren behauptet wurde. 

Ebenso waren die Erhebungen über den Alkoholismus insofern 
interessant, als ich nicht den Nachweis erbringen konnte, dass 
dem Alkohol eine direkte, die Tuberkulose bezünstigende Wirkung 
allein zukommt. Ja, es liess sich nicht ganz die Deutung von der 
Hand weisen, dass die starken Säuferinnen hinsichtlich der Tuber- 
kulose etwas besser gestellt sind als die Nüchternen, ein Ergebnis. 
dass Bertholet, Lausanne und Orth in Berlin an ihren 
Sektionsmaterial, die Leipziger Ortskrankenlkasse an ihrer Statistik 
ebenfalls erhielten. Das Ergebnis ist nicht ganz eindeutig. 

Die Frage ist, was kann geschehen, um der Tuberkuloseaus- 
breitung durch die berufsmässige Prostitution entgegenzuwirken ? 


56 Wissenschaftliche Rundschau. [9 


Wenn ich hierauf zum Schluss noch eine Antwort geben darf, so 
glaube ich, dass man nicht umhin können wird, die Mädchen. in irgend- 
einer Form auf das Vorhandensein dieser Krankheit zu untersuchen, und 
die Kranken, insbesondere die ansteckenden, durch ein Heilverfahren 
vor Siechtum und Not, die Allgemeinheit vor den Folgen der Tuber- 
kuloseausbreitung zu schützen. Es liegt mir fern, hier die Frage 
des Reglementarismus und Abolitionismus zu berühren. Der beste 
Weg liegt vielleicht in der Mitte: Loslösung der Untersuchung von 
allen veralteten Polizeimassnahmen, dafür ausschliessliches Handeln 
nach sexuallygienischen und medizinischen Gesichtspunkten !'. 
Zwang nur da, wo den unerlässlichen Forderungen der Volksgesund- 
heit bewusst zuwidergehandelt wird. Fort mit allen überflüssigen 
schikanösen anstands- und ordnungspolizeilichen Vorschriften! Aber 
gleich unannehmbar scheint es mir, bisher bewährte ärztliche Mass- 
nahmen unter dem Eindruck der neuen Zeit in Bausch und Bogen 
fallen zu lassen, besonders wenn dies aus parteipolitischen Gesichts- 
punkten geschieht. Diese haben mit Volksgesundheit nichts zu tun 
und müssen haltmachen vor den Krankenbetten derjenigen, die von 
der grossen Volksseuche dahingerafft werden. 

1. W. Samson, Berlin. 


IG Kapitel IX meines Buches, wo sich detaillierte Angaben über die 
Präventiv-Kontrolle tuberkulöser puellae finden. 


III. Kritiken. 


Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an 
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden. 


Garre, Küttner, Lexer: Handbuch der praktischen Chirurgie. Be- 
gründet und bearbeitet von E. von Bergmann, P. von Bruns, J. von 
Mikulicz. Fünfte umgearbeite Auflage. IV. Band: Chirurgie der Wirbel- 
säule und .des Beckens. Mit 347 teils farbigen Textabbildungen. Preis 
geheftet 360 Mk.; in Leinwand gebunden 435 Mk. XII. 1142 S. Verlag 
von Ferdinand Enke, Stuitgart 1922. 


Der vorliegende Band des altberühmten Handbuches bietet dem Gynäko- 
-logen reich Belehrung. Es ist nützlich, dass er diese dann und wann von Ver- 
iretern anderer Fächer, der Chirurgie oder der inneren Medizin, zu erhalten 
sucht. So schützt er sich vor FKinseitigkeit und Beschränkung. 

Steinthal hat die Chirurgie des knöchernen Beckens geschrieben und 
sagt viel Beachtenswertes : über die Beckenabzesse und ihre Wege, über die 
teschwülste des Beckens, über die Unterbindung der Beckengefässe, deren 
Strömungsverhältnisse durch ein Schema anschaulich gemacht werden. 

Schede-Kümmel-Graff behandeln die Chirurgie der Nieren und 
Harnleiter. Steeckel die der weiblichen Harnorgane. So ist Wiederholung 
nicht immer zu umgehen, duch muss anerkannt werden, dass die Autoren sie auf 
geringes Mass beschränken. Die Unterschungsmethoden, die Harnleiterver- 
letzungen, Wanderniere, Hydro- und Pyonephrose, Nierentuberkulose, Geschwülste, 
Beckennieren sind in der Hauptsache den Chirurgen zur Aufgabe gefallen. 
Dem Gynäkologen blieben die reichen Abschnitte der weiblichen Harnröhre und 
nd Harnblase, des Harnleiters in seinen gynäkologischen Beziehungen und der 
Niere in ihren Zusammenhängen mit Schwangerschaft (Pyelitis gravidarumn, Nieren- 
dekapsulation und Eklampsie, Nephrektomie und Schwangerschaft). 

Ienle gibt die Chirurgie des Rückenmarks und der Wirbelsäule, Zucker 
kandl die der männlichen Harnblase, Rammstedt die der männlichen 
Harnröhre, Schlange die der Prostata, Bramann-Rammstedt die des 
Hodens und seiner Hülle, Rammstedt die des Penis. 

So bietet das Werk ein vollkommenes und geschlossenes Bill der Chirurgie 
der Wirbelsäule und des Beckens, dargestellt von den besten Kennern der Sache. 
Druck und Ausstattung (Papier und Abbildungen‘ sind vorzüglich und ent- 
sprechen den Traditionen des Verlages. Max Hirsch, Berlin. 


Maria Montessori: Mein Handbuch. Grundsätze und Anwendung meiner 
neuen Methode der Selbsterziebung der Kinder. Verlag von Julius Hoffmann, 
Stullgart. 


Dr. Montessori schildert in ihrem „Handbuch“ die Erziehungsmethode, 
wie sie in den von ihr gegründeten „Kinderheimen“ mit gutem Erfolg angewandt 
wird. 


"rage 


65 Kritiken. [2 


Man ist in «der Hygiene des Körpers durch die Ausbreitung und die 
vrössere Allgemeinverständlichkeit der Wissenschaft em Riesenstück vorwärts 
gekommen, während die Hygiene des Geistes bei weitem nicht mit ihr Schritt 
gehalten hat. Es ist ein gesünderes und schöneres Geschlecht herangewäachsen, 
aber der Geist ist durch regellose und willkürliche Erziehung von früher 
Jugend an versklavt und kann nicht zu der Entfaltung kommen, die ihm seiner 
Anlage nach eigentlich vorgeschrieben ist. Es ist das Ziel Dr. Montessoris. 
dieser seelischen Knechtschaft des Kindes zu steuern. 

Sie beginnt mit ihrer Erziehungsmethode beim zweijährigen Kinde, Die 
Grundlagen für diese Methode sind in erster Linie: „Organisation «der Arbeit 
und „Freiheit des Kindes. Sie gibt in ihrem Werk eine ausführliche Be: 
schreibung der „Kinderheime“, die behaglich und sauber eingerichtet sind vun 
wo die Kinder uneingeschränkte Alleinherrscher sind. Dieses ist „die Umwelt 
des Kindes, die man ihm schafft, damit es Gelegenheit hat, seine Fähigkeiten 
zu entwickeln“. -- Die Technik ihrer Methode lässt sich in drei Teile zerlegen: 
l. Erziehung der Muskeln, 2 Erziehung der Sinne, 
3. Sprache. j 

Das sich selbst überlassene Kind macht ungeordnete Bewegungen und hält 
seinen Körper niemals still. Es ist das Ziel der Muskelerziehung, 
Ordnung in diese Bewegungen zu bringen und dem Kinde eine Beschäftigung 
zu geben, bei der es sein Belürfnis nach Bewegung befriedigen kann und bei 
der es zu den Betätigungen hingeleitel. wird, denen es zustrebt. Es lernt in 
dem „Kinderheim“ vor allem sich selbst an- und ausziehen, sich alleine 
waschen, den Haushalt führen, es wird mit Gartenarbeit, kleinen Handarbeiten, 
Turnen, gyinnastischen Übungen usw. beschäftigt. Das Kind lernt dadurch, 
sich im Gleichgewicht zu halten und seine Bewegungen miteinander in Ein- 
klang zu bringen. 

Während man das unbeaufsichtigte Kind seine Eindrücke durch zu- 
sammenhanglose und zufällige Erfahrungen gewinnen lässt, wird das metho- 
disch erzogene Kind von frühester Kindheit an an systematisches Denken 
durch selbständiges Beobachten und Erfahrungen, die es sich obne äusseren 
Kiınfluss erworben hat, gewöhnt. Dr. Montessori zeigt in ihrem Werk eine 
grosse Anzahl photographisch dargestellter Übungen zur Erziehung der 
Sinne. Das Kind muss Stäbe, Prismen, Tolztafeln, geometrische Figuren 
usw. von verschiedener Länge, Dicke und Höhe in einer bestimmten Reihenfolge 
ordnen, es muss bunte Farbenspulen nach Farbennüancen zusammenstellen, 
es werden ihm kleine Glocken mit den Tönen der Tonleiter gegeben, die es nach 
dem Gehör an die richtige Stelle zu stellen hat usw. und erhält so spielend 
ein grosses Verständnis für Menge, Gleichheit, Unterschied und Abstufung 
und schult unbewusst sein Denken für spätere grössere Aufgaben. Das Kind 
ist bei alledem sich vollständig selbst überlassen. Die Lehrerin hat dem Kinde 
die Übung zu zeigen und es bei seinen Arbeiten zu überwachen, niemals aber 
einen Febler zu berichtigen, da das Ziel der Übung nicht darin besteht, dass 
die Gegenstände richtig geordnet sind, sondern dass das King „sich selbst 
übt“. Ein so vorbereitetes Kind lernt spielend Lesen und Schreiben, da Geist 
und Hand schon lange dafür geschult sind. 

Hat das Kind nach langer Übung einen Unterschied in den Eigenschaften 
von Dingen erkannt, so wird ihm erst jetzt die Bezeichnung der Figen- 
schaft resp. das Ding selbst in einem Wort genannt. Während die Kinder im 
allgemeinen ihren Wortschatz une ihre Sprache gewissermassen „chaotisch” 
gewinnen, erwirbi das so erzogene Kind die Sprache durch eigene geistige 
Krwerbungen. į 

Der moralische Wert dieser Erziehungsmethode ist unverkennbar. Um 
den Erfordernissen ihrer geistigen Entwicklung gemäss leben zu können, 
müssen sich die Kinder das, was sie dazu brauchen, mit allen Mitteln 
erkämpfen. Gibt man ihnen das, was sie gebrauchen, so hört der Kampf auf, 


3] Kritiken. 59 


und es tritt ein Gefühl der Ruhe, Güte und Sicherheit ein. Durch Wegräumung 
aller Hindernisse wird das Kind in eine Bahn gelenkt, aus der es im Vollbesitz 
seiner geistigen und körperlichen Entwicklungsfähigkeit und durch Feststellung 
seiner individuellen Anlagen als nützliches Mitglied der menschlichen Ge- 
sellschaft hervorgeht! Kronfeld, Berlin. 


Anna Kappstein: Ehekunst. Felsen-Verlag in Buchenbach, Baden 1922. 


Eine lebenskluge und lebenserfahrene Frau von tiefem Gemüt spricht aus 
diesem Buche zu uns, ehrend, was ihr das Leben von dem soziologisch ernstesten 
Lebensproblem der Ehe erschloss. Schon «der Titel ,„Fhekunst‘“ verrät, wie 
klar Verf. die Gestaltungsschwierigkeiten dieses feinempfindlichsten und doch 
für die Mehrzahl der Menschen wunumgänglichsten Paktes zweier Menscheu 
erkennt, wie klar sie die Vorbedingungen überschaut, «die erfüllt werden und 
bleiben müssen, um die anfängliche Hochstimmung durch Jahre und Jahrzehnte 
lebendig zu erhalten, soll das anfänglich oft genug blinde Teidenschaftshbegehren 
nicht schneli verrauchen, sondern zu einer Freundschaft und Kameradschaft 
mitumfassenden Liebesinnigkeit werden. In sorgsam gewählten Einzelkapiteln, 
deren jedes ernsten Studiums wert ist, zeigt Verf. Wege und Ziele, Notwendig- 
keiten und Gefahren, die beachtet oder geinieden werden müssen, wenn anders 
das feinempfindliche Gebilde der Ehe nicht dauernden Schaden jeiden soll. Wie 
lebenswahr, um nur eine Vorbedingung herauszugreifen, die Erkenntnis von dem 
oft so unheilvollen Einfluss der lieben Verwandten mit ihren rücksichtslusen 
Daueransprüchen, die besonders verhängnisvoll werden, wenn die Frau nicht 
in erster Linie sich als Gattin fühlt. Mögen recht viele — Frauen wie Männer — 
aus dem inhaltreichen Buche Belehrung suchen und nutzbringend im Tügendasein 
verwerten. Placzek, Berlin. 


Herbertv. Bomsdorf-Bergen und Uve Jens Kruse: Ein Kompass 
zur Menschenerkenntnis. Felsen-Verlag in Buchenbach, Baden 1922. 


Jung und Kretschmer scheinen Schule gemacht zu haben, doch 
während diese noch vorsichtig tastend cine charakterologische Typenkunde 
vorbereiten, glaubt Kruse, auf deren Ergebnissen fussend, schon eine Charakter. 
kunde entwickeln zu können mit durchgreifenden Grundzügen in Knappster 
Formel. Viel Wahres, viel Bestechendes, doch schon ein „Kompass zur Menschen: 
erkenntnis?“ Verf. selbst muss von seinen Gegenpaaren: „Autobiose und Hetero: 
liose, sowie Symbiose und Antibiose” erklären, dass sie wohl seelisch und 
körperlich erkennbar und nachweisbar sind, doch unendlich mannigfaltig sich 
mischen, und selbst bei den angeblich untrüglich beweisenden Eigenarten des 
Körperbaues dürften verhänguisvolle Irrtümer nicht ausbleiben. Diese müssen 
um ao zahlreicher sich einstellen, wenn ein Psyehophysiognomik von der 
Phantasterei zu Hilfe genommen wird, wie sie von Bomsdorf als Er- 
g£änzung liefert. Gall redivirus! Mit all den Schwächen seiner längst über 
wundenen Lehre, wenn auch von Bomsdorf seine Lehre auf 20 jähriges 
Studium und Erprobung stützt. Anerkennenswert ist aber des Verfassers offenes 
Bekenntnis, dass die physiognomischen Male nur Mulmassungen, nie Gewiss- 
heit aussprechen können, dass jedes Zeichen durch andere aufgehoben werden 
kaun, daher dieser Teil des Buches beständige wache Überprüfung, also eigene 
Mit- und Weiterarbeit verlangt. Ist es dann also schon ein „Kumpass zur 
Menschenerkenntnis“, als den ihn Kruse bezeichnet? Zur Zeit sicherlich 
noch nicht, daher nur für kritische Leser brauchbar, die aber sicherlich manel 
fördernde Anregung daraus schöpfen werden. Placzek, Berlin. 


Justus Thiersch: Carl Thiersch, sein Leben, Mit 4 Bildnissen. Verlag 
von J. A. Barih, Leipzig 1922. 


In diesem Buche, in welchem Pietät des Sohnes das Lebensbild des Vaters 
zu zeichnen versucht, tritt dem Leser nicht nur eine starke Persönlichkeit 
in weitem Wirkungskreise gegenüber, sondern auch ein fast 50 jähriger Aus 


60 Kritiken. [4 


schnitt aus dem poetischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Leben 

der Zeit. Am anziehendsten sind die Abschnitte, in denen die reine Menschlich- 

keit des grossen Chirurgen uns in seinen Worten und Handlungen sich zeigt. 
Max Hirsch, Berlin. 


Ernst Haeckel: Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die 
Eltern 1852/1856. Halbleinenband 560 Mk. Verlag von K. F. Koehler, Leipzig 1921. 


Es ist überaus reizvoll und belehrend, die Jugendentwicklung von Menschen 
kennen zu lernen, welche auf der Höhe des Lebens durch geniale Leistungen 
weit hervorragen. Besonders, wenn es sich um Menschen handelt, welche 
den ihnen eingeborenen Trieb zu beobachten, zu vergleichen, zu sammeln 
und zu ıwfleilen auf sich selbst und ihre eigene Entwicklung anwenden. Die 
Briefe Haeckels an seine Eltern ‘gewähren einen Einblick in die Kämpfe 
des Jünglings um Beruf, Religion und Weltanschauung. Man sieht mit Ver- 
wunderung, wie der spätere Monist in seiner Jugend ein Mensch von tiefer 
christlicher Frömmigkeit, zwar nicht im Sinne des Kirchenchristentums, wohl 
aber in dem der Religion Christi gewesen ist. Man spürt auch, wie die Zu- 
nahme der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zwar gewaltige innere Auf- 
regungen verursacht, aber vorerst den Glauben nicht erschüttert. So sind die 
Anfänge angedeutet, aus denen sich später Haeckels Weltanschauung ent- 
wickelt hat. Max Hirsch, Berlin. 


Münz: Die jüdischen Ärzte im Mittelalter. Fin Beitrag zur Kulturgeschichte 
des Mittelalters. Verlag von J. Kauffmann, Frankfurt a. M. 1922. 


Wir sprechen vom „dunklen“ Mittelalter und wollen damit seine Unwissen- 
heit, seinen Aberglauben, seinen geistigen und sittlichen Tiefstand bezeichnen. 
Aber nicht das Mittelalter ist dunkel, sondern unsere Kenntnisse über es sind 
dunkel. Und je öfter wir hineinleuchten in seine Wesenheit, um so mehr hellt 
sich das Dunkel auf, und wir sehen mit Erstaunen, dass im Mittelalter reges 
geistiges Leben herrschte. Nicht nur als Mittler antiker Kultur, sondern auch 
in selbständiger originaler Schöpfungsart. Es ist Sudhoffs unvergängliches 
Verdienst, die Bedeutung des Mittelalters für die Naturwissenschaften durch 
jahrzehntelanges Quellenstudium erkannt und dargestellt zu haben. In seinen 
Spuren wandelnd hat Diepgen vor kurzem die Leistungen «des Mittelalters 
für «deu Fortschritt der Medizin geschildert. Seiner Darstellung gibt das vor- 
liegende Werk eine wirkungsvolle Ergänzung. Neben den Insassen der Klöster 
sind jüdische Gelehrte als Übersetzer der wissenschaftlichen Werke der Araber 
und Griechen Vermittler der Kultur zwischen Morgenland, Antike und Abend- 
land gewesen. In fast allen Kulturstaaten standen jüdische Ärzte in einfluss- 
reichen Stellungen an den Höfen der Fürsten und Prälaten, der Könige und 
der Päpste. Im Orient, in Spanien, in Frankreich, Deutschland und der Türkei. 
in «Polen und in Halien. Ausgezeichnet durch Sprachkenntnisse des 
Hebräischen, Arabischen, Spanischen, Griechischen und Lateinischen. Tüchtig als 
Übersetzer, als Praktiker und als selbständige Denker. Unter vielen anderen 
seien genannt Israeli, der eine Diätetik, Maimonides, der im Auf- 
trage der ägyptischen Regierung ein Werk über ‚Gifte und ihre Heilung“ ge- 
schrieben bat, Gersonides, von Reuchlin und Kepler hochgeschätzt, 
Amatus Lusitanus, der die Rippenresektion gemacht und die Prostata 
bougiert hat usw. Auch eine „ärztliche Ethik“ des Israeli ist überliefert und 
eng mit der religiösen Pflicht verbunden, wie allgemein die Heilkunde als 
wichtiger Faktor der Ethik betrachtet wurde. In dem berühmten Gesetzeskoin- 
pendium (Schulchan Aruch) des Joseph Karo sind die ärztlichen Pflichten er- 
läutert, und im Gesetzeswerk (Mischna Thora) des Maimonides sind Lebens- 
und Gesundheitsregeln zu religiösen Normen erhoben. 

Erbliche Befähigung (Rudolf Virchow), psychologische und äussere 
Umstände führten die Juden damals wie heute in grosser Zahl dem ärztlichen 


5] Kritiken. 61 


Berufe zu. Im Mittelalter trotz Anfeindung und Verfolgung durch die Kirche und 
ihre Häupter, durch Predigermönche und religiöse Fanatiker. 
Max Hirsch, Berlin. 


Dresel: Soziale Fürsorge (Sozialhygienischer Teil): Eine Übersicht für 
Studierende und sozial Tätige. Zweite neubearbeitete und vermehrte Auflage. 
Verlay von J. Karger, Berlin 1922. 


Das Buch hat verdientermassen seinen Weg gemacht und erscheint jetzt 
in zweiter Auflage. Es ist in seinen legislatorischen Teilen den veränderten 
Zeitverhältnissen angepasst. An dieser Stelle sei besonders auf die Abschnitte: 
Mutterschaftsfrage, Geburtenrückgang, Prostitution, Ehezeugnisse hingewiesen. 
In allen diesen und auch den anderen Fragen werden die Probleme aufgerollt. 
Erschöpfende Darstellung ist nicht gegeben, auch nicht beabsichtigt. Das Buch 
gibt, wie der Untertitel sagt, nur eine Übersicht. Darum kann auch die schier 
unübersebbare Literatur nur in ganz wenigen Vertretern erwähnt werden. 
Darin liegt für den Studierenden und sozial Tätigen. für welche es bestimmt 
ist, ein Vorteil. Sie kommen an die Fragestellungen unmittelbar heran und 
erhalten den Eindruck des Wesentlichen. Max Hirsch, Berlin. 


Einrichtungen auf dem Gebiete der Volksgesundheits- und Volkswohl- 
fahrtspflege im Freistaat Sachsen 1922. Herausgegeben vom Sächsischen 
Landesgesundheitsamt. Dresden 1922. 


Dieses schön ausgestattete Werk ist Festgabe des sächsischen Landes- 
gesundheitsanites bei Gelegenheit der Jahrhundertfeier der (Gesellschaft Deut- 
scher Naturforscher und Ärzte in Leipzig. Frauenkunde und Sexualbiologie 
sind enger mit den Anfängen der Gesellschaft verbunden, als selbst Einge- 
weihte wissen. Aus der chirurgisch-medizinischen Akademie zu Leipzig ist 
1832 das Werk ihres ersten Leiters Seiler ‚Die Gebärmutter und das 
Ei des Menschen in den ersten Schwangerschaftsmonaten' hervorgegangen, 
in welchem die Veränderung des Eis von dem Platzen_des Graafschen 
Follikels bis zu den Veränderungen durch die Konzeption und die Bildung 
der Eihäufe geschildert wird. Ferner die Entdeckung «der Richtungskörper 
der Eizelle durch Carus, sowie das bis in unsere Zeit gelesene Buch von 
Amon über ‚Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege‘ und 
das erste sächsische Lehrbuch der Hebammenkunst von Grenser. 


In 22 Kapiteln ist zusammengefasst, was auf dem Gebiete der Volks- 
gesundheits- und Volkswohlfahrtspflege in Sachsen bis 1922 geleistet worden 
ist. An dieser Stelle sei besonders auf die Einrichtungen der Fürsorge für 
Mütter und Säuglinge, der Kranken- und Entbindungsanstalten, der Be- 
kämpfung der Krebskrankheif, der Fürsorge für Geschlechtskranke hingewiesen. 

Das Werk ist ein Denkmal deutscher Kulturarbeit, ein Stolz und Trost in 
schwerer Zeit. Max Hirsch, Berlin. 


Otto Köhler: Der: Säugling. Seine Entwicklung, Pflege und Ernährung. 
Mit Vorwort von Prof. Martin Thiemich. 11 Abb. 2. Aufl. 6 Mk. Verlag 
von Hirzel, Leipzig 1921, 


Das gut ausgestattete, flott und eindringlich geschriebene Büchlein ist 
(durchaus empfehlenswert. Bei einer neuen Auflage könnten einige Unstimmig- 
keiten beseitigt werden. (Z. B. S. 6: „Nach der Abnabelung bekonimt das Neu- 
geborene sein erstes Bad“; hingegen S. 7: „Das Kind darf deshalb zunächst 
nicht gebadet, sondern nur gewaschen werden.) 

G. Tugendreich, Berlin. 


62 Kritiken. [6 


Ad. Czerny: Der Arzt als Erzieher des Kindes. 6. neu durchgesehene 
Auflage. 112 S. 21 Mk. Verlag von Deuticke, Leipzig-Wien 1922. 


Die bekannte weit verbreitete Schrift des Berliner Kinderarztes bedarf 
keiner erneuten Empfehlung. Mit ungewöhnlich scharfer Beobachtung und auf 
(rund reicher Erfahrung werden typische Charakterbilder des Kindes ge- 
zeichnet, und ihre Erkennung und Behandlung in fesselndem Vortrag gescehullert. 

Die ‘Pädagogik, die grossenteils leider noch immer recht gleichgültig, wenn 
nicht gar ablehnend der ärztlichen Mitarbeit an Erziehungsfragen gegenüber 
steht, mag aus diesem Buche ersehen, wie wertvolle Hilfe ihr der Arzt leisten 
kann. Tugendreich, Berlin. 


J. Rutgers: Das Sexualleben in seiner biologischen Bedeutung .als ein 
Hauptfaktor der Lebensenergie für Mann und Weib, für die Pflanzen 
nnd für die Tiere. Verlag von R. A. Giesecke, Dresden 1922, 


Von dieser Arbeit, die aus 6 Teilen bestehen wird, sind bis nun zwei 
erschienen. Diese Arbeit ist nicht nur für die Sexuologen, sondern auch für alle 
Intellektuellen, die sich für diese Frage interessieren, geschrieben. Im Vorworl 
wird die Absicht dieser Publikation in den folgenden Worten zum Ausdruck ge- 
bracht: „Die vorliegende Arbeit ist weder eine Sexualhygiene, noch eine sexuelle 
Moral; sie will erst durch eine bessere Einsicht in das Wesen des Sexuallebens 
für beide einen festen Boden schaffen.‘ Weiter geht aus der Vorrede hervor, 
dass nach Rutgers das Kennzeichnende des sexuellen Lebens die Hervor- 
bringung einzelliger Organismen ist. Darin ist der hauptsächliche Unterschied 
mit der vegetativen Entwicklung enthalten, welcher Unterschied die Ursache der 
anatomischen und physiologischen Gegenstreitigkeiten ist, die psychisch den 
sittichen Kampf zur Folge hat. Die erste Ablieferung ist der Anatomie ge 
widmet. Im zweiten Kapitel stellt er sich die Frage, ob die Geschlechtsdrüsen 
als Tumoren oder als Drüsen betrachtet werden sollen. Da nach ihm das Kenn: 
zeichnende der Drüsen die Absonderung Stoffwechsels- und Degenerations- 
produkte, das Kennzeichnende der Tumoren die lokale, übermässige Produktion 
frischer Zellen ist, meint er, die Geschlechtsdrüsen eher als eine Art Tumoren 
auffassen zu müssen, das Ovarium ganz, die Testis aber als eine Mischung 
eines Tumors und Drüse, da die Ausscheidung der Zelle geschieht, wie man das 
bei den Drüsen findet. Es stellt sich dann auch heraus, dass die Testes aus 
der Verwachsung eines epithelialen Tumors mit dem Abscheidungssystem einer 
embryonalen Drüse entstehen. Weiter bespricht er in diesem Teil die Embryo- 
logie und Organochemie der Geschlechtsdifferentiation mit einem Anhang über 
den Hermaphroditismus, die Bildung neuer Zellen in den Geschlechtsdrüsen, die 
in den Pubertätsjahren anftritt, indem er mit einem Kapitel über die hygieni- 
sche Pilege der äusseren Geschlechtsorgane endigt. 

Der zweite Teil, der noch nicht ganz erschienen ist, ist «er Physiologie 
gewidmet. Darin betont Rutgers, dass man die sekretorische Funktion der 
tieschlechtsdrüsen nur dann verstehen kann, als man die mit der Darm- und 
Nierenfunktion vergleicht. Diese drei haben grosse Verwandtschaft, werden durch 
analoge Blutgefässe und Nervenstämme versorgt, sind für dieselben äusserlichen 
Kınflüsse, Medikamente usw. empfindlich. Ihre enge Verwandtschaft geht auch 
daraus hervor, dass bei den Fischen und Vögeln für diese drei Absonderungs 
systeme nur eine Ausfuhröffnung besteht.. Danach bespricht er den Unterschied 
der Absonderungsprodukte dieser Organe, wobei er darauf hinweist, dass der 
Darminhalt eine Mischung ‚Abfall- und Drüsensekretionsprodukten ist, die Niere 
nur Abfall, die Geschlechtsdrüsen nur Sekretionsprodukte absondert. Weiter 
behandelt er den Mechanismus der drei Sekretionen. Ferner bespricht er die 
Physiologie der Erektion und des Orgasmus, mit Betonung des Unterschiedes 
hierin beim Mann und Weib. Danach setzt er den Zweck des sexuellen Lebens 
auseinander ımd macht klar, dass neben der Fortpflanzung das sexuelle Leben 


7] | Kritiken. 63 


in seinen psychischen Äusserungen als Wollust und Liebe für den Menschen von 
allerhöchstem Werte ist. | 

In den folgenden Kapiteln behandelt er die Nachteile sexueller Enthaltsam- 
keit, die Frage des Geschlechtsverkehrs in der Schwangerschaft, die materiellen 
Hindernisse, die Begattung schwierig oder unmöglich machen. 

Die bis jetzt erschienenen Teile sind in vielen Hinsichten sehr wichtig. 
Rutgers bringt teilweise ganz neue Auffassungen ‘und versucht viel mehr als 
bisher getan ist, die verschiedenen Funktionen miteinander in Zusammenhang 
zu bringen und miteinander zu vergleichen. Mit Interesse kann man den 
iolgenden Teilen entgegen sehen. Dr. H. C. Rogge, Berlin. 


Max Hirsch: Die Gattenwahl. Ein ärztlicher Ratgeber bei der Eheschliessung. 
Verlag von (!urt Kabitzseh, Leipzig 1922. 


Das unter Förderung des Landesausschusses für hygienische Volksbelehrung 
herausgegebene Büchlein kommt zu rechter Zeit. Wenn auch nur langsam, 
so bricht sich doch allmählich die Erkenntnis immer mehr Bahn, dass die Fort- 
pflanzung unseres Volkes vom Verantwortungsgefühl der Ehepartner der Nach- 
kommenschaft gegenüber, d. h. von hygienischen, gesundheitlichen Massnahmen 
getragen sein muss. Hirsch fasst «ie ärztlichen Erfahrungen, die in grund- 
legender und mehr rein wissenschaftlicher Form in dem bekannten Senator- 
Kaminerschen Werke „Krankheit und Ehe‘ wohl zum erstenmal, und zwar 
hauptsächlieh für Ärzte gesammelt worden waren, in kurzen auch für den Laien 
leicht fasslichen, aber nichts desto weniger eindrucksvollen Kapiteln unter Be 
rücksichtigimg auch der nenesten Forschungsergebnisse zusammen und bringt 
sie jedem in die Ehe eintretenden Menschenpaar als ausserordentlich nützliche 
Gabe dar. Nach den einleitenden 3 Kapiteln über die Ehe (die be ener Neu- 
auflage vielleicht als besondere Einleitung der übrigen Kapitel gesondert voran- 
gestellt werden könnten), bespricht Hirsch kurz und treffend die für die 
Vererbung, für Wohl und Wehe einer Familie wichtigsten Krankheiten, wie Ge: 
schlechtskrankheiten, Tuberkulose, Erkrankungen der wichligsten Organe, 
ılarunter Geisteskrankheiten, Epilepsie, Stoffwechsel- und Blutkrankheiten, Ver. 
giftungen wie Alkoholismus, Morphinismus, Berufskrankheiten, die Abartungen 
des Geschlechtstriebs. Den Schluss bildet ein kurzer Hinweis auf die Be- 
deutung von Familientafeln, Stammbäumen, Heiratszeugnis und Eheberatung. 
Nicht nur der Laie kann aus dem Büchlein viel lernen, auch dem praktischen 
Arzt wird es in geeigneten Fällen ein willkommener, zur raschen Orientierung 
ılienender Ratgeber sein. Westenhöfer, Berlin. 


E. Kehrer: Ursachen und Behandlung der Unfruchtbarkeit nach modernen 
Gesichtspunkten. Zugleich ein Beitrag zu den Störungen des sexuellen 
Lebens, besonders der Dyspareunie 113. S. Verlag von Th. Steinkopff, 
Dresden und Leipzig. 


Es gibt Themata, die ‚in der Luft liegen‘. Das will wohl besagen, dass 
eine Summe von Arbeiten und Erfahrungen vorliegt, auf Grund deren ein Gegen- 
stand neu untersucht und beurteilt werden kann. Das gilt augenblicklich von der 
Sterilitätsfrage. Unter anderm hat Referent in der Oberrheinischen Ge: 
sellschaft für Gynäkologie und auf der Leipziger Naturforscher-Versammlung dies« 
wichtige Frage behandelt und ist von dem Gedanken ausgegangen, dass viele 
Unklarheiten in unserer nicht genügenden Kenntnis der Physiologie der Zeugung 
ıhren Grund haben. Auch Kehrer geht in seiner ausführlichen Schrift, in der 
man die meisten wichtigen Einzelheiten berücksichtigt findet, von demselben Ge- 
danken aus. Er untersucht aber weniger die körperlichen, als die psychisch- 
nervösen Vorgänge bei der Zeugung. Das ist ein ziemlich unsicherer Boden, weil 
man ausschliesslich auf die subjektiven Angaben der ratsuchenden Frauen ange- 
wiesen ist, die gerade in bezug auf geschlechtliche Dinge und bei Personen, die 


"ee 


64 Kritiken. [8 


steril sind oder steril zu sein fürchten, nicht ohne weiteres zuverlässig er- 
scheinen dürfen. Kehrer behauptet, dass die Ejakulation beim Manne möglichst 
mit dem höchsten Orgasmus bei der Frau zusammentreffen muss, wenn der Bei- 
schlaf fruchtbar sein soll; er entwirft von dem völligen, mangelhaften oder 
mangelnden Zusammentreffen Kurven und beurteilt danach die Konzeptions- 
aussichten. Das ist schwer zu prüfen und im übrigen -— die graphische Dar. 
stellung abgerechnet — nicht neu. So sagt (1859) Eichstedt in seinem Anf- 
satz über Zeugung: „Beim Weibe erreicht das Wollustgefühl ebenso wie beim. 
Manne seinen Gipfel“, es hält über ‘den Moment der Ejakulation an; der Koitus 
bewirkt (worauf Eichstedt mit Recht hinweisti eine erhebliche Form: 
veränderung der Gebärmutter, wobei „durch denselben auch das Weib den 
Gipfel des Wollustgefühls erreicht.“ —- Das Ausbleiben in «der Koinzidenz des 
beiderseitigen Orgasmus ist nach Kehrer das Wesen der lyspareunie des 
Weibes, unter welchen Begriff er alle Störungen der Vita sexualis zusammen- 
gefasst. Monate- und jahrelanges Fehlen des Orgasmus soll eine Ursache mannig- 
faltiger pathologischer Störungen der Beekenorgane, vasomotorischer Beschwerden 
und psychischer Erscheinungen sein. Kine Schwängerung ist dann zwar nich! 
ausgeschlossen, aber erschwert, und ausgeschlossen, wenn anatomische oder 
physiologische Konzeptionsbehinderung dazu kommt. Beweisendes Beobachtungs- 
material bringt Kehrer nicht bei, weshalb seine Behauptung, 70°. aller Frauen, 
die gynäkologischen Rat einholen, litten unter Dyspareunie, nicht überzeugend 
wirkt. Er nimmt als die häufigsten Formen an: völlige geschlechtliche Anästhesie, 
Herabsetzung der Libido, Ausbleiben der Voluptas, des Orgasmus während der 
Ejakulation, Ursachen der Dyspareunie können psychische Einflüsse sein, so 
Psychasthenie, Angst vor Schwangerschaft, Infektion, vor Schmerzen, Aver 
sionen, sadistische, homosexuelle Neigungen u. a. m. — Bei der kurz abze: 
handelten Ätiologie der männlichen Sterilität nimmt Kehrer 30—40°.« aller 
Fälle, die meist auf Gonorrhöe beruhen, in Anspruch, was nach neueren Erfah: 
rungen zu hoch gegriffen ist. Die anatomischen Ursachen der weiblichen Steri- 
lität sind übersichtlich aufgeführt. Bei den Stenosen behauptet Kehrer, sie 
kämen häufiger am inneren als am äusseren Muttermund vor, zur Unfracht: 
keit führten sie aber erst, wenn die Dyspareunie mit ihren Folgezuständen lang- 
lauernder sexueller Blut- und I,ymphüberfüllung hinzukommt. — Auffällig sind 
Kehrers Auseinandersetzungen betreffs der Frage Sterilität und Uterusmyom: 
ın der Mehrzahl aller Fälle sollen beide koordinierte Folgen einer mehrjährigen 
schweren Störung der Vita sexualis sein, ja es soll sogar möglich sein, auf Grund 
(ler Grösse eines Myoms die Zeitdauer der Dyspareunie genau zu bestimmen. 


Es erscheint erklärlich, wenn Kehrer hinsichtlich der Behebung der 
Sterilität der sexuologischen Aufklärung und Psychotherapie das Wort. redet. 
Kine Vorbereitung auf (en sexuellen Akt ist nötig — körperliche und geistige Scho- 
nung, Musik, Anregung der Phantasie -—- wünschenswert sexuelle Liebe und Har- 
monie, wobet eine „Selbsthilfe“ beim unvollständigen Zusammentreffen der Orgas- 
men empfohlen wird. Der Akt soll nur erfolgen, wenn sich die erotische Bereitschaft 
durch äussere Benetzung bei Frau und Mann zuvor bemerkbar gemacht hat. 
Gilt es, die Libido anzuregen, so kann der Kongressus in Seitenlage oder in 
anderer Stellung succubus versucht werden. Vor Massage, Klitorisreizung, 
Aphrodisiacis wird gewarnt. — Bei der Therapie anatomischer Hindemiss- be 
ton. Kehrer die Wirksamkeit der Laminariadilatation bei Stenosen, die in 
hallyährigem Abstand wiederholt werden darf. Mit Recht weist er bei Hypo- 
plasien auf den Wert lokaler Ilyperämisierung durch Abrasio, Pelvi.hernne, 
(Galvanısafion hin. Nach der Besprechung der Sterilitäts-Operationen äussert sieh 
Kehrer skeptisch über die bisherigen Ergebnisse der künstlichen Befruchtung. 
die ihm nur in Verbindung mil der Auslösung eines weiblichen Orgasmus auf dem 
Wege der psychischen Beeinflussung dureh den Arzt oder der Hypnose aussichts- 
voll erscheint. _ H. Freund, Frankfurt a. M. 


9) Kritiken. 65 


Johannes M. Verweyen: Redlichkeit als Kulturforderung. 19 Seiten. 
Preis 5 Mk. Verlag von Paul Hartung, Hamburg 1922. 


Eine gedankenreiche, von hohem sittlichem Geiste erfüllte Schrift, ein 
wertvoller Einblick in das Wesen und die individuelle sowie soziale Bedeutung 
der Redlichkeit. Auch der Arzt wird dieses tapfere, herzhafte Büchlein des 
Bonner Professors der Philosophie mit grosser Freude lesen. Verweyen gibt 
dann unter anderem ein vorzügliches Urteil über die Psychoanalyse, das nach 
meiner Ansicht den Kern derselben trifft. Als Psychotherapie, sagt Verweyen, 
vertraut die Psychoanalyse der reinigenden, seelisch aufbauenden Macht unbe- 
dingter Redlichkeit, welche alle sogenannten verdrängten Vorstellungen und 
Triebe ans Tageslicht des Bewusstseins aufsteigen lässt, um sie mit Hilfe 
einsichtigen Erfassens zum Abklingen zu bringen. Die Erkenntnis ihrer. Ent- 
stehung und ihres Zusammenhanges ist geeignet, beruhigend zu wirken und 
eine gewisse Angst vor dem Rätselhaften zu bannen. Auf Selbsterkenntuis, die 
schon den ältesten griechischen Weisen als Bedingung des _ geistig-sittlichen 
Wachstums erschien, ist die Psychoanalyse gerichtet, sozusagen auf eine Prüfung 
von „Herz und Nieren‘. Sie verhilft in ıhrer Weise zu jenem Finen, das vor 
allem nottut, zur inneren Abrechnung des Menschen mit sich selbst, die kein Ver- 
schleiern und keine Täuschung duldet. — Offensichtlich bildet das redliche 
Eingeständnis der Anwesenheit aller Gefühle und Triebe die erste Voraus 
setzung zu ihrer Beherrschung und richtigen Lenkung. Ich stimme Verweyen 
in dieser Kennzeichnung der ersten, grundlegenden Aufgabe der Psychoanalyse 
zu; darüber hinaus ist es aber von ausschlaggebender Bedeutung, ob der Or, 
ganismus die Fähigkeit zur Sublimierung besitzt, die Mög ichkeit in sich trägt, 
durch glückliche individuelle, intrapsychische und soziale Konstellation aller in 
Betracht kommenden Verhältnisse niedere in höhere Energien zu transforınie: en, 
Auf die Psychoanalyse hat die Psychosynthese zu folgen; damit sind die Auf- 
gaben und Grenzen der Psychoanalyse gegeben. 

Otto Juliusburger, Berlin, 


Siemerling: Hypnotismus und Geistesstörung. Arch. f. Psych. Ba. 65. 
H. 1—3. S.1. 


Den in den letzten Jahren wieder häufiger und in vielen Fällen.recht un- 
kritisch z. T. von Laien ausgeübten hypnotischen Massnahmen entspricht es, 
dass sich die Mitteilungen über dadurch bedingte Schädigungen häufen. Jetzt 
erhebt auch ein so erfahrener Kenner der Materie wie Siemerling seine 
warnende Stimme und berichtet aus den letzten zwei Jahren über fünf Fälle, 
bei denen hypnotische Prozeduren in bemerkenswerter Weise schädigend auf 
das betreffende Individuum gewirkt haben. In zwei Fällen handelt es sich um 
hypnotische Versuche zu Heilungszwecken bei schon bestehender Geisteskrank- 
heit, die nicht nur, wie selbstverständlich, keine Heilung, sondern Verschlimme- 
rung des Zustandes durch Auslösung von Erregungszuständen brachten. In den 
drei weiteren Tällen handelt es sich um geistige resp. nervöse Störungen im 
Anschluss an hypnotische Versuche, darunter einmal bei einem bis dahin ge- 
sunden jungen Mann, der aktiv als Hypnotiseur auftrat! Einmal entwickelte 
sich eine starke Hörigkeit. Mit Recht weist Siemerling darauf hin, dass 
die Hypnose, mag man sich ihr Zustandekommen und ihr Wesen denken, wie man 
will, ein psychisches Trauma sei, dem man noch lange nicht jeden Menschen 
aussetzen darf. König, Bonn. 


Sigmund Freud: Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, 
Paranoia und Homosexualität. Intern. Zeitschr. f. Psychoanal. 1922. 
VIII. Jabrg. H. 3. 


Wer diege Arbeit Freuds studiert, muss leider ersehen, dass er nichts 
an seiner Lehre ändert. Auch die normale Eifersucht sieht er tief im Un- 
bewussten wurzeln, in den frühesten Regungen der kindlichen Affektivität, sieht 


Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 1. 5 


"FT 
en 
— 


66 Kritiken. [10 


sie aus dem Ödipus-Komplex oder Geschwister-Komplex der ersten Sexual- 
periode entstehen. Er sieht sie sogar bei manchen Personen bisexuell erlebt, 
neben dem Hass gegen den männlichen Rivalen auch Trauer um den unbewusst 
geliebten Mann. Bei einer anderen Form der Eifersucht, der projizierten, 
glaubt Freud, dass der Eifersüchtige sein Gewissen dadurch erleichtere, 
wenn er den eigenen Antrieb zur Untreue auf die andere Partei überträgt, der 
er die Treue schuldet. Endlich sieht er aber in der wahnhaften Eifersucht eine 
„vergorene Homosexualität“. Gewiss ist mit der Anerkennung der höchst- 
wahrscheinlichen organischen Bedingtheit der Homosexualität das Rätsel noch 
nicht gelöst, mit dieser mehr als eigenartigen Ausdeutung ihrer etwaigen 
psychischen Entstehungsbedingungen wird es kein nüchtern denkender Be- 
obachter weiter geklärt finden. .Placzek, Berlin. 


Kehrer: Erotische Wahnbildungen sexuell unbefriedigter weiblicher 
Wesen. Arch. f. Psych. Bd. 65. H. 1—3. 8S. 815. 


An sechs genau analysierten „Wahnkrankheitsfällen‘‘ weiblicher Wesen 
zwischen Pubertät und Klimakterium — die sehr interessanten Einzelheiten 
können referierend nicht wiedergegeben werden — sucht Kehrer die psycho- 
logische Genese der Wahnbildungen klarzulegen. Er findet eine Beschränkung 
der Wahnschöpfungen auf den „Heiratserhöhungswahn‘ einerseits und den 
„sexualethischen Verachtungswahn‘ andererseits. In allen Fällen lässt sich ein 
inneren Kampf zwischen der nach Anlage und Entwicklung von Charakter und 
Temperament abnormen Persönlichkeit mit dem Lebenskonflikt der Sexualität 
nachweisen. Eine scharfe Grenzlinie zwischen Selbstentwicklung und Reakiiv- 
entwicklung lässt sich dabei nicht ziehen. König, Bonn. 


G. Steiner: Psychische Untersuchungen an Schwangeren. Arch. f. Psych. 
Bd. 65. A. 1-3. 8. 171. 


In sehr interessanten Untersuchungen beschäftigt sich Steiner mit dem 
psychischen Zustand von Schwangeren. Sein Material von 80 Schwangeren der 
Universitätsfrauenklinik in Heidelberg, meist ledige aus ungebildeten Ständen, 
sucht er zweckmässig zu ergänzen durch Befragung ihm bekannter schwangerer 
Frauen der gebildeten Stände. Er bespricht die in fast allen Fällen vorhandene 
Geruchsüberempfindlichkeit, die nächsthäufigere Geschmacksüberempfindlich- 
keit — Geräuschüberempfindlichkeit hat er viel, viel seltener und Licht- 
überempfindlichkeit hat er nie beobachtet. Es handelt sich dabei, wie aus 
dem Zusammenhang mit den ohne äussere Anregung unter den Erscheinungen 
des subjektiven Zwanges auftretenden Gelüsten und den ebenfalls recht 
häufigen Ekelgefühlen, die nahe Beziehungen zur Hyperemesis gravidarum 
haben, hervorgeht, nicht um eine tatsächliche Steigerung der Sinnesempfindung, 
sondern um eine scheinbare, nur um eine stärkere subjektive Gefühlsbetonung. 
Auf Grund: dieser dissoziierten Änderung der Gefühlsbetonung kommt es auch 
häufig zu Affektverschiebungen. Ausserdem besteht aber auch in der Schwanger- 
schaft ein sehr lebhafter Stimmungswechsel. In all diesen der Schwangerschaft 
eigenen Veränderungen finden sich nicht die geringsten Ansätze zu dem, was wir 
als Graviditätspsychosen bezeichnen könnten. Zum Schluss regt Steiner in 
dankenswerter Weise die Frage an, ob man in der modernen Neigung, Geburten 
in Hypnose oder Dämmerschlaf vollziehen zu lassen, nicht einen Schlag gegen die 
Natur sehen müsste, der verhängnisvolle Folgen in den seelischen Beziehungen 
zwischen Mutter und Kind mit sich bringen könne. König, Bonn. 


v. Grabe: Über Zwillingsgeburten als Degenerationszeichen. Arch. f. 
Psych. Bd. 65. H. 1—3. S. 79. 


Auf Grund von anamnestischen Forschungen bei der Aufnahme neuer weib- 


licher Kranker (685) kommt der Autor zu der Anschauung, dass in den Familien 
der Geisteskranken viel mehr Mehrlingsgeburten vorkommen, als in denen der 


11] Kritiken. 67 


Gesunden. Zur Kontrolle verwendete er die Familien von 283 weiblichen 
Pflegepersonen und kommt zu einem Verhältnis von 685:206 bzw. 283:47, 
das ist fast 30% zu 16,6%. König, Bonn. 


KarlAbraham: Äusserungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes. 
Heft 4. Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse 1921. 


Wer noch so ernst sich bemüht, psychoanalytischen Veröffentlichungen 
gegenüber sich ruhig abwägend zu verhalten, kommt bei so mancher Leistung 
in Gefahr, die Objektivität zu verlieren. Das ist hier der Fall. Der weibliche 
Kastrationskomplex! Schon das jüngste Mädchen fühlt sich durch den Mangel 
äusserer Genitalien benachteiligt und kann das grösstenteils sein Leben lang 
nicht verwinden. Vermöge des identifizierenden Denkens werden die Vor- 
stellungen „Kot und „Penis“ verbunden. ‚Auf diese Gleichsetzung gründet 
sich beim Knaben die Angst vor dem Verlust des Gliedes, das sich vom Körper 
lösen könnte, wie der Kot sich von ihm löst. Beim Mädchen aber entsteht die 
Phantasie, auf dem Wege der Defäkation ein Glied zu gewinnen — es sich also 
selbst zu schaffen — oder es als Geschenk zu erhalten, wobei gewöhnlich der 
Vater, als Beatus possidens, der Schenkende ist." 

Wenn später die Kleine den Vater zum Liebesobjekt erhebt, tritt sie in 
dasjenige Stadium ihrer Libidoentwicklung ein, welches durch die Herrschaft des 
weiblichen Ödipuskomplexes sein Gepräge empfängt. Wenn sie sich später mit 
der Mutter identifiziert, wird aus dem Penisneid der Neid auf den Kinderbesitz 
der Mutter. Weil der Vater dem Kinde weder ursprünglich, noch später ein 
männliches Glied hat schaffen können, dafür nimmt das Unbewusste der er- 
wachsenen Tochter noch später Rache; nicht freilich am Vater, sondern an dem 
Manne, der die Rolle des Vaters übernahm. Also statt der Liebeseinstellung mit 
genitalem Ziel eine sadistisch-feindliche Einstellung. 

Als neurotisches, durch den Kastrationskomplex bedingtes Symptom be- 
zeichnet Abraham die Enuresis nocturna der weiblichen Neurotiker. Natür- 
lich knüpft sich an diese abenteuerliche Deutung auch ein dogmatischer Leitsatz. 
„Frauen, welche zur Enuresis nocturna neigen, sind regelmässig mit starken 
Widerständen gegen die weiblichen Sexualfunktionen behaftet. Das infantile 
Begehren nach der Fähigkeit zum männlichen Urinieren verknüpft sich mit der 
uns bekannteu Verwechslung von Urin und Sperma, von Miktion und Ejaku- 
lation. Daraus geht die unbewusste Tendenz hervor, den Mann beim sexuellen 
Verkehr mit Urin zu benässen‘“ (sic!). Natürlich kann sich die Libido auch weit 
weg von der Genitalregion verschieben, zur Nase, dem Auge. Für die Zuneigung 
mancher Frauen für verstümmelte Männer ist natürlich auch die Kastrationsidee 
verantwortlich, weil diese Männer ja ein Glied verloren haben. 

Statt jeder eigenen Kritik zu diesen mehr als seltsamen Ideengängen zitiere 
ich nur, was einer der geistvollsten Analytiker Stekel zu diesen Auswüchsen 
in seinem neuesten Buche sagt: „Dass solche Ausführungen neben der Auslösung 
tomerischen Gelächters die Analyse lächerlich machen und empfindlich 
schädigen, brauche ich nicht des näheren auszuführen. — 

Placzek, Berlin. 


Franz Boas: Kultur und Rasse. 2. Auflage 256 S. 8°. Geh. 25 Mk.; 
Geb. 40 Mk. Verlag von W. de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig 1922. 


Sind höhere Leistungen ein sicherer Beweis höherer Rassenbegabung? Ist 
das heutige Verhalten höherer Rassen sicher in Zukunft dasselbe? Sind die 
Kennzeichen der weissen Rasse einer höheren Entwicklungsstufe eigen und 
stehen sie also im Zusammenhange mit höherer geistiger Begabung? Wenn jeder 
Menschentypus mehr als eine Sprache entwickelt hat, sind dann die Leistungen 
der Rasse eindeutig durch ihre Begabung bestimmt? Müssen niedere Körper- 
formen von niederen geistigen Anlagen begleitet sein? Ist das höhere Hirngewicht 
Beweis tür höhere Begabung? Die Behandlung dieser und ähnlicher Fragen 


5* 


— 


68 Kritiken. (12 


führt den Verf. dazu, denen beizutreten, die jene Fragen verneint haben, sorfit 
die Einheitlichkeit des Menschengeschlechts behaupten. Woher also die Ver- 
schiedenheit der Leistungen? Da die Menschentypen „plastisch‘‘ seien, be. 
trachtet der Verf. ihre Veränderung durch die Umwelt, überhaupt den Einfluss der 
Natur, den ein so scharfsinniger Denker wie Hume leugnete, andere doch zum 
Teil anerkannten. Der Verf. fordert nun, in den geschichtlichen und gesellschaft- 
lichen Zuständen den Anlass der verschiedenen geistigen Leistungen aufzusuchen. 
Geistige Vorzüge einzelner Rassen seien höchstens unterstützendes Element der 
Kulturentwicklung, sicher nicht bestimmende Ursache; auch durch die Charakter- 
züge zeigen sich die Kulturarmen nicht verschieden von den höher Gebildeten; die 
Rassenunterschiede seien immer klein im Vergleich zu den Individualunter- 
schieden. In seiner Anthropogeographie meint Ratzel, die Menschheit er- 
scheine als Einheit, in der die Verschiedenheiten weit hinter dem Gemeinsamen 
zurücktreten (l. 470 u. II. 56). Sehr unsicher sei es, das Wesen eines Volkes 


aus seiner Naturumgebung konstruieren zu wollen, besonders, da man oft nicht 


wisse, wie lange das Volk in seinen gegenwärtigen Wohnsitzen ist. Doch war 
Ratzel nicht so skeptisch wie Hume. Sehr zweifelhaft sei, wieweit die 
Kulturkapazität verschiedener Erdteile durch ihre verschiedenartige ‚Ausstattung 
mit nutzbaren Pflanzen und Tieren bestimmt würde. Der milde ionische Himmel, 
meint Hegel, habe sicher viel zur Anmut der Homerischen Gedichte beige- 
tragen, doch kann er allein keine Homere erzeugen, auch erzeugt er sie nicht 
immer; unter türkischer Botmässigkeit erhoben sich keine Sänger. Mit Hegels 
Ansicht jedoch, dassin der kalten und in der heissen Zone der Boden weltzeschicht- 
licher Völker nicht sein könne (Philos. der Geschichte), ist Th. Waitz ungefähr 
einverstanden. Der geistreiche Oskar Peschel äussert sich in seiner Völker- 
kunde nicht ganz einheitlich, meint aber, dass in bezug auf Denkvermögen die 
Gleichheit der Menschenart nicht zu bezweifeln sei; das psychische Einerlei der 
Menschennatur sollte fernerhin nicht mehr bestritten werden. Wenn er trotz- 
dem die geschichtliche Stärke zum grossen Teil auf den Fähigkeiten beruhen 
lässt, die Verschiedenheit der Begabung der Menschenrassen nicht verkannt 
wissen will, die Anlagen eines natürlichen Weckers bedürfen lässt, von einer 
wechselnden Begabung der Rassen spricht und jede Religionsschöpfung einen 
Ausdruck der Rassenbegabung nennt (335 f. der 3. A.), so klingt das an die 
Überzeugung von Th. Waitz an, der in der Anthropologie der Naturvölker 
(1. 384 der 2. A.) seine Musterung der Völker mit den Worten schliesst: redet 
man von Anlagen vor aller Kultur, so hindert nichts, anzunehmen, dass sie gleich 
waren; dagegen in einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte, so muss man 
sagen, dass die Begabung nach Zeiten verschieden ist und durchaus nichts Fest- 
stehendes. Ebensowenig steht auch die Linie der Entwicklung fest. Es ist z. B. 
ganz unbewiesen, dass alle Völker durch den Totemglauben hindurch müssen. 
Von gleichen Erscheinungen wird nicht selten zu sagen sein duo cum faciunt 
idem non est idem; sie haben verschiedenen Grund. 

Wenn Penck das Alter des Menschen in Europa auf mehr als 100 000 
Jahre schätzt, von denen nur 6—7000 durch wirkliche „Geschichte‘‘ ausgefüllt 
sind, so muss man wohl zugeben, dass unsere Rassenbeobachtungen der Gründ- 
lichkeit entbehren, so dass auch die wirkliche Reinheit einer Rasse kaum je 
sicher festgestellt werden kann. Der Geschichtsphilosoph Th. Lindner nennt 
z. B. Semiten und Indogermanen nicht Rassen, sondern nur Gruppen innerhalb 
der grossen mittelländischen weissen Rasse. Ein Geschichtsbetrachter weist 
darauf hin, dass auch Geschwister sehr verschieden begabt sein, also aus der- 
selben Wurzel verschiedene Sprösslinge kommen können. Die berühmten 
Griechen fanden bei ihrer Einwanderung schon Bewohner vor. 

Von Schädelkundigen und Psychiatern erhalten wir keine ganz gleich- 
artigen Belehrungen, wohl aber die Anweisung, von dem Hirngewicht und der 
Kapazität des Schädels keine sicheren Aufklärungen zu erwarten. Aller- 
dings zeigt die Natur (mythologisch gesprochen) mit der verschiedenen Aus- 


13) Kritiken. 69 


stattung des männlichen und weiblichen Geschlechts, dass sie den Geschlechtern 
verschiedene Aufgaben gestellt hat, über deren Rang zu streiten ebenso wunder- 
lich wie überflüssig ist. Byron, der auf bürgerliche reputation nicht eben 
ängstlich bedacht war, sagte mal:.... das schlimmste Weib, das je gelebt, 
würde noch einen Mann von ganz erträglichem Ruf abgegeben haben. Sie sind 
alle besser als wir, und ihre Fehler müssen ihren Ursprung bei uns haben 
(Tagebücher und Briefe von Ed. Engel). Bei pathologischen Befunden ist 
das Gewicht des Gehirns zuweilen über Durchschnitt. Ein erwachsener epi- 
leptischer Geisteskranker hatte 2850 g, ein Idiot 2400; ein geistig normaler Maurer 
1945, ein einfacher Arbeiter 1925. A. Baer, der den Verbrecher in anthropo- 
logischer Beziehung studiert hat, verbietet uns, aus der Grösse des Schädel- 
raumes !auf den Kulturgrad eines Volkes zu schliessen (S. 441 der Ausgabe von 
1893). Dagegen sind, nach G. Buschan, geistig niedriger stehende Rassen 
mit geringerem Hirngewicht ausgestattet als Kulturvölker. Der grosse Liebig 
hatte aber angeblich, allerdings mit 70 Jahren (also bei sog. Iavolution) nur 
ein Hirngewicht von 1325 g, Dante von 1320 g (oder „nach Berechnung‘ 
1420 g); Gauss mit 78 Jahren 1492 g, Cuvier (mit 63) 1861 g; Byron (36) 
1807 g. Für den mitteleuropäischen Mann im Alter von 20—49 ist (nach 
Marchand) der Durchschnitt 1397, die Frau 1270. Nach Davis hat die 
kaukasische Rasse ein mittleres Hirngewicht der Männer von 1367, der Hindu 
1253; hohes Hirngewicht haben bei kleiner Statur die Chinesen, im Durch- 
schnitt 1332, die Indianer 1266, die Neger 1244. Bei allen Völkern ist das 
mittlere Hirngewicht der Weiber etwas geringer als das der Männer. Freilich 
ist auch schon das Gewicht der Neugeborenen etwas verschieden. Nach 
C. Granier ist die Frau etwa 7 mal weniger verbrecherisch als der Mann, 
ausser, wenn sie Arbeitsrivalin des Mannes ist (ähnlich Lombroso). Der Verf. 
selbst führt an, dass (von Manouvrier) als Mittelwert von 35 bedeutenden 
Männern eino Kapazität von 1665 ccm festgestellt wurde, während 110 Durch- 
schnittsmenschen nur 1560 ergaben. Andererseits zeigten 45 Mörder 1580 ccm. 
Erhebliche Veränderungen des geistigen Lebens der Völker erfolgen keineswegs 
immer auf Grund von Begabung oder Induktion und Logik, sondern oft nach 
blosser Stimmung — worauf Historiker wie Lecky und J. Burckhardt 
aufmerksam gemacht haben. Sollen die Leistungen nur auf geschichtliche Schick- 
sale und gesellschaftliche Zustände zurückgehen, so wird uns das Verständnis 
freilich oft ebenso sauer gemacht, wie im andern Fall. Denn die Begabung 
wäre analog dem, was für die Sprache W. v. Humboldt die unergründliche 
Tiefe der Individualität nannte. Aber wie wäre anderseits aus Schicksal und 
gesellschaftlichen Zuständen z. B. die Fülle und Schönh:it unserer deutschen 
Musik zu erklären, oder die einmalige Ausbildung des echten Monotheismus durch 
Verfasser des Alten Testaments, wenn wir den von E. Renan zu Hilfe ge- 
nommenen „Instinkt“ nicht gelten lassen? Noch scheint nichts Besseres ge- 
funden, als die obige Formel von Th. Waitz, die von einer nicht ursprüng- 
lich festgelegten und verschiedenen, sondern wechselnden Begabung spricht und 
dem Geschichtsforscher ausser der Abschätzung der Umwelt eine sorgfältige 
Induktion aus Tatsachen zur Pflicht macht, wie O. Lorenz die Geschichts- 
forscher ermahnt, die Ereignisse aus menschlichen Motiven zu erklären. 


K. Bruchmann. 


Gustav Jung: Die Geschlechtsmoral des deutschen .Weibes im Mittel- 
alter. Eine kulturhistorische Studie. 252 S. gr. 4°. 40 Mk. Eithnologischer 
Verlag, Leipzig 1921. 


Nach der Einleitung folgen die Abschnitte: Germanische Vorzeit. Vom Be 
ginn der Völkerwanderung bis zum Untergang des Merowingerreiches. Bis 
zum Anfang der Kreuzzüge. Die Frau in der Zeit des höfischen Lebens. Bürgerin 
und Bäuerin bis zum Anfang der Reformation, Das Weib auf den Bahnen der 





70 Kritiken. [14 


Unnatur (Nonne, Dirne). Rückblick 228f. 241--252 ausführliche Inhaltsangabe 
und Verzeichnis von Namen und Sachen. 

Alles in allem sicht es so 'aus, dass man zwar gegen manche gesellschaft- 
lichen Erscheinungen der Geschlechtermoral strenger, gegen andere aber lässiger 
wurde. Die gute alte Zeit hatte auf diesem Gebiet auch nicht wenig Ungutes. 
Sollte, nach Rankes Ausdruck, in jeder Generation die wirkliche moralische 
Grösse der in jeder anderen gleich sein, und es in der moralischen Grösse 
gar keine höhere Potenz geben, so würde es gerade uns jetzt Lebenden sehr 
übel anstehen, wenn wir der Vergangenheit deswegen Vorwürfe machen wol:ten, 
weil sie ziemlich willig auf die Stimme der Natur achtete und gegen ihre 
Antriebe nachsichtig war. Manche Gewohnheiten nehmen sich verblüffend aus 
und zeigen Ähnlichkeit mit andern Zeiten und Völkern. So manche lustige 
Einzelheit, z. B. über das Kloster Gnadenzell, enthält das Buch, zu dem der 
Verf. sehr umfassende Vorarbeiten gemacht hat. Diejenigen, die den sog. Frauen- 
dienst, wäre er auch nur schriftlich oder dichterisch gewesen, nicht mögen, werden 
aus dem Buche manche Begründung ihrer Abne’gung en'nehmen können. Das 
Verzeichnis von Namen und Sachen ist für bequeme Benutzung erwünscht. 

> K.Bruchmann. 


Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung. 
515 S. 8°. Brosch. 175 Mk.; Halbl. 250 Mk. Sibyllen- Verlag, Dresden 1922. 


Als Leverrier 1846 den Ort angab, an dem ein noch unbekannter 
Planet (der Neptun) gesucht werden musste, der die Uranusbahn beeinflusste, war 
er als vorwärts gewendeter Prophet auf dem mathematisch-physikalischen Gebiet 
erhetlich besser daran, wie unsere rückwärts gewendeten Propheien auf dem 
biologischen. Obgleich der Verf. sich sagt, dass die erste Entwicklung des 
Menschen viel Problematisches habe, bietet er uns das von ihm entworfene 
Bild zur Prüfung an. Da gab es den Ur-Ostaffen. Von ihm stammt ein anderer, in 
einer schwächeren und einer stärkeren Form, das ist der Pithekanthropogon&us 
(= P.A.G.). Er war nicht mehr Baum-, sondern schon wesentlich Bodenliier, 
während die früheren Vorläufer des Menschen Baumtiere waren. Aus jener 
stärkeren Form gingen Gorilla und als Neues der Mensch hervor. Der P.A.G. 
hatte schon menschenähnliche (gewölbte) Schädcelbildung, frei von Knochen- 
kämmen, von Raubtiergebiss usw., lief vierfüssig. Von ihm stammt homs primi- 
genius, dann h. Trinilis (= Pithekanthropus erectus), Neanderthalensis, Aurig- 
nacensis, recens. Der h. primigenius war körperlich und geistig getreues Abbild 
seines tierischen Vorläufers, die Körperaufrichtung zunächst noch unvollständig, 
wie beim P.A.G. Die erste Entwicklung habe sich auf gerölligem Felsboden ab- 
gespielt, wo es wohl viel Steine, aber wenig Bäume gab. Auf dem abhängigen 
Boden genügte oft statt des Werfens der Steine das Wälzen zur Abwehr. 
Der erste Mensch ist dasjenige Wesen, dessen Entwicklung erstmalig unter das 
Prinzip der Körperausschaltung trat. Nicht durch Gehirn und Beine 
ist ein Tier zum Menschen geworden, sondem durch den Cbergang vom tierischen 
Entwicklungsprinzip zum Menschheitsprinzip. Damit das nicht:wie ein idem per 
idem aussieht, hören wir, den Anstoss zu diesem Übergang gab die ausser- 
körperliche Abwehrmethode. Die Tiere sind so in die Umwelt eingepasst, dass 
für ihre Existenz die Summe ihrer körperlichen Eigenschaften genügt. Sie ent- 
wickeln z. B. nach dem Fluchtprinzip die Beine zum Laufen und Klettern, 
oder nach dem Kampfprinz'p ihre Zähne zum Beissen. Ler Mensch schaitet seinen 
Körper zum Teil aus und ersetzt dessen Leistungen durch Werkzeuge, in deren 
Benutzung (Stein) von Anfang an seine Wehrhaftigkeit lag. Die körperliche An- 
passung begann dem Werkzeug zu weichen. Auf dieses ist die menschliche 
Entwicklung gestellt. Die Anpassung des Körpers wird ersetzt durch Aus- 
schaltung. Zu ihr gesellt sich später auch als Werkzeug anderer Art Sprache und 
„Vernunft“, Moral, Wissenschaft und Ästhetik. Durch die ausserkörperliche 
Anpassung erfährt der Mensch eine Befreiung von der Naturbeschränktheit, eine 


15] Kritiken. 71 


Einbusse an Instinkten. Die Möglichkeit zu alle dem beruht auf der Hand. 
Sie macht den Menschen zum Menschen. Aber nun braucht ja doch der Affe 
auch die Hand? Bei ihm steht aber das „Werkzeug“ in keinerlei positiver 
Beziehung zu seiner Entwicklung. Durch die Körperausschaltung ist der Mensch 
wesensverschieden vom Tier; seine Entwicklung ist nicht eine Steigerung der 
tierischen, sondern von anderer Art. Aus der Einheit dieses Prinzips folgt auch 
die Einheit des Menschengeschlechts. Es war zuerst ohne Sprache und Feuer. 
Es entstand mit einem Schlage, geboren „mit dem Augenblickderständi- 
gen Übung der Steinabwehrmethode.'‘ Bei ihr büsste der Mensch den Kletter- 
fuss ein, weil er sich aufrichten musste, um die Steine zu wälzen und zu werfen. 
Verf. hält die Existenz des Tertiärmenschen für unwiderruflich belegt. Er 
könne ja ohne Feuer gelebt haben. 

Alles also aus dem unscheinbaren Entwicklungsprinzip der Körperaus- 
schaltung hervorgegangen. So ganz durch Zufall? Nein. Sondern ohne den 
Zwang des Kampfes wäre das nie gekommen. Im langen, harten Daseinskampf 
wurde die Abwehr mit Steinen geübt und langsam verbessert. In Wirklichkeit 
war der Urmensch nicht der Jäger, sondern das gehetzte Wild. Mit der Ge- 
burt des Menschen ging nun freilich ein tiefer Riss durch die organische Welt, 
der Mensch und Tier für immer trennte. Der Mensch bedeutet einen Umschlag, 
nicht eine Steigerung gegen das Tier. Aber wenn auch die Natur zwei grund- 
verschiedene Entwicklungsprinzipien in der organischen Lebenswelt geschaffen 
hat, so müsse man doch zugestehen, dass der Mensch im Affen schon ideell angelegt 
gewesen und insofern nicht ein Zufallsprodukt zu nennen sei. Die mechanistische 
Entwicklung besitze auch Zielstrebigkeit, sei zugleich tendenziös-fortschrittlich. 
Ein sinnvolles Geschehen sei anzunehmen. Ja, wir könnten dem Geschick nicht 
dankbar genug sein, dass der Mensch zur Menschwerdung den Weg eingeschlagen 
hat. Da die Kulturentwicklung aufwärts gehe, so werde der Pessimismus eines 
Schopenhauer entlarvt, seiner falschen Voraussetzung beraubt und mache 
geradezu einem blühenden Optimismus Platz. 

Da es an Platz fehlt, so füge ich nur hinzu, dass ich auch glaube: duo cum 
faciunt idem non est idem. Der Affe, der mal Steine wirft oder sonst braucht, 
ist nicht das Wesen, in dem der Mensch schlummert. Analogien gibt es bei den 
Tieren, aber nicht Identitäten. Wenn wir auch nicht aufhören werden, die 
kontinuierliche Entwicklung erkennen zu wollen, so wird man doch wohl 
viele tierische Analogien als solche einschätzen. Die zähen Bemühungen, im 
Tiere Menschliches zu finden, sind trotz allem darauf verwendeten Scharfsinn 
wenig überzeugend. Auch die neuerdings betriebene Affenbeobachtung, die 
mit gespanntem Blick auf die Sensation der Tierwerkzeuge und -Sprache harrt, 
scheint leider in der Hauptsache aussichtslos. Die zuerst begierig aufgenommene 
Mutation von de Vries, die uns sprunghafte Entwicklung von blastogenem 
Ursprung, ohne Übergangsformen, und allmähliche Entwicklung aus individuellen 
Variationen verhiess und damit die Aufsuchung jener Allmählichkeit zu er- 
sparen schien, wird, noch davon abgesehen, dass sie für botanische Vorgänge 
gedacht war, leider nicht mehr ohne Bedenken hingenommen. Sonst wäre es 
sehr erwünscht, ihre Anwendung auf Tiere und Menschen systematisch zu ver- 
versuchen. Schade, dass der Verf. sich nicht mit Steinthals Arbeiten über 
den Ursprung der Sprache bekannt gemacht hat, zumal sie nicht (wie bei 
Wundt in vielen und sehr dicken Büchern mitgeteilt sind. 

K. Bruchmann. 


Ludwig Baur: Metaphysik. 502 S. 8°. Geh. 40 Mk.; Geb. 50 Mk. Verlag 
von J. Kösel und Fr. Pustet, Kempten 1922. 

Eine Metaphysik? Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Aber es ist 
nicht so schlimm. Das Werk des Prof. Baur ist aus Vorlesungen entstanden, 
die er seit vielen Jahren den katholischen Theologen der Tübinger Universität 
gebalten hat. Das erste Buch, Allgemeine Metaphysik oder Ontologie, zerfällt in 
die Lehre vom Sein, Wirken, Werden und der Ursächlichkeit; das zweite Buch 


72 Kritikon. [16 


ist metaphysischen Fragen der Natur gewidmet (Teleologie, Stoff und Form, 
Begriff des Lebens); das dritte Buch, metaphysische Fragen der Psychologie 
(Tätigkeiten, Ursprung, Unsterblichkeit der Seele; Seele und J.eib); im vierten 
Buch wird das absolut Seiende (natürliche Gotteslehre) abgehandelt (Beweise 
für das Dasein Gottes). Verf. ist wesentlich an dem bedeutendsten und offiziellen 


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Philosophen der Katholischen Kirche orientiert, also an Thomas von Aquino, geb. 


1225, gest. 1274 in einer Abtei zwischen Neapel und Rom. Aber auch die 
sog. scholastische Philosophie wird vielfach berücksichtigt und zu Fragen der 
modernen Naturwissenschaft Stellung genommen. So z. B. beim Begriff des 
Lebens, bei Fragen des Mechanismus und Vitalismus, der Pflanzenseele, der 
Tierseele. Oft leitet der Verf. seine eigne Stellungnahme ein durch eine ge- 
schichtliche Skizzierung, schliesst mit ‘literarischen Angaben. Manche Fragen 
werden der Dogmatik überlassen. Verf. befleissigt sich einer einfachen, deutlichen 
Sprache. Wer in die oben angedeutete Gedankenwelt Einblick gewinnen will, 
hat dazu in diesem Werke ausführliche Gelegenheit. K. Bruchmann. 


Ernst Barthel: Goethes Wissenschaftslehre in ilırer modernen Trag- 
weite. Verlag von Friedrich Cohen, Bonn 1922. 
Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung. Philosophiech- Anthroposophtscher 

Verlag, Berlin 1921. 

Karl Julius Schröer: Goethe und die Licehe. Goetheanum - Bücherei. 
Der kommende Tag-Verlag, Stuttgart 1922. 

Je weiter wir zeitlich von Goethe abrücken, um so gewaltiger erscheint 
uns der Mann, sein Leben und sein Werk. Und wir fangen an, den Ausruf 
Schillers: „Dieser Mensch, der Goethe‘‘ in seiner Bedeutung und in seiner Tiefe 
zu ahnen. Mit viel mehr Berechtigung als die meisten andern, welche die 
offizielle Weihe der Fakultäten erhalten haben, darf Goethe ein Naturforscher 
genannt werden. Nur wenigen ist der Trieb zu schauen, zu beobachten, zu 
sammeln, zu vergleichen so eingeboren wie ihm. Nur wenige haben ihn so in der 
Breite und der Tiefe betätigt wie er. Chemie, Physiologie Biologie, Anthropologie, 
Botanik und Zoologie, Physik, Astronomie und Geologie haben ihn angezogen. 
Und jeder einzige seiner bedeutenden Funde hätte heute genügt, ihm ein Ordi- 
nariat für dieses Gebiet einzutragen. In manchen seiner Arbeitsmethoden und 
seiner Lehren ist er seiner Zeit vorausgeeilt und grundlegend geworden. In der 
Pflanzenlehre, in der die Veröffentlichung demnächst neuer erstaunlicher Funde 
Goethescher Beobachtung bevorsteht, in der Knochenlehre, der vergleichenden 
Anatomie, der Vererbungslehre. 

Goethe, den Barthel das ‚Phänomen universalen Gesamtdenkens‘ nennt, 
„gem die Welt des Intellekts und die Welt der irrationalen Wirklichkeiten zu- 
gleich erschlossen ist‘, steht infolge dieser Begabung der Wissenschaft anders 
gegenüber als der zünftige Forscher. Ihm ist die Wissenschaft nicht ein von 
aussen dargebotener Komplex bestimmter Lehren, sondern eine aus dem Innern 
quellende Notwendigkeit der Natur. Um dieser Sonderheit willen ist es eine 
fruchtbare Aufgabe der Philosophie unserer Zeit, die Wissenschaftslehre 
Goethes in ihren Gründen aufzuhellen und ihre Bedeutung für das Denken in 
kommenden Perioden menschlicher Entwicklung zu untersuchen. Dieser Aufgabe 
hat sich Barthel in 4 Abschnitten seines Buches, in den Kapiteln Erkenntnis- 
theorie, Methodologie, Naturphilosophie und Metaphphysik unterzogen. 

Auf dem Boden und in engster Berührung mit den naturwissenschaftlichen 
Erkenntnissen ist Goethes Philosophie und Weltanschauung entstanden. Auch 
hier Aufstellung neuer grundlegender Prinzipien wie Polarität, Dualität, Sym- 
metrie, deren objektiver Wert viel später erkannt worden ist. Indem Goethes 
Gredankenwelt eine Einheit darbietet von Forscher- und Denkertum, erscheint 
er als ein wissenschaftliches Vorbild und Ideal. Dieses Zusammenwirken von 
Natur- und Geisteswissenschaften, lange Zeit abgelehnt und vergessen, scheint 
in der Gegenwart zu neuem Leben wach zu werden. 

Dass es Erkenntnisgebiete gibt, die Goethes Denkweise verschlossen ge- 


17] Kritiken. 73 


blieben sind, dies festzustellen tut dem Riesengeiste Goethes keinen. Abbruch. 
Aber Steiner deutet die Stellen auch an, an denen die moderne Wissenschaft 
hinter Goethe zurückgeblieben ist. Er spricht von der Armut der gegenwärtigen 
Ideenwelt und stellt ihr den Reichtum der Goetheschen entgegen. Goethe hat 
seine Weltanschauung nicht in einem geschlossenen System aufgezeichnet, 
sondern in seiner Persönlichkeit gelebt. Steiner kennzeichnet die be- 
stimmenden Kräfte, welche Goethes Weltanschauung das Gepräge geben. Fr 
schildert Goethes Stellung innerhalb der abendländischen (Gredankenentwick- 
lung, seine Anschauungen über Natur und Entwicklung der Lebewesen, über 
Entwicklungsgeschichte der Erde,"über die Erscheinungen der Farbenwelt, seın 
Verhältnis zu Plato und Hegel und behandelt so fast ausschliesslich Goethes 
Naturideen. Das aber ist das besondere, das grossartige, natürliche, dass Goethes 
Naturanschauung zugleich sein Weltbild ist. | 

So erklärt sich Goethes objektiver Idealismus. Und durch ihn auch sein 
Verhältnis zur Liebe. Was Goethe die Liebe ist, sucht Schroer in zwei Ab- 
handlungen über Stella und Marianne Willemer darzulegen und glaubt nichts 
Geringeres als einen urgermanischen Zug in Goethes Verhältnis zur Liebe zu 
entdecken. Was sagen dazu die Fanatiker der sog. Germanentheorie, die Lessing, 
der den Nathan geschrieben hat und mit Moses Mendelsohn befreundet war, einen 
Slavo-Judäer nenen und von Goethe, dessen reines Menschentum sich nicht recht 
in den Rahmen deutsch-völkischer Tendenz einzwängen lässt, behaupten, dass 
er weit mehr Semit als Deutscher sei. Die Semiten brauchen sich dessen 
nicht zu schämen. Max Hirsch, Berlin. 


Lena Voss: Goethes unsterbliche Freundin. (Charlotte von Stein). Eine 
psychologische Studie an der Hand der Quellen. Mit 8 Tafeln. Verlag von 
Klinkhardt und Biermann, Leipzig 1921. 

Unter den vielen Versuchen, das Problem, welches Goethe durch seine 
Liebe zu Charlotte von Stein der Welt dargeboten hat, zu lösen, scheint mir 
dieser hier am meisten gelungen. Liebe und Freundschaft, Trennung und Wieder- 
vereinigung werden nicht aus dem Wesen der beiden allein, sondern aus .all- 
gemein sexualbiologischen und sexualpsychologischen Bedingungen erklärt. Kurz 
das Problem wird auf eine Formel gebracht: die Sexualität. Die Frau — eine 
spirituell erotische Natur, Goethe ein sinnlich leidenschaftliches Tempera- 
ment. In den ersten Jahren beide innig verbunden durch gemeinsames Streben 
nach Vervollkommnung. Aber „an der Trank des Geschlechtes, an dem männ- 
lichen Unvermögen einerseits, ohne die Erfüllung sinnlicher Leidenschaft, die 
Liebe der Seelen in dauernder Innigkeit zu erhalten, andererseits an der weib- 
lichen Unduldsamkeit dieser männlichen Veranlagung gegenüber, scheitert eins 
der edelsten Bündnisse, das es je zwischen Mann und Frau gegeben hat.“ Die 
Verf. hält sich frei von Lob und Tadel. In wohltuendem Gerechtigkeitsgefühl 
und tiefdurchdrungen von der Aussergewöhnlichkeit b:ider Menschen will sie 
verstehen, versucht sie zu erklären. So findet sie auch für die oft hässlichen 
Äusserungen der ersten Jahre nach dem Bruche versöhnende Worte. Das 
Christianenerlebnis Gocthes betrachtet sie als innerlich notwendigen Nachklang 
oder nachträgliche Ergänzung der scelischen Licbesekstase zu Charlotte. Char- 
lotte selber aber sah darin nichts als einen moralischen Rückgang, eine Untreue, 
eine Undankbarkeit gegen sie. Warum? Weil ihr die ausgereifte sexuelle Geniali- 
tät fehlte, welche die Bedürfnisse und Pflichten der Geschlechter klar erkennend 
erfasst. Aber am Abend ihres Lebens — so scheint es dem Ref. — hat sie 
doch viele Zeichen des Verstehens gegeben. Und Goethe hat keine Stunde seines 
Lebens vergessen, was Charlotte ihm bedeutet. „Tag und Jahre sind ver- 
schwunden, Und doch ruht auf jenen Stunden, Meines Wertes Vollgewinn.“ Man 
kann mit der Verf. die Liebe Goethes zu Frau v. Stein als den metaphysischen 
Zwang eines um menschliche Vollendung ringenden Genius und als das Be- 
dürfnis des Geschlechtes nach physischer Ergänzung betrachten. 

Max Hirsch, Berlin. 


74 Einladung. 








Einladung. 


Am 15. und 16. März (Donnerstag und Freitag), 7'!/, Uhr abends, findet im 
Hygienischen Institut der Universität Berlin (Dorotheenstr. 8a) eine 
2tägige Sitzung der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und 
Eugenetik in Berlin statt. 


Thema: 
Konstitution und Sexualität. 


Referenten: 
1. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Fr. Kraus, Berlin: Geschichte und Wesen des 
Konstitutionsproblems. 
2. Prof. Dr. R. Goldschmidt, Dahlem: Die biologischen Grundlagen der 
sexuellen Konstitution. 
3. Privatdozent Dr. E. Kretschmer, Tübingen: Die Psychologie und Patho- 
logie der sexuellen Konslitution. 


4. Prof, Dr. Hübner, Bonn: Sexual-Konstitution und Rechtsleben. 


Ausserdem werden folgende Einzelvorträge gehalten: 
1. Prof. Dr. Mathes, Innsbruck: Die Sexualkonstitution in der Gynäkologie. 


2. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Posner, Berlin: Die Sexualkonstitution in der 
Andrologie. 


8. Prof. Dr. R. Mühsam, Berlin: Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. 
4. Prof. Dr. G. Peritz, Berlin: Keimdrüsen und Zentralnervensystem. 





5. Dr. Hirschfeld, Berlin: Die intersexuelle Konstitution des Menschen. 


Es ist beabsichtigt die Vorträge zu einer Monographie zusammenzustellen. 


Zuschriften an den Vorsitzenden 


Max Hirsch, Berlin W 30, Motzstr. 34. 








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Reriöglscher Migräne, Frigidiiät, sóhwäche- und Erschöptungs- RM - 
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Sexualwissenschaft und Konstitutions- 
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Von 
Max Hirsch, Berlin. 


Meine Damen und Herren! 

Die ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Euge- 
netik, in deren Namen ich Sie hier zu begrüssen die Ehre habe, 
begeht in diesen Tagen die 10. Wiederkehr ihres Gründungs- 
tages. Es darf als eine mutige und kluge Tat betrachtet werden, 
dass unter Führung von Albert Eulenburg Ärzte sich 
zusammenschlossen, um der Erforschung sexueller Probleme zu 
dienen. Klug, weil sie der Erkenntnis entsprang, dass es nicht 
mehr angeht, dass ärztliche Heilkunde und medizinische Wissen- 
schaft der Erörterung von Fragen des Geschlechtslebens ausweichen. 
Mutig, weil die Sexualwissenschaft bis dahin verkannt und miss- 
achtet war, weil sie sich in Konventikel und philanthropische Ver- 
eine zurückziehen musste und in ihnen ein verschämtes Dasein 
fristete. Weil sie abseits stehen musste von den geweihten Stätten 
der Forschung und der Wissenschaft. Ä 

Vielerlei Gründe sachlicher und ‚persönlicher Art mögen 
dafür genannt werden können. Wesentlich scheinen mir nur zwei zu 
sein. Der eine ist gefühlsmässiger Art und entspringt der 
Scheu der Menschen, von Dingen des Geschlechtslebens zu sprechen. 
Einer Scheu, welche im Gegensatz steht zu dem tiefen Eingreifen 
der Sexualität in das menschliche Leben. Jedoch sie besteht, ist 
in Denkgewohnheiten fest verankert und kann nicht besser gekenn- 
zeichnet werden als durch die Worte Goethes: „Man darf das nicht 
vor keuschen Ohren nennen, was keusche Herzen nicht entbehren 
können.“ Diese Zurückhaltung, welche von Heuchelei und Prüderie 


1) Rede, gehalten bei Eröffnung des Kongresses der Ärztlichen Gesellschaft 
für Sexualwissenschaft (Verhandlungsthema: ‚Sexualität und Konstitution‘‘) am 
15. März 1923, 

Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 2. 6 


76 Max Hirsch. [2 


scharf unterschieden werden muss, macht es dem Sexualforscher zur 
Pflicht, Forschung und Vortrag so zu gestalten, dass der Ernst des 
Inhalts die Hemmung des Gefühls überwindet. 

Wichtiger ist der zweite Grund. Wie jedes Wissensgebiet, so hat 
auch die Sexualwissenschaft zwei Betrachtungsweisen, eine 
kulturwissenschaftliche und eine naturwissenschaftliche. Die erstere, 
welche vorwiegend historisch-philosophisch-psychologischer Art ist, 
hat bis vor kurzem fast allein die Sexualwissenschaft beherrscht. 
Sie umfasst nahezu ein Jahrhundert. Am Anfang dieses Zeitraumes 
steht das klassische Werk von Julius Rosenbaum über die 
Geschichte der Lustseuche im Altertum nebst ausführlichen Unter- 
suchungen über den Venus und Phalluskult, Bordelle. Novoog 
Inkeıa der Skythen, Päderastie und andere geschlechtliche Aus- 
schweifungen der Alten. Und an der Schwelle unserer Zeit stehen 
zwei Werke. Das eine von Iwan Bloch über das Sexualleben 
unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. Das andere 
von Otto Weininger über Geschlecht und Charakter mit seinen 
beiden Hauptabschnitten über die sexuelle Mannigfaltigkeit und über 
die sexuellen Typen. Alle drei Werke, staunenswert wegen der Ge- 
lehrtheit ihrer Verfasser, sind historisch-kritischer und psychologisch- 
philosophischer Forschung entsprungen und nehmen intuitiv und 
spekulativ mancherlei von dem voraus, was die biologische For- 
schung heute erschlossen und bestätigt hat. 

Diese kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise ist seit den 


Tagen von Spencer,Schelling, Hegel, HerbartundLotze . 


bei Naturforschern und Medizinern wenig beliebt. Aber auch die 
rein klinische, von Krafft-Ebbing eingeleitete Behandlung der 
Sexualpathoiogie, welche fast ausschliesslich auf Empirie aufgebaut 
gewesen ist, konnte dem exakten Naturforscher keine Neigung ab- 
gewinnen. 

Mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ist in der sexualwissen- 
schaftlichen Betrachtungsweise ein Wandel eingetreten. Eingeleitet 
durch die anfangs verkannten und verspotteten Untersuchungen von 
Brown-Séquard über die Wirkung von Organsäften, mächtig 
angeregt durch das Aufblühen der Lehre von der inneren Sekretion, 
durch die Wiedergeburt der Vererbungswissenschaft und besonders 
durch die Forschungen von Steinach und Goldschmidt, ihrer 
Vorgänger und Nachfolger. Damit hat die Sexualwissenschaft den 
Boden der exakten biologischen Forschung gefunden, welche, wie 
schon bemerkt, vieles von dem erklärt und begründet, was Speku- 
lation, Empirie und historisch-kritische Betrachtung vorher erkannt 
haben. Damit aber auch hat die Sexualwissenschaft die Berechtigung 


3] Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft. 7 


erlangt, ale vollgültiges Fach in den Kreis der Naturwissenschaften 
und Medizin aufgenommen zu werden. 

Mit dieser Feststellung soll die historisch-kritische Betrachtungs- 
weise durchaus nicht als überlebt und überflüssig oder gar als un- 
- gültig und falsch gekennzeichnet werden. ‚Sie wird ihre Geltung 
bewahren und ist gerade in dem letzten Jahrzehnt durch Sudhoff 
und seine Schule auf den ihr gebührenden Platz gestellt worden. 

Aber noch mehr. Neuerdings beginnt die Biologie mit den 
spekulativen Geisteswissenschaften Fühlung zu nehmen. Eine 
neue Naturphilosophie ist in Vorbereitung. Nicht von der Art der- 
jenigen, welche vor 100 Jahren in Schelling ihre Orgien ge- 
feiert hat. Welche, durch kein Wässerlein exakter Forschung getrübt, 
aus abstrakten philosophischen Überlegungen hervorgegangen ist. 
Sondern von der Art eines Hartmann, Driesch und Becher, 
welche hindurchgegangen ist durch emsige Spezialforschungen auf 
allen Gebieten der Naturwissenschaften und der Medizin. 

Gerade auf dem Gebiete der Sexualwissenschaft nun haben die 
beiden Weisen der Naturbetrachtung sich zuerst getroffen. Seitdem 
Kant Methode und Richtung wissenschaftlicher Forschung und 
menschlicher Erkenntnis festgelegt hat, kann auch für die exakten 
Naturwissenschaften kein Zweifel mehr bestehen, dass ihre Arbeit 
nicht Selbstzweck ist, sondern dass ihre Erfahrungstatsachen nur 
dazu dienen, Bausteine zu einem Weltbilde zu sein. Dadurch sind 
Naturwissenschaft und Philosophie untrennbar miteinander ver- 
bunden und aufeinander angewiesen. Eine Allianz, die, wie Jodl 
sagt, „schon im Altertum bestand, die in den Anfängen der neueren 
Philosophie zu einer Reihe der grössten Triumphe des menschlichen 
Geistes geführt hat, und deren Ersetzung durch Gleichgültigkeit oder 
offene Feindschaft. dem Fortgange tieferer Welterkenntnis im 19. Jahr- 
hundert ausserordentlich viel geschadet hat.“ — 


Wenn wir es heute unternehmen, die Beziehungen von Sexu- 
alität und Konstitution zu besprechen, so ist das ein Zeichen 
dafür, dass die Fragestellungen der Sexualwissenschaft und der 
klinischen Medizin aus gleichen Quellen schöpfen und in gleiche 
Richtung weisen. Ja, bei näherem Zusehen zeigt es sich, dass die 
Sexualitäts- und Konstitutionsprobleme so eng miteinander verbunden 
und so unlösbar ineinander verflochten sind, dass getrennte Be- 
trachtung eine Unmöglichkeit wäre. Dafür ein paar Beweisgründe. 

1. Die wichtigste Teilung der Konstitutionen, welche fast die 
ganze Welt der Lebewesen durchzieht und auch dem Laienauge 

6* 


78 | Max Hirsch. [4 


sichtbar ist, ist die Zweiteilung in männlich und weib- 
lich. Sie ist im Augenblick der Geschlechtsbestimmung gegeben, 
kommt zur vollen Entwicklung im Alter der Reifung und findet in 
der Pathologie vielfachen Ausdruck. Mit dieser elementaren Fest- 
stellung ist die enge Verbindung von Sexualwissenschaft und Kon- 
stitutionswissenschaft gekennzeichnet. | 


2. Der Ablauf der gesamten körperlichen und see- 
lischen Entwicklung zeigt die enge Verbindung von Sexuali- 
tät und Konstitution. 

In den Lebensperioden, in welchen die Entwicklung schnell 
und sichtbar vor sich geht, in Pubertät und Klimax, pflegt auch 
über Sexualität und Konstitution die Entscheidung zu fallen. | Puber- 
tätseinknickung der Persönlichkeit (Kretschmer)]. Und zwar 
meist so gleichsinnig, dass beide auf eine gemeinsame Ursache zurück- 
geführt werden müssen. Diese ist im Genotypus zu suchen. 
Demnach sind beide, Sexualität und Konstitution, als ein miteinander 
verbundener Spezialfall der Vererbung zu betrachten. In 
dem Sinne, dass im Augenblick der Befruchtung sowohl die Ge- 
schlechtszugehörigkeit als auch die Konstitution entschieden sind. 


3 


ə. Dazu kommt, dass konstitutive Störungen, insbesondere 
seelischer Art, in den Zeiten sexueller Evolution und Involution 
manifest zu werden pflegen. 


4. Ebensowenig wie es eine absolute Männlichkeit und eine 
absolute Weiblichkeit gibt, ebensowenig gibt es eine absolute 
Scheidung der Konstitutionen. Sexualität und Konstitution weisen in 
ihren Erscheinungsbildern, ihren Phänotypen, eine Kette von 
Übergangsformen auf, welche in engen Beziehungen und Abhängig- 
keiten zueinander stehen und welche am bekanntesten im Eunuch- 
oidismus und Infantilismus zutage treten. Ihre Entstehung dürfte 
nicht nur durch die Annahme qualitativer Erbanlagen erklärt werden 
können, sondern auch im quantitativen Verhältnis der Anlagen, 
in Geschwindigkeit und Energie ihrer Entwicklung begründet sein. 
Diese quantitative und dynamische Betrachtungs- 
weise steht, wie die Untersuchungen von Goldschmidt zeigen, 
im Einklang mit den Gesetzen der Vererbungslehre, welche 
der gemeinsame Mutterboden der Sexualitäts- und Konstitutions- 
probleme ist. 

5. Sie lässt auch Erklärungsmöglichkeiten offen für die Beein- 
flussung von Sexualität und Konstitution durch Bedingungen der 
Umwelt, wie Klima, Ernährung, Arbeit usw., denen beide unter- 
worfen sind und für welche die ärztliche Beobachtung reiche Er- 


— 


ö] Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft. 19 


fahrung bietet. So wenig wir vergessen dürfen, dass diese Modi- 
fikationen nur den Phänotypus treffen und den Genotypus un- 
berührt lassen, so bedeutungsvoll sind sie doch für das Leben des 
Individuums und der Gemeinschaft. Gerade in den wichtigsten Ein- 
schnitten der individuellen Entwicklung, in den Evolutions und 
Involutions-Zeiten, in Pubertät und Klimax, machen sich die Ein- 
flüsse der Umwelt auf Konstitution und Sexualität hemmend oder 
fördernd besonders geltend. So entscheidend demnach für Sexualität 
und Konstitution die Erbanlagen sind, so wird der Arzt doch die 
funktionelle Anpassung im Ursachenkomplex nicht ver- 
gessen dürfen und wird die rein genotypische Auffassung von 
Tandler zu der vielumfassenderen personellen von Kraus er- 
weitern müssen, welche die gesamten Organisationsverhältnisse des 
Individuums betrifft und an der Erhaltungswahrscheinlichkeit ge- 
messen wird. Damit ist die grosse gemeinsame Bedeutung der Sexual- 
wissenschaft und Konstitutionslehre für die ärztliche Heil- 
kunde hervorgehoben. 


6. Und schliesslich noch ein Gemeinsames. Sexualwissen- 
schaft und Konstitutionswissenschaft sind keine scharfumgrenzten 
Spezialgebiete medizinischer Forschung. Unter ihrem Zeichen ver- 
einigen sich viele Fächer der Medizin und Naturwissenschaften. Sie 
sind ein sichtbarer Ausdruck der Wandlung, welche medizinische 
Forschung und ärztliches Denken vollzogen haben, und welche bot aller 
Schätzung spezialistischer Kleinarbeit doch deutlich das Bestreben 
zeigt, weiter auszugreifen, in Nachbargebiete einzudringen, andere 
fernerstehende Wissensgebiete sich nutzbar zu machen und die Er- 
gebnisse zu einem Gesamtbilde zusammenzufügen. 


T. Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft sind aber 
auch Spiegel jener Wandlung, welche von Zelle und Organ über beide 
hinaus deu Zellsystemen, dem Körperbau und der Person zustrebt. 
Diesem Entwicklungsgange, welcher durch eine erweiterte Ursachen- 
und Bedingungslehre, durch Bakteriologie und Serologie befruchtet 
wurde, ist es zu danken, dass Sexualität und ıKonstitution nicht mehr 
wie ehedem verschwommene Begriffe sind, nicht mehr beherrscht 
von den dunklen Vorstellungen der Krasenlehre oder wie zu Roki- 
tanski Zeiten der Humoralpathologie, sondern dass sie, obzwar 
erkenntniskritisch immer nur Fiktionen im Sinne Vaihingers, 
sich aufbauen auf dem realen Boden der Lehre von der Zelle, indem 
wir bei aller umfassenden Betrachtung doch alle Zustände und Vor- 
gänge anatomischer und funktioneller Art an Zellen und Zellver- 
bände gebunden denken. 


80 Max Hirsch, Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft. [6 


Diese Wandlung vom Lokalismus zum Konstituti o- 
nalismus darf als eine Reformation der ärztlichen 
Heilkunde betrachtet werden. Sie führt von der Beschränktheit 
des Spezialistentums zu jener ärztlichen Heilkunst, welche dem ganzen 
Menschen gilt. Und welche — von Natur- und (Geisteswissen- 
schaft befruchtet — im Schwunge einer grossartigen Entwick- 
lung über den Menschen hinausgreift und ihn hineinstellt in den 
Mittelpunkt alles kosmischen Geschehens. Darinnen als Prinzip, als 
Grundkraft der Eros waltet. Der Eros nicht in der beschränkten 
Bedeutung von Neigung und Trieb der Geschlechter zueinander, 
nicht als Amor, Venus und Cupido, sondern als kosmisches Prinzip 
im Sinne der Alten (Hesiod und Empedocles), denen Liebe und 
Freundschaft, Hass und Streit, Anziehung und Abstossung, Spannung 
und Entspannung die Grundkräfte alles Geschehens sind. Sie binden 
die Einzeldinge und trennen die Vielheit. Sie walten auch als 
immanente Kraft in Konstitution und Sexualität. 


Geschichte und Wesen desKonstitutionsproblems''). 


a 


Von 
Prof. Dr. Fr. Kraus, Berlin. 


Meine Damen und Herren! 


J. Mit der Erfassung von „führenden“ Symptomen und von 
Symptomenkomplexen beginnt die klinische Erkenntnis. 

Auch heute hat die m ono symptomatische Periode, in welcher 
als Krankheit z. B. einst die „Fieber“ zusammengeschlossen wurden, 
noch nicht völlig ausgespielt: Man denke nur an die „genuine“ Hyper- 
tonie, die Thrombopenie u. a. 

Herrschend aber ist gegenwärtig die (auch in Zukunft nicht zu 
unterschätzende, ja ganz unentbehrliche) lokalistische klinische 
Diagnostik. Diese verlegt sich darauf, Symptomenkomplexe in Be- 
ziehung auf ein besonderes Organ rasch „gegenständlich“ zu be- 
greifen, die „Krankheit“, so wie man etwa ein Ding oder dingliche 
Gruppen wieder erkennt, in ihrer Gesamtheit zu überblicken und den 
gattungsmässigen Zusammenhang mit äusseren und inneren Bedingungen 
aufzudecken. 

Eine Zeitlang ist dabei das Interesse an gewissen äusseren 
Bedingungen einseitig im Vordergrunde gestanden; vor allem das an den 
pathogenen Organismen und an gewissen Giften. Durch Anerkennung 
der Disposition, vor allem aber durch die exakte Begründung der 
Immunbiologie hat seither die Bakteriologie längst ihren, sagen wir 
begreiflichen jugendlichen, Überschwang ausgeglichen und selbst höchst 
wichtige, ins Bereich des Konstitutionellen fallende Umorganisationen 
aufgedeckt. | 

Es war aber zum Teil gerade der einst übertriebene Ätiologis- 
mus, welcher Hueppe, Gottstein und besonders Martius auf die 
alte Lehre von der Konstitution zurückgreifen liessen. Natürlich 


!) Vortrag, gehalten in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Eugenetik in Berlin am 15. III. 1923. 


82 Fr. Kraus. [2 


unternahm es Martius weiterhin, und zwar mit grösstem praktischen 
Erfolg, die Konstitutionslehre klinisch umfassend auszubauen. 


2. Ich selbst bin auf anderem Wege wieder dazu gelangt. 


Eine von mir als notwendig erkannte funktionelle Denk-, 
Diagnostizier- und Behandlungsweise unter Zusammenfassung von 
Stoff-, Kraft- und Formwechsel führte mich dazu, die klinischen 
Symptome als bestimmte Kombinationen ungleichartiger, sowohl gleich- 
zeitiger, als aufeinander folgender Veränderungen, immer im Zusammen- 
hang mit äusseren Gleichzeitigkeiten und Folgen, zunächst analytisch 
zu beurteilen. Synthetisch lenkte aber diese funktionelle Betrachtungs- 
weise von selbst auf den Gesamtorganismusals Problem, nicht mehr 
bloss auf das der Organleistungen. Ethnologische und öko- 
logische Fragestellungen mussten sogar in den Mittelpunkt gestellt 
werden. Die „Krankheit“ ist nicht mehr, auch nicht mehr im Virchow- 
schen Sinne, ein Ontologisches. . Wir Ärzte haben als Personen in 
Beziehung zu kranken Personen zu treten. In diesem Zusammen- 
hang geht für mich die Konstitutionsforschung über in Personen- 
forschung. Mit dem Begriff des (Gesamt-) Organismus kommt weiter- 
hin vor allem noch derjenige der Individualität zur Wirkung. Die 
praktische Frage ist nur: Wie kommen wir wissenschaftlich und, wie 
ich will, naturwissenschaftlich an die Individualität heran? 


Vorweg genommen sei: Ich suche sie in der mittleren Linie 
zwischen der Ganzheit des Organismus und dessen Einzeln- 
organen, und somit in den Beziehungen der Gesamtheit aller Ent- 
wicklungsbedingungen, bzw. der arteigenen Verknüpfung von Ent- 
wicklungsansätzen (genotypische Konstitution, „originäres“ 
Ganze) zu den verwirklichten Charakteren der Person, zum Phäno- 


typus. 

Es kann aber (unter teilweisem oder gänzlichem Verzicht auf 
die naturwissenschaftliche Betrachtung) noch anderes versucht werden 
und wurde auch anderes versucht. Man ist nicht immer und nicht 
überall ausgegangen, wie ich, von der Person im Sinne der 
generellen Morphologie, d.h. zunächst ausserhalb des Gegen- 
satzes von Psychischem und Physischem, bzw. von Subjekt und 
Objekt: sondern von einem Ichhaften als dem Erlebenden, als 
Inbegriff der seelischen Funktion jeder Art des Erlebens, und dieses 
Ich hinsichtlich seiner Verschiedenheit von den Ichen anderer Menschen 
nannte man dann seine Persönlichkeit oder Individualität. Diesem 
Ich werden intellektuelle „Funktionen“ und „affektive“ Erlebnisse zu- 
geschrieben. Je nach den Prävalenzunterschieden der Funktionen 


3] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 83 


wurden die Persönlichkeiten in Gruppen zusammengeordnet und der 
Begriff des Typus gewonnen. 


Obwohl die „normale“ Psychologie Funktionsverschiedenheiten 
der Zahl oder der Zusammensetzung hier nicht anerkennt, ist man 
gerade für die „konstitutionellen Typen“ vielfach von ausgeprägt 
pathologischen (psychiatrischen) Modellen ausgegangen. Um doch 
eine Brücke zur somatischen Klinik zu gewinnen, bemühte man 
sich diese Typen auch durch den (äusseren) Habitus zu stigmati- 
sieren, bzw. man versuchte aus den Ergebnissen von (meist morpho- 
logischen) Norm-Untersuchungen auf den individuellen Cha- 
rakter, das Temperament usw. zurückzuschliessen. Diese ge- 
mischten Typen entsprechen jedoch nicht etwa einfach denjenigen 
der differentiellen Psychologie, sondern jeder Autor wechselt 
wohl die seinigen für sich. Viel glücklicher schon sind andere Typen- 
bildungen, denen ein gemischter somatisch-psychischer „Status“ zu- 
grunde gelegt wurde. 


Ich kann nun natürlich gar nichts dagegen einwenden, wenn dieses 
neue klinische Gebiet aus divergierenden Richtungen und mit den 
verschiedensten Mitteln erschlossen wird. Nur dagegen kehre ich mich 
grundsätzlich, dass der Kreis der einschlägigen Erscheinungen als 
der empirischen Methode und der naturwissenschaftlichen 
Forschungsweise gar nicht zugänglich erachtet und „bei dem 
Versagen der heutigen Medizin“ nur auf den Weg „innerer Zer- 
gliederung“ verwiesen werde. Zeigt sich doch selbst ein psychisches 
Phänomen biologisch „erklärbar“ unter Anerkennung der die psychi- 
schen Probleme nicht selbst enthaltenden Hypothese, dass gewisse 
nervöse und protoplasmatische Verbindungen zwischen gegebenen 
Zentralorganen und Rezeptoren oder Effektoren, sowie bestimmte 
physiologische Grundphänomene bestehen. 


3. Darin stimmen wohl Alle überein, dass die Konstitutionsbiologie 
durchaus aus dem Gesichspunkte der Entwicklung von Art und 
Individuum zu verstehen ist. Der Anlagenbestand (die genotypische 
Konstitution) stellt das vom Anfang der Individualitätsphase her 
sämtliche ontogenetische Stufen verbindende systematische Glied, ein 
allen Teilen auch des entwickelten Körpers gleicherweise innewohnendes 
originäres Ganzes dar. Nicht diskret vorgestellte Gene, sondern das 
ganze genotypische System ist verantwortlich für alle phäno- 
typisch realisierten Merkmale. Ein Gen ist für sich nicht imstande, 
zu existieren und etwas zu bewirken. Allerdings kann An- und Ab- 
wesenheit eines speziellen Gens im System eine besondere spätere 
Reaktion, ja die ganze Reaktionsnorm bestimmen und umstimmen. Auch 


84 Fr. Kraus. [4 


sind die Charaktere unabhängig voneinander vererbbar. Aber tatsächlich 
vererbt wird immer ein System und der individuelle Organismus ist 
die „Gestalt“ der immer wieder zum System geschlossenen Anlagen. 
Mit den Begriffen des Biosystems und der Gestalt werden wir uns 
noch weiter zu beschäftigen haben. Das Idioplasma kann als ein 
inneres Erregungs- und Betriebswerk gelten. Es hat nach- 
weislich Art- und Individualeigenheit. Dasselbe Spiel der Naturkräfte, 
welches die Kombination dieses Erregungswerkes bewirkte, sichert ihr 
auch die Bedingungen für eine stetige Energiezufuhr von aussen, für 
das „Wecken“ vorrätiger Energien im Inneren, Reize und Dauer. Die 
Kombination manifestiert sich ursprünglich im Einheitlichen, mehr 
Homogener, entfaltet sich aber nachher zu Verschiedenem, wobei je- 
doch der Epigenese ein reiches Feld bleibt. 

Erblich übertragen werden nicht äussere (phänotypische) 
Merkmale, sondern diegenotypische Reaktionsnorm, aufäussere 
Einflüsse in bestimmter Weise zu reagieren. Gar nicht genug kann 
betont werden, dass genotypische Konstitution einer-, Reize- und Lebens- 
bedingungen andererseits hierbei von gleicher Wichtigkeit sind. Jede 
Zustands- und Leistungseigenschaft stammt von innen und aussen. 
Anlagenbestand und Lebenslage bestimmen in wechselseitiger Bedingt- 
heit die Entwicklungsarbeit, welche die ganze Individualitätsphase 
hindurch fortdauert. Der Genotypus verbindet das art- und in- 
dividualgemässe Organisationsgesetz, indem letzteres weiter wirkt 
mit den im fertigen Organismus realisierten Prozessen. 

Die Ganzheit, auf welche wir auch im „Phänotypus“ treffen, ist 
einerseits ein Überbleibsel der orginären, vielfach beruht sie aber 
(als sekundäre) auch auf integrativer Wechselbeziehung (Korrelation) 
der differenzierten Teile des Organismus, d. h. dessen, worauf im 
Biosystem z.T. der Begriff der Undverbindung passt. Neben dem 
Übersummativen (dem „Gestaltlichen“) ist ebenso auch die autonome 
Mannigfaltigkeit des Summativen (vgl. unten) zu berücksichtigen. Hier 
eben muss die früher erwähnte mittlere Linie gefunden werden. 

Abänderungen können auf Modifikationen durch die zufällige 
Konstellation der Umweltbedingungen beruhen (Kondition, Somation), 
oder erbliche Variationen darstellen. Die erblichen Abänderungen 
sind wiederum solche normaler oder solche pathologischer Natur, 
stets aber Abänderung von Rassecharakteren infolge 1. von Mutabili- 
tät der Artzelle durch Neukombination zweier (im weitesten Wort- 
sinn) artverschiedener Idioplasmen oder durch eine solche wegen 
direkter Veränderung des Keimplasmas (sprunghafte Mutation); 
2. vielleicht doch auch unter dem Einfluss der Lebenslage auf den 
Genotypus. 





5] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 85 


Auch klinisch müssen unbedingt genotypische Konstitution und 
Modifikation mehr als bisher auseinander gehalten werden. Die ärzt- 
liche Praxis hat allen Fragen der Eugenik und Euthenik volles 
Augenmerk zuzuwenden. Aber abgesehen von der Kompliziertheit des 
Mendelismus in seiner Anwendung auf den Menschen bestimmt das 
erwähnte doppelte Bedingtsein der persönlichen Beschaffenheit des 
Menschen und die Fortdauer der Entwicklungsarbeit nach Organisa- 
tionsgesetzen, welche die genotypische Reaktionsnorm mit den in der 
Person realisierten Prozessen während der ganzen Individualitätsphase 
verbunden halten, heute die meisten Konstitutionspathologen, originäre 
und sekundäre Körperverfassung praktisch aus denselben Gesichts- 
punkten zu betrachten. Sie werden theoretisch gerechtfertigt dadurch, 
dass sich die Keimzelle in Wirklichkeit auf dem Wege über die Wieder- 
herstellung des Organismus selbst wiederherstellt, dass also zwischen 
Anfang und Ende der Entwicklung an einer Stelle derselben eine 
rückläufige, die Bedingungen zur Keimzellenentstehung von neuem er- 
langende Reaktion einsetzt (A. Cohen-Kysper). Kontinuierlich ist 
also ein entwicklungsfähiges Biosystem mit charakteristischen „Ge- 
stalt“eigenschaften (vgl. unten), in deren Rahmen alle einschlägigen 
Umwandlungen, die Wiederherstellung des Gesamtorganismus, wie die 
rückläufige Ei-Differenzierung ablaufen. 


4, Beim Suchen nach der mehrfach erwähnten mittleren Linie 
zwischen der Ganzheit des Organismus und den Organen hatte ich selbst 
am weitesten zu kommen geglaubt, wenn ich, hinausgreifend über die ver- 
meintlichen Grenzen des Lebens, ausging vom Begriff des physischen 
Systems und von den allgemeinen Gesetzen, welche in der Reaktion 
eines jeden solchen Systems zum Ausdruck kommen. Das System ist un- 
teilbar in den an seine Zusammensetzung gebundenen Leistungen, es ist 
dynamisch einheitlich. Zustände des Gleichgewichts oder des statio- 
nären Geschehens werden hier immer dann erreicht, wenn für das 
System als Ganzes die arbeitsfähige Energie jeweils ein Minimum, 
die Entropie ein Maximum geworden ist, und die Skalaren (oder 
Vektoren), auf deren Gruppierung es ankommt, nicht in Einzelgebieten 
für sich bestimmte Beträge und Lagerungen annehmen, sondern durch 
ihre Gesamtgruppierung wechselweise zueinander ein dauerndes Ge- 
bilde ergeben. Das Geschehen an jeder Stelle hängt deshalb grund- 
sätzlich von den vorhandenen Bedingungen auch in allen übrigen 
Orten des Systems ab. 


Zustände vollkommenen Gleichgewichts interessieren uns hier 
kaum. An Erregbarkeit und an Erregung eines inaktiven und auf 
die Dauer mehr oder weniger invarianten Organismus (nach Art eines 


86 -= Fr. Kraus. 6 


Nullinstruments) durch wechselnde aktive Reize kann die funktionelle 
Denkweise nicht ihr Genüge finden: der Organismus ist vielmehr ein, 
immer zu erhöhter Arbeit bereites, Aktionszentrum mit stationären 
Prozessen, periodisch-stationärem Geschehen und unterbrechenden 
dynamischen Verläufen. Beim stationären Geschehen macht das System 
fortwährend denselben Vorgang durch, ohne Veränderung einer seiner 
Systemeigenschaften (Beispiel: Strömung einer Flüssigkeit in Röhren 
bei konstantem Zu- und Abfluss). Plötzlicher Wechsel der Bedingungen 
bedeutet den dynamischen Vorgang und eine Änderung der System- 
eigenschaften. Kann jedoch der dynamische Verlauf in einen zweiten, 
den nunmehr veränderten Bedingungen gemässen, stationären Zustand 
übergeführt werden, resultiert unter Umständen, bei jeweils ge- 
gebener Zeit zum Erreichen des neuen stationären Geschehens, eine 
ganze Reihe von durch einen dynamischen Verlauf verknüpften 
stationären Zuständen, die, je geringer relativ die Bedingungsände- 
rungen sind, immer benachbarter und immer weniger unterscheidbar 
werden (quasi stationäre Abfolge). 

Solange es existiert, setzt jedes organische System in jedem 
Augenblick seine inneren Bedingungen mit den Kräften des Mediums 
ins Gleichgewicht. „Reize“ sind (im Sinne von Avenarius) Komple- 
mentärbedingungen, die zu dem schon vorhandenen vitalen Bedingungs- 
komplex hinzukommen müssen, um den, die betreffende Lebenser- 
scheinung eindeutig bestimmenden, Bedingungskomplex zu vervoll- 
ständigen. Nie handelt es sich aber bloss, gleichförmig oder 
einfach der Reizintensität entsprechend, um eine durch den 
Reiz erfolgte Störung im dynamischen Gleichgewicht des Systems, 
woran sich nach obigem Schema weitere Änderungen schliessen, 
welche dasselbe in sein altes oder ein anderes Gleichgewicht zurück- 
führen. 

An jeden Reflex geknüpft, finden wir vielmehr als individuell- 
charakteristisch zwischen den Etappen: Rezeptor, Nerv, Zentrum, 
Nerv und Effektor den verschiedenen quantitativen Faktor der 
beweglichen Erregung als wesentlichste, das Erleben bezeich- 
nende Seite des Vorganges. Der Reizeffekt ist im zusammengesetzten 
Organismus nicht einfach proportional der Reizintensität, erkann verhält- 
nismässig kleiner gehalten werden oder gross ausfallen. Im Einklang damit 
fehlt im Organismus (angesam melte) Erregung nie gänzlich, ein gewisser 
„Tonus“ ist immer anzunehmen, und von diesem bis zur heftigsten 
Erregung gibt es kontinuierlich alle Übergänge. Von der individuellen 
Einstellung (Einstellbarkeit) und Verteilung des quantitativen Erregungs- 
faktors hängt (vgl. unten) die faktisch erreichte Wärmetönung der 
Transformationen im Organismus, resp. die Isothermie der stationären 


7] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 87 


Reaktionen ab und die Anwendbarkeit des Gesetzes der Massen- 
wirkung auf sie. Die grosse Bedeutung der Unabhängigkeit des 
quantitativen Faktors der Erregung von der Reizintensität, die uns 
noch beschäftigen wird, sei schon an dieser Stelle nur durch zwei 
Beispiele beleuchtet. Wir können das leiseste Flüstern so stark „er- 
leben“ wie das lauteste Getöse. Die muskuläre Anstrengungsfähigkeit 
beruht nicht (nicht ausschliesslich) auf dem Kohlehydratvorrat im 
Muskel: Die „Asthenischen“ verbrauchen übermässig Sauerstoff, also 
‚ auch Kohlehydrat, und müssen trotzdem die Arbeit alsbald abbrechen, 
vor der Erschöpfung des vorhandenen Glykogens. 


5. Viel wichtiger als die Frage des aufs Erleben gerichteten Be- 
merkens (Bewusstsein), des Gefühls und des Triebs ist zu- 
nächst diejenige nach der möglichen oder nicht möglichen Auflös- 
barkeit der Erlebnisse in Wahrnehmungen oder „Gestalten“ (vgl. 
unten). Im Falle der Unaufiösbarkeit spreche ich schlechthin vom 
„Tonus“, d. h. von einem gewissen Erregungsgrad wechselnder Stärke 
(besonders im gesamten Nervensystem). Änderungen dieses Tonus 
spielen sich besonders entsprechend der Verwandtschaften und Bah- 
nungen der subkortikalen Organe ab, einige verharren annähernd in 
ihrem gewöhnlichen Zustande. Der Rinde fehlen übrigens derartige - 
auf gewisse Elemente sich erstreckende Erregungen, die der Auf- 
lösung im obigen Sinne unzugänglich sind, durchaus nicht. Der Tonus 
subkortikaler Zentra, welche grade unter besonderen eventuell patho- 
logischen Bedingungen von höher geordneten nicht mehr regulierend 
beeinflusst sind, kann sehr hoch steigen, er kann dann olıne jede 
Assoziation in den Kortex vordringen („uns ist ganz kannibalisch 
wohl, als wie fünfhnndert Säuen“) u. a. m. 


Speziell unter „persönlicher Sphäre“ hat man im allgemeinen 
zu verstehen die von den inneren Organen ausgehenden, meist nicht 
streng lokalisierten, sondern von grossen körperlichen, zuletzt von 
einer „kompakten Ausgedehntheit“, herrührenden Reize und ihre Spuren, 
welche zusammen die „innere Erfahrung“ bilden. Diese Spuren haben’ 
besonders im Wachzustande eine Tendenz zu beständiger Reproduk- 
tion; die wichtigsten Bedürfnisse des Organismus, vom Lebensbeginn 
an, zum Ausdruck bringend, beeinflussen sie die Richtung der meisten 
Körperreaktionen. Die spontanen, d. h. die nicht unmittelbar von 
Aussenreizen abhängigen Reaktionen haben enge Beziehungen zu 
dieser persönlichen Sphäre. 

Es ist schon die Rede gewesen vom phänotypischen Ganzen und dem 
Eigenleben der Teilsysteme der Person, vom kollektiven und distri- 
butiven Verhalten des entwickelten Organismus. Ebensowenig wie 


BR Fr. Kraus. [8 


in der Welt, herrscht im Gesamtorganismus volle Harmonie. Die 
wichtigsten Ketten der Lebensvorgänge ziehen jeweils die übrigen 
Teilsysteme nach sich und an sich, das distributive Verhalten schliesst 
das kollektive ein, nicht umgekehrt. Das Ganze der Person ist immer 
bis zu einem gewissen Grade unvollendet, mit jeder Körperhandlung 
in Zusammenjochung oder in Auflösung und Umbildung begriffen. Die 
Kerne für die Personbildung sind psychophysisch neutrale Konsti- 
tuenten der Organisation. Von dieser Herstellung des Syzygiums 
ist zu unterscheiden die individuell-charakteristische (reflektorische) 
Konzentration des unanalysierbaren Tonus und diejenige bei 
analysierter Wahrnehmung („Gestalt“bildung, assoziativ-symbolische 
Reflexe). 


6. Um dem Tonus im obigen Sinne eine exakte Grundlage zu 
geben, trenne ich die animalischen und die vegetativen Leistungen 
des Biosystems scharf im prägnanten Sinne; ich unterscheide zwei 
Betriebstücke, den oxydativen Chemismus und die Grenz- 
flächenpotentiale, welche beide natürlich im Protoplasmabetrieb 
wesentlichem Zusammenhang und wechselseitige Abhängigkeit auf- 
weisen. 


In jedem System gehen konstruktive Veränderungen, welche, inner- 
halb seiner Ausgleichsbreite, durch Reaktion auf einen äusseren Ein- 
fluss zustande kommen, derart vor sich, dass die wiederholte Reaktion 
auf den gleichen äusseren Einfluss mit kleinerem Zwang vor sich geht 
(Cohen-Kysper). Das spezielle Beispiel des sich kontrahierenden 
quergestreiften Muskels zeigt ferner, wie im Zuckungsablauf eine spätere 
Phase sich in eine frühere zurückverwandelt, aus welcher die zusammen- 
gezogene, als zum äussersten Ende differenzierte Phase von neuen leicht 
entsteht (ähnlich wie bei der Ontogenese ein Teil des Organismus, das 
Ei, auf eine Phase zurückgreift, aus welcher das Ganze des Organis- 
mus von neuem sich entwickelt). Man erkennt in diesen formalen 
Vorstellungen die Paradigmata der Übung, der „Verjüngu ng“, 
der Erholung. Ich habe seinerzeit eine unmittelbar anf den oxyda- 
tiven Chemismus zu beziehende Wiederherstellung der Plasmastruktur 
der kolloiden kontraktilen Substanz als Vorbereitung der Muskel- 
jeistung, als diese Erholung sicherndes Mass der Konstitution 
bezeichnet. In jüngster Zeit konnte ich mit Zondek nachweisen, 
wie auch in diesem Falle der oxydative Chemismus vom Elektro- 
Jytturgor abhängt. 

Ich und Zondek vermochten ferner experimentell zu zeigen und 
auch klinisch wahrscheinlich zu machen, dass eine Lebenserschei- 
nung, wie der Herzschlag, sich mechanisch (in der Kontraktionskurve) 


9] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 89 


völlig gleichförmig präsentieren kann, obschon, wiederum physikalisch- 
chemisch oder bioelektrisch beurteilt, der Vorgang als sehr verschieden 
sich herausstellen kann, und dass gerade in einschlägigen An- . 
passungen das Konstitutionelle sich ausdrückt. 

Etwas Bewegliches, Bewegtes musste der Tonus (schon nach den 
Untersuchungen von Bethe, Uexküll u. A.) sein. An die Stelle eines 
hypothetischen (Nerven-) „Fluidums“ mit den Eigenschaften mannig- 
faltigen Druckes (Nerventonus) konnte ich und Zondek den 
gleichfalls im Versuch prüfbaren geweblichen Binnendruck im 
Protoplasma überhaupt (Turgor), diesen wichtigsten Motor aller 
Flüssigkeits- und Stofftransporte, setzen. Da es sich vor allem um 
wechselnde Beladung der Grenzflächen in der Plasmastruktur mit zwei 
antagonistischen Ionen-Kombinationen handelt, kann man für den 
Tonus auch schlechthin Elektrolytturgor setzen. Jener Nerventonus 
war hauptsächlich gemessen worden am Muskeltonus, welch letzterer 
sich kundgibt im Spannungsgrad der Muskelfasern, im Widerstand 
gegen künstliche Streckung. In Wirklichkeit beeinflusst der ein art- 
und individualeigenes Ganze bildende Elektrolyt, derart beständig in 
Strömung erhalten, dass Gefässapparat und parallelgestaltete Proto- 
plasmadynamik ebenso den Elektrolyttransport beherrschen wie beide 
vom Elektrolytverkehr abhängen, alle Zustands- und Leistungseigen- 
schaften des Organismus. 

Glieder des erwähnten vegetativen Systems im weiteren Sinne 
sind: Grenzflächen (Membranen) der Plasmastruktur, dem Kolloid- 
elektrolyt zugehörig, ferner der Salzelektrolyt, eine Kombination anta- 
gonistisch wirkender Kationen, weiters Puffer, Hormone, bestimmte 
endo- und exogene Reizstoffe und Gifte, sowie ein Triebwerk von 
Katalysatoren. Zusammengefasst, aber nur im regulatorischen Sinne, 
wird alles dies durch den vegetativen Nerv. Die Bewegungserschei- 
nungen in diesem vegetativen Betriebsstück werden, abgesehen von 
kontraktilen Elementen, gelenkt vor allem durch elektrische Grenz- 
flächenpotentiale. 

Die speziellen Beziehungen des vegetativen Nervensystems zum 
Elektrolyt werden beleuchtet durch die Zondekschen Analogien und 
Substitutionsmöglichkeiten. 

Das vegetative System im obigen weiteren Sinne, als sehr aus- 
gedehntes und wohl auch reichlich vorhandenes Überbleibsel des während 
der Ontogenese nicht organ-spezifisch differenzierten und fixierten Idio- 
plasmas, sonach auch im Phänotypus noch der Repräsentant des orginären 
Ganzen und allen Reizen in nicht einseitiger Richtung zugänglich, 
mit seiner automatischen Tätigkeit, in welche Rezeptionen bzw. ani- 
malische Reflexe ununterbrochen aber nur sekundär hineinspielen, mit 


90 Fr. Kraus. [10 


seiner experimentell immer mehr nachweislichen Bedeutung für die 
ontogenetische Personbildung und die Perioden der Individualitäts- 
phase, mit seiner Selbststeuerung und den beiden Maximumskalen der 
Erregung (Ambivalenz), mit seinem Einfluss auf den oxydativen Chemis- 
mus und dieStoffverteilung, als die „Unruh“ des Organismus mit der Takt- 
gebung durch seine zwei Ionengruppen, als Wiederherstellungsapparat 
der Arbeitsbereitschaft, als Bindeglied zwischen dem Ganzen der Person 
und den Organen: dieses vegetative Betriebsstück ist das System, die 
physische „Gestalt“ alles individuellen Erlebens. Denn es stellt 
die verfügbare Substanz dar, aus welcher die Rezeptionen (animali- 
schen Reflexe) für das stationäre und quasistationäre Geschehen den 
von der Reizintensität nicht einfach abhängigen quantitativen 
Faktor der Erregung, den nichtauflösbaren und auflösbaren Tonus 
schöpfen. „Gestalt“ bedeutet hierin nicht einfach Form im morpho- 
logisch-physiologischen Sinn, sondern Zustände und Vorgänge, deren 
charakteristischen Eigenschaften und Wirkungen aus solchen ihrer 
summierbaren Teile nicht zusammensetzbar sind. Solche „Ge- 
stalten“ sind seinerzeit von v. Ehrenfels zunächst für die Psycho- 
logie aufgewiesen worden. 


Diese Auswirkung der Durchtränkungsspannung in (Elektrolyt-) 
Tonus, Tonuserzeugung, Tonusbewegung, Tonusverbrauch möge historisch 
gerichtete Kollegen an den Tonus der Stoa erinnern, welcher durch 
Verdichtung und Verdünnung den Dingen die innere Intensität ihres 
Wesens und Lebens und Beseelung geben sollte, sowie die ältesten 
nicht immer klaren, geschweige exakten Konstitutionsvorstellungen 
der Antike ins Gedächtnis rufen. 


T. Wollte man praktisch das Konstitutionelle in dem besonderen 
(angeborenen oder auch erworbenen) Dauerzustand sehen, sofern der- 
selbe eine vorhersehbare, inviduelle oder doch bloss einer Gruppe von 
Menschen eigentümliche, abweichende Reaktion auf äussere 
und innere Reize zur Folge hat, muss man, wenn man überhaupt 
etwas sagen will, doch eine Einschränkung machen. Die nämlich auf 
den quantitativen Faktor der Erregung bzw. dessen Ver- 
teilung. Das alte Tonusparadigma, der quergestreifte Muskel, zeigt, 
dass hierin an sich durchaus nichts Hypothetisches liegt. Am 
Rückenmarkspräparat erscheint der motorische Effekt im allgemeinen 
entsprechend der Reizintensität. Ganz anders erweist sich der Reaktions- 
verlauf, wenn am Rückenmarksstück der vom Gehirn abgetrennte 
Nucleus ruber noch vorhanden ist. In der Enthirnungsstarre folgt am 
untersuchten Muskel auf den Reiz der zugehörigen Muskel keine 
Zuckung, sondern „Haltung“. Zur Reizgrösse kommt also ein vom 


11) Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 91 


Organismus selbst aufgesparter, durch den Reflexgeweckter 
(in diesem Falle positiver, in anderen Fällen negativer) Faktor hinzu. 
Diese tonussteigernde und tonusverteilende Wirkung des Nucleus ruber 
kommt z. B. auch bei Paralysis agitans irgendwie zur Geltung, wo 
doch letzterer selbst vom Krankheitsprozess nicht direkt ergriffen ist, 
sondern weil affizierte übergeordnete regulierende Zentren im 
Streifenhügel (Globus pallidus, Nucleus basalis) in ihrer Funktion zurück- 
treten. Die Klinik muss hier, wie oft anderwärts, die überlieferten Tat- 
sachen der Physiologie in logischen Schlüssen weiter verfolgen, bis das 
unserem besonderen Standpunkt unerlässliche Verständnis ge- 
wonnen scheint. Wir müssen mit G. E. Stahl die Lehren der Physiologie 
betreffend den Tonus des quergestreiften Muskels mit den uralten 
ärztlichen Anschauungen über Tonus und Atonie der Eingeweide, der 
Haut usw. in Einklang bringen. Wir müssen, entgegen Stahl und 
Haller, auch geringe, dauernde unbewusste Erregungen für die will- 
kürliche Muskulatur, wie das für Herz und Eingeweide seit alters an- 
genommen worden, in Betracht ziehen. Wir müssen mit Bichat, 
und noch weitergehend als dieser, der lebendigen Substanz selbst alles, 
was mit Kontraktilität zusammenhängt, zuschreiben und, wie ich es 
tue, den Kolloidelektrolyten und den alle Gewebe durch- 
dringenden Flüssigkeitsstrom (Elektrolyt) verantwort- 
lich machen für Turgor und Tonus. Vorallem muss uns hierbei 
die Strecke vom Ende der Arterien bis zam Beginn der Venen be- 
schäftigen, weil da ebenso der geschlossene Blutkreislauf wie der Gewebs- 
strom reguliert wird. 

„Mildern Sie Ihre Sprache, Professor,“ höre ich da den richtigen 
Berliner Praktiker etwa meines Alters sprechen. „Zugeben will ich, 
dass die stärkere Berücksichtigung des Gesamtorganismus resp. der 
Person eine gewisse Reform bedeutet. Aber, als ich meine Medizin 
anfing, war z. B. der Diabetes mellitus eine Konstitutionskrank- 
heit; da kam die grosse Entdeckung von Mering und Minkowski: 
nun wurde er eine Organ krankheit. Im „Fortschritt“ zeigen Sie uns 
jetzt Habitustypen, der eine junge Mensch. gleicher Art wächst sich 
zum Kriegshelden aus, der andere wird mit ähnlichen Körpermassen, 
wie Sie esnennen, ein Kümmerling: ich sehe und weiss nicht warum. In 
der „Kasse“ habe ich jetzt einen Arbeiter, der am Wochenende im Sport 
ganz gut abschneidet, während er an den Werktagen stets über Müdig- 
keit und kardiale Beschwerden klagt. Ich helfe mir damit, dass der 
Mensch aus Leib und Seele besteht, und dass das angegebene Unver- 
mögen des „Patienten“ sich anzustrengen, psycho-(thymo-}gen ist 
(Hass gegen die Fabrik usw.)....“ 

„Nun sehen wir uns“, antworte ich, „doch einmal diesen besonderen 

Archiv für Frauenkundo. Bd. IX. H. 2. 7 


92 Fr. Kraus. [12 


Krankheitsfall da an, wegen dessen Sie mich heute konsultieren. Der 
40 jährige Mann leidet an ähnlichen Beschwerden, wie einige seiner 
Geschwister. Er ist ein wenig korpulent. Hatte in der ersten Lebens- 
hälfte oft Halsentzündung. Seine Haut ist sehr empfindlich, die Füsse 
sind immer kalt, naclı kühlem Bad erwärmt er sich schlecht. Viele Gase 
im Leib, saueres Aufstossen, Stuhlverstopfung. Die gewöhnlichen Ur- 
sachen für ein „organisches“ Herzleiden lassen sich nicht ermitteln, 
im Krieg war der Patient nicht. Er stellt „Nervosität“ gewöhnlicher 
Art strikt in Abrede. Seine Klagen verweisen u. a. besonders auch 
auf das Herz. Nicht selten bestehen Extrasystolie oder Herz,krampf“, 
gelegentlich kommt es zu Ohnmacht; öfter hat der Patient Palpita- 
tionen. Der Blutdruck ist auffallend niedrig, aber der Puls nicht 
„matt“. Über die Herzgrösse haben die bisherigen Consilarii ver- 
schiedene Ansichten geäussert. Mittels des Röntgenschirms unter- 
sucht, erweist sich das Zwerchfell hochstehend, die Lungenfelder sind 
dunkel. Die Aorta ist kaum beginnend sklerotisch konfiguriert, das 
Herz erscheint quergelagert, unzweifelhaft gross, schlaff, verkleinert 
sich stark beim Valsalvaversuch, wird im Inspirium lang und spitz aus- 
gezogen. Die Töne sind normal. Aschner stark positiv‘. Wir 
einigen uns auf Jdie Diagnose: Vagotonie, nachdem anderweitig in 
Betracht kommende Aflektionen ausgeschlossen worden sind. 

„Je nun, in der Bibliothek meines Vaters fand ich“, meint der 
Kollege, „als Student die Neurologie von Longet. Davon war ein 
sehr grosser Teil dem Sympathikus gewidmet, und der Autor rechnet 
noch nicht einmal ihm alles zu, was zu ihm gehört. In den theore- 
tischen und praktischen Kollegien hörte, ich dann aber sehr wenig 
vom Sympathikus. In besseren Tagen erlaubten es meine Verhältnisse, 
die „Ergebnisse“ zu kaufen. Da fand ich, dass Langley das vegetative 
Nervensystem „wieder“ entdeckte. Also gut, heute wird nochmals der 
Sympathikus in der Medizin Trumpf. Warum nennen Sie aber unseren 
heutigen Fall nicht lieber Vagusneurose, ein mir schon geläufiger, wenn 
auch früher in der Praxis wenig bedeutender Name? Es wäre leichter 
zuzulernen, dass bei einer „funktionellen Neurose“ das Herz grösser 
und schlaff werden kann, dabei auch wirklich krampfähnliche Zu- 
stände aufweist — als diese verwickelte Konstitutionslehre, welche 
noch dazu unsere therapeutischen Aussichten eher verringert (denn 
wie soll Konstitutionelles, besonders angeborenes, heilen ?).“ 

„Eine Vagotonie ist keine blosse Neurose“, muss ich antworten. 
„Sie sollten bedenken, Kollege, dass das erwähnte vegetative System (im 
weiteren Sinne)ontogenetisch schon da ist, bevor es sympathische Nerven, 
die hier überhaupt bloss als Regulatoren fungieren, gibt. Entzündung ver- 
läuft auch im entwickelten Organismus am nervenlosen Gewebe. Die 


9 we mee r 


13) Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems, 93 


effektorischen Nerven des vegetativen Systems sind zum Teil anders mit 
ihren Erfolgsorganen verknüpft, als z. B. motorischer Nerv und quer- 
gestreifter Muskel. Im vegetativen System gibt es direkt nervöse und 
leitungslose Verbindung (Fernempfang und Fernsendung). Die Ein- 
wirkung auf die Erfolgsorgane kann, auch unter pathologischen Ver- 
hältnissen, vom Nerven her auf die Kolloidelektrolyte und von der Säfte- 
masse her auf die Aussen- und Binnenelektrolyte der Gewebe erfolgen. 
Es gibt nicht bloss einen Diabetes; wir kennen viele „Äquivalente“ 
des anaphylaktischen Shocks, einige des Morbus Basedowii. Und end- 
lich — warum sollte es keine Konstitutionstherapie geben?“ 


8. Analysierbar ist die vor der Krankheit schon vorhandene 
Konstitution, bzw. die als Disposition oder als konstitutionelles Moment 
in Krankheiten selbst sich geltend machende Körperverfassung sowohl 
morphologisch, wie nach Leistungen. Über das Verhältnis 
dieser beiden Betrachtungsweisen wäre noch folgendes zu sagen. 

Die Forderung zusammengesetzter und doch durch Einheit cha- 
rakterisierter Gebilde, die mehr sind als ihre Teile, scheint auf den 
ersten Blick den Grundlagen der exakten Naturwissenschaft zu wider- 
sprechen. Eine frühere Psychologie, z. B. noch die Wundtsche, hat denn 
auch „Gestalten“ im Sinne von v. Ehrenfels (vgl. oben) ausschliess- 
lich aus der Produktionskraft höherer geistiger Tätigkeit 
herleiten wollen und gerade darauf hin dem Seelenleben Gesetze sui 
generis zugesprochen. Darin wurzelt ja auch der unfruchtbare Streit, 
ob der ganze Lebensprozess sich auf anorganisches Geschehen zurück- 
führen lasse oder ob seiner einheitlichen Geschlossenheit wegen der 
Organismus seine Teile ganz und gar nicht wie die Posten einer 
Summe enthalten könne, sondern auch für sich von Anfang an völlig 
aufein psychisches Gestaltproblem zurückzuführen sei. Unsere 
Berliner Psychologenschule (Köhler, Wertheimer, Koffka) weist 
aber, wie es nach obigen Ausführungen von mir stets vertreten worden, 
mit Recht darauf hin, dass auch in der Physik Gestalten im obigen 
Sinne aufweisbar sind: jeder geschlossene elektrische Stromkreis ist 
ein schlagendes Beispiel eines solchen physischen Systems. 

Unser Organismus besteht nun, nach dem Früheren, weder bloss 
aus Undverbindungen selbständiger Teile, noch sind seine Zustände 
und Verläufe sämtlich nur im totalen Zusammenhang aufweisbar. 
Um die richtigen Konsequenzen auch für das Konstitutionelle zu 
ziehen, muss man sich nur klar sein, worauf der Begriff des Teils 
in dem hier gemeinten „Gestalt“bereich, worin das Geschehen an 


- jeder Stelle grundsätzlich von den gegebenen Dingen auch an allen 


übrigen Orten des Systems abhängt, wirklich noch angewendet werden 
7% 


94 Fr. Kraus. [14 


darf. Keines der in solcher Gestalt auftretenden physischen Gebilde 
entwickelt ihre Struktur frei, immer handelt es sich um eine Ver- 
bindung von unveränderlichen Bedingungen, welche das Gestaltmaterial 
räumlich binden („physische Topographie des Gestaltbezirkes“ nach 
Köhler). Ein elektrischer Leiter z. B. muss doch als derselbe gelten, 
ob er geladen, ob ein Strom hindurchgeht oder nicht. Die über- 
summativen Eigenschaften eines gestalteten Binnensystems erlauben 
also keinen direkten Schluss auf übersummative Eigenschaften der 
physischen Topographie. Ausgenommen letztere würden selbst durch 
die Gestaltkräfte dynamisch oder quasistationär mitverschoben. Man 
kann selbst so weit gehen, anzunehmen, dass man für gestaltetes 
Material nahezu beliebig bedingende äussere „Formen“ willkürlich 
herstellen könnte. Ganz ebenso stellt nun aber auch der fertig 
entwickelte Phänotypus (Habitus), von den beweglichen Proto- 
'plasmen abgesehen, vielfach eine summative Gruppierung dar, auf 
welche der Begriff: Teile in seiner gewöhnlichen Bedeutung arzu- 
wenden ist. Man kann auch aus der physischen Topo- 
graphie der Person nur mit Zurückhaltung auf das Ge- 
staltgeschehen ihres Biosystems und damit auf ihr Er- 
leben und ihren Individualcharakter schliessen. Man 
denke nur gerade an das Beispiel der Geschlechtsbestimmung: 
Von zwei sonst vegetativ sich vermehrenden Infusorien, an denen auch 
der geübteste Mikroskopiker keinerlei Dimorphismus wahrnimmt, ge- 
winnt eines im Momente der — aus welchen Gründen, doch wohl aus 
solchen des Systems? — erfolgenden Kopulation erst auch äusserliche 
männliche Formcharaktere. Ein quergestreifter Muskel und das 
Herz sind ferner ähnlich der Form nach differenziert, die Gestalteigen- 
schaften weichen sehr voneinander ab. Eine grössere ontogenetische 
Umorganisation endlich als z. B. die der Pubertät vermag man sich 
kaum vorzustellen. Kann man aber aus der veränderten Morphe 
schliessen auf die gleichzeitige Charakterbildung; ja kann man sich 
nicht sehr gut zurechtlegen, dass der objektiv fassbare erotische 
„Rausch“ auch ohne dies alles hervorrufbar wäre, ebenso, wie es 
doch wiederum Menschen gibt, welche mit „hervorragendem“ Penis 
und spermaführenden Hoden usw. ausgerüstet, niemals eine sexuelle 
Regung empfunden haben? 

In der Frage der Durchschnitts- und Normalanatomie möchte 
ich nicht weitergehen, als zu sagen, dass Norm und Individuum erst 
durch unsere Betrachtungsweise, nicht ihrem Wesen nach, zu wirk- 
lichen Gegensätzen werden. Die formale Beschreibung des mensch- 
lichen Körpers mit systematischer Ordnung der Merkmale behält 
auf alle Fälle ihren Wert. Aber die ätiologische Untersuchung, 


15] Geschichte und Wesen des Konstitutionsproblems. 95 


welche neben der morphologischen einherzugehen hat, wird dereinst 
vielleicht wirklich das Individuum ganz auf das genotypische System 
zurückführen lassen. Bis dahin muss eine gewisse Unzulänglichkeit 
jedes einzelnen Normbegrifis für sich doch wohl festgehalten werden. 


Literatur. 


F. Martius: Medizin der (Gegenwart. I. Meiner, Leipzig 1923. 

F. Kraus: Allgemeine und spezielle Pathologie der Person. Thieme, Leipzig 1919; 
Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege: Innere Medizin. Barth, 
Leipzig 1921; Med. Klinik 1922, Nr. 48. 


A. Coben-Kysper: Mechanische Analyse der Veränderungen vitaler Systeme. 
Leipzig 1910; Mechanische Grundgesetze des Lebens. Leipzig 1914; Vortrag, 
Gesellschaft deutscher Naturfreunde und Ärzte. Leipzig 1922. 

W. Köhler: Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. 
Vieweg, Braunschweig 1920 (dort einschlägige naturphilosophische und psycho- 
logische Literatur). 


Die Bedeutung der Sexualkonstitution für die 
Gynäkologie'). 


Von 


Professor Dr. Paul Mathes, Innsbruck. 


Die heutige Kulturmenschheit ist von einer Mannigfaltigkeit 
und Vielgestaltigkeit, die alle Vorstellung übertrifft. Unter den vielen 
Millionen, die heute leben, gibt es nicht zwei völlig identische 
Wesen, wir können uns noch unvorstellbar viele Millionen hinzu- 
denken, ohne dass es wahrscheinlich wäre, dass sich auch unter 
diesen ein völlig identisches Paar findet. Und doch muss der Kon- 
stitutionsforscher sich bemühen einzelne Typen auszusondern. Es 
geschieht dies mittels eines Denkprozesses, durch den wir gemein- 
same, wesentliche Merkmale der Einzelwesen abstrahieren und sie 
als Typenmerkmale zusammenfassen, während wir andere minder 
wesentlich erscheinende unterschiedliche Merkmale vernachlässigen 
und von diesem Denkprozesse ausschalten. Die Schwierigkeiten, die 
sich dieser Denktätigkeit entgegenstellen, sind gross, denn die Ver- 
schiedenheit liegt nicht nur im Nebeneinander der Einzel- 
wesen, sondern auch im Nacheinander und. das in doppelter 
Hinsicht. Erstens kann bei einem Einzelwesen dessen charakte- 
ristische Erscheinung (Phänotypus) während seines Lebens so stark 
wechseln, dass man den Eindruck hat, er habe sich vollständig ver- 
ändert; das ist es, was den Bemühungen mit 'der genotypischen Defi- 
nition des Begriffes Konstitution durchzudringen so grosse Hinder- 
nisse bereitet hat und noch bereitet. Zweitens ist die Menschheit als 
Gattung, wie jedes organische Gebilde, in einem fortschreitenden 
Entwicklungsprozess begriffen. Wiedersheim hat in seinem 
einst viel gelesenen, jetzt augenscheinlich wieder in Vergessenheit ge- 
ratenen Buche über den Bau des Menschen eine grosse Zahl solcher 


1) Vortrag, gehalten in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Eugenetik in Berlin am 16. März 1923. | 





ee 


2] Die Bedeutung der Sexualkonstitution für die Gynäkologie. 97 


wandelbarer Merkmale zusammengestellt und viele neu gefunden. 
Von diesen Merkmalen sind die wesentlichsten die, die durch die 
Erwerbung des aufrechten Ganges bedingt sind und noch mehr viel- 
leicht die immer mehr zunehmende Vorherrschaft des Grosshirnes 
über die primitiveren Abschnitte des Gehirnes. 

Es ist selbstverständlich, dass auf diesem Entwicklungswege 
einzelne Menschen, ganze Völkerstämme und Rassen 
vorauseilen, andere wieder zurückbleiben. Die ersten wollen wir 
nach Leistung und Bau Vertreter der Zukunftsform, die anderen 
ebenso Vertreter der Jugendform nennen. Weil es aber auch 
Menschen gibt, bei denen Entwicklungshemmungen in mehr oder 
minder ausgedehntem Masse und in wechselnder Stärke mit allge- 
meinen Kümmertum und Schlaffheit der Gewebe verbunden sind, 
wollen wir jene als Vertreterinnen der „prallen“ Jugendform 
bezeichnen im Gegensatze zu diesen, die ich asthenische Hypo- 
plasten nennen zu dürfen bitte. Zur prallen Jugendform gehört 
ausserdem wesentlich eine eindeutige hohe sexuelle Diffe- 
renzierung, und dieser Typus scheint mir mit dem pyknischen 
Typus Kretschmers identisch zu sein. 

Dem Programm unserer Tagung entsprechend greife ich aus den 
Entwicklungshemmungen, die den ganzen Körper oder nur Teile von 
ihm betreffen können, nur die heraus, die mit der Geschlecht- 
lichkeit im weitesten Sinne des Wortes zusammenhängen und 
deren Entstehung wir dadurch verständlich machen können, dass wir 
eine mangelhafte Entwicklungsfähigkeit der Sexualchromo- 
somen, der Geschlechtsdifferenziatoren, annehmen. Es 
lässt sich gut vorstellen, dass die Geschlechtschromosomen in einer 
befruchteten Eizelle einmal fehlen; es wird dann zur Entwicklung 
eines Einzelwesens kommen, dessen Organe sich geschlechtlich nicht 
differenzieren, das sich asexuell entwickelt und das nur Spezies- 
merkmale im Sinne von Tandler trägt. Ein solcher Fall von 
asexueller Entwicklung ist, wie gesagt wohl denkbar, er wird in 
Wirklichkeit aber nicht vorkommen. Hingegen sind die Fälle sehr 
häufig, in denen man annehmen muss, dass Geschlechtschromosomen 
in der befruchteten Eizelle zwar vorhanden gewesen, dass sie aber 
mit geringer Entwicklungsenergie ausgestattet alsohypoplastisch 
gewesen sind. Es resultieren daraus Einzelwesen mit sexueller Hypo- 
plasie im weitesten Sinne des Wortes, bei denen sowohl die seelischen 
als auch die körperlichen Zeichen der Geschlechtlichkeit verkümmert 
sind. | 

Wie Sie gestern aus den Ausführungen des Herrn Hartmann 
entnommen haben, ist jede befruchtete Eizelle bisexuell angelegt, 


98 Paul Mathes. [3 


d. h. sie enthält Differenziatoren für beide Geschlechter, aber diese 
sind in verschiedener Menge vorhanden. In annähernd der Hälfte 
aller menschlichen Eier, die zur Befruchtung kommen, überwiegt das 
Enzym, das die Organe zur Differenzierung im männlichen Sinne 
zwingt, in annähernd der anderen Hälfte überwiegt der Differen- 
ziator für das weibliche Geschlecht. Es ist nun von vornherein 
ganz unwahrscheinlich, dass das absolute Minus an Geschlechts- 
enzym bei Hypoplasie der Geschlechtschromosomen beide Sorten 
von Geschlechtsdifferenziatoren in der Weise betrifft, dass nicht 
auch die Relation von männlichen und weiblichen Prinzipe zu- 
cinandet gestört werde. Die Folge davon wird sein, dass in solchen 
Fällen von Verkümmerung der Geschlechtlichkeit überhaupt 
auch die eindeutige und volle Differenzierung in ` 
männlich und weiblich unvollkommen ist, mit anderen Worten wir 
finden bei sexuellen Hypoplasten, aber auch bei solchen, die im 
allgemeinen den Eindruck voller geschlechtlicher Reife machen, 
Merkmale beider Geschlechter zum mindesten angedeutet, das sind 
die sogenannten Intersexuellen. Bemerkungen in dieser Hinsicht 
finden sich vielfach in der Literatur. 

Es ist ferner in solchen Fällen von mehr oder minder starker 
sexueller Hypoplasie mit Intersexualität meist so, dass die Ge- 
schlechtschromosomen nicht die einzigen Anlageteile sind, die mit 
mangelhafter Entwicklungsbereitschaft ausgestattet sind. Wir finden 
bei sexuellen Hypoplasten mit mangelhafter sexueller Differenzierung 
höhergradige Entwicklungshemmungen in grösserer oder geringerer 
Zahl, Entwicklungsstörungen, die die Responsivität dieser 
Wesen im Sinne Grotes beeinträchtigt, d. h. sie sind den An- 
forderungen, die das Leben an sie stellt, nicht gewachsen; das be- 
trifft vor allem die mangelhafte Funktion des vegeta- 
tiven Nervensystems, das auf einer Stufe der Entwicklung 
stehen bleibt, wie sie der Kindheit eigentümlich ist, der Kindheit 
mit ihren grossen Affektschwankungen und mit den sonstigen Eigen- 
tümlichkeiten ihres Affektlebens, mit der Übererregbarkeit der vege- 
tativen Zentren, leichtes Erröten, Erblassen, Missempfindungen in 
den inneren Organen, Neigung zu Erbrechen, zu Diarrhöen usw. 
Wenn diese Erscheinungen ein gewisses Mass übersteigen, so sind wir 
berechtigt, von solchen Wesen im Gegensatz zu den durchaus respon- 
siven Vertreterinnen der prallen Jugendform, als von Hypo- 
plasten zu sprechen, von asthenisch-ptotischen Hypo- 
plasten, wenn die Gewebe weder die Prallheit der responsiven 
Vertreterinnen der Jugendform besitzen noeh die Dichte der Gewebe, 
die der Zukunftsform eigentümlich ist; von asthenisch-pto- 


4) Die Bedeutung .der Sexualkonstitution für die Gynäkologie. 99 


tischen, sexuellen Hypoplasten, wenn die Geschlechtlich- 
keit im ganzen mangelhaft entwickelt ist und von intersexuellen 
asthenisch-ptotischen Hypoplasten, wenn auch die ein- 
deutige geschlechtliche Differenzierung eine unvollkommene ist. Die 
letzte Gruppe vor allem ist es, die den Gynäkologen am meisten 
interessiert, weil bei diesen Wesen das vegetative Nervensystem 
nicht nur aus der Quelle der Hypoplasie die nötige Widerstandskraft 
nicht besitzt, sondern weil sein vegetatives Nervensystem den dis- 
harmonischen Impulsen der zweideutigen Geschlechtlichkeit wehrlos 
ausgeliefert ist. 

Der Vortragende nimmt nun an einer Reihe von Abbildungen solcher 
Wesen zunächst eine Analyse ihrer Körperbeschaffenheit vor, aus der hervor- 
gcecht, dass die körperlichen Merkmale der individuellen, der sexu- 
ellen Hypoplasie und der Intersexualität ein buntes Gemisch von 
Figerschaften darstellen, das entwirren zu können lange Übung und scharfe 
Beobachtung erfordert. Unter den vorgeführten Bildern sind besonders zwei Fälle 
markant: ein Fall einer Eunuchoiden (Tandler), für deren Erscheinung 
die Zeichen der mangelhaften sexuellen Differenzierung das Bestimmende sind; 
was sie zur Eunuchoiden stempelt, sind unwesentliche Züge in ihrer Er- 
scheinung. . Der zweite Fall ist ein sogenannter männlicher Schein- 
zwitter, d. h. eine genotypisch weibliche, körperlich und seelisch fast durch- 
wegs weiblich geartete Hodenträgerin. Ihr ganzes geistiges, körperliches und 
vegetatives Leben war durch den Besitz der Hoden, die zu tragen sie verurteilt 
war, gehemmt. Sie bot körperlich das Bild des Status asthenico-ptoticus im 
höchsten Grade, sie war seelisch im Zustande schwerster Hemmung und Depres- 
sion, in ihren Geweben fehlte alle Spannung, es mangelte das pulsierende l,eben. 
Die Hoden wurden entfernt; sie zeigten reichlich Zwischenzellen, eine deut- 
liche Spermiogenese, doch waren die Spermien nicht weiter als zu klumpigen 
Gebilden ohne charakteristische Form gediehen. Zehn Monate nach der Operation 
war die Frau wie umgewandelt, ein frisches, lebensfrohes :Weib, das im Begriffe 
war sich mit einem Manne zu verehelichen, der sie und den sie liebgewonnen 
hatte; ein 6 cm langer Scheidenblindsack genügte den beiderseitigen körperlichen 
Ansprüchen vollständig. Die schwere Depression war geschwunden, ihr früheres 
Leben erscheine ihr nur wie ein schwerer, böser Traum. Die Prallheit ihrer 
Körpergewebe hatte so zugenommen, dass die früher vorhandenen Zeichen des 
Status asthenico-ptoticus so gut wie verschwunden waren; die früher reichlich 
vorhandenen Bartstoppeln an Kinn und Oberlippe waren auf ein ganz geringes 
Mass reduziert, die Stimme war deutlich höher und weniger rauh geworden. 
Finige wenige intersexuelle Stigmen, wie mangelnder Schenkelschluss, etwas 
derbere Gesichtszüge, und ein unter der Haut durchschimmerndes deutlicheres 
Muskelrelief der Oberschenkel waren, wenn auch gemildert, bestehen geblieben. 


Die Intersexualität macht das Weib weniger fruchtbar; ich 
glaube nicht zu irren, wenn ich sage, dass die Intersexualität die 
häufigste Ursaache der weiblichen Sterilität ist. Dies geht aus bei- 
folgender Tabelle hervor. 100 Frauen der geburtshilflichen Klinik, die 
durch Geburten ihre Fruchtbarkeit bewiesen hatten, wurden 100 
Frauen der gynäkologischen Klinik gegenübergestellt, die ohne nach- 


100 Paul Mathes. [5 


weisbare krankhafte, insbesondere ohne entzündliche Veränderungen 
im Bereiche des Genitale, steril geblieben waren. Als Indikator für 
evtl. vorhandene Intersexualität wurde die Behaarung der Unter- 
schenkel angenommen. Die Zahl der Kreuze über den Stäben gibt 
die Stärke der Behaarung an. 1 


+ + HH 
Geburtshilfe 49 31 15 5 


— — 


Gynäkologie 18 34 30 18 


Was nun das klinische Bild der Störungen anbelangt, denen die 
Intersexuellen ausgesetzt sind, so wird es beherrscht ‘durch die 
mangelhafte Leistungsfähigkeit des vegetativen Nervensystems, in 
das auch das ganze Affektleben projiziert werden muss. Die Stö- 
rungen äussern sich in der Form des asthenischen a wie ich 
diese Zustandbilder seinerzeit genannt habe. 

Die Zeit ist weit vorgeschritten, ich will Ihnen, meine Damen und 
Herren, zum Schlusse nur noch eine Krankengeschichte erzählen, 
aus der Sie das Wesentlichste herauslesen und vielleicht selbst ent- 
nehmen können, dass meine Vermutung richtig ist, wenn ich den 
schizoiden Typus Kretschmers mit dem intersexuellen 
Typus identifiziere. 

Ein junges Mädchen mit 24 Jahren, gross, rotblond, pigmentarm, von auf- 
fallender, „interessanter‘‘ Schönheit, mit intelligenten, markanten Zügen, „klarem 
Auge“ (d. h. es fehlt die Übergangsfalte der Jugendform am oberen Augenlid, 
so dass oberer und unterer Rand des Lides parallel verlaufen und frei sichtbar 
sind), mit leichtem Schnurrbart, breiten Schultern, mit leichten Zeichen des 
Status asthenico-ptoticus oder vielleicht der Zukunftsform am Rumpfe, mit 
atypischer Behaarung am Bauche mit mangelhaftem Schenkelschluss, mit starker 
Behaarung am Anus, der Rückseite dar Ober- und der Vorderseite der Unter- 
schenkel, kommt in die Sprechstunde mit der Klage über heftige Krämpfe bei der 
Menstruation, die seit 11/, Jahren bestehen, sie fühle sich auch sonst nicht wohl, 
schlafe schlecht, habe schreckhafte Träume, keinen Appetit und sei im Gegen- 
satze zu früher zu keiner Arbeit recht fähig, sie werde häufig von Schmerzen 
im Kreuz und Unterbauch geplagt. Sie ist ausserordentlich intelligent, die 
Klarheit ihrer Angaben würden jedem Manne Ehre machen bis auf einen Punkt und 
das ist der, dass sie angibt, sich in einer Ballnacht vor Di Jahren erkältet 
zu haben. 

Die Untersuchung ergibt die typischen Zeichen — Erregbarkeit 
ddes vegetativen und des spinalen Nervensystemes, ein defloriertes Hymen, eine 
mässig grosse retroflektierte Gebärmutter, einen engen Halskanal, eine kurze 
spitze Portio und eine im oberen Anteil etwas enge Vagina, sowie einen engen 
Schambogen, die Douglasfalten etwas verkürzt und sehr empfindlich. Es wird 
manche Gynäkologen geben, die auf diesen Befund hin mit grosser Geschäftigkeit 
den Üterus aufgerichtet, ein Pessar eingelegt oder den Uterus festgenäht und den 
Zervikalkanal dilatiert hätten. Ich knüpfe an die Erzählung von der Ballnacht 


—R— 


6] Die Bedeutung der Sexualkonstitution für die Gynäkologie. 101 


an und erfahre, dass sie bei der Tanzunterhaltung die Bekanntschaft eines ganz 
jungen Mannes gemacht habe, der sie vom ersten Blick an -sehr interessiert 
hätte, ihm sei es ähnlich gegangen. Es knüpft sich eine nähere Bekanntschaft an, 
ohne dass es zunächst zu Kohabitationen gekommen wäre, die nächste Men- 
struation war mit Krämpfen verbunden. Nach ihrer Erzählung hat der um ein 
Jahr jüngere Mann alle Eigenschaften des gefährlichen Don Juan (also des Inter- 
sexuellen), der durch seine körperliche Schönheit und durch sein flottes, sinn- 
liches Wesen die Frauen berückt und fesselt. Bald ist es zu intimem Geschlechts- 
verkehr gekommen; obwohl sie sich jedesmal körperlich und seelisch dagegen 
aufbäumt, erliegt sie den Künsten ihres Verführers immer wieder und wird, trotz- 
dem sie 'von sich behauptet, eine kalte Natur zu sein, bei den Kohabitationen 
schliesslich jedesmal von so ungeheurer Wollust geschüttelt, dass sie selbst 
angibt, es mache ihr diese hochgradige Erregung einen krankhaften Eindruck, 
sie leide darunter, sie werde dadurch gepeinigt, das typische Verhalten der 
Irtersexuellen, wenn sie der Gewalt des Mannes schliesslich erlegen sind. Ich 
sondiere weiter mit der Frage, ob sie den jungen Mann heiraten könne und wolle. 
Diese Zumutung wehrt sie aufs Heftigste ab, sie könne das niemals tun, sie hätte 
kein Vertrauen zu ihm. Nun weiss ich genug und rate ihr dringend, das Ver- 
hältnis abzubrechen und jeden Gedanken an den gefährlichen Verführer mit 
aller Gewalt zu unterdrücken, nur er wäre die Schuld an ihren körperlichen 
und seelischen Schmerzen. Sie verspricht es zu tun, es wird der Entschluss 
dadurch erleichtert, dass sie genötigt ist, sich durch längere Zeit entfernt von 
der Heimat und von ihm in Innsbruck aufzuhalten. Die nächsten zwei Men- 
struationen sind schmerzlos. Es naht die Osterzeit, zu der sie für mehrere Tage 
nach Hause zu reisen gedenkt. Ich warne sie eindringlich davor und rate ihr, 
sich zum mindesten von dem jungen Mann ferne zu halten; sie verspricht es 
zu tun, und hält sich für stark genug. 

Ich höre darauf lange nichts von ihr, bis ich sie schliesslich aufsuche, 
um Näheres zu erfahren. Ich treffe sie in einem ähnlichen Zustande an wie 
damals, als sie mich das erstemal besuchte, die Dymenorrhöe ist wieder auf- 
getreten, der asthenische Anfall ist wieder in voller Blüte. Mit Tränen in den 
Augen gesteht sie mir, dass sie nicht die Kraft gehabt habe, ihren Vorsatz 
durchzuführen, sie zweifle an sich und wisse nicht, wie das enden sollte. Ich 
habe später nichts weiter von der Kranken gehört, sie hat sich einer weiteren 
Behandlung entzogen, vielleicht hat ihr ein anderer die Gebärmutter angenäht 
und die Zervix dilatiert, sie stammt aus einem begüterten Hause. 


Seit ich darauf achte, kommen mir solche Fälle immer häufiger 
vor, wenn auch nicht in so dramatischer Aufmachung wie der eben 
geschilderte Fall. Es genügt bei mancher Intersexuellen vollständig, 
dass sie nur den Gedanken fasst, es könnte ein Mann, der zufällig 
ihre Wege gekreuzt hat, ihr näheres Interesse erwecken und sie sich 
selbst in die Zwangslage versetzt sehen, eine Entscheidung treffen 
zu müssen, damit sekundär eine Dymenorrhöe auftrete mit allen Be- 
gleiterscheinungen eines mehr oder minder heftigen asthenischen 
Anfalles. Der erste Affekt, der den asthenischen Anfall auslöst, ist 
dor Zweifel, diesem folgt die Angst und dann schliesslich ein Ge- 
fühl des Abscheues und des Ekels. Ich glaube, nicht zu weit zu 
gehen mit der Annahme, dass das Erbrechen, das dann häufig die 


102 Paul Mathes, Die Bedeutung der Sexualkonstitution für die Gynäkologie. [7 


Dysmenorrhöe begleitet, in dieser zuletzt genannten Affektqualität 
seine Ursache hat. 

Eine stark intersexuelle, rothaarige Lehrerin von 28 Jahren klagt über 
Dysmenorrhöe, die vor einem Jahre auch wieder im Anschluss an eine Er, 
kältung‘“ aufgetreten ist; sie gibt an, seit 5 Monaten während der Menstruation 
von Erbrechen geplagt zu sein. Auf meine bisherigen Erfahrungen gestützt, 
steure ich nach körperlicher Untersuchung, die bis auf die typischen Stigmen 
ein negatives Resultat ergibt, direkt auf mein Ziel los mit der Frage, ob sie 
an eine eheliche Bindung denken. Sie ist darauf wie mit Blut übergossen, sie 
bejaht zögernd meine Frage und kann sich vor Verwunderung und Erstaunen 
nicht fassen, wieso ich denn auf diesen Gedanken gekommen sei, es treffe 
meine Vermutung vollständig zu; ich dürfte aber ja nicht glauben, dass schon eine 
körperliche Annäherung erfolgt sei, was ich ihr unbedingt zugeben konnte, sie war 
Virgo; es genüge, sagte ich ihr, allein der Gedanke an eine seelische Annäherung. 
Ich sage ihr weiter, der ärgste Feind der Liebe sei der Zweifel und sie solle 
in Zukunft in diesen Dingen vorsichtig sein, sie begäbe sich damit jedesmal in 
die Gefahr körperlich und seelisch zu erkranken, denn sie gehöre zu den 
Frauen, denen es überhaupt nicht leicht würde, den richtigen Mann zu 
finden. Auch das gibt sie mir zu mit der erstaunten Frage, ob sie denn für 
mich ein offenes Buch sei, in dem ich zu lesen (vermöchte. 


Diese eine Krankengeschichte enthält Anhaltspunkte genug um 
zu ermessen, was der asthenische Anfall der Intersexuellen für die 
Gymäkologie, besonders für die sog. kleine Gynäkologie zu be 
deuten bat, ich muss es Ihrer Phantasie überlassen die nötigen 
Konsequenzen für die Beurteilung anderer typischer gynäkologischer 
Krankheitsbilder zu ziehen, ich muss es Ihrer logischen Überlegung 
anheimstellen, nach welchen Grundsätzen sie die Behandlung solcher 
Fälle einrichten wollen. Die Grundlage für Überlegungen in dieser 
Richtung muss des Bestreben sein, das persönliche Wesen der 
Kranken, ihre Konstitution, mit allen zur Verfügung stehenden 
Mitteln der klinischen Diagnostik zu erforschen und immer daran 
zu denken, dass es das Genitale ist, das wie ein Spiegel — 
im Affektleben des Weibes reflektiert. 


Die Sexualkonstitution in der Andrologie'). 


Von 


Geh. Med.-Rat Professor Dr. C. Posner, Berlin. 


Mit voller Absicht habe ich zur Kennzeichnung der folgenden 
Betrachtungen das Wort „Andrologie“ gewählt, so ungewohnt 
es vielfach dem Ohre klingen mag. Es soll damit das Seitenstück 
oder Gegenbild zur „Gynäkologie“ ausgedrückt werden, und zwar 
nicht sowohl zu jener schulmässigen Gynäkologie, welche sich vor- ` 
wiegend oder sogar ausschliesslich mit den Erkrankungen des weib- 
lichen Genitalapparats befasst, als vielmehr zu der neueren, als 
„Frauenkunde‘“ bezeichneten Lehre ?), deren Gebiet die Gesamt- 
heit der für das Weib charakteristischen Lebens. und Krankheits- 
erscheinungen bildet. Dabei muss von vornherein zugestanden werden, 
dass eine Andrologie in dem weiten, hierdurch gezogenen Rahmen 
erst in der Bildung begriffen ist. Der Frauenarzt ist immerhin schon 
lange gewohnt, bei seinen Schutzbefohlenen das Ganze zu berück- 
sichtigen und zu beachten, wie Körper und Seele auf die eingreifenden 
Reize antworten, welche Menstruation, Schwangerschaft, Geburt, 
Wochenbett, Klimakterium und Krankheiten ausüben. Wir haben 
denn auch vernommen, dass es geschärfter Beobachtung gelingt, be- 
stimmte Typen der Sexualkonstitution gegeneinander abzugrenzen 3) 
— schon das Bestehen der gynäkologischen Kliniken bot hierzu ge- 
eignete Unterlagen. Beim Manne liegen die Dinge wesentlich schwie- 
riger. Die Geschlechtsvorgänge — Entwicklung, Reife, Rückbildung 
— sind, oder besser gesagt: scheinen nicht so bedeutungsvoll und 
beherrschend. Und wenn man hier von. sexuellen Erkrankungen 
spricht, so denkt man gemeinhin einerseits an die Störungen, welche 


1) Vortrag, gehalten in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Eugenetik in Berlin am 16. März 1923. 

2) Vgl. Max Hirsch, Was ist Frauenkunde? Zeitschr. f. Gyn. 1912. 

») Vgl. P. Mathes, Die Konstitutionstypen in der Gynäkologie. Klin. 
Wochenschr. 1923. II. 7., sowie den in der gleichen Sitzung gehaltenen Vortrag 
desselben. 


104 C. Posner. [2 


im Gefolge einer venerischen Infektion auftreten, andererseits an 
rein funktionelle Abweichungen von der Norm — mit ersteren 
beschäftigt sich der Dermatologe und Urologe, letztere bilden die 
Domäne des Seelen- und Nervenarztes; nur wenige Forscher haben, 
als wirkliche Sexualpathologen, mit gleicher Hingebung und 
Kenntnis die Gesamtheit dieser Zustände verfolgt, und bestimmte 
Institute oder Studienanstalten hierfür bestehen bisher nur durch 
private Initiative. So befinden wir uns denn hier erst am Anfang 
eines Weges, den andere Disziplinen seit Martius und Kraus 
richtunggebenden Arbeiten längst betreten und mit Glück verfolgt 
haben und wir können vorläufig kaum mehr als die Linien bezeichnen, 
auf welchen auch wir das Ziel suchen müssen. 


In dem Bestreben, die „Pathologie der Person‘ gerade 
in sexueller Hinsicht zu erforschen, d. h. Erbanlagen und Folgen 
äusserer Einflüsse, Teilerscheinungen und Gesamtbild, Soma und 
Psyche, voneinander zu sondern und zueinander in Beziehung zu 
setzen, dürfen uns nicht allgemeine „Klinische Eindrücke‘, nicht 
theoretische Konstruktionen leiten !). Wir müssen meines Erachtens 
vorerst damit beginnen, von einfachen, aber leicht erfassbaren Zu- 
standsbildern auszugehen, sie auf ihre Bedeutung für das Konsti- 
tutionsproblem hin zu prüfen um dann erst später aus solcher 
Sammlung genauer, morphologisch oder funktionell begründeter, Be- 
obachtungen das Rüstzeug für eine Synthese zu gewinnen; andern- 
falls laufen wir Gefahr, ein Spiel mit Schlagworten zu treiben und 
ein unbekanntes X durch ein nicht minder unbekanntes Y zu ersetzen 
Am deutlichsten lässt sich vielleicht, wie wir auf diesem Wege 
fortschreiten können, zunächst einmal an einem landläufigen Bei- 
spiel zeigen. Alltäglich begegnet uns eine, das männliche Genitale 
betreffende Missbildung, die meist lediglich von dem Gesichtspunkt 
einer rein örtlichen Anomalie betrachtet wird: ich spreche von 
dem Offenbleiben der Urethralrinne, der Hypospadie —- man 
schätzt, dass jeder 300. bis 400. Mann diese Variante aufweist, von 
der man bekanntlich, je nach der Lokalisation verschiedene Grade 
(glandäre, penoskrotale, perineale H.) unterscheidet. Wie kommt 
diese Missbildung zustande? Vielfach wurde angenommen, dass es 
sich um eine intrauterin erworbene, also lediglich angeborene 
Störung handle — aber zahlreiche Beobachtungen lassen es doch 
unzweifelhaft erscheinen, dass oft wenigstens hier eine vererb- 


1) Vgl. hierzu Lubarsch, Die Konstitutions- und Dispositionslehie. Die 
Naturwissenschaften, 1921. IX. H. 41. Ein Eingehen auf die Frage, wie eigent- 
lich der Begriff „Konstitution“ zu definieren sei, lag nicht im Plane dieser Er- 
örterungen. 


3) Die Sexualkonstitution-in der Andrologie. 105 


bare Anlage wirkt. Wir kennen ausgesprochene Hypospasten- 
Familien; am schlagendsten ist wohl eine, von einem englischen 
Autor mitgeteilte Beobachtung 1), bei welcher die Hypospadie durch 
6 Generationen an im ganzen 21 Mitgliedern festgestellt wurde. Der 
Fall ist noch besonders bemerkenswert deswegen, weil er, und zwar 
von einem so kritischen Beurteiler wie Orth?2), als Beispiel für 
die Möglichkeit einer Telegonie oder Imprägnation ange- 
sehen wurde: die Ehefrau eines der hypospastischen Männer hatte von 
diesem zwei hypospastische Söhne (die wiederum hypospastische Nach- 
kommen hatten), dann aber, in zweiter Ehe, von einem normalge- 
bauten Mann nochmals vier Söhne mit Hypospadie, denen abermals, 
neben normalen Knaben, noch drei mit derselben Missbildung be- 
haftete entstammten. Ich erwähne dies nur nebenbei, ohne auf die 
Frage der Telegonie hier eingehen zu wollen — da wir die Ahnen- 
tafel des zweiten Ehemannes nicht kennen, bleiben natürlich auch 
andere Möglichkeiten offen. Klar ergibt sich jedenfalls, dass hier die 
Hypospadie als dominante Erbanlage im Sinne der Mendel- 
schen Regeln auftrat — es kommt in solchen Familien auch das 
typische Überspringen von Generationen vor. Nun haben ja gewiss 
die geringen Grade dieser Variante mit der Sexualkonstitution im 
strengen Wortsinne nicht viel zu tun; aber es darf doch nicht über- 
sehen werden, dass von den leichtesten Formen bis zur Ausbildung 
eines Pseudohermaphroditismus alle denkbaren Übergänge vorkom- 
men. A. Rumpel?) spricht gewiss mit Recht von einer „einheit- 
lichen Kette morphologischer und genetischer Missbildungen“. Und 
damit tritt denn diese, scheinbar ganz örtliche Anomalie in den 
Zusammenhang, den wir hier suchen. Wir haben es mit einer 
Konstitutionsvariante zu tun, die bald nur das äussere Genitale be- 
trifft, bald aber den gesamten Organismus mit allen seinen körper- 
lichen und seelischen Geschlechtseigentümlichkeiten in Mitleiden- 
schaft zieht. Es wäre wichtig, genau festzustellen, ob in den Hypo- 
spadie-Fumilien auch bei weiblichen Mitgliedern eine entsprechende 
Anomalie sich zeigt, oder ob es sich hier um eine geschlechts- 
gebundene Vererbung handelt. 


Auch einige andere Erscheinungen am äusseren Genitalapparat 
dürfen hier erwähnt werden. Kurz erinnern möchte ich an die 


1) Lingard, Lancet 1884. I. S. 703. 

2) Vgl. dessen Artikel „Angeborene und ererbte Krankheiten und Krank- 
heitsanlagen* in „Krankheiten und Ehe“, herausgegeben von C. v. Noorden und 
S. Kaminer. II. Aufl. S. 31. Leipzig, G. Thieme 1916. 

®) A. Rumpel, Über identische Missbildungen, besonders Hypospadie bei 
eineiigen Zwillingen. Frankf. Zeitschr. f. Pathol. 1921. XXV. 


— 


106 C. Posner. [4 


als Varicocele bezeichnete Schwellung der Venen des Samen- 
stranges und des Skrotums. Bier!) hat sie bereits als Zeichen einer 
allgemeinen Venenschwäche, also einer Anomalie der Gesamtkonsti- 
tution angesprochen. Die häufig zu machende Beobachtung, dass 
sie mit andern Varikositäten, namentlich aber mit Hämorrhoiden 
einhergeht, spricht gewiss in diesem Sinne — auch von den Hämor- 
rhoiden ist ja bekannt, dass sie selbst oder die Disposition dazu ver- 
erbbar sind. Ist ihre Beziehung zum Sexualleben vielleicht nicht 
allzu eng, so scheint mir in diesem Betracht um so ‚wichtiger die sog. 
Induratio penis plastica — das Auftreten schwieliger, 
fibröser Verdickungen am Rücken des Gliedes, zwischen den Corpora 
cavernosa, ein Leiden, welches die Potentia coeundi in hohem Masse > 
beeinträchtigt. Seitdem ich im Jahre 1899 die Aufmerksamkeit der 
Deutschen Ärzte hierauf gelenkt habe?) ist eine erhebliche Zahl von 
Fällen bekannt geworden?) und man ist sich jetzt darüber einig, 
dass aus der Ätiologie die banalen Bedingungen — Gonorrhöe, 
Syphilis, Trauma — auszuschliessen sind. Die Bindegewebsneu- 
bildung entsteht ‚von selbst‘“ — d. h. wir wissen nicht weswegen. 
Nun ergibt sich aber bei der Anamnese mindestens in sehr vielen 
Fällen, einmal dass Gicht, andere Male dass Diabetes bei dem 
Patienten selbst oder in seiner Familie vorhanden ist. Spricht dies 
schon für Mitwirkung eines konstitutionellen Faktors, so wird dies 
noch deutlicher durch eine Beobachtung, die ich zuerst durch Neu- 
mark‘) mitteilen liess und die seither öfters bestätigt wurde: mit- 
unter triffi die plastische Induration mit der Dupuytrenschen 
Kontraktur (an der Palmar- sowie auch an der Plantarfaszie °)) 
zusammen. Diese Kontraktur steht nun ihrerseits zur Gicht wie zum 
Diabetes in engen Beziehungen, — welcher Art, mag hier unerörtert : 
bleiben. Es berechtigen uns diese Erwägungen, auch die plastische 


1) Vgl. hierzu Haberland, Die konstitutionelle Disposition zu chirurgischen 
Krankheiten. Berl. klin. Wochenschr. 1921. Nr. 20. 

2) C.Posner, Ein Fall von „Plaque indurée“ am Penis. Berl. klin. Wochen- 
schr. 1899. Nr. 24. 

3) Vgl. besonders O. Sachs, Plastische Induration der Corpora cavernosa 
penis. Handb. d. Geschlechtskrankheiten, herausgegeben von Finger, Jadas- 
sohn, Ehrmann, Grosz. Wien 1911. S. 571ff. Ferner z.B. Sonntag, Über 
Induratio penis plastica. Arch. f. klin. Chirurgie. 117. S. 612. Werth und 
Scheele, Induratio penis plastica. Dtsch. Zeitschr. f. Chirurgie. Bd. 121. H. 3. 

1) H. Neumark, Plastische Induration des Penis. Inaug.-Diss. Leipzig 1906 
und Berl. klin. Wochenschr. 1906. 40. Gleichzeitig Waelsch, Münch. med. 
Wochenschr. 1906. 40. 

5) O. Stein, Induratio penis plastica und Dupuytrensche Kontraktur. Wien. 
klin. Wochenschr. 1909. Nr. 52. 


5] Die Sexualkonstitution in der Andrologie. 107 


Induration in die Konstitutionsanomalien einzureihen, und mit aller 
Reserve und ohne späteren Korrekturen dieser Auffassung vorzu- 
greifen, sie als Teilerscheinung einer allgemeinen Disposition des 
Bindegewebes aufzufassen, für die man, wenn man will, den Bartel- 

schen Ausdruck „Fibrosis“ gebrauchen mag 1). Gerade in bezug 
auf den Diabetes darf wohl an seine engen Beziehungen zum Binde- 
gewebe, wie sie z. B. in der mit ihm so oft einhergehenden allgemeinen 
Sklerose, besonders aber in derjenigen der Pankreasinseln sich zeigen, 
erinnert werden °). 

Wenn ich bei früherer Gelegenheit darauf hinwies, dass die 
Induratio penis plastica durch ihre Lokalisation und öfter auch 
durch ihre histologische Beschaffenheit an den Penisknochen mancher 
Säuger erinnert, so liegt hierin keineswegs ein Widerspruch gegen 
die Annahme einer Konstitutionsvariante im Sinne einer Binde- 
gewebsbereitschaft — man kann sich sehr wohl vorstellen, dass der 
betroffene Ort, das Septum intercavernosum, durch die Phylogenese 
zu solchen Bildungen, die früher sogar zweckmässig waren, be- 
sonders disponiert .ist. 

Weit tiefer als die bisher angezogenen Beispiele aber greifen 
in das eigentliche Problem der Sexualkonstitution die Veränderungen 
ein, denen wir an den Anhangsorganen der Samenwege, insbesondere 
an Vorsteherdrüse und Samenblase begegnen. Freilich be- 
treten wir auch hier noch schwankenden Boden — wissen wir doch 
noch wenig von der Physiologie und gar erst von der pathologischen 
Physiologie der genannten Organe. Allenfallsd sind wir über die Be- 
deutung der von ihnen gelieferten Sekrete unterrichtet; sie dienen 
teils zur Verflüssigung des Samens, teils zur Belebung ‘der Spermien, 
teils wohl auch zu deren Schutz gegenüber dem 'schädlichen Vaginal- 
inhalt; ich erinnere auch an eine früher von mir geäusserte Ver- 
mutung, dass die Prostata, deren Sekret der spezifische Samen- 
geruch anhaftet, ein Homologon der Brunstdrüsen mancher Säuge- 
tiere (Igel z. B.) bilde. Aber sollte damit ihre Aufgabe erschöpft sein ? 
Es scheint doch, als bsstünde ein engerer Zusammenhang mit dem 
gesamten Geschlechtsleben des Mannes. Die auffallende Tatsache, dass 
sie sich erst zur Zeit der Reife entwickeln, dass sie nach frühzeitiger 
Entfernung der Keimdrüse nicht zur Ausbildung gelangen, ja, nach 
späterer Kastration. sich wieder zurückbilden, legte, im Einklang 
mit unseren sonstigen Erfahrungen über Ausfallserscheinungen die 


1) Bartel, Status thymico-lymphaticus und Status hypoplasticus. Leipzig, 
Fr. Deutike. 1912. 
2) A. Weichselbaum, Die Veränderungen des Pankreas bei Diabetes. 
Wien 1910. 
Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 2. 8 


108 l C. Posner. [6 


Annahme nahe, dass es sich auch hier um eine Beeinflussung durch 
innere Sekretion handle — eine Annahme, die ich selbst früher 
auch vertreten habe!). Ausser älteren Versuchen von Steinach 
sprachen in diesem Sinne namentlich die von Serralach und 
Parès?) erzielten Ergebnisse: Sie fanden nach Abtragung der 
Prostata und der Samenblasen ein sofortiges Stocken der Spermio- 
genese, welche nach Einspritzung von Prostataextrakten dann wieder 
in Gang kam. Auch der Einfluss, den solche Extraktinjektionen 
auf den Gesamtorganismus äussern, durfte so gedeutet werden. Blut- 
drucksenkung und anaphylaktische Erscheinungen wurden als be- 
weisend angesehen, namentlich als Götz1?) eine Verwandtschaft in 
der Wirkung von Prostata-, Hoden-, Ovarial- und Mammaauszügen 
fand. Noch neuerdings haben französische Autoren {Legueu, 
Pousson) besonders starke Wirkungen von Auszügen aus hyper- 
trophische Vorsteherdrüsen beobachtet?) Dennoch ist ein’ Zweifel 
an der Deutung dieser Befunde berechtigt. Die Versuche mit Organ- 
extrakten sind zu einer Zeit angestellt, in der man die Wirkungen 
der Proteinkörper noch nicht kannte — es ist nicht sicher, ob hier 
spezifische oder unspezifische Reize obwalteten. Vor allem aber 
sind Rob. Lichtensterns) Tierversuche zu beachten :: Operierte 
er ganz junge Tiere, so ergab die Entfernung der Vorsteherdrüse 
und der Samenblase keinerlei Einfluss, weder auf die Spermiogenese 
noch auf die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Die 
Frage ist demnach noch nicht völlig geklärt; von neueren Autoren 
erwähnt z. BB Weil‘) die Prostata gar nicht unter den Drüsen 
mit innerer Sekretion und Waldeyer?) sprient sich mit grösster 
Reserve aus. Für das vorhin erwähnte Verhalten gibt Wehner®) 


1) C. Posner, Die normale und pathologische Physiologie der Prostata. 
Comptes rend. du Ier Congr. internat. d’Urol. Paris 1908, sowie Berl. klin. Wochen- 
schr. 1908. 

2) Serralach et Parès, La sécrétion interne de la prostate. Comptes rend. 
du Ier Congr. internat. d’Urol. Paris 1908, sowie Guyons Annalen 1911. 

3) A. Götzl, Über eine biologische Beziehung zwischen Prostata und Ge- 
schlechtsdrüsen und den letzteren untereinander. Fol. urol. VI. 1911. —. Der- 
selbe und Hada, Wechselbeziehungen zeichen Hoden und Prostata. Prag. 
med. Wochenschr. 1914. 32. 

$4) Vgl. u. a Doubois et Boulet, C. r. Soc. biol. LXXIV. 14. 

5) R. Lichtenstern, Untersuchungen über die Funktion der Prostata. 
Zeitschr. f. Urol. X. 1. 

HA Weil, Innere Sekretion. 11. Aufi. Berlin, Springer 1922. 

1) v. Waldeyer-Hartz, Allgemeine Anatomie der endokrinen Drüsen. 
Arch. f. Frauenkunde. VII. 1921. 

°) Wehner, Altes und Neues über die Folgen der Unterbrechung der 
Snmenwege für Hoden und Prostata. Zeitschr. f. urol. Chirurgie. 1921. 





7] Die Sexualkonstitution in der Andrologie. 109 


daher eine ganz andere, allerdings recht teleologisch anmutende Er- 
klärung: nach seiner Meinung beruhe die Aplasie oder Rückbildung 
der Prostata bei Mangel an Samenproduktion einfach darauf, dass 
ihre Funktion durch das Fehlen eines Angriffsobjektes überflüssig 
werde — also eine Inaktivitätsatrophiee Welcher Art nun auch 
die gegenseitigen Beziehungen sein mögen — ihre Existenz können 
wir nicht leugnen; die klinische Beobachtung legt hierfür beredtes 
Zeugnis ab. Denn wenn auch in praxi das Urteil oft dadurch er- 
schwert wird, dass wir es mit Männern zu 'tun haben, bei denen eine 
voraufgegangene gonorrhoische Infektion eine dauernde Verände- 
rung der Anhangsdrüsen hinterlassen hat, so bleiben doch genug 
Fälle übrig, in denen nie eine Erkrankung vorgekommen war und die 
dennoch deutliche Erscheinungen von seiten der Prostata auf- 
weisen. Es sind das meist jugendliche Männer, die mit der Doppel- 
klage kommen, dass einerseits Libido und Potenz nachlassen, anderer- 
seits aber häufige Samenverluste sie ermatten. Im einfachsten Falle 
findet man dann Keimdrüse und Anhangsorgane anscheinend gut 
ausgebildet, aber als wesentliches Ergebnis eine „Atonie der 
Prostata“ (Porosz, Marcusel)), dadurch erkennbar, dass bei 
jedem Pressen oder rektalem Fingerdruck reichliches Sekret sich 
entleert, entweder von normaler Beschaffenheit (Prostatakörner, 
Lipoide, auch Spermien), oder auch die Zeichen einer „aseptischen 
Prostatitis“ aufweisend. Man begnügt sich dann vielfach mit der Ver- 
legenheitsdiagnose einer „sexuellen Neurasthenie“, einem 
unbestimmten Begriff, unter dem sich jedenfalls vielerlei sehr ver- 
schiedenes verbirgt. Untersucht man nun genauer, so ergeben sich 
nicht bloss nervöse Symptome, sondern auch sonstige Zeichen von 
Schwäche, etwa im Sinne von Stillers Habitus asthenicus oder 
vom Status hypoplasticus — Tiefstand der Eingeweide, Blutarmut, 
kleines Herz, Costa decima fluctuans, Phosphaturie, auch wohl Al- 
buminurie, die natürlich von der von mir vor Jahren beschriebenen 
Hemialbumosuria spuria scharf zu unterscheiden ist. Dies alles 
berechtigt uns, auch diese Fälle in die Rubrik der Konstitutions- 
anomalien einzureihen. Das wird noch deutlicher, wenn, wie das 
oft vorkommt, bereits Erscheinungen von Hypogenitalismus ange- 
deutet oder ausgesprochen wird (Hypoplasie der Keimdrüsen, Klein- 
heit des Gliedes, mangelhafte Behaarung des Körpers usw.) — Kümmer- 
reformen im Sinne von Kraus-Brugsch. Es kann dabei auch 
zu einer völligen Aplasie (oder Atrophie) der Prostata kommen, die 
ja bekanntlich in extremen Graden genau die gleichen Symptome 
macht, wie die Hypertrophie — dass auch sie zu den ererbten 


1) Vgl. M. Marcuse, Atonie der Prostata. Med. Klinik. 1912. Nr. 45. 
NS 


110 C. Posner. [8 


Anomalien gehören kann (nicht muss!) wird z. B. durch einen, 
von meinem Sohn beschriebenen Fall!) wahrscheinlich gemacht, 
in dem sie mit Syndaktylie einherging. Ob auch diesogen. Prostata- 
hypertrophie, die wir ja jetzt vorwiegend als eine, von den 
Urethraldrüsen ausgehende Geschwulstbildung auffassen, etwas hier- 
mit insofern zu tun hat, als vielleicht eine besondere Keimanlage 
die Disposition hierzu gibt, möchte ich zur Diskussion stellen ?); 
hier wird die Familienforschung, namentlich auch mit Rücksicht 
darauf, ob etwa bei weiblichen Blutsverwandten ein gehäuftes Vor- 
kommen von Geschwülsten im Genitaltraktus beobachtet wird, von 
Interesse sein. | 

- Über die etwaige Beteiligung der Samenblasen an endokrinen 
Vorgängen sind wir bisher noch gar nicht unterrichtet. Bei der 
funktionellen Schwäche der Prostata sind sie wohl regelmässig be- 
teiligt, dafür spricht die Häufigkeit der Pollutionen und das Auf- 
treten echter Spermatorrhöe. Übrigens erwähne ich, dass im Säuge- 
tierreiche Prostata und Samenblasen in einem gewissen Wechsel- 
verhältnisse insofern stehen, als sie sich gegenseitig vertreten können ; 
genetisch ist zwischen beiden keinesfalls ein durchgreifender Unter- 
schied festzustellen, und ich habe sogar zeigen können, dass manche 
in Handel befindliche „Prostatatabletten“ gar nicht aus der Vorsteher- 
drüse, sondern aus der Samenblase gewonnen sind. 

Nun aber: die Keimdrüsen selbst. Liegt nicht in ihnen 
die eigentliche konstitutionelle Grundbedingung des gesamten Sexual- 
lebens? Geben sie nicht, durch Entsendung ihrer Hormone in den 
Körperkreislauf, überhaupt erst zu dessen Ausbildung Anlass? ‘Es 
ist hier nicht notwendig, die Wandlungen im einzelnen zu verfolgen, 
welche die Lehre von der Sexualität in den letzten Jahren durch- 
gemacht hat — Wandlungen, die auch heut noch keineswegs zu einem 
Abschluss geführt haben. Nur wenige, für unsern besondern Zweck 
wichtige Punkte seien hervorgehoben. Zunächst, dass die Spermio- 
genese, die man früher für den allein entscheidenden Faktor ange- 
sehen hat, keine unentbehrliche Bedingung für die sexuelle Reife 
darstellt: wir können ‘jetzt, durch Samenuntersuchung und Hoden- 
punktion am Lebenden nachweisen, dass es voll ausgebildete Männer 
mit allen Geschlechtsmerkmalen gibt, bei denen es nicht zur Aus- 
bildung von Samenfäden kommt?). Hier haben wir also eine höchst 
wichtige konstitutionelle Organschwäche, die freilich aus naheliegen- 


1) ll. L. Posner, Über Prostataatrophie. Zeitschr. f. Urol. VII. 4. 
2) Vgl. hierzu z. B. Borst, Geschwülste. Die Naturwissenschaften. 1921. 
H. 41. S. 819. 


3) C. Posner, Über angeborene Azoospermie. Arch. f. Frauenkunde. 1920. 


9] Die Sexualkonstitution in der Andrologie. 111 


den Gründen weder ererbt noch vererbbar sein kann. Aber wiederum 
gehen von hier aus zahllose Personalvarianten aus; wir finden 
mitunter die Hoden und Prostata solcher Individuen hypoplastisch ; 
wir sehen bei Kryptorchen, die ebenfalls oft der Spermiogenese ent- 
behren, bereits Übergänge zum ausgesprochenen Hypogenitalismus 
und Intersexualismus, und hieran schliessen sich dann in allmählichen 
Abstufungen Fälle von Pseudo- oder auch echtem Hermaphroditismus 
an. Ganz besonders aber ist zu beachten, dass doch die Sexualkon- 
stitution überhaupt nicht einseitig und ausschliesslich von der Keim- 
drüse bedingt wird, gleichgültig, in welche Teile derselben man die 
inkretorischen Funktionen verlegt. Gerade hier finden wir ja die 
schlagendsten Beispiele für das fein abgestimmte Wechselspiel des 
gesamtenendokrinen Systems, innerhalb dessen die Hoden 
gleichermassen gebend und empfangend teteiligt sind, jenes 
Systems, welches um ein Wort von Fr. Kraus anzuwenden, dem 
Körper seine ‚„Konstitutionsharmonie‘“ verleiht. Solange dies richtig 
funktioniert, ist diese Harmonie gegeben, Störungen an einer Stelle 
ziehen die ganze Konstitution in Mitleidenschaft. So hat denn auch 
der Androloge die Pflicht, sich nicht bloss um örtliche Anomalien 
der Hoden (und des Genitalapparats) zu kümmern, sondern die 
Beziehungen zu diesem (Gesamtapparat zu berücksichtigen. Wenn, 
um nur einige Beispiele anzuführen, eine Dys- oder Hypofunktion 
der Hypophyse (bzw. des Zwischenhirns) das Zustandsbild der 
Dystrophia adiposo-genitalis bedingt!); wenn umgekehrt ein Teratom 
der Zirbeldrüse genitale Frühreife?), ein Hypernephrom 
ebenfalls Hypergenitalismus?) hervorruft, wenn wir beim Status 
thymolymphaticus Eunuchoidismus®), bei Riesenwuchs 
Atrophie der Geschlechtsdrüsen 5) beobachten, so liegt ja hier der 
konstitutionelle Faktor ‚klar zutage — wir sehen hier deutlich die 
Korstitutionsanomalien, auf deren Boden dann die Konstitutions- 
krankheiten erwachsen ê). Gerade hier lässt sich auch das Zusammen- 
wirken von endo- und exogenen Bedingungen wahrscheinlich machen, 


!) Gottlieb, Die Pathologie der Dystrophia adiposo-genitalis. Lubarsch- 
Ostertag, Ergebnisse XIX. 2. S. 516. 


2?) E. Boehm, Zirbeldrüsenteratom und genitale Frühreife. Frankf. Zeitschr. 
f. Pathol. XXII. S. 121. 


3) E. Leupold, Beziehungen zwischen Nebenniere und männlicher Keim- 
dıüse. Jena, G. Fischer. 1920. 


1) C. Hart, Konstitution und endokrines Salam Zeitschr. f. angewandte 
Anatomie und Konstitutionslehre. Bd. 1. 


5) Bird, Ein Fall von Riesenwucbs mit — der Geschlechtsdrüsen. 
Arch. f. klin. Chirurgie. 1914. Bd. 103. 


°) Pfaundler. Über den Konstitutionsbegriff. Klin. Wochenschr. I. 17. 1922. 


112 C. Posner. [10 


wie dies recht deutlich das Beispiel des Eintretens einer Pubertas 
praecox im Verlauf einer En cephalitis epidemica!) illustriert. 
Eben diese Beobachtungen ermahnen uns aber auch, dem Nerven- 
system eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Denn wenn 
wir noch so fest von der erotisierenden Wirkung der Sexualhormone 
überzeugt sind, so ist doch einerseits zu bedenken,.dass ihre Pro- 
duktion, wie die aller Inkrete, von den vegetativ-nervösen Zentren 
geregelt und beherrscht wird?), andererseits aber, dass auch die 
Psyche auf Störungen der Keimdrüsenfunktion in recht verschieden- 
artiger Weise reagieren kann. Wenn ich mich vorher gegen den 
Missbrauch der Diagnose „sexuelle Neurasthenie“ aussprach, so sollte 
damit gewiss nicht gesagt sein, dass wir den nervösen Anteil an der 
Sexualkonstitution geringschätzen oder vernachlässigen wollen — es 
gilt vielmehr, ihn in jedem Einzelfall genau abzuwägen und den 
Zusammenhang mit etwaigen Organerkrankungen zu prüfen, die man 
gelegentlich wohl, wo (z. B. bei Prostatitis) die nervösen Fern- 
wirkungen stark in den Vordergrund treten, übersehen mag. 


Mir scheint, gerade mit Rücksicht auf manche, von psychiatri- 
scher Seite mitgeteilte Erfahrungen über den seelischen Zustand der 
Eunuchoiden 3), dass wir heut noch nicht dahin gelangt sind, für den 
Mann ganz bestimmte Typen der gesamten Sexualkonstitution auf- 
zustellen, denen jedes einzelne Individuum sich zwanglos eingliedern 
liesse. Wir müssen vielmehr den im Eingange dieser Betrachtungen 
angegebenen Weg der’ Detailforschung verfolgen; wir müssen uns 
bemühen, allgemeine und örtliche Funktionsstörungen zu trennen; 
wir müssen vor allem die Erblichkeitsforschung so weit ausbilden, 
dass wir überkommene Anlagen als solche erkennen und in ihrem 
Verhalten dem Gesamtorganismus gegenüber richtig bewerten können. 
Dann werden wir auch, was ja unser Endziel sein muss, neue (e- 
sichtspunkte für unser praktisch-ärztliches Handeln ge- 
winnen. Vorläufig besteht in dieser Hinsicht wohl noch eine ge- 
wisse Gefahr: leicht kann man zu einem therapeutischen Nihilismus 
verleitet werden: denn je mehr wir eine gegebene Anomalie als 
konstitutionell auffassen, um so geringer scheint die Aussicht, 
sie zu beseitigen, die auf ihrem Boden erwachsenen Krankheiten zu 
heilen. Aber es hat sich doch bereits gezeigt, dass die Berücksichti- 


1) F, Stern, Über Pubertas praecox bei epidemischer Enzephalitis. Med. 
Klinik. 1922 23. 

*) Vgl. z, B. Toenniesen, Die Bedeutung des vegetativen Nervensystems 
für die Wärmeregulation und den Stoffwechsel. Klin. Wochenschr. 1923. 12. 

3) Vgl. Fritz Fränkel, Der psychopathologische Formenreichtum der 
Eunuchoiden. Zeitschr. f. d. ges. Neurologie und Psychiatri. LXXX. 5. 1922. 


u) Die Soxualkonstitution in der Andrologie. 113 


gung der Konstitution bei der Prophylaxe wie bei der Behandlung 
wertvolle Dienste leisten kann !); eine Substitutionstherapie z. B., be- 
stehe sie in der Anwendung von Organextrakten oder in chirurgischen 
Massnahmen, ist rationell begründet und weiteren Ausbaues fähig. 
Und wenn wir andererseits auf manche örtliche Behandlung ver- 
zichten und uns begnügen müssen, den Gesamtorganismus somatisch 
und psychisch in Angriff zu nehmen, so bedeutet dies eine Be- 
schränkung, in der erst recht der Meister sich zu zeigen vermag! 


Literatur. 


Angesichts der nahezu unübersehbaren Fülle von Mitteilungen, welche sich mit 
dem Problem der Konstitution, insbesondere der Sexualkonstitution beschäftigen, babe 
ich mich darauf beschränkt, nur einige Stichproben anzugeben, von denen aus der 
Leser sich leicht weiter unterrichten kann. Die grundlegenden Werke von Martius, 
Kraus, Stiller, J. Bauer, Kretschmer, Goldschmidt, Johannsen, 
Biedl, Tandler und Grosz, Steinach, M. Hirschfeld u. a. besonders zu 
zitieren, hielt ich für überflüssig, da ihr Studium bei jedem, der sich mit den 
hier erörterten Fragen befasst, als selbstverständlich vorausgesetzt werden muss. 
Von wichtigen Arbeiten allgemeinen: Inhalts erwähne ich, ausser den im Text 
angeführten, etwa noch: K. H. Bauer, Vererbung und Konstitution, Dtsch. med. 
Wochenschr. 1920. 20.— Derselbe, Das konstitutionelle Problem in der Chirurgie. 
Ebenda 1922. 40. — L. Borchardt, Das konstitutionelle Problem in der inneren 
Medizin. Med. Klinik. 1921. 27. — Derselbe, Hypogenitalismus und seine Ab- 
grenzung vom Infantilismus. Berl. klin. Wochenschr. 1918. 15. — Derselbe, 
Allgemeine klinische Konstitutionslehre. Ergebn. der inn. Med. u. Kinderheilk. 
Bd. 21. 1922, — Werth, Konstitution und endokrines System. Münch. med. 
Wochenschr. 1922. 11.— Asher, Prinzipielle Fragen zur Lehre von der inneren 
Sekretion. Klin. Wochenschr. 1922. 3. 


ı) Vgl. z. B. Payr, Konstitutionspathologie und Chirurgie. Arch. f. klin. 
Chirurgie. 1921. Bd. 116. 


Wissensehaftliche Rundschau. 


Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


Diagnose und Therapie der Sterilität. In zwei unserer be- 
deutenden Krankenhäuser in Chikago und New York, ist in jüngster 
Zeit die von Rubin in New York erfundene Methode der Unter- 
suchung der Durchgängigkeit der Fallopischen Tuben auf ihre prak- 
tische Verwertung hin geprüft worden, wodurch nicht nur der Dia- 
gnose eine neue Pforte geöffnet, sondern gleichzeitig der Therapie 
der Sterilität eine neue Handhabe gegeben worden ist. 

Mit dieser neuen Methode werden wir dem Postulat Kehrers 
gerecht, welches er schon im vorigen Jahrhundert — 
hat: „Unter manchem Unrechte, das dem weiblichen Geschlechte ge 
schieht, ist das gewiss eines der folgenschwersten, dass man bei 
Sterilität der Ehe fast immer der Frau die Schuld beimisst. Die An- 
nahme ist in jedem Einzelfalle erst zu beweisen.“ (Zitiert von 
Carl Mayrhofer in seiner „Sterilität:des Weibes‘ im Handbuche 
der Frauenkrankheiten von Billroth, Stuttgart Verlag von Ferdi- 
nand Enke, 1882, in welchem wir eine sehr umfassende Erläuterung 
dieses Gegenstandes, die noch heute wertvoll ist, nachlesen können.) 
Deshalb sehe ich davon ab, auf Mayrhofers Einteilung und Atio- 
logie der Sterilität näher einzugehen; sie unterscheidet eine steriiitas 
ex impotentia gestandi, ingravescendi und concipiendi, die ersteren 
im Uterus, letztere in den Ovarien begründet. 

Es ist uns jetzt die'Möglichkeit gegeben, in zweifelhaften Fällen 
diesen Beweis zu erbringen oder die Frau von dem Verdachte frei- 
zusprechen. 

Rubins Technik ist folgende: Die Untersuchung ist unter 
den strengsten aseptischen Kautelen vorzunehmen. Die Patientin 
wird entkleidet und in ein steriles Operationsgewand gehüllt, in die 
Steinschnittlage gebracht. Vagina und Zervix werden sorgfältig 
reinigt und letzterer mit einer Ringzange gefasst. Als Kanüle wird 
ein Keyes-Ultzmann mit Perforation an der Spitze und mehreren 
an den Seiten verwendet. Dass Gas neben der Kanüle durchdringt 
und aus der Zervix herausquillt, kann man dadurch verhindern, 
dass ein urethraler Gummiansatz über die Kanüle gezogen und so 
angepasst wird, dass er das os externum genau abschliesst. Das Kaliber 
der Kanüle hängt von der Grösse des Zervixkanals ab, dessen Richtung 
sowie Grösse der Uteruskavität man vorher mittels einer Sonde be- 
stimmt. Ein Manometer oder eigens konstruiertes Glas-Siphonometer, 


2] Wissenschaftliche Rundschau. 115 


welches von einem glasgeblasenen Zylinder umhüllt ist, wird mit 
dem Utzmannkatheter verbunden, nachdem man sich überzeugt hat, 
dass das Lumen der Kanüle frei ist. Letzteres geschieht dadurch, 
dass man die Kanüle in eine sterile Lösung taucht und den Durchtritt 
von Gasblasen beobachtet. Der Katheter wird dann in die Uterushöhle 
eingeführt und das Gas (Oxygen oder Kohlensäure) langsam angedreht, 
so zwar, dass es etwa 15 Sekunden braucht, um die Quecksilbersäule 
bis auf 100 mm zu erheben. Die Gasmenge kann. man am Siphonometer 
ablesen; jede Gasblase entspricht ungefähr 37 cem. 

In einer Serie von Fällen zeigte sich bei offener Tube im Durch- 
schnitt eine Druckhöhe von 118, bei geschlossenen Tuben von 176 mm 
am Manometer. Wendet man Oxygen an, so sollen nicht mehr als 
300 ccm eingeführt werden, weil Oxygen langsam resorbiert wird 
und im Übermasse Drucksymptome im rechten, oberen Quadranten des 
Abdomens hervorbringt, welche sich als Schmerzen in der rechten 
Schulter kundtun. Kohlensäure kann in grösserer Menge insuffliert 
werden, weil sie schneller resorbiert wird. 

Darauf wird die Patientin in aufrechter Stellung mit dem Fluoro- 
skop angesehen, wobei gewöhnlich das Gas sichtbar wird im rechten 
oberen Quadranten; wo es die Leber vom Zwerchfell trennt. Eine 
geringere Menge ist auch sichtbar im linken subphrenischen Raume. 

Mit zunehmender Erfahrung kann man von dem Quecksilber- 
stande am Manometer vorhersagen, ob es sich um offene oder ge- 
schlossene Tuben handelt, doch zur sicheren Diagnose ist fluoro- 
skopische Beobachtung notwendig. 

Eine Vereinfachung dieser Technik ist in der Klinik des Womans 
Hospital in Detroit nach den Angaben von Dr. H. D. Furniss von 
den Hospitalärzten Dr. H. Henderson und Dr. T. G. Amos mit 
Erfolg ausprobiert worden, wobei die Fluoroskopie überflüssig wird. 

Die Technik ist zunächst dieselbe wie beschrieben, nur füllen 
diese Autoren die Vagina mit Borsäurelösung und verbinden eine 
mit 50 cem gefüllte Spritze Kohlensäure mit dem Manomeier. Et- 
waiges Undichtsein am Os externum gibt sich durch Gasblasen in 
der Borsäurelösung leicht zu erkennen. | 

Während Rubin und Peterson bisher nur soviel haben 
sagen können, dass eine oder beide Tuben offen sind, ist es den 
Autoren, Henderson und Amos, wie sie bereits in Surgery, 
Gynekol. and Obstet. 33:567 im November 1921 berichtet haben, ge- 
lungen festzustellen, welche Tube affiziert 'war. Zu dem Zwecke aus- 
kultiert der Untersuchende das untere Abdomen, während die In- 
jektion (Insufflation) vorgenommen wird. Zunächst ist nichts zu 

ören. Dann, wenn das Gas in die Tuben eindringt, hört man auf 
der Seite, wo sich die Tube zuerst öffnet, ein kleinblasiges Rassel- 
geräusch von hohem Timbre, welches etwa Borborygmen zu ver- 
gleichen wäre. Dasselbe ist deutlich zu hören in dem Quadranten, 
welcher der sich öffnenden Tube entspricht, und ganz entfernt auf 
der anderen Seite, wenn sich nur eine Tube öffnet. Mitunter wird 
das Geräusch bei verstärktem Drucke in der Gasspritze auf beiden 
Seiten im Unterbauche hörbar; in dem Falle hat sich die andere 
Tube ebenfalls geöffnet. In einem Falle hörten die genannten Autoren 


116 Wissenschaftliche Rundschau. 3 


zunächst nur rechts ein niedriges Rasselgeräusch. Bei Erhöhung 
des Druckes wurde plötzlich links ein hoher, schriller, zischender Ton 
gehört und beide Geräusche blieben nebeneinander bestehen, bei Fort- 
setzung der Insufflation. Aus der Beobachtung zogen sie den Schluss, 
dass die rechte Tube weit offen, die linke nur stenosiert war. 

Da diese ersten Beobachtungen zunächst nicht durch Laparotomie 
oder anderweitig bestätigt wurden, wurde'der Bericht damals nur als 
„vorläufig“ veröffentlicht und auf den Wert aufmerksam gemacht, 
welchen die Methode auch für die Therapie haben. müsste. Seitdem 
ist das Verfahren auch praktisch gründlich erprobt worden. 

Artur H. Curtis, Chikago, veröffentlicht aus dem patho- 
logischen Laboratorium und der gynäkologischen Abteilung des St. 
Luke Hospitals, Chikago, in der spanischen Ausgabe des Journal 
American Med. Association, am 1. März 1923 (9:270) Beobachtungen 
bei Operation von 300 Patientinnen in den letzten zwei Jahren, wo 
makroskopisch und bei Palpation, abgesehen von leichten Adhäsionen 
nichts nachgewiesen werden konnte und die Frauen sämtlich steril 
u. waren. Oft handelte es sich nur um Narbenstenosen einer 

chleimhautentzündung, welche höchstens durch Sondierung auf dem 
Operationstische hätte nachgewiesen werden können, ein ziemlich 
grobes Verfahren. Dr. Curtis machte es sich nun zum Grundsatze 
in allen geeigneten Fällen von Laparotomie in die Tuben mittels 
einer Luerschen Spritze Luft einzublasen, was vier Indikationen 
erfüllte: Obstruktionen wurden dadurch erkennbar, welche sich auf 
andre Weise nicht entdecken liessen. Kleine Stenosen, auf diese Weise 
entdeckt, konnten mit verstärktem Drucke ausgeglichen werden. Die 
anatomischen Grenzen wahrscheinlicher makroskopischer Obstruktionen 
konnten mit grösserer Bestimmtheit festgestellt werden. Schliesslich 
ist es möglich zur Vervollständigung plastischer Operationen an den 
Tuben die Durchgängigkeit des rekonstruierten Lumens nachzuweisen. 
Es (wird dann an einer Anzahl operierter Patientinnen gezeigt, wie die 
teilweise geschlossenen Tuben gelegentlich der Operation durch In- 
sufflation durchgängig gemacht und die Patientinnen später schwanger 
wurden. Auch Fälle werden besprochen, in denen das Verfahren 
zeigte, dass Undurchgängigkeit erwiesen war und die Operation ver- 
geblich gewesen wäre. Der diagnostische und therapeutische Nutzen 
dieses Verfahrens ist damit deutlich erwiesen. 

Rongy und Rosenfeld erwähnen in einem Artikel, mitge- 
teilt in The American Journal of Obstetrics and Gynecology, im 
Mai 1922, als Gegenanzeige der Insufflation akute Infektionen der 
Vagina oder Beckenorgane. Vorsicht ist ferner geboten, wenn eine 
Patientin bei chronischen Beschwerden über Schmerzen klagt. Bei 
Herzkrankheit, besonders des Myokards, kann der Druck des Gases 
die Herztätigkeit ernstlich beeinträchtigen durch Verdrängung des 
Zwerchfells. Curtis macht in seiner Mitteilung (l. c.) darauf auf- 
merksam, dass das Verfahren darauf Bedacht nehmen muss, dass 
es nur dann angewendet werden kann, nachdem alle vorausgegangenen 
Zeichen einer etwaigen Infektion verschwunden sind, und dass die 
Kranke sich nicht kurz nachher einer venerischen Infektion aussetzt. 

Sehr interessante Ergebnisse haben die Arbeiten Murray 


Wissenschaftliche Rundschau. 117 


L. Brandts in der gynäkologischen Klinik des Mount Sinai Hospitals 
in New York gezeitigt. Er untersuchte 55 Kranke und teilt seine 
Erfahrungen in dem Journal American Medical Association mit 
(Spanische Ausgabe 9:285, 286 1. März 1923). Die Patientinnen 
waren im .Durchschnitt 27 Jahre alt und vier Jahre verheiratet ohne 
noch schwanger geworden zu sein. "In der Mehrzahl der Fälle wurde 
die Insufflation mehrere Male vorgenommen. In 28 Fällen waren 
die Tuben durchgängig, in 22 nicht. In weiteren fünf zunächst 
negativen Fällen zeigten bei Wiederholung der Probe die Tuben 
sich durchgängig. Also in 40% der Fälle primärer Sterilität erwies 
sich Undurchgängigkeit der Tuben als Konzeptionshindernis. 

In 24 der 33 Frauen, in welchen die Tuben durchgängig Be 
funden wurden, zeigten die Untersuchungen des Semen 16 mit zahl- 
reichen, beweglichen und wohlgeformten Spermatozoen. In 8 fehlten 
sie oder waren nur spärlich und wenig beweglich vorhanden !). 

Die angewandte Technik war die von Rubin angegebene mit 
Carbon dioxyd, die fluoroskopische Untersuchung folgte unmittelbar 
nach der Operation. 

Bei offenen Tuben wurde der Druck nicht über 110 mm Queck- 
silber erhöht. In einigen Fällen 'genügten 50 mm um das Gas durch- 
treten zu lassen. | 

In einigen Fällen war es notwendig, den Druck bis zu 140 
und 160 zu erhöhen. In diesen Fällen klagten die Patientinnen über 
typischen Schmerz in der rechten Schulter unmittelbar nachdem 
sie vom Untersuchungstische aufstanden oder. doch kurz nachher. Es 
ist pin positiv diagnostisches Zeichen, wenn man die Kranke beim Auf- 
sitzen auf dem Tische nach Beendigung der Untersuchung die Hand 
zur rechten Schulter erheben sieht. 

Der Schmerz kann damit gedeutet werden, dass der Druck hin- 
reichend war, um visköse Sekrete'zu dislozieren, oder eine Knickung 
der Tube auszugleichen, oder vielleicht einige feine, velamentöse 
Adhäsionen am Fimbrienende zu überwinden. Dei Wiederholung 
der Insufflation in diesen Fällen, war ein weniger hoher Druck 
nötig als in der ersten Untersuchung. 

Die gynäkologische Untersuchung der 28 Fälle in welchen die 
Tuben bei der ersten Untersuchung durchgängig waren, ergab: drei 
— negativer Befund. Neun — scharfe Anteflexion des Uterus. In 
sieben — Retroversion. In sechs — Ovarienhypertrophie. In einem 
Falle infantilen Uterus; in einem Parametritis und in einem Endo- 
zervizitis. 

In fünf Fällen, in welchen zunächst keine Durchgängigkeit fest- 
zustellen war, wurden die Tuben nachher durchgängig. Bei einer 
dieser Kranken bestand heftiger Schmerz in der Unterbauchgegend 
bei zwei Proben. Beim dritten Versuche stieg der Druck nicht über 
120 und sank auf 80 (für die andere Tube). Es wurde beim Durch- 
treten des Gases nicht über Schmerz im Abdomen geklagt, jedoch 
trat nachher der typische Schmerz in der Schulter auf. 


1) Die gebräuchliche Untersuchungsmethode ist die, dass die Frauen kurz nach 
stattgehabtem Koitus zur Klinik kommen, und das Semen direkt der Vagina ent- 
nommen wird. i 


e 


118 Wissenschaftliche Rundschau. [5 


Daraus war zu erkennen, dass in geeigneten Fällen die Methode 
therapeutisch wirksam sein muss. eitere Beobachtungen liegen 
noch nicht vor, um feststellen zu können, ob diese Patientinnen 
schwanger wurden. 

Unter den 22 negativen Fällen befanden sich 10, bei’denen die 
gynäkologische Untersuchung makroskopisch keine pathologische 
Läsion ergab, welche die Tubenokklusion erklärt hätte. 

In einem Falle, wo die Insufflation bei einem Druck von 140 
gelang, stellten sich sehr heftige abdominale Schmerzen ein und die 
Patientin musste zwei Tage das Bett hüten. Sie kehrte nach drei 
Monaten zurück ohne menstruiert zu haben und wurde drei Monate 
schwanger gefunden. 

Der Autor kommt zu folgenden Sätzen: In 400% von 55 Fällen 
primärer Sterilität wurden bei Anwendung des Rubin Verfahren 
die Fallopischen Tuben verschlossen gefunden. In 60% waren sie 
durchgängig. 

In 24 der 33 guten Fälle wurde eine Untersuchung des Sperma 
vorgenommen. 16 Männer zeigten Vollpotenz, bei 8 fand man Oligo- 
nekrospermie oder Azoospermie. Das Kohlendioxydgas ist das 
Gas der Wahl zur Insufflation der Tuben. 

Eine negative gynäkologische Untersuchung ist kein Beweis der 
Undurchgängigkeit der Tuben. 

Man soll das Rubinverfahren dreimal wiederholen, ehe man 
erklärt, die Kranke könne nicht konzipieren. 

Die Operationen an den Genitalorganen zur Ermöglichung der 
Schwangerschaft. haben keine Berechtigung, ehe man nicht die Tuben- 
durchgängigkeit festgestellt hat. Die Tubeninsufflation kann in ge 
eigneten Fällen therapeutisch verwendet werden, um okkludierte 
Tuben durchgängig zu machen. 

Dr. E. H. Pirkner, Brooklyn-New York. 


„Erfolgreiche Transplantation von Affentestikeln aut 
den Mann, mit Darstellung der histologischen Beobach- 
tungen.“ In den meisten in der Literatur berichteten Fällen lesen 
wir, dass der Pfropf entweder abgestossen wurde oder resorbiert 
worden ist. Zum Erfolge ist es aber wesentiich, dass das aufgepflanzte 
Gewebe vaskularisiert wird und als lebendes Gewebe funktioniere. 
Aus der seit Brown-Sequard (1809) angewachsenen Literatur, 
kennen wir die doppelte Aufgabe des Testikelgewebes: die Sekretion 
der tubuli seminiferi allein bestimmt für die Fekundation, und die- 
jenige der interstitiellen Drüse, deren Hormon als Geschlechtsstimu- 
lans wirkt und die Ursache des Geschlechtstriebes und der Ge- 
schlechtsmerkmale ist, jedoch ohne geschlechtliche Funktion. 

Die Möglichkeit der Verpflanzung des Zwischengewebes war 
durch zahlreiche Tierversuche bewiesen worden, entweder in dem- 
selben Individuum (autoplastisch) oder bei derselben Spezies (homo- 
plastisch) oder auf eine andere Spezies übertragen (heteroplastische 
Operation). Das Nichtgelingen der Pfropfung, entweder infolge Ab- 
stossung oder baldiger Resorption, oder mindestens Schwierigkeit der 
Vaskularisation mochte auf ungünstiger Technik, auf der Tatsache 


U. 


6) Wissenschaftliche Rundschau. 119 


der Heterogenie, der Einpflanzung in einer ungeeigneten Region, 
oder auf einer Kombination dieser Ursachen berühen. 

‚Während Voronoffs experimentelle Transplante von Tier 
auf Tier, besonders von jungen auf alte Tiere derselben Spezies 
glänzende Resultate zu verzeichnen hatten, liessen die gewünschten 
Erfolge beim Menschen im Stiche Dr. Frank G. Lydston in 
Chikago war einer der ersten, welchem es gelang Testikelgewebe 
von Knaben auf Männer zu verpflanzen und die Beweise der Vas- 
kularisation später exzidierter Teile der Pfropfung und die histo- 
logischen Befunde erklärten den klinischen Erfolg. Lydstonserster 
Bericht erschien 1914, seitdem schrieb er wiederholt über den Gegen- 
stand, zuletzt in dem Illinois Medical Journal, Juli 1922. (Chikago). 

Da menschliches Material nicht gut zu erlangen war, beschränkte 
Thorek (Chikago) sich auf die Benutzung von Testikeln einer 
Affenart, deren Blut dem menschlichen am nächsten kommt und 
hat bereits zahlreiche Erfolge mit einer von ihm als „Laternen- 
Methode“ bezeichneten Technik erreicht. Die Transplante erwiesan 
sich an mehrere Monate nach der Operation herausgeschnittenem 
Interstitialgewebe als gut vaskularisiert und mit voller Funktion. 
Es zeigte sich Rückbildung der Tubuli seminiferi, aber Proliferation 
der interstitiellen Elemente. (American Journal of clinical Medicina. 
Bd. 9. 1922.) E. H. Pirkner, Brooklyn-New York. 


Versuche der Bestimmung der Abnutzung des weib- 
lichen Organismus im Zusammenhang mit der Geburt und 
der allgemeinen Konstitution. Zur Altersbestimmung wurde die 
von Dr. Nadeschdin vorgeschlagene Methode. benutzt: Unter- 
suchung der Falten und Runzeln vor dem Tragus (nach Reis, 
bearbeitet von Nadeschdin), hinter der Ohrmuschel, auf Hals 
und Stirn, an den inneren Augenwinkeln, zwischen Nase, Ober- 
lippe und Kinn, der Farbe ‘und Elastizität der Haut von Gesicht und 
Händen, des Zustands der Zähne und anderer Merkmale der äusseren 
Abnutzung, unter Berücksichtigung der durchgemachten Krank- 
heiten und anderer Umstände, die ein schnelleres Alter bedingen 
können. Diese Merkmale der äusseren Abnutzung sind von 
Dr. Nadeschdin zu einem System ausgearbeitet und zu semioti- 
tischen Tabellen zusammengestellt worden, an Hand derer sich das 
Alter objektiv feststellen lässt. 

Im ganzen wurden untersucht 145 Fälle aus den Abteilungen für 
Wöchnerinnen, für Gynäkologie, für Hausschwangere, für puerperale 
Erkrankungen und für physische Behandlungsmethoden. Bei der 
Zusammenstellung der untersuchten Fälle ergab sich folgendes: es 
entsprachen ihrem Alter auf Grund der bei ihnen entdeckten An- 
zeichen 9%0 der Frauen; 42%0 sahen älter, 4900 jünger aus. Die 
Schwankungen zwischen Älter- und Jüngeraussehen waren für alle 
Frauen nach der einen und der anderen Richtung im Durchschnitt 
die on und entsprachen 1,7 Jahren. 

eim Ordnen des Materials nach verschiedenen Gesichtspunkten 
kam Verfasser zu folgenden Resultaten: Schwangerschaft macht die 


120 Wissenschaftliche Rundschau. [7 


Frau jung. Die Zahl der Jüngeraussehenden vergrössert sich mit 
der Anzahl der Schwangerschaften, die der Älteraussehenden dagegen 
sinkt (dies trifft allerdings nur für Frauen zu, die nicht mehr als 
6 Schwangerschaften durchgemacht haben). 






Anzahl der Schwangerschaften 


mehr als 


6 











o|lıl2|/slals 





°/o der Älteraussehenden . | 75 | 39,3 | 39,3 | 41,2 | 30 | 28 |25 44,4 
Dia der Jüngeraussehenden | 25 | 46,4 | 50 58,8 | 60 | 57,1 | 66,7 56,4 
Do der ihrem Alter ont- i 

sprechenden . . . . 0 | 14,8 | 10,7 0 10 | 14,8 8,3 0 


f 


Bei der Bestimmung des Verwelkungsgrades fand) Verfasser, dass 
bei den Älteraussehenden die Neigung zum Altern geringer als 
mittelmässig war, und dass umgekehrt bei den Jüngeraussehenden 
mit dem Steigen der Schwangerschaftsanzahl auch der Grad der 
Verjüngung ein grösserer ist. (Die mittlere Schwankung nach den 
Richtungen von Ältern und Verjüngung = 1,7 Jahren.) 





Keine 
Schwan- 


1 | 2 8 d 
gerschaft 











Die mittlere Jahreszahl des | | 

Alterns auf 1 Frau . | 17 [15 |16 |16 115 |08 |17} 20 
Die mittlere Jahreszahl der | 

Verjüngung auf 1 Frau’ 1,1 | 15 | 1,2 | 1,9 | 2,1 | 25 | 1,4 3,0 


Nach einigen wenigen Beobachtungen sieht übrigens die Frau während 
der Schwangerschaft (besonders im 9. Monat) gealtert aus. Des- 
gleichen sieht in vorgerückten Jahren die Multipara älter aus als 
sie ist; dies liesse sich jedoch vielleicht durch die Kinderfürsorge 
und durch die vielen anderen erschöpfenden Faktoren erklären, denen 
die Mutter einer grossen Familie stets ausgesetzt ist. Die Kombination 
von Aborten mit Geburten soll die Verwelkung beschleunigen, 
während das prozentuale Verhältnis der Jüngeraussehenden dabei 
ungefähr das gleiche bleibt. Der Grad des Alterns übersteigt bei 
Frauen, die abortiert haben, den Durchschnitt. Verfasser versucht 
nun, sich auf den Grad der Verwelkung des weiblichen Organismus 
infolge Schwangerschaft, Geburt und Aborte stützend, das allgemeine 
Abwelken mit den durch den Geburtsakt bedingten lokalen Ver- 
änderungen (an Damm und Bauchdecken) in Zusammenhang zu 
bringen. Es stellte sich dabei heraus, dass unter den Frauen mit 
Deszensus und partiellem Scheidenvorfall sich eine grössere Zahl 
Jüngeraussehender befand (72,200). Das prozentuelle Verhältnis der 
jünger aussehenden Frauen sinkt bei denjenigen, die Geburten in 
höherem Alter durchgemacht haben. Mit vorgerückterem Alter ver- 


8] Wissenschaftliche Rundschau, 121 


ringert sich auch die Zahl der Frauen mit intaktem Damm im Ver- 
gleich zur Zahl derjenigen, die an einer Insuffizienz des Perineums 
leiden. Je mehr Geburten — desto mehr leidet der Damm: auf eine 
Frau mit genügendem Damm kamen im Durchschnitt 2,1 Geburten, 
— mit beginnender Scheidensenkung 2,4 Geburten, — mit voll- - 
ständigem Scheidenvorfall 3,2 Geburten, — und mit vollem Vor- 
fall 5,9 Geburten. Zwischen allgemeiner Konstitution und Damm- 
zustand bestand folgender Zusammenhang: am seltensten leidet der 
Damm (39,3% unter dem Durchschnitt) bei Frauen adipöser Kon- 
stitution (entsprechend dem ruhigeren Temperament), häufiger als 
Mittel bei Frauen nervöser (48,4%0) und glandulärer (48,5%) und 
am häufigsten bei denen muskulärer (66,7 ee Konstitution. Was 
die Nationalität. anbetrifft, so findet sich die Insuffizäenz öfter bei 
Russinnen (42,50% häufiger als Mittel), bei Frauen anderer Natio- 
nalitäten —40%. Bezüglich der Haarfarbe leidet der Damm am 
häufigsten bei Brünetten (66,7%), seltener bei Dunkelblonden (41,200) 
und noch seltener bei Blondinen (37,5%). Am seltensten trifft man 
einen ungenügenden Damm bei physisch arbeitenden Frauen (28,6%), 
bei Frauen aus intelligenteren Klassen dagegen bedeutend häufiger 
als der mittlere Durchschnitt beträgt (54,9%). Die Damminsuffizienz 
sowie die Bauchdeckenausdehnung nach Geburten 'wurde meistenteils 
bei denjenigen Frauen beobachtet, die jünger aussahen als sie tat- 
sächlich waren, und zwar je jugendlicher sie aussahen, desto aus: 
gesprochener waren diese Veränderungen. Die Schwangerschafts- 
striae sind besonders deutlich bei älter aussehenden Frauen, wogegen 
sich mässig ausgeprägte Narben häufiger bei den jünger aus- 
sehenden finden. Bei diesen ist auch öfter eine geringere Resistenz 
der Bauchdecken anzutreffen. 

Die lokalen Merkmale der Abnutzung des weiblichen Organismus 
verhalten sich zueinander folgendermassen : einen genügenden Damm 
beobachtete man öfter als einen ungenügenden bei denjenigen Frauen 
bei denen keine Striae vorhanden waren, und umgekehrt kam 
der ungenügende Damm desto öfter vor, je mehr die Striae ausge- 
sprochen waren. Zwischen Perineuminsuffizienz, Varizes, Dehnung 
der Bauchdecken und Abschwächung des Tonus der Bauchmuskeln 
liess sich ein direkter Zusammenhang nachweisen, und zwar traf 
man die Insuffizienz des Perineums häufiger bei Frauen mit Varizes 
oder mit Dehnung der Bauchwand und Schlaffheit der Bauchmuskeln. 

Dr. Bublitschenko, St. Petersburg. 


Das Frauenproblem in kommunistischen Gemeinwesen 
älterer und neuerer Zeit. Lange bevor Plato als Theoretiker den 
idealen Staat wenigstens für die zur Herrschaft berufene Klasse 
auf kommunistischer Grundlage errichten wollte, hatte Lykurg an 
seinen Spartanern die praktische Durchführung mancher von jenem 
aufgestellten Forderungen erprobt. In dem auf seiner Gesetzgebung 
fussenden Gemeinwesen, dem er einzig durch die Macht der Er. 
ziehung die mit den erforderlichen Voraussetzun ausgestattete 
Bürgerschaft zu geben gedachte, war — so berichtet Plutarch — 


122 Wissenschaftliche Rundschau, [9 


zunächst mittels ausserordentlicher Massnahmen der Ungleichheit 
des Landbesitzes entgegengetreten, sodann durch nicht minder ziel- 
bewusst erdachte Anordnungen der Lust an jeglicher Zurschau- 
stellung von beweglicher Habe vorgebeugt worden, so dass der An- 
reiz zum Erwerb von Gütern, die keinem lebensnotwendigen Bedarf 
dienten, fortfiel.e. Als wichtig vor allem anderen wurde erachtet, 
dass die für eine denkbar anspruchslose und entbehrungsreiche 
Lebensweise bestimmte spartanische. Bevölkerung mit kräftigem, 
widerstandsfähigem Körper ausgestattet zur Welt gebracht werde. 
Sollte aber auf die physische Ertüchtigung der künftigen Mütter 
grosse Sorgfalt verwendet werden, so musste die Erziehung der 
Mädchen und Jungfrauen für nicht weniger belangreich gelten, als 
die des männlichen Geschlechtes. Durch Übungen im Laufen, Ringen, 
Werfen der Wurfscheiben härtete man die weibliche Jugend ab, damit 
die in einem starken Körper erzeugte Frucht kraftvoll aufkeimen 
und gedeihen, dieser selbst aberıdie zur Geburt erforderlichen Kräfte 
erlangen und die Schmerzen leicht und ohne Gefahr überstehen 
möchte. Zur Ausrottung von Verweichlichung, Verzärtelung und 
anderen weibischen Eigenschaften wurden die Mädchen ferner daran 
gewöhnt, gleich den Knaben den feierlichen Aufzügen nackt beizu- 
wohnen und so an gewissen Festen in Gegenwart der Jünglinge 
zu tanzen und zu singen, eine Einrichtung, welche nach der Versiche- 
rung unseres Gewährsmannes keineswegs der Schamhaftigkeit Ab- 
bruch getan, wohl aber innerhalb der Jugend einen Wetteifer in 
bezug auf gute Leibesbeschaffenheit erzeugt haben soll. Den zu kraft- 
voller Schönheit und männlicher Gesinnung erzogenen Frauen kann 
im spartanischen Volksleben keine untergeordnete Stellung ange- 
wiesen worden sein; auch wird es ihnen an Selbstgefühl und geistiger 
Regsamkeit nicht gefehlt haben, zu deren Betätigung genügende 
Gelegenheit geboten war, wenn die Männer ins Feld zogen und ihnen 
das Regiment im Hause überliessen. Dafür zeugt sowohl jene miss- 
billigende Äusserung des Aristoteles über der spartanischen Weiber 
angemasste Herrschaft und ausgelassene Freiheit, sowie die ihnen 
von den Männern gezollte Verehrung, als auch jene von Plutarch 
erzählte Anekdote, wonach auf die Ausserung: „ihr Lakedämonie- 
rinnen seid die einzigen Frauen, die über ihre Männer herrschen“, 
die also angeredete Spartanerin zur Antwort gab: Ja, wir sind auch 
die einzigen, die Männer zur Welt bringen. Die Verheiratung der 
Spartaner, die den Männern vom 30. Lebensjahre an gestattet war, 
und zu den Bürgerpflichten zählte — Junggesellen unterlagen einer 
beschimptenden Strafe und entbehrten ausserdem aller Ehrerbietung 
und Hochachtung, die ältere Männer sonst von jüngeren fordern 
durften — geschah durch Brautraub; 'die Vollziehung der Ehe sowie 
die späteren Zusammenkünfte der Gatten fanden vorschriftsmässig 
unter dem Schleier der Heimlichkeit statt, die einerseits Enthaltsam- 
keit und Mässigung bewirken, andererseits durch ihren, besonderen 
Reiz die Fruchtbarkeit befördern sollte. Da die Verbindung nicht 
nur den Hausgenossen der Braut, sondern auch den Kameraden des 
Ehemannes verborgen bleiben musste, war an ein wirkliches Gemein- 
schaftsleben des Paares nicht zu denken, die Beziehungen blieben 


10) Wissenschaftliche Rundschau. 123 


offenbar lediglich geschlechtlicher Natur. Ehe und Häuslichkeit 
waren für den Mann schon deshalb getrennte Begriffe, weil er zur 
Teilnahme an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten der Männer ver- 
rflichtet blieb, zu welchen jeder Bürger seine bestimmte Beisteuer 
liefern musste. Eine Gewöhnung an das häusliche Leben war ihm 
auch gar nicht erst anerzogen, der Knabe vielmehr schon vom sieben- 
ten Lebensjahre an bis zur Heerespflichtigkeit der staatlichen Er- 
ziehungsanstalt überwiesen worden. Somit erschöpften sich die An- 
sprüche des Mannes an seine Gattin darin, dass sie die Mutter 
seiner Kinder wurde. Für die Entscheidung darüber, ob diese übe.- 
haupt aufzuziehen seien, war bekanntlich ihre körperliche Tauglich- 
keit ausschlaggebend; kein Wunder, dass auf sie besonderer Wert 
gelegt wurde, der Vater sie unter Umständen sogar höher achtete, 
als die Echtheit der Abstammung aus seinem eigenen Blute. Wenig- 
stens galt es dem Spartaner, entsprechend der Lehre Lykurgs, dass 
der Nachwuchs möglichst. von den besten Volksgenossen, nicht aber 
unterschiedslos von jedem Bürger erzeugt werden sollte, als durchaus 
erlaubt und billigenswert, einen Stellvertreter zum Verkehr mit seiner 
Ehefrau zuzulassen, und das von ihm stammende Kind als sein 
eigenes anzuerkennen. Dieser Brauch bestand zu einer Zeit, da man 
den Ehebruch für ein unerhörtes, in Sparta übrigens unbekanntes 
Laster hielt, mag aber doch wohl mit seiner Durchbrechung des Be- 
griffs einer ausschliesslichen geschlechtlichen Zusammengehörigkeit 
der Ehegatten zur Verwilderung der Sitten beigetragen haben, und 
für die Ausschweifung mitverantwortlich sein, die später unter den 
spartanischen Frauen eingerissen sein soll. Es lässt sich wenigstens 
recht gut denken, dass ein derartiges Verfügungsrecht des Ehemannes 
über ihren Körper die nach Lykurgs Vorschriften zu männlicher 
Gesinnung und Tüchtigkeit erzogene Frau dazu gebracht habe, dieses 
Recht in erster Reihe einmal sich selbst beizumessen, eine Folgerung, 
die um so sicherer zur Auflösung der Einehe führen musste, als diese 
eben keinerlei Befestigung durch Ausbau des Familienlebens erhalten 
hatte. a 


Ausdrücklicher Verzicht auf Ehe und Familienleben bildete auch 
die Grundlage für den Kommunismus verschiedener religiöser Sekten 
sowohl aus vorchristlicher Zeit als aus derjenigen des Urchristentums. 
Er war nicht durchweg mit asketischen Forderungen verbunden, wie 
beispielsweise bei den Essäern, einem am Judentume festhaltenden 
Geheimbunde, dessen in Gütergemeinschaft lebende Mitglieder ver- 
streut in Stadt und Land wohnten und sich lediglich durch neu- 
aufgenommene Erwachsene oder durch Adoption von Kindern ver- 
mehrten ; in anderen Fällen zog eine lebensfreudigere Weltanschan- 
ung die gleiche Folgerung und führte alsdann, wie bei den Adamiten, 
einer im 2. und 3. Jahrhundert in Nordafrika aufgetretenen christ- 
lichen Sekte, zur offenkundigen Weibergemeinschaft. 

Es ist freilich, um den richtigen Massstab für die dadurch ge- 
schaffenen Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu gewinnen, 
notwendig, sich von Fall zu Fall zu vergegenwärtirren, welche Formen 
der Eheschliessung, beziehungsweise des Geschlechtsverkehrs vorher 
in den von der Neuregelung betroffenen Gemeinwesen geherrscht 

Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX H 2. d 


124 Wissenschaftliche Rundschau. [11] 


hatten. Beispielsweise richtete Mazdak, ein im 5. Jahrhundert nach 
Christi Geburt unter dem Sassanidenkönige Kawad aufgetretener 
Reformator, der im neupersischen Reiche für Kommunismus und 
Weibergemeinschaft eingetreten sein soll, seine Lehre, dass Eigen- 
tum und Ehe als menschliche Einrichtungen dem Willen der Gott- 
heit nicht entsprächen, an eine Bevölkerung, nach deren Sitten 
die der Familie abgekaufte Frau Eigentum des Mannes wurde, während 
der nicht zum Kaufobjekt gewordenen freier geschlechtiicher Verkehr 
gestattet war. 

Der im Christentume wurzelnde Kommunismus späterer Zeit 
hat sich stets auf Kap. 2. 44 der Apostelgeschichte St. Lucä be- 
rufen, wo geschrieben steht: alle aber, die gläubig waren geworden, 
waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Offenbar zu Un- 
recht; denn die Verwirklichung einer derartigen auf den Konsum 
gerichteten wirtschaftlichen Gemeinschaft von Anhängern gleichen 
Bekenntnisses bildeten im Laufe der späteren Entwicklung erst die 
Klöster, während bei den ersten Christen anscheinend selbst das 
Merkmal der gemeinsamen täglichen Mahlzeiten gefehlt hat, und nur 
eine Verteilung des Überflusses an privatem Besitz stattfand. Auch 
von einer Neuordnung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern 
kann keine Rede gewesen sein, vielmehr deutet die Tatsache einer 
besonderen Witwenfürsorge seitens der Gemeinde darauf hin, dass 
man die Ehe auch als wirtschaftliche Gemeinschaft durchaus aner- 
kannte und in dem Verlust des Ehemannes zugleich denjenigen des 
Familienvaters und Ernährers sah. Es bestand also gewissermassen 
ein Kommunismus der Verantwortlichkeit für Notleidende, und er 
wurde in solcher Weise betätigt, dass es deren in der Gemeinde 
keine gab. — Im Mittelalter beherrschte die Vorstellung einer 
bevorstehenden Weltherrschaft der Gläubigen, die sich mehr oder 
weniger intensiv mit der Erwartung eines Schlaraffenlebens verband, 
die christlichen Sektierer und beeinflusste den Aufbau ihres auf 
dem Ideale klösterlicher Gemeinschaft fussenden Zusammenlebens, 
wie es sich in den verschiedensten Abwandlungen bei Katharern, 
Waldensern, Patarenern, Begharden, Libertinern, Brüdern und 
Schwestern vom freien Geiste ausbildete. Man kann wohl sagen, 
dass dabei alle Möglichkeiten geschlechtlichen Zusammenlebens von 
der völligen Enthaltsamkeit bis zur schrankenlosen Freiheit der 
Hingabe aller an alle erschöpft worden sind, wenn auch die radi- 
kalsten Elemente dieser Sekten stets auf den Widerstand der Mehr- 
heit ihrer Anhänger stiessen, und bei gänzlicher Abspaltung ihr 
Zusammenhang nur von kurzem Bestande war. Weltliche Gemein- 
wirtschaft aber, wie sie bisher nur im Bereich der Gedanken und 
Wünsche aufgebaut worden war, gelangte zu vorübergehender Ver- 
wirklichung erst, als um die Reformationszeit. die kommunistischen 
Regungen der Zeitgenossen neben ihrer religiösen Verwurzelung 
auch aus philosophischen, sozialpolitischen und wirtscha’tlichen Be- 
gründungen Nahrung erhielten. Als das klassische Beispiel eines 
mit allen dabei unausbleiblichen Nebenerscheinungen verbundenen 
Versuchs, die Utopie des Kommunismus in «die Tat. umzusetzen, gilt 
von jeher die Herrschaft des „Königs von Zion“ Johann von Leyden, 


12] Wissenschaftliche Rundschau. 125 


die dieser als Wanderprophet und Führer der Wiedertäufer im Jahre 
1534 zu Münster sich angemasst hatte. Man weiss freilich, dass die 
Berichte über die tatsächlich durch gewaltsame Neuordnung des Ge- 
meinwesens dort hervorgerufenen Zustände mit Vorsicht zu benutzen 
sind, da sie durchweg von Zeitgenossen stammen, welche der Gegen- 
partei jener religiösen Bewegung angehörten. Immerhin erscheint 
es glaubwürdig genug, dass die Verordnung des Johann von. Leyden, 
„ein Mann solle nicht mehr an ein Weib gebunden sein, sondern 
möge soviel Weiber wie er wolle zur Ehe nehmen“, grosse Ver- 
wirrung innerhalb der Bevölkerung angerichtet und zu Ehestreitig- 
keiten schlimmster Art geführt habe. Es lässt sich auch wohl 
denken, dass die neue Freiheit von beiden Geschlechtern schnell genu 

missbraucht und im Laufe der Zeit bis zur völligen Zügellosigkeit 
ausgebeutet worden ist, wenn auch der Beweggrund des „Propheten“ 
ein verständiger, der eigentümlichen Lage der Bevölkerung ent- 
sprungener gewesen sein mag: die Gesetzmässigkeit der Vielehe 
sollte eben in der vom Feinde belagerten infolge des männer- 
mordenden Krieges an einem Überschuss weiblicher Insassen kranken- 
den Stadt die Ausartung der geschlechtlichen Beziehungen ver- 
hüten und damit jener Verwilderung der Sitten vorbeugen, die not- 
gedrungen zur Weibergemeinschaft schlechtweg geführt hätte. Di: 
strengen Strafen, die man auf Ehebruch und Verführung einer 
Jungfrau gesetzt hatte, bedurften einer solchen Ergänzung, wenn 
zu Münster unter den von Monat zu Monat schwieriger sich ge- 
staltenden Verhältnissen die Ordnung gewahrt werden sollte An- 
geblich stand es übrigens den Frauen zu, sich ihre Männer, Vormünder 
oder Schützer selbst zu wählen, wodurch der ökonomische Gedanke 
des Gesetzgebers hinreichend beleuchtet würde. Immerhin —- bei 
allem Verständnis für diese Kriegsmassnahme wird man annehmen 
dürfen, dass ihre Auslegung und Durchführung allmählich von den 
lauteren Beweggründen des Gesetzgebers nur noch wenig erkennen 
liess. Weiss man doch, dass auch unter glücklicheren Bedingungen 
die Lehren der Wiedertäufer, selbst wo sie von der Vielweiberei 
absahen, genug Verwirrung in die Ehen ihrer Anhänger trugen, 
indem sie deren Lösbarkeit durch nachträgliche Zweifel an ihrer 
Rechtmässigkeit Vorschub leisteten, das eheliche Zusammengehörig- 
keitsgefühl bei den Männern durch Hinweis auf das Beispiel der 
Apostel lockerten, den Frauen aber, die mit nicht wiedergetauften 
Männern verheiratet waren, Gewissensskrupel einflössten oder ihnen 
die Lehre von der geistigen Ehe zwischen Wiedergetauften in un- 
reinem Sinne auslegten. — Mystische Vorstellungen von der Ehe 
verbreitete auch Thomas Münzer, der übrigens in seiner kleinen 
kommunistischen Gemeinde zu Mühlhausen niemals Vielweiberei oder 
ähnliche Neuerungen befürwortet hat, dem Ehegatten jedoch — nach 
Luthers Aussage — nur dann ein Anrecht auf die geschlechtliche 
Gemeinschaft mit seiner Frau zubilligen wollte, wenn ihm durch 
göttliche Eingebung oder Offenbarung zuvor die Gewissheit ge- 
worden sei, dass er mit ihr einen heiligen Sohn oder eine solche 
Tochter zeugen werde. — Den extremen Kommunisten unter den 
Täufern liess anscheinend die Gegnerschaft zur katholischen Kirche 


9* 


126 Wissenschaftliche Rundschau. [13 


und zum Mönchtum keine Wahl zwischen den beiden gebotenen Mög- 
lichkeiten, das Frauenproblem zu lösen. Da sie das Zölibat verwarfen, 
Ehe und Familienleben abschaffen wollten, mussten sie sich zur 
Weibergemeinschaft bekennen, wie es bei den Züricher Sektierern 
geschah und besonders bei den Brüdern und Schwestern des Freien 
Geistes, die auch in Böhmen Eingang gefunden hatten. Dass man diese 
Freiheit nicht mit Zügellosigkeit gleichsetzen wollte, lässt sich aus 
einschränkenden Befugnissen erkennen, die dem Vorsteher zustanden. 


Zu denjenigen Sekten, die Kommunismus und Einehe zu ver- 
binden wussten, gehören die Böhmischen oder Mährischen Brüder, 
Nachfolger der Taboriten, deren Mehrzahl bei allem Radikalismus 
in: bezug auf gemeinwirtschaftliche Forderungen die Weibergemein- 
schaft verworfen hatte. Freilich blieb bei der Ve erfassung ihrer Ge 
meinden wenig Raum für wirkliche Gemeinschaft der Ehegatten oder 

gar für ein Familienleben. Auch galt den Mährischen Brüdera de: 
ehelose Stand als der heiligere. Die in ihm verharrten, wohnten ge- 
trennt in Brüder- und Schwesterhäusern, durch gemeinsame Arbeit 
vereint. Die Ehen wurden ohne individuelle Neigung auf Anord- 
nung der Gemeindevorsteher geschlossen und dienten ausschliess- 
lich der Fortpflanzung. Haushaltung und Kindererziehung waren 
Aufgaben der Gemeinschaft; nur in den ersten beiden Lebensjahren 
verblieb das Kind der Mutter. Die Mitwirkung der Frauen bei der 
Jugenderzichung war aber deswegen’ nicht geringer, nur widmeten 
sie ihre Kräfte nicht den eigenen Kindern, "sondern dem gesamten 
Nachwuchs der Gemeinde. Übrigens auch demjenigen Anders- 
gläubiger, denn die Schulen der mährischen Täufer genossen eines 
guten Rus auch scheinen die wiedertäuferischen Frauen in Mähren 
als besonders gute Hebammen, Säugammen und Kindswärterinnen 
gegolten zu haben, deren Dienste man ausserhalb ihrer Gemeinde 
gleichfalls gern in Anspruch nahm. Innerhalb derselben lag ei 
weiblichen Senioren ob, für Witwen, Waisen und Kranke zu sorgen, 
und durch ihre Anwesenheit bei den Hochzeiten Anstand und gute 
Sitten zu wahren. Das grösstenteils auf Traditionen der Böhmischen 
Brüder beruhende Gemeinschaftsleben der Herrnhuter Gemeinde hat 
dann den Frauen. eine ähnliche Stellung angewiesen; wenigstens 
weist das Bild, das Frau von Ntaël nach einem Besuch in Dinten- 
dorf bei Erfurt von dem Leben der dortigen Gemeinde entwarf, 
ganz die nämlichen charakteristischen Züge auf. Hervorgehobe. 
wird hier noch die ausserordeytliche Sauberkeit der Strassen und 
Häuser, dio gleichartire Tracht der Frauen, und die Sitte, durch die 
Farbe eines um den Kopf geschlungenen Bandes Verheiratete, Jung 
frauen und Wittwen voneinander zu unterscheiden. Bewirbt sich 
ein Mann um ein Mädchen, so meldet er es der Vorsteherin über Juns 
frauen und Witwen; die Entscheidung wird dadurch herbeireführt, 
dass man in der Kirche das Los zieht, um zu erfahren, ob seine 
Wahl die richtige ist. Gleichfalls nach dem Vorbilde der Mährische« 
Wiedertäufer sollen die Perfektionisten oder Bibelkommunisten ihr 
Gemeinschaftsleben eingerichtet haben, das sie vor etwa 90 Jahren 
am Oneidaflusse im Staate New York besannen. In dieser Gemeinde, 
die übrigens nie mehr als 300 Mitglieder umfasst hat, scheinen jedoch 


14] Wissenschaftliche Rundschau. 127 


später moderne Rassezüchtungsgedanken auf die Regelung der 
sexuellen Probleme eingewirkt zu haben; ihnen zuliebe wurde die 
Paarung älterer Angehörigen des einen Geschlechtes mit jüngeren 
des anderen begünstigt, vermutlich auch das Band der Einehe ge- 
lockert. Der Verzicht auf den Kommunismus ist im Jahre 1879 
erfolgt. 

Unverfälschte Bewahrung der mährischen Traditionen bleibt. 
dagegen das Kennzeichen der in Süd-Dakota lebenden Huterischen 
Brüderschaften, deren Mitglieder nach Robert Liefmanns Schilderung 
noch heute in ihren Bruderhöfen oder Haushaben gemeinsam wohnen, 
— Familie ihre besondere Schlafstube zuweisen, aber sonst alle 
täumlichkeiten gemeinsam benutzen. In der Kindsmutterstube, die 
jede Frau vor der Entbindung bezieht, kommen die Kinder zur Welt: 
sie werden mit 21/, Jahren der mütterlichen Obhut entzogen und der 
sogenannten „kleinen Schule“ überwiesen, einer Art Kindergarten, 
den die Huterischen schon seit über 300 Jahren besitzen. Hier 
werden sie von Schulschwestern und Schulmüttern behütet, die die 
Gemeinde mit diesem Amte betraut; abends gibt man sie den Eltern 
zurück; mit sechs Jahren beginnt der pflichtgemässe Besuch der 
grossen Schule. Einige der Huterischen Gemeinden, die im Welt- 
kriege nach Kanada ausgewandert sind, haben dort wiederum 4 
Bruderhöfe errichtet, offenbar also auch dort ihre seit Jahrhunderten 
bewährten Lebensformen beibehalten. Nicht ganz so ausgesprochen 
wie bei ihnen herrscht der Kommunismus in der grössten auf seinen 
Grundsätzen fussenden Gemeinde Amerikas, der 1843 gegründeten 
Amanagemeinde Hier hat jede Familie ihr Haus für sich, das 
freilich der Gemeinde gehört, und jeder Teil einer solchen seinen 
eigenen Wohnraum ; der Hausrat ist Privateigentum. Doch erstreckt 
sich die Abgeschlossenheit des Familienlebens nicht auf Bereitung 
und Genuss der Mahlzeiten, die vielmehr gemeinsam in den eigens 
dazu vorgesehenen Küchenhäusern verzehrt werden. In jedem Dorfe 
gibt es deren 4—16; jüngere Frauen stellen darin unter Aufsicht 
einer älteren die Mahlzeiten her, die gut und reichlich ausfallen ; 
sio besorgen auch den Gemüserarten, der sich neben jedem Küchen. 
hause befindet. Bei den Mahlzeiten wie beim Gottesdienste sitzen 
die Mitglieder der Gemeinde nach Geschlechtern getrennt. Den 
Frauen, die sowohl im landwirtschaftlichen 'Betriebe wie in Fabriken 
nur leichte Arbeit zu verrichten haben, ist grösste Einfachheit der 
Kleidung vorgeschrieben, und kein Schmuck zu tragen erlaubt. Ein 
schwarzes Kopftuch verhüllt ihr Haar. Dem religiösen Charakter des 
Gemeinschaftslebens entspricht auch die Auffassung, dass Ehelosigkeit 
gottgefälliger sei als eheliches Leben, ohne dass jedoch ein Ehe- 
verbot besteht. Nur dürfen Männer nicht vor dem 24. Jahre hei- 
raten und müssen nach Bekanntgabe ihres Fntschlusses, in die 
Ehe zu treten, mit seiner Ausführung ein Jahr warten. Die Ehe mit 
einem Niehtmitgliede der Gemeinde bewirkt zeitweiligen Ausschluss. 
— Ehelosigkeit ist dagegen bisher unumstösslicher Grundsatz der 
von Angehörigen der Shakersckte gegründeten Gemeinden, dio gleich- 
falls auf eine langjährige Entwicklung zurückblicken und sich im 
Gegensatze zu so vielen anderen, in der crsten Hälfte des vorigen 


ex 


128 Wissenschaftliche Rundschau. [15 


Jahrhunderts entstandenen bis zur Gegenwart als lebensfähig er- 
wiesen haben. Ihre Ablehnung der Ehe wird teilweise religiös 
begründet, teilweise durch die Behauptung gerechtfertigt, nur so 
seien die Mitglieder der Sekte von Sonderinteressen, wie sie d.e 
eigene Familie bedingt, freizuhalten und den Gemeinden die innere 
Harmonie zu bewahren ; eine Behauptung, die wie wir gesehen haben 
durch das lebendige Beispiel der Huterischen Bruderschaften wider- 
legt wird. Denn diese Gemeinden, die mit kurzen Unterbrechungen 
seit nunmehr 400 Jahren einen vollkommenen Kommunismus durch- 
führt haben, die einzigen in der Welt, in denen der kommunistische 
Gedanke so tief verwurzelt gewesen ist, dass ihre Mitglieder nach 
Aufgabe der Gemeinschaft wieder zu ihr zurückgekehrt sind und 
sich dabei besser befunden haben, als vordem, wussten ihn von 
jeher mit der Einehe zu verbinden; sie blieben daher — trotz ihrer 
Neigung zur asketischen Weltanschauung — nicht wie die Shakers 
darauf angewiesen, lediglich durch die Erziehungsarbeit an ihnen 
anvertrauten Kindern Aussenstehender für die notwendige Ergänzung 
ihres Mitgliederbestandes zu sorgen. Ihre,Existenz, deren Zukunft 
gesicherter erscheint, als die der letztgenannten Gemeinden, liefert 
zwar keinerlei Beweis für die Durchführbarkeit des Kommunismus in 
grossem Massstabe und an einer Bevölkerung, der das starke Band ge- 
meinsamen religiösen Bekenntnisses und einheitlicher Weltanschauung 
fehlt, wohl aber dafür, dass jener, wo er überhaupt lebensfähig ist, 
keineswegs die Verneinung des geschlechtlichen Lebens oder seine 
in. Zügellosigkeit ausartende Bejahung unter Aufhebung der Ehe 
zur Voraussetzung haben muss, vielmehr mit der Einehe sehr wohl 
vereinbar ist. Ob er auch ohne diese dauerhafte Zustände innerhalb 
eines Gemeinwesens verbürgen könnte, ist eine Frage, für deren 
Beantwortung bisher keinerlei praktische Erfahrungen vorliegen. 
Denn auch jener im 17. Jahrhundert zu Paraguay in 31 von 
Indianern bewohnten Niederlassungen organisierte Jesuitenstaat, 
dessen Lebensdauer sich auf über 150 Jahre erstreckte und wohl 
gleichfalls als ein erfolgreiches, freilich auf besonderen, ungewöhn- 
lichen Voraussetzungen beruhendes kommunistisches Experiment 
gelten darf, hatte die Einehe zur Grundlage und machte sie den 
Eingeborenen nach vollendetem 17. beziehungsweise 15. Lebensjahre 
zur Pflicht. Der Staat lieferte jedem Paare die notwendige Aus- 
staftung und ein Stück Land; die den Massen geistig weit überlegene 
kleine Schicht ihrer Beherrscher, der spanischen Jesuiten, überwachte 
Erziehung und häusliches Leben — offenbar zur Zufriedenheit der 
Beherrschten, die, als man sie von ihrer Obrigkeit „befreit“ hatte, 
um Rückkehr der ausgewiesenen Jesuiten baten. Deren Versuch eines 
autoritären Kommunismus ist das grösste bisher durchgeführte kom- 
munistische Experiment, das die Weltgeschichte kennt — wenn man 
vom russischen Bolschewismus absicht, der beiläufig gesagt die Stel- 
lung der Frau nicht wesentlich" beeinflusst zu haben scheint; die 
Bilanz der ungeheuerlichen seelischen und körperlichen Leiden, die 
er ihr zugefügt hat, ist freilich um so schwerer zu ziehen, weil sich 
diese an die durch die langen Kriegsjahre verursachten unmittelbar 
anschliessen. Margarete Weinberg, Berlin. 








HI. Kritiken. 


Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an 
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden. 


R. Schroeder: Lehrbuch der Gynäkologie. Für Studierende und Ärzte. 
Mit 324 teils farbigen Abbildungen im Text und $ farbigen Tafeln. Verlag 

C. F. W. Vogel, Leipzig 1922. 

Als ich in Band VIII, Heft 1, Seite 54 und 55 dieses Archivs das altbewährte 
Handbuch der Frauenkrankheiten von Karl Schroeder-Hofmeier be- 
sprach, welches ein halbes Jahrhundert Gynäkologie umspannt, da habe ich die 
gegenwärtige Epoche ‘der Gynäkologie als die biologisch-soziologische bezeichnet 
‚und gesagt, dass — neben allen Vorzügen des Hofmeierschen Handbuches — 
doch die Abendröte der abgelaufenen Periode, der chirurgisch-lokalistischen, 
noch zu stark in Farben stehe und die Morgenröte der neuen Zeit heller leuchten 
könnte. Dmals habe ich nicht wissen können, dass das gynäkologische Lehrbuch, 
welches diese Forderung erfüllte, schon geschrieben, wenn auch noch nicht 
erschienen war. Das vorliegende Buch des jungen Kieler Ordinarius Robert 
Schroeder weicht in Stoffeinteilung, Stoffanordnung, Auffassung und 
Bearbeitung von den bisherigen, fast zu Schemen gewordenen Lehrbüchern ab. 
Und zwar so grundlegend, dass der eine Teil der oben gestellten Forderung, 
die biologische Betrachtungsweise, als erfüllt bezeichnet werden darf. Meister- 
haft sind die „normale Physiologie des Genitale“ und die Anomalien des 
menstruellen Zyklus dargestellt. Wer wäre auch berufener dazu gewesen als 
gerade dieser Autor, der an der Neuorientierung in der Funktion der Genital- 
organe hervorragend beteiligt ist. Aber doch mit einer Einschränkung. So vor- 
züglich und kompendiös die Störungen der endokrinen Drüsen beschrieben 
sind, so scheinen mir doch die klinischen Krankheitsbilder zu sehr durch die 
Brille dos Gynäkologen gesehen oder besser zu sehr nur mit dem Blick auf die 
Genitalien beschrieben. Ich vermute, dass das absichtlich geschehen ist, viel- 
leicht deswegen, weil es sich um ein Lehrbuch der Gymäkologie handelt. 
Dennoch aber glaube ich, dass das nicht richtig ist. Diese auf endokrinen 
Störungen beruhenden klinischen Bilder sind Konstitutionstypen oder, wenn 
man will, Konstitutionsanomalien, welche, soweit sie genotypischer Art sind. 
unter dem Gesichtswinkel von Vererbung und Auslese, soweit sie erworben sind, 
unter dem der Konstitutionspathologie betrachtet werden müssen. Da wäre also 
eine eingehendere allgemeine klinische Würdigung am Platze gewesen, welche deut- 
lich zu verstehen gibt, dass die genitalen Befunde eben nur Teilerscheinungen 
von Allgemeinzuständen sind und keine lokalen Störungen sui generis. Da 
hätte deutlicher und energischer gesagt werden müssen, dass es sich nicht 
um gynäkologische Krankheitsbilder handelt. Da hätte der Schritt vom Lokalis- 
mus zum Konstitutionalisnus und Personalismus (Kraus) so entschieden 
sein müssen, dass der Studierende und der Arzt erkennt, «ass die Fach- 
grenzen der Gynäkologie weit ‚überschritten sind. Wie notwendig das ist und 
wie es gar nicht anders geht, haben die jüngst stattgefundenen Verhandlungen 
der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft in Berlin über „Sexualität 


130 Kritiken. [2 


und Konstitution‘ erwiesen. In diesem Zusammenhange hätte der Autor auch 
Gelegenheit gehabt, die Physiologie und Pathologie des weiblichen Geschlechts- 
lebens zu behandeln. Es geht nicht mehr an, dass die Fachlehrbücher der 
Gynäkologie der Erörterung dieser Fragen ausweichen. Denn sie bilden einen 
bedeutenden Faktor in der Biologie und Pathologie des Weibes und begegnen 
dem Arzt als Ursachen der mannigfachsten körperlichen Störungen und Be- 
schwerden im Bereich der Genitalorgane. Mit ihnen muss der Studierende 
ebenso bekannt gemacht werden, wie mit der Gonorrhöe, der Syphilis, der 
Tuberkulose, der Aktinomykose, Echinokokkenerkrankung der Gemitalien, ja 
noch weit mehr, weil sie überaus häufig und eingreifend als Ursachen in Be- 
tracht kommen. 

Dasselbe gilt von den gewerblichen Erkrankungen der Frau, welche 
durchaus nicht, wie man so oft hört, auf den Prolaps ‘beschränkt sind. Die he- 
ruflichen Ursachen spielen in der Ätiologie «der Genitalerkrankungen der Frau 
eine wichtige Rolle. An ihnen darf der Unterricht im Zeitalter der Frauen- 
berufsarbeit nicht mehr vorübergehen. 

Wenn Schroeder diese Lücken in zukünftigen Auflagen ausgefüllt haben 
wird, so wird sein sonst so vorzügliches Lehrbuch allen Anforderungen der (iegen- 
wart gerecht sein. Dann wird es dem Leser eine lückenlose Biologie und 
Pathogenese der weiblichen Genitalorgane geben. 

Und noch eine Bitte. Ohne Fremdworte geht es gewiss nicht ab in einem 
medizinischen Lehrbuch. Ich bin auch weit entfernt, den öden Sprachfanatismus 
derer gutzuheissen, welche jedes Fremdwort töten wollen. Die Sprache ist ein 
lebender, in steter Entwicklung und ewigem Fliessen befindlicher Organismus, 
aus dem Teile nur dann herausgenommen werden dürfen, wenn die Lücke voll- 


wertig ausgefüllt werden kann. Solche Fremdkörper aber — und dazu manche 
recht hässlicher Art — finden sich in der Ausdrucksweise dieses Buches. Ich 


finde z. B. auf 5 Seiten bei sehr weitherziger Wertung: frustrane ÜUteruskon- 
traktionen, konstalieren, larvieren, Medikamentation, Perzeption, mature und 
(mature Geburt, eklatant, passieren. 

Da wäre also noch ein Feld verdienstvoller Betätigung. Die wunder- 
vollen Bücher über die deutsche Sprache von Fritz Mauthner, Eduard 
Fngel, Moskowskı sollten auch von Merdizinern gekannt werden. Aber 
davon ist in der letzten Zeit ja schon mehrfach die Rede gewesen. 

Max Hirsch, Berlin. 


Lahm: Die patholagisch-anatomischen Grundlagen der Frauenkrankbheiten. 
24 Fortbildungsvorträge aus dem Gesamtgebiet der Gynäkologie. Mit 71 Ab- 
bildungen auf 12 Tafeln und im Text. Verlag von Theodor Steinkopf, Dresden 
und Leipzig 1922. 

Was den Reiz und grossen Vorzug dieses Buches bedingt, das ist die 
innige und ständige Beziehung, in welcher die pathologisch-anatomischen Dinge 
zu den Erfahrungen der Klinik gehalten werden. Diese Verknüpfung von Theorie 
und Praxis macht das Buch dem Praktiker besonders wertvoll. Ich glaube nicht. 
dass die gynäkologische Literatur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit 
ein Lehrbuch hat, dessen Stoffanordnung so ausgezeichnet den Bedürfnissen 
des ärztlichen Praktikers entgegenkommt. Anäatomisches Substrat, Pathogenese, 
klinisches Bild, Grundzüge rationelter Therapie, Abbildungen, tabellarische Zu- 
Ssarmmenstellungen und Übersichten — alles ist klar zusammengefügt und cin- 
heitlich aufgebaut. Von einem Autor, der den Stoff beherrscht und in vielen 
Hinsichten eigene Wege geht. Ich wiederhole: ein ausgezeichnetes Buch. 

Max Hirsch, Berlin. 

Peritz: Einfübrung in die Klinik der inneren Sekretion. Mit 31 Abbildungen. 
Verlag von S. Karger, Berlin 1922. 

Der Verf. hat sich zum Ziel gesetzt, einem weiteren Kreise von Ärzten 
und Studierenden die Übersicht über die Störungen zu ermöglichen, welche von 


3] Kritiken. 131 


den Drüsen mit innerer Sekretion ausgehen können. Wer die inkretorische For- 
schung der letzten beiden Jahrzehnte erfasst. hat, wird die Grösse dieser Auf- 
eabe, aber auch ihre Schwierigkeiten ermessen können. Diese beruhen nicht so 
scht in der Darstellung des Chemismus der einzelnen Drüsen (Üllypophyse, 
Nebennieren, Keimdrüsen, Schilddrüse, Epithelkörperchen, Thymus usw.) und 
seiner Äusserungen, als vielmehr in der Umreissung der durch ihn bedingten 
Symptomenkonmplexe und Reaktionstypen. Die Kliniker haben es beim kranken 
Menschen eben niemals mit einer einzelnen Drüse und ihren Störungen zu tun, 
sondern mit einem pluriglandulären System, dessen Einzelheiten so vielfältig 
und oft noch dunkel ineinander greifen, dass die vom Verf. angestrebte Syste- 
matisierung von vornherein unlösbaren Schwierigkeiten unterworfen ist. Diese 


kommen denn auch — das ist kein Tadel, sondern ein Mangel, der in der 
Unzulänglichkeit unserer bisherigen Kenntnisse begründet ist — in der Unge- 


nauigkeit der Abgrenzungen und der Vielfältigkeit der Wiederholungen zum Aus- 
druck. 

Die Schwierigkeiten werden dadurch vergrössert, dass der Verf. — getreu 
der Lehre und dem ärztlichen Denken der Krausschen Schule — von der 
monosymptomaüschen und organizistischen Betrachtung zu Konstitutionalismus 
und Individualismus vorzudringen und die inkretorischen Krankheitsbilder denen 
der Konstitutionspathologie anzupassen, ein- und überzuordnen unternimm'. 
Hierbei musste Verf. unvermeidlich an der vorerst noch unüberwindbaren 
Schwierigkeit scheitern, Typen der Körperform von scharfer Prägung heraus- 
zuarbeiten, wie es etwa der Psychiatrie annähernd gelungen ist. 

Verf. ist sich dieser Schwierigkeit selber sehr wohl bewusst und betont 
wiederholt die Unmöglichkeit der Systematisierung. Er sucht beides zu über- 
winden, indem er auf dem Gebiet der inneren Sekretion in dem gestörten pluri- 
glandulären System jeweilig einer Drüse den Primat zuzuschreiben bemüht ist 
und aus dem Blickfeld ihres Chemismus Symplomenkomplex und Habitus zu 
klären und zu vereinen sucht. Seine Bemühung, der Schwierigkeiten Herr zu 
werden, äussert sich weiter in der Überordnung, welche er dem Infantilismus, 
dem Status thymolymphaticus und der Spasmophilie verleiht. Auch des 
Verf, Bestreben, genotypische Konstitution und Modifikation zu trennen, verdient 
volle Anerkennung. 

Habitus und Konstitution sind verschiedene Dinge. Jener ist etwas ana- 
tomisches, diese etwas funktionelles. Sie kann einen bestimmten Typ haben, 
braucht es aber nicht. Die funktionelle Betrachltungsweise, wie sie Verf. mit den 
Frgebnissen der innersekretorischen Forschung übt, führt zum Verständnis der 
klinischen Konslitutionstypen. Dieses dem ärztlichen Praktiker zu ermöglichen 
ist die vorliegende Schrift vorzüglich geeigmet. Max Hirsch, Beriln. 


Mulzer: Kompendium der Haut- und Geschlechtskrankheiten. Mit 
Einsehluss der wichtigsten nicht venerischen Erkrankungen der Harn- und 
Geschlechtsorgane. Mit 120 Textabbildungen. Verlag von Ferdinand Enke, 
Stutigart 1923. 


Dieses Buch ist ganz auf die Bedürfnisse des praktischen Arztes zuge- 
schnitten. Sowohl in seinem allgemeinen Teil, welches sieh vorwiegend mil 
Therapie beschäftigt, als auch besonders in dem speziellen Hauptteil, welcher 
die Haut, Harn- und (eschlechtskrankheiten in alphabetischer Anordnung 
behandelt. Max llırsch, Berlin. 


Hermann Hoffmann: Die individuelle Entwicklungskurve des 
Menschen. Ein Problem der medizinischen Konstitutions- und Vererbungs- 
lehre. Verlag von Julius Springer, Berlin 1922. 


Verf. geht von den Experimenten Goldsehmidts über die Vererbung 
des Geschlechtes bei Schmetterlingen, welche zur Theorie der Entstehung der 
Intersexualität aus dem quantitativen Verhältnis der beiden Geschlechtsanlagen 


132 Kritiken. [4 


geführt haben, aus und macht den Versuch, darauf eine dynamische Betrachtungs- 
weise des medizinischen Konstitutionsproblems aufzubauen. Die evolutiven 
und involutiven Konstitutionsanomalien sollen aus der Geschwindigkeit und 
Frergie der Entwicklung bestimmter Anlagen und ihrer Gegenpartner erklärt 
werden. Das wird an psychiatrischen Konstitutionstypen schizoider und zykloider 
Art erläutert. Verf. glaubt, aus der vergleichenden konstitutionellen Betrachtungs- 
weise, welche nicht nur die Art, sondern auch die Energiemenge jeder einzelnen 
Anlage zu ergründen sucht, Nutzen für die menschliche Konstitutionsforschung 
zu gewinnen. Max Hirsch, Berlin. 


V. Haecker und Th. Ziehen: Zur Vererbung und Entwicklung der 
musikalischen Begabung. Verlag von J. A. Barth, Leipzig 1923. 


Bei den enormen Schwierigkeiten, die der Erbforschung bezüglich des 
Menschen entgegentreten (unzulängliches Material, zu kurze Beobachtungsmög- 
lichkeit usw.) ist es besonders verdienstvoll, wenn die beiden Hallenser 
Forscher — ein Zovloge und ein Psychologe — es in jahrelanger mühsamer 
Arbeit unternommen haben, die Vererbung und Entwicklung der musikalischen 
Begabung wissenschaftlich exakt zu erforschen. Die Exaktheit der methodo- 
logischen und terininologischen Arbeitsweise ist für ähnliche Arbeiten vorbildlich. 

Haecker und Ziehen geben in der vorliegenden Arbeit eine umfang- 
reiche Übersicht über die Erblichkeitsverhältnisse, die Entwicklung, die Kom- 
ponenien und die korrelativen Beziehungen der musikalischen Beanlagung auf 
Grund von 1100 Fragebogen, deren Ausfüllung ihnen ein verwertbares Material 
von 5000 Personen zuführte. Der Wert der Angaben wird dadurch erhöht, dass 
sie hauptsächlich von akademischen Lehrern, Ärzten, Geistlichen, Juristen und 
Lehrern stammen, sowie durch oft fünfmalige Rückfrage und persönliche Unter- 
suchung und Nachprüfung mit experimentell — psychologischen Methoden 
ergänzt und präzisiert wurden. Leider haben gerade. Virtuosen, Kapellmeister und 
Komponisten die Fragebogen relativ selten ausgefülit. 

Die Hauptergebnisse der Verfasser seien kurz (meist im Wortlaut) vermerkt: 

1. In diskordanten Ehen [Ehen mit musikalischer Veranlagung nur des 
Mannes palropositivi oder nur der Frau (matropositiv) bei mangelnder mausi- 
kalischer Veranlagung des anderen Teiles] überwiegen bei ungewöhnlich mausi- 
kalischen .---: )- Nachkommen die männlichen, b>sonders in matropositiven Ehen; 
die weniger, aber doch über dem Durchschnitt masikalischen (-+) - Nach- 
kommen solcher mafropositiver Ehen sind jedoch vorwiegend weiblichen Ge- 
schlechts. 

2. In diskordanten Ehen ist die positive Belastung wirksamer als die negative. 

3. Weibliche Individuen zeigen seltener (-|--4-)-Veranlagung, vererben sie 
aber. wenn auf Grund besonderer Umstände eine solche vorliegt, in besonders 
wirksamer Weise, und zwar auf das empfänglichere bzw. entfaltungsfähigere 
männliche Geschlecht ‘bezieht sich zunächst nur auf diskordante Ehen). 

4. Fälle, die mit dem Mendelschen Vererbungsmodus absolut unver- 
einbar wären, haben sich nur in ganz verschwindender Zahl gefunden. (Falsche 
Berichte? Eheirrungen?) ` 

>. Das Material der Verfasser verträgt sich am leichtesten mit einem in 
bestimmter Weise modifizierten Pisum-Typus. Die anderen Typen, Zea-, Avena-, 
Dorset-Suffolk-, Abraxas-, Drosophila-Typus, sind, die letzteren trotz bestimmter 
Hinweise auf Geschlechtsbedingtheit, abzulehnen. 

6. Vielleicht bevorzugt die mütterliche € 1-4): oder (-F)-Belastung im Sinne 
einer gleichgeschlechtlichen Vererbung die Töchter etwas vor den Söhnen, insofern 
inehr (Töchter als © 4+-j-Söhne auftreten (IS. 67). Daher kommt in matro- 
positiven Ehen ein Konflikt der hereditären Momente zustande, auf dem wohl 
die Variabilität der Vererbungsverhältnisse z. T. beruht, 


4 


5] Kritiken. 133 


7. In den positiv-konkordanten Ehen (Ehen mit ausgesprochener musikali- 
scher Veranlagung des Mannes und der Frau) kommen etwa 40% (+4--)- und 
fast 40% (--)-Nachkommen vor; (M)-Nachkommen (mit etwa mitlelmässiger 
Begabung) sind spärlich, (—)-Nachkommen (unmusikalisch) und selbst (=)-Nach- 
kommen (gänzlich vnmusikalisch) fehlen nicht; männliche (=) - Nach- 
kommen sind, wie auch im allgemeinen, viel seltener als weibliche. (Über 
die Einteilung der verschiedenen Stufen der musikalischen Veranlagung siehe 
Seite 6.) 

8. Das Hinzukommen eines zweiten posiliven Elters bedingt bei den Nach, 
kommen vor allem ein starkes Abwandern von (+) nach (++). 

9. In negativ-konkordanten Ehen (Ehen, bei denen beide Eltern (—) oder 
(=) sind) ergeben sich auffälligerweise relativ viele (-+)- und sogar (+--)-Nach- 
kommen. (6 Erklärungsmöglichkeiten siehe Seite 96.) 

10. Die Untersuchung der A sz end enz der positiven und negativen Fälle 
bestätigt im allgemeinen die vorausgehenden Resultate. 

11. Die musikalische Begabung wird in eine sensorielle, ıetentive, synthetische, 
motorische und ideative Komponente zerlegt. Daneben ist zwischen produk- 
tiver und reproduktiver Begabung zu unterscheiden. Die rhythmische Begabung 
und die Gefühlsbetonung nehmen Sonderstellungen ein. (Bezüglich des Ver- 
haltens dieser Komponente siehe Seite 112 ff.) 

a) Spaltung der motorischen und sensorischen Komponente kann durch 

Hereditätsverhältnisse bedingt sein. 

b) Das Material der Verf. enthält 50 männliche und 14 weibliche f von 

angeblichem absoluten Tongedächtnis (f= Fälle). 

ch Bei 34% aller komponierenden musikalisch veranlagten Individuen 

wird absolutes Tongedächtnis angegeben. 

d Töchter sind vielleicht für positive rhythmische Belastung empfäng- 

licher als Söhne (Erziehungseinflüsse? S. S. 137). 

e) Auch bei kompositorisch begabten Individuen liegt keineswegs immer 
DD-, sondern verhältnismässig oft DR-Veranlagung vor (wobei D die 
dominierende, R die rezessive Anlage einer Keimzelle bedeutet). 

f) Die positive Belastung kompositorisch begabter Individuen stammt bei 
etwa 2/, von Vater- und Mutterseite, desgl. bei etwa ?/, nur von Vater- 
und bei (ie nur von Mutterseite (S. 143). 

12. Die Entwicklung der musikalischen Begabung zeigt 2 Gipfel, deren Pe. 
deulung eingehend besprochen wird (S. 151 ff.). 

13. Die musikalische Entwicklung kann der sprachlichen sens. strickt. 
vorangehen (S. 157). 

14. In manchen Fällen scheint die musikalische Veranlagung erst gegen 
Ende der Pubertät manifest zu werden. 

15. Iu den stark positiv belasteten (--+-)-Fällen pflegt die musikalische 
Begabung besonders früh manifest zu werden (nicht ausschliesslich durch Um- 
welteinfluss zu erklären). 

16. Beim männlichen Geschlecht besteht wahrscheinlich eine Korrelation 
zwischen musikalischer und zeichnerischer Begabung, eine noch grössere 
zwischen musikalischer und dichterischer; beim weiblichen Geschlecht sind 
diese Korrelationen unsicher; zeichnerische rezeptive Begabung scheint beim 
weiblichen Geschlecht gegenüber dichterischer zu überwiegen (S. 17h. 

17. Eine sichere Korrelation mit mathematischer Begabung hat sich nicht 
nachweisen lassen (auffallend hoher Prozentsatz der mathematischen Begabung 
bei .negaliv-musikalisch veranlagten männlichen Individuen). 

18. Unter den psychopathischen Konstitutionen scheint sich die depressive 
am häufigsten mit hoher musikalischer Begabung zu verbinden. 

Die Verfasser betonen, dass die Untersuchung vorzugsweise auch methodo- 
logische Ziele verfolgt hat, und dass sio bezüglich der sachlichen Ergebnisse 
selbst noch viele Zweifel hegen. Zum Schlusse sei noch der ausführlichen 
Literaturangaben Erwähnung getan. 








134 Kritiken. [6 


Die Verfasser setzen die Untersuchungen fort und bitten die Fachgenossen 
dringend, ihnen kasuistisches und literarisches Material zur Verfügung zu 
stellen. (Fragebogen sind von den Verfassern unter der Anschrift: Halle a. S. 
Universität erhältlich. Arnold Hirsch, Berlin. 


Moser: Über Schizophrenie bei Geschwistern. Arch. f. Psych. Bd. 66. 
H. 1. S. 52. 


Der Autor hat 50 Fälle von Geschwisterpsychosen, von denen 33 der 
Katatonie, 17 der Dementia paranoides angehörten, einer Untersuchung unter- 
zogen, besonders mit Hinblick auf die Bedeutung der Heredität und die Frage, 
ob sich Besonderheiten zur Aufstellung von Unterformen finden liessen. Aus den 
Ergebnissen verdient hervorgehoben zu werden, dass erbliche Belastung in 61°u 
nachgewiesen war, während er die tatsächliche Heredität höher einschätzt. 
Besonders gross war der Anteil des Alkoholismus, und zwar in 40,1%. Ferner 
zeigle sich, dass die Tendenz der Geschwister derselben Reihe an derselben 
Unterform zu erkranken, eine recht grosse war und dass die Prognose ungünstiger 
war als bei Nichtverwandten. König, Bonn, 


Fel. v. Luschan: Völker, Rassen, Sprachen. Mit zahlreichen Abbildungen. 
192 S. 8° Weltverlag, Berlin 1922. 


Diese Wanderung um den Erdball beginnt mit Neu-Holland (Australien) 
und führt über Amerika, Afrika, Asien, Indonesien, Ozeanien nach Europa. Dem 
tertiären Menschen begegnen wir dabei nicht, so temperamentvoll man auch 
schon von ihm spricht. Als Urheimit des Menschen kommt Amerika nicht in 
Frage; aber wo der paläolitische Mensch (== h. neandertalensis sive primigenius) 
entstanden ist, wissen wir nicht. Sprache, Beherrschung des Feuers usw. können 
unsere Vorfahren auch unabhängig voneinander zu verschiedenen Zeiten und an 
verschiedenen Orlen erworben haben. Die gesamte Menschheit, so glaubt auch 
der Vert, besteht nur aus einer einzigen Spezies: homo sapiens. Es gibt 
keine an sich minderwertige Rasse, auch nicht die der Neger ist es. Die als 
ursprünglich anzunehmende Deckung von Sprache und „Rasse ist jetzt nur 
sehr selten. Eine Gleichheit z. B. zwischen arischer Rasse und Sprache ist 
abzulehnen (93. 159). Finheitsbegriffe wie Rasse, Araber, Türke zeigen sich 
oft bei schärferem Zusehen als stark zusammengesetzt. Noch wissen wir nicht, 
wie aus dem anscheinend ursprünglich einheitlichen Menschen die so grosse 
heutige Verschiedenheit entstanden ist. Die Wanderungen früherer Zeiten Kam 
man sich gar nicht zu häufig, weit und merkwürdig vorstellen. Sie wurden 
z. T. unterstützt durch andere Erdformationen, als sie heute bestehen. In jenen 
Irühen Zeiten gab es sehr wahrscheinlich überraschenden Verkehr zwischen 
jeizt ganz gelrennten Ländern. Der Verf. hat selbst viele und weite Reisen ge- 
macht und eine Menge wissenschaftlicher Forschungen angestellt, für die er 
nalürlich auch mit der ungeheuren anthropologischen Literatur bekannt sein 
musste. Das kommt dem wissbegierigen Leser zugute. Er erhält ein interessantes 
Bild von dem gegenwärligen Stande unserer Erkenntnis der Erdbewohner und 
ihrer so sehr verwickelten Bewegungen. Z. B. werden Afrikas Völker und 
Sprachen schemafisiert 38 f), die Verhältnisse Vortderasiens zusammengefasst. 
(III), wobei die Hethiter nieht fehlen, die so erstaunlichen Ozeanischen 
Kulturen (Polynesien, Melanesien, Mikronesien) beurteilt, die Kelten gemustert 
(G80; die slawischen Wanderungen mutmasslich von Inner-Asien hergeleitet 
(157). In Vorderasien erinnert (99) ein Esel an den Bileams, bei dem man 
sagen kann facit indignatio (zwar nicht versum, aber: loquentem — wodurch die 
Statistik der sprechenden Tiere erfreulich erweitert wird. 

Vielleicht kann das inhaltreiche Buch von Hans Günther: Rassenkunde 
des deutschen Volkes, München 1922 hier erwähnt werden; vgl. Münch. med, 
Wochenschr. Nr. 51 (22, XI. 1922) S. 1767. K. Bruchmann, Eerlin. 


TE 


Bier ur ré 


7] | Kritiken. 135 


Lucian und Christine Schermann: Im Stromgebiet des Irrawaddy. 
(Birma und seine Frauenwelt.) Verlag von Oscar Schloss, München. 


Der Leiter des Münchener Museums für Völkerkunde und seine Gattin 
geben in diesem Hefte eine wohltuend von dem Stil und Inhalt der gewöhnlichen 
Reisebeschreibungen abweichende Schilderung asialischer Stämme und speziell 
ihrer Frauen, die das Interesse der an der wissenschaftlichen I'rauenkunde inter- 
essierten Kreise wohl verdient. Überall finden wir verständnisvolles Eingehen auf 
die weibliche Psyche. Tracht, Beschäftigung, generative Tätigkeit und Kunst. 
Dr. K. Huber gibt dem Werkchen eine hübsche Sammlung von Frauengesängen 
aus Birma bei, die seinen Wert für die Frauenkunde erhöht. 

Arnold Hirsch, Berlin. 


Erich Wulffen (Dresden): Das Weib als Sexualverbrecherin. Verlag von 
Dr. P. Langenscheidt, Berlin. 


Im Jahre 1910 erschien Erich Wulffens grosses Werk „Der Sexual- 
verbrecher‘‘. Was ich damals im ‚„Neurologischen Zentralblatt‘ schrieb, wieder- 
hole ich jetzt bei meinem Hinweise auf die neue wissenschaftliche Leistung 
Wüulffens: „Das Weib als Sexualverbrecherin‘. Wir hatten bei der Auffassung 
und Beurteilung des Verbrechers vielleicht eine Überbetonung seiner Bedingt- 
heit durch das Milieu, insbesondere durch die Wucht der ökonomischen Ver- 
hältnisse vorgenommen. Nun wendet sich die Spirale unserer vertieften Er- 
kenntnis und lässt wieder einen scharfen Akzent auf die biologisch-anthropologi- 
schen Faktoren, auf die immanent wirkenden Kräfte des antisozialen Indi- 
viduums legen. Wie ich den ‚„Sexualverbrecher‘, so spreche ich auch Wulffens 
nenes grosses Werk „Das Weib als Sexualverbrecherin“ als eine bedeutsame 
Fortsetzung und Vertiefung Lombrosischer Gedanken aus. Im Besitz .gründlicher 
und umiassender biologischer, psychologischer, kriminalistisch-juristischer und 
psychiatrischer Kenntnisse hat Wulffen das Bild der Sexualverbrecherin ge- 
zeichnet. Indem er mit Recht den Einseitigkeiten und Abirrungen der „Freu- 
dianer‘ ablehnend gegenübersteht, hält er fest an dem unverlierbaren Kern der 
Sexualpsychologie, die den Forschungen Freuds ihre wesentliche Bereiche- 
rung, sowie den grossartigen Entdeckungen Steinachs ihre Vertiefung und 
ihren Ausbau verdankt. Freilich kann ich Wulffen nicht folgen, wenn er sagt, 
dass die Unzulänglichkeit der Mitarbeit des Weibes am Geschicke der Mensch- 
heit niemals so offenbar geworden sei, wie in unserer Zeit, dass wir starren 
Blickes in das Chaos, in das Nichts der Gegenwart schauen sollen, den Glauben 
an die Macht der Evolution preiszugeben haben. Hier muss ich Wulffen 
entschieden widersprechen, doch davon an anderer Stelle. Hiervon abgesehen, 
begrüsse ich Wulffens Werk „Das Weib als Sexualverbrecherin‘ als be- 
deutsames Ergänzungswerk zu seinem „Sexualverbrecher". Kein ärztlicher Sach- 
verständiger, kein Psychiater — aber auch kein Richter und Verteidiger — 
sollten cin Gutachten erstatten, ohne sich in das Werk Wulffens vertieft zu 
haben. Freilich müssten sie dann auch meine alte Forderung erfüllen, sich in der 
Anthropologie, Biologie, Psychologie und Psyehiatrie gründliche Kenntnisse zu 
verschaffen. Heute ist es eine Qual für den gewissenhaften und streng wissen- 
schaftlich gesinnten Gutachter vor Gericht zu wirken; möge die Zeit nahe sein, 
wo Persönlichkeiten von der Art Wulffens keine Aumahmeerscheinungen sind. 
Wer dese Zeit herbeiführen will, Jurist und Psychiater, vertiefe sich in die 
Werke Wulf£fens. Otto Juliusburger, Berlin. 


Wilhelm Stekel: Impulshandlungen (Wandertrieb, Dipsomanie, Klepto- 
manie und verwandte Zustände). Verlag von Urban und Schwarzenberg, 
Berlin und Wien 1922. 


Auch dieser Band des gross angelegten Werkes „Störungen des Affekt- und 
Trieblebens“ zeigt die gleichen Vorzüge und Mängel des Verfassers wie die 
früheren Bände — Vorzüge in dem allenthalben sich offenbarenden, umfassen- 


E 


136 Kritiken. [8 


den Literatur- und Erfahrungswissen, Mängel in der unverändert einseitigen 
Stellungnahme zu kaum begonnenen, höchst anfechtbaren, zweifelhaften Lehren. 
Staunend sieht man, wie überzeugt Verf. von seiner Traumdeutung ist. Staunend 
hört man, welch seltsame Symbolisserungen er in jedem Wort, in jeder Hand. 
lung zu finden vermeint. Staunend sieht man, wie er durch seine phantastische 
Andeutungsart dazu kommt, allenthalben Inzestgedanken zu entdecken, schlumm- 
mernde Inzestgedanken und gemeingefährliche kriminelle Regungen von Kindern 
gegen ihre Eltern wachzurufen. Traurig wäre es um die Menschheit bestellt, 
wenn nur ein Teil dieser angeblichen Feststellungen zuträfe Nur bei so 
einseitig verrannter, wissenschaftlicher Stellungnahme kann man zu der Über- 
zeugung gelangen, mit solchen Mitteln Heilung zu bringen, nur so zu dem 
Leitsatz kommen, „dass eine spätere Zeit es lernen wird, wie man durch 
analytische und anagogische Tätigkeit die Verbrecher heilt‘ (!!). Leider verbietet 
es der zur Verfügung stehende Raum, eingehend kritisch zu dem Werke Stellung 
zu nehmen, was der trotz aller Ausstellungen ungewöhnlich schöpferische Geist 
durchaus verdient, — notwendig schon deshalb, weil Steckel ja nicht von 
Finzelerfahrungen berichtet, sondern sofort deren Allgemeingültigkeit dogmatı- 
siert, wie krass auch seine Auffassung allem Erfahrungswissen widersprechen 
mag. Man lese den Leitsatz: „Trinker leiden an einer schweren Paraphilie 
(Sadismus, Nekrophilie, Pädophilie, Zoophilie usw.), sie sind fast alle latent 
Homosexuelle, sie haben eine  Inzestfixierung (Eltern, Kinder, Geschwister 
Grosseltern, Tanten usw.), in leichteren Fällen leiden sie an unglücklicher 
Liebe. Sie haben ihr Ziel nicht erreichen können oder nach dem Besitz ver- 
loren .. ..“ Ist es wohl möglich, zu solcher Trinker-Charakterisierung noch 
ernst Stellung zu nehmen? Und dabei urteilt derselbe Verfasser über noch 
ungeheuerlichere Verstiegenheiten z. B. Sadgers durchaus kritisch. Noch 
seltsamer ist die folgende Ausdeutung: „Zu den alltäglichen Diebstählen ge- 
hört das Behalten von Bleistiften, die wohl selten zurückgegeben werden, was 
mitunter eine sexualsymbolische Handlung verrät.‘ Nun wissen wir also, weshalb 
Menschen Bleistifte stehlen! 

Man höre: „Raufbolde sind meist Homosexuelle, die sich immer wieder 
ihre Männlichkeit beweisen wollen und zugleich nach Gelegenheit suchen, mit 
Männern zusammenzustossen.‘ Sic! Sogar eine Schachparapathie hat Stekel 
entdeckt. Der König wird ein Symptom des Vaters!! 

Soviele Bedenken auch das Werk herausfordert, der Sexualforscher, sofern 
er es mit entsprechendem Vorwissen studiert, wird daraus wertvollste Anregungen 
schöpfen, wenn er auch die häufige Weitschweifigkeit, die ausgedehnte Wieder- 


gabe von Psychoanalysen -— eine Analyse, das Erlebnis, ist allein 87 Seiten — 
nur mit grosser Überwindung studieren kann. Placzek, Berlin. 


Friedrich Jodl: Der Monismus und die Kulturprobleme der Gegenwart. 
Vortrag gehalten auf dem ersten Monistenkongress am 11. September 1911 
zu Hamburg. 2. Aufl. Verlag von Alfred Kröner, Leipzig 1922. 


ss ist immer wieder Belehrung und Genuss, diese kristallklare Rede des 
Wiener Philosophen zu lesen. Den der Weg von den Geschichts- und Geistes- 
wissenschaften zum Monismus; von der Naturwissenschaft zur Kulturwissen- 
schaft; von den grossen Schöpfungen des objektiven (reisies in Recht und 
Sitte, Religion und Philosophie, zum Einzelmenschen und dem Verständnis 
der Naturbedingtheit seines Denkens und der Einheit seiner Organisation ge- 
führt hat. Zwei Arten der Weltbetrachtung, über deren Zusammengehörigkeit 
heute ein Zweifel nicht mehr bestehen darf. Max Hirsch, Berlin. 


Bartholomäus Carneri: Briefwechsel mit Ernst Haeckel und Friedrich 
Jodi. Herausgegeben von Margarete Jodl. Verlag von K. F. Koehler, Leipzig 1922. 
Was die Mediziner und Biologen an diesen Briefwechsel besonders fesselt, 

ist, zu sehen, welche Ausstrahlung, aufwühlende und entscheidende Wirkung 


9] Kritiken, 137 


Haeckel auf seine Zeitgenossen von den "Oger Jahren an ausgeübt hat. 
In Carneri entstand dem Darwinismus und dem Monismus der Vorkämpfer 
auf dem Gebiete der Philosophie und Ethik. Von der neuen Biologie führt ihn 
der Weg zu einem neuen ldealismus. Die Briefe sind reich an menschlichen 
Zügen. | Max Hirsch, Berlin. 


Hans Driesch: Geschichte des Vitalismus. 2. Aufl. 213 8. 8°. 90 Mk., 

geb. 126 Mk. Verlag von Joh. Ambr. Barth, Leipzig 1922, | 

Hat auch Driesch nicht die Absicht sachlich-geschichtlicher Vollständig- 
keit. so weiss er doch, wie wertvoll geschichtliche Betrachtung, besonders 
des Bedeutenden ist. Dies zeigt sich, wie zu erwarten war, in seiner eigenen 
Darstellung, die aus Geschichte und Kritik zur positiven Lehre überführt. Die 
4 Hauptteile sind 1. der ältere Vitalismus, 2. die Kritik und die materialistische 
Reaktion, 3. der neuere Vitalismus, 4. der ‚Neovitalismus“. Von Aristoteles 
bis in die Gegenwart führt uns Driesch. Wir sehen die mannigfaltigen 
und anziehenden Bemühungen um die trotz allem noch nicht entschiedene 
Sache. Sie wird durch die gewöhnliche Definition von Vitalismus (Lehre, 
dass bei den Lebensvorgängen ausser den physikalischen und chemischen 
Kräften noch eine besondere übersinnliche Macht mitwirkt) nicht vollständig 
bezeichnet. Am Schluss teilt uns Driesch mit, das er von der Tat- 
sächlichkeit der Phänomene, welche Telepathie, räumliches Hellsehen, 
Materialisation u. a. m, heissen, überzeugt ist. Die Aussagen der sogen. 
Parapsychologie und Paraphysik seien nicht bedeutungslos, vielmehr beide 
wichtig für die Formung auch einer Weltanschauung. Zu diesem Ausblicke 
(S. 208) und gegen ihn kann man das wohldurchdachte Buch von M. Dessoir 
vergleichen: Vom Jenseits der Seele, die Geheimwissenschaften in kritischer 
Betrachtung. 3. Aufl. 1919. Wenn Driesch (133) sagt, Rob. Mayers Satz 
von der Erhaltung der Energie haba trotz seiner Inhaltsarmut die Naturwissen- 
schatten in wahre Verzückung versetzt, so kann diese Form leicht den An- 
schein einer gewiss nicht gewollten Geringschätzung des Mannes erregen, der 
andern Gesichtsbetrachtern als Galilei des 19. Jahrhunderts erschien. 

K. Bruchmann. 


Friedrich Dahl: Vergleichende Psychologie oder die Lehre von dem 
Seelenleben des Menschen und der Tiere. Mit 25 Abbildungen im Text. 
110 S. 8°. Preis brosch. 35 Mk., geb. 62 Mk. Ferlag von Gustav Fischer, Jena 1922. 

Auch der Verf. findet, dass wir in einer Welt von Wundern leben. Die so 
olt erstaunlichen Leistungen der Tiere sind nun inf Vergleich mit den mensch- 
lichen teils unter- teils überschätzt worden. Der Mensch müsse sich endlich 
einmal abgewöhnen, in allen Punkten etwas vor dem Tiere voraushaben zu wollen 

(71). Aber auch den Tieren sind mystische Fähigkeiten nicht änzudichten 

‘59. 98). Manche ihrer Leistungen sind nicht mit Bewusstseins-Vorgängen ver- 

bunden, andere als maschinenmässiger Automatismus nicht denkbar (46), wenn 

ihnen Verstand auch meist fehlt (56. 84). Bei dieser vermittelnden Beurteilung, 
die dem Menschen und Tiere sein Recht lassen will, sucht Verf. manche Tier- 
verrichtung mechanistisch zu erklären (57), oder führt sie auf ein angeborenes 

Bedürfnis zurück (46). Leben die Tiere mit Arbeitsteilung zusammen, so ent- 

stehen die Bienen- und Ameisenstaaten, die Verf. mit dem Menschenstaat ver- 

gleicht (80). Ganz erstaunlich ist Gedächtnis und Beobachtungsgabe mancher 

Tiere (63. 87); das logische Denken aber sei nur dem Menschen eigen (86). 

Fortschritt und Unterschied des beiderseitigen Denkens veranschaulicht eine 

Tafel des Verf. (92). Auch auf das religiöse Gefühl geht Verf. ein (97f.). Er 

erwähnt die bekannten Ansätze zum Werkzeug beim Affen (851. Wenn oft be- 

hauptet wird, dass nur der Mensch sich der Werkzeuge bediene, so sei das 
unrichtig. Auch das Fangnetz der Spinne, der Trichter des Ameisenlöwen seien 

Werkzeuge, hier zum Fangen der Beute. Fragt sich nur, wie man ‚Werkzeug‘ 

definiert. K. Bruchmann. 


138 Kritiken. [10 


Gina Lombroso: Die Seele des Weibes. Deutsch von Marie Kurella. 301 S. 
8°. Brosch. 40 Mk., geb. 60 Mk, Siebener-Verlag, Frankfurt a. M. 1922. 


G. L., Medizinerin, Tochter von C. Lombroso, fragt in ihrem inter- 
essanten Buche zunächst: Hängt die „Tragik“ der Frauen ab von Dummheit, 
Roheit, Dünkel, Ungerechtigkeit der Männer? Sie antwortet: Nein; sie hat 
ihren Grund in der Mission des Weibes, in dessen besonderen Neigungen (4. 25. 
198. 228). Ihr Denken wird beeinflusst durch ihr Fühlen. Ihre Intelligenz be- 
steht fast ganz aus Leidenschaft und Intuition (229). Sie ist intuitiv (153. 163). 
der Mann deduktiv, wenn auch nicht wenige Frauen ausgesprochen männlichen 
Intellekt haben (165. 197; ihr Verhältnis zur Logik 126. 176ff.). Gegensatz zu 
Intuition ist „Vemunft“ (36. 78). Intuition ist hauptsächlich die Möglichkeit, 
die Wirkung einer Handlung auf eine andere Person vorauszusehen, ehe noch 
die Handlung geschehen ist (30). Sie ist eine der Grundlagen für den „Altro- 
zenlrismus‘ (= Altruismus), der die Frau beherrscht, während der Mann ego- 
zentrisch ist. Die Frau sucht den Mittelpunkt ihrer Freuden, Hoffnungen, De. 
strebungen nicht in sich selbst, sondern in einer oder mehreren Personen, die 
sie liebt und von denen sie geliebt sein möchte. Zu den altrozentristischen 
Trieben gehört aufs engste die Mutterschaft (119. 199), obgleich die Frau ın 
Wahrheit eigentlich gar keinen Anlass hat, sie zu wünschen (105. 12. 19). 
Aber sie hat nun diese Liebe zum Konkreten, zu lebenden Wesen (126. 130). 
Obgleich es sicher Frauen von bedeutendem Intellekt gibt (197 f.), schätzt man 
doch diesen nicht so hoch ein, wie beim Manne. Warum? Der Grund ist ein 
sozialer Instinkt. Die Gesellschaft will nämlich, ‚dass ihre Heldin schön und 
gut sci“ (198), will bewundern, dass die Frau ihre (so oft gepriesene) Anregung 
zu Dichtung, Musik usw. bewährt (201). Die soziale Mission des Mannes ist eine 
andere als die der Frau (228. 233). Die verschiedene Bewertung ruht nicht 
auf Ungerechtigkeit, sondern auf der Ungleichheit des natürlichen Wesens und 
der natürlichen Mission (208. 272. 294), wie denn schon bei der Liebe Männer 
und Frauen sich verschieden geberden (214 f. 243). Es ist verkehrt, zu wollen, 
“lass Frauen und Männer sich möglichst gleich werden. G. L. ist natürlich für 
die Ehe, gegen den widerlichen Widersinn der sogen. freien Liebe (246). Ja „das 
Recht auf Liebe entspricht ganz genau dem Recht auf Diebstahl, Unterschlagung... 
dem Recht, eine begehrte Sache auf irgendeine Weise zu erreichen“ ... . (260, 

Mir scheint, dass die Verf. ihre richtige These durchaus überzeugend he- 
wiesen, auch viel Richtiges sonst über Männer und Frauen gesigt hat. Von den 
Kompensntionen, die der Frau von Natur und Gesellschaft geboten werden und 
unzureichend seien, will G. L. jn einem anderen Buche reden. Ein interessantes 
Beispiel wie eine Frau angeblich auf einen sehr scharfen und ziemlich trockenen 
Denker anregend gewirkt hat und dafür verhbimmelt wurde, ist Mrs. Taylor: 
vgl. J. St. Mill, Autobiography London 1873 und Alex. Bain, J. St. Mill, 
a Criticism, London 1882. S. 163 ff. . K Bruchmann. 


Else Stroh, Selbstverwirklichung. Eine Formenlehre der Liebe und des 
Lebens. 119 S. 210 Mk. Verlag von Eugen Diederichs, Jena 1922. 


Im Ich tindet die Verf. ein Analogon des Weltalls. Dies ist Finheit, offenbart 
sich aber in Vielheit; ähnlich das Ich. Das grosse und kleine Leben ist Gestalt 
und Strömung, Sein und Werden. Von dem punkthiften Ich aus will die Welt 
erfasst sein. Ohne Polarität (Verbundenheit durch Wechselberührung) ist nun 
kein Leben denkbar. Wie alles\bLeben zur Gestalt hindrängt, so auch zu seinem 
letzten Ziele, dem Tode. Gibt es eine Idee der Ideen, so ist es nur die des 
Lebens selbst (86). Nur dieses selbst, kein Grübeln und \Wägen, bringt hinfort 
in der philosophischen Erkenntnis weiter. Wir leben aber nur, insofern wir 
lieben (31. 9%. Das Bild der Welt wird nur durch Liebe möglich. In dem 
Buche sollen wir sehen, wie eine Frau dureh Liebe zu ihrer Philosophie ge- 
kommen ist. Es gibt auch keine nur-physische Weltbetrachtung; die Erde ist 
auch Geist, Idee. Wie ist nun eigentlich Liebesleben? Im Anfang des Buchs, 


11] Kritiken. 139 


der aus 10 ziemlich gefühlvollen Briefen an ihn besteht, sagt sie: mir leuchtet 
das herrlichste Bild der Liebe als eine vollkommene Freundschaft vor, ein 
stetes ruhiges Zusammenleben, das aber im eigentlichsten Sinne keine Ehe ist 
(17). Indessen bei diesem Gedanken, der selbst in dem Deutschland, wie es seit 
dem Herbst 1918 geworden ist, nicht ohne Glanz bleiben und hier und da sein 
Ec.ıo finden wird, bleibt es weiterhin nicht. Es wird nicht gefordert, dass es 
bei dieser himmlischen Liebe sein Bewenden hat. Sie schreitet vielmehr zur 
Synthesis des Kindes fort. „Es gibt einen Punkt, von dem aus alles Liebesleben 
heilig wird.‘ Ob’ die Verf. nicht zu stark idealisiert, wenn es auch bei Goethe 
(1775) heisst .. . ach, der heiligste von unsern Trieben, warum quillt aus ihm 
die grimme Pein? Allerdings setzt die Verf. hinzu, erst in'der Ehe erhalte die 
Liebe ihre feste Gestalt. Traurig, dass dies Thema noch immer nicht erschöpft 
Let. Aler noch trauriger, wenn wir bereits Bescheid wissen, aber nicht wissen, 
dass wir die Sache schon gänzlich erkannt haben. Ist übrigens sicher ver- 
ständlich, was ein sonnenwirbelnder Hymnus ist (80) ? 


K. Bruchmann, Berlin. 


Kehrer: Über Spiritismus, Hypnotismus und Seelenstörung, Aberglaube 
und Wahn. Zugleich ein Beitrag zur Begriffsbestimmung der Hysterischen. 
Arch. f. Psych. Bd. 66. H. 3 u. 4. S. 381. 


Wie es so oft bei Kehrer vorkommt, weitet sich ihm unter der Hand das 
Thema, es eröffnen sich Ausblicke in femerliegende Gebiete, neue Probleme 
werden angeschnilten und im Vorb:igehen Fragen aufgeworfen, die eigentlich 
nur mehr in ganz losem Zusammenhang mit den bearbeiteten Krankheitszuständen 
stehen. So ist es auch in dieser Arbeit. Der Begriff der Dämmerzustände wirt 
kritisiert, der Hysteriebegriff erörtert, eine neuartige somatisch bedingte para- 
noische Reaktion gezeigt, auf die konstitutionellen Wurzeln der Haftpsychosen 
hingewiesen u. v. a. 

Das Ergebnis seiner Forschungen, die er an einer Reihe glänzend analy- 
sıerier Krankheitsbilder demonstriert, fasst er «dahin zusamınen, dass sich 
unter den psychogenen Ausnahmezuständen auf seelischem Gebiete spiritistische, 
d. h. Psychosen abtrennen lassen, welche durch länger dauernde Beschäftigung 
mut dem Spiritismus in demselben Sinne „verursacht sind wie die Haft- 
psychosen „durch“ den Haftkomplex. Den Ausdruck ‚spirilistische‘ oder „me— 
diurmistische‘‘ Psychosen lehnt er als zu allgemein und ungenau ab. Er unter 
scheidet zwei Kategorien, erstens Fälle, bei denen die spiritistischen Vorgänge 
die wesentliche Krankheitsursache abgeben und zweitens diejenigen, bei «denen 
spiritistische Inhalte einen entscheidenden Einfluss auf die Symptomgestaltung 
von in der Hauptsache durch andere Ursachen bestimmten Seelenstörungen aus- 
üben. Auffallend ist, dass es sich bei seinen Kranken stets um alleinstehende 
Frauen in den Rückbildungsjahren handelt. Zum Schluss zeigt er an zwei 
Fällen wie hypnolische Beeinllussungsideen überwertige Bedeutung erlangen. 

König, Bonn. 


Wollenberg: Röntgensterilisierung und Libido. Arch. f. Psych. Bd. 66. 
H. 3 u. 4. S. 439. - 


An der Hanıd eines ihm zur Beurteilung überwiesenen Falles beschäftigt 
sich Wollenberg mit der Frage, ob von der Röntgensterilisierung eine 
Wirkung auf die Libido zu erwarten ist. Auf Grund einer Umfrage bei einer 
Reihe namhafter Gynäkologen und der Beobachtungen von Albrecht kommt 
er in Übereinstimmung mit «dem lelzigenannten zu der Anschauung, dass von der 
Röntgenkastration nur dann eine günstige Beeinflussung des krankhaft ge- 
steigerten und entarteten Geschlechtstriebes zu erwarten s'i, wenn es sich um eine 
init der zyklischen Eierstocksfunktion parallel gehende Periodicität der sexuellen 
Übererregbarkeit handle. Da dies in dem konkreten Fall nicht vorlag wurde der 
Eingriff abgelehnt. König 


Da 
Archiv für Frauenkünde. Bd. IX. H. 2. 10 


Bonn. 


140 Kritiken. [12 


Charlotte Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens. Heft 1 der „Quellen 
und Studien zur Jugendkunde. Verlag von Gustav Fischer, Jena 1922. 


Dieses Buch wird absichtlich dem berühmt gewordenen, von Siegmund 
Freud bevorworteten „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens‘ (Internalio- 
naler psychoanalytischer Verlag) gegenübergestellt, als charakteristische und 
typische Aufzeichnungen der wirklichen Backfischseele. — Das hier beige- 
brachte Material, welches in meist recht kindhafter und ungeschminkter Form 
die Seelenbedrängnisse eines Mädchens aus der Pubertätszeit zum Ausdruck 
bringt, und zwar als Erlebnisse mit Mitschülerinnen und Lehrerinnen, deren 
honiosexuelle Orientierung aber noch keineswegs ins Bewusstsein eingetreten 
ist. Die Niederlegung solchen Matenals mag als Dokumentierung gewisser 
Grundlegungen von Wert sein, verspricht aber den „Quellenstudien‘“ nichts, die 
eben nachgerade auf die psychologische Stoffdurchdringung im Sinne Freuds 
durchaus angewiesen sind. H. Koerber, Berlin, 


Ilse Reicke: Frauenbewegung und Erziehung. Verlag von Rösl & Co. 
Miinchen 1922. 


Das Buch enthält im Hinblick auf die Frauenbewegung cine Übersicht und 
eine Forderung: jene verfolgt die Entwicklung bis auf unsere Zeit, in welcher 
cine Zerlegung des Problems in wirtschaftliche, kulturelle, staatspolitische, 
psychologische und biologische Teilfragen erkennbar wird; diese bezieht sich 
auf die Erziehung der weiblichen Jugend und erstrebt für die Frau der Zukunft 
jene Fntfaltung, von welcher allein, nachdem die ihr zuerkannte pohlische 
Gleichberechtigung neue Möglichkeiten an Stelle der rein männlichen Orientierung 
völkischer Lebensgemeinschaft denkbar macht — eine welterneuernde, weltum- 
gestaltende, welterlösende Wirkung ihres Einflusses erhofft werden kann. 

IIse Reickes Schriften zeichnen sich durch vornehme, aufrechte 
und vorurteilsfreie Gesinnung aus. Ihren Gedankengängen zu folgen ist er- 
freulich auch dann, wenn sie Zweifel oder gar Widerspruchslust erregen, zumal 
die Schreibweise fast durchweg fesselt, nur selten einmal das Künstlerblut ver- 
leugnet, das der Verfasserin von Vater und Mutter vererbt wurde Der dar- 
stellende Teil des Buches, welcher beiläufig gesagt etwa dessen eine Hälfte 
ausfüllt, ist eine verdienstvolle willkommene Leistung, die ihm angegliederte 
Besprechung des unter Hans Blühers Führung stehenden Antifeminismus 
zeugt von vorbildlicher Unparteilichkeit, die unseres Erachtens sogar zu weil 
vcht, da Blüher auf Grund mancher Ausserungen zur Sache der Frau das Recht 
verwirkt hat, von ihren berufenen Vertreterinnen ernst genommen zu werden. 
— Als Grundlage für Ilse Reickes FErziehungsprogramm wird inter- 
essanterweise die neue Erkenntnis über Besonderheit und Eigenart der Frau 
herangezogen, die der psychiatrischen Ärztin Dr. Mathilde von Kem. 
nitz zu danken ist. Dass die entscheidenden Stellen aus ihrem Buche „Das 
Weib und seine Bestimmung‘ im Wortlaute angeführt werden, erleichtert das 
Verständnis der Schlussfolgerungen auch solchen Lesern, die sich mit den Ge- 
dankengängen dieser Forscherin noch nieht bekannt gemacht haben. Auf diese 
hier näher einzugehen, müssen wir uns versagen; es genüge die Feststellung, 
dass in dem Werke auf Grund exakter wissenschäaftlicher Forschungsergebnisse 
die typisch weibliche Veranlagung mit der männlichen verglichen und als End- 
ergebnis nicht «die Minderwertigkeit, wohl aber die Andersarligkeit der Frau 
in allen ihren Einzelheiten dargestellt wird. Dass diese Besonderheit in einem 
nur auf die männlichen Bedürfnisse zugeschnittenen Geistesleben nicht zu ihrem 
vollen Rechte gelangen, weder in ihren Bedürfnissen vol befriedigt, noch in 
ihren Wirkunesmöglichkeiten gebührend gefördert werden kann, — diese Fr 
kenntnis bildet gewissermassen die Keimzelle für die Erziehungsforderungen, 
welche den letzten Teil des Reiekeschen Buches ausfüllen. Sie werden 
zweifellos nicht unwidersprochen bleiben: um nur ein Reispiel zu nennen, wird 
die Stellungnahme der Verfasserin zur Konfessionsschule, die nach ihrer Mei- 


e 


Ba 


13] | Kritiken. 141 


nung mit der Einheitsschule durchaus vereinbar ist, keine ungeteilte Zustimmung 
finden. Auch steht ihre Ansicht, dass die Erziehung des dem Kindesalter ent- 
wachsenen Mädchens ausschliesslich in Frauenhänden liegen soll, in schärfstem 
Gegensalze zu der Auffassung angesehener Vertreter der auf pädagogische 
Zwecke angewandten Psychologie, welche gerade in dem zukunftentscheidenden 
Alter der Geschlechtsreife die Einseitigkeit einer nur gleichgeschlechtlichen 
erzieherischen Einwirkung — sowohl an Knaben — als auch ap Mädchen. 
schulen vermieden sehen wollen. Aber was schadet es denn, wenn bei der Er- 
örterung dieser oder jener Teilfrage die Geister aufeinanderplatzen? Wichtig 
ist vor allen Dingen, dass das Interesse wachgerufen und gefesselt wird; wichtig 
ist, dass in Zeiten der Umwälzung und Neubildung die Aufmerksamkeit auf 
unlängst gewonnene Erkenntnisse gelenkt wird, die zur Revision eingewurzelter 
Ansichten drängen; wichtig ist auch, dass eine Kulturerscheinung wie die 
Frauenbewegung durch neue Zielsetzungen in steter- Fühlung bleibt mit den 
neuenistandenen kulturellen Problemen der Menschheit. In dieser Richtung 
liegt die Daseinsberechtigung des Büchleins, dem wir recht zahlreiche und auf- 
merksame Leser wünschen. Margarete Weinberg, Berlin. 


Helene Stöcker: Liebe. Verlag von Rösl & Co., München 1922. 


Aussagen von Frauen über ihr Liebeserleben, welche den Stempel der Un- 
verfälschtheit tragen und so eine Bereicherung der Frauenkunde bieten, liegen 
bisher nur in geringer Anzahl ‘vor. Man ist in dieser Hinsicht vorwiegend auf 
Arbeiten von Männern angewiesen, die freilich auf den Bekenntnissen ihnen 
nahestehender oder ihrer ärztlichen Behandlung anvertrauter Frauen und auf 
einem starken Einfühlungsvermögen in die weibliche Psyche beruhen mögen, 
immerhin aber doch die Bedingtheit einer Nachschaffung aus zweiter Hand 
aufweisen und in keinem Falle erschöpfende Auskunft geben. Um so bemerkens- 
werter wäre ein Buch wie das vorliegende schon um der Tatsache willen, dass 
es von einer Frau geschrieben wurde, auch wenn es nicht durch besondere Vor- 
züge künstlerischer Art den Leser zu fesseln wüsste. Die Verfasserin gehört 
jener Generation der Kämpferinnen für Frauenrechte an, welche nicht mehr 
— wie ihre Vorgängerinnen — wm selbst gesteckter Ziele willen das Weib ın 
sich abzutöten bereit sind, sondern zu ihren Forderungen auch die auf Gleich- 
berechtigung in der Erfüllung ihrer geschlechtlichen Bestimmung zählen. Das 
tiefste Problem dieser modernsten Frau ist die Unvereinharkeit ihres An- 
spruchs auf ungehemmte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, dieses höchste 
Glück der Erdenkinder, mit der Liebe, die vom Weibe freiwillige Abhängigkeit 
fordert. Das echt weibliche Verlangen, sich unterzuordnen, die Überlegenheit 
des geliebten Mannes anerkennen zu dürfen, gerät in zwiefachen Konflikt: 
einmal mit dem Bestreben, sich selbst nicht zu verlieren, sondern als ganzer 
Mensch mit eigenen I,ebenszielen zu behaupten, sodann mit der schmerzlichen 
Frkenntnis, dass das Suchen nach dem vollkommen ebenbürtigen Manne für die 
seelisch und geistig anspruchsvolle Frau unfehlbar zur Enttäuschung führt. Denn 
ihren hochgespannten Forderungen aie seine innere Grösse, ihrem Glauben an 
die Einzigkeit und Unzerstörbarkeit der Liebe, ihrem Anspruch auf ein ganzes 
menschliches Verhältnis zu dem einmal erwählten Lebensgefährten begegnet. von 
seiner Seite jenes Missverstehen, das bereits in der vollkommen abweichenden 
Vorgeschichte seines Liebeserlebnisses tief begründet ist, von einer Vorgeschichte, 
die die gleichwertige Erwiderung eines ganz echten starken, auf Unendlichkeit 
eingestellten Gefühls zur Unmöglichkeit macht. Daher reden und leben Mann 


und Frau — selbst die höchstwertigen Vertreter beider Geschlechter in der 
Liebe aneinander vorbet — auch wenn sie nicht, wie die von der Verfasserin 


geschilderten Liebenden überdies durch Gegensätze der Veranlagung, der Tempera: 
mente, Weltanschauungen und Lebensalter am 'restlosen gegenseitigen Ver- 
stehen gehindert werden. Vielleicht beeinträchtigt diese Häufung der Kon. 
flikte, die freilich den Roman interessanter und abwechslungsreicher gestaltet. 


10* 





142 Kritiken. [14 


ein wenig die Konzentration auf jene tiefste und ernsteste Frage, ob — selbst 
unter günstigen Voraussetzungen .— für die Frau die Möglichkeit besteht, Liebe 
und Persönlichkeitsentfaltung zu vereinigen, eine Frage, die für die Weiter- 
und Höherentwicklung der Menschheit von unabschätzbarer Bedeutung sein 
dürfte; sind es doch gerade die Erbanlagen dieser höchststehenden Frauen, die 
eine solche verbürgen, besonders wenn sie sich mit denen eines ebenbürtigen 
Pariners verbinden. Nun aber begehrt der schöpferisch veranlagte Mann in 
der Regel durchaus nicht die ihm kongeniale, sondern weit eher die geistig 
untergeordnete, dabei aber unbedingt anpassungsfähige Frau; denn er ist 
keineswegs gewillt, die ihm unentbehrliche erotisch-altruistische Hingabe vor- 
behaltlos zu erwidern, wie er es der gleichberechtigten geist: und seelen- 
verwandten Gefährtin gegenüber schuldig wäre. So bleibt für diese, die das 
Opfer ihrer selbst nicht bringen darf, nur der Verzicht auf Erfüllung ihrer 
letzten Sehnsucht — bis sich der neuen Frauengattung auch ein neuer Männer- 
typus angepasst hat, der es ihr weniger schwer macht, als der heutige, Geistiges 
und Sinnliches, Beruf und Ehe, Persönlichkeit- und Weibsein in einem Menschen- 
leben zu vereinigen. Der gewaltige Anreger des schönen tiefen Buches ist 
Friedrich Nietzsche, der uns nicht nur die Sehnsucht nach den hohen 
Menschen empfinden lehrte, sondern auch einen Umriss ihres Wesens bot. 
Margarete Weinberg. 


Ludwig Bechstein: Hexengeschichten. Herausgegeben von Gustav 
Meyrink. 300 S. 8°. Nikola-Verlag, Wien, Berlin, Leipzig, München 1922. 
„Bechsteins Märchen‘ sind vielen von uns eine sehr liebe Erinnerung. Vom 
selben Bechstein sind „Hexengeschichten‘ zuletzt 18583 gedruckt worden. 
Sechs solcher Geschichten hat hier G. Meyrink in nahezu unveränderter 
Gesualt wieder abdrucken lassen: Teufelsbuhlschaft. Die Hexenkönigin. Das 
Kornseil und die drei Hunde. Der kleine Gabelfahrer. In optima forma. Furia 
infernalis. Die Geschichten sind zum Glück nicht bloss (wegen des scheusslichen 
Bexenwahns) traurig, sondern auch lustig und zeigen die Kunst des berühmten 
Märchen-Erzählers. K. Bruchmann. 


L. v. Wiese: Nava: Eine Erzählung aus Ceylon. Verlag von Eugen 

Diederichs, 1923. 

Fin Büchlein, über welchem der ganze sinnenbetäubende Duft der tropischen 
Landsehaft legt. Eine Erzählung, in welcher die ganze Sinnenfülle orien- 
talischer Liebe aufrauscht. Und für den Soziologen und Sexualforscher eine 
Gelegenheit, die Liebessitten von Morgenland und Abendland zu vergleichen, 
das ungleich höhere Menschentum der morgenländischen Dirne zu bewundern 
und zu schen, wie das Verhängnis des als Freiwild geborenen Rodiamädchens sich 
vollzieht. Der Verf, bekannt als Mann der Wissenschaft, erweist sich hier als 
Meister kunstvoller, farbenprächtiger, seelentiefer Erzählung. 

Max Hirsch, Berlin. 


> 
Portigliotti: Die Familie Borgia. Verlag von Julius Hofmann, Stuttgart 

1923. 

Alexander H., Cesare Borgia, Lucrezia Borgia -- drei Namen, inhaltschwer 
genug, um das gewaltigste Stück italienischer Kulturgeschichte und mensch- 
lichen Sittenverfalles aufsteigen zu lassen. Das mut historischer Treue und aus- 
wiebiger Quellenbenutzung geschriebene Buch bietet dem Sexualforscher, dem 
Psychiater, dem Kriminalisten reiches Material. Max Hirsch, Berlin. 


Sexualwissenschaftliches Beiheft 


nebst Verhandlungsbericht der ärztlichen Gesellschaft für Sexual- 
wissenschaft und Eugenetik in Berlin. 


Für das sexualwissenschaftliche Beiheft können ausser den Vorträzen der Gesellschaft nur 
kurze sexualwissenschaftliche Mitteilungen angenommen werden. 














Verhandlungen 


- der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 


und Eugenetik in Berlin. 


Sitzungen vom 29. April, 27. Mai, 24. Juni, 8. Dez. 1922 
und 19. Jan. 1923. 


1. Herr G. Loewenstein: Zum Andenken an Alfred Blaschko (siehe 
dieses Archiv, Bd. VIII, S. 255): 


2. Herr J. Schuster: Iwan Blochs Bedeutung für die Sexnalwissen- 
schaft (siehe dieses Archiv Bd. VIII, S. 260): 


8. Herr E. Barth: Geschlecht und Stimme. 


Eine Stimme erscheint zuerst bei den Insekten, sie ist auf das männliche 
Geschlecht beschränkt und dient ausschliesslich der Anlockung des weiblichen 
Geschlechts. Erst bei den Vögeln dient sie auch dem Ausdruck aller anderen 
Affekte, obgleich sie auch hier, besonders bei den Singvögeln, zum wesentlichen 
Teile der geschlechtlichen Erregung Ausdruck gibt. 

Auch beim Menschen bestehen deutliche Beziehungen zwischen Geschlechts- 
und Stimmapparat: Mutation, Veränderung der Stimme im Klimakterium, Ver- 
änderung der Stimme durch Kastration, bei Hermaphroditismus. 

In extenso abgedruckt in der Zeitschrift für Hals-, Nasen- und Ohrenheil- 
kunde, II. Bd. 1922. 

Aussprache Herr Weil: Bernstein und Schläper haben an mehreren 
tausend Personen Untersuchungen über die Stimmhöhe angestellt und in den 
Sitzung»berichten der Preussischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht. 
Sie fanden bei Männern 82,3%. Bässe und 17,7°;o Tenöre, bei Frauen 83,5 °/o 
Sopran- und 16,5%0 Altstimmen. Wenn man als männliche Norm den Bass, 
als weibliche den Sopran aufstellt, dann sind Tenor und Alt Übergänge zwischen 
diesen beiden Sexualcharakteren, und die erstaunlich gute Übereinstimmung der 
Zahlen für die beiden Varianten bei den beiden Geschlechtern weist auf eine 
ganz bestimmte Gesetzmässigkeit in den Geschlechtsübergängen hin. — Ich fand Ab- 
weichungen in der Stimmlage — Bariton bei Frauen, Alt und Sopran bei männ- 
lichen Individuen — nie isoliert vor, immer waren sie mit anderen gynandrischen 
oder androgynen Merkmalen verbunden. 


Herr Koerber: Die biologi: ch-physiologischen Mitteilungen des Redners 
lassen sich auch vom Psychologischen her in mannigfacher Weise ergänzen, da 
die Psyche ja die Brücke von einem Organsystem zu einem andern bilden kann. 
Diesbezügliche Beobachtungen beim Gesunden sind neben vielen andern: Die 
Schiecklähmung der Sprache durch einen starken erotischen Affekt, die Flüster- 
stimme des Fiebernden bei steigender Sexualerregung, das Stottern bei der 
Liebeswerbung. Sexualpathologische Sprachstörungen: Ein in der Kindheit schon 
beginnendes Stottern, das meist auf Onanie oder einen sonstigen Sexualkomplex 
zurückzuführen ist. Der periodisch auftretende Stimmverlust der Hysterischen, 
der als Konversionssymptom der Sexualität (Verdrängung, Selbstbestrafung oder 
Kastrationssymbol) anzugehen ist. 


144 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [2 


4. Herr Stabel: Kurze Demonstration japanischer Bettbücher. 


5. Herr J. Schuster: Zur Ätiologie der Algolagnie. (Erschienen 
als Nr. 5 der Monographien zur Frauenkunde und Eugenetik). 


6. Herr Fritz Levy: Referat über Lundborg: Menschliche Bastard- 
typen. 


7. Herr Kronfeld: Die Bedeutung der Untersuchungen von Ernst 
Kretschmer über Körperbau und Charakter für die Sexualwissenschaft. 


Referent gibt eine Übersicht über die wesentlichen Feststellungen der Literatur, 
die einen formativen Einfluss der Keimdrüsen auf die körperliche Konfiguration 
dartun. Besonders berichtet er über die Typenbildung von Sigaud, Chaillou 
und Auliffe!), sowie über die Untersuchungen von Kretschmer. Er stellt 
die von Kretschmer?) behaupteten Beziehungen zwischen endoglandulärer 
Formel und Körperbau einerseits, T'emperamentsgrundlagen andererseits aus- 
führlich dar. Auch gibt er die psychologischen und konstitutionellen Beziehungen 
zwischen Temperament und Psychosexualität bei Kretschmer wieder. Er zeigt 
die Bedeutsamkeit dieser Forschungen im Hinblick auf die Klärung des Problems 
der sexuellen Konstitutionstypen. 


Aussprache: Herr Max Hirsch hebt die Bedeutung der Untersuchungen 
von Ernst Kretschmer und der Weiterführung seiner Gedanken durch den 
Vortragenden Herrn Kronfeld hervor. Sie seien der gegenwärtige Gipfelpunkt 
einer Entwicklung, welche die medizinische Wissenschaft in den letzten Jabr- 
zehnten genommen habe. Diese sei gekennzeichnet im Anfang durch die Organ- 
pathologie, später durch die bakteriologische Ära, welcher sodann über die bio- 
logische Betrachtungsweise die Konstitutionspathologie und Konstitutionsphysiologie 
gefolgt sei. Das Primat der Konstitution im endokrinen Sinne sei von grosser 
Bedeutung für die ärztliche Berufstätigkeit. Es mache dem reinen Organspezia- 
listentum ein Ende. Von besonderer Bedeutung sei dieser Vorgang für die 
Frauenheilkunde. Man könne sagen, dass zwei Drittel der Klagen, welche in 
der frauenärztlichen Sprechstunde vorgebracht würden, nicht organisch, sondern 
konstitutionell bedingt seien. Demgemäss dürfe die Behandlung auch keine 
lokale, sondern sie müsse eine allgemeine sein und sich gegen die konstitutiven 
Mängel und gegen die psychogenen und neurogenen Faktoren richten. Es sei 
dringend erwünscht, dass die Konstitutionslehre zur Grundlage ärztlichen Denkens 
in Praxis und Unterricht würde. Darin liege die praktische Bedeutung der 
Forschungen von. Kretschmer. 

Was die Genitalfunktion bei Asthenischen und Eunuchoiden, nach welcher 
Herr Weil gefragt habe, betreffe, so stellen diese Frauentypen den grössten 
Prozentsatz der amenorrhoeischen, oligomenorrhoeischen und dysmenorrhoeischen 
Frauen dar. Diese Typen menstruieren meist sehr spät, oft erst im 18. Lebens- 
jahr und später. Nach der ersten Menstruation trete eine längere, oft mehr- 
jährige Pause ein, bevor die Menstruation sich periodisch wiederhole. Der 
Genitalbefund bei diesen Individuen sei der der ausgesprochenen Hypoplasie: 
enge, kurze und straffe Scheide, flache Scheidengewölbe, kleiner harter entweder 
spitzwinklig anteflektierter oder retrovertierter Uterus, lange dünne geschlängelte 
Eileiter und kleine, atrophische, bisweilen auch zystisch degenerierte Eierstöcke. 

Die Asthenischen und Eunuchoiden sind grösstenteils steril. Die wenigen, 
welche konzipieren, abortieren leicht. Das sei aus eugenetischen Gründen gut, 
denn die Kinder, welche geboren werden, tragen das Erbe der Mütter. 


8. Herr Weil: Die biologische Prüfung von Keimdrüsenextrakten. 
Die wirksamen Prinzipien der Hodenextrakte sind der Qualität nach noch 
8o gut wie unbekannt. Es ist sogar durchaus noch fraglich, ob sie Hormon- 


) Morphologie medicale. 
®) Körperbau und Charakter. 


3] Sexualwissenschaftliches Beiheft. 145 


eigenschaft im Sinne der Eiweissfreiheit aufweisen. Ebenso ist fraglich, ob sie 
durch die Extraktionsverfahren, die bei den käuflichen Hodenextrakten an- 
gewandt werden, in diese übergehen und haltbar bleiben. Referent hat eine Art 
pharmakodynamischer Prüfung der Hodenextrakte versucht, und zwar durch 
Aufnahme von Dyuamometerkurven. Die Verseuchsperson wusste nicht, ob sie 
mit einem Extrakt oder mit einer unwirksamen isotonischen Kochsalzlösung 
subkutan gespritzt wurde. Es zeigte sich, dass frische wässrige Extraktionen 
die Leistung hoben; die Wirksamkeit derselben erlosch nach vier bis sechs Wochen. 
Käufliche Extrakte erzielten im allgemeinen keinen merklichen Einfluss; eine 
gewisse Ausnahme scheinen nur die nach Abderhralden hergestellten Extrakte 
von Merck zu bilden. Über den Abschluss der Versuche wird noch ausführlich 
berichtet werden. 


9. Herr Max Hirsch: Mitteilungen aus einem Schwurgerichtsver- 
fahren gegen einen Arzt wegen Fruchtabtreibung und fahrlässiger 
Tötung. 

Herr Max Hirsch, welcher in diesem Verfahren als Sachverständiger tätig 
war, hebt einige allgemeine Gesichtspunkte hervor, welche forensisch wichtig sind. 

1. Ist der Arzt verpflichtet, Aufzeichnungen über seine Fälle zu machen? 
Der Staatsanwalt hat aus der Tatsache, dass bei dem angeklagten Arzt Auf- 
zeichnungen nicht gefunden wurden, den Schluss gezogen, dass der Angeklagte 
diese vernichtet habe, um die Spuren seiner Eingriffe zu verdecken. 


2. Der Vortragende bespricht die Bedeutung der inneren gynäkologischen 
Untersuchung für Schwangerschaft. Der Staatsanwalt hat in der Tatsache, dass 
der Angeklagte innerlich untersucht habe, obwohl er Grund haben musste, eine 
Schwangerschaft anzunehmen, einen Kunstfehler zu sehen geglaubt und ange- 
nommen, dass die innere Untersuchung eine fruchtabtreiberische Absicht verrate. 
Der Vortragende betont, dass die innere Untersuchung bei Verdacht auf Sehwanger. 
schaft nicht nur kein Kunstfehler, sondern eine ordnungsmässige ärztliche 
Handlung sei. Schonend ausgeführt, sei sie nicht geeignet, Abort herbeizuführen. 
Alle Frauen mit Klagen im Bereich der Unterleibsorgane müssten innerlich 
untersucht werden. Dies sei besonders bedeutungsvoll für die frühzeitige Er- 
kennung des Unterleibskrebses. 

3. In der Anklageschrift ist mehrfach hervorgehoben, dass bei der Unter- 
suchung harte Gegenstände eingeführt worden seien, und dass die Scheide mit 
Scheren aufgesperrt worden sei, wobei die Frauen angeblich heftige Schmerzen 
empfunden hätten. Bei der Verhandlung stellte sich heraus, dass Röhren- und 
Sperrspekula eingeführt worden sind, und dass die Portio mit Weattetupfern 
ausgewischt worden ist. Niemals ist unmittelbar danach eine Blutung erfolgt. 


4. Der Staatsanwalt und ein nichtgynäkologischer ärztlicher Sachverständiger 
behaupteten, dass die Einlage von Glyzerintampons geeignet sei, Wehen zu erregen. 
Diese Behauptung wurde von den drei gynäkologischen Sachverständigen als 
irrig zurückgewiesen. Es gibt überhaupt kein Medikament, welches, vor den 
Muttermund bei ungestörter Schwangerschaft gelegt, Fehlgeburt herbeiführen kann. 


5. Bedeutungsvoll war ferner die Frage der Kindsbewegungen. Mehrere 
Frauen, welche im 4. und 5. Monat schwanger waren, haben dem Untersuchungs- 
richter bestimmte Angaben über ihre Kindsbewegungen gemacht. Die Weahr- 
nehmung der Kindsbewegung aber in diesem frühen Stadium der Schwangerschaft 
ist teils unmöglich, teils unwahrscheinlich. In der Verhandlung haben die Frauen 
das widerrufen und gesagt, der Untersuchungsrichter habe das in sie hineingefragt. 

6. Mit Bezug hierauf bot der Prozess sehr wichtige Einblicke in das Wesen 
der Voruntersuchung und in die Psychologie der Zeugenaussage und erinnert 
lebhaft an das Schauspiel von Brieux „Die rote Robe“. 

7. Die wichtigsten Belastungszeugen waren ein paar Schwestern des Kranken- 
hauses, deren Auftreten allgemein einen überaus ungünstigen Eindruck machte. 


146 Sexualwissenschaftliches Beiheft. 4] 


Sie stellten Diagnosen auf Eihautreste, ohne die blasseste Ahnung davon zu 
haben. Ihre Angaben über die Länge angeblich gesehener Früchte schwankten 
zwischen 5 und 20 cm. Sie behaupteten, dass Ausschabungen vorgenommen 
worden seien, ohne auf Fragen des Sachverständigen zu wissen, welcher In- 
strumente es hierzu bedarf. Sie verfuhren im übrigen selbständig, berichtigten 
die ärztlichen Anordnungen und Diagnosen. Alle Sachverständigen bezeichneten 
ein solches Verfabren als unzulässig und in ihrem Wirkungskreis als unerträglich 
und unmöglich. 


8. In rein menschlicher Beziehung bot der Prozess erschütternde Bilder. 
Ein ganzer Rattenkönig von Prozessen war ihm vorausgegangen. Es wurden 
Frauen bestraft, deren Vergehen Jahre zurücklagen, und welche ınzwischen brave 
Frauen und Mütter geworden waren. Zur Zeit der Eheschliessung wussten die 
Ehemänner nichts von diesem dunklen Punkt im Vorleben ihrer Frauen und 
erfuhren es so zu ihrem und der Familie Unglück. Es trat eine Besitzerstochter 
auf, welche von ihren Eltern verstossen war und als Dienstmagd ihr Leben fristete. 
Ihre Schwangerschaft rührte von dem ersten und einmaligen Beischlaf her. Sie 
wusste nicht, was Scheide ist, sie kannte nicht den Irrigator und war auch 
sonst in diesen Dingen völlig unerfahren. 


9. Angesichts dieser zerstörenden Wirkungen eines solchen Prozesses auf 
bürgerliche Existenz, auf Ehe und Familie steigt wohl die Frage auf, ob der 
beabsichtigte Erfolg diesen Einsatz und Aufwand wert ist. Der Angeklagte, 
welcher über ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen hat, wurde freigesprochen. 
Das Problem der Fruchtabtreibung in seiner juristischen, volkshygienischen, be- 
völkerungspolitischen und ethischen Hinsicht ist überaus kompliziert. Das Straf- 
gesetz ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. 


10. Herren Thomalla und Kronfeld:;: Filmdokumente zur Sexual- 
wissenschaft. (Erstmalige Vorführung). 


Herr Max Hirsch als Vorsitzender bittet die Diskussion durch drei Fragen 
zu begrenzen: 1. Gibt der Film die wissenschaftlichen Erkenntnisse und prak- 
tischen Erfahrungen richtig und in gelungener Form wieder? 2. lst er zu Lehr- 
zwecken im Universitätsunterricht zu verwenden? 3. Eignet sich der Film zur 
Verwendung im Volkshochschulunterricht und zur Volksbelehrung? 


Aussprache: Herr Bornstein (Berlin): Wer selbst wiederholt in der 
Lage war, Begleitvorträge zu Lehrfilmen zu halten, weiss, dass es bei diesen 
Aufklärungen sehr darauf ankommt, wer vor der weissen Wand steht. Der 
Redner muss nicht nur den Stoff beherrschen; wichtiger ist, dass er sich jedem 
Hörerkreis anpassen und das für diesen Wichtigste aus dem Wandelbild heraus- 
holen kann. Ich habe stets Kritik des Films und des Vortrages verlangt. — 
Hätte ich die Ufa veranlasst, jede Filmkritik zu beherzigen und immer das 
herauszuschneiden, was dem einen oder dem andern nicht gefällt oder zuviel er- 
scheint, es wäre nichts von dem Film übrig geblieben. Die Frage muss stets 
lauten: Ist der Film als Ganzes als Unterlage zu einem Aufklärungsvortrage 
zu verwenden? -- Bei dem heute gezeigten ist diese Frage zu bejahen. Das 
Volk ist intelligent genug, um bei richtiger Erklärung den heiklen Dingen 
Verständnis entgegenzubringen, es will aufgeklärt sein. Sorgen wir dafür, dass 
diese Aufklärung nicht von unberufener Seite geschieht. — 


Herr Heller: Der wissenschaftliche Wert des Films ist hoch einzuschätzen, 
die Vorführung in weiteren Kreisen ist ohne völlige Umarbeitung nicht zu 
empfehlen. Es wird nicht darauf hingewiesen, dass es sich um eine glücklicher- 
weise seltene Degenerationserscheinung handelt. Die Importzigarren rauchenden, 
Schnaps trinkenden Frauen, die kokettierenden und einige für das Weib im besten 
Sinne des Wortes nicht einmal charakteristischen Äusserlichkeiten kopierenden 
Männer sind keine erheiternden Filmkomödianten, sondern Unglückliche, denen 
das Schicksal das Vollmenschentum versagt hat. Es muss mit eindringlichem 


5] Sexualwissenschaftliches Beiheft. 147 


Ernst auf diese Tatsache hingewiesen werden, zumal da die Möglichkeit der 
psychischen Kontagion in unserer so viele Degenerationserscheinungen zeigenden 
Zeit in Betracht gezogen werden muss. Wenn auch die Wissenschaft auf dem 
Standpunkt steht, dass für viele Individuen die Richtung der Geschlechtlichkeit 
durch die körperliche und seelische Konstitution bestimmt ist, so darf nicht ver- 
gessen werden, dass bei einer grösseren Zahl die Verhältnisse in einem labilen 
Gleichgewicht sich befinden. Hier kann eine Vorführung, die es unterlässt, auf 
den tiefen Ernst der Frage hinzuweisen, in den Kreisen Unberufener direkt Schaden 
stiften. Die ärztliche Gesellschaft für Sexual wissenschaft darf an diesen Tat- 
sachen nicht vorübergehen. 


Herr P. Friedländer: Beide Filme, sowohl der Steinachfilm wie der 
andere Film eignen sich vorzüglich zur Belehrung für die Studierenden. Für 
Nichtstudierte, für die Volkshochschule empfiehlt sich die Vorführuug besonders 
des ersteren, das konträrsexuelle Empfinden betonenden Films nicht; der Film 
$ 175 von Magnus Hirsch fena hat seiner Zeit weder belehrt, noch grosses 
Interesse erwirkt. 


Herr A. Guttmann: Darüber, dass dieser Film für wisseuschaftliche und 
Lehrzwecke ausgezeichnet geeignet ist, kann kein Zweifel sein. Als Vorstands- 
mitglied der Volkshochschule Gross-Berlin möchte ich, Gast dieser Gesellschaft, 
auch dies sagen: Der Film ist auch für Volksbildungszwecke, vor allem Volks- 
hochschulen, geeignet, falls ein fachmännischer Vortrag ihn einleitet und be- 
gleitet und falls ferner einige, nur für biologisch Geschulte verständliche, für 
Laien aber irreführende Stellen gestrichen, anderes — vor allem soziologisch 
Wichtiges — eingefügt wird. 


Herr A. Wittkovaki: Die Fragen des Herrn Vorsitzenden, ob die vor- 
geführten Filme sich zu Lehrzwecken eignen und in diesem Sinne an den Uni- 
versitäten vor Studierenden zu verwenden seien, sind unbedingt zu bejahen. 
Dagegen möchte ich die letzte Frage über die Verwendung an Volkshochschulen - 
vor einem Laienpublikum ebenso wie Herr Professor Heller ablehnend beant- 
worten, da bei einem derartigen Hörerkreis nicht die jedem Verständnis nötigen 
Voraussetzungen vorliegen und auch kaum durch einen begleitenden Vortrag 
geschaffen werden können. 


Auf die Erwiderung des Herrn Kronfeld bemerke ich, dass für mich 
jedwede Beurteilung der Leistungen der Ufa bei diesen Filmen ausserhalb jeder 
Betrachtung steht und ich mit meinen Ausführungen nur eine Beantwortung der 
vom Vorsitzenden an die Versammlung gerichteien Fragen bezweckte. Im 
übrigen fasse ich meine Ansicht noch einmal zusammen: die beiden ersten 
Fragen sind unbedingt zu bejahen, die letzte, die Verwendung des Films im 
Hochschulkurs, ist abzulehnen. 


Herr Thomalla (Schlusswort) dankt für die empfangenen Anregungen. 
Er bat, zwischen den gezeigten Filmen insofern zu unterscheiden, als der erste 
mit Vortrag eines Fachwissenschaftlers nur in Volkshochschulen und vor speziell 
Interessierten gezeigt werden solle. Zudem sei er noch nicht abgeschlossen. 
Dem jedesmal Vortragenden sei es unbenommen, seinen Vortrag einzurichten, 
wie er wolle, eventuell auch ungeeignet erscheinende Stücke fortzulassen. Die 
weiterhin gezeigten beiden Teile III und IV des sogenannten „Steinach-Films“ 
seien dagegen fertig abgeschlossen und würden ohne Vortrag im Kinotheater 
als belehrender Abendprogrammfilm laufen. — Thomalla berichtete von den 
ungebeuren Schwierigkeiten und Kosten der Lehrfilmberstellung, die es zur 
zwingenden Notwendigkeit macht, an die breiten Volksmassen im Kino heran- 
zukommen, um so die Mittel zu weiterer kulturell wichtiger Arbeit zu gewinnen. 
Das unter seiner Leitung stehende medizinische Filmarchiv habe wichtige 
hygienische Lehrfilme wie „Geschlechtskrankheiten“, „Säuglings- und Krüppelpflege*, 
‚„Pockenbekämpfung“ usw. hergestellt und noch ein reiches Arbeitsfeld vor sich. 


148 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [6 


Stete sei an die Fılmindustrie der Ruf ergangen, zur Bekämpfung von Kino- 
Schund und Schund-Kino mit wissenschaftlichen und belehrenden Filmen an das 
Publikum heranzutreten. Jedesmal aber, wenn ein neuer Lehrfilm herauskommt, 
würde in oft nicht freundlicher, manchmal geradezu gehässiger Kritik dagegen 
von bestimmten Seiten Stellung genommen, obwohl alle bisherigen Aıbeiten an 
medizinischen Filmen nur unter allerschwersten, in die Millionen gehenden Opfern 
der herstellenden Firma möglich waren. Besonders die ältere Generation müsse 
endlich das baltlose Vorurteil gegen alles, was vom Film kommt, fallen lassen. 
Es gehöre natürlich ein gewisser Mut der Verantwortung dazu, so völlig Neu- 
artiges zu wagen, wie biologische oder sonstige Belehrung durch das Kino- 
Theater den Laien zu vermitteln. Aber man müsse doch dem modernen, sicher 
wirkungsvollsten und anschaulichsten Publikationsmittel, dem Film, dieselben 
Rechte einräumen, wie dem gesprochenen oder gedruckten Wort mit oder obne 
Illustration. Und vor allem solle und müsse man auch mehr Zutrauen zu der 
Reife und dem Bildungswillen des grossen Publikums haben. 


11. Herr Krische: Zur Soziologie des Geschlechtslebens gelangt im 
nächsten Heft zum Abdruck. 


Aussprache: Herr Koerber: Die soziologischen Einflüsse auf das 
triebhafte Geschlechtsleben scheinen mir vom Redner überschätzt zu werden. 

Was namentlich die Frigidität der Frau anbetrifft, so dürften alle Er- 
wartungen einer Aufbesserung durch gesellschaftliche oder familiäre Einrich- 
tungen einschliesslich der Ehereform sich als trügerisch erweisen; und auch die 
zur Argumentierung herangezogenen Ausführungen der Dr. M. von Kemnitz 
(Erotische Wiedergeburt) dürften durch die biologisch zu nennende Tatsache hın- 
lällig werden, dass nämlich die Frigidität der Frau ein schicksalsmässiger Zu- 
stand resp. eine Hemmung der psychosexuellen Entwicklung ist, die bestenfalls 
nur «durch eine psychotherapeutische Behandlung, am besten eine psycho- 
analytische, Aussicht hat, behoben zu werden. 


Herr Hirschfeld vertritt den Standpunkt, «dass das rein biologische im 
Liebesleben im wesentlichen von dem soziologischen unabhängig ist. Das indi- 
vidualistisch-biologische ist sieh in allen Zeiten gleich geblieben, die sozio- 
logischen Hemmungserscheinungen haben aber nie und nirgends bisher das 
sextnlbiologtsche Problem zu lösen verstanden, und zwar heute weniger denn je. 


Herr Streiber bemängelt, dass Referent idie Begriffe „biologisch‘ 
und „psychologisch gewissermassen in Antithese bringt. Abgesehen davon, 
dass die Psyche selbstverständlich eine biologische Teilfunktion darstellt, so 
ist, auch wenn der Herr Referent biologisch-körperlicher Typus setzt, die Psyche 
ın funktionellem Zusammenhang mit dem "Typus zu betrachten. Bei einer 
starken sexnellen Anziehung zwischen zwei Körpertypen können die seelischen 
Qualitäten der betreffenden Individuen keineswegs ganz ausser acht gelassen 
werden. Herr Streiber erinnert an die körperlichen Stigmata der Psycho- 
pathen in Verbindung mit ihrer unabänderlichen psychischen Reaktionsweise 
auf äussere Anlässe. (Hier sind der Psvehoanalyse ihre Grenzen gesetzt Im 
übrigen wird auf das Buch von Kretschmer: „Körperbau und Charakter“ 
verwiesen. 

Herr Krische weist Im Schlusswort darauf hin, dass Müller-Lyers 
Siufensystem natürlich wie jeder Schemitismus künstliche Caesuren treffe, 
während die tatsächliche Entwicklung in der (Gesellschaft wie in der Natur überall 
in Übergängen erfolge. Obwohl unpsychologisch und darum gewiss flach und 
heute bereits überholt, habe Müller-Lyer doch das Verdienst, eine besonders 
klare und übersichtliche Systematik der soziologischen Phasen geschaffen zu 
haben. Wenn im Sexuellen eine Entwicklung, Verfeinerung abgelehnt werde, 
bedeute dies ein Bekenntnis zu etwas Absolutem, das sich jeder Wechsel- 
wirkung entziche. Biologisch, psychologisch und sozivlogisch sowohl, wie er- 


7) Sexualwissenschaftliches Beiheft. 149 


kenntniskritisch und vom positivistisch-philosophischen Standpunkt lehne man 
einmütig und grundsätzlich jedes Absolute ab, das nur in. metaphysischen 
Spekulationen oder in Forderungen, ‘welche nicht die Logik sondern eine ver- 
meintliche Lebenspraxis stelle (Philosophie Als-Ob) Platz finde. Die finale oder 
ideologische Einstellung habe er ausdrücklich abgelehnt. Die Feststellung einer 
Steigerung des Bewusstseinsinhalts im Verlaufe des menschlichen Werde- 
ganges werde aber sowohl biologisch (Gehirnforschung) wie psychologisch 
(Psychoanalyse), wie soziologisch vertreten und gehöre wohl somit zu den 
besonders stark fundierten wissenschaftlichen Ergebnissen von Allgemeinwert, 
die um so wertvoller sind, je mehr die exakte Wissenschaft sich in Tausende von 
Verästellungen von Spezialforschungen verliert und den nach dem Lebenssinn 
verlangenden Menschen schliesslich nichts mehr zu sagen weiss. 

So sehr sich auch die Wissenschaftler der Individualforschung gegen sozio- 
logische Einsichten sträuben mögen, der Mensch sei mun einmal nicht ein isoliertes 
Individuum sondern ein geselliges Wesen, und wenn erst einmal die Soziologie 
so alt wäre wie die Medizin, würde sich erweisen, dass sie ihr im Dienste 
der Wahrheitsermittelung und der Förderung menschlicher Kultur nicht nachstehe. 


Sitzungen vom 15. und 16. März 1923. 
Thema: Sexualität und Konstitution. 


Herr Max Hirsch, Berlin: (Eröffnungsrede): Sexualwissenschaft 
und Konstitutionswissenschaft (siehe dieses Archiv Bd. IX, S. 75): 


Herr Fr. Kraus, Berlin: Geschichte und Wesen des Konstitutions- 
problems (siehe dieses Archiv Bd. IX, S. 81): 


Herr Hartmann, Dahlem: Die biologischen Grundlagen der Sexual- 
konstitution. 

Ausgehend von den Mendelschen Erbregeln erklärt Ref. eingehend an 
Hand von Lichibildern den Befruchtungs- und Vererbungsprozess sowie den Erb- 
gang einiger geschlechtsgebundener Erbanlagen. Die Entstehung der Geschlechter 
ist bedingt durch Bestehen zweier Arten von Samenzellen, aber nur einer Art 
von Eizellen. Für die Geschlechtsbildung ist der Gehalt an x-Chromosomen 
massgebend. Ein Ei, das von einem nur 1x-Chromosom enthaltenden Spermium 
befruchtet wird, wird männlich, während 2x-Chremosomen im Spermium bei der 
Befruchtung ein weibliches Individuum bedingen. Hierin liegen die Zusammen- 
hänge mit der geschlechtsgebundenen Vererbung. Während der x-Chromosomen- 
Mechanismus als Geschlechtsdifferentiator wirkt, übertragen die gelegentlich 
vorkommenden y-Chromosomen keine geschlechtsbestimnienden ‚Eigenschaften. 
Jede Art Chromosomen ist als Erbträger für bestimmte Gene anzusehen. 
Ref. erklärt sodann den Mechanismus und die physiologischen Bedingungen bei 
der Fnistehung der Zygotischen Intersexe. In jeder Keimlage sind die Po- 
tenzen für beide Geschlechter vorhanden, vielleicht ist sogar jede Zelle bisexuell. 
Die Geschlechtsdrüsen sind bei intersexuellen Typen verändert, und zwar erfolgt 
der Umschlag von der normalen Differenzierung zur intersexuellen Variante 
stets auf einer bestimmten Entwicklungsstufe, die für die Abweichung bestimmend 
wird. Die Intersexe bei Kreuzung gewisser geschlechtlich ungleichwertiger 
Rassen, sind berechenbar. Zum Schluss bespricht Ref. die hormonale Inter- 
sexualität, die bei Wirbeltieren durch Transplatation experimentell zu erzeugen 
ist, während dahingehende Versuche ‘bei Insekten negativ verlaufen sind. Ref. 
zeigt Lichtbilder abnorm (Intersexuell) ‘differenzierter Geschlechtszellen und 
ihrer Entstehung. 


Herr Kretschmer, Tübingen: Über die psychologischen Grund- 
lagen der Sexualkonstitution. 


Die konstitutionellen Triebanlagen wirken in die höheren seelischen Struk- 
turen aus. Solche Anastomosenbildung verschiedener Triebgebiete kommen 


150 Sexualwissenschaftliches Beibeft. 





vorzüglich beim Sexualtrieb und seinen Varianten vor. Bei Konstitutionsanomalien 
des Geschlechtstriebes sind solche Triebirradiationen häufig, z. B: bei Sadismus 
und Masochismus und den Umsetzungen der Sexualerregung bei den Zwangs- 
neurosen. Die Entstehungsmöglichkeit der Triebvariation steigert sich bei höherer 
Assoziationsfähigkeit direkt proporlional, was in ‚der Tierreihe nachgewiesen 
werden kann. An grossem Tatsacher:mäaterial zeigt Ref. lie energetischen Verwand- 
lungen des Sexualtriebes als durch konstitutionelle Zustandsänderungen der 
persönlichen Affektivität bedingt. Ref. geht auf die Sexualität der Zyklothymiker 
und Schizothymiker ein und bespricht die Verwandlungen des primitiven Triebes 
in hochwertige energetische Korrelate religiöser, ethischer und künstlerischer 
Art. Zum Schluss gibt Ref. eine Übersicht über die Häufigkeit der verschiedenen 
Reaktionstypen bei Sexopathen, speziell der Homosexuellen. 


Herr Hübner, Bonn: Sexualkonstitution und Rechtsleben. 


Redner bespricht die forensische Bewertung der sexuellen Konstitution. 
Auf alle Gebiete der Jurisdiktion erstreckt sich der Einfluss sexueller Motive, 
selbst in scheinbar unverdächtige Gebiete wie Disziplinar- und Versicherungsrecht 
(Florschütz'. Sie entspringen meistens aus drei Wurzeln: ‚er sexuellen 
’rühreife, der Hörigkeit und der sexopathischen Konstitution. Ref. zeigt an 
Fällen, dass manchmal zweifelhaft ist, ob Freispruch wegen Unzurechnungs- 
fähigkeit erfolgen muss, oder ob durch die pathologische Denkweise der Tal- 
bestand des betreffenden Paragraphen nicht erfüllt wird. Ref. gibt interessante 
Beispiele dieser Art bei Fällen von Freiheitsberaubung, Kleptomanie und Feu. 
schismus. Ref, warnt vor der manchmal vorkommenden Vorspiegelung einer 
sexopatbischen Veranlagung durch psychologisch geschulte Delinquenten. 

(Vortrag wird im nächsten Heft ausführlich veröffentlicht.) 


Herr Mathes, Innsbruck: Die Sexualkonstitution in der Gynä- 
kologie (erscheint im Original in Bd. IX, S. 96 dieses Archivs). 


Herr Posner, Berlin: Die Sexualkonstitution in der Andrologie 
(erscheint im Original in Bd. IX, S. 103 dieses Archivs). 


Herr Mühsam, Berlin: Die Sexunalkonstitution in der Chirurgie 
(erscheint im Original im nächsten Heft dieses Archivs). 


Herr Peritz, Berlin: Keimdrüsen und Zentralnervensystem (erscheint 
im Original im nächsten Heft). | 


Herr Hirschfeld, Berlin: Über Intersexualität beim Menschen. 

Vortragender zeigt, dass die neneren biologischen und psychologischen 
Forschungen sowie die Züchtungsexprrimene von Morgan, Goldschmidt 
u a. seme seit 2 Jahren von ihm vertretene Meinung von den sexuellen 
Zwischenstufen bestätigt haben. Ref. ging aus von der Homosexualität des 
Mannes und des Weibes, deren konstitutionellen Charakter Ref. aus der 
Typenähnliehkeit und der Konstanz der Triebrichtung bewies. Rei homosexuellen 
rauen besteht ein viriler, bei homosexuellen Männern ein fem'niner Einschlag, 
was sieh nach der körperlichen Seife als Gynandromorphie, nach der seeli- 
schen im Drang nach adäuater Aussenprojektion äussert. Ref. fasst die 
latente Anwesenheit der entzegengesetzten Geschlechtscharaktere in jedem ge- 
schleehtiieh differenzierten Bion als allgemeine Erscheinung in den Satz 
zusammen: der Mensch ist meht Mann oder Weib sondern Mann und Weib. 
Der Riedlsehe Satz: propter functiones endocrinas vir et mulier sunt, quod 
sunf, hat auch für die Intersexuahtät volle Gültigkeit. Zahlreiche Lichtbilder 
ıllustrierten den Vortrag des Ref. 





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Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen 
und Nervensystem '). 


Von 


Professor Dr. G. Peritz, Berlin. 


Drei Komponenten sind es, welche die sexuelle Funktion be- 
dingen: die Geschlechtsfaktoren, die Hormone der Keimdrüsen und 
der endogene Reaktionstypus des Nervensystems. Der Zusammen- 
klang dieser drei Faktoren oder im Krausschen Sinne „das Syzi- 
gium“ bedingt die sexuelle Persönlichkeit, schafft den gesamten sexu- 
ellen Reaktionstypus, welcher seinerseits wiederum abhängig ist von 
der Gesamtkonstitution und sie auch wieder beeinflusst. Von diesen 
drei Faktoren sind die Geschlechtsfaktoren der Erbmasse zugehörig 
als dauerhaft und wertbeständig anzusehen. Sie ändern sich während 
des ganzen Lebens nicht. Der endogene Reaktionstypus des Nerven- 
systems ist in gewissem Sinne beständig. Auch er ist festgelegt 
durch die Erbmasse so wie ein Dynamo bestimmt ist durch die 
Anzahl seiner Drahtwindungen und den Querschnitt des Drahtes. 
Doch können auch exogene Einflüsse diesen Reaktionstypus ver- 
ändern. Ich erinnere nur an das Myxödem. Die Hormone der Keim- 
drüsen sind dem Wandel der Zeiten am stärksten ausgesetzt. In 
der Jugend ist ihre Produktion sehr gering, im Alter fehlt sie voll- 
kommen. Nur in der Zeit der Mannbarkeit werden sie in erheblichem 
Masse produziert. Bei der Frau scheint es so zu sein, dass in den 
Zeiten der Menstruation und der Gravidität die Eierstockhormone 
an den Körper nicht abgegeben werden, da auch in dieser Zeit Be- 
schwerden auftreten, die denen der Menopause entsprechen: vaso- 
motorische Störungen, aufsteigende Hitze usw. 

Nach den Untersuchungen Goldschmidts ist anzunehmen, 
dass jede Zelle Geschlechtsfaktoren enthält. Wenn dies auch bis jetzt 


1) Vortrag, gehalten in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Eugenetik in Berlin am 16. März 1923. 
Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX. H.3. II 





152 G Peritz. [2 


vornehmlich aus den Erscheinungen der Intersexualität bei Schmetter- 
lingen hervorgeht, so sprechen viele Tatsachen dafür, dass bei den 
Wirbeltieren ähnliche Verhältnisse vorliegen. Die Erfahrung, die 
wir bei der Zwittrigkeit des Gimpels, der Fasanen und anderer 
Vögel gemacht haben, kann hier als Beweis gelten. Bei ihnen findet 
sich auf der einen Seite des Körpers, die das Federkleid des Männ- 
chens zeigt, ein Hoden, auf der anderen Seite, mit dem weiblichen 
Aussehen, ein Ovarium. Nimmt man hier nur eine Einwirkung der 
Hormone auf die indifferenten Zellen des übrigen Körpers an, so 
ist es nicht klar, wie die ausgesprochene Halbseitigkeit entstanden 
sein soll und erhalten wird. Nur wenn wir annehmen, dass jede 
Zelle Geschlechtsfaktoren enthält, und zwar beide Formen, weib- 
liche wie männliche, und ferner, dass auf der Seite des Hodens die 
männlichen Geschlechtsfaktoren von stärkerer Valenz sind, auf der 
Seite des Ovariums aber die weiblichen, so wird es verständlich, 
warum streng halbseitig die Hormone der Keimdrüse der betreffenden 
Seite zur Auswirkung kommen. Auch beim Menschen können wir die 
Wirkung der Geschlechtsfaktoren beobachten. Beim Hirsutismus ent- 
wickeln sich unter dem Einfluss eines Nebennierenrindentumors die 
sekundären Geschlechtscharaktere des Mannes, während die des 
Weibes schwinden. Man hat geglaubt, dass in der Nebennierenrinde 
männliche Geschlechtszellen vorhanden sind, die in ihrer Über- 
funktion die Hormone der weiblichen Keimdrüse unterdrücken. Doch 
scheint der Sachverhalt der zu sein, dass nur ein funktionales 
Verhältnis zwischen Nebenniere und Keimdrüse besteht, dass bei der 
veränderten Funktion der Nebennierenrinde die Keimdrüsenfunktion 
sistiert und dadurch die weiblichen sekundären sexualen Geschlechts- 
charaktere schwinden. Durch das Ausserfunktionssetzen der weib- 
lichen Geschlechtsfaktoren treten die männlichen Geschlechtsfaktoren 
in Funktion und es entwickeln sich die männlichen sekundären 
Geschlechtscharaktere, da ja beide Geschlechtsfaktoren in allen Zellen 
vorhanden sind. Poll unterscheidet daher zwischen sekundären 
Geschlechtscharakteren, die abhängig von der Keimdrüse sind, und 
solchen, die unabhängig sind. Die letzteren entwickeln sich stets, 
sobald die Keimdrüsenfunktion sistiertt. Beim Menschen sind dies 
die männlichen, das beweist die Bartbildung bei der alternden Frau, 
das Tiefwerden der Stimme bei ihr und überhaupt, dass ihr ganzes 
Wesen männlicher und entschiedener wird nach Eintritt der Meno- 
pause. 

Während wir beim Hirsutismus die Bedeutung der Geschlechts- 
faktoren im Nervensystem nicht feststellen können, lässt sie sich 
hei dem Pgseudohermaphroditismus schr gut beobachten. Auf Grund 


See — — 5 = 
— Äech 


3] Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen und Nervensystem. 153 


der Goldsehmidtschen Untersuchungen über die Intersexualität 
ist man berechtigt, dem Pseudohermaphroditismus als eine Erschei- 
nung der Intersexualität anzusehen. Es handelt sich dabei um stärkere 
Formen der Intersexualität, bei denen äusserlich schon das Bild des 
entgegengesetzten Geschlechtes erreicht ist. So finden wir dann 
beim menschlichen Pseudohermaphroditismus, dass die äussere Form 
sowohl des Körpers als auch der Genitalien und endlich’ das psy- 
chische Verhalten als die stärkeren intersexuellen Merkmale anzu- 
sehen sind, während die inneren Genitalien die Überreste des eigent- 
lichen Geschlechtes darstellen, die sehr häufig degeneriert oder auf 
niedrigster kindlicher Stufe stehen geblieben sind. Wir sehen also 
hier, dass das psychische Verhalten nicht den vorhandenen Keim- 
drüsen entspricht, welche ja auch infolge ihrer Degeneration kaum 
Hormone liefern können. Nach den Goldschmidtschen Vor- 
stellungen müssen wir annehmen, dass hier Geschlechtsfaktoren hoher 
Valenz des anderen Geschlechtes vorhanden sind, welche auch das 
psychische Verhalten bestimmen. Daraus geht aber auch hervor, dass 
in gewissem Sinne die Geschlechtsfaktoren selbständige Wirkungen 
hervorrufen können ohne Aktivierung durch die Hormone. Einen 
ähnlichen Vorgang beobachten wir auch beim Wachstum. Nach 
Hertwig kommt der Zelle auch ein endogener Wachstumsfaktor 
zu. Die Folge davon ist, dass selbst da, wo die Hypophyse fehlt, 
das Wachstum bis zu einer bestimmten Grösse ohne das Hypo- 
physensekret vor sich gehen kann. 

Die Homosexualität ist von Goldschmidt, Pollund Wolff 
als eine Form der Intersexualität angesprochen worden. Natürlich 
handelt es sich nur um diejenigen Fälle, die in ihrer äusseren 
Form schon dokumentieren, dass ihre Homosexualität echt ist. Hier 
tritt die Diskrepanz zwischen hormonaler Einwirkung und Ge- 
schlechtsfaktor besonders scharf hervor, so dass Steinach in den 
Hoden der männlichen Homosexuellen bestimmte weibliche Zellen, 
seine sog. F-Zellen, gefunden haben wollte. Doch nach den Unter- 
suchungen von Benda, Stieve u. a. sind diese F-Zellen nichts 
anderes, als grosse Leydigsche Zellen. Auch hier wird man an- 
nehmen ınüssen, dass in den Körperzellen und auch in den Zellen 
des Nervensystems die Geschlechtsfaktoren des anderen Geschlechtes 
von stärkerer Valenz sind, als die Geschlechtsfaktoren, die dem 
äusseren Geschlecht entsprechen. Stimmen die Messungen von Weil 
an Homosexuellen, so ergibt sich daraus, dass bei diesen Menschen 
die unteren Extremitäten, ebenso wie bei den Eunuchoiden, be- 
sonders lang sind. So könnte man auf eine Minderwertigkeit der 
Keimdrüsen schliessen, wie wir sie ja beim Status thymico-Iym- 

11* 


154 G. Peritz. [4 


phaticus so häufig antreffen. Diese Minderwertigkeit der Hormon- 
produktion würde den stärkeren Einfluss der entgegengesetzten Ge- 
schlechtsfaktoren begünstigen. Hier haben wir also ein ganz be- 
stimmtes Konstitutionsproblem vor uns, das bedingt wird auf der 
Grundlage der Intersexualität durch die Minderwertigkeit der Keim- 
drüsen und durch die stärkere Valenz der Geschlechtsfaktoren im 
Nervensystem. Daraus resultiert dann eine ganz bestimmte sexuelle 
Persönlichkeit, die des echten Homosexuellen. 

Dass es auch einen Mangel der Geschlechtsfaktoren, und zwar 
besonders der im Nervensystem geben kann, scheint mir ein Fall 
zu beweisen, den ich in jüngster Zeit beobachtet habe. Es handelt 
sich um einen jungen Mann von 17 Jahren, bei dem die äusseren 
Genitalien sehr stark entwickelt sind, die Hoden prall und gross, da- 
gegen ist die Behaarung des Mons veneris typisch weiblich, die 
übrigen sekundären Sexualcharaktere fehlen, ebenso fehlt jedes Ge- 
schlechtsempfinden, jede Libido. Es kommt zwar bei ihm zu Erek- 
tionen, aber nie zu Pollutionen. Irgendetwas Geschlechtliches inter- 
essiert ihn nicht. Die Hypophyse ist normal. Wenn man auch hier 
annehmen könnte, dass ‚es sich nur um eine späte Entwicklung 
handelt, so ist diese Annahme bei der ausserordentlichen Entwicklung 
des gesamten Genitalapparates nicht sehr wahrscheinlich. Viel mehr 
Berechtigung könnte die Erklärung haben, dass hier tatsächlich 
die Geschlechtsfaktoren minderentwickelt sind oder gar fehlen, dass 
es sich hier um einen psychisch sexuellen Infantilismus (Kron- 
feld) handelt. 

Die Bedeutung der Hormone der Keimdrüsen für den Gesamt- 
körper und besonders für das Nervensystem können wir auf dreierlei 
Weise erschliessen: beim normalen Menschen beim Eintritt der 
Pubertät und dann ferner beim Aufhören der Geschlechtsfunktionen 
und endlich beim Eunuchoiden, bei dem der Mangel der Keim- 
drüsen auch allgemeine Erscheinungen am Körper und besonders 
am Nervensystem hervorruft, bei dem es also zu einer allgemeinen 
Konstitutionsanomalie kommt. 

Das, was das Kind vom Erwachsenen psychisch unterscheidet, 
ist nicht seine Intelligenz, denn es gibt kluge und dumme Kinder 
genau so, wie es kluge und dumme Erwachsene gibt, sondern viel- 
mehr sein Reaktionstyp. Im Vordergrund steht der Mangel eines 
Hemmungsapparates und die geringe Ausbildung der Gesamtwider- 
stände im Nervensystem. Daraus resultiert sowohl die stärkere Reak- 
tionsfähigkeit des Kindes auf alle Reize, seine Ängstlichkeit, Furcht- 
samkeit, aber auch seine Suggestibilität und sein Abhängigkeitsgefühl. 
Das Kind ist noch im wesentlichen Reflexmensch. Mit dem Eintritt 


5] Über die Wechselboziehungen von Keımdrüsen und Nervensystem. 155 


der Pubertät ändert sich das Bild. Das kindliche, hemmungslose 
Verhalten schwindet immer mehr und mehr und stärker und stärker 
bildet sich ein Hemmungsapparat aus. Während der Pubertät 
könnte man direkt von einem Kampf dieser beiden Prinzipien 
sprechen. Das sympathikotrope Prinzip kämpft mit dem vago- 
tropen um den Vorrang. Zwei verschiedene Ichs sind es, einmal das 
leicht erregbare des Kindes und zweitens das gebändigte, gehemmte 
des Erwachsenen. Und so kommt es, dass in jener Zeit der Mensch 
einen ausserordentlich widerspruchsvollen Eindruck macht, weil sich 
an ihm bald diese bald jene Seite zeigt und weil dies In-die-Erschei- 
nung-treten vollkommen abrupt vor sich geht. Diese Entwicklung 
ist eng verknüpft mit der Reifung der Keimdrüsen. Doch tritt uns 
der Einfluss der Hormone auf das Nervensystem nicht immer in 
gleicher Stärke entgegen. Bald sind diese Schwankungen ` grösser, 
bald kleiner, bald gehen sie schneller vorüber und bald wieder 
dauern sie länger, und man kann nur eins konstatieren, dass dieser 
Entiwicklungsprozess nicht abhängig ist von der Hormonentwick- 
lung, sondern vielmehr vom Nervensystem und von seinem Reak- 
tionstyp. Von ihm hängt es ab, wie die Entwicklung schliesslich 
abläuft. An einer späteren Stelle soll hierauf noch einmal einge- 
sangen werden. 

Beim Beginn der Menopause tritt uns ein ähnlicher Vorgang 
entgegen. Auch hier wieder beobachten wir ein Schwanken im 
Nervensystem, eine Unausgeglichenheit, welche sich im vegetativen 
Nervensystem bemerkbar macht durch die Labilität des Gefässnerven- 
systems als Erblassen und Erröten, als Frieren und Schwitzen. 
Dazu kommen auch hier wieder allgemeine nervöse Symptome wie 
Unruhe und Aufgeregtheit, Schlaflosigkeit und Verstimmungen. Der 
Hemmungsapparat, der beeinflusst wird durch die Keimdrüsen- 
hormone, funktioniert nicht mehr gut. Aber wenn wir besonders die 
Frauen betrachten, so finden wir diese Störungen nicht bei allen. 
Bei einem Teil sind diese Störungen minimal und dauern nur wenige 
Monate, bei anderen wieder sind sie ausserordentlich stark und 
dehnen sich über viele Jahre aus. Auch hier wieder ist es nicht 
die Hormonalkomponente, welche die Grösse der Störungen bestimmt, 
sondern wieder der Reaktionstyp des Nervensystems, und man kann 
eigentlich sagen, dass es nicht gerade die konstitutionell anormalen 
Frauen sind, welche die Störungen des Hormonausfalles besonders 
deutlich zeigen, sondern viel eher kräftige Frauen. Hier muss aber 
noch auf eine andere Störung hingewiesen werden, welche sich 
als Folge des Ausfalls der Keimdrüsenfunktion einstellen kann, das ist 
die genuine Hypertonie. Sie geht wahrscheinlich ebenfalls über das 


156 G. Peritz. [6 


Nervensystem und stellt wohl eine dauernde Reizung des Vaso- 
motorensystems dar. Nach meiner Ansicht ist diese Wirkung eine 
indirekte, die Wechselbeziehungen zwischen Keimdrüse und Neben- 
niere führen bei Ausfall der Keimdrüsenfunktion zu einer stärkeren 
Tätigkeit der Nebenniere und zu gesteigerter Adrenalinabsonderung, 
deren Folge dann die Blutdrucksteigerung ist. Auch hier lässt 
sich keine bestimmte Konstitutionsanomalie bis jetzt feststellen. 


Ganz anders liegen die Dinge beim Eunuchoidismus. Ihn kann 
man wohl als eine Konstitutionsanomalie erklären. Vielleicht ge- 
hört er ebenfalls in die Reihe der Intersexe, als eine der mittleren 
Formen. Der Eunuchoidismus ist nicht nur eine Habitusanomalie, 
die ausgezeichnet ist durch ihre überaus langen Extremitäten, durch 
die abnorme Fettverteilung und durch ein infantiles Becken, sondern 
sie ist auch eine echte Konstitutionsanomalie, die sich von allen 
Dingen ausdrückt in ihrer Leistungsunfähigkeit und in ihrer Herab- 
setzung des Gasstoffwechsels. Dazu kommt, dass sich bei den Eu- 
nuchoiden unmittelbar an die Wachstumsperiode das Senium an- 
schliesst. Sie haben keine Periode der Mannbarkeit. Als Ausdruck 
dieses frühzeitigen Alterns ist das greisenhafte Aussehen der Haut 
zu betrachten, weswegen man auch den Enuchoidismus als Gero- 
derma genito-dystrophico bezeichnet hat. Hier interessiert uns aber 
vor allen Dingen die Bedeutung, welche das fehlende Keimdrüsen- 
hormon für die psychische Entwicklung hat, und zwar nicht nur des- 
wegen, weil daraus eine ganz bestimmte psychische Persönlichkeit 
entsteht, sondern weil auch immer wieder die Frage diskutiert wird, 
ob die Schizophrenie ihren Ursprung in einer Keimdrüsendysfunktion 
hat. Der Mangel des Keimdrüsenhormons führt zu einem psychi- 
schen Infantilismus. Der Reaktionstyp der psychisch Infantilen und 
damit auch der Eunuchoiden ist der des Kindes, sie sind heiter, 
stets wohlgelaunt, gutmütig und lenkbar, egoistisch, wie die Kinder, 
stark suggestibel und haben eine Naivität in der Beurteilung der 


Handlungsweise ihrer Mitmenschen, die nur Kindern eigen ist, end- 


. lich eine Disposition für angstvolle Affektausbrüche mit erleich- 
tertem Überwertigwerden von Begleitaffekten. Dieser psychische In- 
fantilismus findet sich nicht nur bei Eunuchoiden, sondern auch 
bei den Skopsen, jener Sekte, welche sich aus religiösen Gründen 
kastrieren lässt. Auch bei diesen findet Koch einen psychischen 
Infantilismus. Selbstverständlich finden sich, wie überall in der 
Natur, schwerere und weniger ausgesprochene Fälle beim Eunuch- 
oldismus. andere bei denen die Hoden ganz unentwickelt sind, 
bei denen doch etwas grössere Hoden festzustellen sind, bei 
denen auch Erektionen vorkommen. Infolgedessen findet man bei 


7] Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen und Nervensystem. 157 


solehen Eunuchoiden auch nur einzelne Symptome des Infan- 
tilismus. Besonders stark tritt bei solchen immer ihre Neigung 
zum Aufschneiden hervor, ihr Autoritätsglauben und ihr Anleh- 
nungsbedürfnis. Vergleicht man nun diese Schilderung mit dem 
Bild der Schizophrenie so wird man offen eingestehen müssen, 
dass sie keinerlei Berührungspunkte miteinander haben. Aber auch 
die Perioden, in denen die Keimdrüsen in Funktion treten oder 
sistieren, zeigen keine Beziehungen zur Schizophrenie. Wenn aber die 
Schizophrenie auf einer Keimdrüsendysfunktion beruhte, so läge doch 
nichts näher, als dass sich da, wo es zu einem Fehlen der Keim- 
drüsenfunktion kommt oder die Keimdrüse zu funktionieren auf- 
hört, Züge vorfänden, welche zum mindesten eine gewisse Ähn- 
lichkeit mit der Schizophrenie hätten. Dass wir bei den Schizophrenen 
hin und wieder eunuchoide lange Extremitäten finden, beruht auf 
derselben Ursache wie das Vorhandensein eunuchoider langer Ex- 
tranitäten bei den Tuberkulösen, nämlich auf dem Vorhandensein 
eines Status thymico-IJymphatieus, bei dem die Keimdrüsen sehr 
spät in Funktion treten und infolgedessen das Wachstum sehr lange 
anhält. Der Mangel des Keimdrüsenhormons drückt sich körperlich 
in einem frühen Senium aus und psychisch in einem Infantilismus. 
So sieht die Konstitutionsanomalie der Eunuchoiden aus. 

Dass dem Nervensystem ebenfalls eine ausschlaggebende Rolle 
bei dem gesamten sexuellen Prozess zukommt, ist in dem 
letzten Jahrzehnt fast vollkommen übersehen worden, abgesehen 
von Freud und seinen Schülern, welche nicht den energetischen 
Prozess, sondern das Erlebnis in der Psyche zum Ausgangspunkt 
ihrer Betrachtungen machten. Unter dem Eindruck der Entdeckung, 
dass das Keimdrüsenhormon das Nervensystem erotisiert, hat man 
sich dauernd mit diesem Hormon beschäftigt. Vor allen Dingen 
sind die Tierexperimente die ;Ursache dafür, dass man das Nerven- 
system als eine zu vernachlässigende Grösse bei dem Erotisierungs- 
prozess angėsehen hat. Beim Tier ist das wohl möglich, da der 
Reaktionstyp des Nervensystems beim Tiere individuell keine grossen 
Variationen zeigt. Anders liegt das jedoch beim Menschen. Hier 
ist der endogene Reaktionstyp ein so verschiedener, dass das Hor- 
mon in seiner Verbindung mit dem Geschlechtsfaktor ganz neuen 
quantitativen und qualitativen Verhältnissen gegenübersteht. Die drei 
Komponenten, aus welchen der Reaktionstyp des Nervensystems 
resultiert, sind: die gegenseitige Hemmung der Nervenzentren unter- 
einander, der innere Widerstand des Nervensystems und der Regu- 
lationsmechanismus dieser Funktionen. 

Die Zentren, welche die sexuellen Vorgänge vom Gehirn aus 


158 G. Peritz. [8 


beeinflussen, werden wir in ihrer ersten Etappe da zu suchen haben, 
wo auch die übrigen vegetativen Funktionen zentral lokalisiert sind, 
in der Gegend des Corpus striatum und des Pallidum. Dekapitiert man 
den Frosch, so tritt bei ihm der Umklammerungsreflex hemmungs- 
los auf: ein Beweis, dass im Gehirn ein Reflexmechanismus für 
diesen sexuellen Vorgang vorhanden ist. Es handelt sich dabei um 
einen Hemmungsmechanismus, so dass für gewöhnlich der Reflex 
nicht in die Erscheinung tritt; erst wenn in der Brunstzeit das 
Hodensekret erregend wirkt, fällt die Hemmung weg und es kommt 
zu diesem Reflex. Auch eine andere Tatsache spricht dafür, dass 
in der Gegend des Striatums ein Zentrum für die Geschlechtsfunk- 
tionen liegen muss. Man nimmt immer an, dass von der Zirbel- 
drüse aus die Geschlechtsfunktion angeregt wird und führt dafür 
die Tatsache an, dass bei Tumoren der Zirbeldrüse eine frühzeitige 
Geschlechtsentwicklung auftritt. Doch ist dieses Symptom nicht bei 
allen derartigen Tumoren vorhanden. Meiner Ansicht nach liegt die 
Erklärung für die prämature Entwicklung der Geschlechtsfunktion bei 
Zirbeldrüsentumoren darin, dass beim Wachstum der Tumoren in 
der Richtung gegen das Striatum die Geschlechtszentren gereizt 
werden und es so zu einer prämaturen Entwicklung kommt. Wachsen 
die Tumoren in anderer Richtung, so beobachtet man keine zu frühe 
Entwicklung der Geschlechtsfunktionen. Die Geschlechtsfunktion ist 
aber ferner verknüpft mit allen anderen vegetativen Funktionen. 
Beim Geschlechtsakt sehen wir eine Rötung der Haut, eine Puls- 
beschleunigung, Erhöhung des Blutdruckes und nicht selten in der 
Höhe des Orgasmus starke tonische Anspannung der gesamten quer- 
gestreiften Muskulatur. Abgesehen davon, dass der ganze Genital- 
apparat unter dem Einfluss des Sympathikus und Parasympathikus 
steht, spricht auch die enge Verknüpfung mit all den angeführten 
vegetativen Funktionen dafür, dass diese Zentren in dieser Gegend 
zu suchen sind. Übergeordnet diesen Zentren ist das gesamte Gross- 
hirn. Von jeder Stelle aus kann man fast annehmen, dass diesen 
Zentren Reize zugeführt werden. Welchen Einfluss das Auge auf 
die Erregung dieser Zentren hat, braucht nicht ausgeführt zu werden. 
Das gleiche trifft auch für den Akustikus zu. Dass beim Menschen 
der Geruch eine starke Rolle spielt, ist ja doch auch etwas allgemein 
bekanntes. So sehen wir also, «dass Errerungswellen von den ver- 
schiedensten Seiten des Grosshirns kommen können, umgekehrt aber 
auch hemmende Vorstellungen. Zu diesen Zentren gehört dann end- 
lieh noch ein spinales Zentrum in den untersten Teilen des Rücken- 
marks. Damit haben wir in grossen Züren die Lokalisation der 
Geschlechtsfunktionszentren im Nervensystem festrelest. Nicht aber 


9] Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen und Nervensystem. 159 


auf sie allein kommt es an, sondern auf ihre energetische Ver- 
knüpfung untereinander. Alle Zentren gleicher Funktion im Nerven- 
system, die in den verschiedenen Etagen übereinandergeschaltet sind, 
stehen auch in der Ruhe untereinander in Abhängigkeit. Huglin 
Jackson hat zuerst die Theorie ausgesprochen, dass die Zentreu 
im Nervensystem sich gegenseitig hemmen. Ich habe diese Theorie 
dann weiter ausgestaltet und zu zeigen versucht, dass die Zentren 
gleicher Funktion in den verschiedenen Etagen des Zentralnerven- 
systems so gestaltet. sind, dass sie sich gegenseitig hemmen, also 
das Zentralnervensystem ist in seinem ganzen Aufbau ein Hem- 
mungsorgan; es ist zugleich aber auch für die Reize der Aussen- 
welt ein Widerstandsorgan. Hemmung und Widerstand sind aber 
nicht dasselbe. Ein Beispiel mag das zeigen. Hemmen zwei elek- 
trische Elemente von der Kapazität 5, die gegeneinander geschaltet 
sind, sich gegenseitig und ein zweites Elementenpaar von der Kapa- 
zität 1, so sind zwar beide Systeme in sich gehemmt und stromlos. 
Schickt man aber einen elektrischen Strom von gleicher Stärke durch 
jedes der beiden Systeme, so beträgt der Widerstand in dem letzt- 
genannten System nur ein Fünftel von dem ersten. Das zeigt, dass 
Hemmung und Widerstand zwar zusammengehören, dass sie aber 
verschieden sind und verschieden in ihrer Auswirkung. 


So wie alle Zentren untereinander sich hemmen, sind auch die 
vorher genannten Zentren der Geschlechtsfunktion gegeneinander 
ausgeglichen und gehemmt. Das muss als der normale Zustand 
angesehen werden. Anders liegen die Dinge aber, wenn dieser 
Hemmungsmechanismus nicht normal funktioniert. Hier kommt 
es dann zu einer Lockerung des Gefüges. Ferner aber können 
auch die Widerstände des Nervensystems sehr gering sein, so dass 
schon jeder Reiz zu einer Reaktion führt. Aus einer solchen Locke- 
runs des Gefüges entstehen Störungen der Geschlechtsfunktion, wie 
wir sie häufig bei Neurasthenikern sehen. Es kommt zu einer 
übermässigen Reizbarkeit des Ejakulationsvorganges, während der 
Erektionsprozess normal verläuft. Daraus entsteht die Ejaculatio 
praecox, eine echte Apraxie der Genitalfunktion. Umgekehrt kann 
aber auch der Hemmungsvorgang vom Grosshirn sehr stark sein, 
so dass unter dem Einfluss irgendwelcher psychischen Vorstellung 
die Geschlechtsfunktion beeinträchtigt wird. Sehen wir uns nun 
die Menschen an, welche in dieser Richtung am ehesten beinträch- 
tigt werden, so sind es immer wieder die gleichen Menschen des- 
selben Typus; sie sind in den letzten Jahrzehnten unter den ver- 
schiedensten Namen geschildert worden: als Habitus asthenicus, 
als Status thymicolymphaticus, als Vagotoniker, als schizoider Typus, 


160 G. Peritz. [10 


und neuerdings von Matthes als Intersexe. Diese vielen Namen 
beweisen nur immer, dass dieser weitverbreitete Typus von den 
verschiedensten Autoren immer wieder unter den verschiedensten 
Gesichtspunkten betrachtet worden sind. Darum scheint es mir 
ratsam, diesen Typus mit einem Namen zu benennen, der nicht von 
vornherein die ganze Betrachtung in eine einzige Richtung zwängt. 
Deswegen möchte ich den Namen des Vagotonikers, wie die Bezeich- 
nung schizoider Typus ablehnen. Bei beiden ist der Rahmen zu 
eng gespannt. Die gleichen Menschentypen, die nach Kretschmar 
als schizoide bezeichnet werden müssen, könnten auch ebensogut 
als Magengeschwürsmenschen gelten, denn auch sie stellen den Typus 
dar, bei denen nur das Magengeschwür vorkommt. Man darf diesen 
Typus aber nicht nur ‘äusserlich aus seinem Habitus erkennen 
wollen, denn hier täuscht die Fassade häufig, da auch derselbe Typus 
sich unter einer gewissen Fettentwicklung verbergen kann. Er ist 
symptomatisch zu charakterisieren, und zwar sowohl von den Or- 
ganen aus, wie auch vom Nervensystem. Am Nervensystem finden 
wir eine allgemeine Übererregbarkeit verbunden mit einem starken 
Angiospasmus unter Neigung zu allen möglichen krampfartigen Zu- 
ständen. Ich habe diese Konstitutionsanomalie deswegen als spas- 
mophile bezeichnet, doch ist das auch wieder nur eine Heraus- 
hebung eines Typus, bei dem die Übererregbarkeit des Nerven- 
systems im Vordergrunde steht. Ich würde die Bezeichnung von 
Matthes als Intersex besonders begrüssen, wenn sich wirklich 
beweisen lässt, dass diese Degenerationsform wirklich Intersexe sind, 
entstanden auf der Mischung gesunder kräftiger Individuen, aber 
sehr verschiedener Rassen, wie das Goldschmidt an Lymantria 
dispar bewiesen hat. Während aber bei den Intersexen der Schmetter- 
linge nur der (fenitalapparat und «die sekundären Geschlechtsmerk- 
male sich verändern, finden wir beim Menschen eine allgemeine 
Degeneration, vornehmlich der Drüsen mit innerer Sekretion. Also 
hier fehlt noch der Beweis, um diesen Typus wirklich als Intersex 
zu kennzeichnen, so verlockend dieser Gedanke auch ist. 

Während wir bis jetzt nur die Lockerung des Gefüges in den 
Zentren für die (Greschlechtsfunktion betrachtet haben, treten aber 
viel stärkere Störungen noch auf, wenn eine Diskrepanz besteht 
zwischen den Zentren und den Erfolesoreanen. Uer kommt es zu 
erheblichen Störungen und sie erwachsen auch wieder auf dem 
Konstitutionstypus, den ich eben geschildert habe. Ich habe 
darauf aufmerksam gemacht, dass hier die verschiedensten Drüsen 
mit innerer Sekretion degenerieren, nicht zuletzt die Keimdrüsen 
und dass die Folge dieser Degeneration ein Infantilismus der Geni- 


11] Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen und Nervensystem. 161 


talorgane ist. Auf dieser Basis entsteht so häufig die Frigidität der 
Frau. Wenn ich auch der Überzeugung bin, dass die meisten Fälle 
von Frigidität zu überwinden sind, sobald ein geschulter Partner der 
frigiden Frau gegenübersteht, so ist doch nicht zu leugnen, dass 
unter normalen Bedingungen diese Frigidität einen nicht zu ver- 
nachlässigenden Faktor darstellt. Auf der andern Seite aber be- 
steht bei diesen Menschen eine erhebliche allgemeine Übererreg- 
barkeit, die sich auch sexuell dadurch kundtut, dass von den Gross- 
hirnzentren dauernd die vegetativen Zentren der Geschlechtsfunktion 
beeinflusst werden. Unter diesen Bedingungen kommt es zu dauern- 
dem Energieabfluss, der aber nicht oder nur sehr schwer zur Ent- 
ladung kommen kann, weil das Erfolgsorgan minderwertig ist. So 
konımt es dann zu Energiestauungen, welche nach anderer Richtung - 
Entladung suchen. Das ist die Grundlage für die Hysterie, es ist 
der rein energetische Vorgang, nicht der Inhalt, nicht das Erlebnis, 
wie so viele meinen, welches die Hysterie bedingt, nicht der Kom- 
plex.. Dazu kommt dann noch im Nervensystem selbst der schlecht 
funktionierende Regulationsmechanismus. Ich habe also hier die 
einzelnen Komponenten aufgeführt, welche zu einer Störung der 
sexuellen Persönlichkeit führen können. Sie sind bedingt durch 
konstitutionelle Faktoren und beeinflussen selber wieder die ganze 
sexuelle Persönlichkeit. Sie greifen aber weit darüber hinaus und 
beeinflussen die gesamte Persönlichkeit. Umgekehrt aber kann auch 
bei Menschen mit zu starkem Hemmungsmechanismus die sexuelle 
Persönlichkeit gestört sein. Hier treten normale Reize von seiten 
der Keimdrüsen auf, aber der Hemmungsmechanismus im Nerven- 
system ist ein so starker, dass auch hier wieder normale Entladungen 
nur schwer oder zu spät möglich sind. Es sind das die Menschen 
der verpassten Gelegenheit. Auch bei ihnen machen sich schwere 
nervöse Störungen, besonders in Angst- und Zwangsvorstellungen 
bemerkbar, die auch hier weit über das Sexuelle hinausgreifen und 
die ganze Persönlichkeit beeinflussen. Man darf aber nicht glauben, 
dass das der Konstitution nach andere Typen sind als die vorher 
geschilderten. Nur ist bei ihnen der Regulationsmechanismus im 
Nervensystem geschädigt. Wir sind jedoch zu sehr gewohnt, Hem- 
mung und Erregung als Gegensätze zu betrachten, als dass wir uns 
dazu verstehen können, sie als Folge der gleichen Störung im Nerven- 
system anzusehen. Das wird uns aber sofort verständlich, wenn 
wir uns klar machen, dass die senkrecht angeordneten Zentren, 
die zu einer funktionellen Einheit gehören, durch ihre gegenseitige 
Hemmung fest verkettet sind, dass aber die horizontal nebeneinander 
gelagerten Zentren sich zwar gegenseitig beeinflussen, aber doch 


162 G. Peritz, Über die Wechselbeziehungen von Keimdrüsen usw. [12 


viel unabhängiger voneinander sind, als man gemeinhin zugesteht. 
Wie im übrigen Körper einzelne Organe minderwertig sein können, 
einen Locus minoris resistentiae darstellen, so können auch einzelne 
Nervenapparate minderwertig sein; ich erinnere nur an die System- 
minderwertigkeit bei der amyotrophischen Lateralsklerose, an die 
des Striatums beim Parkinson. So gibt es sicher auch eine Minder- 
wertigkeit der zentralen Vasomotorenzentren, die einen Locus minoris 
resistentiae darstellt und bei spasmophiler Konstitution zur Epi- 
lepsie führt und ebenso gibt es eine Minderwertigkeit des Regu- 
lationsapparates. Verbindet sich mit einem solchen minderwertigen 
Regulationsmechanismus eine spasmophile Konstitution, so drückt 
sich die Übererregbarkeit vornehmlich an diesem Locus minoris resi- 
stentiae aus. Die Folge einar Übererregbarkeit des Regulations- 
apparates ist aber die einer verstärkten Hemmung im übrigen Nerven- 
system. Darum sehen wir bei der gleichen Konstitution trotzdem 
verschiedenere Reaktionstypen. Zwei Brüder haben die gleiche spas- 
mophile Konstitution. Der eine ist aber nur stark übererregbar, 
ist flink und daher zum Sport befähigt, den er auch in starkem 
Masse ausübt; der andere von demselben Habitus, von demselben 
Aussehen, der gleichen Übererregbarkeit im Nervensystem hat aber 
cinen schlecht funktionierenden Regulationsmechanismus und ist des- 
wegen ständig gehemmt, sogar in seinem Muskelsystem, das dauernd 
hypertonisch ist. Darum wird er Stubenhocker und nicht Sports- 
mann. 

So zahlreich sind die Komponenten, die schliesslich psycho- 
logisch betrachtet die gesamte Persönlichkeit formen. Nicht ein- 
fach indem man Typen schildert, kommt man diesen Dingen nahe. 
Man muss sie analysieren, allerdings nachdem man die Komponenten 
kennt und nachdem man die konstitutionellen Grundlagen erforscht 
hat und sich klar gemacht hat, dass die Resultante, die wir als 
Persönlichkeit bezeichnen, abhängig ist von den verschiedensten 
Komponenten, dessen kleinste Variationen schon Ausschläge erheb- 
licheren Grades geben können. Denn Konstitution ist etwas Funk- 
tionelles, nicht etwas Formales, es ist die Art, wie der Körper 
auf die Umwelt reagiert und wie er seine Organe in Harmonie zu- 
einander bringt; sie drückt sich aus als körperlicher, nervöser und 
psychischer Reaktionstypus. Die Dysharmonie im gesamten Ge- 
schlechtssystem bedingt eine Störung der sexuellen und darüber 
hinaus der gesamten Persönlichkeit. 


Aus der I. Chirurgischen Abteilung des Rudolf Virchow-Krankenhauses 
in Berlin. 


Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. 


Von 
Prof. Dr. Richard Mühsam. 





Unter Sexualkonstitution möchte ich all die Erscheinungen ver- 
standen wissen, welche mit den Geschlechtsorganen, bzw. mit dem 
Geschlechtsleben im weitesten Sinne in Beziehung stehen. Daher 
sollen nicht nur körperliche Eigenschaften unter diesen Begriff fallen, 
wie die als sekundäre Geschlechtsmerkmale oder Pubertätszeichen be- 
kannten, z. B. Behaarung, Stimme, Wachsen der Vorsteherdrüse, 
Samenerzeugung, sondern auch seelische, wie sie im Geschlechtstrieb 
als solchem, in der Potentia coeundi und in allgemeinen Charakter- 
eigenschaften, wie Tatkraft, Unternehmungslust usw. beim Manne ihren 
Ausdruck finden. 

Für die Sexualkonstitution sind die innersekretorischen Drüsen, 
die Hypophyse, die Epiphyse, die Schilddrüse, die Nebennieren und 
hauptsächlich die Hoden von grösster Bedeutung. Wir wissen aus 
der klinischen Erfahrung und aus der Beobachtung von Operations- 
ergebnissen, dass Erkrankungen einzelner oder mehrerer dieser Organe 
schwere Störungen der Sexualkonstitution hervorrufen können. 

So haben Erkrankungen der Hypophysis vielfach Ausfallserschei- 
nungen in der Sexualsphäre zur Folge, und zwar Hinterlappenerkran- 
kungen die Dystrophia adiposogenitalis, Vorderlappenerkrankungen den 
eunuchoiden Hochwuchs mit kleinem Penis wie bei Frühkastraten. 
Epiphysentumoren mit Substanzverlust können vorzeitige Geschlechts- 
reife herbeiführen. Diese Entwicklungsbeschleunigung wird verschieden 
gedeutet. Hofstätter nimmt einen physiologisch hemmenden Ein- 
Hoss der Zirbeldrüse auf die Keimdrüsen an; bei Fortfall der Hemmung 


164 Richard Mühsam. . [2 


tritt die oft mit gesteigerter psychischer Leistungsfähigkeit verbundene 
sexuelle Frühreife ein. Andere Forscher dagegen glauben, dass es 
sich um einen die psychischen Leistungen fördernden Einfluss der 
Zirbeldrüse handelt. Nach Aschner treten bei frühkastrierten Tieren 
makroskopisch und mikroskopisch erkennbare Veränderungen in der 
Zirbeldrüse ein, ein Beweis für die engen Zusammenhänge der ver- 
schiedenen Drüsen mit innerer Sekretion. 


Der Kretinismus und das Myxödem, bei welchem vielfach die 
Zeichen geschlechtlicher Reife ausbleiben, sind Folgen des Fehlens 
oder der Erkrankung der Schilddrüse. 


Erkrankungen der Nebennieren können, wie Israels Beobachtung 
lehrt, Veränderungen der Sexualkonstitution hervorrufen, welche sich 
in einer Umstimmung der Triebrichtung und in einer Änderung des 
Typs der Behaarung vom weiblichen zum männlichen ausdrücken. 

Chirurgisch spielen Hypophyse, Epiphyse und Nebennieren bei. 
der Behandlung der durch ihre Erkrankung hervorgerufenen Störungen 
der Sexualkonstitution aber bisher keine Rolle. 

Anders die Schilddrüse und die Hoden! 

Nachdem zahlreiche Versuche der Schilddrüsenüberpflanzung bei 
diesen Erkrankungen im wesentlichen auf die Dauer erfolglos ge- 
blieben sind, gelang es Kocher, unter 93 Fällen 21mal günstige 
Ergebnisse zu erzielen und auch die Sexualkonstitution zu regelrechter 
Entwicklung zu bringen. Bei schweren Erkrankungen blieb nach 
Knauer der Erfolg aus, während die leichteren Störungen, d. h. 
solche, wo noch eine eigene, sicher funktionierende Schilddrüse vor- 
handen war, sich ausgezeichnet beeinflussen liessen. 

Dass das Fehlen der Hoden, ihre Zerstörung oder ihr operativer 
Verlust schwere Veränderungen der Sexualkonstitution zur Folge hat, 
ist ven alters her bekannt. 

Werden jugendliche Individuen kastriert, so bleiben die sekun- 
dären Geschlechtsmerkmale ın der Entwicklung zurück. Wir wissen, 
dass Frühkastraten die hohe kindliche Stimme behalten, dass sich 
bei ihnen die Bart-, Scham- und Achselhaare gar nicht oder nur 
mangelhaft entwickeln, dass der Penis und die Prostata klein bleiben. 
Hier haben wir es also mit einer sehr deutlichen Änderung der 
Sexualkonstitution zu tun. 

Ähnlich den Frühkastraten verhalten sich die Eunuchoiden. Bei 
ihnen findet sich meist ein in der Entwicklung zurückgebliebener 
Penis, die Bart-, Scham- und Achselhaare fehlen, der Stimmwechsel 
bleibt aus. Mit den Frühkastraten haben sie eine Neigung zum 
Fettansatz gemeinsam, dagegen unterscheidet sich ein Teil der Enu- 


3] Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. 165 


choiden von den Frühkastraten durch das ungewöhnliche, auf der 
fehlenden Verknöcherung der Epiphysenlinien beruhende Längenwachs- 
tum der Gliedmassen. 

Beiden, den Frühkastraten wohl stets und den Eunuchoiden ge- 
wöhnlich fehlen der Geschlechtstrieb und die Geschlechtslust. Dagegen 
pflegt die Arbeitsfähigkeit beider keine nennenswerten Veränderungen 
gegenüber Vollmännern zu erleiden. 

Auch aus der Tierphysiologie und -biologie kennen wir die 
gleichen Erscheinungen. Hier wird durch die Kastration geradezu das 
Arbeits- und Nutztier geschaffen. Der mutwillige temperamentvolle 
Hengst wird zum ruhigen, arbeitsamen Wallach, der muntere Widder 
zum blöden Hammel, der unberechenbare und gefährliche Stier zum 
geduldigen Ochsen, der sich willig einspannen und entsprechend der 
bei Kastraten bekannten Neigung zum Fettansatz leicht mästen lässt. 
Diese leichte Mästbarkeit veranlasst auch den Schweinezüchter, die 
nicht zur Zucht verwendeten Schweine zu kastrieren.* Die weib- 
lichen Schweine verlieren dann ihre alle 4 Wochen eintretende Rausch- 
zeit (Brunst), während welcher sie im Gewicht zurückgehen. Der 


‘ Hühnerzüchter kastriert die überschüssigen Hähne und macht daraus 


den schmackhaften Kapaun. Auch Zeichen körperlicher Veränderung 
bleiben bei den Tieren nach der Kastration nicht aus. Der Pferde- 
kenner erkennt den Hengst schon von weitem am feinen, trocknen 
Kopf und am vollen Hals, dem Hengsthals, der Stier trägt die kurzen 
charakteristischen Hörner, während dem Ochsen die Hörner länger 
und mehr gebogen wie die Hörner der Kuh wachsen. Dem männ- 
lichen kastrierten Schwein fehlen die Gewehre, die Hauer des Ebers, 
dem Kapaun der Kamm, der Bart, die Sporen und das Federspiel des 
Hahnes. 
Dass Verletzungen der Hoden auch bei wild lebenden Tieren 
Veränderungen der Konstitution, des Körperbaues hervorrufen, be- 
weist die Erscheinung des Perückengehörns und der Bischofsmütze 
beim Rehwild. Es besteht nach Dietzel-v. Nordenflycht aus 
eigentümlichen Wucherungen, die zuweilen normale Stangen ein- 
schliessen, ist mit Bast bedeckt und wird nie gefegt oder abgeworfen, 
wie es mit dem Gehörn gesunder Rehböcke alljährlich geschieht.- Es 
verdankt seine Entstehung einer Erkrankung, Verletzung oder dem 
gänzlichen oder teilweisen Verlust des Kurzwildbrets, der Hoden. 
Tritt dieser Fall bei einem Bocke in der Jugend vor der Gehörn- 
bildung ein, so setzt er nur unscheinbare, kümmerliche Spiesschen 
oder Knöpfchen auf; tritt der Fall aber später ein, wenn der Bock 
ein vollkommen ausgebildetes Gehörn trägt, so wirft er dieses binnen 
2—4 Wochen ab, und es erfolgt dann die Bildung der genannten 


166 Richard Mühsam. ; [4 


Wucherungen, welche nur in der Zeit, wenn sonst die Rehböcke ge- 
hörnlos sind, zu einem vorübergehenden Abschluss kommen. Wird 
ein Rehbock kastriert, während er abgeworfen hat, d. h. während er 
gehörnlos ist, oder während des Aufsetzens, d. h. während des Wachsens 
des Gehörns, so bildet sich ebenfalls ein Perückengehörn. 

„Die Kastration wirkt verschieden auf den Menschen, je nachdem 
sie vor oder nach der Geschlechtsreife vorgenommen wurde. Während 
dem Frühkastraten ein Geschlechtsleben überhaupt fehlt, ist das 
sexuelle Verhalten der Spätkastraten den grössten Schwankungen 
unterworfen. Ein Teil von ihnen verliert nach kürzerer oder längerer 
Zeit Geschlechtstrieb und Geschlechtslust, bei anderen bleiben beide 
bestehen. Ich selbst beobachtete beide Arten des Verhaltens. Ich 
sah bei ihnen den Geschlechtstrieb schwinden und sah sie dem weib- 
lichen Geschlecht gegenüber teilnahmslos werden. Bei anderen, aller- 
dings der Minderzahl, blieb die Potenz, wenn auch in beschränktem 
Masse, lange Zeit hindurch erhalten. In manchen Fällen kann durch 
die Kastration geradezu eine Heilwirkung auf eine krankhafte psychische 
Sexualkonstitution erzielt werden. Ein zum Transvestitismus neigender, 
mit hohen Frauenschuhen, langen Frauenstrümpfen und Korsett ein- 
hergehender ÖOnanist, der durch die ins Ungeheuerliche getriebene 
Önanie vollkommen arbeitsunfähig geworden war, liess sich kastrieren. 
Acht Tage nach der Operation führte er den ersten Koitus seines 
Lebens aus. Er hat dann seine transvestitischen Neigungen verloren, 
hat sein Studium beendet, und wenn er auch als psychisch geschädigt 
gelten muss, ist er doch durch die Operation in seiner ganzen Ver- 
fassung wesentlich geändert und gebessert worden. Einen ähnlich 
günstigen Einfluss der Kastration sah ich bei einem anderen Sexual- 
neurotiker, den sexuelle Gedanken zum Selbstmord zu treiben drohten, 
da mangels genügender Erektion die natürliche Entspannung durch 
Koitus nicht eintrat. Er veränderte sich nach dem Eingriff voll- 
kommen in seinem Wesen, wurde arbeitsam und fröhlich, begab sichı 
auch in Gesellschaft von Frauen, ohne dass es zum Verkehr kam, 
und war mit der Veränderung seiner sexuellen Konstitution höchst 
zufrieden. Bei einem homosexuell empfindenden, an periodischer 
Dipsomanie leidenden Manne wurden durch die Kastration beide 
Triebe wenigstens vorübergehend wesentlich herabgesetzt. Ob die bei 
ihm vor kurzem vorgenommene Hodenüberpflanzung einen bleibenden 
Erfolg haben wird, kann ich noch nicht sagen. Eine Änderung seines 
Wesens glaubte er mit Bestimmtheit einige Wochen nach der Ope- 
ration feststellen zu können. Hier ist noch besonders erwähnenswert, 
dass er auch nach der Kastration homosexuell empfand, wenn auch 
in deutlich abgeschwächter Form. Endlich sei ein Kranker erwähnt, 





5] Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. 167 


der, glücklich verheiratet, infolge eines unüberwindlichen Dranges zu 
halbwüchsigen Mädchen mit dem Strafgesetz in Berührung gekommen 
war. Er liess sich im Einverständnis mit seiner Frau kastrieren 
und führt nun, frei von seiner von ihm selbst verabscheuten, aber 
unbezähmbaren Leidenschaft ein glückliches Familienleben. | 

Versuche, die Sexualkonstitution bei Frauen zu ändern, gehören 
zu den grössten Seltenheíten. Ich selbst verfüge über zwei Beobach- 
tungen, bei denen transvestitische und homosexuell empfindende 
Mädchen sich die äusseren und inneren, als Fremdkörper von ihnen 
empfundenen weiblichen Geschlechtszeichen, die Brüste und Eierstöcke 
entfernen liessen. Beide trugen Männerkleidung und betrieben die 
Umschreibung ihres Personenstandes. Die eine Patientin, welche mit 
einer sehr grossen penisartigen Klitoris ausgestattet war, hatte ein 
regelrechtes Verlöbnis mit einem über ihren Zustand unterrichteten 
Mädchen. Sie fühlte sich zunächst nach der Operation sehr glücklich, 
fiel dann aber in ihre seelische Niedergeschlagenheit zurück und 
endete durch Selbstmord. Der zweiten, einer hochbegabten, aus 
gesunder Familie stammenden Künstlerin waren die Brüste und 
der Uterus vor Jahren von anderer Seite entfernt worden. Sie 
empfand aber die Tatsache, dass sie Eierstöcke hatte, als etwas 
ungemein Störendes und ihre Arbeitsfreude Hemmendes. Seit der 
fast zwei Jahre zurückliegenden Entfernung der Eierstöcke ist sie 
frei von ihren Beschwerden und .mit ihrem Zustand zufrieden. Dass 
es sich in diesem Falle lediglich um eine psychische Einwirkung 
gehandelt hat, möchte ich bezweifeln. Ich glaube vielmehr, dass die 
Ausschneidung der Eierstöcke und die dadurch erzielte Geschlechts- 
losigkeit diese unglücklichen Menschen tatsächlich von ihren Leiden 
befreien kann. 

So sehen wir bei normalen Menschen und auch bei psychisch 
veränderten eine Änderung der Sexualkonstitution als Folge der 
Kastration eintreten und wir müssen uns fragen, wie diese zustande 
kommt. Zum Verständnis dieser Frage müssen wir auf die Über- 
pflanzungsversuche zurückgreifen, welche seit der Mitte des vorigen 
Jahrhunderts Physiologen und Kliniker beschäftigt haben, und als 
deren Ergebnis man die Tatsache zu verzeichnen hat, dass junge Tiere 
nach der Kastration mit nachfolgender Transplantation oder Wieder- 
einpflanzung von Hoden in ihrer weiteren männlichen Entwicklung 
nicht gestört werden. Das gleiche wurde nach der Unterbindung 
des Vas deferens und nach der Zerstörung der spermatogenetischen 
Anteile des Hodens durch Röntgenstrahllen beobachtet. Wenn nun 
die Entwicklung der sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale 
nicht an das Vorhandensein der generativen Hodensubstanz gebunden 

Arehiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 3. | 12 


" "vest 


168 Richard Mühsam. [6 


ist, so muss sie, so schloss man, von anderen Bestandteilen abhängen. 
Als diese nahm man die Zwischensubstanz an, der hiernach die 
Rolle einer Drüse mit innersekretorischer Tätigkeit zugesprochen 
wurde. Die Gesamtheit dieser Zwischensubstanz bezeichneten Ancel 
und Bouin als interstitielle Drüse, Steinach nannte das durch 
die Überpflanzung gewonnene Produkt Pubertätsdrüse.. Im Gegen- 
satz hierzu werden aber die interstitielle*und die Pubertätsdrüse 
von anderen Forschern, wie Tiedje, abgelehnt und die inner- 
sekretorische Tätigkeit des Hodens ebenfalls seinem generativen Anteil 
zugeschrieben. 

Mit der Auswirkung der Steinachschen Überpflanzungsversuche 
auf den Menschen ist dann ein Gebiet klinischer Betätigung und 
Forschung eröffnet worden, über das auch heute noch ein tiefes 
Dunkel gebreitet ist, und das noch viele unerforschte Strecken um- 
fasst. Hier heisst es weiterarbeiten und nicht wegen beobachteter 
Misserfolge oder Versagens der Tierversuche die Flinte ins Korn werfen. 

Die Hodenüberpflanzung ist angewendet worden zur Behandlung 
der Kastrationsfolgen und des Eunuchoidismus, sowie zur Umstim- 
mung homosexueller Geschlechtsempfindung. Es wird daher hier fest- 
zustellen sein, ob und wieweit es möglich ist, die gestörte Sexual- 
konstitution bei diesen Ausfalls- bzw. Krankheitserscheinungen durch 

die Hodenüberpflanzung zu beeinflussen. . 

Im Tierversuch sind hier sehr ‚bemerkenswerte Erfahrungen ge- 
sammelt worden. Sie alle kennen die interessanten Steinachschen 
Versuche über Änderung der Geschlechtsmerkmale durch Einpflanzung 
von Hoden bzw. Eierstock auf kastrierte junge Tiere. Maskulierte 
Weibchen zeigten einen mehr männlichen Körperbau und männliche 
Charaktereigenschaften, wie Streitlust, Kampf um das Weibchen, 
feminierte Männchen bekamen einen zarten Knochenbau und mütter- 
liche Eigenschaften, ja Milchabsonderung wie echte Weibchen. Die 
Steinachschen Versuche sind von Knud Sand-Kopenhagen nach- 
geprüft, bestätigt und in manchen Punkten erweitert worden. 

Beim Menschen werden die Ergebnisse noch am einheitlichsten 
beurteilt bei der Überpflanzung von Hoden auf Spätkastraten. Hier 
sahen Lespinasse, Steinach-Lichtenstern, Stabel, Kreuter 
(in seinem ersten Bericht), Lydston, Haubenreißer, Stocker, 
Els und auch ich günstige, über lange Zeit verfolgte Einwirkungen. 
Es kann wohl als ein Erfolg gelten, wenn ein nach der Kastration 
impotent gewordener Mann wieder instand gesetzt wird, den Ge- 
schlechtsakt auszuüben, wenn der nach der Kastration aufgetretene 
Fettansatz wieder schwand, wenn die Stimme sich wieder vertiefte, 
der Haarwuchs sich in nahezu regelrechter Weise wieder einstellte 


7) Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. | 169 


und die Prostata von der eines .gesunden Mannes nicht mehr zu 
unterscheiden war. 

Ähnliche Veränderungen der Sexualkonstitution treten nach 
Lichtenstern und Stabel bei der Hodenüberpflanzung bei Eunu- 
choidismus ein. Lichtenstern sah vermehrte Behaarung des Stammes 
und der Achselhöhlen, Tieferwerden der Stimme, Wachsen des Penis. 
Erotische Träume, Libido, Erektionen traten auf, ja in einem Falle 
wurden lebende Spermatozoen im Ejakulat nachgewissen, eine Er- 
scheinung, die Lichtenstern auf die Wachstumsanregung der 
Samenkanälchen durch den eingepflanzten Hoden zurückführt. Ich 
selbst war in einem derartigen Falle weniger erfolgreich. Bei dem 
Kranken war nur das erstmalige, und auch nur kurze Zeit anhaltende 
Auftreten von Erektionen zu verzeichnen, sonst änderte sich nichts 
in seinem Befinden. 

Ganz umstritten und noch völlig ungeklärt ist die Wirkung der 
Hodenüberpflanzung bei Homosexualität. Günstigen Erfahrungen 
Lichtensterns und Pfeiffers stehen durchaus ablehnende anderer 
Beobachter gegenüber. Meine eigenen sind geteilt. Neben deutlichen . 
Erfolgen habe ich auch völliges Versagen gesehen. 

Schon die Frage, ob der eingepflanzte Hoden dauernd einheilt, 
muss als nicht geklärt gelten. Förster und vor allem Enderlen 
haben die Transplantate nekrotisch werden sehen, und es ist sicher, 
dass sie in diesen Fällen ausgestossen oder aufgesaugt werden. Im 
Tierversuch mit erwachsenen Tieren sahen jüngst Burckhardt und 
Hilgenberg Nekrose der Transplantate. Meine eigenen Operationen 
ergaben stets reizlose Einheilung; Absonderung auch nur von kurzer 
Dauer gehörte zu den Seltenheiten. Damit will und kann ich natür- 
lich nicht behaupten, dass die von mir überpflanzten Hoden im 
ganzen eingeheilt sind. Es mögen nur Reste von ihnen zurück- 
geblieben sein. Erinnert man sich aber der Tierversuche von Lip- 
schütz und seinen Schülern, nach denen schon ein Hundertstel des 
Gewichtes des Meerschweinchenhodens genügt, um dem Tiere die 
Kastrationsfolgen zu ersparen, so könnte man annehmen, dass auch 
geringste zur Einheilung gelangte Teile beim Menschen zum Erfolge 
hinreichen. Bei doppelseitiger Hodentuberkulose, bei der fast das 
ganze Hodengewebe zerstört ist, werden Störungen der Potenz nicht 
beobachtet. Es genügen also die oft sehr geringen Reste von Hoden- 
substanz. Erst nach der Kastration stellen sich die bekannten Folgen 
des Hodenverlustes ein. 

Wenn Hammesfahr nach einer Hodenüberpflanzung einen Teil 
des Hodens nekrotisch entfernte, auf dem Grunde der Wunde aber 
eine 3 mm dicke Schicht des Transplantats mit der Unterlage fest 

12* 





170 Richard Mühsam. [8 


verwachsen und deutlich vaskularisiert fand, da spärlich blutende 
Gefässchen in der fest haftenden, stellenweise ebenfalls nekrotischen 
Transplantatscheibe zu sehen waren, so kann man entgegen der 
Meinung Hammesfahrs wohl annehmen, dass hier kleinste, für 
die Funktion ausreichende Hodenteile einheilten. Auf die innersekre- 
torische Tätigkeit des Transplantats kommt es an, und diese ist auch 
in den erfolglos operierten Fällen, wenigstens anfänglich, nicht zu 
verkennen. Steinach-Lichtenstern haben von der Ausschüttung 
der Sekrete nach der Operation gesprochen, und auch ich führe die 
kurz nach dem Eingriff auftretenden Erscheinungen auf eine Auf- 
saugung dieser Stoffe, vielleicht mit gleichzeitiger teilweiser Resorption 
des überpflanzten Hodens zurück. So erklären sich die von uns bei 
den Homosexuellen stets beobachteten heterosexuellen Träume, so 
auch die vorübergehenden Erektionen bei dem sonst erfolglos ope- 
rierten Eunuchoiden. Wenn man aber den innigen Zusammenhang 
der verschiedenen innersekretorischen Drüsen untereinander betrachtet, 
so mag in manchen Fällen von Homesexualität schon der durch die 
. Aufsaugung von Hodenhormonen ausgehende Einfluss auf andere 
endokrine Drüsen genügen, um zunächst die Triebrichtung umzu- 
stimmen und in den günstigsten Fällen in der regelrechten Bahn zu 
halten. 

Ist die Frage der chirurgischen Beeinflussung der Sexualkonsti- 
tution bei Eunuchoidismus und Kastration durch Hodenüberpflanzung 
zum grossen Teil von der Frage der mehr oder weniger vollständigen 
Einheilung des Hodens abhängig, so ist sie bei der Behandlung der 
Homosexualität noch dadurch unklarer, als wir bisher nicht wissen, 
ob wirklich der Hoden die Triebrichtung bestimmt, oder ob die Be- 
stimmung der Triebrichtung von anderen Ursachen‘ oder Organen 
abhängig ist. 

Man darf nicht vergessen, dass Homosexuelle auch nach der 
Kastration homosexuell empfinden, wie mich eine eigene Beob- 
achtung lehrte, und muss an die Beziehungen des Hodens zu 
anderen innersekretorischen Drüsen, vor allem an die Änderung 
der Triebrichtung durch Nebennierenerkrankung denken, um die 
Schwierigkeiten zu würdigen, die sich der Erforschung dieser Frage 
gegenüberstellen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass nam- 
hafte Forscher die körperliche Ursache der Homosexualität, wie sie 
in der Steinachschen Lehre von den F.- und M.-Zellen zum Aus- 
druck kommt, ablehnen und in dieser Abweichung lediglich eine 
psychisch zu behandelnde psychische Erkrankung sehen. Auch ich 
kann die Steinachschen Befunde nicht anerkennen, da in den von 
mir entfernten, von so hervorragenden Kennern der Hodenanatomie 


9] Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. 171 


und -pathologie wie Benda und v. Hansemann untersuchten Hoden 
Homosexueller irgendwelche Veräuderungen im Sinne Steinachs 
fehlten. | 

Auf den von Steinach behaupteten Veränderungen in der 
Zwischensubstanz des Hodens baut sich seine Lehre von der Ver- 
jüngung auf. Er nimmt an, dass nach der Unterbindung des Samen- 
stranges der spermatogenetische Teil des Hodens atrophiert, dass 
aber die Zwischensubstanz (seine Pubertätsdrüse) zu kräftigem Wachs- 
tum angeregt wird. Durch dieses Wachstum sollen sich nach Steinach 
Veränderungen im Sinne der Verjüngung in körperlicher und sexueller 
Hinsicht erzielen lassen. Seine Veröffentlichungen mit den Abbildungen 
der operierten Ratten sind bekannt, ebenso der Film, in welchem diese 
Tiere anschaulich gezeigt werden. 

Ob das Verfahren auch beim Menschen Erfolg hat, ist heute 
noch ganz offen. Lichtenstern und einige andere Autoren sahen 
günstiges, von anderen wird es abgelehnt. Meine eigenen Erfahrungen 
an einer Reihe Operierter lassen in einzelnen Fällen gewisse Beein- 
flussungen, namentlich der Sexualfunktion erkennen, in anderen nicht. 
Als erwiesen scheint mir festzustehen, dass es bei psychischer Im- 
potenz wirkungslos ist. 

* Die Erfolge sind verglichen worden mit der Einwirkung der 
suprapubischen Prostatektomie. Bei der Prostatektomie verödet die 
Lichtung des Vasa deferentia nach der Durchreissung, und es wurde 
angedeutet, dass der manchmal überraschende Enderfolg der Pro- 
stataentfernung zum Teil auf dem Verschluss des Vas deferens be- 
ruhe, also im Sinne der Steinachschen Lehre zu verwerten sei. 

Dies scheint mir nicht voll bewiesen. Man darf nicht übersehen, 
dass die Wirkung der Prostatektomie vor allem darauf beruht, dass 
die Kranken von der sie dauernd quälenden, oft mit Urosepsis ein- 
hergehenden Harnverhaltung befreit werden, und dass sie eine un- 
gestörte Nachtruhe bekommen, während sie vorher durch den be- 
ständigen Urindrang jede‘ Nacht mehrmals geweckt wurden. Dass. 
diese so von ihren Beschwerden befreiten Männer nach der Operation 
förmlich wieder aufleben, ist nicht wunderbar. Auch psychische und 
allgemeine Einflüsse spielen bei der Bewertung der Wirkungen eine 
grosse Rolle. Für manche Kranke ist bereits der Aufenthalt in der 
Klinik oder in dem Krankenhaus eine Veranlassung zur Erholung, so 
dass Vorsicht bei der Bewertung von Erfolgen geboten ist. 


Zusammenfassend kann man über die Beziehungen der Sexual- 
konstitution und der Chirurgie sagen, dass die Sexualkonstitution 
durch die Entfernung der Hoden in eingreifender Weise beeinflusst 





172 Richard Mühsam, Die Sexualkonstitution in der Chirurgie. [10 


werden kann. Im allgemeinen wird sie geschädigt, nur in bestimmten 
Formen sexueller Neurasthenie kann sie als Heilmittel betrachtet 
werden. 

Die Überpflanzung der Hoden hat in vielen Fällen einen deut- 
lich erkennbaren, wenn auch vorübergehenden Einfluss auf die Sexual- 
sphäre. Am nachhaltigsten sind die Erfolge bei Spätkastraten, 
vielleicht auch bei Eunuchoiden, während über die Wirkung auf 
Homosexuelle zur Zeit noclı weitgehende Meinungsverschiedenheiten 
bestehen. 

Über die Wirkung der Steinachschen Unterbindung der Vasa 
deferentia liegen zu einem-abschliessenden Urteil noch nicht genügend 
einwandfreie Beobachtungen vor. 


Die Sexualkonstitution wird wesentlich beeinflusst durch inner- 
sekretorische Vorgänge. Ausser den Hoden spielen hier die Neben- 
nieren, die Zirbeldrüse, die Hypophyse und die Schilddrüse eine 
bedeutsame Rolle. | 

Ob durch Operationen an diesen Organen in Zukunft in bezug 
auf die Sexualkonstitution mehr als bisher zu erreichen ist, ist zur 
Zeit nicht zu entscheiden. 


Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 


Von 
Dr. P. Krische. 


Über die Soziologie des Geschlechtslebens heute vorzutragen, ist 
noch etwas verfrüht, denn wie die Sexualwissenschaft ist auch die 
Soziologie noch eine Wissenschaft der letzten Zeit, für die zunächst 
noch mit grosser Mühe die erste Pionierarbeit zu verrichten ist und 
die sich erst gegenüber den alteingeführten Wissenschaften durch- 
setzen muss. Leider ist sie bisher besonders in Deutschland noch 
eine Art Stiefkind, das von den Vertretern der alten Schulwissen- 
schaft misstrauisch betrachtet wird. In anderen Ländern hat sich 
dagegen die Soziologie einen beachteten Platz im grossen Bereich der 
modernen Wissenschaft errungen. In Frankreich hat die Pariser 
soziologische Schule von Dürkheim bereits internationalen Ruf er- 
langt, in Brüssel hat das von Ernest -Solvay gegründete sozio- 
logische Institut bahnbrechend gewirkt und im angelsächsischen Kultur- 
gebiet finden schon seit Jahrzehnten die soziologischen Untersuchungen, 
wie sie Morgan, Frazer, Havelock-Ellis und andere unter- 
nommen haben, besondere Wertung und Schätzung. Ausgerechnet 
Deutschland, in welchem die völlig auf soziologische Denkweise fussende 
politische Bewegung des Sozialismus in einem Masse wie in keinem 
Lande sonst die Massen beschäftigt, ist die wissenschaftliche Sozio- 
logie noch so wenig anerkannt, dass wir auf den Hochschulen noch 
keinen ordentlichen Lehrstuhl für diesen Wissenszweig besitzen. 

Die Grundbegriffe der reinen Soziologie sind in Deutschland zum 
ersten Mal in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von 
Ferd. Tönnies in seinem Werke „Gemeinschaft und Gesellschaft“ 
auseinandergesetzt worden. Der Gesellschaft, in welcher wirtschaft- 
lich verbundene Menschen ohne Gemeinschaft miteinander im Kampfe 


174 P. Krische. [2 


leben, stellt er die Verbindungen von Menschen gegenüber, die durch 
irgend welche Gemeinschaft gekennzeichnet sind, so die Blutsverbin- 
dungen, Mutter und Kind, Eltern und Kinder, Blutsverwandtschaft, 
Sippe, die Gemeinschaftstriebe des Eros (Liebe und Freundschaft), 
die Verbundenheit, Zusammengehörigkeit zur gleichen Scholle (Heimat) 
und die Verbundenheit der Menschen, die zum gegenseitigen Schutz 
sich zusammengetan haben (Staat, Nation). Diese Begriffe, die durch 
Tönnies Werk wissenschaftliches soziologisches Gemeingut geworden 
sind und bis in die Kreise der extremen Marxisten, wie Heinrich 
Cunow, Anerkennung gefunden haben, sind doch noch richt derart 
in das allgemeine, wissenschaftliche Bewusstsein eingedrungen, dass 
sie allen geläufig sind, die sich mit dem Problem des Geschlechts- 
lebens, also des Gemeinschaftstriebes des Eros, befassen. Ist es mir 
doch noch in den letzten Jahren wiederholt begegnet, dass mich 
ganz moderne Wissenschaftler gelegentlich meiner Kurse über Gemein- 
schaftskunde fragten, was dies denn überhaupt wäre. Sie konnten 
sich bei dem Wort Gemeinschaftskunde keine Vorstellung über eine 
wissenschaftliche Disziplin machen. Das ist deshalb nicht zu ver- 
wundern, weil, von Tönnıes und den ihm nahestehenden Kreisen 
abgesehen, in der Soziologie aus sehr naheliegenden Gründen bisher 
die gesellschaftlichen, also ökonomischen Probleme eingehender studiert 
worden sind als die Gemeinschaftsprobleme. Das geht soweit, dass 
selbst in einem Gebiet, in welchem das Triebhafte so ausserordentlich 
massgebend ist, wie im Sexualgebiet, ökonomische Untersuchungen 
gegenüber gemeinschaftskundlichen Untersuchungen vorwiegen. Ob- 
wohl bisher letzte Erkenntnis immer wieder dahin führen musste, 
dass der Eros in seiner Tiefe am besten als stärkster Gemeinschafts- 
drang von bipolaren zu Einheit treibenden Kräften aufgefasst wird 
und daher in erster Linie als Gemeinschaftsproblem behandelt werden 
muss, sehen wir doch, dass in den bisherigen Abhandlungen über 
die Soziologie des Geschlechtslebens diese psychologische Eigenart 
nicht genügend gewertet wird. | 

Das gilt besonders von denjenigen Werken, welche die Entwick- 
lung des Geschlechtslebens vornehmlich vom ökonomischen Gesichts- 
punkt aus behandeln. Hierzu ist die Arbeit des deutschen Soziologen 
Müller-Lyer, „Die Phasen der Liebe“, zu rechnen, sowie das be- 
kannte Buch von August Bebel, „Die Frau und der Sozialismus“. 
Anders liegt es mit den vornehmlich psychologisch eingestellten Unter- 
suchungen. Hier hat namentlich das Werk von Sigmund Freud, 
„Totem und Tabu“, cine geradezu revolutionierende Wirkung aus- 
geübt; auch die Arbeit der Ärztin M. von Kemnitz, „Die erotische 
Wiedergeburt“ hat Beachtung gefunden. 


3] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 175 


Die Soziologie des Geschlechtslebens verdient insoweit ein leb- 
haftes Interesse, als sich in ihr besonders scharf die verschiedenen 
Theorien des Sozialismus prüfen lassen, die, solange es einen wissen- 
schaftlichen Sozialismus gibt, bis auf den heutigen Tag am lebhaf- 
testen erörtert werden und zweifellos geradezu das Zentralproblem 
des Sozialismus bilden. Man kann geradezu von einer ökonomischen 
und einer psychologischen Richtung sprechen, indem die eine den 
Produktionsprozess, also die ökonomischen Bedingungen, die andere 
dagegen die Triebanlagen des Menschen, also die psychologischen Be- 
dingungen, als das Primäre im Gesellschaftsprozess ansehen. Es dürfte 
wohl kein Gebiet der Soziologie geben, das so deutlich wie das des 
Geschlechtslebens darauf hinweist, dass wir nur durch eine Synthese 
der ökonomischen und psychologischen Bedingungen und Ursachen, 
wie ich sie seit einiger Zeit vertrete, zu einer durchgreifenden Lösung 
des Problems gelangen. ` 

Neben dieser ersten grundsätzlichen Entscheidung ist noch eine 
zweite als Hauptproblem zu bezeichnen, nämlich die, ob man über- 
haupt in der Natur und Gesellschaft, also auch auf dem Gebiet des 
Geschlechtslebens, in einwandfreier wissenschaftlicher Form von einer 
Entwicklung sprechen kann oder nicht. So ist bekannt, dass die 
Naturwissenschaft gegenwärtig von dem von Haeckel vertretenen 
Prinzip der Entwicklung, die er als höhere Mannigfaltigkeit des Auf- 
baues (Differenzierung) und als höhere Art der Anordnung nach einem 
Mittelpunkt (Zentralisierung) kennzeichnete, abrückt, weil man darin 
den Versuch sieht, menschliche Wertung. in das Naturreich zu ver- 
pflanzen, das bei sachlicher Untersuchung derartigen Wertbegriffen 
nicht standhält. Man beobachtet darum, dass, während bei den Ver- 
tretern der Naturwissenschaft eine Zeit die monistische Grundauf- 
fassung vorherrschte, neuerdings wieder dualistische Begriffe mehr 
als früher erörtert und als unentbehrlich betrachtet werden, welche 
den Naturwissenschaften, die um keinerlei Wertfragen sich kümmern, 
Geisteswissenschaften gegenüberstellen, deren Hauptproblem die Er- 
örterung von Werten ist. 

Die Soziologie steht in diesen Dingen auf einem anderen Stand- 
punkt als die Naturwissenschaft. Wenn sie sich auch in der Richtung 
der positivistisch arbeitenden Soziologie von den Begriften absoluter 
Werte fernhält, so sieht sie doch insoweit eine Entwicklung vom 
Niedrigen zum Höheren, als sie den Hauptnachdruck auf den Be- 
wusstwerdungsprozess innerhalb der Gesellschaft legt. Sie begegnet 
sich hier, wie leider noch viel zu wenig beachtet wird, mit der neuen 
Richtung der Psychologie, die als Psychoanalyse von Siegmund Freud 
begründet ist und die gleichfalls im Werdeprozess der Menschheit 


176 P. Krische. [4 


eine allmähliche Steigerung der bewussten Kräfte gegenüber den un- 
bewussten Triebkräften in der Aufeinanderfolge einer mythologischen, 
religiösen und wissenschaftlichen Epoche sieht. So bejaht also sowohl 
die Psychoanalyse wie die positivistische Soziologie den Begriff der 
Entwicklung, Sublimierung in der Form, dass sie im Werdeprozess 
der menschlichen Gesellschaft eine Steigerung von Bewusstseinsinhalten 
feststellt, also auch vom bewussten Gemeinschaftsinhalt. 

Von diesem Grundsatz ausgehend, gelangt die Soziologie des Ge- 
schlechtslebens zur Feststellung von Entwicklungsstufen im Verlaufe 
der Entwicklung der Menschheit überhaupt. Für diejenigen, welche 
sich mit soziologischen Problemen noch nicht befasst haben, muss 
ich zur Verständigung einige einführende Erklärungen geben. Man 
ist wohl allgemein in der Soziologie der Auffassung, dass unter den 
Ursachen, welche die verschiedenen Formen der menschlichen Ge- 
sellschaft hervorgerufen haben, in erster Linie wirtschaftliche Ursachen 
stehen. Die verschiedenen Stufentheorien der Entwicklung der mensch- 
lichen Gesellschaft bauen sich darum durchweg auf der Unterschied- 
lichkeit wirtschaftlicher Formen auf. Besonders gut ausgearbeitet und 
daher vielfach benutzt ist das System des Soziologen Müller-Lyer, 
das er das phaseologische nennt, in welchem, wie in verschiedenen 
anderen Theorien, ökonomische Eigenarten grundlegend für die Eigen- 
arten der Stufenfolge sind. Natürlich sind solche Einteilungen wie 
alle Einteilungen, die man sowohl in der Natur wie in der mensch- 
lichen Gesellschaft. vornimmt, künstlich (gekünstelt). In Wirklichkeit 
gibt es im Verlaufe der Entwicklung nicht so scharf getrennte Stufen 
und Abschnitte, vielmehr sind dauernd zwischen den einzelnen Ent- 
wicklungsphasen mannigfaltige Übergänge festzustellen. Trotzdem kommt 
man ja nirgends ohne solche gekünstelte Schematismen aus, wenn 
man sich ein klares Bild machen will. Die Hauptzäsur, die Müller- 
Lyer in seinem Einteilungssystem vornimmt, ist die Begründung der 
Städte. Was vor dieser Zeit liegt, gehört in das Gebiet der Natur- 
völker, was nachher liegt, in das der Kulturvölker. Beide grossen 
Hauptgruppen von Natur- und Kulturvölkern teilt er dann wieder 
in zwei Entwicklungsabschnitte, die der Naturvölker in Wildheit und 
Barbarei, die der Kulturvölker in Zivilisation und sozialistische Epoche. 
Die Stufe der Wildheit zählt er vom Urmenschen bis zum Beginn des 
Ackerbaues, die der Barbarei vom Beginn des Ackerbaues bis zur 
Städtekultur. Die erste Stufe der Kultur rechnet er vom Beginn des 
Städtebaues bis zu den Ansätzen gemeinwirtschaftlicher Einrichtungen, 
während die zweite Stufe, die sozialistische Epoche, in deren Beginn 
wir uns befinden, einstweilen nur durch die ersten Erscheinungen 
gemeinwirtschaftlicher Art gegenüber dem privatwirtschaftlichen Ge- 


5] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 177 


füge der Zivilisation gekennzeichnet wird. In der Übersicht I findet 
man Angaben, welche Vertreter der verschiedenen Entwicklungsstufen 
früher und heute noch in der Menschheit vorhanden waren und sind. 

Der Soziologe hat aus den bisherigen Studien entnommen, dass 
es kein Bereich innerhalb der menschlichen Gesellschaft gibt, welches 
sich den Einflüssen dieser ökonomischen Struktur zu entziehen ver- 
möchte. Seine auf anderen Gebieten gemachten Feststellungen führen 
darum zu der Analogie, dass auch auf dem Gebiete des Geschlechts- 
lebens den wichtigsten ökonomischen Entwicklungsstufen bestimmte 
eigenartige Phasen im Bewusstwerdungsprozess entsprechen. 

Von der Urzeit des Menschen, der ersten Unterstufe.der Wild- 
heit, der Zeit bis zur Erfindung von Sprache und Feuer, wissen wir 
leider nichts, da deren Vertreter nicht mehr existieren. Nur die Tat- 
sache, dass bei den höchst entwickelten Tieren allgemein eine Zeit 
gesc!lechtlicher Erregung (Brunstzeit) mit Perioden eines schwachen 
oder ausbleibenden Sexualtriebes abwechseln, lassen darauf schliessen, 
dass der Mensch der Urzeit eine Paarungszeit besessen hat. Bei allen 
Tieren richtet sich die Paarungszeit nach der günstigsten Periode der 
Aufzucht der Jungen. Westermark nimmt darum in seinem bekannten 
Werk über die Geschichte der menschlichen Ehe an, dass der Mensch 
der Urzeit der nördlichen gemässigten Zone seine Paarungszeit -im 
Dezember gehabt hat. Hier findet der im Dezember empfangene, im 
September geborene Mensch zur herbstlichen Erntezeit die besten 
Lebensbedingungen für die Eltern und auch für sich selbst. Statistisch 
ist heute noch zu beobachten, dass in den nördlichen gemässigten 
Ländern die im Herbst geborenen, also im Dezember empfangenen 
Kinder die grösste Lebensfähigkeit besitzen. 

Während die menschliche Urzeit leider unserer Beobachtung ent- 
zogen ist, besitzen wir noch einige Naturvölker, die auf dem Stand- 
punkt der nächst höheren Unterstufen der sogenannten niederen und 
höheren Jäger stehen. Niedere Jäger sind namentlich die Australier, 
Buschmänner, Zwergvölker, Eskimos. Auch hier lassen sich noch 
bisweilen Reste einer Paarungszeit feststellen. Hingegen ist der 
periodische Liebestrieb, wie er für die Urzeit angenommen wird und 
wie er bei den höheren Tieren besteht, abgelöst durch einen Zustand, 
in welchem das Geschlechtsleben wesentlich durch das Verlangen des 
herrschenden Mannes bestimmt wird, soweit es nicht durch Gegen- 
sätze der Nahrungsversorgung (Hungerperioden mit geringem, Über- 
flussperioden mit starkem Trieb) beeinträchtigt wird. In dieser Epoche 
ist die Frau nahezu vollkommen der Willkür des herrschenden Mannes 
ausgeliefert, bestimmt also die Geschlechtslust des Mannes ausschliess- 
lich das Geschlechtsleben. Nach F liess steht dem weiblichen Rhythmus 





178 P. Krische. 6 


von 28 Tagen ein männlicher von 23 Tagen gegenüber mit einem 
Auf und Nieder auf allen Tätigkeits- und Willensgebieten, also auclı 
im geschlechtlichen. Während der Unterstufe der Wildheit wird diese 
männliche Periodizität in geringerem Masse in Betracht kommen 
als die wesentlich bestimmendere Beeinflussung durch die Nahrungs- 
beschaffung. | 

Die Verhältnisse ändern sich gründlich mit der Einführung des 
Ackerbaues, welche die beiden Stufen der Wıldheit und Barbarei 
voneinander unterscheidet. Auch die Stufe der Barbarei wird in 
drei Unterstufen geteilt, die der niederen Ackerbauer (indianischer 
Ackerbau), der mittleren (malayische) und höheren Ackerbauer (Afrika). 
Die Unterstufe der niederen Ackerbauer zeigt jene bemerkenswerte 
und einzig im gesamten Entwicklungsverlauf der Menschheit auf- 
tretende Periode des sogenannten Mutterrechtes, die man fälschlich 
früher allgemein als dem Vaterrecht vorausgehend ansah. Heute ist 
einwandfrei nachgewiesen, dass diese frühere Annahme einer überall 
stattfindenden Entwicklung vom ursprünglichen Mutterrecht zum Vater- 
recht durch die tatsächlichen Beobachtungen bei niederen und höheren 
Jägervölkern nicht gestützt wird; das Mutterrecht ist vielmehr eine 
Einrichtung, die man allgemein bei den niederen Ackerbauern findet, 
dadurch hervorgerufen, dass die Frau, der von jeher das Sammeln 
der Früchte und die Pflege des Feuers zugewiesen wurde, die auch 
die erste Ausübende des Ackerbaues war, durch Einführung des 
Ackerbaues den jagenden Männern gegenüber ein wirtschaftliches 
und dadurch überhaupt gesellschaftliches Übergewicht erhielt. 

Wir kommen so zu der merkwürdigen Periode des Mutterrechtes, 
in welcher die Frauen an der Spitze der gesellschaftlichen Ordnung 
stehen und dadurch auch int Geschlechtsleben den Rhythmus be- 
stimmen. Die Phase des Mutterrechtes ist darum verbunden mit 
einer solchen des weiblichen Rhythmus im Liebesleben. Doch diese 
Epoche ist, wie sie wirtschaftlich nur kurze Zeit bestand, auch im 
Geschlechtsleben nur von geringer Lebensdauer gewesen. Der als 
Jäger wirtschaftlich zurücktretende Mann trat als Handelsvermittler 
wieder in den Vordergrund und nun beginnt die Hauptepoche der 
Barbarei mit ihrer patriarchalischen vaterrechtlichen Struktur. Die 
Frau wird erneut, und diesmal unerbittlich, unterjocht und die Zweit- 
klassigkeit der Frau bleibt in den folgenden Epochen bis auf unsere 
Zeit bestehen. Von der mittleren Stufe der Barbarei etwa an bis 
über sämtliche drei Stufen der Zivilisation bis in unsere gegenwärtige 
Zeit beherrscht das Geschlechtsleben der mehr und mehr überreizte 
männliche Rhythmus. Diese Perioden sind nicht ohne Entwicklung 
geblieben, worauf das erste Mal mit besonderer Schärfe Müller- 


7] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 179 


Lyer aufmerksam gemacht hat, der drei Entwicklungsstufen der 
Liebe unterscheidet; 1. die primitive Liebe des naiv tierischen Liebes- 
empfindens, 2. die familiäre Liebe, in der die von ihm sekundäre 
Gefühle genannten Erscheinungen der Eifersucht, der Wertschätzung, 
der Keuschheit, der Elternschaft auftraten, und 3. die personale Liebe, 
die er auch romantische Liebe nennt. Es werden hierbei zu sehr die 
tatsächlichen Äusserlichkeiten, sowie Triebe der Elternschaft, die mit 
dem Geschlecht an sich nichts zu tun haben, berücksichtigt, an Stelle 
des rein erotischen. Mir scheinen folgende Unterstufen der Entwick- 
lung in der grossen Epoche der patriarchalischen Kultur vorzuliegen: 
Die erste, welche die Liebeswahl nach einem äusserlich bedingten 
Typus vornimmt, und die zweite, bei welcher der geistige Typ mehr 
und mehr die Übermacht bekommt. Jenes naiv tierische Empfinden, 
wie es Müller-Lyer als erste Stufe annimmt, bei welchem auf den 
Menschen jeder anders geschlechtliche Mensch geschlechtlich wirkt, 
ist vielleicht niemals vorhanden gewesen. Beobachten wir doch schon, 
wie jeder Tierzüchter bestätigen kann, bei den höheren Tieren eine 
Liebeswahl nach Geschmacksempfinden, die oft sehr eigenwillig auf- 
tritt. Wenn wir daher heute noch bisweilen Menschen sehen, welchen 
jeder andersgeschlechtliche Mensch zu erregen vermag, so sehen wir 
hier einen atavistischen Vorgang, der selbst über Entwicklungsstufen 
der hochentwickelten Tiere in die Vergangenheit hinaufreicht. Sehr 
weitverbreitet ist dagegen heute noch der Typ, der in der Epoche 
der Barbarei begründet wurde und der äusserlich festgelegt ist. Das 
trifft für die kleinen Männer zu, die sich für grosse, starke Frauen 
interessieren, für die blondhaarigen, die die schwarzhaarigen vor- 
‚ziehen, für die schlanken, welche die Korpulenz lieben und so fort. 
Den Beobachtungen nach soll diese auf den äusseren Typ eingestellte, 
aus der Entwicklungsstufe der Barbarei stammende Fixierung neuer- 
dings in den depravierten Zirkeln von Berlin WW eine Auferstehung 
finden, indem es Gebrauch ist, sich zu einem Typ zu bekennen. Das 
Bekenntnis soll nicht selten sein, dass eine Frau gelangweilt von 
ihrem Manne spricht, der nicht ihr Typ sei, und sich leidenschaftlich 
zum Freunde bekannt, der ihren Typ vertritt. Wenn dieser äusser- 
liche Typ auch weiter noch zweifellos eine Rolle spielt, so findet er 
doch eine Verfeinerung durch die Einstellung auf den geistig be- 
dingten Typ, wie wir es schon in der Minne- und Troubadurzeit des 
Mittelalters finden, sowie in den späteren romantischen Epochen, in 
denen die Zartheit, die Lieblichkeit, der mädchenhafte Charakter 
verherrlicht werden. (Schillers Glocke: Denn wo das Strenge mit dem 
Zarten, wo Hartes sich und Mildes paarten, da gibt es einen guten 
Klang.) Naturgemäss kommt in dieser Epoche der Männerkultur die 


180 P. Krische. [8 


Frau sexuell nicht auf ihre Rechnung. Die Ärztin M. v. Kemnitz, 
deren vielbesprochenes Buch Wiedergeburt der Erotik sich haupt- 
sächlich mit dem Problem der geschlechtlichen Beglückung der Frau 
befasst, sieht die Ursache in der Naturwidrigkeit, dass in der Männer- 
kultur das überreizte männliche Geschlechtsverlangen die Beglückung 
der Frau vernachlässigte und vor allen Dingen das uralte Naturgesetz 
missachtete, dass beim Geschlechtsakt die Auslösung des Weibes vor 
derjenigen des Mannes zu erfolgen hat. Findet doch schon bei den 
Fischen erst die Ablage der Eier, darauf folgend die des Samens 
statt. Nach M. v. Kemnitz sind 60°/o der deutschen Frauen beim 
normalen Geschlechtsakt unbefriedigt, darum kühl, weil durch ihn 
ihre Erleichterung der Geburt von der Vagina fortgelagerten Erre- 
gungszentren nicht genügend gereizt werden. Wesentlicher ist natür- 
lich, dass infolge der wirtschaftlichen Vormacht des Mannes 
die weiblichen Bedürfnisse, wie auf allen Gebieten, so auch auf dem 
des Geschlechtslebens vernachlässigt werden. 

-Eine Änderung ist nach soziologischer Auffassung nur dann 
durchgreifend zu erwarten, wenn die wirtschaftliche Benachteiligung, 
welche die Frau durch ihre Mutterschaftsbürde dem Manne gegenüber 
besitzt, dadurch aufgehoben wird, dass die Gesellschaft in Form einer 
Mutterschaftsrente die gesamten Kosten für die Aufzucht der Kinder 
übernimmt. Hierauf hat u. a. in allerdings etwas übertriebener Art 
aber doch sehr scharfsinnig Kurt H. Busse in seinem Aufsatz über 
die Sozialisierung der Frau hingewiesen, indem er darauf ausgeht, 
dass zwangsläufig die Frauen im Kampf gegen die herrschenden 
Männer eine Gewerkschaft gebildet haben, welche zum höchsten Tarif, 
nämlich dem der lebenslänglichen Versorgung, ihre Jungfrauschaft 
und ihre Hingabe gewährt hat, dass deshalb der allen sogenannten 
anständigen Frauen gemeinsame Hass gegen die nichtanständigen in 
erster Linie wirtschaftlich bedingt ist, ein Ausfiuss der Gewerkschafts- 
solidarität, die in der billigen Hingabe eines Mädchens ohne den 
Preis einer lebenslänglichen Versorgung einen Streikbruch erblickt. 
Zweifellos wird die heute aus den Gründen der wirtschaftlichen Be- 
nachteiligung der Frau noch nicht mögliche höhere Stufe im Liebes- 
leben, welche auf eine verfeinerte Beglückung von Mann und Frau 
ausgeht und nach den bisherigen Beobachtungen wahrscheinlich die 
Fixierung auf eine Person mehr und mehr in den Vordergrund 
rückt, erst dann möglich sein, wenn eine wirtschaftliche Gleichstellung 
von Mann und Weib in dem von Busse vorgeschlagenen Sinne er- 
zielt ist. So kann ich vor der Hand den gegenwärtigen Standpunkt 


in der Gemeinschaftskunde des Liebeslebens durch folgende Leitsätze 
kurz kennzeichnen: 


9] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. | 181 


Leitsätze zur Entwicklung und Gemeinschaftskunde 
des Liebeslebens. ` 


1. Bei den gesellig (sozial) lebenden Menschen ist die Betätigung 
der Geschlechtlichkeit, ursprünglich Arterhaltungstrieb, ebenso wie 
die des Selbsterhaltungstriebes nicht nur eine rein persönliche (indi- 
vidualistische), sondern zugleich eine soziale, in ihren Formen durch 
die gesellschaftliche Entwicklung beeinflusste Angelegenheit. 


2. Mit der Entstehung des Privateigentums im Zeitalter der 
mittleren Ackerbauer wurde die Hörigkeit der Frau begründet. Nach 
Fortfall des ursprünglichen Gemeineigentums kann die Horde ihre 
Kinder nicht mehr gemeinsam erhalten, so dass die Mutter auf die 
Versorgung durch den einzelnen Mann angewiesen ist. Erste Voraus- 
setzung einer Regelung der geschlechtlichen Beziehungen ist darum 
die Beseitigung der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Frau als Mutter 
vom Manne, die nur durch die Mutterschaftsrente im wohlgeordneten 
Staate gewährleistet ist, nicht etwa schon durch die Teilnahme der 
Frau am Wirtschaftsleben. Auch der Mann muss der drückenden 
Versorgungspflicht enthoben sein. 


3. Mit der Verwirklichung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit 
der als Mutter doppelt .belasteten Frau ist das Geschlechtsproblem 
nicht gelöst. Die Geschlechtlichkeit wirtschaftlich freier Frauen und 
Männer ist ein Betätigungsgebiet neuzeitlicher Gemeinschaftskunde 
mit bestimmten Entwicklungsgesetzen, die durch die Eigenart des 
Eros bestimmt werden, sobald er, befreit von der wirtschaftlichen 
Belastung und sittlichen Verpönung, zu seiner reinen Entfaltung ge- 
langen kann. 


4. Die Entwicklungslinie des Eros zeigt eine Aufwärtsbewegung 
in dem Gemeinschaftserlebnis. Ursprünglich diente der Geschlechts- 
trieb lediglich der Arterhaltung und tritt periodisch mit starken 
Brunstzeiten und neutralen Zwischenzeiten auf. In Art und Aus- 
führung ist er unverfeinert und ein persönliches Liebesverhältnis ist 
unbekannt. Schon im Leben der höheren Tiere setzen auslesende 
Neigungen ein. Männchen und Weibchen werden nur bei bestimmten 
Eigenschaften des andersgeschlechtlichen Wesens, auch in der Brunst- 
zeit, geschlechtlich erregt. Mit wachsender Verfeinerung (Sublimie- 
rung) ergeben sich Anzeichen, dass die Entwicklung in der Richtung 
auf Einstellung zu einem einzigen Wesen des anderen Geschlechts abzielt, 
was natürlich mit der unauflöslichen einmaligen Einehe (bürgerliche 
Zwangsmonogamie) nichts zu tun hat. Erschreckend ist heute noch 
die Rückständigkeit auf diesem Gebiete in der kapitalistischen Ge- 
sellschaft mit der Prostitution, der groben Mannesbrutalität, der 


182 P. Krische. [10 


völligen V-ersklavung der Frau im Erotischen, alles notwendige Folge- 
erscheinungen der heutigen Zwangsehe und der Wahlunfreiheit des 
Weibes. 


5. Eine zweite Gesetzmässigkeit der erotischen Entwicklung ist 
durch die Naturanlage bedingt. Der werbende Mann hat nicht, wie 
bisher, lediglich seine eigene Beglückung ohne Rücksicht auf die 
weibliche Geschlechtlichkeit zu verlangen und durchzuführen. Die 
Erzielung der Beglückung der Frau ist durch ihre Mutterbürde er- 
schwert und differenziert von der des Mannes. Diese Verschieden- 
artigkeit muss in der Geschlechtlichkeit des Mannes berücksichtigt 
werden, um die Frau aus der heutigen Not mangelhafter geschlecht- 
licher Beglückung zu befreien. Nicht Hingabe, sondern Gewäh- 
rung mit erzielter Beglückung ist höhere Form der Erotik bei 
der Frau, so dass von nun ab das Geschlechtserlebnis auf voller 
Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung zum wahren Gemeinschafts- 
erlebnis wird. 


6. Die Förderung der geschlechtlichen Beglückung zu dem blossen 
Zweck der Fortpflanzung ist nicht, wie die christlich-asketische An- 
schauung vertritt, ein Zeichen der Entartung und Verkommenbheit. 
Wohl sind die durch die kapitalistische Gesellschaft eingeführten 
oder verursachten geschlechtlichen Ausschweifungen und Verkümme- 
rungen gemeinschaftsarme, krankhafte Entartungsgebilde. Die Auf- 
wärtslinie geschlechtlicher Beglückung vertritt dagegen schöpferische 
und wertvolle Arbeit im Sinne neuzeitlicher Gemeinschaftskunde. 
Der vollkommen beglückte Mensch wächst in seinem Gemeinschafts- 
erlebnis in der Erstarkung seiner sozialen Triebe. Der Nichtbeglückte, 
sowohl jener der unverfeinerten Befriedigung wie der den Trieb er- 
zwungenermassen Verdrängende, wird in seinem Gemeinschaftssinn 
beeinträchtigt, wird brutal oder verbittert, gerät unter die Fuchtel 
asozialer Triebe, unter denen die der Grausamkeit die furchtbarsten 
soziologischen Auswirkungen hervorrufen. Die Geschichte menschlicher 
Tyrannei, Grausamkeit und Blutgier ist zum Teil Geschichte der miss- 
glückten Lösung des Geschlechtsp: blems. 


11] Zur Soziologie des Geschlechtslebens. 183 


Literatur. 


1. L. Morgan, Die Urgesellschaft. 2. Aufl. Verlag Dietz Nachf. Stuttgart 
1908. | 

2. Havelock-Ellis, Geschlecht und Gesellschaft, Grundzüge der Soziologie 
des Geschlechts. 2 Bde. 2. Aufl. Verlag Kabitzsch. Leipzig 1922/23. 

3. Ferd. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen 
Soziologie. 4. Aull. Verlag Curtius. Berlin 1922. í 

4. F. Müller-Lyer, Phasen der Liebe. 2. Aufl. Verlag Albert Langen. München 
1918. I 

5. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus. Verlag Dietz Nachf. 
Stuttgart. 

6. S. Freud, Totem und Tabu. Internationaler psycho-analytischer Verlag. 
Wien 1918. 

7. M. von Kemnitz, Erotische Wiedergeburt. Verlag Reinhardt. München 
1918. 

8. E. Haockel, Welträtsel. Verlag Strauss, Bonn a. Rh. Volksausgabe: 
Verlag M. Kıöner. 

9. F. Müller-Lyer, Phasen der Kultur. Verlag Albert Langen München 1918. 

10. Kurt H. Busse, Die Sozialisierung der Frau. Der Sozialist. Berlin W. 
1920. 8 S 

11. P. Krische, Gemeinschaftskunde Verlag A. Hoffmann. 1921. 

12. P. Krische, Soziologie der Ehe. Verlag Gesellschaft proletarischer Frei- 
denker. Dresden 1923. 


Archiv für Frauenkunde. Bd. 1X. H. 3. 13 


184 P. Krische, Zur Soziologie des Geschlechtslebens. [12 


Die Entwicklungsstufen im Liebesleben. 





Natur Ent- 


i li ickl f Entwi f 
a a e e See 
Kultur| abschnitte 
a) --(Urzeit)-- (ausgestorben). Periodischer Liebes- 
trieb. 


b)Niedere Jäger: Australier, Zwerg- |\ Vorstufezum geschlecht- 

völker (Negritos), Buschmänner, Feuer- |} lich bedingten Rhyth- 

länder, Eskimos (Diluvialmensch). mus im Liebesleben 

Wildheit (Rhythmus des Man- 
c) Höhere Jäger: Nordamerikanische || nes), beeinflusst durch 
Jägerstämme (Kalifornier, Apatschen, || Gegensätze der Nah- 





Kommantschen). rungsbeschaffung. 
Fischervölker: Italmenen, Alanten, | (Hungerperioden = 
Giliaten, Thlinkit usf. schwaches; 
Überflussperioden — 
starkes Triebleben.) 
Natur- 
völker A — — 


Bestimmung des Liebes- 
lebens durch den weib- 
lichen Geschlechts- 
rhythmus (Mutter. 
recht). 


| a)Niedere Ackerbauer: Indianische 
| Ackerbauer, Papuas, Malayen usw., von 
| den Polinesiern nur die N Eusseländer. 
| 
| 


und melanesische Ackerbauer. 

Hirtenvölker: Asiatische und afri- 
kanische Hirtennomaden;; Germanen des 
Tacitus. 


|! Barbarei 


c)Höhere Ackerbauer: Ozeananische 
und afrikanische Ackerbauer. Homerische 
Griechen, Römer unter den Königen, 


Ee E ———— 
b)Mittlere Ackerbauer: Malaiische 
Germanen bis zum früheren Mittelalter. I 


en Niedere Zivilisierte: Altamerikani- || Der überreizte männ- 
sche Kulturvölker, Assyro-Babylonier, |{ liche Rhythmus be- 
Ägypter, Chinesen, Griechen bis Solon, || stimmt das Liebes- 
Römer bis zu den punischen Kriegen, || leben. 

'Zivilisation' Jomanisch-germanische Völker im Mit- || Allmählich Einstellung 





telalter. der Liebe auf: 
Kultur b)Mittlere Zivilisierte: Griechen von a) einen äusserlich be- 
völker Solon ab, Römer nach den punischen dingten Typus, 


Kriegen, Romanisch-germanische Völker 
bis zum 18. Jahrhundert. 

c)Höhere Zivilisierte: Romanisch- 

germanische Völker im 19. E NACEN 


b)einen geistig be- 
dingten Typus. 


Sozialisti- a) Niedere Sozialisierte: Romanisch- | Beglückung von Mann 
sche Zeit germanische Völker im 20. Jahrhundert.| und Frau im Liebes- 
leben (Fixierung auf 


| | eine Person). 


Sexualwissenschaft und Sexualreform in den 
Vereinigten Staaten ’'). 


Ein Reisebericht 


von 


Arthur Weil, Berlin. 


Wenn man sich zum vergleichenden Studium zweier Völker ein Gebiet 
heraussuchen will, auf dem alle Völker der Erde etwas Gemeinsames haben, 
dann gibt es wohl kein geeigneteres als das menschliche Liebesleben, und ler 
Versuch, zu schildern wie der allen gemeinsame Urtrieb unter dem Einfluss 
der Rasse, des Milieus, der Kultur umgestaltet, entwickelt oder gehemmt wird, 
führt mitten in die allgemeinsten Probleme des Familien- und Staatenlebens 
hinein. Wenn ich heute Abend den Versuch unternehme, von meinem Stand- 
punkte als Biologe und Sexualforscher aus alle die mannigfaltigen Erfah- 
rungen und Beobachtungen eines sechsmonatlichen Studiums zusammenzu- 
fassen, so bin ich mir dabei vollkommen der gewollten Einseitigkeit dieses 
Standpunktes bewusst; ein Politiker, ein Dichter oder ein Pädagoge würde das 
ganze Problem vielleicht durch eine andere Brille sehen; aber wenn man 
schliesslich alle diese verschiedenen Beobachtungen zusammenfasste, ergäbe 
sich doch eine gemeinsame Basis, ein gemeinsamer Grundzug, der als charakte- 
ristisch für das Volk der Vereinigten Staaten Nord Amerikas zu gelten hätte. — 
Hier springt sofort die Frage auf: gibt es denn überhaupt einen Typus „Ameri- 
kaner“, ist es nicht ein absurdes Unterfangen dieses Völkergemisch als Einheit 
zu betrachten vom Osten an, von den Ufern des Atlantischen Ozeans mit der 
angelsächsischen und germanischen alten Bevölkerung nach den Südstaaten mit 
Franzosen und Negern bis zu den Ufern des Pazific mit Spaniern, Chinesen und 
Japanern, alle Teile vermischt mit italienischen, jüdischen, slawischen Ein- 
wanderem und anderen Rassen des alten Europas, die alle wie ein Wall die 
Urbevölkerung, die Indianer, in den Zentralstaaten umgeben und allmählich 
erdrücken? Ja, es entwickelt sich ein solcher Typus „Amerikaner; in dem 
grossen „smelting pot“ werden alle diese mannigfaltigen Individuen zu neuen 
Menschen umgeschmolzen, und wenn auch die erste Generation nur wenig von 
der alten Eigenart verliert, so besteht doch die zweite schon aus der neuen 
Schmelze, und nur einzelne Schmelzstreifen erinnern noch an die ursprüngliche 


1) Vortrag, gehalten am 20. April 1923 in der ärztlichen Gesellschaft für 
Sexualwissenschaft und Eugenik in Berlin. 


13* 


186 Artbur Weil. [2 


Akstamınung. Der am meisten auffallende Grundzug dieses neuen Typus ist 
seine Jugendfrische, ja man kann sagen Kindlichkeit, ein nicht zu bändigendes 
Kraftgefühl verbunden mit Schaffens und Ausdehnungsdrang, der die unge- 
hobenen Schätze des jungfräulichen Bodens sich in einem Tempo erobert, das, 
wie z. B. beim Holz und beim Öl, Erschöpfung in bedrohliche, 'berechenbare Nähe 
rückt. Verbunden damit ist eine erstaunliche Fähigkeit zu ordnen und zu 
organisieren, ein Sinn für Zahlen und Systeme, der nicht nur dem Wirtschafts 
leben seinen Stempel aufdrückt, sondern der auch charakteristisch für das 
wissenschaftliche und politische Leben ist. Der schnellwachsende Reichtum 
erzeugt ein Gefühl der Selbstsicherheit und des Machtbewusstseins, das ihn 
oft mit einem Gefühl des Mitleides auf die verarmenden Völker des alten 
Europas blicken lässt, ohne dass sich damit aber Anmassung oder Selbstüber- 
hebung gepaart hätte. Aus diesem Gefühl des Mitleides heraus entspringt auch 
die ldee, der übrigen Welt Retter und Herr sein zu können, wie es kürzlich 
Ray, Stannard Baker so schön in den Memoiren und Dokumznten 
Woodrow Wilsons geschildert hat. Alles in allem, um einen etwas 
groben Vergleich zu gebrauchen, Kinder an der Grenze der Mannbarkeit, mit 
der ganzen Impulsivität, dem Idealismus und der Unbekümmertheit ihres Alters, 
die sich auf die alten Überlieferungen ihrer Vorfahren stützend eine ‚neue ‚Kultur 
autbauen; ein Symbol: das Woolworth building, ein in die Wolken ragendes 
Geschäftshaus in altgotischem Stile. 

Diese Charakteristik erleichtert uns etwas das Verständnis für die Sexual- 
psyche des Durchschnittsamerikaners, für all die mannigfaltigen reformatori- 
schen Bestrebungen, eine eigene Sexualethik zu schaffen, durch Reformen die 
aus der alten Welt mitgebrachten Normen zu verbessern and eigene neue zu 
bilden. ` Zwar wear die Peinlichkeitsschranke, die der Kulturmensch sich vor 
seiner eigenen Sexualität errichtete, bis vor etwa einem Jahrzehnt drüben noch 
höher als bei uns, aber" so sagte mir der Sekretär einer grossen sozial 
hygienischen Gesellschaft, „wir machen nicht die Fehler, die Sie drüben be- 
gangen haben und versuchen mit dem Kopf diese Mauer einzurennen, sondern 
wir gehen um die Wand herum und kommen schneller zum Ziel.“ Und wie 
dieser Weg „um die Mauer herum‘ verläuft, will ich in den folgenden Aus- 
führungen zu schildern versuchen. | 

Einen Verein für Sexualwissenschaft, Sexualreform usw. gibt es drüben 
nicht; ich habe nirgends das Wort „sexual‘‘ in diesem Zusammenhange gelesen ; 
man sprach immer nur von „social hygiene‘‘ oder „public health“, man liess 
also das spezielle Problem der Sexualität in dem grösseren der öffentlichen 
Gesundheitspflege aufgehen, vermied dadurch den Schock, den das Wort bei 
den meisten Menschen noch auslöst und gewann so ‚grosse Kreise zur Mitarbeit, 
die nie sich mit der Erörterung sexueller Fragen sonst beschäftigt hätten. — Was 
die wissenschaftliche Behandlung des Sexualproblems anbelangt, so wird sie 
jetzt staatlich unterstützt, ist Gegenstand der Universitätsforschung geworden. 
Zwar hat man die Sexualwissenschaft nicht als besonderes Gebiet für sich 
heraus gelöst, aber der „National Research Council“ hat seiner 
Unterabteilung „Division of medical sciences“ ein „Committee for re- 
searchonsex problems‘ angegliedert, dessen Sekretär Mr. Earl F. Zinn 
ich tür seine Auskünfte zu grossem Danke verpflichtet bin. Die Mitglieder dieses 
Komitees vertreten die verschiedensten Forschungsrichtungen: WalterB. Can- 
non, M. D. Physiologie, Katharine Bement Davis, Ph. D. Soziologie, 
Frank R. Lillie, Ph. D. Physiologische Chemie, Thomas W. Salmon, 
M. D. und Robert M. Yerkes, Ph. D. Psychologie. Die Aufgabe des 
Komitees ist, sich dauernd über wissenschaftliche Forschungsarbeiten, die 
sich in den angedeuteten mannigfachen Richtungen mit der Frage der Sexualität 
befassen, auf dem Laufenden zu erhalten, Arbeiten in einer besonderen Bibliothek 
zu sammeln, Anfragen zu beantworten und vor allem die Beantwortung spezieller 
Fragen durch Bereitstellung von Geldmitteln, die von dem Komitee verwaltet 


3] Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 187 


werden, an bestimmte Forscher zu fördern. Staunend und :bewundernd hört der 
Deutsche von den Gekdmitteln, die hier zur Verfügung stehen und von der Be- 
reitwilligkeit der Zentralregierung, die Forschung über Sexualprobleme zu 
unterstützen; daneben werden auch von öffentlichen Gesellschaften, Stiftungen, 
industriellen Unternehmungen und Privatpersonen Mittel zur Verfügung ge- 
stellt, um diese spezielle wissenschaftliche Forschung zu fördern. Um ein 
einschlägiges Beispiel zu geben, erwähne ich, dass der National Research 
Council z. B. die Arbeiten des Professors Lillie in Chicago über Keimdrüsen- 
extrakte unterstützt oder sich an der Aufstellung eines Standardwerkes über 
Sexualpädagogik beteiligt. — Der National Research Council als solcher ist 
eine verhältnismässig junge. Einrichtung, die 1916 durch eine Verfügung des 
Kongresses begründet wurde, und die eine Zusammenfassung sämtlicher wissen- 
schaftlichen und technischen Gesellschaften der U.S.A. bezwecken soll — 
eine gewaltige wissenschaftliche Organisation, die kein Gegenstück auf der Erde 
hat, und die in ihren sieben Unterabteilungen (divisions) sämtliche Zweige ‘unseres 
heutigen Wissens umfasst. Sie gibt selbst nur einen jährlichen Bericht heraus, 
aber den angeschlossenen Gesellschaften und mit ihr arbeitenden Wissen- 
schaftlern steht das government printing office in Washington zur Verfügung, 
das zum Selbstkostenpreis druckt und verkauft. 

Was die Forschungsrichtung in der Sexualwissenschaft anbelangt, so 
schien es mir, als ob die biologische gegenüber der rein psychologischen all- 
mählich an Boden gewinnt, wenn auch vielleicht hier mein Urteil nicht ganz 
objektiv sein dürfte. Die Lobre von der Inneren Sekretion ist Gemeingut der 
Mediziner geworden, und hat leider auch zu Extremen geführt, geschäftlicher 
Ausbeutung oft wertloser Drüsenpräparate, die voraussetzungs- und wahllos von 
nicht geschulten Ärzten verordnet werden. Einzelne Kliniken haben sich mit 
Erfolg bemüht, bestimmte, scharf umrissene innersekretorische Erkrankungen . 
besonderen Spezialärzten zu überweisen, die eine inkretorische Klinik abhalten. 
Ich traf eine solche an dem früheren deutschen, jetzt Lenox Hill Hospital in 
New York unter Leitung von Dr. A. S. Blumgarten und ‘an dem neurologi- 
schen Hospital unter Dr. Timme. Unabhängig von uns haben diese Forscher, 
vor allem der erstere schon die Abhängigkeit der Sexualität von der Konstitution 
erkannt. Ähnlich den Kretschmerschen Typen heben sie dort vor allem als gut 
durch inkretorische Veränderungen gekennzeichnet den „hypophysis und adrenal 
type hervor, den einen mit weicher, matter Haut, zum Fettansatz neigend, 
mit geringem Haarwuchs, besonderer Stellung und Form der Zähne und Knochen, 
der zweite mit typischer, gesteigerter nervöser Frregbarkeit, hohem Blutdruck 
und Pulszahl, abweichendem Haarwuchs und Hautbeschaffenheit. Der erstere 
Typ soll zum Eunuchoidismus neigen, und auch Blumgarten hatte schon 
unabhängig von mir gefunden, dass er psychosexuell sehr oft abweichendes 
Verhalten zeigt, Entwicklungshemmungen, Homosexualiät und Infantilismen. — 
Grosses Interesse wird der Erblichkeitsforschung entgegengebracht, mich inter- 
essierten vor allen Dingen die grosszügigen Untersuchungen Morgans, die 
er mit den reichen Mitteln der Carnegie-Stiftung ausführt. — WasdieSteinach- 
schen Transplantation- und Ligaturoperationen anbelangt, so werden sie drüben 
ebenso widerspruchsvoll beurteilt wie hier. Von guten Erfolgen berichtet 
beispielsweise Victor G. Vecki in San Franzisko, und Dr. Max Thorek, 
der Direktor des American hospitals in Chicago, demonstrierte mir an Präparaten 
die guten Frfolge, die er mit Überpflanzung von Affenhoden mit seiner neuen 
supraperilonealen Transplantation erzielt hatte. — Besondere ärztliche Ge- 
sellschaften für Sexualwissenschaft fehlen in den U.S.A. Dagegen hat der auf 
dem Gebiete sexueller Erziehung und Aufklärung hochverdiente New Yorker 
Arzt William J. Robinson zusammen mit Dr. S. A. Tannenbaum 
jetzt eine neue Zweimonats-Zeitschrift herausgegeben, das „Journal of Sexology 
and Psychanalysis‘, das im Januar dieses Jahres zum ersten Male erschien, 
und welches das grosse Gebiet umfassend sowohl vom biologischen als auch 
vom psychologischen Standpunkte aus behandeln will. 


188 | Arthur Weil. [4 


Während so auf wissenschaftlichem Gebiete noch alles jung und im Werden 
begriffen ist, haben die Amerikaner auf dem Gebiete der Sexualreform mit der 
ihnen eigenen Grosszügigkeit, ihrem Sinn für Organisation und gestützt auf 
fast unerschöpfliche Mittel praktische Arbeit geleistet und schöne Erfolge erzielt. 
Alle die in Betracht kommenden Probleme: Bekämpfung der 'Geschlechtskrank- 
heiten und der Prostitution, sexuelle Erziehung und Aufklärung, Mutterschutz, 
Geburtenkontrolle und andere eugenische Fragen werden gemeinsam nach be- 
stimmten Richtlinien von dem National Health Council (wir würden 
sagen: nationaler Gesundheitsrat) zu lösen versucht. Ihm gehören die folgenden 
Vereinigungen an, von denen jede einen Repräsentanten und Stellvertreter 
entsendet: 1. American public health association, 2. American red cross, 
3. American social hygiene ıassociation, 4. American society for the control of 
cancer, d. Conference of State and Provincial health authorities of North America, 
6. Council on health and public mstruction of the american medical association, 
7. National child health council, 8. National committee for mental hygiene, 9. Na- 
tional organization for public health nursing, 10. National tuberculosis association. 
Als beratendes Mitglied ist der United States Public health Service, der vielleicht 
unserem Gesundheitsministerium entsprechen würde, durch zwei Ärzte ver- 
treten. Der Sekretär des Rates Mr. Walter Clarke hat mir in dem New 
Yorker Zweigbureau in liebenswürdiger Weise alle Auskünfte über die Organi- 
sation gegeben, wofür ich ihm auch an dieser Stelle noch einmal verbindlichst 
danken möchte, 


Die wichtigste, besonders für die Sexualrefprm in Betracht kommende 
Vereinigung, die also dem Committee for research on sex problems in dem 
National Research Council entsprechen würde, ist de American Social 
Hygiene Association, auf deren Bestrebungen ich an dieser Stelle aus- 
führlicher eingehen möchte. In Erläuterungen und Informationen, die sich über 
mehrere Tage erstreckten, haben mir die Herren Dr. M. J. Exner, Walter 
Minson Brunet und Raye Evert die Entwicklung und die jetzige 
Tätigkeit dieser Vereinigung geschildert, die aus kleinsten Anfängen, der auf- 
opfernden Hingabe einzelner Ärzte entstanden ist, und die sich während des 
Weltkrieges unter staatlichem Schutz und Beistand zu einer mächtigen Organi- 
sation entwickelt hat, die von ausschlaggebender Bedeutung für die sexuelle 
Hygiene in den Vereinigten Staaten geworden ist. Ihrem eigentlichen Wesen nach 
ist sie eine rein private Gesellschaft, die aus Einzelmitgliedern und korporativ 
keigetretenen Vereinigungen besteht. Das Zentralbureau in New York hat 
verschiedene Abteilungen: für wissenschaftliche Forschung, Propaganda, Presse, 
öffentliche Aufklärung (Vorträge, Filme usw.), die meistens von Ärzten oder 
Pädagogen geleitet werden. Ihr Organ ist das jetzt im 9. Bande erscheinende 
Journal of Social hygiene, das wertvolle Aufsätze über alle Gebiete der 
Sexualwissenschaft und Sexualreform bringt. mit Besprechung der einschlägigen 
Literatur und den Berichten der Gesellschaften, das also unserer Zeitschrift 
für Sexualwissenschaft und Eugenik entsprechen würde. Die Tätigkeit der Gesell- 
schaft besteht in der Veröffentlichung und Verbreitung aufklärender Broschüren, 
in der Veranstaltung von Kursen für Ärzte, Lehrer und Eltern, in der Ent- 
sendung von Vortragenden an die verschiedenen Universitäten, Schulen und 
Provinzialvereinigungen, in der Herstellung und im Vertriebe von wissenschaft- 
lichen und Lehrfilmen. Sie erfüllt damit als private Organisation dieselbe Auf- 
gabe, die schon vorher der Federal Behörde, dem Public Health Service in 
Washington gestellt worden war, und die neuerdings auch von den Gesundheits 
ämtern der einzelnen Staaten übernommen werden, die sich ganz nach dem 
Vorbilde der zentralen Behörde richten, ohne dieser unterstellt zu sein. Der 
Unterschied zwischen diesen einzelstaatlichen Gesundheitsämtern und der Social 
Hygiene Association besteht darin, dass bei den ersteren die sexuelle Hygiene 
nur ein Teilgebiet ist, während sie bei der letzteren das Hauptziel bildet. 
Um uns nun ein Bild davon machen zu können, wie diese verschiedenen 


5] Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 189 


Organisationen arbeiten und was sie erreicht haben, ist es nötig, systematisch 
vorzugehen. Wir wollen darum der Reihe nach betrachten 1. die Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten und der Prostitution, 2. die sexuelle Erziehung und 
Aufklärung. 

In der Bekämpfung der venerischen Erkrankungen hat 
der Staat aktiv eingegriffen durch Bereitstellung grosser Mittel, für das Etatsjahr 
1923 allein 400000 Dollars, von denen die eine Hälfte proportional der Be- 
völkerung den Gesundheitsämtern der Einzelstaaten überwiesen wird, während 
die zweite Hälfte zur Verfügung des zentralen public health service steht. Vor- 
aussetzung für die Beitragsleistung an die Einzelstaatsbehörden ist, dass durch 
Gesetzgebung folgende Mindestleistungen erfüllt sind: a) Regelmässige Berichte 
der Ärzte an die lokalen Gesundheitsämter, b) Bestrafung bei Unterlassung der 
Anzeige, c) Feststellung der Infektionsquellen, d) Strafbarkeit bei Verbreitung 
einer Geschlechtskrankheit, e) Zwangsmassnahmen gegen Personen, die wissent- 
lich Infektionen verbreiten, f) Kontrolle der Reisen infizierter Personen, g) obli- 
gatorische Flugblätter durch die Ärzte. — Mit den Einzelstaatlichen Gesund- 
heitsämtern steht die Bundeszentrale in Washington wieder durch einen be- 
sonders ernannten Delegierten in Verbindung, dem folgende Aufgaben ob- 
liegen: a) Sammlung der Meldungen, b) Anordnung zwangsweiser Behandlung, 
c) Einrichtung von diagnostischen Instituten, d) Aufklärung der Kranken und 
des gesunden Publikums, e) Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden in der 
Bekämpfung der öffentlichen und geheimen Prostitution, f) ausführliche Berichte 
über die einzelnen behandelten Fälle, insbesondere über die Mengen des an- 
gewandten Arsenphenamins (Salvarsans). — Durch örtliche Sammlungen auf- 
gebrachte Fonds müssen zusammen mit den Staatsbeiträgen verwandt werden. — 
Hinzuziehung privater Vereinigungen in dem Abwehrkampfe. — Gesetze gegen 
„advertising specialists“ (Pfuscher). Erhöhung der Staatsbeiträge, wenn Land. 
oder Marinestreitkräfte in den betreffenden Staaten in Garnison liegen. — Die 
Verteilung der Beiträge ist folgende: 50% für Behandlung und Arzneien, 200% 
tür Aufklärungsarbeit, 20% für Prophylaxe, 10% für allgemeine Verwaltungs- 
zwecke. Doch können diese Verteilungsvorschriften nach Übereinkunft mit der 
Zentrale geändert werden. — Alle Staaten, welche diese Minimalbedingungen 
in ihrer Gesetzgebung erfüllen, sichert der public health service weitgehendste 
Unterstützung, Beratung und Lieferung von Arzneimitteln zu. 

Der Erfolg dieser grosszügigen Massnahmen ist eine deutliche Abnahme 
der venerischen Erkrankungen. Zu den bestehenden 542 öffentlichen Kliniken 
kamen 1922 95 neue hinzu, 34 wurden geschlossen. Bemerkenswert ist, dass 
1922 42,600 derjenigen Personen, welche die Klinik aufsuchten als nicht er- 
krankt wicder entlassen werden 'konnten — ein Beweis dafür, dass die Auf- 
klärung zur Vorsicht erzogen hat. Die Zahl der geheilten Syphiliserkrankungen 
hat seit 1921 von 184090 auf 171824, die an Gonorrhöe von 189927 auf 
152959 abgenommen. — An die Staatskliniken waren 517250 Dosen arsen- 
phenamin (der Ersatz des Salvarsans) versandt, 3% weniger als 1921. 

Diese aktive Tätigkeit wurde weiter durch eine ebenso grosszügige Auf- 
klärungsarbeit unterstützt. 1920 wurden nicht weniger als 8 Millionen Flug- 
schriften verteilt, die aber durch Einschränkung der zur Verfügung gestellten 
Mittel auf 2 Millionen zurückgingen. Die Zahl der veröffentlichten Publi- 
kationen betrug 71. Daneben 'wurden aufklärende Filme hergestellt, die ver- 
lieben wurden oder von ‘den Beamten selbst vorgeführt wurden, und in 16 public 
healt Instituten wurden Lehrkurse für Erwachsene abgehalten. Alle diese 
Massnahmen zeigen aber seit 1920 eine Abnahme der Zahlen; so wurden z. B. 
1922 nur 6931 Vorlesungen gehalten gegen 12360 1920. Doch scheint auch 
diese Abnahme nicht so sehr dem erlahmenden Interesse oder dem Mangel an 
Tätigkeit von seiten der Gesundheitsbehörden zu entspringen, als vielmehr der 
Tatsache, dass die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und die Aufklärung 
über ihr Wesen jetzt auch von vielen privaten Vereinigungen aufgenommen 


190 Arthur Weil. [6 


worden ist, vor allem von der American Social Hygiene Association, deren 
grosses Verdienst es war, bei Eintritt der Staaten in den Weltkrieg den Kongress 
auf die Bedeutung der Prophylaxe und systematischen Bekämpfung aufmerksam 
gemacht und dadurch eine weite Verbreitung der venerischen Erkrankungen 
verhindert zu haben. Wie gross diese Gefahr war, beweist eine statistische 
Zusammenstellung über die Zahl der Erkrankungen bei den eingezogenen 
Rekruten, die von 2,03% bis maximal 27,45% in den einzelnen Städten 
schwankten: am verseuchtesten waren hierbei die Südstaaten Texas, Florida, 
Georgia, Nord-- und Südkarolina. Die Social Hygiene Association 
arbeitet in derselben Weise wie der public healt service durch Aufklärungs- 
vorschriften, Vorträge und Filme, unterhält aber keine Kliniken und gewährt 
keine Behandlung durch eigene Ärzte. Ich sah dort einen vorzüglichen Lehrfilm, 
der in anschaulicher Weise die Diagnose und Behandlung von Syphilis und 
Gonorrhöe vorführte, und der auch vor allen Dingen im klinischen Unterricht 
wertvolle Hilfe leisten dürfte. — Völlig nach aussenhin gelöst ist das 
Problem des Abolitionismus; mit Stolz konnte mir der Sekretär Mr. H. H. 
Moode in der Zentrale in Washington 2 Karten der Vereinigten Staaten zeigen, 
eine ältere, die bunt von roten Flecken war, welche die Städte mit Bordellen 
anzeiglen, und eine aus dem Jahre 1922, in der sämtliche Flecken ver- 
schwunden waren. Prophylaktisch sucht man die Prostitution dadurch zu 
bekämpfen, dass in einzelnen Staaten nicht nur die gewerbsmässige Prosti- 
tuierte, sondern auch der mit ihr verkehrende Mann bestraft wird, dadurch, 
dass man Erziehungsheime und Landgüter für strafentlassene Mädchen ein- 
richtet, und dass man sich vor allem schwachsinniger Mädchen annimmt, ‘die in 
besonderen Schulen erzogen werden. In New York hat sich unter Leitung des 
Pastors Sumner eine „league against the vice‘‘ gebildet, die sich die Be- 
kämpfung der Strassenprostitution und dann allgemeiner die Bekämpfung des 
Schmutzes in Wort und Bild zur Aufgabe gemacht hat. — An dieser Stelle 
möge auch der besonders seit Beendigung des Krieges energisch durchgeführte 
Kampf gegen den Alkohol erwähnt werden, die „prohibition‘‘, die Bestrafung 
des Verkaufes und Kaufes alkoholischer Getränke mit einem Gehalt von mehr 
als 1/5006. Als ich meine Reise antrat, war ich überzeugter Anhänger der 
staatlichen Prohibition; aber die Erfahrungen, die ich während meines Aufent- 
halles gemacht habe, zeigten mir, dass die Nebenwirkungen der gesetzlichen 
Bekämpfung oft schlimmer sind als die Wirkungen des Alkohols selbst. Nicht in 
physischer Beziehung, denn die durch Alkoholgenuss bedingten Erkrankungen 
haben bedeutend nachgelassen, aber in moralischer Beziehung, denn die ge- 
waltsame Unterdrückung hat ein System der Korruption und Heuchelei erzeugt, 
das alle Kreise der Bevölkerung durchdringt und selbst vor den Zimmern der 
Abgeordneten nicht Halt macht. Vergiftungen durch Methylalkohol und Fuselöl 
sind an der Tagesordnung, so dass einzelne Staaten sich gezwungen sahen, 
ein Gesetz zu erlassen, das den Verkauf solcher Getränke als Totschlag bestraft. 
Wer Geld genug hat, kann auf Umwegen so viel Whysky kaufen, wie er trinken 
mag. Diese erzeugten Zustände haben ein Nachlassen in der Achtung vor 
dem Gesetze und den Behörden zur Folge, so dass ich dringend davor warnen 
möchte, dieses System der absoluten Prohibition auf Deutschland zu über- 
tragen; nicht durch Gewalt und Gesetze kann man die Menschen vor dem 
Missbrauch des Alkohols bewahren, sondem durch vernünftige Aufklärung 
und Ersatz durch bessere, geistig anregende Mittel. 


Belehrung und Aufklärung haben auch auf dem Gebiete der sexuellen 
Hygiene viel mehr genützt als Bestrafung und Verächtlichmichung, und aus 
dieser Erkenntnis heraus haben Public Health Service und die American Social 
Hygiene Association ihr Bestreben darauf gerichtet, die sexuelle Auf- 
klärung der Jugend mit zu einem wichtigen Faktor der Schulerziehung zu 
machen. — Bereits im Oktober 1912 waren auf dem Internationalen Kongress 
für Hygiene und Demographie bestimmte Richtlinien für eine allgemeine 


7) Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 191 


Sexualerziehung ausgearbeitet worden, und zwar für die beiden Altersstufen 
12—16 Jahre und 16—25. Auf der ersten Stufe sollten die Sexualprobleme 
nicht aus dem allgemeinen Rahmen des naturwissenschaftlichen Unterrichts 
herausgenommen werden und gleichzeitig dem Kinde Achtung vor den Schön- 
heiten des menschlichen Körpers, seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten 
anerzogen werden, so dass es daran gewöhnt wurde, diesen Körper als ein 
kos.bares Gut zu pflegen. Auf der zweiten Stufe setzt der Unterricht über. 
sexuelle Hygiene ein, mit der Fortpflanzung niederer Tiere und Pflanzen be- 
ginnend zum Menschen aufsteigend. Daneben sollte die Bedeutung und Aus- 
wirkung der Elternliebe betont werden, in einer‘ weiteren Stunde persönliche 
Hygiene, Warnung vor Infektionen und Hinweis auf die Gefahren des Alkohols 
und Nikotins. — Auf einer dritten Styfe schliesslich soll der gereifte Schüler 
einen Einblick in die Vererbungslehre gewinnen, mit den Abartungen des Sexual- 
triebes bekannt werden und die Bedeutung der Geschlechtsliebe für Familien- 
und Staatenbildung erkennen lernen. — In mehrjähriger mühevoller Arbeit hat 
Dr. Grünberg von der Social Hygiene Association mit Unterstützung des 
Public Health Board einen Leitfaden für die sexuelle Erziehung in höheren 
Schulen ausgearbeitet, die für das Beste und Praktischste gehalten wird, was 
je auf diesem Gebiete in den U.S.A. geschrieben wurde. Er benutzte hierbei 
das fast unübersehbare in der medizinischen, psychologischen und pädagogi- 
schen Literatur zusammengetragene Material, umfassende Umfragen bei Eltern 
‘und Erziehern, unter anderen auch die von J. B. Watson und K. S. Lash- 
ley, den Leitern der Psychologischen Laboratorien der John Hopkins Uni- 
versität in Baltimore und der Universität Minnesota, veranstaltete Umfrage bei 
Ärzten über ihre Meinung in bezug auf sexuelle Aufklärung und Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten. Er abstrahierte aus dem grossen Material einen 
praktisch gut durchführbaren Lehrgang, der besonders dazu geeigneten Lehrern 
und Lehrerinnen anvertraut werden soll, die selbst wieder in besonderen 
Kursen für diese wichtigen Aufgaben vorbereitet werden, und denen eine Zu- 
sammenstellung der besten Literatur Hilfe und Anleitung bietet. — Gleichzeitig 
bemühen sich Gesundheitsamt und Association durch eine grosszügige Verbreitung 
von Flugschriften auf die Eltern und die heranwachsende Jugend direkt einzu- 
wirken. Den Wert der Flugschriften lassen sie dabei durch die Jugend selbst 
beurteilen, indem man durch Umfragen feststellt, welche von den verteilten 
Flugschriften am ‚meisten gelesen wurden. So konnte Paul S. Achilles 
im Februar über eine solche Umfrage bei der Young mens and womens christian 
Association 12 Schriften nach ihrer Beliebtheit klassifizieren. — Der Liebens- 
würdigkeit des Herrn H. H. Moode der Zentrale in Washington verdanke ich 
eine Sammlung farbiger Lehrbilder über die Geschlechtsunterschiede, die Reife 
und die sexuelle Hygiene, die für Knaben und Mädchen besonders dargestellt 
werden; man zeigt sie in besonderen Ausstellungen; in vielen höheren Schulen 
werden sie teilweise schon dauernd ausgehängt. Ich habe sie hier ausgelegt, 
um ihnen zu zeigen, wie solche Probleme dort in künstlerisch und ästhetisch 
schöner Form gelöst werden, ohne gleichzeitig durch pathologisch-anatomische 
Präparate abschreckend zu wirken. Die eine für Jünglinge bestimmte Sammlung 
heisst „keeping fit“, die andere für Mädchen „Youth and life“. — Beide Organi- 
sationen haben ausserdem zahlreiche Lichtbilder und Filme herstellen lassen, 
welche diese Probleme behandeln. In einem Film, den ich in New York sah, 
war ein Lehrer dargestellt, der mit seinem Schüler Wanderungen unternimmt, ihm 
dabei die Wunder der Fortpflanzung erklärt und später im Laboratorium im 
Mikroskop Präparate zeigt und ihn in Hühner- und Kaninchenzucht praktische 
Erfahrungen gewinnen lässt. — Für kommunale Jugenderzieher hat ferner 
die American Social Hygiene Association durch Dr. T. W. Galloway ein 
nur als Manuskript herausgegebenes Handbuch zusammenstellen lassen, das in 
der Form von Frage und Antwort alle Probleme der Jugenderziehung unter dem 
Gesichtspunkte der sexuellen Hygiene behandelt. 


192 Arthur Weil. IS 


Während das sexuelle Problem so im Mittelpunkte des Aufgabenkreises 
der Gesellschaft steht, versucht sie im Zusammenhange damit auch auf anderen 
Gebieten der sozialen Hygiene belehrend zu wirken. In einem Propagandafılm 
„Die Zwillinge“, der durch seinen humoristischen Grundton die Aufmerksam- 
keit auch des ungebildeten Publikums fesseln will, werden ‘Max und Moritz dar- 
gestellt, wie sie die als Verbrecher verkörperten Volksseuchen Alkohol, Tuber- 
kulose und Geschlechtskrankheiten vor den Richter schleppen und eine Ver- 
urteilung erlangen; ihren gemeinsamen Bemühungen gelingt es dann, die als 
hohe Steinsäulen schematisch dargestellte Verbreitung durch Zertrümmerung 
der Säulen immer mehr zurückzudämmen, so dass in dem Zuschauer das 
Gefühl der Zuversicht erweckt wird, dass dieser Kampf schliesslich doch zum 
Erfolge führen muss. > 


Indifferent steht die American Social Hygiene Association dem eugeni- 
schen Problem der Geburtenkontrolle gegenüber. Hier hat eine private 
Organisation, die American Birth Control League unter der tat. 
kräftigen Leitung von Frau Margarete Sanger die Führung übernommen. 
Ihr Programm ist das folgende: Ausgehend von der ‚Forderung, dass Kinder nur 
in Liebe empfangen werden dürfen, dass sie nur mit bewusstem Willen und 
Wunsch der Mutter geboren und unter Bedingungen erzeugt werden dürfen, 
welche die Vererbung einer gesunden Anlage gewährleisten, muss jede Frau die 
Macht und die Freiheit haben, die Konzeption zu verhindern, wenn diese Be- 
dingungen nicht erfüllt werden können. Mutterschaft soll nicht mehr die 
zufällige Folge eines unkontrollierten Triebes sein, sondern der Ausdruck des 
Verantwortlichkeitsgefühls und Selbstbestimmungsrechtes in bezug auf die mensch- 
liche Fortpflanzung. Um diese Forderungen zu erfüllen, werden verschiedene 
Gruppen eingerichtet: Wissenschaftliche Erforschung der sozialen Folgen grossen 
Kinderüberschusses; hygienischer und physiologischer Unterricht durch Ärzte 
über harmlose und leicht anwendbare Methoden der Geburtenverhinderung, um 
dem allgemein verbreiteten Wunsche nach einer solehen Aufklärung entgegen- 
zukommen. Sterilisation unheilbar Kranker und Schwachsinniger. Ausbildung 
von Lehrem für eine grosszügige öffentliche Aufklärung. Belehrung der gesetz- 
gebenden Körperschaften, um eine Anderung der bestehenden Gesetze zu er- 
reichen, die bis jetzt nur den Gesetzen der Eugenik widersprechen, Krank- 
heiten, Elend und Armut vermehren und die Durchführung einer Politik der 
nationalen Gesundheit und Stärke verhindern. Die Organisation soll besonders 
unter den Gewerkschaften verbreitet werden, um diese zur Einrichtung eigener 
Kliniken zu veranlassen. Über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus soll 
ein Zusammenarbeiten mit anderen Organisationen angestrebt werden — Sie 
sehen ein umfassendes Programm, das der Bund durch die Verbreitung seiner 
Zeitschrift „Birth Control Review“ in weiteste Kreise hineinzutragen sich bemüht. 
Ein wesentlicher Fortschritt gegen frühere Jahre ist es, dass die Zeitung jetzt 
ungehindert durch die Mitglieder der Gesellschaft öffentlich auf den Strassen 
New Yorks und grösserer Provinzstädte verkauft werden darf. Ferner werden 
Propagandaversammlungen mit Diskussionen veranstaltet, die nicht nur auf die 
U.S.A. beschränkt bleiben, sondern die Frau Sanger jetzt auch nach dem 
fernen Osten, nach China geführt haben, um getren ihrem Ziele die birth control 
zum Gemeingut aller Völker zu machen. In ärztlichen Kreisen findet die 
Bewegung bis jetzt noch den grössten Widerstind. Viele Gynäkologen, mit 
denen ich sprach, weigern sich aus einer sozialen Indikation heraus ihren 
Patientinnen Schutzmittel einzusetzen oder zu empfehlen und verwerfen selbst- 
verständlich auch den Abort unter diesen Gesichtspunkten. — Die Liga ver- 
sucht aber auch die Ärzteschaft zur Mitarbeit heranzuziehen und wissenschaft- 
liche Arbeiten über den Einfluss hoher Geburtenzahlen auf die Bevölkerung, über 
Kindersterblichkeit, Kinderarbeit usw. zu unterstützen. Ihr letztes Ziel ist, 
wie schon angedeutet. eine Reform der bestehenden Gesetze im Sinne neo- 
malthusianistischer Ideen. . 


9] Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 193 


Von ganz anderen Gesichtspunkten aus befasst sich das „Childrens 
Bureau‘ in Washington, das dem Department of Labor angegliedert ist, mit 
Untersuchungen über das Wohlergehen der Nachkommenschaft. Dr. Ellen 
Oppenheimer verdanke ich wertvolle Auskünfte und zahlreiche Druck- 
schriften über diese vieles Gute bewirkende Organisation, deren Hauptaufgabe 
es ist, statistisches Material über die Beschäftigung, Pflege und Erziehung von 
Kindern in den verschiedensten Teilen der U.S.A. zu sammeln und die einzel- 
staatlichen und kommunalen Behörden zur Mitarbeit anzuregen, ohne selbst 
aktiv einzugreifen. Indirekt ist mit der Tätigkeit des Childrens Bureau auch 
der Mutterschutz verknüpft; doch ist dieser weiter auch einer grossen Zahl 
privater Vereinigungen anvertraut, die ihrerseits wieder mit grossen Mitteln von 
den Einzelstaatsparlamenten und den städtischen Behörden unterstützt werden, 
eine Unterstützung, die in den letzten Jahren z. B. in New York so reichlich 
geflossen war, dass von den Steuerzahlern Widerspruch dagegen erhoben wurde, 
da ‚fast jede Mutter jetzt bei der Geburt eines Kindes Pension für ein Jahr 
und mehr erhielte‘. 

Was die spezielle Sexualgesetzgebung anbelangt, so sind wohl 
auf keinem Gebiete die Abweichungen zwischen den einzelnen Staaten grösser 
als hier. Es würde an dieser Stelle zu weit führen ins Einzelne gehend z. B. 
alle die verschiedenen Ehegesetze zu erörtern wie sie in den 49 Staaten 
gehandhabt werden; so genügt z. B. im Staate New York die Eintragung einer 
weiblichen Person in das Register eines Hotels unter dem Familiennamen ihres 
Begleiters als Urkunde für eine Eheerklärung, während eine Scheidung nur 
sehr schwer und bei gröbsten Verletzungen der Ehepflichten zu erlangen ist. 
In einem anderen Staate dagegen genügt die böswillige Entfernung des Ehe- 
mannes, um eine sofortige Scheidung zu erlangen, vorausgesetzt, dass eine 
der beiden Parteien sechs Monate lang Bürger des Staates war — eine Voraus- 
sefzung, die viele Scheidungssuchende dadurch erfüllen, dass sie in einer be- 
kannten Stadt jenes Staates sich sechs Monate lang in einem Hotel aufhalten, 
um dann die Scheidungsklage bei dem Richter der Stadt mit der Begründung 
einzureichen, dass der andere Ehegatte sich während dieser Zeit nicht an dem 
Orte aufgehalten hat. — Vielleicht wird hier in absehbarer Zeit Wandel ge- 
schaffen, da die Bestrebungen, eine einheitliche Gesetzgebung auch auf diesem 
Gebiete herbeizuführen, immer weiter um sich greifen. — In bezug auf die 
Gesetzgebung, welche sich mit den sogenannten „unnatürlichen‘‘ Abarten des 
Geschlechtsverkehres beschäftigt, ist in den letzten Jahrzehnten wenig Wandel 
geschaffen worden. Entsprechend der als Vorbild dienenden englischen Ge- 
setzgebung wird die Homosexualität weiter als „das nameless crime‘ behandelt, 
das mit Zuchthaus bestraft werden kann, trotzdem in der Auslegung der höheren 
Berufungsgerichte über das, was nun eigentlich als homosexuella Handlung be- 
stratt werden soll, jeder Staat eine andere Auffassung hat. Sehr selten hört man 
bei der Bestrafung von Fällen sexueller Abweichungen, dass Sachverständige 


hinzugezogen werden, da das amerikanische Gerichtsverfahren noch mehr als 


bei uns dem Richter eine völlig selbständige, entscheidende Stellung einräumt. 
Ansätze zu einer Besserung kann man hier kaum erblicken, da in der medi- 
zinischen Fachpresse das gesamte (Gebiet des Sexualstrafrechtes ebenso wie 
in der juristischen Literatur sehr stiefmütterlich behandelt wird. Eine kleine 
von Dr. Alfred Herzog herausgegebene Zeitschrift „The Medico-Legal 
Journal" ist zu wenig verbreitet, um von irgendwelchem Finflusse sein zu 
können. | Ä 

Ich bin am Ende meines Reiseberichtes angelangt; absichtlich habe ich ihn 
sachlich registrierend gehalten, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst 
aus den Tatsachen ein Bild über den gegenwärtigen Stand der sexualreformatori- 
schen und -wissenschaftlichen Bestrebungen in den Vereinigten Staaten zu 
bilden. Wenn ich jetzt am Schlusse versuche, noch kurz auf die letzten 
Ursachen einzugehen, welche verantwortlich dafür sind, dass alle diese Be- 


194 Arthur Weil. [10 


strebungen, die doch letzten Endes nur alle dieselben menschlichen Ideale 
verfolgen wie die parallelen Bewegungen hier in Deutschland, in einem so ganz 
anderen Fahrwasser verlaufen, ein so ganz anderes Gepräge ‘tragen als bei uns, 
dann muss ich diese objektive Schilderungsweise verlassen und eigene Auf- 
fassungen hineintragen. Ich glaube am besten kann man die Wesensart dieses 
spezifisch „Amerikanischen‘ verstehen, wenn man zwei Grundtatsachen be- 
rücksichtigt: 1. das Verhältnis des einzelnen amerikanischen Bürgers zum 
Staate, 2. das Verhältnis des Mannes zur Frau. Was den ersten Punkt anbe- 
langt, so kann man nicht eindringlich genug immer wieder der Anschauung 
enigegenireten, dass drüben der einzelne eine grössere persönliche Freiheit 
besitze als bei uns. Gewiss es fehlt der oft lästige Polizeizwang, frei und un- 
angemeldet kann selbst der Fremdling im Lande umherziehen;; aber wenn es sich 
um das Wohl der Gesamtheit handelt, muss jede Individualität sich dem 
Schema anpassen. Ich erinnere noch einmal an die Gesetze zur Bekämpfung 
der Geschlechtskrankheiten: Anzeigepflicht, Behandlungspflicht, Bestrafung der 
Verbreitung mit Gefängnis; ich erwähne den grosszügigen Kampf gegen den 
Alkohol, der auf das Schärfste in das persönliche Selbstbestimmungsrecht des 
einzelnen eingreift, der an die Stelle von Aufklärung und vernunftgemässer 
Selbstentscheidung eisernen Zwang setzt. Ich verweise weiter auf den von 
lestimmten Vereinigungen fast fanatisch geführten Kampf gegen den ausserehe- 
lichen Geschlechtsverkehr, der nach dem Gesetze als „adultery“ mit Gefängnis 
bestraft wird, wenn es sich um verheiratete, als ‚fornication‘“ oder allgemein 
„carnal knowledge", wenn es sich um unverheiratete Personen handelt. Dieser 
Kampf geht so weit, dass angeblich selbst Provokationen auf der Strasse nicht aus- 
bleiben, dass Herren von Damen zum Ansprechen angeregt werden, um den darauf 
reagierenden Mann dem nächsten Schutzmınn zur Bestrafung übergeben zu 
können, dı unmotiviertes Ansprechen einer Dame als Beleidigung gilt. Die 
Reaktion hierauf ist ein Aufblühen der grossen öffentlichen Tanzlokale und 
unter der nach aussen hin wohlanständigen Oberfläche ein viel freierer Ver- 
kehr der Geschlechter untereinander, als es ein Nichtkenner der Verhältnisse je 
ahnen würde. 

Was den zweiten Punkt anbelangt, so ist der grundsätzliche Unterschied 
zwischen uns und den U.S.A wohl der, dass die amerikanische Frau weiter in der 
Emanzipation fortgeschritten ist als die deutsche. Sie ist mehr Kameradin des 
Mannes, ihm gleich, ja bisweilen übergeordnet; sein Erwerb gilt weniger der 
Befriedigung persönlichen Ehrgeizes als der Schaffung eines behaglichen Heims 
für seine Frau und seine Kinder; er entspricht dem Wunsche, ihr einen gewissen 
Luxus und Bequemlichkeit verschaffen zu können. Ein amerikanischer Ehe. 
mann kann nicht verstehen, dass die deutsche Frau sich als Hausfrau oft dem 
Manne unterordnet, als Gefährtin, die anerkennt, dass er für sie arbeitet und 
sorgt, und die dieses nicht als Selbstverständlichkeit hinnimmt; er hält es für 
Sklavenarbeit, wenn zum Beispiel eine Frau ihrem Manne die Schuhe putzt oder 
ganz in den Anforderungen der Küche aufgeht. — Diese beiden Grundtatsachen 
finden wir in den amerikanischen Sexualreformbestrebungen immer wieder: So 
wird sexuelle Hygiene dem jungen Menschen gelehrt in erster Linie, um sie zu 
gesunden Staatsbürgern zu erziehen, die gesunde Nachkommen erzeugen, erst 
in zweiter Linie um ihres persönlichen Wohlergehens willen. So bewegt sich 
die Entwicklung der Fhegesetzeebung in entgegengesetzter Richtung wie bei 
uns: Stärkung der ehelichen Bindung mit Erleichterung der Eheschliessung 
und erschwerte Scheidung mit den Leitgedanken: Schutz der Frau und Siche- 
rung der Familie. Fin Beispiel für die Auswirkung dieses Prinzips: 1922 waren 
etwa eine Million Eheschliessungen in den U.S.A., aber nur 125 000 Scheidungen. 

Wenn wir aus allen diesen Beobachtungen und Erfahrungen Lehren für 
uns selbst ziehen wollen, so ergibt sich zunächst eine Mahnung: Vermeidung 
der Überspannung des Staatsbürgergedankens; nicht Unterdrückung der Indi- 
vidualität zugunsten einer Schematisierung durch drakonische Gesetze, sondern 


11) Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Vereinigten Staaten. 195 


freieres Spiel der Kräfte geregelt durch freiwillige Selbstbeschränkung auf 
Grund von Wissen und Aufklärung. Als Vorbild mögen wir die amerikanische 
Kunst zu organisieren nehmen, die es versteht, die einzelnen Richtungen und 
Vereine zu einem grossen Ganzen zusammenzuschweissen, die, glücklich unter- 
stützt von einem gerne spendenden Reichtum, in wenigen Jahren Reformen durch- 
zusetzen vermochte, welche das alte Europa nicht in Jahrzehnten erreichte, und 
zwar auf einer Grundlage, mit einem Programm, das als Kompromiss aus den 
oft widerstrebenden Richtungen der einzelnen Vereinigungen herauskristalli- 
sierte und das getragen war von der Grundidee, dem Wohle des Staates, der 
grossen Gemeinschaft zu dienen. Vereinen auch wir alle Kräfte in gemeinsamer 
Arbeit, damit wir nicht auch auf sexualwissenschaftlichem und sexualreformatori- 
schen Gebiete die Führung verlieren, und damit es nicht auch hier heisst: 
„Amerika in der Welt voran‘. 


Wissenschaftliehe Rundschau. 


Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


„Ab- und Entartung der Konstitution durch Gestations- 
toxonosen“ (Zeitschr. f. Konstitutionslehre. 1922. Bd. 8) und 
„Keimesfürsorge“ (Arch. f. Frauenkunde und Eugenetik, Sexual- 
biologie u. Vererbungslehre. 1923. Bd. 9). Entgegnung auf A.Greils 
Arbeiten. In diesen beiden Arbeiten hat Greilt!).gegen die von mir 
vorgeschlagene, zeitweilige hormonale Sterilisierung 2) der geschlechts- 
reifen Frau in besonderen, klinischen Fällen schwere Bedenken be- 
züglich einer Schädigung des gesamten Oozytenbestandes erhoben 
und die Methode geradezu als ein „Verbrechen“ bezeichnet. Zunächst 
möchte ich vor allem richtigstellen, dass es mir natürlich nicht in 
den Sinn kam, eine „Einpflanzung aktivierter Eierstöcke Schwangerer 
auf Nichtschwangere“, wie Greilin seiner zweiten Arbeit 3) schreibt, 
direkt in Vorschlag zu bringen 4). Vielmehr habe ich im Anschluss 
an meine Ovarientransplantationsversuche beim Tiere (Kaninchen 
und Meerschweinchen) vor aliem an Injektionsversuche mit Ex- 
trakten von Ovarien trächtiger Tiere bzw. auch an die innerliche 
Verabreichung solcher gedacht und dies auch in meinen beiden 
Mitteilungen deutlich genug zum Ausdruck — Da mir die 
Giftigkeit der Corpus luteum-Extrakte zur a bekannt war, 
andererseits eine stärkere, ovulationshemmende Wirkung der ge- 
wöhnlich klinisch verwendeten Luteinpräparate, die ja meist aus 
Eierstöcken nicht trächtiger Tiere gewonnen werden, nicht zu er, 
warten stand, zog ich vor allem für meine hormonale Sterilisierungs- 
methode das Corpus Juteum — bzw. Ovarial-Opton nach 
Abderhalden aus Ovarien trächtiger Tiere in Betracht, wie 
es von der chemischen Fabrik E. Merck bisher von nicht graviden 
Tieren durch künstliche Verdauung hergestellt und in den Handel 
.gebracht wurde; dasselbe ist nach den klinischen Erfahrungen 
Lindemanns?°) für den Menschen vollkommen unschädlich und 


1) Zeitschr. f. Konstitutionslehre. Bd. 8. S, 419 u. Arch, f, Frauenkunde., 
Bd. 9. Seite 21 u. 29. ` 

2?) Münch. med. Wochenschr. 1921. S. 1577 u, Pflügers Arch. f, d. ges. 
Physiol. 1922. Bd. 194. S. 235, l 

3) A. a. O. S. 21. 

*) Auf die diesbezüglichen, mehr als sonderbaren Ausführungen Greils 
in der „Umschau“ (1923, Nr. 2, S. 30) zu antworten, erachte ich für überflüssig. 

5, Zentralbl. f. Gyn. 1916. S. 593, — Siehe auch E. Mercks Jahresbericht, 
30. Jahrg. S. 422. 1916, 


— 


2] Wissenschaftliche Rundschau. 197 


wirkt hemmend auf zu starke oder zu häufige Menstruationen. Nach 
den Ergebnissen meiner Transplationsversuche, in denen mir durch 
subkutane Einpflanzung von Ovarien trächtiger Tiere auf nicht 
trächtige Weibchen eine länger dauernde Ovulationshemmung in dep 
eigenen Eierstöcken des Transplantationstieres und damit eine hor- 
momale,temporäreSterilisierung desselben gelungen war, 
konnte man nun erwarten, dass jenes Präparat bei richtiger Dosierung 
die Ovulation für länger zu hemmen und damit eine vorübergehende 
Sterilisierung zu bewirken vermag. Es ist nun ja gewiss vom theo- 
retischen Standpunkte aus berechtigt, dabei an die Möglichkeit 
einer etwaigen Schädigung der späteren Nachkommenschaft zu 
denken, worüber eben nur das Experiment entscheiden kann. Aber 
es geht doch wahrlich nicht an, die Sache schlechtweg in einer Art 
und Weise abzutun, wie es Greil getan hat. 

Was zunächst noch meine Transplantationsversuche betrifft, so 
habe ich bereits am Schluss meiner ausführlichen Abhandlung darauf 
hingewiesen, dass die hormonal bedingte 'Ovulationshemmung für die 
eigenen Ovarien der Versuchstiere, denen Eierstöcke trächtiger 
Tiere subkutan transplantiert worden waren, von keinem 
Schaden war; denn es trat schliesslich nach genügender Resorp- 
tion der Transplantate wieder Gravidität ein; wobei die Jungen 
stetsvollkommennormalundwohlentwickeltwaren. 
Die Injektionsversuche führte ich dann zunächst mit dem gewöhn- 
lichen Corpus luteum-Opton aus, das von nichtträchtigen Tieren 
stammt, konnte aber damit, wie ich im vorhinein vermutet hatte, 
keine sicheren Sterilisierungseffekte erzielen. Wohl gelang mir dies 
aber, als mir die Firma E. Merck auf meine Anregung hin mit 
dankenswertem Entgegenkommen Ovarial-Opton von trächtigen Tieren 
(Kühen) hergestellt hatte; dasselbe gilt bei entsprechender Dosierung 
für das auch von mir geprüfte Placenta-Opton, das mir ebenfalls 
von der chemischen Fabrik E. Merck hierzu freundlichst zur Ver- 
fügung gestellt wurde. Über diese Versuche werde ich in nächster 
Zeit ausführlicher im Pflüger Archiv berichten. Hier sei nur 
vorweggenommen, dass sämtliche behandelte Tiere 
(Kaninchen) nach Abklingen des Sterilisierungser- 
folges wieder trächtig wurden und nach der nor- 
malen Tragzeit (meist 30 Tage) vollkommen reife 
lebende Junge zur Welt brachten, die sich auch 
weiterhin in völlig normaler Weise entwickelten. 
Irgend ein schädlicher Einfluss der Injektionsbe- 
handlung auf die Nachkommenschaft war demnach 
in keiner Richtung nachzuweisen. 

Es kommen hier aber auch vielfältige, tierärztliche Erfahrungen 
massgebend in Betracht. Bekanntlich persistiert und hypertrophiert 
beim Rinde nicht selten das Corpus luteum, wobei die sonst periodisch 
alle 3 Wochen wiederkehrende Brunst nicht eintritt und das Tier 
entsprechend lange steril bleibt; erst nach dem Herausdrücken bzw. 
Entfernen des persistierenden, gelben Körpers erscheint 
die Brunst wieder in den nächsten Tagen und kann die Kuh dann 
erfolgreich belegt werden. Ich habe nun an Herrn Prof. L. Rei- 


3] 'Wissenschaftliche Rundschau. 198 


singer (Tierärztliche Hochschule in Wien) die Anfrage gerichtet, 
ob in der tierärztlichen Literatur Fälle erwähnt sind, in denen ein 
Rind nach Corpus luteum persistens ein minderwertiges oder sonst 
geschädigtes Kalb geworfen hätte; dies wurdeunbedingtver- 
neint und gab mir freundlicherweise Herr Prof. L. Reisinger 
an, dass auch nach seinen eigenen Erfahrungen die Kälber von 
Kühen, die nach Entfernung eines Corpus luteum persistens wieder 
trächtig geworden sind, ebenso gut entwickelt und lebensfähig seien 
wie jene von anderen normalen Kühen. 

Diese Ausführungen zeigen somit, dass das gegen meine 
Sterilisierungsmethode gerichtete Bedenken von 
Greil „bezüglich einer zu gewärtigenden Dauer- 
schädigung der Konstitution der Oozyten“ voll- 
kommen gegenstandslosund seine so drastische Ver- 
urteilung meines Vorschlages gänzlich unberech- 
tigt ist. Die Indikationsstellung, sowie die prophylaktische und 
eugenetische Bedeutung dieser temporären, hormonalen Sterilisierung 
werde ich an anderer Stelle eingehend erörtern. 

Schliesslich seien zur weiteren Charakteristik der Greilschen 
Denk- und Vorstellungsweise nur noch zwei Beispiele aus seiner 
zweiten Arbeit herausgegriffen. So schreibt er) über die Bedeutung 
des Corpus luteum: „Von einer ‚Drüsenwirkung‘ behufs ‚Vorberei- 
tung der Eieinbettung‘ kann überhaupt keine Rede sein.“ Für Greil 
existieren offenbar die bekannten und zahlreichen Untersuchungen 
von L. Fraenkel und L. Loeb über die Bedeutung des Corpus 
luteum überhaupt nicht! Ferner fordert 'Greil?) in seinem „„Gesetz- 
entwurf zur Durchführung der ärztlichen Schwangeren-, Keimes- 
und Keimlingsfürsorge“ allen Ernstes das Verbot der Kohabitation 
genau „zwischen dem 12. und 24. Tage eines vierwöchentlichen 
Normalzyklus, dem 6.--16. Tage eines dreiwöchentlichen Zyklus.“ 
Ich glaube wohl, dass sich da jede Kritik ohne weiteres erübrigt; 
diese Beispiele liessen sich zur Genüge vermehren, ich meine aber, 
darauf nach dem bisher Mitgeteilten verzichten zu können, und dies 
um so mehr, als die „eigenartigen‘ Auffassungen G reils bereits vor 
Jahren und auch neuerdings von W. Roux®) kritisch beleuchtet und 
gekennzeichnet worden sind. 

Prof. L. Haberlandt, Innsbruck. 


Zur Wertung von Deszensus und Prolaps bei der länd- 
lichen Arbeiterfrau 1). Als leitender Arzt eines ländlichen Ver- 
sorgungsamtes habe ich innerhalb 21/ Jahren (1921/23) 75 Frauen 
der arbeitenden Klasse im Alter von 45—60 Jahren bezüglich ihrer 
Arbeitsfähigkeit begutachtet. Es handelte sich um sog. Kriegshinter- 


6) A. a. 0. S. 11. 

10 A. a. O. S. 22, 

8, Arch. f. Entwicklungsmechanik 1912. Bd. 35. S, 314 und 1914. Bd. 39. 
S. 651. — Deutsch. med. Wochenschr. 1923,.S. 110 u, 878. 

1) Vortrag, gehalten auf der 18. Versammlung der ‚Deutschen Gesellschaft 
für Gynäkologie‘, 1923 zu Heidelberg. e 


4] Wissenschaftliche Rundschau. 199 


bliebenenelternuntersuchungen, bei denen festgestellt werden musste, 
ob die Untersuchten bei der gesetzlich vorgeschriebenen wohl- 
wollenden Beurteilung über 662/,% erwerbsbeschränkt und der 
eigentlich erst mit dem 60. Jahre zuständigen erhöhten Rente be- 
dürftig wären. Die zusammenfassende Prüfung dieser Unter- 
suchungen ergibt für die klinische Wertung von Deszensus und 
Prolaps nicht uninteressante Resultate, die ich Ihnen, ohne Sie hier 
mit Tabellen, Statistiken und Kurven zu behelligen, kurz mitteilen 
möchte; bietet doch die mit häuslicher, mütterlicher, landwirtschaft- 
licher Arbeit ebenso wie mit meist rasch aufeinanderfolgenden Ge- 
burten überreich gesegnete Frau des ländlichen Arbeiterstandes 
besser als jede andere weibliche Berufsklasse alle Vorbedingungen der 
Senkungs- und Vorfallentstehung. 

Das Material ist nicht gross, aber es ist genau aktenmässig 
niedergelegt, ist ganz unbefangen und unvoreingenommen ohne eine 
bestimmte Arbeitshypothese entstanden und betrifft, wie ich aus- 
drücklich bemerke, Frauen, die nicht als Kranke den Arzt auf- 
suchten. Erst gegen Ende meiner versorgungsärztlichen Tätigkeit 
kam mir der Gedanke, den Stoff zu verarbeiten, und zwar haupt- 
sächlich aus dem Grunde, weil mir aufgefallen war, dass die geburt- 
liche rein mechanische, lokalgenitale Schädigung dieser vielgebären- 
den Frauen für ihre Arbeitsfähigkeit eine so merkwürdig geringe 
Rolle spielte. Diese Tatsache bestätigte die Erfahrung meiner Privat- 
praxis. Als ländlicher Frauenarzt hatte ich in erster Linie Patien- 
tinnen mit Senkungs- und Vorfallbeschwerden erwartet. Aber trotz 
einer Laparotomiehäufigkeit von etwa 100 im Jahr könnte ich fast 
alle mit solchen Beschwerden zu mir gekommenen Frauen mit Namen 
nennen, so verschwindend war die. Bedeutung der Genitalsenkung 
in den Klagen meiner Klienten, wenn ich auch natürlich aus eigener 
Initiative eine ganze Reihe von Vorfall- und Senkungsoperationen 
als Haupt- oder Nebeneingriffe ausgeführt habe. 

In meinem Material, das zu Dreiviertel in den ö50Oiger Jahren stand, 
das durchschnittlich 6 Geburten, zur Hälfte über 5, zu einem Viertel über 
8 Geburten, durchgemacht hatte, das durchweg abgerackert, früh verbraucht, 
‚irüh gealtert ein Durchschnittsgewicht von nur 100 Pfund bot, bei dem ein 
Viertel tuberkulös bzw. tuberkuloseverdächtig war, das ohne allzu grosse 
Weitherzigkeit zu Neunzehntel als über 662/30 erwerbgemindert begutachtet 
werden musste, in diesem Material gab nur jede zehnte Frau Senkungs- 
teschwerden an, obwohl sie alle, wie menschlich verständlich, zur Erlangung 
der höheren Rente einen gerüttelten Sack vielgestaltigster Klagen mitbrachten. 

Ich fand bei noch nicht einem Viertel (2200) praktisch kaum störende 
Scheidensenkung mit leichter Gebärmuttersenkung, nur bei einem Siebentel 
(14%) stärkere, bis zu mässigem Vorfall ausgedehnte Scheidensenkung mit 
mässiger Gebärmuttersenkung; nur einmal zeigte sich bei kräftigem Pressen die 
Portio in der Vulva bei einem Totalprolaps. Die erste, leichteste Klasse von 
Senkung betraf zur Hälfte 10 mal und öfter Geborenhabende, während der 
stärkere Grad nur zu einem Viertel solche -Zehn- und Mehrgebärende betraf. 
Danach spielen konstitutionelle Faktoren sichtlich eine grössere Rolle als der 
rein zahlenmässige Einfluss der Geburten. Fast die Hälfte der Frauen hatte eine 
Rückwärtslagerung der Gebärmutter ohne besondere Beschwerden, so dass sich 
auch hier die bekannte relativ geringe klinische Bedeutung der Gebärmutterlage 
dartut. 800 zeigten einen alten drittgradigen Dammriss,. Mit Ausnahme des 

Arehiv für Frauenkundo. Bd. IX. H. 8. 14 


200 Wissenschaftliche Rundschau. [5 


Totalprolapses kam die Genitalsenkung gar nicht oder nur in Kinzelfällen 
als nebensächlicher Befund für die Beurteilung der Erwerbstätigkeit in Frage. 


Wesentlich wichtiger als ‚die Geburtsschädigung der eigentlichen Fort. 
ptlanzungsorgane war für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit die Geburts- 
schädigung der Bauchwand und der von ihr eingeschlossenen und getragenen 
Eingeweide. Ein Fünftel (20%) zeigte leichten Hängebauch mit geringer Entero- 
ptose, die Hälfte (50%) einen mittelstarken Hängebauch mit entsprechender Ein: 
geweidesenkung, ein Sechstel (16%0) hochgradigste Bauchwandschwäche mit 
ebenso starker Enteroptose. Diese Geburtsveränderungen wogen in dem Unter- 
suchungsurteil schon wesentlich schwerer, wenn sie auch durchweg nicht den 
Ausschlag gaben. In weit über die Hälfte i65%0) durch schwerere Stuhlträgheit, 
in über einem Zehntel (12%) durch einwandfrei nachweisbare Gallenblasen- 
erkrankungen kompliziert, waren sie vielfach die Ursache chronischer Magendarm 
störungen, die schon ohne chemische, funktionelle oder röntgenologische Nach- 
prüfung aus den Klagen und dem Befund zu erkennen waren, meist Magensenkung 
und -erweiterung, die, teilweise natürlich in Verein ‚mit der in 25% bestehenden 
Tuberkulose (s. o.), für Blutarmut, chronische Darmintoxikation, Pseudokachexie, 
die schon vorher erwähnte auffällige Untergewichtigkeit und Unterernährung 
verantworllich zu machen waren. Weiter schädigend wirkten die geradezu 
traurigen Gebissverhältnisse -- über die Hälfte der Frauen (5400) war völlig 
zahnlos, die mit künstlichem Gebiss versehenen nicht gerechnet, —, was bei 
der (reburtenhäufigkeit, neben der bekannten ländlichen Indolenz gegenüber 
der Zahnpflege, zu beträchtlichem Teil als Geburtsschädigung infolge der (ie- 
stationsdekalzinierung aufzufassen ist. 

Aber auch diese Veränderungen von Bauchwand und Bauchinhalt traten 
für die Erwerbsfähigkeitsbeurteillung an Bedeutung weit zurück gegenüber der 
vorherrschenden, gutachtlich an erster Stelle entscheidenden, in ihrer Häufig- 
keit geradezu frappierenden Schädigung des Kreislaufes. Weit über 
die Hälfte der Untersuchten (569%) zeigte schwerere Herz- und Gefässschädigung 
in Gestalt von Kreislauf. und Herzschwäche, Früharteriosklerose :usw., wie Ober, 
haupt die Klage des „Schnaufenmüssens" und der Atemnot geradezu stereotyp 
wiederkehrte. In fast 8%, der Fälle bestand nach dem hohen Blutdruck auch 
unter Berücksichtigung der klimakterischen Hypertension der Verdacht auf 
beginnende Schrumpfniere. Ich stehe nicht an, diese Kreislaufschädigungen 
ebenfalls direkt und indirekt mit der Hauptleistung dieser Frauen, ihrer umfang- 
reichen Fortpflanzungstätigkeit, ursächlich in Zusammenhang zu bringen, obwohl 
natürlich die ganze soziale Lage und Lebensweise hierbei ihre bedeutsame Rolle 
spielt. Ernstere, für diese Kreislaufschädigung ätiologisch in Frage kommende 
Infektionskrankheiten waren in der Vorgeschichte der Frauen ganz auffällig 
spärlich. Welche vielgesaltige Belastung «die Schwangerschaft dem Kerislauf 
in allen seinen Abschnitten, Herz, Arterien, Venen, ‚Kapillaren, auferlegt, das 
brauche ich in diesem Kreise ja nicht breiter auszuführen. Betonen möchte 
ich die gewaltigen Blutvertalungsschwankungen in dem von Sellheim näher 
beschriebenen Tonusturgorspiel der Baucheingeweide und ihres gewaltigen 
iefässnetzreservoirs sowie Hinselmanns Arbeiten über Kapillarbeobach- 
tungen bei gesunden und kranken Schwangeren und die in der Praxis nicht ge- 
nügend gewürdigten Forschungen Pals über Gefässkrisen usw. 


Was lehrt nun das vorgetragene Material ? 


Die geburtliche Schädigung der eigentlichen Fortpflanzungs- 
organe, die dem Gynäkologen berufsspezifisch am nächsten liegen, 
spielt für die Arbeitsfähigkeit die geringste Rolle. Sie stellt nur eine 
Teilerscheinung der wesentlich wichtigeren Schädigung der ganzen 
Kinheitlichkeit und des ganzen Zusammenhalts des Bauches in Ge- 
stalt von Hängebauch und Eingeweidesenkung mit ihren Folgen dar. 


6] Wissenschaftliche Rundschau. 201 


Vorherrschend in der tokogenen Pathologie aber ist die enorme 
Aufgabe, die dem Herzgefässapparat in Schwangerschaft, Geburt und 
Wochenbett zugeteilt wird und die bei konstitutionell wie hygienisch- 
sozial ungünstigen Vorbedingungen für die weibliche Gesundheit 
geradezu katastrophale Folgen hat. 

Die prophylaktische wie operative Behandlung von Deszensus 
und Prolaps, deren Wichtigkeit in ihren speziellen, fachlich einge- 
engten Grenzen nicht verkannt werden soll, muss sich der Prophylaxe 
und Behandlung des Hängeleibes und der Eingeweidesenkung als 
der grösseren, weiterschauenden und umfassenderen Aufgabe unter- 
ordnen. 
Und diese eine überdehnte, in erster Linie mechanisch ge- 
schädigte Körperhöhle in Obhut nehmende und wiederherstellende 
Arbeitsaufgabe tritt zurück vor dem noch viel wichtigeren Ziel, die 
mechanische, funktionelle, chemische, innersekretorisch-toxische und 
nervöse Schädigung des für Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Lebens- 
dauer so unendlich bedeutungsvollen gesamten Kreislaufapparates 
auf ein Mindestmass herabzusetzen. Diese Aufgabe eröffnet die 
dem rein wissenschaftlich forschenden wie dem heiltätigen Arzte 
ein reiches, dankbares, auch dem Nichtfachmann zugängliches Arbeits- 
feld, verlangt aber auch eine viel grosszügigere Betrachtung des 
Kreislaufes, bei dem bisher zu ungunsten der mindestens ebenso 
wichtigen übrigen Zirkulationswege das Herz allein zu sehr im 
Vordergrund der Beobachtung und Behandlung gestanden hat. 

Auch aus dem Ergebnis meiner kleinen Materialbetrachtung, die 
naturgemäss nur in ganz grobgehaltenen Strichen gezeichnet werden 
konnte, sehen wir, was auf der ganzen gynäkologischen Linie seit 
Jahren vor sich geht, das Bestreben, den kleinen, engen, rein mecha- 
nistischen Genitalhorizont zu sprengen und alles frauenärztliche 
Wissen, Erkennen und Behandeln auf das grössere Gebiet, auf die 
biologische und konstitutionelle Auffassung des weiblichen Gesamt- 
organismus. auszudehnen. | 
Dr. Hans Kritzler, Erbach i. O. 


Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung. Während 
ein Teil der modernen Biologen an den Möglichkeiten der exakten 
Methode verzweifelnd seine Zuflucht zu einem autonomen Prinzip 
in der Struktur nimmt, so die Neo-Vitalisten mit ihrem Führer 
Prof. Hans Driesch in Leipzig, bemüht sich ein anderer Teil 
immer noch, alle Rätsel, die der Kosmos uns aufgibt, als scheinbare 
Rätsel zu erweisen, die sich ganz natürlich erklären, wenn man 
vom rechten Standpunkt an sie herantritt. In des Jenenser Biolosen 
Schaxel „Abhandlungen zur theoretischen Biologie“ blätternd 
stosse ich auf eine Schrift von Victor Franz, in der dieser Ge- 
lehrte sich anheischig macht, auch das, was Darwin und Häckel 
noch unbeantwortet liessen, rein mechanisch und „natürlich“ zu 
erklären. Er glaubt an eine Urzeugung. Die ältesten Stoffe 
werden kompliziertere Kohlenstoffverbindungen gewesen sein, die 
treibende Kraft des Stoffstromes kann Sonnen- oder auch Erden- 

14* 


202 Wissenschaftliche Rundschau. [7 


energie gewesen sein. So etwa ist die Urzeugung zu denken. Die 
ungeschlechtliche Fortpflanzung ist ebenso leicht er- 
klärlich. Wenn auf eine Teilung des Körpers durch einen vielleicht 
äusseren rohen Anstoss die Wiederergänzung und das Wachstum 
folgte, so erklärt sich das „als einfachste Wiederherstellung des ` 
gestörten Stoffwechselgleichgewichts“ (S. 4). In der Tat, sehr ein- 
fach! Aber der Verfasser begnügt sich nicht mit dieser über- 
zeugenden Erklärung der ungeschlechtlichen Fortpflanzung, er weiss 
auch für die geschlechtliche eine einleuchtende Herleitung. 
Wenn dieses Rätsel gelöst würde, welches hielte noch stand? 


Der Verfasser meint, bei der Zellteilung, die er inzwischen 
auch schon natürlich .erklärt hat, was wir ihm zunächst zugeben 
wollen, könnte vielleicht einmal die Teilung der Chromosomen eine 
gewisse Hemmung erfahren haben, so dass die Zellteilung zu früh, vor 
vollendeter Teilung und vor der Verdoppelung der Chromosomen ein- 
trat. Es entstanden dann 2 Tochterzellen mit halber Chromosomen- 
zahl. Diese könnten dann, wenn der Prozess öfter eintrat, im feuchten 
Medium infolge ihrer inneren Stoffverwandtschaft zu 2 und 2 ver- 
schmelzen, so die Chromosomenzahl wiedererlangen und zu einem 
ganzen Organismus werden. ‚So etwa kann die geschlechtliche Fort- 
pflanzung entstanden sein“ (S. 9). Gewiss konnte das alles so ge 
schehen, der Verfasser befindet sich nur in einem ungeheuerlichen 
jrrtum, wenn er meint, damit die Entstehung der geschlecht- 
lichen Fortpflanzung auch nur angedeutet zu haben. Was er bringt, 
sind Curae posteriores der Natur. Ich frage ihn, wie will er die 
Teilung der Chromosomen erklären? Aber die fällt wohl mit 
der von ihm schon „erklärten“ Zellteilung zusammen. Ferner: Wie 
erklärt er die Hemmungen der Zellteilungen ? Ferner behauptet er 
ganz einfach, die zwei Zellen mit anormalen Chromosomen könnten 
zu 2 und 2 verschmelzen, „infolge der ihnen innewohnenden Stoff- 
verwandtschaft“. Also zwei Zellen verschmelzen, je zwei halbe 
Chromosomen vereinigen sich zu zwei vollständigen. Ja, will der 
Verfasser nicht erklären, wie diese Verschmelzung vor sich gehen 
soll? Setzt ein solcher Vorgang nicht eine Kraft voraus, einen 
formenden Trieb? Woher nimmt er den? Wenn er selbst zwei halbe 
Körper irgendwie nebeneinanderlegt, werden sie deshalb zu einem 
einzigen verschmolzen? Grade das Einzige, das der Erklärung am 
Sexualprozess bedürfte, das innerlich schaffende Leben, der Bios, 
nach dem seine Wissenschaft heisst, hat der Verfasser nicht nur 
nicht erklärt, sondern nicht einmal der Erwähnung für nötig er- 
achtet. Ich stelle das fest, nicht weil der Fall besonders eklatant 
wäre; im Gegenteil er findet sich hundert- und tausendfach in der 
biologischen Wissenschaft. Man erklärt und leitet ab und übersieht 
völlig, dass man das Einzige, was zu erklären ist, das Leben an sich, 
die Kraft selbst, nicht nur nicht erklärt, sondern einfach totschweigt 
oder als gegeben voraussetzt. Wissenschaft aber, die nicht voraus 
setzungslos ist, verdient diesen Namen nicht. Umsonst hat Kant 
eine Fülle von hemmenden Voraussetzungen aus dem Wege der 
Wissenschaft geräumt und uns in die kühlen Räume verstandesklarer 
Kritik versetzt. Wir haben noch immer nicht genug von ihm gelernt, 


8] Wissenschaftliche Rundschau, 203 


wissen immer noch nicht zu unterscheiden, wieviel wir bei der 
Forschung voraussetzen dürfen, wieviel nicht! 

Ehe die Wissenschaft, auch die biologische, nicht auf dem 
Standpunkt der mathematischen Methode angelangt sein wird, 
d. h. nichts vorauszusetzen wagt, was nicht bewiesen ist, wird sie zu 
endgültigen Ergebnissen nicht vordringen, sondern bei seichten Mut- 
massungen bleiben. Sobald wir die Lebenskraft erfasst haben, können 
wir ihre Mittel und Wege leicht rekonstruieren ; es gehört bitterwenig 
Scharfsinn dazu. Solange wir von ihr aber nicht das Geringste 
wissen und anscheinend auch wissen wollen, hat das Gerede über 
etwaige posteriore Möglichkeiten des Naturgeschehens nicht den 
geringsten Wert. Prof. Dr. C. Fries, Berlin. 


IL Kritiken. 


Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an 
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden. 


— — — — — 


Grote: Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen. 1.Bd.: Hoche, 
Kümmel, Marchand, Martius, Roux, Wiedersheim. 2. Bd.: 
Barfurth, Grawitz, Hueppe, H.H.Meyer, Pentzoldt, Rosenbach, 
Fr. Schultze, Hugo Schaltz. Verlag von F. Meixner, Leipzig 1923. 

Mit diesen Bänden tritt ein ganz neuartiges Unternehmen in die Literatur 
der Medizin: Eine Sammlung von Autobiographien und 'damit eine Geschichte 
der Medizin der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, dargestellt von den- 
jenigen, welche diese Geschichte selbst gemacht haben und noch machen. 

Die zweifellos vorhandene Gefahr der persönlichen Einstellung der Autoren zu 

ihren eigenen Leistungen und Anschauungen wird reichlich aufgewogen durch 

Beseitigung des Mangels, welche jede sog. objektive Geschichtsdarstellung hat: 

Unkenntnis des Geschichtsschreibers über die persönlichen Triebkräfte, 

inneren Erlebnisse, Werturteile, Ziele und Wünsche des Menschen, den und 

dessen Taten er darstellt. Dieser Mangel, welcher auch durch Urteile von 

Zeitgenossen, durch Briefwechsel usw. nur höchst ungenügend beglichen wird, 

ist doppelt gross in einer Zeit, welcher aus hier nicht zu erörternden Gründen 

die Mitteilsamkeit von Mensch zu Mensch durch ‘Briefe und Unterhaltung ab- 
handen gekommen ist. So erhält die Geschichte der Medizin durch das Unter- 
nehmen von Grote eine Bereicherung, welche in ihrem ganzen Ausmasse am 
besten erfasst werden kann, wenn man sich vorstellt, was es z. B. für Semel- 
weis, seine und «die nachfolgende Zeit bedeutet hätte, wenn die Selbst- 
darstellung seines Wirkens vorgelegen hätte. Gegenüber ‚diesen Selbstdarstel- 
lungen freilich erwächst der objektiven Geschichtsschreibung die schwere Auf- 
gabe, die Diagonale zu ziehen zwischen Persönlichem jund Sachlichem, Über- 
treibungen zu beschränken, Unterschätztes zu heben. Das (alles ist zu erreichen. 

Die grösste Schwierigkeit aber liegt in der ‘Auswahl der Autobiographien. Wen 

sie trifft, wird herausgehoben. Wien sie übergeht, um den wird eine Mauer 

errichtet, deren Niederlegung oft dem Zufall späterer Geschichtsschreibung 
überlassen bleibt. Dieser Verantwortung muss der Herausgeber sich bewusst sein. 
, Max Hirsch, Berlin. 


Raymund Schmidt: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstel- 
lungen. 1. Bd.: Paul Barth, Erich Becher, Hans Driesch, Kurt 
Joel, A. Meinong, Paul Natrop, Johannes Rehmke, Johannes 
Volkelt. 2. Bd.: Erich Adickes, Clemens Baeumker, Jonas Cohn, 
Hans Cornelius, Karl Groos, Alois Höfler, Ernst Troeltsch, 
Hans Vaihinger. 3. Bd.: G. Heymans, Wilhelm Jerusalem, Götz 
Martius, Fritz Mauthner, August Messer, Julius Schultz, 
Ferdinand Tönnies. Verlag von Felix Meizner, Leipzig 1923. 

Anders als der „Medizin der Gegenwart in 'Selbstdarstellungen‘“ steht der 

Kritiker diesem Werke gegenüber. Die dort aufsteigenden Bedenken haben hier 


2] | Kritiken, 205 


nur in ganz beschränktem Masse Berechtigung. Während andererseits die grossen 
Vorzüge jenes Unternehmens bei diesem in noch 'viel höherem Grade hervor- 
gehoben werden müssen. Denn Philosophie ist nicht en toter Hausrat (Fichte), 
den man ablegen oder annehmen könnte, wie ‚es uns beliebt, sondern ist be- 
seelt durch die Seele- des Menschen, der sie betreibt. Darum kann über ein 
philosophisches System der am besten sprechen, der es aufgerichtet hat. So er- 
halten wir durch das vorliegende Werk die Philosophie der Gegenwart aus 
erster Hand, wie der Herausgeber mit Recht sagt. Eine reine Berichterstattung 
über sie aus zweiter Hand ist schon nicht mehr möglich. Sie ist schon nicht 
mehr objektiv, sondern beseelt durch den Berichterstatter, seine Auffassung, 
seine Stimmung gegenüber dem Objekt. Eine Entpersönlichung 'auf dem Gebiete 
der Philosophie ist so wenig möglich wie lauf dem der Kunst. Ist schon Ge- 
schichtsschreibung streng genommen ein Entwirklichungsprozess, wie vielmehr 
noch die kritische Würdigung von zeitgenössischen Philosophen und ihren 
Leistungen. Daher sind soviele verfälschende Faktoren im Spiele, dass das 
Schöpfen aus erster Hand, d. h. von dem Objekt der Geschichtsschreibung selbst 
unbedingt den Vorzug verdient. Darin liegt die Bedeutung der hier besprochenen 
autobiographischen Sammlung. Ihr Wert ist am besten dadurch gekennzeichnet, 
dass der erste Band bereits in zweiter Auflage erscheinen musste. 
Max Hirsch, Berlin. 


Morawitz: Klinische Diagnostik innerer Krankheiten. Zweite Auflage. 
Mit 268 Abbildungen im Text und 17 Tafeln. Verlag von F. C. W. Vogel, 
Leipzig 1923. 

Dieses ausgezeichnete Lehrbuch der inneren Medizin ist auch dem Spezia- 
listen anderer Gebiete unentbehrlich. Je mehr alle Fächer der Medizin dem Konsti- 
tutionsproblem zustreben, um so mehr ist für alle die innere Klinik der Mutter- 
boden, aus dem medizinisches Denken und Handeln erwächst. Gegenüber der 
ersten vor kaum 2 Jahren erschienenen Auflage muss auf die Abschnitte 
Respirationsapparat und Urogenitalapparat hingewiesen werden, welche gründ- 
lich umgearbeitet sind. Vorzüglich sind Inhaltsverzeichnis und Sachregister, 
so dass das Werk zum täglichen Handwerkszeuge dienen kann. 

Max Hirsch, Berlin. 


Parazelsus sämtliche Werke. Herausgegeben von Karl Sudhoff und 
Wilhelm Matthiessen. I. Abt.: Die medizinischen, naturwissenschaft- 
lichen und naturphilosophischen Schriften. Sechster Band. Otto Wilhelm 
Barth, München 1922. 

Nun wird sie doch noch zur Tatsache, die lange entbehrte, lange erwartete Ge- 
sanıtausgabe der Werke des grössten Arztes deutscher Zunge, Theophrastus 
von Hohenheim. Die medizinisch-naturwissenschaftlichen Schriften machen 
ılen Anfang und sollen 5 Bände füllen. Es sollen folgen je 5 Bände der Jugend. 
zeit und der letzten 4 Lebensjahre. Den Abschluss soll eine Biographie bilden, 
die den Mann in seiner Ganzheit zu 'erfassen sucht. Neben den nıturwissen- 
schaftlichen werden auch die religiösen und politischen Schriften Aufnahme 
finden. Dieses grossartige Werk historischer Forschung ist der Initiative und der 
Arbeitskraft Karl Sudhoffs zu danken. 

Der erste Band liegt vor. Er enthältidie Schriften Parazelsus aus der 
Kolmarer Zeit (1528; über Wunden und offene Schäden, sowie über die Syphilis. 
Druck und Wiedergabe von Buchtitelblättern, Briefen und Abbildungen sind vor- 
trefflich. Dem Verlage gebührt Dank für das in schwerer Zeit gewagte Unter- 
nehmen. Max Hirsch, Berlin. 


Prausnitz: Grundzüge der Hygiene. 12. verbesserte und vermehrte Auflage. 
J. F. Lehmanns Verlag, München 1923. | 

Als Student benutzte ich — ausser dem Rubuerschen Lehrbuch — die 

4. Auflage der Grundzüge der Hygiene von Prausnitz. Vergleiche ich sie 


206 Kritiken. l [3 


mit der vorliegenden 12., so gewinne ich den Blick für den grossen Fortschritl 
und die starke Gebietserweiterung dieses Wissenszweiges. Ausser mehrfacher 
Umordnung des Stoffes müssen die Kapitel „Grundzüge der sozialen Hygiene‘, 
„soziale Tätigkeit des Arztes und Fürsorgewesen‘‘ und besonders ‚„Rassenhygiene‘ 
genannt werden. Der Umfang des Werkes ist von 524 auf 821 Seiten an- 
gewachsen. 

Die neuen Kapitel sind notwendigerweise auf kurze richtunggebende Aus- 
führungen beschränkt und mit Hinweisen auf die Spezialwerke versehen. So 
spiegelt das Ganze das Wissen der Zeit und erfüllt jetzt wie ehedem seinen 
Zweck, dem Studierenden ein Lehrbuch, Ärzten, Ingenieuren, Medizinal- und 
Verwaltungsbeamten ein Auskunftswerk zu sein. Max Hirsch, Berlin. 


Graetz: Lehrbuch der Physik. 5. vermehrte Auflage. Mit 285 Abbildungen. 
Verlag von Franz Deuticke, Wien 1923. 


Dieses seit langem erprobte Lehrbuch hat wesentliche Erweiterungen er- 
fahren, unter denen für den Mediziner die Röntgenspektroskopie und die Kern- 
theorie der ‘Atome besonders wichtig sind. Relativitätstheorie und Quanten- 
theorie sind in ihren Fragestellungen angedeutet. Die Hauptabschnitte, Mechanik, 
Lehre vom Schall, vom Licht, von der Wärme, Magnetismus und Elektrizität sind 

durch neue Erkenntnisse ergänzt. | Max Hirsch, Berlin. 


Sellheim, Die geburtshilflich- gynäkologische Untersuchung. Ein Leit- 
faden für Studierende und praktische Ärzte. Vierte, vermehrte und um- 
gearbeitete Auflage. Mit 94 Abbildungen. J. Bergmann, München 1923. 


Dieses ausgezeichnete Buch ist nun seit mehr als 20 Jahren Rüstzeug vieler 
Ärztegenerationen. In Klarheit und Anschaulichkeit der Darstellung ist es 
kaum zu überbieten. Auch da nicht, wo es in schwierige Einzeldinge eindringt. 
Auch der schon erfahrene Arzt tut gut, von Zeit zu Zeit sein Wissen und Können 
an der Hand solcher auf der Höhe der Zeit gehaltenen Bücher zu prüfen und sein 
im Drange des Berufslebens leicht entfesseltes Verfahren wieder zu ordnen. 
Um nur weniges zu nennen: ausgezeichnet ist die Darstellung der Beckenmessung, 
die Stellungnahme gegenüber vaginaler und rektaler Untersuchung der Ge- 
bärenden, wobei die Trennung zwischen keimhaltigem und keimfreiem Gebiet 
des @eburtskanals und die Respektierung des Muttermundsaumes grosse instruk- 
tive Bedeutung hat. Neu ist die Darstellung ‘der Abderhaldenschen Reaktion. 
Wertvoll die Kapitel über die „Hand“, die „Unterhaltung mit hilfesuchenden 
Frauen‘ und die „Psychologie im Umgang mit kranken Frauen“. Überflüssig 
und schädlich das Kapitel „Anwendung der Uterussonde“. (S. Max Hirsch: 
Die Üterussonde ist ein gefährliches und entbehrliches Instrument. Zentralbl. f. 
Gynäk. 1922. Nr. 36.) Max Hirsch, Berlin. 


Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz: Menschliche Erblich- 
keitslehre. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Grundpreis (ergibt 
vervielfacht mit der jeweiligen Buchhandelsteuerungszahl den Ladenpreis) 
geh. 9 M., geb. 12 M. J. F. Lehmanns Verlag, München 1923. 


Schon nach zwei Jahren können wir eine zweite Auflage des verdienst- 
vollen Werkes begrüssen. Baurs kurzer klarer Abriss der allgemeinen Varia- 
tions- und Erblichkeitslehre ist von einzelnen Berücksichtigungen neuerer 
Arbeiten abgesehen unverändert abgedruckt. Auch der zweite Abschnitt: Die 
Rassenunterschiede des Menschen von Eugen Fischer ist unverändert. 
Wesentlich erweitert wurde der dritte Abschnitt: Lenz, Die krankhaften Erb- 
anlagen des Menschen. Neu hinzugekommen ist ein sehr zu begrüssender vierter 
Abschnitt von Lenz: Die Methoden menschlicher Erblichkeitsforschung. Im 
fünften Abschnitt: Die Erblichkeit der geistigen Begabung geht Lenz auch auf 
verschiedene Finwendungen gegen die erste Auflage ein. 


4) Kritiken. 207 


Wohltuend empfindet der Leser das Bestreben einer ruhigen Sachlichkeit 
gegenüber gewissen parteipolitischen Ausschlachtungen viertelverstandener bio- 
logischer Ergebnisse und Theorien. So wendet sich Lenz zum Beispiel gegen 
die den Biologen längst als Unsinn bekannte, durch Dinters berüchtigten 
Roman in das Interesse weiterer Kreise gerückte Telegonie. Das Wesen des 
Karzinoms, erklärte Lenz, besteht in einer Idiokinese somatischer Zellen. 
(Die entsprechenden Arbeiten von Boveri 1914 und Ref. 1920 scheinen dem 
Verf. entgangen zu sein.) Verf. betont immer wieder einen wie geringen Einfluss 
die Anpassung gegenüber der Zuchtwahl hat. Anpassung einer Rasse heisst 
aber Zuchtwahl, denn es erhalten sich eben vorwiegend die den gegebenen 
Bedingungen am besten angepassten. 

In den von Eugen Fischer beigefügten „Ausgewählten Rassenbildern‘ 
kann ich keine Verbesserung des Buches erblicken. Die wenigen Bilder sind 
schlecht vergleichbar, weil es sich offensichtlich um Vertreter ganz verschiedener 
sozialer Bevölkerungsschichten handelt. 

Möge das Buch recht weite Kreise zur Mitarbeit im Sammeln von Material 
anregen. Wie weit beim Menschen willkürliche Zuchtwahl getrieben werden 
kann und soll, werden spätere Zeiten ergeben. Die Hoffnungen in dieser 
Richtung sind sehr bescheiden. Fritz Levy, Berlin. 


M. Rubner, M. Gruber und M. Ficker: Handbuch der Hygiene. V. Bd. 
Nahrungsmittel. Mit 44 Abbildungen und einer Tafel. Verlag von S. Hirzel, 
Leipzig 1922. 

In dem vorliegenden V. Bande des bekannten Handbuchs der Hygiene 
behandeln E. Kallert und R. Standfuss die Fleischhygiene, W. Ernst 
Milch und Milchprodukte, H. Serger die Hygiene der pflanzlichen Nahrungs- 
und Genussmittel von der Gewinnung bis zum Gebrauch, M. Schindowski 
Märkte und Markthallen und Kühlanlagen und schliesslich Fr. Auerbach 
die gesetzliche Regelung des Lebensmittelverkehrs. 

Aus dem ausserordentlich reichhaltigen Inhalt lassen sich Einzelheiten 
kaum besonders hervorheben. Man gewinnt überall den Eindruck, dass die 
neuesten Ergebnisse auf den verschiedenen Gebieten durchaus berücksichtigt 
sind. Vielleicht hat das Bestreben sich möglichst kurz zu fassen, manchmal 
dazu geführt, dass einige Abschnitte etwas zu kurz geraten sind, so z. B. in 
dem Abschnitt der Fleischhygiene die Besprechung der Krankheiten der Schlacht- 
tiere und in dem Abschnitt der IIygiene der pflanzlichen Nahrungs- und 
Genussmittel vermisst der Leser einiges über die physiologische und patho- 
logische Wirkung dieser Mittel, insbesondere aber Angaben über die alko- 
holischen Genussmittel, die doch auch aus pflanzlichen Rohstoffen gewonnen 
werden. Es mag ja sein, dass im ersten Band des Handbuchs Mitteilungen 
darüber gemacht werden, doch wird ganz gewiss derjenige, der die Inhalts- 
angabe des V. Bandes liest, auch Belehrung über diesen Teil der Genussmittel 
erwarten. So ist dieses Kapitel der Hauptsache nach weniger cine Nahrungs- 
mittelhygiene, als vielmehr Nahrungsmittel- und Konservierungskunde, und zwar 
eine ziemlich umfassende und nicht nur dem Arzte, sondern jeder Hausfrau 
ausserordentlich nützliche. Diese Empfehlung möchte ich übrigens auf den 
gesamten Inhalt des Bandes ausdehnen und damit auch gleichzeitig zum 
Ausdruck bringen, dass ich das Buch auch allen Lehrern und Lehrerinnen 
an Haushaltungs- und Kochschulen als Grundlage für ihren Unterricht wärmstens 
empfehle. ` | Westenhöfer, Berlin. 


Ferdinand August Schmidt: Physiologie der Leibesübungen. Dritte 
umgearbeitete Auflage. Mit 86 Abbildungen. Verlag von R. Voigtländer in 
Leipzig. 

Die neue Auflage des rühmlichst bekannten Buches ist dem Begründer 
und Rektor der deutschen Hochschule für Leibesübungen August Bier 


208 Kritiken. [5 


gewidmet. Diese Widmung zeigt besser als alles andere, welch einen ge- 
waltigen Aufschwung nicht nur die Leibesübungen in Deutschland gewonnen 
haben, sondern wie auch das Verständnis für die Notwendigkeit der Schaffung 
der wissenschaftlichen Grundlagen und ihrer Verwertung bei der Ausführung 
der Leibesübungen in allen Teilen des Volkes gestiegen ist. In dem vor- 
liegenden Werke zeigt Schmidt in grossen Zügen, welche Wege bei der 
Ausführung der Leibesübungen einzuschlagen sind. Auf Grund der Anatomie 
und Physiologie bespricht er die für die verschiedenen Lebensalter und die 
-beiden Geschlechter geeignetsten Übungen. Das Verständnis für seine Dar- 
legungen wird durch zahlreiche Einzelbeispiele ausserordentlich erleichtert, auch 
für denjenigen, der keinerlei wissenschaftliche Vorbildung auf dem Gebiete 
der Anatomie und Physiologie besitzt. Ich stehe nicht an zu behaupten, dass 
sein Buch auch der Mehrzahl der Ärzte reiche Belehrung und Anregung geben 
dürfte, und dass es für jeden, der sich als Turn- und Sportlehrer ausbilden 
will, unentbehrlich ist, und dass es sehr nützlich wäre, wenn man es jedem 
jungen Menschen in die Hand geben könnte, nicht nur denen, die die Absicht 
haben sich turnerisch und sportlich zu betätigen, sondern noch vielmehr 
denjenigen, die zu solcher Betätigung keine Lust und Neigung haben. Ein- 
gehend wird die Einwirkung der Leibesübungen auf Knochen und Gelenke, 
auf die Muskeln und das Nervensystem, auf Atmung und Lungen, auf Herz 
und Gefässe und den Gesamtstoffwechsel des Körpers besprochen. Ganz aus- 
gezeichnet ist seine Darstellung der Unterschiede und der verschiedenen Ziele 
des deutschen und schwedischen Turnens, der Vorzüge und Nachteile der ex- 
tremen Richtung der beiden Turnarten, wobei er immer wieder in den Mittel- 
punkt seiner Betrachtungen das eine grosse Ziel stellt, das durch die Leibes- 
übungen erreicht werden soll, nämlich an Körper ;und Geist gesunde, allen 
Anforderungen des Lebens gewachsene und entschlussfähige, gewandte und 
willensstarke, aufopferungsfähige Menschen zu erziehen. Und da man auf 
Schritt und Tritt in dem Buche dieses Ziel durchfühlt, auch wo der Verfasser 
es nicht besonders in den Vordergrund stellt, sso liest man das Buch mit einer 
kritischen Aufmerksamkeit und Spannung, die den Leser bis zum Schlusse 
festhält. Wohl manchen Leser wird ein tiefes Bedauern beschleichen, dass 
in seiner Jugend solche Anschauungen und Grundlagen der Leibesübungen noch 
nicht existierten, ein Bedauern, das nur durch die Freude unterdrückt wird, 
dass die neuen jungen Geschlechter es besser haben werden, da sie nach soliden 
Grundsätzen erzogen werden, die Ferd. Aug. Schmidt seit 30 Jahren 
vertreten hat. Westenhöfer, Berlin. 


Renato Kehl: „Wir wollen unser Leben verbessern und verlängern!“ 
(Portugiesisch). Liveria Francisco Alves. Rio de Janciro 1922. 


Die Ideen jenes grossen englischen Gelehrten und Gründers der Eugenetik, 
Galton, welcher 1911 im 89. Lebensjahre in London verschieden ist, 
nehmen immer mehr die Aufmerksamkeit der Fachmänner aller Welt in An- 
spruch, und haben ein grosses Gefolge von leidenschaftlichen Anhängern 
gefunden. | 

Auch in Brasilien, wo die erste südamerikanische eugenetische Gesell 
schaft gegründet worden ist, beginnt sich allmählich eine Literatur über 
Eugenetik zu bilden, und als einer der eifrigsten Verbreiter erscheint Dr. Re- 
nato Kehl, ein in brasilianischen und ausländischen Kreisen wohl bekannter 
Arzt und Schriftsteller, über dessen Abhandlungen bereits früher schon in 
dieser Zeitschrift von mir berichtet worden ist. 

In dem vorliegenden Werke „Wir wollen unser Leben verbessern und 
verlängern‘ vertritt Kehl von neuem seine Überzeugung von der körper- 
lichen, geistigen und intellektuellen Verbesserungsmöglichkeit der Rasse, welche 
sich in langsamem Fortschritt „ad naturam“, und besonders mit Hilfe der 


6] Kritiken. 209 


„galtonianischen* Normen, vollziehen soll. Er ist überzeugt, dass diese Ver- 
besserung schnell und sicher vor sich gehen ‚würde, wenn die eugenetischen 
Kenntnisse im Volk verbreitet, und die galtonianischen Regeln gesetzlich durch- 
geführt würden, so dass die Ausschaltung rasseverderbender Faktoren möglich 
wäre. 


K. tritt besonders auch für die gesetzliche Einführung der Gesundheits- 
zeugnisse vor der Ehe ein und bemüht sich ganz allgemein ein, wie er es 
nach dem Vorgange von Hirsch nennt „eugenetisches :Grewissen“ zu schaffen. 
Durch alles dieses hofft er einen absolut ‚gesunden Menschenschlag zu er- 
reichen, das Specimen „Vollblut“, um mit diesem die wirklich vollkommene 
Rasse zu schaffen, von der schon Plato, Äschylos und Sophokles und viele andere 
grossen Geister bis auf Galton geträumt haben. Leider wird K. wohl ebenso 
wie wir hier im alten Europa noch viel Wasser in seinen schäumenden euge- 
netischen Wein giessen müssen. . Westenhöfer, Berlin. 


Grundriss der Sozialökonomik. II. Abteilung: Die natürlichen und technischen 
Beziehungen der Wirtschaft. 1. Teil: Wirtschaft und Natur. Zweite, neu- 
bearbeitete Auflage. Verlag von J. C. B. Mohr, Tübingen 1923. 


Die Neuauflage dieses grundlegenden Werkes ist durch die Erfahrungen 
des Weltkrieges bereichert. Hettner behandelt die geographischen Be- 
dingungen der menschlichen Wirtschaft; Oldenberg: Die Konsumtion; Herk- 
ner: Arbeit und Arbeitsteilung; Membert: Bevölkerungslehre; Michels: 
Wirtschaft und Rasse. Die letzten beiden Abhandlungen sind für den Arzt, 
Sozialhygieniker und Bevölkerungspolitiker von großer Wichtigkeit. 


Wer Momberts Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutsch- 
land und seine anderen Arbeiten über das Problem des Geburtenrückgangs 
kennt, weiss, mit welcher Objektivität, mit welcher Freiheit von religiösen 
und politischen Tendenzen der Verf. an die Untersuchung dieses Gegenstandes 
ler Bevölkerungsiehre herangeht. Wie sehr er bemüht ist, die wirtschaftlichen 
und sozialen Tatsachen selber sprechen zu lassen. 


Zwar erscheint es noch verfrüht, die Geburtenhäufigkeit nach dem Kriege 
abschliessend zu beurteilen, nachdem während des Krieges die Eheschliessungs- 
ziffern einen Tiefstand von 4,0°%/,, im Durchschnitt erreicht haben. Was heute 
geboren wird, sind zum grössten Teil noch Erstgeborene der Nachkriegsehen. 
Es fehlt noch die Summierung mit 'Zweit- und Drittgeborenen, welche erst 
in den nächsten Jahren zu erwarten ist. Aber wie dem auch sein mag, dic 
Lebenslage des deutschen Volkes ist heute eine solche, dass das zweckbewusste 
Eingreifen in die Fortpflanzung, welches schon Jahrzehnte vor dem Kriege 
begonnen hatte, geradezu als Notwendigkeit erscheint. Es in Bahnen zu lenken, 
dass es die Volksgesundheit nicht vernichtet, ist ‘Aufgabe kluger Bevölkerungs- 
politiker und’ einsichtiger Ärzte. — 


Die Abhandlung von Michels über „Wirtschaft und Rasse‘ bietet den 
Rassebiologen ganz neue Ausblicke. Sie ist durch Berücksichtigung fast der 
gesamten seit der ersten Auflage in den wichtigsten Kulturländern erschienenen 
Literatur über diesen Gegenstand zu einer einzigartigen Darstellung dieser 
nach dem Kriege besonders brennenden Frage geworden. 


Auch in den anderen Abhandlungen sind die Kriegserfahrungen verwertet. 
die der Emährung in Oldenbergs Beitrag „Konsumtion“, die der wirt- 
schaftlichen Entwicklung in Herkners Beitrag „Arbeit und Arbeitsteilung‘. 

Wer die Zusammenhänge von Wirtschaft und Bevölkerung, ihrer Zu- und 
Abnahme, immer noch nicht einsieht, dem ist nicht zu helfen. Vielleicht macht 
er noch einen letzten Versuch mit der Lektüre dieses Werkes, in welchem 
Nationalökonomen von bestem Ruf zu ihm sprechen. MaxHirsch, Berlin. 


210 - Kritiken. [7 


Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter. 3. Auflage. Verlag von 
Julius Springer, Berlin 1923. — Medizinische Psychologie. 2. Auflage. 
Verlag von Georg Thieme, Leipzig 1923. — Über Hysterie. Ebenda 1923. 


Diese drei Werke, inhaltlich und grundsätzlich ineinandergreifend, und 
zugleich der Abschluss einer Reihe von vorangehenden Einzelpublikationen des 
Verfassers in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, bilden 
zweifellos einen gleichsam katalytisch wirkenden hochbedeutsamen Faktor in 
dem Arbeitsprozess der gegenwärtigen Psychiatrie. Sie haben aber auch über 
den engeren Forschungskreis dieses Tastgebietes hinaus ein berechtigtes Auf- 
sehen erregt; und auch in der Sexualwissenschaft haben sie anregende und 
befruchtende Ideengänge mobilisiert. Zwar sind ihre leitenden Gesichtspunkte 
nicht neu — man kann sie bis auf Morel, Lomboso, Spencer und 
Wundt zurückverfolgen: aber sie treten in kühner, origineller Abwandlung 
und in einem geistreichen, oft blendenden Gewande auf; und vor allem bringen 
sie viel missbrauchte und daher missverstandene, und zuletzt seit langem 
beiseite geworfene Leitideen der Forschung in einer .brauchbaren, dem heutigen 
Erkenntnisstande angepassten Form wieder zu Ehren und zu praktischer Be- 
währung. Diese Leitideen kann man als die anthropologisch-bio- 
logische und die entwicklungspsychologische Einstellung auf 
die Geisteskrankheiten, die abnormen Persönlichkeiten und ihre Symptomatik 
bezeichnen. . Die klinischen Krankheitsgruppierungen der Psychiatrie verlieren 
den Charakter systemloser, äusserlich-schematisierender Willkür, die nur zu 
‘oft nicht mit den konkreten Fällen zu vereinbaren war; sie wandeln sich zu 
pathobiologischen Konstitutionstypen und Teiltypen oder Radi- 
kalen, die im Einzelfalle sich zu einem wirklichen, biologisch wie psycho- 
logisch voll determinierten Gebilde zusammensetzen. 


Im Formenkreise des manisch-depressiven Irreseins kehren bestimmte 
Körperbautypen mit statistischer Häufung immer wieder. Das gleiche 
gilt für den Formenkreis der schizophrenen Psychosen, nur dass hier die 
Körperbautypen und Stigmen wesentlich andere sind. Die gleichen Körperbau- 
merkmale aber finden sich in der nicht kranken Blutsverwandtschaft abge- 
stuft, aber dem gleichen Erbgang unterworfen wie die psychotische Disposition 
in ihrer Eigenart. Der Körperbau geht auf genetische Fundamente zurück, die 
letzten Endes erbbiologisch bedingt sind und über die endokrine Formel ihre 
Wirkungen zeitigen. Auch die Charaktergrundlagen der Kranken und ihrer 
nichtkranken Blutsverwandtschaft sind die gleichen. Beides, das Körperliche 
wie das Charakterologische, wurzelt also in dem gleichen pathologischen, konsti- 
tutionellen Boden. Dieser bewirkt bestimmte jeweilige Zuordnungen von Physi- 
schem und Psychischem, nämlich Charakter- und Teinperamentsformel. Und 
dies gilt für die psychotische wie für die nichtpsychotische Phänotypik. Es 
gibt „zyklothyine‘‘ und ‚schizothyme‘ Konstitutionen; sie haben ihre — im 
Gesunden wie im Kranken gleichartige — ganz eindeutige morphologische 
und psychologische Determinierung; und die Psychose ist nur eine Klimax, 
eine äusserste Zuspitzung dieser konstitutionellen Typik. Sie hat keine festen 
Grenzen mehr gegen das Nichtpsychotische. Diesen Gedankengang führt 
„Körperbau und Charakter“ ganz konkret durch und wendet ihn viel- 
fältig an, insbesondere auch auf die Typen 'genial-schöpferischer Persönlich- 
keiten. 

Wenn dem so ist: woher dann aber die psychotische Symptomatik? Woher 
insbesondere die Seltsamkeiten schizophrener Gebilde? Wir müssen sie, nach 
dem Gesagten, doch als charakterogene Gestaltungen .begreifen können, unter 
Voraussetzung einer eigentümlichen seelischen Konstitution! Dies Begreifen 
soll uns die entwiceklungs-psychologische Einstellung gewährleisten; und 
hier verschmilzt die Kretschmersche Forschung zum Teil mit der psycho- 
analytischen. Alle Symptome der Psychosen sind nur Wiederbelebungen archa- 


8] Kritiken. 211 


ischer, phylogenetisch älterer Entwicklungsstufen der Seele, die beim Kinde 
und beim Primitiven aktuell sind, mit fortschreitender Entwicklung des Denkens 
und Zweckwillens aber in Latenz geraten. Sie ruhen in präformierter Bereitschaft 
unter dem Oberbau wachbewussten Reagierens; in der Psychose aber brechen 
sie in dieses ein. So wird die „Medizinische Psychologie“ eine 
Naturgeschichte der Seelenentwicklung von den Primitivismen 
an bis zum vollreifen und wachen Zweckgeschehen in der Psyche. Die präfor- 
mierten Mechanismen des primitiv-seelischen Reagierens werden in ihrer bio- 
logischen Notwendigkeit und Ursprünglichkeit aufgesucht und den Konsti- 
tutionstypen zugeordnet; die einfachsten Reaktionstypen werden geschildert; 
ihre Beziehung zu dem affektiven Seelengeschehen und izu den psychopathi- 
schen Persönlichkeiten, zu den Neurosen und zu (den Schizophrenien wird er- 
leuchtet. Was sidh so prinzipiell ergab, wird dann im Hysterje-Büchlein 
noch einmal ganz speziell auf die Hysterielehre angewendet. Der motorische 
Anfall ist auf die Präformation des „Bewegungssturms‘“, der synkapale auf die des 
„Totstellreflexes‘‘ im Tierreich bezogen; die einzelnen Symptome lassen sich 
alle als seelische Primitivismen bei bestimmten konstitutionsbiologisch fun- 
dierten Reaktionsweisen dartun und psychologisch-dynamisch zueinander in 
Beziehung bringen; aus den Gesetzen der willkürlichen }Reflexverstärkung 
folgt das zugleich Tendenziöse und Instinktive im hysterischen Verhalten: 
kurz, wir erhalten eine so klare und plastische Veranschaulichung des Aufbaus 
der Hysterie und ihrer psychologischen Bedingungen, dass wir vermeinen, alles 
an ihr mit neuen Augen zu sehen. Als ‚Krankheit‘ im alten, klinischen Sinne 
stürzt sie freilich ein; aber als dynamisch-primitive ‚Reaktivität der Seele lebt 
sie um so konkreter und tiefer begriffen wieder auf; und gerade das 
Schwierigste an ihr: die Vielheit ihrer Symptome und die unabgrenzbare Ubi- 
quität des Auftretens hysterischer Züge auch beim Nichthysterischer, — wird 
am klarsten einsichtig. 

Dass alle diese Dinge auch für die Sexualwissenschaft wichtig sind, be- 
darf keines Hinweises. In welchem Ausmass die Gedankengänge Kretsch- 
mers eine bleibende Stätte in der Forschung finden werden, das vermag man 
heute noch nicht zu sagen. Dass hier aber eine ungewöhnlich reiche psycho- 
logische und biologische Intuition Anregungen und Ausblicke 'von höchster 
Fruchtbarkeit der künftigen Arbeit in Psychiatrie und Psychologie erschlossen 
hat, dafür zeugt schon das ungewöhnliche Interesse, das diese Bücher gefunden 
haben und das ihnen in rascher Folge immer neue Auflagen ermöglicht. Es 
kommt hinzu, dass der Autor einer der besten deutschen Stilisten unserer 
Wissenschaft ist; seine Werke lesen sich, man möchte sagen wie ein spannender 
Roman. Das soll keine Empfehlung ihres Inhalts sein, wohl aber zu ihrem 
Studium und ihrer Verbreitung in allen interessierten Kreisen anregen. 

Kronfel!d, Berlin. 


Karl Birnbaum: Der Aufbau der Psychose. Grundzüge der psychiatri- 
schen Strukturanalyse. 106 S. Verlag von Julius Springer, Berlin 1923. 


Dieses reifste Werk Birnbaums.wird in der Geschichte der Psychiatrie 
einen dauernden Platz einnehmen: ist es doch jein Symbol für den gegen- 
wärtigen Stand und ein Wegweiser für die künftigen Bahnen der psychopatho- 
logisch-klinischen Forschung, dem wir in der gegenwärtigen Fachliteratur nichts 
auch nur annähernd Ähnliches an die Seite stellen können. Die psychiatrische 
Klinik hatte, in der Sammlung und Ordnung der Beobachtungsmaterialien zu 
Verlaufs- und Krankheitstypen, ihren Höhepunkt erreicht: weiter ‚schien sie mit 
ihren eigenen Arbeitsweisen nicht gelangen zu können. Aber zur Erfassung 
des konkreten Einzelfalles reichten die klinischen Einordnungsgesichtspunkte 
nur in einer Minderzahl von Fällen zu. Und alle die jungen Forschungszweige, 
die sich gerade die möglichst umfassende Erklärung des einzelnen Falles 


212 Kritiken. (9 


zur Aufgabe gestellt hatten, entwickelten sich teils ganz unabhängig von der 


Klinik — wie etwa die phänomenologischen oder die psychoanalytischen Rich- 
tungen, — oder sie gingen zwar von .klinischem Boden aus, verloren ihn jedoch 
allmählich immer mehr unter den Füssen — wie etwa die psychopathologische 


Charakter- und Persönlichkeitsforschung, die Typologie, die Konst'tutionspatho- 
logie und Körperbaulehre und die Erblichkeitsforschung. Birnbaum hat nun 
mit einem bewundernswerten Masse von systematisierender geistiger Archi- 
tektonik eine Vereinheitlichung dieser aus- und nebeneinanderstehenden Arbeits- 
linien gegeben und in dem vorliegenden Werkchen programmatisch begründet. 
Er zerlegt die klinisch-beschreibend gefundenen Bilder „strukturanaly- 
tisch“ in die Bedingungen und Bestimmungsstärke, aus denen sie hervorgeben: 
und er bewertet die Beziehungen und den Rang dieser Aufbau-Determinanten 
zueinander. Damit tritt an die Stelle der bisherigen, zufällig und willkürlich 
wirkenden, unbeglaubigten roh-empirischen ‚Krankheiten‘ zum ersten Male 
die wirkliche Erkenntnis der Tendenzen und Kräfte, welche das klinische Bild, 
im Einzelfall wie in typischen Verhältnissen, pathogenetisch und symptomatisch 
aufbauendgestalten. Undin diesem strukturanalytischem Rahmen finden 
nun auch alle die Einzelzweige der Forschung, die bis dahin ohne Beziehung 
auf klinische Befunde verblieben waren, ihre mitwirkende Funklion an der 
Bestimmung des Aufbaus der Psychosen. 


Es verbietet sich hier natürlich, auch nur die leitenden Gedanken der 
Finzelarbeit wiederzugeben, die Birnbaum mit dieser Darstellung geleistet 
hat. Eine Fülle von Stoff und Gedanken bewegt jede Seite des Werkes und 
bereichert auch den Erfahrenen durch die ‚tiefe Kennerschaft und Zergliederungs- 
kunst des Verfassers. Wir können nur mit aller Eindringlichkeit auf die Durch- 
arbeitung des Werkchens selber hinlenken. Es enthält Gedanken, deren An- 
wendung sich übrigens auch im übrigen Bereich der Medizin, insbesondere der 
Nosologien, von grosser grundsätzlicher und praktischer Fruchtbarkeit erweisen 
dürfte. Auch die Sexnualpsychopathologie kann Gewinn daraus ziehen. 


Kronfeld, Berlin. 


Kurt Schneider: Die psychopathischen Persönlichkeiten. Handbuch 
der Psychiatrie, herausgegeben von Aschaffenburg. Spezieller Teil, 7. Abt. 
1. Teil. Verlag von Franz Deutike, Leipzig und Wien 1923. 


Der. Beitrag des ausgezeichneten Kölner Psychopathologen zu dem grossen 
Handbuch der Psychiatrie stellt das Reifste dar, was bisher zu den Problemen 
der Psychopathien geäussert worden ist. Seine Erörterungen des Normbegriffs 
und der Beziehung psychopathischer Typen zu den menschlichen Charakteren 
und zum Wesen der Individualität überhaupt klären reines der schwierigsten 
Arbeitsgebiete der Psychiatrie grundsätzlich und methodisch. Er neigt zu einer 
Erfassung biologischer Persönlichkeiten in demjenigen Sinne, den Kretsch- 
mer inauguriert hat, ohne jedoch das deskriptive Moment zugunsten des 
biologisch-konstitutionellen zu vernachlässigen. So liebevoll er sich um eine 
beschreibende und dynamische Charakterologie der Formen bemüht, so resig- 
niert er in der endlichen Einteilung doch zu einem Kompromiss mit dem von 
der Klinik herstammmenden Ordnungsprinzip gemäss dem auffallenden Symptom. 
Das muss auch wohl so sein; denn das deskriptiv Einfachste im Seelen- 
geschehen ist nicht mehr Abbild konkreter wirklicher menschlicher Typen; diese 
sind — infolge ihrer biologischen Fundierung +— für die beschreibende Psychologie 
immer zusammengesetzte vorgegebene Bildungen, welche durch Abstraktionen 
nur verdunkelt oder zerstört werden. So bringt er — bei aller Neigung zum 
System — dennoch Portraits: plastische, lebensvolle menschlich-typische Wirk- 
lichkeitsbilder. Diese erschöpft er aber in all ihren Rückbeziehungen auf 
Anlage, Milieu, Wirkungsweisen kultureller und sozialer Art. 


10] Kritiken. 213 


Ohne dass die Sexuahtät im psychopathischen Leben m:hr als flüchtig 
gestreift würde — die Sexualpsychopathologie hat in Aschaffenburgs 
Handbuch ihre eigne Darstellung gefunden —, ist das Studium dieses Werkes 
doch auch für den Sexuologen unumgänglich, wofern ihm überhaupt konstitutions- 


wissenschaftliche Einstellungen eignen. Denn er findet hier die krankhaften 


Persönlichkeiten, deren Reaktivität auch die Geschlechtlichkeit ihrer Träger 
ins Abnorme schicksalsmässig verzerrt. 

Nicht völlig einverstanden ‚bin ich lediglich mit dem zu strengen forensi- 
schen Standpunkt des Verfassers, der die Konsequenzen aus der konstitutions- 
pathologischen Bedingtheit seiner Typen wohl nicht genügend in Rechnung 
zieht. 

Sonst ist das Werk eine ebenbürtige Fortsetzung dieses Handbuchs, in 
dem ja auch ein Werk als Teil erschienen ist, das dem Fortschritt der For- 
schung eine entscheidende Wendung für Jahrzehnte gegeben hat: Bleulers 
Schizophrenie-Buch. Kronfeld, Berlin. 


Peter Schmidt: Theorie und Praxis der Steinachschen Operation. 90 S. 
Rikola Verlag 1922. 


Mit warmherzigem Enthusiasmus tritt der Schüler Steinachs für das 
Werk dieses vielumstrittenen Forschers ein. In einem 'theoretischen Teil wieder- 
holt er die bekannten experimentellen Argumente für eine geschlechtsspezifische 
hormonale Hodenfunktion. Er weist darauf hin, dass Steinach diese Funktion 
niemals nur in die Leydigzellen lokalisiert hat, sondern durchaus auch 
mit der Beteiligung des Tubulus-Epithels, nämlich der Sertolizellen, 
rechnet. Im übrigen sucht er die Anschauung ‘derer, die dem generativen Anteil 
gleichzeitig auch die Hormonbildung zuschreiben, recht triftig ou entkräften. 
Interessant ist ein Hinweis auf eine Arbait von Aron über die sekundären 
Sexuszeichen von Triton: Bei Urodelen war stets das Fehlen der Leydig- 
zellen aufgefallen und als Argument gegen deren inkretorische Funktion ver. 
wendet worden. Aron konnte nachweisen, dass die Sexuszeichen dieser 
Tierordnung von der Funktion einer besonderen, dem Hilus des Hodens 
aufsitzenden Schicht grosser lipoidhaltiger Zellen abhängen — womit die 
Annalıme, die Hormonbildung stehe irgendwie mit der Spermatogenese in 
Zusammenhang, auch für die Urodelen in Fortfall gerät. 

In einem zweiten Teile berichtet Verfasser über 24 Fälle von Vasoligatur, 
die er auf Grund verschiedener Indikationen vorgenommen hat und be deren 
Mehrzahl er, auch mit objektiven Methoden, allgemeine :Besserung im Sinne 
einer „Verjüngung“ beobachtet hat, die in den günstigsten Fällen 11/, Jahre 
anhielt. Kronfeld, Berlin. 


Ludwig Frank: Seelenleben und Rechtsprechung. 410 S. Verlag ron 
Grethlein & Co., Zürich und Leipzig 1923. 


Der angesehene Züricher ‚Nervenarzt geht in der psychologischen Auf- 
fassung und Behandlung der Grenzzustände und Neurosen bekanntlich seine 
eigenen Wege, die ihn in eine Mittelstellung zwischen der Klinik und der 
Freud-Jungschen Psychoanalyse geführt haben. Im vorliegenden Buche 
sucht er diesen Standpunkt einem breiteren Forum, insbesondere Juristen, in 
einer popularisierenden Darstellung zu begründen und mit Beispielen zu be 
legen. Mit Freud hat er die Annahme gemeinsam, dass alle psychopathischen 
Zustände, Reaktionen und Charaktere eine individuelle Entstehungsgeschichte 
haben, durch eine Dynamik der Triebe und 'Affekte auf Grund von äusseren 
Erlebnissen sich gestalten und daher therapeutisch einer Rückbildung fähig 
sind. Einen konstitutionellen Faktor erkennt er nicht an, oder gibt dieser 
Anerkennung wenigstens keine praktische psychologische Folge. So kommt 
eine Darstellung heraus, die dem Laien besonders leichtverständlich ist, der 





214 Kritiken. [11 


aber die zeitgenössische Forschung im ganzen wie im einzelnen mannigfache 
Einwendungen zu machen hätte. — Die Beziehungen zur Rechtsprechung werden 
nur lose gestreift, nicht forensisch-medizinisch vertieft; dankenswerterweise 
ist dem Verfasser am wichtigsten, den Juristen einmal gründlicher in der Sphäre 
psychopathologischer Zusammenhänge heimisch zu machen. Dies gelingt der 
Darstellung in hohem Grade. — Das sexualpsychopathologische 
Gebiet ist in seinem sozialen, strafrechtlichen und zivilrechtlichen Auswir- 
kungen ganz besonders breit abgehandelt und eine vortreffliche erste Ein- 
führung für Laien. Freilich macht sich gerade hier der einseitige Standpunkt 
und ein oft erstaunlicher psychotherapeutischer Optimismus stark bemerklich. 
Kronfeld, Berlin. 


Arthur Kronfeld: Sexualpsychopathologie (als 7. Teil des Handbuches 
der Psychiatrie. Herausgeber: Prof. Aschaffenburg). 1348. Verlag von 
Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1923. 


Es ist erfreulich und bemerkenswert, dass die noch so junge Sexual- 
wissenschaft auch in dem Grenzgebiet der Psychiatrie so stark Wurzel fassen 
konnte, dass die Sexualpsychopathologie in einem dem seelischen Leiden 
gewidmeten Sammelwerke als selbständiger Forschungszweig Platz finden musste. 
Me Durchführung dieser Aufgabe liegt bei Kronfeld in den besten Händen. 

In einem ersten Abschnitt bringt er einen deutlichen Überblick über Be- 
griff und Wesen von „Geschlechtstrieb und Persönlichkeit‘‘, der den gegen- 
wärtigen Anschauungen durchaus gerecht wird und namentlich auch den 
Freudschen Auffassungen sich anlehnt. Es folgt die Besprechung der Konst, 
tutionellen Faktoren“ der Sexualität unter vorsichtiger Bewertung der gerade 
erst in jüngster Zeit hier erschürften Wissensdaten. Im dritten Hauptteil werden 
die sexuellen Perversionen abgehandelt, wobei Kronfeld, was Stoffeinteilung 
und sachliche Zusammenhänge anbetrifft, seinen persönlichen Meinungen einen 
. breiten Spielraum lässt. Es ist mindestens strittig, job man die Onanie und die 
gesteigerte Libido als Grenzfälle der Perversion auffassen kann, obwohl zuge- 
geben werden muss, dass der Begriff des Perversionellen überhaupt heute 
noch nicht feststeht. Die Unterscheidung der perversiones in actu von denen 
in objecto entspricht und entspringt der klinisch symptomatischen Beobach- 
tung, deckt sich aber nicht immer mit den psychologischen Zusammenhängen. 
— Bemerkenswert scheint der Hinweis des Verfassers, dass der Fetischismus 
durch suggestive, speziell hypnotische Einflussnahme therapeutisch leicht anzu- 
gehen sei. Der letzte Teil behandelt die „sexuellen Neurosen“. Bei der kurzen 
Zusammendrängung dieses Riesenstoffes musste die Vertiefung in Einzelheiten 
zurückgestellt und der hier gut gelungene Versuch gemacht werden, die 
ihrer letzten Lösung noch harrenden Probleme in einer klaren Gesamtschau 
zusammenzustellen. À 

Dieses neue Werk Kronfelds zeichnet sich aus neben der klaren und 
ruhigen Darstellung des Stofflichen durch das Bemühen, den vielen noch nicht 
ins deutliche Licht gerückten Problemen der Sexualpathologie in leidenschafts- 
loser und objektiver Weise gerecht zu werden. Auch ist die dem Buche am 
Schluss angefügte sexuologische Bibliographie in ihrer fleissigen, fast voll- 
kommenen Reichhaltigkeit allen Spezialinteressenten hochwillkommen. 

H. Koerber. 


Wilhelm Steckel: Der Fetischismus. Für Ärzte und Kriminalogen. Verlag 
von Urban und Schwarzenberg, Berlin- Wien. 


Bei diesem fast 40 Bogen starken Werk, das den siebenten Band seiner 
Veröffentlichungen über „Störungen des Trieb- und Affektlebens‘‘ bildet, ist man 
zunächst wieder erstaunt über den unermüdlichen Fleiss des Verfassers, die 
flüssige Art seiner Darstellung und über den ausserordentlichen Reichtum des 


— — m -a 





12] Kritiken. 215 


zum Thema herbeigeschafften Materials. — Nach einer begrifflichen Abgrenzung 
des Fetischismus von ähnlichen noch der Norm zugehörigen Erscheinungen bringt 
Verfasser auch hier seine Auffassung der Zwangsneurose :als einer Abartung reli- 
giöser Zuständlichkeit der Seele in Verbindung mit ‚Schuldgefühlen, Straffurcht- 
und Sühnebedürfnis. Er hat mit dieser seiner Auffassung in weiteren psycho- 
analytischen Kreisen noch keine Zustimmung gefunden, da sie zu viel kon- 
kurrierende Elemente anderer Ichtriebe, namentlich den so bedeutungsvollen 
Narzismus allzu wenig in Betracht zieht. Aus der grossen Fülle dargestellter 
fetischistischer Perversionen seien hier nur einige, teilweise zum ersten Mal 
zur Beobachtung und zur literarischen Bearbeitung gebrachte Fälle aufgezählt: 
Handschuh- und Gummifetischismus, Unterrock- und Frauenhemdenfetischismus, 
Korsett- und Schuhfetischismus, Schürzenfetischismus, Schuhnägel und Absätze 
in ihren Beziehungen zum Liebesleben. Besondere Hervorhebung verdient ein 
Fall von orthopädischem Fetischismus, der dem Verfasser Gelegenheit gibt, sich 
mit der diesbezüglichen Hirschfeldschen Auffassung auseinanderzusetzen. 
— Bei aller Reserve in der Zustimmung und Anerkennung gewisser Einzelheiten 
ist das Steckelsche Werk dankbar zu begrüssen :als ein neuer und umfang- 
reicher Versuch, in das so dunkle, in seinen Auswirkungen so verhängnisvolle 
Gebiet des Fetischismus hineinzuleuchten und damit vielleicht die Möglichkeit 
der Heilung dieser bisher sich so widerspenstig verhaltenden Perversion näher- 

zubringen. H. Koerber, 


Julius Schuster (Berlin): Schmerz und Geschlechtstrieb. Versuch einer 
Analyse und Theorie der Algolagnie (Sadismus und Masochismus.) Mono- 
graphien zur Frauenkunde und Eugenetik, Sexualbiologie und Vererbungs- 
lehre. Herausgegeben von Max Hirsch (Berlin). Nr. 5. Mit zwei Schrift- 
proben. 44 S. Verlag von Curt Kabiızsch, Leipzig 1923. 


Die Iwan Bloch gewidmete Arbeit gibt anknüpfend an historische Vor- 
bilder, namentlich Marquis de Sade und Sacher Masoch sowie zwei klinische 
Fälle, eine Semiologie und Pathologie des Sadismus und Masochismus; sie 
werden unter dem Oberbegriff Algolagnie zusammengefasst. Diese stellt den 
quantitativ gesteigerten geschlechtsspezifischen Sexuallusttrieb dar. Die Anlage 
dazu ist bisexuell, ihrer Tendenz nach ist sie insofern getrennt geschlechtlich, als 
die eine Geschlechtstendenz über die andere dominiert; ihrer Valenz nach 
ist sie quantitativ gegenüber dem Normalen gesteigert. 

G. Mamlock, Berlin. 


Placzek: Das Geschlechtsleben des Menschen. Ein Grundriss für Studierende, 
Ärzte und Juristen. Verlag von Georg Thieme, Leipzig 1922. 


Die Absicht, den durch die gegenwärtig von allen Seiten sich bereichernde 
Forschung zusammengetragenen Stoff in einem kurzen Kompendium lehrmässig 
darzustellen, bedeutet ein besonderes Verdienst um die ‚Sexuologie; und die Aus- 
führung dieser Absicht durch einen Praktiker von der grossen Erfahrung und 
dem Überblick des Verf. kann im allgemeinen als durchaus gelungen und 
würdig bezeichnet werden. Es sind ja bei einer solchen didaktischen Über- 
mittlung sexuologischer, insbesonders sexualpsychologischer und pathologischer 
Dinge mannigfache Klippen zu umschiffen — was z. B. den Werken selbst eines 
Krafft-Ebing oder Moll nicht voll gelungen ist. Steht in dieser 
Hinsicht das vorliegende Büchlein höher, so hat es vor den Werken von 
Hirschfeld oder Stekel, die ja von umfassender eigener Forscherarbeit 
erfüllt sind, die Kürze und Präzision voraus. Dass es neue Gesichtspunkte 
oder Ergebnisse bringe, ist bei seinem Sonderzweck nicht zu erwarten. Viel- 
leicht entschliesst sich Vert. in der hoffentlich .bald erfolgenden nächsten Auf- 
lage auch die Ergebnisse der modernen Sexualbiologie, die das Problem der 


Archiv für Frauenkunde. Bd. IX. H. 83. 15 


216 Kritiken. [13 


Geschlechtlichkeit als genotypischer Struktur so gefördert haben, sowie die 
psychischen Geschlechtsunterschiede darzustellen. Ebenso wäre eine Aufnahme 
der Sexual-Anthropologie und Ethnologie in den L.ehrstoff '‘dankenswert. — Dass 
viele abweichende Ansichten anderer Forscher sich überall geltend machen 
liessen, ist kein Mangel des Buches, dessen Verf. durchaus das Recht hat. 
das ihm lehrbar und gesichert Erscheinende zu bevorzugen. — So kann dem 
Büchlein als einem erfreulichen Repräsentanten der Sexualwissenschaft eine 
weite und für diese werbende Wirkung gewünscht und vorausgesagt werden. 
Kronfeld, Berlin. 


J. Kyrle: Über den derzeitigen Stand der Lehre von der Pathologie und 
Therapie der Syphilis. Sechs Vorlesungen für praktische Ärzte. Zweite 
Auflage. Verlag von Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1922. 


Die Einführung in die klinisch-pathologischen Probleme der Syphilis 
erfolgt unter ausgiebiger Heranziehung der modernen Gesichtspunkte, insbe- 
sondere hinsichtlich der grossen Bedeutung des Primäraffekts und der sero- 
negativen Phase. Dabei verliert sich die Darstellung nie ins Theoretische, sondern 
knüpft überall an die Bedürfnisse und Fragestellungen der ärztlichen Allgemein- 
praxis an. Die Behandlung der Wa.-R. und der Liquorreaktionen wird in . 
“ dieser Präzision — und zugleich in der weisen Beschränkung auf das \Wesent- 
liche — dem Praktiker willkommen sein. Hinsichtlich der Therapie ist ins- 
besondere die Abwägung der Hg-Salvarsan-Alternative, das Problem der An- 
fangsdosis Salvarsan, die Dauer und Zeitpunkte therapeutischen Vorgehens, die 
Frage der Salvarsanschädigungen und Neurorezidive beachtlich. Dem didaktisch 
klaren, von reifer Erfahrung getragenen Werke ist im Interesse des grossen 
Kampfes gegen die Volksseuche eine weite Verbreitung in Ärztekreisen zu 
wünschen. Kronfeld, Berlin. 


Sexualwissenschaftliches Beiheft 


nebst Verhandlungsbericht der ärztlichen Gesellschaft für Sexual- 
` wissenschaft und Eugenetik in Berlin. 


Für das sexualwissenschaftliche Beiheft können ausser den Vorträgen der Gesellschaft nur 
kurze sexualwissenschaftliche Mitteilungen angenommen werden. 





Verhandlungen 
der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Eugenetik in Berlin. 


Sitzungen vom 20. April und 15. Juni 1923. 


1. Herr Kronfeld: Zusammenfassender Bericht der Kongressvor- 
träge über Konstitution und Sexualität. 

Herr Max Hirsch legt in seiner Eröffnungsrede die Beziehungen zwischen 
Sexualwissenschaft und Konstitutionswissenschaft dar. 

Herr Kraus schilderte das Herauswachsen der Konstitutionsforschung aus 
den historischen Bedingungen. Der klinische Lokalismus und ebenso die Über- 
spitzung des Ätiologismus, wie ihn z. B. die bakteriologische Ära mit sich 
brachte, trugen das Umschlagen in konstitutionspathologische Fragestellungen 
bereits im Keime in sich.” Man denke etwa an den Begriff der individuellen 
Resistenz gegen bakterielle Infektion (Hueppe, Martius, Kraus). Das 
zweite Moment, welches uns zum konstitutionellen Denken erzog, lag in dem 
Auftreten funktioneller Fragestellungen. Endlich aber hat der Arzt es mit 
Personen, mit Individualitäten zu tun; und es galt die Beziehungen der Kon- 
stitution zur Persönlichkeit systematisch klarzulegen. 

Tbeoretisch ist zwar die Erbkonstitution, die genotypische Reaktions- 
norm Johannseus, scharf zu trennen von denjenigen Umformungen, welche die 
Beschaffenheit durch die Lebenslage, die Konstellation erfährt. Aber einmal 
ist der Mendelismus auf den Menschen noch nicht scharf anwendbar, und zweitens 
besteht zwischen endogenen und exogenen Momenten eine so innige Wechselbeziehung, 
dass diese Trennung praktisch kaum durchführbar ist. Es kommt hinzu, dass 
die Entwicklungsarbeit sich durch die ganze Phase individueller Existenz 
umformend hindurchzieht und somit die originäre und die sekundäre Köhper- 
verfassung nicht mehr trennbar sind. Herr Kraus hat uns aus unserem Gebiet 
ein treffendes Beispiel gegeben: die Geschlechtsbestimmung, welche von geno- 
typischen Faktoren abhängt, aber sich entwicklungskurvenmässig hormonal gestaltet. 

Schwieriger und wohl.auch anfechtbarer werden die Deduktio:en des Herrn 
Kraus da, wo er die Grundlagen eines dynamologischen Aufbaues der Person 
begrifflich zu fixieren sucht. Er bekennt sich hier zu einer morphologischen 
Grundansicht, welche den gestaltstheoretischen Lehren Wertheimers 
und Köhlers parallel geht. So will er den Begriff’der Person im Sinne einer 
Ganzheit verstanden wissen. Diese Ganzheit ist mehr als ihre Teile, die ihrer- 
seits nur unter Ganzheitsbedingungen möglich sind; sie ist „Gestalt“ im Sinne 
einer generellen Morphologie; Gestalt aber ist nicht nur Form, nicht nur Äusserer 
Habitus — vielmehr sind dies nur Teilbedingungen der Gestalt. Es handelt sich 
um letzte grundlegende Fragen der Naturphilosophie, an die diese Formulierung 
des Personenbegriffes hier heranreicht. Sie zu diskutieren, ist hier nicht der Ort: 
es sei nur bemerkt, dass das Problem der Individualität seit Leibniz bereits 
mannigfache andere Lösungsversuche erfahren hat (Driesch, Schneider, 
Kroner, Rickert, W. Stern usw.). Wichtiger ist die von Herrn Kraus an- 
genommene Schichtung und Schaltung der Person; er stellt der kortikalen eine 
striär-vegetative Tiefenperson gegenüber, er weist ferner auf einzelne 
der eingeschalteten Systenie inne;halb der konstitutionellen Ganzheit hin, z. B. 
auf jenes klinisch wohlbekannte, welches die französische Forschung am Beispiel 
des Arthritismus aufgezeigt hat. Herr Kraus selber sucht die letzte und ent- 

15* 


218 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [2 


scheidende Instanz des spezifisch Konstitutionellen in der Beschaffenheit des 
Plasmas, als des somatischen Feldes für das vegetative System. Die wechselnde 
Ladung mit antagonistischen Kationen ist nach seinen Versuchen die 
Grundlage des Elektrolytturgors, der Durchtränkungsspannung und des Tonus; 
beide seien letzte individuelle Momente. Die Gleichgewichtsherstellungen zwischen 
ihnen als dem Ausdruck der Person und dem Medium sind streng individuelle 
und werden zum Teil in letzten psychischen Erlebensformen, Bewusstsein, Gefühl, 
Trieb sowohl gestaltet als erlebt. Ich glaube nicht, dass es Herrn Kraus durch 
dese Reduktion des Psychischen 'auf den Elektrolytturgor zu gelingen vermag. 
den Gegensatz der physischen und der psychischen Sphäre innerhalb der Indivi- 
dualität za schlichten und auf die gleichen Grundlagen zurückzubeziehen. Natür- 
lich aber müssen wir auch die psychische Eigenartung der Person- und das gilt 
ganz besonders für die Triebe und die Geschlechtlichkeit — heuristisch aus den 
gleichen konstitutionellen Voraussetzungen und Bedürfnissen zu verstehen suchen, 
welche auch das übrige Leben des Organsmus morphologisch und biolngisch indi- 
viduell gestalten. 

Herr Hartmann gab ein eingehendes Referat über den gegenwärtigen Stand 
der Erblichkeitsforschung in bezug auf die Geschlechtlichkeit. Er zeigte zunächst 
die genotypischen Geschlechtsfaktoren; er sprach von den zwei Arten 
von Samenzellen, die sich durch das Vorkommen der x-Kromosomenzahl 
unterscheiden; er zeigte die Gründe, aus welchen ein von einem Spermium mit 
nur einem x-Kromosom befruchtetes Eimännliche, ein von einem solchen mit 
zwei x-Kromosomen befruchtes Ei weibliche Differenzierung erhält, und die direkte 
Zurückführbarkeit dieses Gesetzes auf die Mondelschen Regeln. Das x - Kromosom 
wirkt also als Geschlechtsdifferenziator. Ander Hand derGoldschmidtschen 
Untersuchungen erklärte er sodann die Bedingungen für das Entstehen zygo- 
tischer Intersexe. Bei der Kreuzung gewisser geschlechtlich ungleich- 
wertiger Rassen von Schmetterlingen (tymantria dispar) ist der Grad und Ein- 
tritt der Intersexualität direkt berechenbar. Es ist mithin eine poten- 
tielle Bisexualität in jeder Keimanlage, ja vielleicht in jeder Zelle 
nicht ausserhalb des Bereichs der Wahrscheinlichkeit, und die Bildung der 
zygotischen Sexualität hängt von dem Verhältnis der Erbwerte, dem Geschlechts- 
differenziator, ab. Davon wiederum abhängig vollzieht die :geschlechtliche Diffe- 
renzierung des Soma sich alsdann hormonal; und wie die Befunde von 
Kellner und Lillie bei embryonalen Rinderzwillingen beweisen, kann auch 
bei besonderen Umständen trotz genotypischer Eindeutigkeit der Geschlechts- 
bestimmung eine hormonale Intersexualität sich herausdifferenzieren. 

Herr Kretschmer setzt die konstitutionellen Faktoren auch :m Trieb- 
leben des einzelnen als bestimmend voraus und folgt den Wegen, auf denen 
sie in die höheren scelischen Strukturen hinein sich auswirken. Er zeigt, dass 
konstitutionelle Anomalien des Geschlechtstriebes auszustrahlen vermögen ins 
Seelische und ins Geistige, und dass sie Anastomosen eingehen mit anderen 
Triebgebieten. Diese beiden Erscheinungen hängen von der Fähigkeit des 
Individuums ab, überhaupt innerseelische Verknüpfungen zuzulassen und 
zu ermöglichen. In diesen Gesichtspunkten liegen für Herrn Kretschmer 
die Grundlagen für eine Dynamik der Triebe und für ihre charaktergestaltende 
Bedeutung. Insbesondere gelang es ihm, die Umsetzungen und Verwandlungen 
dieser konsfitutionellen Triebanlagen in hochwertige Korrelate religiöser, ethischer 
und künstlicher Art bei verschiedenen sexuellen Reaktionstypen als spezifisch 
nachzuweisen. Es ist ihnen klar, wie vieles hier aus den Forschungen Freuds 
herübergenommen und mit konstitutionsbiologischen Ansichten verwoben wird. 
Ebenso, wie ausserordentlich schwierige Probleme hierfür eine entwicklungs 
psychologische und psychodynamische Auswertung der individuellen Konsti- 
tution in sexueller Hinsicht noch liegen. | 

An den Ausführungen des Herrn Mathes war besonders interessant, 
dass er den morphologisch-deskriptiven Begriff des asthenischen 
Habitus und den des rein deskriptiven Eunuchoids konstitutions- 
dynamisch und genetisch umzuformen wusste. Ausgehend von den sexuellen 


3] Sexualwissenschaftliches Beiheft. 219 


Differenzierungsmomenten der Konstitution, suchte er diese deskriptiven Typen 
als Intersexe zu begreifen. Er machte sich dabei die von Herrn Hart: 
mann vorgetragenen Feststellungen über die genotypische Geschlechtsbestim 
mung zu eigen, und ordnete seinen ’Intersexen nicht nur die genannten Foımen, 
sondern auch die hypophysären Typen, die Kümmerform von Kraus und die 
Infantilismen unter, ebenso die schizoiden Typen Kretschmers. Wird ein 
intersexueller Typ zu Entscheidungen sexueller Art gezwungen, so ergeben sich 
mangelnde Anpassungsbedingungen, die als Konflikt, als Dysmenorrhoe, Vaginis- 
mus, Schwangerschaftserbrechen, Geburtsschwierigkeiten sowie als bestimmte 
Neurosen und Psychosen erscheinen. Auch hierüber dürfte ‘die Diskussion 
mancherlei Neues bringen. 

Die Herren Posner und Mühsam erörterten die sexuellen Konsti- 
tutionsmomente beim männlichen Geschlecht. Herr Posner warnte vor der 
Annahme einer Alleinherrschaft der endokrinen Drüsen; er wies mit Recht auf die 
im vegetativen’ Nervensystem liegenden, die Hormonbildung regulierenden Fak- 
toren hin. Und auch was Herr Mühsam über die Ergebnisse der Keimdrüsen- 
überpflanzung und der Kastration an Hand praktischer Fälle mitteilte, unter- 
streicht diese Warnung. 

Herr Peritz sieht ebenfalls in der hormonalen Differenzierung nur einen 
Faktor der Sexualkonstitution, der seinerseits in Abhängigekit von den Ge- 
schlechtsfaktoren erblicher Art und von der endogenen \Reaktionsbereitschaft des 
Zentralnervensystems zur Wirkung kommt. 

Herr Hirschfeld konnte diesen Referaten gegenüber mit berechtigtem 
Stolz darauf hinweisen, dass die wesentliche Tendenz :derselben seit 25 Jahren 
von ihm, im Kampf mit mannigfachen Widerständen, verfochten und zur An- 
erkennung gebracht worden ist. 

Herr Hübner zog daraus forensische Folgerungen, nicht nur hinsicht- 
lich der Zurechnungsfrage, sondern auch der zu den Delikten jeweils hinzu- 
tretenden sexuellen Tatbestandsmerkmale. 


Aussprache: 

Herr Körber: Ich vermisse bei den Referenten sämtlich die Anerkennung 
und Erwähnung von zwei Männern, die seit langem den Zusammenhang zwischen 
Konstitution und Sexualität in dem gleichen Sinne geklärt haben, wie es in diesen 
Referaten zum Ausdruck kam: Fliess und Hirschfeld. Die Gesellschaft 
für Sexualwissenschaft, deren Mitglieder beide seit vielen Jahren sind, wird mir 
darin beipflichten. 

Bezüglich des Vortrages Kretschmer habe ich eine klare Abgrenzung 
seiner psychologischen Annahmen zur Theorie Freud vermisst. Entweder 
Kretschmer ist ein Anhänger derselben — und 'das ist nach seinen Aus- 
führungen kaum zu bezweifeln: dann muss er !begründen, warum er nicht alle 
Konsequenzen der Freudschen Forschung mitmacht. Oder er ist das nicht: 
dann muss er sagen, dass seine Darstellung un von Freud und seiner 
Schule herrührt. 

Herr Magnus Hirschfeld erklärt die Einteilung von Professor 
Hartmann in zygotische und hormonale Untersexualität für unbefriedigend; 
es müsse gelingen, beide Formen auf eine einheitliche Formel zu bringen. 
Ferner warnt Hirschfeld den Infantilismus ohne weiteres den sexuellen 
Zwischenstufen zuzurechnen. Die infantilistische Entwicklungshemmung täusche 
nur insofern Untersexualität vor, als im jugendlichen 'Alter die Geschlechts- 
unterschiede noch nicht völlig entwickelt seien, sie sei also keineswegs mit den 
ausgebildeten Geschlechtsübergängen identisch. 

Herr Fritz Levy: Die hormonale Geschlechtsdifferenzierung wird sich 
meines Erachtens auch als zygotisch festgelegt erweisen. Das Gegenüber- 
stellen zweier Typen, mögen sie Mann — Weib, athletisch — asthenisch, schizoid 
— zyklothym oder sonst wie heissen, ist sehr gefährlich. Diese Typen sind 
nicht rein statistisch, sondern enthalten z. T. s»hr subjektive Wertirteile, Aus 
gewissen statistischen Werten wird durch einen Denkakt, eine erdachte aber nicht 
beweisbare Formel, eine Quersumme gezogen. Schwierig ist die Beurteilung 


220 Sexualwissenschaftliches Beihefi. [4 


vor allem dadurch, dass es sich um statistische Werte nicht eines Wertmales 
handelt, sondern mannigfaltiger, die zweifellos in bestimmten aber noch kaunı 
bekannten Korrelationsbeziehungen stehen. Nehmen wir aber für die Typen 
den einfachsten Fall, sie unterschieden sich nur un bezug auf ein Merkmal, 
Blüten- oder Augenfarbe o. ä. Die ‚biologische Forschung hat die Presence- 
Absence-Theorie von Bateson verlassen. Wir wissen vor allem durch die grund- 
legenden Arbeiten R. Goldschmidts, dass ein Gen nicht nur dasein oder 
fehlen kann, sondern dass auch ein Gen mehr oder minder wirksam bzw. 
quantitativ verschieden vorhanden sein kann. Zwischen Extremen gibt es völlig 
gleitende Übergänge. Goldschmidt ist der Ansicht, dass vielfach die sog. 
multiplen Allelomorphe, anscheinend verschiedene Gene, die einander ersetzen 
“können, nur quantitative verschiedene Mengen desselben Gens darstellen. Wie 
viel mehr Vorsicht ist geboten, wenn es sich nicht um ein Merkmal, sondern 
viele handelt! 


Herr Max Hirsch zieht in kurzen Umrissen das Ergebnis der Aussprache 
und fügt hinzu, dass auch er bei Durchmusterung seines gynäkologischen 
Materials nach konstitutiven Gesichtspunkten eine Zweileilung im Sinne von 
Kretschmer nach schizoidem und pyknischem Formenkreis oder im Sinne 
von Mathes nach sexuell ınangelhaft differenzierter Zukunftsform oder sexuell 
hochdifferenzierter Jugendform nicht erkennen könne. Hirsch hat sein Material, 
von dem er einen grossen Teil durch 15 Jahre beobachtet hat, nach dem Körper- 
bau der Patientinnen geordnet. Er hat die Tumoren und Entzündungen, welche 
pathogenetisch von der Konstitution unabhängig sind, ausgesondert und nur die 
Senkungen, Verlagerungen, Menstruationsstörungen, insbesendere die Dysmenor- 
rhoe und Sterilität umfasst. Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen, die Mit- 
teilung also nur eine vorläufige. Die meisten Trägerinnen der genannten 
Störungen gehören zum asthenischen Typ. Sie sind aber durchaus nicht gleich- 
bedeutend mit dem intersexuellen Typ von Mathes, sondern zirka 20%. sind 
sexuell voll «differenziert, d. h. sie zeigen gar keine intersexuellen Stigmen, 
weder körperliche noch seelische. Ihre anatomische und funktionelle Minder- 
wertigkeit betrifft ausschliesslich den Bindegewebsapparat und das splanch- 
nische und spinale Nervensystem. 

Die zweite Gruppe (ca. 40%) sind die Hypoplasten. Die Hypoplasie betrifft 
entweder nur den Genitalapparat, ist daher selten genotypisch bedingt, sondern 
meist im Laufe der Entwicklung erworben durch Säuglings- und Kinderkrankheit, 
(durch Berufsarbeit und Lebenslage. Die Hypoplasten sind funktionel! fast durch- 
weg aninderwertig, dysmenorrhoisch und steril. Ihre psychische Sexualität 
aber ist in einem Drittel der ‚Fälle ‚voll ausgebildet. Die Individuen dagegen 
mit allgemeiner Hypoplasie, «die Infantilisten, zu denen auch die T,ymphatiker 
gehören, sind sämtlich sexuell mangelhaft entwickelt, und zwar sowohl körper- 
lich als auch in bezug auf die Triebrichtung. Die restlichen 40% gehören zur 
Gruppe der Intersexe. Sie weisen einzelne oder viele körperliche und seelische 
Stigmen der Intersexualität auf, sind teils Astheniker, teils Hypoplasten, teils 
Kunuchoide. Zu ihnen sind auch diejenigen ' Individuen ‚zu rechnen, welche 
lediglich in der Triebriehtung abnorm sind, ohne ;körperliche Stigmen der Inter- 
sexualität aufzuweisen. 

Die menschliche Intersexualität muss als eine Folge von Valenzverschie- 
bungen der Geschlechtsfaktoren betrachtet werden, bei der einer von beiden 
Faktoren das Übergewicht gewinnt und seinen Geschlechtscharakter zur Aus- 
bildung bringt. Diese Faktoren sind sowohl körperlicher als seelischer Art und 
durchaus nicht immer abhängig voneinander. Die seelische Struktur und 
insbesondere die des Trieblebens scheint doch in hohen Masse von der körper- 
lichen unabhängig zu sein, und es scheint notwendig, die anatomischen, bio- 
logischen und psychologischen Fundamente der Konstitution gesondert zu be- 
trachten. Konstitution ist etwas Funktionelles und als solches kein Dauer- 
zustand, sondern veränderhieh und abhängig von Entwicklungsalter und Lebens- 
lage. So scheint Systemalisierung unmöglich wegen der Mannigfaltigkeit der 


5) Sezualwissenschaftliches Beiheft. 22] 


Typen, der fliessenden Übergänge und der Veränderlichkeit. Systeme sind ja 
auch nur Fiktionen, Gedankenbehelfe für Forschung und. Unterricht. 


2. Herr A. Weil: Sexualwissenschaft und Sexualreform in den Ver- 
einigten Staaten von Nordamerika. Ein Reisebricht (s. dieses Archiv, Bd. IX 
S. 185). 

Anaepreche: 

Herr Heller bestätigt im wesentlichen die Erfahrungen Weils auf 
Grund seiner eigenen Studien in Amerika und über amerikanische Sexual- 
reform. Er hält jedoch die amerikanischen Anschauungen und Methoden im 
einzelnen nicht ohne weiteres auf andere Verhältnisse für übertragbar. 

Herr Juliusburger wendet sich gegen Weils Ausführungen über die 
amerikanische Alkoholgesetzgebung. Amerika sei hierin vorbildlich; die Heuchelei 
mancher Kreise und der Alkoholschmuggel bewiesen nichts gegen das an sich 
richtige Prinzip. 

Felix A. Theilhaber: Die Kenntnis der : amerikanischen Sexual- 
verhältnisse ist für uns sehr lehrreich. Leider sind die Ziffern z. B. der ameri- 
kanischen Geburtenstatistiken absolut mangelhaft; auch die Statistiken der 
heschliessungen (Anzahl der Kolibatäre) und die ‚Zeit der Eheschliessungen 
(angeblich Frühehe in Amerika) sind uns bis jetzt nicht bekannt geworden. 
Die von Weil genannte Ziffer der Geschlechtskranken ist für ein angeblich 
so keusches Land recht gross. Der Rückgang der Erkrankungen in den letzten 
Jahren ist vielleicht auch in europäischen Ländern zu bemerken, wo sich normale ` 
Verhältnisse anbahnen, insbesondere scheint auch bei uns die Syphilis abzu- 
nehmen, obwohl ein energischer Kampf dagegen fehlt. 

. Wichtig wäre für uns die Kenntnis der Entwicklung der Indianer und der 
Neger sowie der Mischlinge. Über die Entwicklung dieser Rassen wissen wir in 
Furopa recht wenig, über das Geschlechtsleben so gut wie nichts. Im allgemeinen 
wird von vielen Besuchern Amerikas darauf hingewiesen, 'dass die amerikanische 
Kultur (oder Zivilisation) den starken sexuellen, sinnlichen Einschlag in den 
Hintergrund zu drängen sucht. 

Nur die Kenntnis aller dieser Erscheinungen kann uns zeigen, in welcher 
Weise die Gesetzgeber Deutschlands gut daran tun, Massnahmen zur Veredelung 
der Erotik zu ergerifen. 

Herr Bornstein schliesst sich Herrn Juliu ——— an. Es sprachen 
ferner die Herren Loewenstein, Max Hirsch und Weil (Schlusswort). 


3. Herr P. Krische: Zur Soziologie der Ehe (s. dieses Archiv, Bd. IX. 
S. 172). 
Aussprache: Die Herren Max Hirsch, Krische (Schlusswort). 


4. Herr Juliusburger: Über weibliche Sexualverbrechen im An- 
schluss an einen neueren Prozess. 


5. Herr Crzellitzer: Über die Bedeutung der Geburtenreihenfolge 
für die Qnalität der Kinder. 

Crzellitzer erwähnt zunächst kurz die Vorteile des ersten Kindes 
(Reiz der Neuheit für die Eltern; grösseres Interesse für seine Entwicklung ; 
Filtern jünger und daher evtl. auch gesünder) sowie die Nachteile (schwerere und 
daher längere Geburt mit erhöhter Gelegenheit zu Schädigungen währenddessen ; 
geringere Übung in.der Pflege und Wartung). 'Erstgeburtsrecht in der Bibel als 
sozialer Vorrang des ersten Sohnes vor Geschwistern und Mutter, begründet 
offenbar mit der Vorstellung, dass der erste Sohn (als „Sohn meiner Jugend- 
kraft“, wie Jakob einmal sagt) auch der Tüchtigste sei. 

Demgegenüber haben nun eine Reihe von Autoren (insbesondere Engländer) 
eine Minderwertigkeit der Erstgeburt beschrieben. Pearson, Havelock 
Ellis, Mitchell, Rivers fanden unter Tuberkulösen, Idioten und Krimi- 
nellen eine wesentlich höhere Betätigung der Erstgeborenen als in der allge- 
meinen Bevölkerung. Diese Behauptung ist sogar in die Lehrbücher aufgenommen, 
obgleich zu denken geben müsste, dass auch für Hochbegabte (also Plus- 
varianten): von Galton die erhöhte Häufigkeit beim Erstgeboreuen behauptet 


2292 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [6 


wurde, also eine Überwertigkeit. Crzellitzer hat mit Hilfe seiner Familien- 
karten, die für in Betracht kommende Patienten seiner Klinik angelegt wurden, zu- 
nächst die Tatsachen nachgeprüft. Auch er fand ene Häufigkeitsdifferenz 
zwischen den verschiedenen Kindern in dem Sinne, dass z. B. in 410 Familien, 
wo Schiele n auftritt, bei den ersten Kindern (44% befallen sind, von 
den zweiten 35,4%, dritte 370%, vierte 31%0 also ein deutliches Überwiegen 
der Erstgeburt. 

Für hochgradige Kurzsichtigkeit ergab sich in 634 Familien, 
dass die ersten Kinder betroffen waren zu .49,200, von den zweiten 35,7%o, 
dritten 330/0, vierten 35%, fünften 290) usw. | 

Diese Zahlen beweisen aber nichts, ebensowenig wie alle 
die englischen Angaben, obgleich sie aus dem berühmten Galton Laboratory 
stammen und von Pearson, dem Führer der Biometrischen Schule geprüft 
sind. Es wird nämlich vorausgesetzt, dass ‚der Prozentsatz unter ersten, zweiten 
usw. Kindern gleich hoch sein müsste, und übersehen, dass imausgelesenen 
Material eine Häufigkeitsdifferenz rein mathematisch zustande 
koınmt, auch wenn in Wahrheit die Geburtenfolge ohne jeden Einfluss ist. 

Von 1000 Berliner Familien, die in den letzten Jahren vor dem Kriege 
heirateten, sind 372 Einkinderfamilien,- 256 Zweikinderfamilien, 140 Dreikinder- 
familien, 79 Vierkinderfamilien usw. Dieselbe Verteilung gilt, falls das Gegen- 
teil nicht bewiesen ist, für Schielfamilien ‚oder !Tuberkulosefamilien oder Idioten- 
“ familien oder sonstwie ausgelesene. Mithin stammen von den 1000 Erstgeborenen 
in diesen 1000 Familien 372 aus den Einkinderfamilien (die eben alleerfasst 
werden), die Hälfte der 256 Erstgeborenen aus Zweikinderfamilien also 128, 
der dritte Teil der 140 Erstgeborenen aus Dreikinderfamilien also 47 und so fort, 
so dass im ganzen 591 von diesen 1000 Erstgeborenen befallen sind, also 5990, 
und zwar ist das ein Mindestwert für IQualitäten, die so selten sind, dass sie in 
jeder Familie nur in einem Exemplar vorkommen. {Für die zweiten Kinder 
kommt nach derselben Methode berechnet heraus 35%, für die dritten Kinder 
25% befallen, für die vierten 1990. . Als Kurve gezeichnet ergibt sich eine 
regelmässige Hyperbel als Bild für die fallende Häufigkeit der Be- 
fallenen ın der Greburtenreihenfolge. 

Diese Kurve gilt für ausgelesene Familien stets, wenn auch nicht überall 
genau in der gleichen Form. Die von Crzellitzer berechnete Kurve galt 
für Berlin und moderne Familien; der Vortragende zeigte, dass früher ent- 
sprechend der höheren ehelichen Fruchtbarkeit weniger Einkinderfamilien und 
Zweikinderfamilien vorhanden waren, dafür mehr Familien mit grossen Kinder- 
zahlen. Dadurch werden die Zahlen etwas anders, die Hyperbel weniger 
steil abfallend, aber an der prinzipiellen Bedeutung einer mathematischen 
bedingten Differenz der Häufigkeit in ausgelesenem Material wird nichts geändert. 

Zum Schlusse zeigt Crzellitzer, dass, wenn sein Material gespalten 
wird in Familien mit und solche ohne elterliche Belastung, ein wesentlicher 
Unterschied resultiert bez. der Häufigkeitsdifferenz; in Familien, wo hoch- 
gradige Kurzsichtigkeit bei Kindern und Eltern nachweislich war, zeigten die 
Erstgeborenen 620,, die Zweiten 43%, die Dritten 290% Befallene; in solchen 
Familien, wo nur Kinder hoch kurzsichtüg waren, aber beide Eltern frei, waren 
die Prozentzahlen 4400, 3300, 3500, 27% usw. 

Vortragender deutet an, in welcher Weise dieser Unterschied zu be- 
greifen wäre, nämlich durch die Annahme zweier verschiedener Sorten von hoher 
Myopie und fordert auf zur Nachprüfung seiner für eine Reihe von praktischen 
Aufgaben (wie Berufsberatung, schulärztliche Überwachung, Eheberatung usf.) 
ausserordentlich wichtigen Resultate. 


Aussprache: Die Herren Kronfeld, Max Hirsch, Crzellitzer. 





A. 


Abraham, Karl 67. 
Achilles, Paul S. 191. 
Alsberg, Paul 70. 
Amon 6l. 

Amos, T. G. 115. 
Ancel 168. 

Aschner 164. 

Asher 113. 
Auerbach, Fr. 207. 
Avenarius 86. 


B. 


Baer, A. 69. 
Bartel 107. 
Bartels, Paul 26. 
Barth, E. 143. 
Barthel, Ernst 72. 
Bauer, K. H. 113. 
Baur, Erwin 206. 
— Ludwig 71. 
Bebel, August 174. 
Becher 77. 


“ Bechstein, Ludwig 142. 


Bernstein 143. 
Bertholet 55. 
Besant, Anni 49. 
Bier, August 207. 
Biodiıng 46. 

Bird 111. 
Birnbaum, Karl 211. 


Bloch, Iwan 1, 76, 215. 
Blumgarten, A. S. 187. 


Boas, Franz 67. 
Boehm, E. 111. 


! Bruchmann, K, 69, 70, 71, 


Namenverzeichnis. 


F. 


| 72, 134, 137, 138, 139, kicker, M. 207 


142. 
| Brunet, Walter Minson 188. 
Bublitschenko 121. 
' Bübler, Charlotte 140. 
Burckhardt, J. 69, 169. 
Buscban, G. 69. 
: Basse, Kurt H. 180 
Byron 69 


| C. 


Carneri, Bartholomäus 186. 


| Charles 49. 
'Cohen-Kysper, A. 85, 88. 
i Cox, Harald 51. 
Crzellitzer 221. 
Cunow, Heinrich 174. 
Curtis, Artur H. 116. 
Cuvier 69 
| Czerny, Ad. 62. 


D. 


Dahl, Friedrich 137. 

Dante 69. 

De Lapouge 27. 

Diepgen 60. 

Dietzel v. Nordenflycht 
165. 

Doubois 108. 

Dresel 61. 

Driesch, Hans 77, 137, 201. 


Drystale, George 49. 
Dürkheim 173. 


i 
! 


Bomsdorf-Bergen, Herbert E 
59 ` 


v. 59. 
Borchardt, L. 113. 
Bornstein 146. 

Borst 110. 

Bouin 168. 

Boveri 207. 

Boulet 108. 
Bradlaugh, Charles 49. 
Bramann 57. 
Brandt, Murra 
Brown-Séquard 76. 


L. 117. 


Ebermayer 42. 
Ebrenfels v. 90. 
Eichstedt 64. 

Ellis, Havelock 51. 

| Elster, Alexander 39. 
' Enderlen 169. 

| Ernst, W. 207. 
Eulenburg, Albert 75. 
Evert, Raye 188. 
Exner, M. J. 188. 








Fischer, Eugen 206. 

Fliess 177. 

Förster 169. 

Fraenkel, L. 198. 

Frank, Ludwig 213. 

Fränkel, Fritz 112. 

Franz, Victor 201. 

Freud, Sigmund 65, 174, 
175. 

Freund, H. 64. 

Friedländer 147. 

Fries, C. 203. 

Furniss, H. D. 115. 


G. 


Galloway, T. W. 191. 

Galton 

Garré 57. 

Gauss 69. 

Gersonides 60. 

Goldschmidt, R. 24, 76, 78, 
151, 160, 220. 

Gottlieb 111. 

Götzl, A. 108. 

Grabe, v. 66. 

Graetz 206. 

Granier, C. 69. 

Greil, Alfred 2, 196. 

Grenser 61. 

Gross 24. 

Grote 204. 

Gruber, M. 207. 

Grünberg 191. 

Guttmann, A. 147. 


H. 


Haberland 106. 

Haberlandt, L. 21, 198. 

Hada 108. 

Haeckel, Ernst 21, 60, 186, 
175. 


Haecker, V. 182. 
Hammesfahr 169. 
Hart, ©. 111. 


224 


Hartmann 97, 149. 218. 

Hartmann, E. v. 77. 

Hegel 68. 

Heller 146, 221. 

Henderson, H. 115. 

Henle 57. 

Herkner 209. 

Herzog, Alfred 193. 

Hettner 209. 

Hilgenberg 169. 

Hirsch, Arnold 134, 135. 

— Max 1, 39, 43, 45, 57, 
60, 61, 63, 73, 74, 75, 
103, 130, 131, 132, 136, 
137, 142, 144, 145, 146, 
149, 204, 205, 206, 209, 
217, 220. 


Hirschfeld, Magnus 148, | 
19. 


150, 2 
Hoche 46. 


Hoffmann, Hermann 131. 


Houten, van 49. 
Hübner 150, 219. 


Humboldt, Wilhelm v. 69. 


Hume 68. 


Israel 164. 
Israeli 60. 


Jodl, — 77, 136. 
Juliusburger, Otto 65, 135, 
221. 


Jung, Gustav 69. 


K. 
Kallert, E. 207. 
Kant 77, 202. 


Kappstein, Anna 59. 
Kehl, Renato 208. 


Kehrer, E. 63, 66, 114, 139. 
Kemnitz, M. v. 148, 174, 


180. 

Keynes 51. 

Knauer 164. 

Köcher 164. 

Koerber, H. 140, 143, 148, 
214, 215, 219. 

Koffka 93. 

Köhler, Otto 61. 

— W. 94, 95. 

König 65, 66, 67, 134, 139. 

Krafft-Ebbing 76. 


Kruus, Fr. 79, 81, 149, 216. | 
Kretschmer, Ernst 78, 97, 
100, 144, 149, 210, 218. 


Krische, P. 148, 173. 
Kritzler, Hans 201. 


Kronfeld 59, 144, 146, 147, 
154, 211, 212, 213, 214, 


216, 217. 


Namenverzeichnis. 


i Kruse, Uve Jens 59. | 
Küttner 57. 
Kyrle, J. 216. 


L. 


Lahm 130. 

Langley 92. 

Lashley, K. S. 191. 

Lecky 69. 

Lenz, Fritz 206. 

Leupold, E. 111. 

Leverrier 70. 

Levy, Fritz 144, 207, 219. 

Lexer 57. | 

Lichtenstern, R. 10%, 169, : 
170, 171. 

Liebig 69. 

Lilienthal v. 47. 

Lillie 187. 

Lindemann 196. 

Lindner, Th. 68. 

Lingard 105. 

Lipschütz 169. 

Loeb, L. 198. 

Loewenstein, G. 143. 

Lombroso 69. 

— Gina 138. 

Longet 92. 

Lorenz, O. 69. 

Lubarsch 104. 

Lundborg 144. 

| Luschan, Fel. v. 134. 

P Amatus 60. 

| 





ydston, Frank G. 119. 


Maimonides e 
| Malthus 49. 

 Mamlock, G. 215. 

| Manouvrier 25, 69. 

` Marchand 69. 

Marcuse, M. 109. 

' Martius 81. 

aer Paul 96, 103, 150, 

1 


Matthes 160. 

Matthiessen, Wilhelm 205. 
.Mayrhofer, Carl 114. 
Michels, Robert 51, 209. 
Mittermaier 41. 

: Möbius 27. 

Ä Mombert 209. 

Montessori, Maria 57. 

' Moode, H. H. 191. 

Morawitz 205. 

Moser 134. 

Mühsam, Richard 150, 163, 
219. | 

Miiller-Lyer 148, 174, 176, | 

178, 179. 
' Mulzer 131. | 
' Münz 60. 


9. 
Peschel, 


N. 


"Nadeschdin 119. 
Neumark, H. 106. 


Nietzsche 48. 
0. 


i Oldenberg 209. 


Oppenheim, Stefanie 23. 
Oppenheimer, Ellen 193. 
i Orth 55, 105. 


P. 


Parazelsus 205. 

; Pares 108. 

Payr 113. 

Pearson 222. 

Penck 68. 

Peritz, G. 130, 150, 151, 
21 


Oskar 68. 
Peterson 115. 


Pfaundler 111. 


Pfeiffer 169. 

Pirkner, E. H. 118, 119. 

Place, Francis 51. 

Placzek 59, 66, 67, 
215. 

Poll 152. 

Porosz 109. 

Portigliotti 142. 

Posner 150, 219. 

— C. 103, 106, 108, 110. | 

— H. L. 110. 

Prausnitz 205. 


136, 


R. 


Rammstedt 57. 

Ranke 26, 70. 

Ratzel 68. 

Rebentisch 25. 26. 
Reicke, Ilse 140. 

Reis 119. 

Reisinger, L. 198. 
Renan, E. 69. 
Robinson, William I. 187. 
Rogge, H. C. 63. 
Rokıtanski 79. 

Rongy 116. 
Rosenbaum, Julius 76. 
Rosenfeld 116. 

Roux, W. 198. 

Rubin 114. 

Rubner, M. 207. 
Rumpel, A. 105. 
Rutgers, J. 49, 62. 


S. 


| Sachs, O. 106. 


Samson, I. W. 56. 


| Sand, Knud 168. 


Sanger, Margarete 51, 192. 
Schaxel 201. 

Scheele 106. 

Schelling 77. 

Schermann, Christine 135. 
— Lucian 135 
Schindowski, M. 207. 
Schlange 57. 

Schläper 143. 

Schmidt, Ferd. August 207. 
— Peter 213. 

— Raymund 204. 
Schneider, Kurt 212. 
Schroeder, Robert 129 
Schröer, Karl Julius 72. 
SEN Julius 143, 144, 


Seiler 61. 

Sellheim 206. 
Serger, H. 207. 
Serralach 108. 
Siemerling 65. 
Solvay, Ernest 173. 
Sonntag 106. 
Spilmann 52. 
Spinner 45. 

Stabel 144, 169. 
Stahl, G. E. 91. 
Standfuss, R. 207. 
Steckel, Wilhelm 135, 214. 
Stein, O. 106. 
Steinach 76, 168. 
Steiner, G. 66. 

— Rodolf 72. 
Steinthal 57. 


Namenverzeichnis. 


Stern, F. 112. 

Stiller 109. 

Stoeckel 57. 

Stöcker, Helene 52, 141. 
Streiber 148. 

Stroh, Elise 188. 

Sudhoff, Karl 60, 77, 205. 


T. 


Tandler 24, 79, 97, 99. 
Tannenbaum, S. A. 187. 
Theilhaber, Felix A. 221. 
Thiemich, Martin 61. 
Thiersch, Carl 59. 

— Justus 59. 

Thomalla 146, 147. 
Thorek, Max 119, 187. 
Tiedje 168. 

Timme 187. 

Tönnies, Ferd. 173, 174. 
Toenniesen 112. 
Tugendreich, G. 61, 62. 


U. 


| Unterberger 21. 


V. 


Vaihinger 79. 

Vecki, Victor G. 187. 
Verweyen, Johannes M. 69. 
Virchow, Rudolf 22. 


: Voronoff 119. 


: Voss, Lena 73. 

‚ Vries, de 71. 
| W. 

I Wachtel, Ernst 40, 77. 

. Waelsch 106. 

' Waitz, Th. 68. 

. Waldeyer 27. 

'-— -Hartz 108. 

i Watson, J. B. 191. 
Wehner 108. 
Weichselbaum, A. 107. 

' Weil, Arthur 108, 143, 144, 

' 185, 221. 

' Weinberg, Margarete 128, 
141, 142. 

ı Weininger, Otto 76. 

ı Wells 51. 

ı Werth 106, 113. 

' Wertheimer 93. 
Westenhöfer 207, 208, 209. 
, Westermarck 51, 177. 

' Wiedersheim 96. 

' Wiese, L. v. 142.. 

| Wilberfox 51. 

! Wilson, Woodrow 186. 

: Wittkovski, A. 147. 

ı Wollenberg 139. 

, Wulffen, Erich 135, 

‚ Wundt 71. 


2. 
; Ziehen, Th. 132. 
| Zondek 89. 
; Zuckerkandl 57. 


8 Sachverzeichnis. 


A. 


Aberglaube s. Spiritismus. 
Affentestikel, erfolgreiche Transplan- 
tation auf den Mann 118. 
Algolagnie (Sadismus und Masochis- 
mus), Versuch einer Analyse und 

Theorie 215. 

— Zur Ätiologie 144. 

Andrologie, die Sexualkonstitution in 
ihr 103. 

Arbeiterfrau, zur Wertung von De- 
szensus und Prolaps bei der länd- 
lichen 198. 

Ärzte als Erzieher des Kindes 62. 

— Die jüdischen im Mittelalter 60. 


B 


Bastardtypen, menschliche 144. 

Becken, Chirurgie desselben 57. 

Beiheft, sexualwissenschaftliches 143, 
217. 


Bericht, zusammenfassender der Kon- 
gressvorträge über Konstitution und 
Sexualität 217. 

Biologische Grundlagen der Sexual- 
konstitution 149. 

Birma und seine Frauenwelt 135. 

Borgia, Die Familie 142. 

Briefwechsel B. Carneris mit E. Haeckel 
und Fr. Jodl 136. 


C. 
Ceylon, Nava, eine Erzäblung 142. 
Charakter und Körperbau 210. 
Chirurgie, Handbuch der praktischen 56. 
— Die Sexualkonstitution in ihr 163. 
— der Wirbelsäule und des Beckens 57. 


D. 


Degenerationszeichen, Zwillingsgeburten 
als solches 66. 


Diagnostik innerer Krankheiten, klini- | 


sche 205 
Dipsomanie s. Impulshandlungen 
Dyspareunie 63. 


EN 








E. 
Ehekunst 59. 
Eheschließung, ärztlicher Katgeber 63. 
Eifersucht, einige neurotische Mechanis- 
men 65. 
Entwicklungskurve, die individuelle des 
Menschen 181.. 

Erblichkeitslehre, menschliche 206. 
Erotische Wahnbildungen sexuell un- 
befriedigter weiblicher Wesen 66. 

Erziehung und Frauenbewegung 140. 
Eugenese und Euthanasie 46. 
Eugenetische Lebensbeseitigung 39. 
Euthanasie und Eugenese 46. 


F. 
Fetischismus 214. 
Fibrosis 107. 
une zur Sexualwissenschaft 
Fortpflanzung, Entstehung der ge- 
schlechtlichen 201. 
Frauenbewegung und Erziehung 140. 
Frauenkrankheiten, die pathologisch- 
SES Grundlagen derselben 


Frauenproblem in kommunistischen Ge- 
meinwesen älterer und neuerer Zeit 


Fruchtabtreibung und fahrlässigeTötung, 
Mitteilungen aus einem Schwurge- 
richtsverfahren gegen einen Arzt 145. 

Fürsorge, soziale 61. 


G. 


("attenwahl 63. 

í urt, Versuche der Bestimmung der 
Abnutzung des weiblichen Organis- 
mus im Zusammenhange damit 119. 

Geburtenregelung und Rassenhygiene 48. 

Geburtenreihenfolge, Bedeutung der- 
— für die Qualität der Kinder 

l 


Geistesstörung und Hypnotismus 65. 
Geschlecht und Stimme 148. 


Sachverzeichnis. 


Geschlechtskrankheiten, 


131. 
Geschlechtsleben des Menschen 215. 
— zur Soziologie desselben 173. 
Geschlechtsmerkmale, die sekundären 
am menschlichen Schädel 23. 
Geschlechtsmoral des deutschen Weibes 
im Mittelalter 69. 
Geschlechtstrieb und Schmerz 215. 
Geschwister, Schizophrenie bei denselben 
4 


Kompendium 


Gesellschaft, ärztliche für Sexualwiss-n- 
schaft und Eugenetik in Berlin 74. 

— siehe auch Verhandlungen. 

Gesetzentwurf zur Durchführung der 
ärztlichen Schwangeren-, Keimes- 
und Keimlingsfürsorge 22. 

Gestationstoxonosen, Ab- und Entartung 
der Konstitution durch sie 196. 

Goethe und die Liebe 72. 

Goethes unsterbliche Freundin (Char- 
lotte v. Stein) 73. 

— Weltanschauung 72. 

— Wissenschattslehre in ihrer modernen 
Tragweite 72. 

Gynäkologie, Lehrbuch 129. 

— Die Bedeutung der Sexualkonstitu- 
tion für sie 96. 


H. 


Haeckel, Ernst, Entwicklungsgeschichte 
seiner Jugend 60. 

Hautkrankbeiten, Kompendium 131. 

Hexengeschichten 142. 

Homosexualität, einige 
Mechanismen 65. 

Hygiene, Grundzüge 205. 

— Handbuch 207. 

Hypnotismus 139. 

— und Geistesstörung 6. 

Hypoplasten 98. 

Hysterie 210. 

— Begriffsbestimmung 139. 


I. 


a (Wandertrieb, Dipso- 
manie, Kleptomanie und verwandte 
Zustände) 1 

Induratio penis plastica 106. 

Innere Sekretion, Einführung in die 
Klinik derselben 130. 

Intersexualität beım Menschen 150. 


neurotische 


Irrawaddy, im Stromgebiet desselben 13: . 


J. 
Jugendkunde, Quellen und Studien 140. 


K. 
Kastrationskomplex, Äusserungsformen 

des weiblichen 67. 
Keimdrüsen und Nervensystem, Wech- 

se)beziehungen 151. 





227 


Keimdrüsenextrakt, biologische Prüfung 
144 


Keimesfürsorge 2, 196. 

Kind, der Arzt als Erzieher desselben 62. 

— Selbsterziehung 57. 

Kinderheime Maria Montessoris 57. 

Kleptomanie s. Impulshandlungen. 

Kommunismus s. Frauenproblem. 

Konstitution, Ab- und Entartung der- 
selben durch Gestationstoxonosen 196. 

— und Sexualität 74. 

Konstitutionsambulatorium 18. 

Konstitutionsproblem, Geschichte und 
Wesen desselben 81. 

Konstitutionswissenschaft und Sexual- 
wissenschaft 75. 

———— desersten Menschen 


Körperbau und Charakter 210. 

Krankheiten, klinische Diagnostik inne- 
rer 205. 

Kreislauf, Schädigung desselben 200. 

Kritiken 57, 129, 204. 

Kultur und Rasse 67. 

— Redlichkeit als Kulturforderung 65. 

EE der Gegenwart, Monis- 
mus 136. 


L. 


Leben verbessern und verlängern 208. 

Lebensbeseitigung, eugenetische 39. 

Lebensenergie, das Sexualleben als ein 
Hauptfaktor desselben 62. 

—— —— Physiologie derselben 
0 


Libido und Röntgensterilisierung 139. 

Liebe 141. 

— Formenlehre derselben 138. 

— siehe auch Goethe. 

Liebesleben, Leitsätze zur Entwicklung 
un Gemeinschaftekunde desselben 
181. 


M. 


Mädchen, Tagebuch eines jungen 140. 

Mann, erfolgreiche Transplantation von 
Affentestikeln 118. 

Masochismus s. Algolugnie. 

Medizin der Gegenwart in Selbstdar- 
stellungen 204. 

Menschenerkenntnis 59. 

Menschenökonomie und Völkerökono- 
mie 52. 

Menschheitsrätsel 70. 

Metaphysik 71. 

Monismus und die Kulturprobleme der 
Gegenwart 136. 

Musikalische Begabung, zur Vererbung 
und Entwicklung derselben 132. 
Muskulatur, Ausbildung derselben und 
un Veränderungen am Schädel 

28. 


228 Sachverzeichnis, 


N 


Nachruf, Iwan Bloch 1. 

Nahrungsmittel, Hygiene derselben 207. 

Natur und Wirtschaft 209. 

Nervensystem und Keimdrüsen, Wech- 
selbeziehungen 151. 

Neurotische Mechanismen bei Eifersucht, 
Paranoia und Homosexualität 65. 


0. 


Organismus, Versuche der Bestimmung 
der Abnutzung des weiblichen im 
Zusammenhange mit der Geburt und 
der allgemeinen Konstitution 119. 


P 


Paranoia, einige neurotische Mechanis- 
men 69. 

Parazelsus’ sämtliche Werke 205. 

Philosophie der Gegenwart in Selbst- 
darstellungen 204. 

Physik, Lehrbuch 206. 

Physiologie der Leibesübungen 207. 

Prostituierten-Tuberkulose, sexual-hy- 
gienische Bedeutung derselben 92. 

Psychische Untersuchungen an Schwan- 
geren 66. 

Psychologie, medizinische 210. 

— vergleichende 137. 

Psychopathische Persönlichkeiten 212. 

Psycbose, Aufbau derselben 211. 


R 


Rasse und Kultur 67. 
— Völker, Sprachen 134. 
Rassenbygiene und Geburtenregelung 48. 
Rechtsleben und Sexualkonstitution 150. 
Rechtsprechung und Seelenleben 213. 
Redlichkeit als Kulturforderung 65. 
Röntgensterilisierung und Libido 139. 
Rundschau, wissenschaftliche 48, 114, 
196. 


S 


Sachsen, Einrichtungen auf dem Gebiete 
der Volksgesundheits- und Volks- 
wohlfahrtspflege im Freistaat (1922) 
6l 


Sadismus s. Algolagnie. 
Säugling, seine Entwicklung, Pflege und 
Ernährung 6l. 


merkmale am menschlichen 23. 
Schizophrenie bei Geschwistern 134. 
Schmerz und Geschlechtstrieb 215. 
Schwangere, psychische Untersuchungen 

66 


Schwängerung durch Verbrechen 45. 

Seele des Weibes 138. 

Seelenleben und Rechtsprechung 213. 

— des Menschen und der Tiere (ver- 
gleichende Psychologie) 187. 


Seelenstörung s. Spiritismus, 

Sekretion, Einführung in die Klinik der 
inneren 130. 

Selbstverwirklichung 138. 

Sexualität und Konstitution 74. 

Sexualkonstitution in der Andrologie 103. 

— die biologischen Grundlagen 149. 

— in der Chirurgie 163. 

— Bedeutung derselben für die Gynä- 
kologie 96. . ` 

— die psychologischen Grundlagen 149. 

— und Rechtsleben 150. 

Sexualleben in seiner biologischen Be- 
deutung als ein Hauptfaktor der 
Lebensenergie für Mann und Weib, 
für die Pflanzen und für die Tiere 62. 

— Störungen desselben 63 

Sexualpsychopathologie 214. 

ra in den Vereinigten Staaten 
1 


Sexualwissenschaft, Filmdokumente 146. 

— und Konstitutionswissenschaft 75. 

— Die Bedeutung der Untersuchungen 
von Ernst Kretschmer über Körper- 
bau und Charakter 144. 

— und Sexualreform in den Vereinigten 
Staaten 185. 

Sexualwissenschaftliches Beiheft 143 
217 


Sinne, Erziehung derselben 58. 

Soziale Fürsorge 61. 

Sozialökonomik, Grundriss 209. 

Soziologie des Geschlechtslebens 173. 

Spiritismus, Hypnotismus und Seelen- 
störung, Aberglaube und Wahn 139. 

Sprachen, Völker, Rassen 134. 

Steinachsche Operation, Theorie und 
Praxis 213. 

Sterilität, Diagnose und Therapie der 
selben 114. 

Strukturanalyse, Grundzüge der psychi- 
atrischen 211. 

Syphilis, Über den derzeitigen Stand 
der Lehre von der Pathologie und 
Therapie derselben 216. 


T 


Tagebuch eines jungen Mädchens 140. 

Thiersch, Carl, sein Leben 59. 

Tuberkulose der Prostituierten, sexual- 
bygienische Bedeutung derselben 52. 


, Typendifferenz am Schädel 31 ff. 
Schädel, die sekundären Geschlechts- ` 


U. 

Unfruchtbarkeit, Ursachen und Behand- 
lung derselben nach modernen Ge- 
sichtspunkten 63. 

Untersuchung, die geburtsbhilflich-gynä- 
kologische 206. 


V. 


Vereinigte Staaten, Sexualwissenschaft 
und Sexualreform in ihnen 185. 





. 


Sachverzeichnis. 229 


Vererbung und Entwicklung der musi- 
kalischen Begabung: 132. 


Verhandlungen der ärztlichen Gesell, ` 


schaft für Sexualwissenschaft und 

Eugenetik in Berlin 143. 
Vitalismus, Geschichte desselben 187. 
Völker, Kassen, Sprachen 134. 
Völkerökonomie und Menschenökonomie 


Volksgesundheitspflege 3. Sachsen. 
Volkswohlfahrtspflege s. Sachsen. 


wW. 


W ahnbildungen, erotische sexuell unbe- 
friedigter weiblicher Wesen 66. 


Wahnbildungen, riehe auch Spiritismus. 

Wandertrieb s. Impulsbandlungen. 

Weib, Geschlechtsmoral des deutschen 
im Mittelalter 69. 

— Seele desselben 138. 


' — als Sexualverbrecherin 135. 


— siehe auch Wahnbildungen. 
Wirbelsäule, Chirurgie derselben 57. 
Wirtschaft und Natur 209. 


| Wissenschaftliche Rundschau 48, 114, 


196. 
2. 


Zwillingsgeburten als Degenerations- 


zeichen 66. 


e 





ARCHIV 


FÜR 


FRAUENKUNDE 


UND 


KONSTITUTIONSFORSCHUNG 


FORTSETZUNG DES 
ARCHIVS FÜR FRAUENKUNDE 
EUGBNBETIK / SBXUALBIOLOGIE UND VERERBUNGSLEHRE 
+ 
ORGAN 
DER ÄRZTLICHEN GESELLSCHAFT FÜR 


SEXUALWISSENSCHAFT UND KONSTITUTIONS> 
FORSCHUNG IN BERLIN 


UNTER MITWIRKUNG VON 
TH. BRUGSCH R.GOLDSCHMIDT L. FRAENKEL 
BERLIN 


DAHLEM BRESLAU 
C. POSNER FR. KRAUS L. SEITZ 
BERLIN BBRLIN FRANKFURT A. M. 


HERAUSGEGEBEN VON 


MAX HIRSCH 


BERLIN 


BAND X 


1 9 2 4 
LEIPZIG - VERLAG VON CURT KABITZSCH 





Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten. 


Druck der Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg. 


Inhalt des X. Bandes. 


Originalarbeiten: 
Berliner, Dr. Max: Über den Einfluss der endokrinen Hormone und die 
Konstitution in den verschiedenen Lebensaltern des Menschen . 
Brugsch, Prof. Dr. Theodor: Geschlecht und Persönlichkeit 
Bukofzer, Dr. E.: Suggestion und Sexualität . 


Greil, Prof. Dr. Alfred: Naturwissenschaftliche pue der klinischen 
Konstitutionsforschung 


Heyn, Dr. med. A.: Über sexuelle Träume e (Pollutionen) bei Frauen . 
Hirsch, Dr. Max: Carl Posner zum 70. Geburtstag. Mit 1 Portrait 


Kiffner, Dr. med. Fritz: Die Kee und die H 
Bedeutung der Mehrlingsgeburt 


Lahm, Prof. Dr. W.: Zur Frage der E Grundlagen dèi 
Sexualität nach tierexperimentellen Untersuchungen . 


Neureiter, Privatdozent Dr. F. v.: Konstitutionslehre und gerichtliche 
Medizin . 


Posner, Prof. Dr. C.: Die Naturphilosophio ale Vorläufer der Konstitations- 
und Sexualforschung 


Prange, Dr. Franz: Neuere EE über 


Sellheim, Prof. Dr. Hugo: Endlich ein echter, weiblicher, Kastratoid“. Mit 
8 Abbildungen im Text : 


Spehlmann, Dr. Felix: Über J dnd Geschlechtsbildung 


Theilhabe r, Dr. F. A.: Neue ae des E 
prozesses in Berlin . 


Weil, Dr. Arthur: Sprechen anatomische Grundlagen für das Noe 
der Homosexualität? Mit 9 Kurven im Text . 


Westenhöfer, Prof. Dr. M.: Das menschliche Kinn, seine Entstehung und 
anthropologische Bedeutung. Mit 18 Abbildungen auf Tafel 1. 


Wolff, Dr. Kurt: Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen . 


Wissenschaftliche Rundschau: 


Ist der Arzt zur temporären ovariellen Sterilisierung be- 
rechtigt? (Erwiderung an Herrn Prof. Dr. Li von en 
Von Prof. Dr. Alfred Greil ie ae Ya ie kalte ie Ale Bor oe 


Seite 


117 


52 


355 
60 


"327 


369 


331 


115 
343 


215 
136 


263 


23 


239 
156 


309 


IV Inhalt des X. Bandes. 


Seite 
Stimmen des Auslandes zur Abort- und Bevölkerungafrage. 
Von Dr. Robert Kuhn .... 20.313 


Biologie, Physiologie, Pathologie. Von Dr. Max Hirsch . . . 315 


Bibliographie von Dr. Oscar Scheuer . . .. 2. 2 22.2... 2N 


Verhandlungen der ärztlichen Gesellschaft für Sexual- 
wissenschaft und Konstitutionsforschung in Berlin 


| 102 und 206 
Mitteilungen: » 2 eu... 6 wa 21272 
Kritiken. . .» . 2 2 2 nn nennen. 70, 185, 317 und 387 


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2 Sexuelle Insuffizienz der Frau 

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SI ` desguterus, sr Ciitoris, Beschwerden des Kiimaklterlams, Hyatërjo, 
Ki — periodischer. Migräne, Feigianat, Schwäche- und Erschöptunga-. 
 züsiände sexuellen Ursprungs, ‚Chlorase, . —— — — 
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| E Haarschwing, Darmatosan it: der Leien Dee eer 
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Geschlecht und Persönlichkeit. 


Von 
Prof. Dr. Theodor Brugsch, Berlin. 


Das Problem der Persönlichkeit lässt sich in ihren Beziehungen 
zur Sexualität von zwei Seiten aus angehen: Von der rein psycho- 
logischen und von der psycho-physischen Seite aus. Dass ich nicht 
einen Gegensatz psychisch-somatisch zugrunde lege, brauche ich nicht 
erst zu verteidigen, denn meine Ausführungen werden ja zeigen, dass 
eine derartige gegensätzliche Behandlung das Problem nicht in ein 
neues Licht rücken kann. Schliesslich soll doch jede Stellungnahme 
zu dem Problem der Forschung und Lehre neue Triebe geben, ohne 
die eine wissenschaftliche Entwicklung ausbleibt und gerade für die 
junge Konstitutionslehre bedeutet die Anbahnung neuer Wege der 
Forschung nicht nur Ausbau, sondern darin liegt die Aufweisung ihrer 
Daseinsberechtigung. 

Das Problem der Persönlichkeit von der psychologischen Seite 
her zu erfassen, bedeutet den irrationalen Mantel der Persönlichkeit, 
d. h. die Summe der psychischen Freiheiten innerhalb der von der 
"Natur überhaupt möglichen Grenzen, entfädeln zu wollen; das 
Problem von der psycho-physischen Seite angehen, heisst in den 
psycho-physischen Kern der Persönlichkeit vorzustossen, in das Gebiet 
der psycho-physischen Gebundenheit. Ich ziele aber nicht ` 
darauf hin, eine psychologische Typologie der Persönlichkeit zu geben, 
wie sie durch die Geschlechtsfaktoren der Persönlichkeit bedingt-wird, 
sondern ich will zeigen welchen Anteil die Geschlechtsfaktoren an 
dem Aufbau und der Erhaltung der psycho-physischen Persönlichkeit 
haben, mit anderen Worten, ich will die Frage zur Diskussion stellen, 
inwieweit die psycho-physische Gebundenheit eines Individuums 
integrativ in den Geschlechtsfaktoren im weitesten Sinne wurzelt. 
Meine Analyse geht, also von innen nach aussen und nicht von aussen 
nach innen, muss es doch leichter sein aus der psycho-physischen 
Gebundenheit auf die psychischen Freiheiten in ihren Anlagen zu 
stossen, als aus den psychischen Phänomenen auf die psycho-physische 
Gebundenheit vorzudringen. 

Archiv für Frauenkuude. Bd. X. H. 1/2. l 


2 Theodor Brugsch. [2 


` Meine Aufgabe erfordert allerdings erst einmal in aller Kürze 
gewissermassen ein Modell der Persönlichkeit zu entwerfen, das 
vor Augen führt, was wir unter Konstitution oder Persönlichkeit 
verstehen. Wir Mediziner arbeiten ja, wie Sie wissen, fast immer 
in mittlerer Linie zwischen einer rein mechanischen Betrachtungs- 
weise und einer Art Vitalismus, beurteilen die biologischen Phäno- 
mene nicht gesetzmässig, sondern nach Erfahrungsregeln, sprechen von 
Heilkraft, Turgor, Tonus, Ermüdung usw. und sehen dabei, dass, 
um so schwerer ein Individuum erkrankt ist, um so mehr alles rein 
Psychische als regulierender Faktor ausschaltet, und nur noch ein 
psycho-physischer gewissermassen automatischer Organismus bleibt, in 
dessen Regulationen der Arzt einzugreifen sucht; dieser psycho- 
physische Organismus ist das, was man als psycho-physisch neutral 
bezeichnen kann. | 
Bei dem Modell der Persönlichkeit gehen wir davon aus, dass 
der Organismus als vitales Gebilde trotz periodischer Schwankungen 
sich in einem Gleichgewichtszustand befindet und dass der Organis- 
mus sich diesen Gleichgewichtszustand zu erhalten sein Lebenlang 
automatisch bestrebt ist, wobei gegenüber der Allgewalt der Um- 
weltsfaktoren nicht nur die Ganzheit des Organismus zu erhalten 
erstrebt wird, sondern auch seine Einheit. So wie Kant einst die 
Gesetze der Erfahrung und damit die allgemeinen Gesetze der Natur 
auf die Einheit eines denkenden Bewusstseins zurückgeführt hat, so 
lässt sich für den Organismus die Summe aller Gesetzmässigkeiten 
wieder auf die Einheit des automatisch regulierenden Organismus, 
d. h. auf den psycho-physischen Kern zurückführen. Das Ich- 


bewusstsein rein psychologisch gefasst, stellt nicht mehr und nicht 


weniger als einen Brennpunkt eines grossen psychischen Strahlen- 
bündels vor, dessen Gesamtheit das psychische Anlagematerial dar- 
stellt mit den unendlichen seelischen Kombinationsmöglichkeiten, 
die man-etwa Tiefe der Seele nennen kann. Aber weder das Ich- 
bewusstsein noch die Gesamtheit seelischer Anlagen in ihrer bunten 
Mannigfaltigkeit repräsentieren das, was man den Kern der Persön- 
lichkeit medizinisch, und das setze ich gleich biologisch; nennen kann. 
Der Kern der Persönlichkeit liegt in dem Regulationssystem sämt- 
licher Reaktionen, durch die die biologische Einheit und Ganzheit 
garantiert wird. Mit anderen Worten: Der Kern der Persönlichkeit 
biologisch wird von den die Existenz des Lebensprozesses regulierenden 
Faktoren gebildet. Welche Faktoren sind das? Die Mannigfaltigkeit 
der Lebensprozesse in dem vitalen System des Organismus, der sich 
im stationären und durch periodische Schwankungen unterbrochenen 
Gleichgewichtszustand befindet, ist, wie nicht weiter ausgeführt zu 


— 


3] Geschlecht und Persönlichkeit. 3 


werden braucht, ein grösser. Man kann die Prozesse analytisch in 
Einzelprozesse zerlegen, doch besteht immer ein Syzygium aller dieser 
Einzelprozesse und eine Zergliederung würde bei der unendlichen 
Fülle der Verschiedenheit aller Einzelprozesse nach dem augenblick- 
lichen Stand unseres Wissens uns nicht befähigen, selbst bei bester 
Kenntnis aller Strukturverhältnisse des Organismus eine Synthese 
zu Wege zu bringen, die uns eine Rekonstruktion des biologischen 
Subjektes gedenklich gestattet, auch dann nicht, wenn man den über- 
summativen Begriff der Gestaltsqualität, wie er neuerdings in der 
Psychologie hypostasiert worden ist, zugrunde legt. Trotzdem bringt 
uns das Modell der Persönlichkeit weiter. Wir betrachten den statio- 
nären Gleichgewichtszustand des Organismus mit samt seinen periodi- 
schen Schwankungen in seiner Gleichgewichtslage gegenüber den 
Bedingungen der Aussenwelt psycho-physisch und bezeichnen die Per- 
sönlichkeit als psycho-physisch neutral. Das Einbeziehen psychischer 
Prozesse in das Persönlichkeitsmodell als Koeffizienten der Persönlich- 
keit ist eine durch das Experiment und durch die Beobachtung sich 
ergebende Notwendigkeit, insofern durch diese psychischen Koeffizienten 
Regulationen ermöglicht werden. Die vitalen Bedürfnisse stellen, wie 
nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, psychisch zum Aus- 
drucke kommende Faktoren dar, die die Regulation des Organismus 
bedingen. Solche vitale Bedürfnisse, auf die noch eingegangen wird, 
sind Hunger, Durst, Bewegungsdrang, Reizhunger. Wie liegt die 
psycho-physische Bindung? Versagt hier die kausale Betrachtungs- 
weise? Durchaus nicht. Ohne dass wir uns engherzig an die psycho- 
reflexorische Verkettung zu binden brauchen, reicht zur kausalen Er- 
klärung von physisch-psychischer Verkettung der empirio-kritischı 
beschrittene Weg von Avenarius aus, der in seiner Kritik der 
reinen Erfahrung die Vitalreihen als Erfabrungsphänomene postuliert. 
Der Vitalreihe liegt die Herstellung eines Gleichgewichtszustandes zu- 
grunde zwischen den inneren Kräften der Organismus und der Um- 
gebung, wobei durch den Reiz eine Störung erfolgt (Initialabschnitt 
der Reihe), dieser setzt Gleichgewichtsstörungen des vitalen Gleich- 
gewichts (Medialabschnitt der Reihe), das wieder in die alte Gleich- 
gewichtslage zurückkehrt oder’ in eine neue übergeht oder zerstört 
wird (Finalabschnitt der Reihe). Da nach der Organisation des 
menschlichen Organismus dem Nervensystem als Partialsystem gegen- 
‘über den anderen Systemen eine besondere Funktion in der Reiz- 
übertragung zukommt, so ist es selbstverständlich, dass im Zentral- 
nervensystem jene Summierung von Vitalreihenkombinationen zu- 
sammenkommt, die den Persönlichkeitscharakter des Individuums 
ontologisch bestimmt. Andererseits muss im Zerebrospinalsystem auch 
1* 





4 Theodor Brugsch. 4] 


die psycho-physische Bindung liegen, denn der Reiz stammt nicht 
immer nur von der Aussenwelt, auch propriozeptive Reize fliessen 
einwärts, bilden Vitalreihen, die sich der Verknüpfung anderer Reihen 
anschliessen und vermitteln so die psycho-physischen Bindungen, die 
uns in der Klinik d. h. in der Pathologie oft nur als lokale, häufig 
genug aber auch als allgemeine Reaktionen imponieren. Wenn wir 
von Heilkraft sprechen, wenn wir einen bestimmten Ablauf einer 
Infektionskrankheit auf Grund häufig gemachter ärztlicher Erfahrungen 
voraussagen, wenn wir sagen: medicus curat, natura sanat, so liegt das 
Geheimnis in der Verkettung von Vitalreihen, d. h. im Kampfe der 
Gleichgewichtsreaktionen, deren Ablauf vielleicht ein typischer genannt 
werden kann, deren Regulierung und Abstimmung aber im psycho- 
physischen Kern der Persönlichkeit liegt. 

Vielleicht erscheinen Ihnen, meine Herren diese Vorstellungen noch 
zu vage; ich glaube aber nicht zuletzt auf Grund der gerade in den letzten 
Jahren von anderer Seite begonnenen und auch von mir inaugurierten 
Untersuchungen über zerebrale Stoffwechselregulationszentren die Be- 
rechtigung zu haben, das Modell der Persönlichkeit entwickeln zu 
können. Die Einheit der Person, wie sie auch durch die Identität 
des Bewusstseins zum Ausdruck kommt, kann nur durch zentrale 
Verknüpfung zustandekommen. Jedes Organ — nicht nur jeder Muskel, 
jedes Gewebe, jedes System besitzt eine zentrale Projektion bzw. eine 
zentrale Verknüpfung. Sehen wir ab vom animalen Nervensystem und 
den Sinnesorganen, so lässt sich, wo man auch nur zu untersuchen 
beginnt, auch für jedes vegetativinnervierte Organ eine zentrale, 
anscheinend in Stufenordnungen gelagerte Projektion nachweisen. In 
Konkurrenz mit der nervösen Verknüpfung steht aber die durch den 
Säftestrom mit seinen physikalisch-chemisch bedingten Wirksamkeiten 
vermittelte Verknüpfung, wobei Elektrolytkombinationen und hormonale 
Einwirkungen die bis jetzt bekannten Faktoren der Wirkungsmöglich- 
keiten abgeben. Die strukturelle Anordnung des Nervensystems ge- 
stattet uns, nicht zuletzt auf Grund vielfacher physiologischer Er- 
kenntnisse, eine Organisation des Zerebrospinalsystems anzuerkennen. 
Über dem zentral regulierten Rückenmark, das nach Ausschaltung 
zentraler Einwirkungen, Reize ungehemmt weiterleitet, stehen die 
Reize filtrierenden und Tonus erzeugenden Medulla oblongata, Mittel- 
und Zwischenhirn, die ansteigend ein Überordnungsverhältnis aufzeigen, 
in das regulierend Grosshirnrinde und Kleinhirnrinde eingreifen. Der 
Rothmannschegrosshirnlose Hund zeigt uns an, dass dieautomatischen 
Regulationsverhältnisse immer noch möglich sind nach Ausschaltung 
des Kortex; wir müssen also nach experimenteller Erfahrung annehmen, 
dass der Tiefenkern der Persönlichkeit, deren Existenz als vitales 


5] Geschlecht und Persönlichkeit. | 5 


System nur durch Gleichgewichtsreaktionen ermöglicht wird, sich in 
jenem zerebralen System findet, das sich paläontologisch als älter 
gegenüber dem Kortex erweist, d. h. in jenen Lagern grauer Substanz, 
die den Zentralkanal umgeben, vom Zwischenhirn angefangen nach ab- 
wärts. In der Hierarchie der Zentren steht als übergeordnetes Zentrum 
der Kortex, den wir modellgemäss den Träger des Bewusstseins nennen 
wollen. Kortex und tiefere Zentra sind übergeordnet und eingeordnet, 
der Kortex differenzierend, die tieferen Zentra, besonders wohl die 
des Zwischenhirns regulierend, d. h. das vitale Gleichgewicht aufrecht 
erhaltend. 

Die psycho-physische Bindung der gesamten Regulationsprozesse 
erfordert aber das Eingreifen seelischer Dispositionen oder Funktionen 
in den Mechanismus, die man auch als Ausdrücke von Vitalbedürf- 
nissen ansprechen muss: ich erwähnte sie schon, Hunger und Durst, 
Bewegungsdrang und Reizhunger. Ihre Befriedigung bzw. ihr Vor- 
handeñńsein schafft Situationen, die mit Gefühlstönung verbunden sind, 
sowohl nach positiver wie negativer Richtung, Lust und Unlust- 
gefühle. Aus diesen Gefühlen heraus erwächst das Wollen, das regulativ 
für die Befriedigung des Hungers, Durstes, Bewegungsdranges und Reiz- 
hungers notwendig ist. Ontologische, phylogenetische Untersuchungen 
experimentell-physiologische Untersuchungen, nicht zuletzt am gross- 
hirnlosen Hund, lehren, dass wir diese Triebe wie die Intensitäts- 
skala hedalgedonischer Gefühle wohl in den tieferen Zentra zu suchen 
haben, nennen wir sie einmal Urtriebe und Urgefühle. Auf sie 
differenzieren sich erst die seelischen Funktionen der geistigen Sphäre, 
das Empfinden, Vorstellen und Denken, wie die der emotionalen 
Sphäre, das Fühlen und Wollen, zu jenen Feinheiten der Ausbildung, 
wie sie die psychologischen Grundlagen des menschlichen Ich abgeben. 
Nicht, dass uns hier die differenzierten seelischen Qualitäten etwa 
nicht interessierten, sie bedingen nur medizinisch nicht die automatische 
Regulation der Persönlichkeit, weil sie nicht psycho-physisch neutral 
oder psycho-physisch gebunden sind, wie die unser Ich regulierenden 
Urtriebe, Hunger, Durst, Bewegungsdrang und Reizhunger. Nun ver- 
missen Sie, meine Herren gerade einen Trieb, den man als Urtrieb zu 
bezeichnen pflegt, nämlich den Geschlechtstrieb. Aber man kann 
ihn nicht als Urtrieb der Persönlichkeit betrachten, da er nicht von 
Geburt an als solcher existiert, da er z. B. bei Neutralen sich niemals 
im Leben zu finden braucht und da er als Trieb zwar für die Fort- 
pflanzung der Spezies von Bedeutung ist, nicht aber für das Indivi- 
duum. Ein grosshirnloser Hund verliert seinen Sexualtrieb. Der 
Sexualtrieb ist Kortexphänomenen. Meine Herren! trotz dieser meiner 
festen Ansicht vermeide ich aber zunächst die Diskussion über den 


G Theodor Brugsch. [6 


Geschlechtstrieb, sonst würde ich mich mitten in den Tagesstreit 
psychoanalytischer Meinungen begeben. Das ist aber nicht meine 
Aufgabe. Da ich von der Gleichgewichtseinstellung als Kern der 
Persönlichkeit ausgegangen bin, muss ich fragen: Inwieweit wird die 
Individualexistenz durch den Geschlechtsfaktor beeinflusst. Um ein 
Mass der Beurteilung, d. h. Methoden zu gewinnen, können drei Wege 
abgeschritten werden: Vergleich der geschlechtsdifferenzierten Indi- 
viduen auf die spezifisch-geschlechtsbedingten Differenzen in somatischer, 
funktioneller und psychischer Beziehung; der zweite Weg liegt in der 
Richtung, dass festgestellt wird, inwieweit die Geschlechtsfaktoren 
das Individualgleichgewicht des Individuums beeinflussen, und der 
dritte Weg liegt in der Analyse des Regulationsmechanismus. Der 
erste Weg ist der meist beschrittene Weg, der dritte Weg ist aber 
der für die Wissenschaft praktisch wichtigste. 

Mann und Weib sind zwei differenzierte Geschlechtstypen der 
Spezies Mensch, beide koordiniert und eingestellt in dem geschlecht- 
lichen Dimorphismus auf die Erhaltung der Art. Ich darf es mir 
hier versagen, auf die biologisch festgelegten Sexualdifferenzen ein- 
zugehen, sie sind in jeder Biologie des Weibes, in anthropologischen 
und medizinischen Lehrbüchern zur Genüge behandelt. Richtig ist, 
dass das Weib im Gesamthabitus dem kindlichen Habitus näber steht, 
als der Mann, dass der Mann in seinem ganzen Charakter ein Über- 
wiegen der Muskulatur zeigt, was aber nicht zu dem Schlusse berech- 
tigen darf, dass darum die Frau infantiler sei. Inbezug auf geistige 
Werturteile von Mann und Frau darf man auch hier den geschlecht- 
lichen Dimorphismus nicht vergessen. Jeder Geschlechtstypus ist auch 
hier dem anderen koordiniert, also gleich wertvoll. Ich lasse mich 
auch hier nicht auf die damit im Zusammenhang stehende Frage der 
Leistungsfähigkeit des Mannes gegenüber der Frau ein, das sind Dinge, 
die in den letzten 20 Jahren zur Basis der Kämpfe des Frauen- 
rechtlertums gemacht sind. Die Gesellschaft für Sexualbiologie hat 
über diese Frage häufig genug diskutiert, ich darf auch deshalb sie 
hier übergehen. Wichtiger ist die Frage, ob das menschliche Indi- 
viduum nur in den beiden Formen des sexuellen Dimorphismus sich 
repräsentieren kann. Das Gesetz sagt, Mann oder Weib, tertium 
non datur. Soll man noch eine dritte Stufe des Geschlechts, die 
Intersexen für den Menschen anerkennen? Natürlich darf man die 
geschlechtlich indifferenzierten Individuen, d. h. die Neutralen, zu 
denen die Eunuchoiden gehören, nicht etwa zu den Intersexen rechnen, 
sondern muss hierunter Übergänge oder besser Überdeckungen, Über- 
kreuzungen zwischen männlichen und weiblichen Morphismen ver- 
stehen. Solche Übergänge existieren nach den Untersuchungen von 


7) Geschlecht und Persönlichkeit. 7 


Brake-Goldschmidt an Lymantria dispar durchaus. Gibt es 
beim Menschen ähnliche Intersexen, wohl gemerkt ohne Hermaphroditis- 
mus, also nicht auf der Basis der Missbildung? Man hat diese Frage 
ohne weiteres bejaht. Aber es liegen doch die Verhältnisse viel 
komplizierter, als dass eine Übertragung der experimentellen Ergeb- 
nisse von Brake-Goldschmidt auf den Menschen ohne weiteres 
erlaubt wäre. 

Wir kennen biologisch eine syngame durch den Geschlechts- 
chromosomencharakter bewirkte Geschlechtsbestimmung, aber auch 
eine progame im Stoffwechsel des Eis liegende Geschlechtsbestimmung, 
bei der gewissermassen der Chromosomenmechanismus nur ein Index 
ist und drittens die epigame Geschlechtsbestimmung, bei der die 
Geschlechtsbestimmung erst nach der Befruchtung geschieht. 

Bei Schmetterlingen ist, wie bei den Insekten, der Geschlechts- 
chromosomenmechanismus gut ausgebildet, die Geschlechtsbestimmung 
ist syngam durch zweierlei Eizellen bedingt. Bei Züchtung der- 
selben Rasse von Männchen und Weibchen erhält man das Sexual- 
verhältnis von 50°/o zu 50°/o.. Bei Kreuzung verschiedener Rassen 
aus verschiedenen Gegenden und Ländern erhält man nach Brake- 
Goldschmidt je nach Überwiegen des männlichen Einschlages neben 
60 ®/o normalen männlichen Individuen, statt der Weibchen intersexuelle 
Formen und umgekehrt bei Überwiegen des weiblichen intersexuelle 
Männchen. Dass wir es beim Menschen mit einem Geschlechts- 
chromosomenmechanismus zu tun haben, bei dem heterozygote Ge- 
schlechtschromosomen, sei es in Spermatozyten, sei es in Eizellen eine 
Rolle spielen, wie bei Schmetterlingen, müsste zum mindesten erst 
bewiesen werden. Weiter müsste eine ähnliche Kreuzungsgrundlage 
verschiedener Rassen wie bei Lymantria substituiert werden, und wenn 
man etwa eine progame oder epigame Geschlechtsbestimmung für den 
Menschen annehmen wollte, so müsste man diese ebenfalls für den 
Menschen erst beweisen und darf nicht experimentelle Erfahrungen, 
wie sie im Naturexperiment gemacht sind (z. B. an Krabben), ohne 
weiteres auf den Menschen übertragen. 

Eine Geschlechtsumwandlung beim Menschen und bei Wirbeltieren 
überhaupt ist als misslungen zu betrachten. Aus einem jungen Weib- 
chen ist noch niemals ein Männchen durch Kastration und Trans- 
plantation gemacht worden, wenn auch eine Beeinflussung sekundärer 
Geschlechtscharaktere ermöglicht wird. Soll man aber lediglich auf 
Grund dieser Tatsachen beim Menschen den Typus der Intersexen 
aufstellen? Das würde entschieden so lange unberechtigt bleiben, als 
man beim Menschen den Beweis schuldig bleibt, dass das Entstehen 
eines heterologen sekundären Geschlechtscharakters auf einem Über- 


8 Theodor Brugsch. [S 


wiegen einer heterologen Geschlechtsvalenz wie bei den disparat- 
gezüchteten Limantriarassen beruht. Dagegen sprechen aber Erfah- 
rungen, die man bei Hermaphroditismus verus gemacht hat: Die 
funktionierende Drüse erdrückt die nicht funktionierende. Halb und 
halb existiert nicht, sondern nur aut-aut. Dazu kommt noch, dass 
die sekundären Geschlechtscharaktere nicht nur von den Gonaden 
abhängig sind, sondern auch noch von einer gewissen inneren Drüsen- 
konstellation; ich erinnere nur an den Hirsutismus, den man dann 
als Schulbeispiel der Intersexen bezeichnen müsste. Wie gefährlich 
die Lehre des Intersexen ist, zeigt das Beispiel von Mathes auf der 
letzten Tagung unserer Gesellschaft. Mathes hat meines Erachtens 
einen Mann kastrieren lassen, nur weil er ihn für einen weiblichen 
Intersexen hielt. Ich glaube, es liegt bei den meisten Autoren eine 
Verwechslung zwischen Intersexen und Neutralen vor, besonders da, 
wo es sich um die geschilderten infantilen Züge der Astheniker 
handelt. 

Zur zweiten Frage: Inwieweit beeinflussen die Geschlechtsfaktoren 
das Individualgleichgewicht.. Das kommt auf die Frage hinaus, ob 
die geschlechtsdifferenten Individuen in ihrer Lebensbahn verschieden 
gefährdet sind. Betrachtet man zunächst die Lebensdauer, so zeigt 
sich zwischen weiblichen und männlichen Individuen ein Unterschied 
in der Lebensstatistik. Bekanntlich besteht ein Knabenüberschuss 
bei der Geburt, der sich in den europäischen Ländern auf 106 zu 
100 etwa beziffern lässt und noch grösser wird, wenn man die Aborte 
hinzu addiert (cfr. Hirsch, dieses Archiv). Dieser Knabenüberschuss 
wird aber in den ersten Lebensjahren wieder durch eine höhere 
Sterblichkeit ausgeglichen. Vergleicht man die Sterblichkeit der Frau 
mit der des Mannes, so zeigt sich durchschnittlich bei der Frau eine 
geringere Sterblichkeit. In Deutschland, England und Portugal ist 
z. B. die durchschnittliche Sterblichkeit der Frau 89 zu 100 beim 
Manne. Vergleicht man weiter die einzelnen Lebensalter, so ergibt 
sich in den ersten Lebensjahren die grössere Knabensterblichkeit, 
dagegen sind nach dem 5. Lebensjahre die Mädchen mehr gefährdet. 
Von 10.—20. Lebensjahre ist die grössere Gefährdung der Mädchen 
das Gewöhnliche, dann steigt aber die männliche Sterblichkeit an, 
die schon im Alter von 20—25 Jahren überwiegt. Die Sterblichkeit 
der Frau ist wieder im Alter von 30—35 Jahren höher als die der 
Männer, nach dem 35.—45. Jahre tritt die verhängnisvolle Wendung 
für das männliche Geschlecht ein, die sich erst im Greisenalter aus- 
gleicht (Prinzing, Med. Statistik. Gustav Fischer 1906). Die 
Ursache der höheren Sterblichkeit der Frau gegenüber dem Mann in 
den Mädchenjahren und den Jahren von 30—35 liegt in der grösseren 





Y Geschlecht und Persönlichkeit. 9 


Tuberkulosesterblichkeit, die auf gewissen durch Pubertät und Schwanger- 
schaft gesetzten. Dispositionen beruht, also geschlechtsbedingt sind. 
Eine etwa durch Geburten und Wochenbett entstandene grössere 
Sterblichkeit der Frau, wird beim Mann reichlich durch Unfallstodes- 
fälle, Selbstmord ausgeglichen, wie auch die grössere Sterblichkeit 
zwischen 20—25 Jahren zum grossen Teil auf Selbstmord und Unfall 
zurückzuführen ist. Was lehrt uns also die Mortalitätsstatistik hin- 
sichtlich des sexuellen Dimorphismus? Sie lehrt uns entschieden eine 
Übersterblichkeit des männlichen Geschlechts über das weibliche, 
schon vor der Pubertät sich ausprägend. Nach der Pubertät liegt 
die Übersterblichkeit des Mannes im Rückbildungsalter, während die 
labilen Perioden der Frau, in denen ein gewisses Sterblichkeitsplus 
gegenüber dem Mann eintritt, die Perioden sind, in denen zwei für 
den weiblichen Organismus bedeutungsvolle Phasen liegen: die Pubertäts- 
phase und die Graviditätsphase. Zur Beurteilung der Diskrepanz 
zwischen der weiblichen und männlichen Persönlichkeit, ganz allgemein 
die Resistenz betreffend, ist eine reine Mortalitätsstatistik nicht 
genügend; Todesursachen- und Morbiditätsstatistik müssen uns noch 
ein besseres Bild geben. Nennen wir Resistenzherabsetzungen Dispo- 
sitionen, so zeigt das weibliche Geschlecht die erhöhte Disposition zu 
Gelenkserkrankungen, Influenza, Leukämie und perniziöser Anämie in 
allen Lebensaltern, auch für Krebs und Bauchfellentzündungen bis 
zum 60. Lebensjahre, beim Mann wieder überwiegt die Disposition 
zu Selbstmord und Diabetes, auch zum Alkoholismus. Sind diese 
Dispositionen aus den Todesursachen erschlossen, wobei wir die erhöhte 
Tuberkulosemortalität bei der Frau in der Pubertäts- und Graviditäts- 
periode noch einmal anführen wollen, so betonen wir aus der Morbiditäts- 
statistik noch bei den Frauen gewisse Dispositionen zu Störungen 
innerer Drüsen, besonders der Schilddrüse, und zu Anämien, bei den 
Herzerkrankungen die Bevorzugung mancher Herzaffektionen im Gegen- . 
satz zum Manne, bei dem die Herzaffektionen (z. B. bestimmte Mitral- 
fehler), wieder ein anderes Bild ergeben, zu dem auch die Gefäss- 
erkrankungen überwiegen. 

Alles in allem lässt sich aus dem Studium von Mortalität und 
Morbidität bei den geschlechtlichen Dimorphismen ein Unterschied 
nicht verkennen, ein Unterschied, den man dispositionell nennen kann, 
und der unbedingt im psycho-physischen Persönlichkeitskern liegen 
muss. Nun wird man natürlich sofort den Einwurf machen, dass 
diese differenten Dispositionen auf den Boden der geschlechtsbedingt- 
verschiedenen Lebenslage beruhen. Das mag in mancher Beziehung 
richtig sein, trifft aber nicht in jeder Beziehung zu: um nur ein 
Beispiel zu nennen, bei den Leukämien, inneren Drüsenstörungen usw. 


10 Theodor Brugsch. [10 


Unsere Aufgabe muss es also sein, zu eruieren, in welcher Weise rein 
konstitutionell die verschiedene Disposition bei beiden Geschlechtern 
erwächst und so kommen wir, um einer kausalen Betrachtungsweise 
gerecht zu werden, auf den 3. Punkt, er betrifft die Frage des Ge- 
schlechts und der Analyse der Regulationsmechanismen. Die Frage 
können wir auch anders formulieren: 

Inwieweit tragen die Sexualdrüsen zur Erhaltung des Gleichgewichts 
der Persönlichkeit bei, inwieweit sind sie sogar imstande das Gleich- 
gewicht der Person zu stören und wie lassen sich diese Gleichgewichts- 
verhältnisse durch Analyse der Regulationsvorrichtungen studieren” 
Ganz summarisch lassen sich diese Fragen nicht beantworten, denn 
die Geschlechtsdrüsen haben für den Aufbau des Organismus eine 
andere Bedeutung als für die Zeit der Reife, wo sie der Reproduk- 
tion des Individuums dienen. Die Entwicklung eines Individuums 
wird vom Mutterleib ab, aber auch schon im Mutterleib, durch die 
Kette innerer Drüsen abgestimmt und in dieser Kette spielen, wie 
wir ja wissen, die Geschlechtsdrüsen eine dominierende Rolle; die 
Geschlechtsdrüsen bringen zur Reife, differenzieren, aber hemmen auch 
die Entwiklung jedoch nur im Sinne der Beschränkung des Kapazitäts- 
faktors der Entwicklung, mit der gleichzeitigen Förderung der Intensi- 
vierung, d. h. der Differenzierung. Der eunuchoide Hochwuchs als 
Ausfall der das Wachstum beschränkenden Sexualdrüsenwirkung ist 
der beste Beleg dafür. Die Typenordnung Agenitalismus, Hypogeni- 
talismus, Normogenitalismus und Hypergenitalismus ist ein kon- 
stitutioneller Beleg für graduell verschiedene Sexualdrüsenwirkungs- 
stufen in der Entwicklung. Die Sexualdrüse ist in der Entwicklung 
etwa wie ein Zahnrad in der Uhr eingefügt; so wie sie die eine Ent- 
wicklung sperrt und eine andere Entwicklung auslöst, ist sie selbst 
in den Mechanismus anderer innerer Drüsen eingezahnt, z. B. in die 
der Epiphyse. Man ist geneigt, die Pubertas praecox auf fehlende 
Epiphysenwirkung zurückführen. Die differentielle Prägung des Indi- 
viduums durch die Sexualdrüsen zur Zeit der Pubertät erstreckt sich 
nicht nur auf die sogenannten sekundären Geschlechtscharaktere, 
sondern auch auf den Entwicklungseinfluss mancher Organe. Ich 
konnte in meinem Lehrbuch der Prognostik zeigen, dass das Herz in 
der Pubertätsphase der Entwicklung den mächtigsten Wachstumsimpuls 
empfängt, der als abhängig von der Pubertätsdrüse betrachtet werden 
muss. Nach der Pubertät besteht ein Unterschied in der Einwirkung 
der Geschlechtsdrüsen auf das Gleichgewicht des Individuums in den 
beiden Geschlechtern. An dem eigentlichen Aufbau nehmen zwar 
nach der Pubertät weder beim Mann noch bei der Frau die Ge- 
schlechtsdrüsen einen sehr erheblichen Anteil, wenn gleich der Spät- 


11] Geschlecht und Persönlichkeit. 11 


eunuchoidismus naclı Kastration lehrt, dass man den Anteil des Auf- 
baues auch in der Phase der Reife nicht gar zu gering anschlagen 
darf, aber es bestehen doch noch spezielle Unterschiede in den Ab- 
hängigkeitsverhältnissen von Sexualdrüse bei Mann und Weib. Beim 
Manne ist nach der Pubertät die Sexualdrüse nicht in den Hormonal- 
komplex eingezahnt, wohl aber bei der Frau. Die Frau bleibt in 
ihrer ganzen Reife mit ihrer Geschlechtsdrüse im hormonalen Komplex. 
Das erklärt auch, warum die Frau eine verhältnismässig eingreifendere 
Pubertätsphase durchmacht als der Mann und warum die vom Eier- 
stock primär ausgelöste Rhythmik sich auf die gesamten inneren Drüsen 
und darüber hinaus erstreckt. Lassen sich doch auch während der 
Menstruation neben den bekannten Eierstocksveränderungen Vergrösse- 
rung der Schilddrüse und Nebennierenrinde, Hyperämisierung der Leber, 
Schwellung der Brustdrüse, Umformung der Uterusschleimhaut etc. fest- 
stellen und zeigt doch der Körper auch während der Gravidität ein 
gegenüber dem gewöhnlichen verschobenes Gleichgewichtsbild. Dass 
bei der Frau in der Menstruationsphase und in der Graviditätsphase 
eine Verschiebung des Gleichgewichts eintritt, d. h. dass das vitale 
Gleichgewicht gegenüber den anderen Phasen des Lebens gestört ist, 
lässt sich nun durch eine Analyse der psycho-physischen Persönlichkeit 
ergründen. Wir untersuchen die sogenannten Regulationskonstanten 
die der Ausdruck des Gleichgewichts sind, dazu gehören z. B. Wasser- 
stoffionengehalt des Blutes, Elektrolytgleichgewichte, Zusammensetzung 
des Blutbildes, chemische Komposition des Blutes, Erregbarkeit des 
vegetativen Systems, dazu die gewöhnlichen Konstanten, die allerdings 
wieder in Korrelation von den anderen Konstanten stehen: Atmung, 
Temperatur, Puls, Flüssigkeitsbewegung und Stoffwechsel, ausmündend 
bis zù den Urtrieben unter Beeinträchtigung der Gefühlslage. Überall 
zeigt sich in der Menstruation und in der Gravidität eine Gleich- 
gewichtsverschiebung, die uns anzeigt wie tief beim Weib die Ge- 
schlechtsdrüse in Zeiten der Aktivität in das Gleichgewicht der Frau, 
d. h. in den psycho-physischen Kern hineindringt. Dass wir diese 
Labilitäten, Dispositionen konstitutionell benennen, ist mehr als be- 
rechtigt. Nirgends aber treffen wir beim Manne derartige Verhältnisse 
an; die Sexualdrüse des Mannes beeinträchtigt nicht in dieser Weise 
wie bei der Frau den psycho-physischen Kern der Persönlichkeit. 
Und nun werden sie auch verstehen meine Herren warum ich den 
Sexuaitrieb nicht als Urtrieb bezeichnet habe: der Sexualtrieb stellt 
einen von der Pubertätsdrüse in dem Sinne abhängigen Trieb dar, 
als er wohl nur eine erotische Färbung und eine partielle Differenzierung 
der Triebe ist, die ich als Bewegungsdrang und Reizhunger benannt habe. 
So wie sich der Appetit zum Hunger als Urtrieb verhält, so etwa verhält 


12 Theodor Brugsch, Geschlecht und Persönlichkeit. [12 


sich der Sexualtrieb, den man ja beim Menschen in den Kontrektations- 
trieb und Detumeszenztrieb gliedert, zum Bewegungsdrang und Reiz- 
hunger. Die Auslösung des Sexualtriebes istganz parallel abgestimmt der 
Auslösung des Appetits in der Pawlowschen Versuchsanordnung. 
Schneidet man dem Hunde das Grosslirn fort, so verliert der auf 
den Appetitsaft dressierte Hund die Appetitfähigkeit, ebenso wie ja 
bei ihm auch der Sexualtrieb verloren geht. Dass wir in dem Sexual- 
trieb als solchen einen Trieb sehen müssen, der das Gleichgewicht des 
Individuums regiert, kann für den psycho-physischen Kern der Per- 
sönlichkeit keine Geltung haben. Der Sexualtrieb dient metaindivi- 
duellen Interessen, d. h. der Rassenfortpflanzung, und erhält in diesem 
Sinne auch sein Gepräge. Die vergleichende Psychologie des Sexual- 
triebes bei den Wirbeltieren bis zum Menschen hinauf zeigt uns zum 
Teil noch die Abhängigkeit des Sexualtriebes von den äusseren Reiz- 
faktoren, die mehr minder vom Weibchen ausgehen und durch die Sinne, 
meist wohl durch den Geruch vermittelt werden. Beim Menschen ist 
der Sexualtrieb psychologisch freigemacht, und durch Erlebnisse der 
Aussenwelt, durch Erziehung, Milieu, ebenso wie durch die psychischen 
Anlagen gerichtet. Unverkennbare Beziehungen können zwischen dem 
Geschlechtstrieb und der morphologischen Geschlechtsmaske bestehen, 
ich sage, können bestehen, sie brauchen es aber nicht und damit 
berühre ich einen Punkt, der von der psychiatrischen Seite in die 
Diskussion hineingeworfen ist, die Beziehung zwischen Konstitution 
und Charakter. Ich glaube nicht an solche allgemeine Beziehungen, 
wenngleich der Charakter unzweifelhaft auf dem Wege der Ausdrucks- 
bewegungen konstitutionelle Typenprägungen zu Wege bringt. AlsSchul- 
beispiel sei auf die physionomischen Berufstypen verwiesen. Aber 
diese Fragen weiter zu spinnen, würde uns hier zu weit führen und 
so schliesse ich mit dem Wunsche, dass die Diskussion durch Rede 
und Gegenrede zur Klärung mancher von mir angeschnittener viel- 
fach noch sehr problematischer Fragen beitragen möge. 


Aus dem Laboratorium der Staatlichen Frauenklinik zu Dresden. 


Zur Frage 
der morphologischen Grundlagen der Sexualität 
nach tierexperimentellen Untersuchungen‘). 


Von 
Prof. Dr. W. Lahm. 


Die Untersuchungen, über welche ich im Folgenden berichten 
will, sind eine Ergänzung zu dem Thema, das auf dem letzten Gynä- 
kologenkongress in Heidelberg, durch Benthin angeregt, mehr Redner 
‚auf den Plan rief, als man anfänglich angenommen hatte: das Thema 
der interstitiellen Keimdrüse. Die recht ausgiebige Diskussion, in der 
Verfasser bereits auf diese Untersuchungen hinwies, hat zu einem 
klaren Abschluss nicht geführt. Nach wie vor musste das Problem 
als ungelöst gelten, ob den Zwischenzellen des Hodens — be- 
ziehungsweise der Ovarien— eine selbständige endokrine 
Funktion zukommt, oder ob es sich hier nur um Stapel- 
plätze und Umschlagstellen für gewöhnliche Stoffwechsel- 
produkte handelt. Liest man das jüngst von Patzelt?) gegebene 
Referat über die Zwischenzellen, so muss man allerdings den Ein- 
druck haben, als müsse die Theorie von der interstitiellen Drüse 
begraben werden. Und doch lautet das Schlussergebnis dieses Auf- 
satzes noch recht vorsichtig: es wird nicht gesagt, die Gesamtheit 
der Zwischenzellen sei bedeutungsloses Bindegewebe, sondern es heisst: 
es handelt sich bier um (den Ausdruck) wichtiger Stoffwechsel- 
beziehungen zwischen Samenepithel und Zwischenzellen; die ersteren 
beeinflussen den Körper geschlechtsspezifisch; die letzteren tun es 
nicht, aber sie sind auch „keinesfalls blos ein Füllgewebe‘“. 


') Als Vortrag gehalten in der Sitzung der Dresdener Gynäkol. Gesellsch. 
22. Nov. 1923. 


3) Wien. klin. Wochenschr. 1923. Nr. 32. 


14 W. Lahm. [2 


Ich muss sagen: Ich fasse dieses Ergebnis als ein Zugeständnis 
auf. Wenn wirklich „wichtige Beziehungen Samenepithel und 
Zwischenzellen“ miteinander verbinden und die Zwischenzellen mehr 
sind als blosses Füllgewebe, so kann ihre Bedeutung unmöglich 
einfach vernachlässigt werden. Verfolgt man nun gar die Tatsachen, 
welche über die Zwischenzellen vorliegen, so ergibt sich in der Tat 
ein Bild, das m. E. zugunsten einer spezifischen Sekretion 
bezw. Mitbeteiligung an derselben von seiten der Zwischen- 
zellen spricht. 
| Nur in aller Kürze sollen hier ein paar Punkte berührt werden: 

“> 1. Beim Kryptorchismus — ich möchte im folgenden nur 
über die Verhältnisse beim männlichen Geschlecht berichten, weil sie 
hier wesentlich einfacher als beim weiblichen Tier liegen — kann 
trotz doppelseitiger Ektopie der Hoden der Geschlechtstrieb normal 
sein, wie denn auch die Ausbildung der Geschlechtsmerkmale durchaus 
vollständig sein kann. Beim Kryptorchismus findet man aber die 
Samenkanälchen verödet bezw. zu weiten Röhren dilatiert und von 
einem indifferenten Epithel ausgekleidet. Die Zwischenzellen treten 
stark hervor und können einen grossen Teil des Hodens ausmachen. 
Spermatogenese fehlt. 

Skeptiker können hier einwenden: das Vorhandensein der Ge- 
schlechtsmerkmale und des Sexualtriebs kann an die Reste der 
Samenkanälchen gebunden sein; denn man erlebt es bisweilen, 
dass die operative Freimachung der Hoden zur Wiederbelebung der 
Spermatogenese führt. — Ich möchte nicht in dieser Weise schliessen ; 
ich möchte viel eher annehmen, dass die Zwischenzellen die „Tradition“ 
der Keimdrüse aufrecht erhalten haben und den Samenkanälchen unter 
geeigneten Bedingungen es ermöglichen sich zu regenerieren. Ich kann 
es nicht verstehen, wie man den nur aus „indifferenten Zellen“ be- 
stehenden Kanälen eine Funktion zuschreiben kann, wo doch gerade 
dieser Zustand der Ausdruck dessen ist, dass sie nicht zu arbeiten 
vermögen! 

2. Bei periodisch brünstig werdenden Tieren findet man 
vor der Brunst die Zwischenzellen spärlich entwickelt, in den Samen- 
kanälchen aber trifft man auf die lebhafteste Spermatogenese. Nach 
der Brunst kehrt sich das Bild um. Die Spermatogenese erlischt, die 
Samenkanälchen verlieren an Volumen, ihreMembrana propria — durch 
welche hindurch die Beziehungen zu den Zwischenzellen gehen muss — 
wird dicker und die Zwischenzellen verbreiten sich im Hoden, dass 
sie fast die ganzen Räume zwischen den Kanälchen einnehmen. 

Patzelt schliesst aus diesen Bildern, dass die Zwischenzellen 
keinerlei Beziehung zur Brunst haben, dass sie lediglich die Aufgabe 


3] Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. 15 


hätten, während der ruhenden Spermatogenese Nahrungsstoffe zu 
speichern. 


Ich will gerne zugeben, dass diejenigen Eigenschaften der Tiere, 
welche klinisch die Brunst charakterisieren, von den lebhaft arbeitenden 
Samenkanälchen ausgehen; dass deshalb aber die Zwischenzellen 
„keinerlei Beziehung“ zur Brunst hätten, darin kann ich nicht 
beistimmen. Auch hierin sehe ich zunächst nur ein gegenseitiges 
Ablösen in der Funktion. Das Auftreten der rein brünstigen (vorüber- 
gehenden) Merkmale ist m. E. charakteristisch für die voll erhaltene 
sexuelle Persönlichkeit; sie bedeuten sicher den Kulminationspunkt 
einer gewissen Aufwärtsentwicklung und bedürfen der unzerstörten 
Grundlage. Diese letztere bilden aber m. E. die Zwischenzellen. Sie 
übernehmen nach dem Abklingen der Brunst die Aufrechterhaltung 
des Sexualcharakters für die ganze folgende Ruhepause. Die Selbst- 
ständigkeit der Zwischenzellen geht m. E. auch daraus hervor, dass 
man bei teilweise erhaltener, teilweise ruhender Spermato- 
genese (bei der Ratte) keine typischen Beziehungen zu diesen Einzel- 
stadien finden konnte. Nur Arbeit oder Ruhe insgesamt entschied 
über den Bestand und die Ausbreitung der Zwischenzellen. 


3. In allen den Fällen, wo man künstlich die Spermato- 
genese vernichtet (Unterbindung des Samenleiters) oder wo sie 
spontan leidet (Infektionskrankheiten, Vergiftungen, Alkohol) ver- 
mehren sich die Zwischenzellen. Samenkanälchen und Zwischenzellen 
sind also komplementäre Organe. Der Sexualcharakter kann unter 
diesen Umständen enorm kräftig hervortreten (Steinachs Verjün- 
gungsversuche). 


4. In Transplantaten erlischt die Spermatogenese, die Zwi- 
schenzellen beherrschen das Feld. Verjüngungen, Steigerung des Sexual- 
charakters und des Sexualtriebes (Mannsfeld) sind oft beobachtet 
worden. — Patzelt meint, dies seien zum Teil Zufallsbefunde, inso- 
fern das Maximum der Zwischenzellwucherung erst dem Höhepunkt 
der biologischen Wirkung folge und ein ganz anderes Bild entstehe, 
wenn man die Hoden solcher Tiere zu einem früheren Termin histo- 
logisch untersuche. Ausserdem aber gibt er an, dass die Spermato- 
genese im Transplantat stellenweise erhalten bleibt, ja sogar eine 
Regeneration erfahren könne. 


Diese wenigen Beispiele mögen genügen. Ich will damit nur das 
eine bewiesen haben: restlos geklärt ist das Verhältnis der Zwischen- 
zellen zum Sexualcharakter und zum Sexualtrieb noch nicht. Beob- 
achtungen aller Art müssen uns willkommen sein, die Probleme weiter 
zu vertiefen. 


16 W. Lahm. [t 


Noch eines nur möchte ich an dieser Stelle einfügen um nicht 
falsch verstanden zu werden: ich bin nicht der Meinung, dass uns 
die Zwischenzellen die Bilder der konträren Sexualempfin- 
dungen erklären können. So hat man bekanntlich behauptet, die 
Zwischenzellen seien „weibliche“ Luteinzellen (Steinachs F-Zellen) 
und jede Keimdrüse sei deshalb im Grunde genommen bisexuell ge- 
spalten; je nach dem Primat der F-Zellen bezw. der Samenkanälchen 
sollten homo- und heterosexuelle Merkmale hervortreten. Ich habe 
vor etwa zwei Jahren durch Scheunig!) die Frage bearbeiten lassen 
und konnte durch Verfolgung der Embryonalentwicklung dieser Zellen 
vom 2. Monat bis zum 1. Lebensjahr nachweisen, dass die angeb- 
lichen F-Zellen typische, männliche Leydigsche Zwischenzellen sind. 
Eine pathologisch-anatomische Grundlage der Homosexualität in diesem 
Sinne erkenne ich also nicht an. 


Bei meinen weiteren Darstellungen möchte ich in meiner Voraus- 
setzungslosigkeit noch weiter gehen: ich will nicht nur annehmen, 
dass das Verhältnis der Zwischenzellen zum Sexualcharakter und zum 
Geschlechtstrieb noch ungeklärt ist, ich will sogar die selbständige 
Bedeutung der Zwischenzellen ganz fallen lassen und lediglich durch 
ihre genaue Verfolgung Änderungen feststellen, welche nicht vorüber- 
gehend sind und mehr oder minder einschneidende Folgen an den 
Samenkanälchen nach sich ziehen oder zur Voraussetzung haben. Ich 
stelle mich also nur auf den Standpunkt der „wichtigen Wechsel- 
beziehungen“, die ich aus dem morphologischen Bild entnehmen will. 


Zu meinen Versuchen verwendete ich: 
1. ein Präparat, auf das mich Kollege Barth-Wehrenalp in 
- Franzensbad aufmerksam gemacht hatte, das bisher nicht im Handel 
ist und von seinem Hersteller Dr. Scheuer in Teplitz als Neosex 
bezeichnet wird?). 

2. ein Präparat der Firma Merck, das unter dem Namen Novo- 
testal geht. 

3. ein Plazentaopton von Kalle in Biebrich. 


4. Johimbin:. 
5. getrocknetes Hoden- und Corpus cavernosum-Pulver. 
Sämtliche Tiere — Meerschweinchen — wurden so vorbereitet, 


dass ihnen zunächst ein Hoden exstirpiert wurde, und zwar um 
a) eventuell ihre Sexualität herabzusetzen, 
b) den einen Hoden als Kontrollpräparat (Schwere, Volum, histo- 
logischer Bau) zu besitzen. 


', Zur Frage der Steinachschen F-Zellen. Arch. f. Gyn. Bd. 116. 
2) Jetzt hergestellt von Omni Gesellschaft, Dresden 19. 


5] Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. 17 


Dann erhielten die Tiere die genannten Mittel. Neosex und 
Novotestal wurden im Mörser fein zerstossen, im Wasser aufgelöst 
und den Tieren per os verabreicht. Ebenso Testis siccata und 
Corpus cavernos. sicc. Placentaopton wurde injiziert; Johimbim ver- 
füttert. 

Ich will nicht mit einer detaillierten Besprechung der Einzel- 
versuche aufhalten — es genügt, wenu ich sage, dass es sich ins- 
gesamt um 21 Versuche und mehr als 25 Untersuchungen an 9 Tieren 
gehandelt hat. 

Die Ergebnisse teile ich in zwei Gruppen ein: in die Ergeb- 
nisse der pathologisch-anatomischen Untersuchungen, von denen ich 
sofort Diapositive zeigen will, und in die Ergebnisse der klinischen 
Beobachtung. Ä 


I. Pathologisch-anatomische Ergebnisse. 


1. Hoden der gesunden Tiere. Volum und Gewicht bilden ein 
konstantes Verhältnis von etwa 1:1 — Schwankungen kamen vor 
bis 1:1,1 und 1:1,07. Die Samenkanälchen waren stets gut gebildet, 
die Kerne der Zellen mittelgross, etwa 5—6 Reihen übereinander. 
Lebhafte Spermatogenese. Das Zwischengewebe sehr zellarm, ausser 
ein paar Fasern und den Kapillaren oft in mehreren Gesichtsfeldern 
keine andere Zelle. Zwischsnzellen sind vorhanden (+ oder (-+)), sind 
aber sehr spärlich entwickelt und liegen teils den Gefässen, teils den 
Samenkanälchen an. 

2. Der Hoden solcher Tiere, bei denen einige Zeit vorher eine 
Ablatio testis vorgenommen worden war, war in toto vergrössert, 
ohne im Gewicht entsprechend zugenommen zu haben. Das Ver- 
hältnis zwischen Gewicht: Volum betrug 1:1,2 bis 1:1,25. Die Samen- 
kanälchen seben etwas gequollen aus, man findet bisweilen auch 
6—7 Zellreihen übereinander geschichtet, man beobachtet lebhafte 
Spermatogenese, aber man findet nichts von einer entsprechenden. 
Hypertrophie der Zwischenzellen. | 

3. Gibt man Tieren, bei denen der eine Hoden entfernt ist, 
Johimbim, ändert sich das Bild gegen 2 nicht. Verabreicht man 
Neosex, Novotestal oder Plazentaopton, so tritt eine wesentliche Ver- 
änderung ein, und zwar: 

bei Plazentaopton Verkleinerung des Hodens, Atrophie der Samen- 
kanälchen, Vermehrung der Zwischenzellen, Querschnitte 1:1,01), 


1) Die Querschnittsvergleichung betrifft jedesmal das Verhältnis des ersten 
zam zweiten Hoden. Es wurde der Durchmesser des grössten Querschnittes in 
zwei Richtungen gemessen, das Mittel gezogen und der Querschnitt nach der 
Formel J = ær?’ bestimmt. 

Archiv für Frauenkundo. Bd. X. H. 1/2. 2 


18 W. Lahm. [6 


bei Novotestal ganz geringgradige Vergrösserung des Hodens (Quer- 
schnitte 1:1,2), Vermehrung der Zwischenzellen, 
bei Neosex starke Vergrösserung des Hodens (Querschnitte 1:1,64), 

Verbreiterung der Samenkanälchen (Hypertrophie) und beträcht- 

liche Vermehrung der Zwischenzellen. 

4. Zum Vergleich der Zwischenzellwucherung, wie sie hier ge- 
funden wurde, habe ich nun noch einen echten Steinachschen Ver- 
such angestellt und eine Samenstrangunterbindung durchgeführt. Nach 
6 Tagen wurde der Hoden wieder exstirpiert, er zeigfe sich beträcht- 
lich vergrössert, schwerer an Gewicht und wies neben deutlicher 
Degeneration der Samenketten eine gute Entwicklung der Zwischen- 
zellen, und zwar in der Nähe des Nebenhodens, etwa in der Stärke, 
wie wir sie bei Neosex beobachtet haben, auf. 

Wenn ich mit ein paar Worten auf die Erklärung dieser Ver- 
suche eingehen darf, so zeigen sie zunächst einmal sehr schön, dass 
in den Hoden der normalen geschlechtsreifen Meerschweinchen zwar 
Zwischenzellen vorhanden sind, aber keine besondere Rolle spielen, 
und dass auch die Entfernung eines Hodens darin keine wesent- 
liche Änderung herbeiführt. Zwar hypertrophiert der zweite Hoden 
etwas, aber eine Vermehrung oder Verminderung der Zwischenzellen 
tritt nicht ein. 

Sehr interessant ist der Einfluss des Plazentaoptons; die Samen- 
ketten atrophieren, die Zwischenzellen treten stärker hervor. 

Ähnliche Beobachtungen liegen in der Literatur bereits vor. In- 
jektion von Corpus luteum-Extrakt wirkt genau ebenso wie es hier 
von dem Plazentaoptön geschildert wurde. Corpus luteum -Extrakt 
und das ihm offenbar sehr nahestehende Plazentaopton hemmen offen- 
bar nicht nur die Ovulation (Rob. Meyer, Schröder, Haber- 
landt), sondern auch die Spermatogenese; die Hypertrophie der 
Zwischenzellen ist danach eine rein sekundäre Erscheinung. 

Im Gegensatz zu diesen Reaktionen stehen diejenigen mit Novo- 
testal und Neosex, durch welche die Samenketten eine Hypertrophie 
und die Zwischenzellen eine Vermehrung erfahren; das letztere gilt 
ganz besonders von dem Neosex, dem man ganz zweifellos eine spezi- 
fische inkretorische Wirkung auf den Hoden nicht absprechen kann. 

Es wird interessieren zu erfahren, woraus die beiden genannten 
Medikamente bestehen. Über das Novotestal kann ich in dieser 
Hinsicht keinen Aufschluss geben; eine diesbezügliche Anfrage ist 
bisher unbeantwortet geblieben !). Bezüglich des Neosex erhielt ich 
die Mitteilung, dass es aus Testis siccata, Corpus cavernosum pulveri- 


!) Durch protrolytische Aufspaltung frischer Stierhoden gewonnen. 


7] Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. 19 


satum und Rhodanalbuminat besteht‘). Über die Wirksamkeit der ge- 
nannten Einzelkomponenten werde ich zum Schluss, soweit ich bis 
heute darüber orientiert bin, noch kurz Mitteilung machen. Zunächst 
aber möchte ich über das klinische Verhalten der Tiere berichten. 


II. Das klinische Verhalten der Tiere. 

Meerschweinchen zu beobachten ist nicht so leicht wie man sich 
das vielleicht vorstellt. Die Tiere sind recht scheu und durch die 
Gegenwart einer dicht am Käfig stehenden Person stark beeinflusst. 
Ich habe die Beobachtungen so durchgeführt, dass ich die Tiere nur 
durch einen schräg gestellten Spiegel sah und dass ich selbst hinter 
einer spanischen Wand sass, in der sich nur ein Guckloch von der 
Grösse eines Zehnpfennigstückes befand. Auf diese Weise glaube ich 
durch meine Anwesenheit die Tiere nicht beeinflusst zu haben. 

1. Ein normales Männchen zu einem normalen nicht trächtigen 
Weibchen gebracht beginnt sofort ein Liebeswerben. Das Weibchen 
wird verfolgt, von vorne und hinten beschnuppert, es flieht, es lässt 
um sich jagen und ist schliesslich dem stürmisch attaquierenden 
Männchen gefügig. Anders das trächtige Weibchen. Es flieht nur, 
wenn ein sehr kräftiger Bock es verfolgt; sonst bleibt es sitzen, 
beisst, springt mit kurzem Ruck herum, wenn sich das Männchen 
von hinten nähert und schlägt wohl auch aus (diese letztere Bewe- 
gung geschieht mit beiden Beinen und sieht sehr komisch aus). Das 
trächtige Tier wehrt also energisch ab und weiss sich das Männchen 
im allgemeinen auch vom Leibe zu halten. Hilft gar nichts mehr, 
so kauert das Weibchen hartnäckig in einer Ecke und lässt sich von 
dort nicht vertreiben. 

2. Halbseitig kastrierte Männchen verlieren an Geschlechtstrieb. 
In meinen Protokollen heisst es: Tier (I) war — 5 Tage nach der Ope- 
ration — träge in seinen Bewegungen und schwach in seinem Verlangen 
nach dem Weibchen. Es liess sich durch dessen Gegenwart nicht im 
Fressen hindern, drückte sich vielmehr (wenn sich das Weibchen 
näherte) oft scheu und gleichgültig in eine Ecke des Käfigs und be- 
nahm sich fast wie ein „alt gewordenes Tier“. 

3. Johimbim-Tiere benahmen sich nicht anders als normale bezw. 
als halbseitig kastrierte, je nachdem man bei dem einen oder dem 
anderen das Mittel verabreichte. 

4. Tiere, die mit Plazentaopton gespritzt wurden, benahmen sich 
besonders zurückhaltend. 

5. Tiere, mit Novotestal behandelt, zeigten ein gutes männliches 
Verhalten, vor allem gegen jüngere und kleinere Weibchen. Brachte 


1) 0,1 + 0,05 + 0,01. 
2% 


20 W. Lahm. [8 


man sie aber mit älteren oder trächtigen Weibchen zusammen, so 
entstand ein ziemlich lebhaftes Pfeifen, Schnurren und Jagen; sobald 
aber das Weibchen etwas entschiedener ablehnend sich verhielt, ent- 
wickelte sich ein Verhältnis, das ich in einem Protokoll als das Ver- 
hältnis von „Mutter und Kind“ bezeichnete. Die Tiere sassen dann 
bisweilen gemeinsam an einem grünen Blatt und oft liess sich das 
Männchen den Bissen vom Munde wegziehen, ohne sein „Herren- 
recht“ geltend zu machen — was bei gesunden Tieren fast ein Ding 
der Unmöglichkeit ist. 


6. Entschiedene Steigerung der Sexualität konnte ich bei Neosex- 
verabreichung verfolgen. Halbseitig kastrierte und 15 Tage lang mit 
Neosex gefütterte Männchen verfolgten ein zugebrachtes Weibchen 
sofort lebhaft, beschnupperten es am Kopf- und Schwanzende, jagten 
es in wilder Flucht durch den Käfig und zeigten ihre Männlichkeit 
in aller Vollendung. Selbst trächtige Weibchen vermochten sich der 
Zudringlichkeit solcher Tiere kaum zu erwehren. 


7. Tiere, welche durch Plazentaopton bis zu einem gewissen 
Grade entmaskulinisiert waren, konnten durch Neosex sexuell wieder- 
belebt werden. | 


8. Tiere, die mit der Steinachschen Operation behandelt waren 
(Ductus deferens-Unterbindung), verhielten sich sehr aktiv, waren aber 
bissig und eigentümlich „nervös“, was oft verhinderte, dass regelrechte 
Kohabitationen zustande kamen. 


Dies ist in kurzen Zügen das klinische Bild zu den oben ge- 
schilderten histologischen Veränderungen. Ich bin mir wohl bewusst, 
dass die sog. klinische Beobachtung der Sexualität ihre erheblichen 
Fehlerquellen hat. Aber wenn man erst einmal ein paar Stunden 
an die Beobachtung der Tiere gewendet hat, so arbeitet man sich 
langsam in ein Verstehen ein. Deshalb erlaube ich mir doch, die 
Versuchsergebnisse am anatomischen Substrat und im klinischen Bild 
einander gegenüberzustellen und meine Schlüsse daraus zu ziehen. 








Art der Behandlung | Samenkanälchen | Q | SE | nn 
| 
Halbseitenkastration........ Hypertrophie 1:1,04 nicht träger 
| vermehrt geworden 
„a + Johimbim.. | š ‚1:1,16 z S 
„ + Placentaopton | Atrophie SE 1,01] vermehrt d 
„ + Norvotestal . >| geringe (1:12 | ` | ziemlich 
| Hypertrophie | indifferent 
„ + Neosex .... | Hypertrophie 1:1,64. S stark aktiv 
„ + Steinach ... Atrophie 1:2,4 | S aktiv(nervös) 
a» -+ Corp. cav. .. mässige ‚1:1,25, indifferent 
Hypertrophie | | oder sogar 


träge 


9] Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. 21 


Wenn man die vorstehende Tabelle betrachtet, so scheint es 
schwer, bestimmte Schlüsse bezüglich der Zusammenhänge zwischen 
der morphologischen Grundlage und dem klinischen Verhalten zu 
ziehen. Aber wenn wir aus dieser Gegenüberstellung auch keine 
positiven Ergebnisse ablesen können, negative Aussagen lassen sich 
mit einer gewissen Sicherheit formulieren. 


1. Vermehrung oder Verminderung der Zwischenzellen ist allein 
kein Anhaltspunkt für ein bestimmtes klinisches Verhalten. Trotz _ 
Vermehrung können wir passives, indifferentes und aktives Benehmen 
der Männchen beobachten. 


2. Hypertrophie und Atrophie der Samenketten allein ist auch 
kein untrügliches Zeichen für die Steigerung oder Herabsetzung des 
Geschlechtstriebes. 


3. Zwischenzellen und Samenkanälchen gehen in ihrem quanti- 
tativen Verhalten nicht immer weder parallelnoch ergänzen sie 
sich. Esgibt z.B. Hypertrophie der Samenkanälchen ohne Zwischenzell- 
wucherung; aber es gibt keine Atrophie ohne Vermehrung der 
Zwischenzellen. Bestimmte — ja ich möchte sogar glauben bedeu- 
tende — Abhängigkeitsverhältnisse bestehen doch zwischen Samen- 
kanälchen und Zwischenzellen. | 


4. Genauere Beobachtungen an den einzelnen Hoden haben mich 
gelehrt, dass Zwischenzellen immer dort noch vorhanden sind, wo 
zahlreiche Spermatozoen zugrunde gehen (bei Steinach-Tieren sind 
die Zwischenzellen z. B. in der Nähe des gestauten Nebenhodens 
stärker ausgebildet als wie am entgegengesetzten Pol). Anfangs treten 
die Zwischenzellen allerdings stark in den Hintergrund, wenn die 
Spermatolyse wegen Mangel an Material sistiert; später aber scheinen 
sie sich von sich aus wieder zu regenerieren, wofür ihr gehäuftes 
Auftreten nach dem Aufhören der Spermatogenese spricht. 


5. Gesteigerte Sexualität scheint an eine gesteigerte Spermato- 
genese (mit gesteigertem Zerfall?) mit gleichzeitiger Vermehrung der 
Zwischenzellen gebunden zu sein. Sie ist m. W. bisher experimentell 
noch nicht erzeugt worden, so dass ich glaube, erstmalig gezeigt zu 
haben, dass auch gesteigerte Spermatogenese mit Zwischenzellwuche- 
rung gleichzeitig vorkommen kann (s. meine Ausführungen vom Gynäko- 
logen-Kongress 1923). 


Aus all diesen Versuchen möchte ich schliessen, dass den Zwischen- 
zellen ausser einer gewissen trophischen noch eine ganz andere, und 
zwar eine sehr bedeutende Aufgabe zufällt, nämlich die der Speiche- 
rung der Sexualhormone sowohl aus dem Körper als auch aus den 
zugrunde gehenden Spermatozoen und Samenepithelien. Die Zwischen- 


22 W. Lahm, Zur Frage der morphologischen Grundlagen der Sexualität usw. [10 


zellen verdienen also m. E. den Namen der Hormonsammler. Kein 
Zweifel, dass die Samenkanälchen die erste Rolle sowohl bei der 
Bildung als auch der Speicherung geschlechtsspezifischer Stoffe spielen; 
aber an ihre Stelle können bis zu einem gewissen Grade die Zwischen- 
zellen treten und es ist nicht unmöglich, dass Hormone, die dort 
abgelagert werden, rascher und vollständiger ins Blut gelangen als 
es von den Samenkanälchen aus geschehen würde. Vermehrung (Hyper- 

trophie) der Samenkanälchen und der Zwischenzellen, und zwar der 
“ersteren in so beträchtlichem Grade, dass reichlich Spermatozoen 
zugrunde gehen, steigert die Sexualität. Die geringe Hypertrophie, 
wie wir sie bei Novotestal und beim Corpus cavernosum beobachtet 
haben, reicht dafür nicht aus. 

Nur mit einem Wort möchte ich zum Schluss meiner Ausfüh- 
rungen noch auf die Zusammensetzung des Neosex und die Bedeutung 
der per os verabreichten Organotherapeutica eingehen. Ich muss 
sagen, leider ist das Neosex kein einheitlicher Stoff, so dass es nun- 
mehr unsere Aufgabe sein muss, die verschiedenen oben bereits ge- 
nannten Komponenten einzeln und kombiniert auf ihre Wirksamkeit 
zu prüfen. Das ist bisher nur mit Testis siccata und Corpus caver- 
nosum pulv. geschehen. Testis siccata hat mir keine ganz eindeutigen 
Resultate gegeben ; die Reaktion auf die Verabreichung von Corpus caver- 
nosum findet sich oben vermerkt. Immerhin bleibt als Ergebnis 
meiner Versuche bestehen, dass es gelingt, mit Organpräparaten auf 
dem einzig als zuverlässig anerkannten Wege, nämlich dem der per- 
oralen Verabreichung (Zondek), sichere Veränderungen geschlechts- 
spezifischer Art zu erzeugen, denen klinische und pathologisch- 
anatomische Besonderheiten entsprechen. Zwar findet die Sexualität 
kein einheitliches und kein pathologisch-anatomisch wohl charakteri- 
siertes Gegenstück, aber wir glauben sie in Abhängigkeit zu sehen 
von einem Komplex von Erscheinungen, welche der morphologischen 
Untersuchung zugänglich sind. 


Aus dem Institut für Sexualwissenschaft zu Berlin. 


Sprechen anatomische Grundlagen für das 
Angeborensein der Homosexualität? ') 


Von 
Dr. Arthur Weil, Berlin, z. Z. New York. 


(Mit 9 Kurven im Text.) 


In der Fragestellung der vorliegenden Preisarbeit spiegelt sich 
die Wandlung wieder, welche im Laufe der letzten Jahrzehnte die 
wissenschaftlichen Anschauungen über das Problem der gleich- 
geschlechtlichen Liebe durchgemacht haben. . 


„Anatomische‘‘ und ‚angeborene‘ Grundlagen hätte man vor Krafft 
Ebing nie als Ursachen für eine Abweichung der Triebrichtung gelten lassen; 
man betrachtete das ganze Problem nur vom Standpunkte der damaligen 
psychiatrischen Forschungsrichtung aus als eine Psychose, eine Art Para- 
noia, einen durch Verführung entstandenen immer stärker sich festwurzelnden 
Wahn. Erst der österreicher grosse Sexualwissenschaftler versuchte eine andere 
endogene Erklärung für diese rätselhafte Abweichung des sexuellen Empfindens 
zu geben; ausgehend von der Forschung über den Hermaphroditismus und die 
bisexuelle Anlage des Menschen schloss er sich der schon 1852 von Casper 
geäusserten (1) und auch später von dem Juristen Ulrichs aufgenommenen 
Ansicht an (2), dass diese Anomalie „angeboren und gleichsam als eine geistige 
Zwitterbildung anzusehen sei“. Er setzte voraus, dass die Anlage der Ge- 
schlechtsdrüsen und Befruchtungsorgane bisexuell sei und folgerte dement- 
sprechend, dass auch die anderen Apparate des Sexualapparates, also die spinalen 
Zentren, welche teils hemmend, teils erregend auf die Drüsen einwirken, und 
die zerebralen Gebiete, in welchen sich die psychischen Vorgänge des Ge- 
schlechtslebens abspielen, bisexuell angelegt sein müssten, so dass bei inkongru- 
enter Entwicklung die Möglichkeit bestand, dass die Drüsen und Befruchtungs- 
organe männlich, die spinalen und zentralen Zentren weiblich angelegt würden 
und umgekehrt, so dass also die Triebrichtung und das sexuelle Empfinden 
nicht der äusseren anatomischen Anlage entsprachen. Den Beweis für diese 
Hypothese ist er stets schuldig geblieben und musste ihn schuldig bleiben, 


1) Gekrönte Preisaufgabe der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Konstitutionsforschung. 


24 Arthar Weil. [2 


da wir ja auch heute noch nicht darüber unterrichtet sind, ob tatsächlich in dem 
feineren Aufbau des Nervensystems geschlechtsspezifische Unterrhicde be- 
stehen, etwa in der Art, wie sie Gall grob anatomisch durch seine zahlreichen 
Messungen und Wägungen festgestellt hatte. Den Standpunkt Krafft-Ebings 
von der Inkongruenz in der Entwicklung der einzelnen Anlagen auf bisexueller 
Grundlage machte sich auch Hirschfeld in seiner „Zwischenstufentheorie‘ 
zu eigen, in der er die körperlichen und seelischen Geschlechtsunterschiede 
in vier Gruppen einteilte, die unabhängig voneinander variieren sollten (4ı. 
Entsprechend den Fortschritten der naturwissenschaftlichen Forschungen schrieb 
er nicht wie Krafft-Ebing den Nervenzentren den überragenden Ein 
flusg zu, sondern der inneren Sekretion der Keimdrüsen und ging so weit, dass 
er selbst in Fällen von eindeutig ausgesprochenem männlichem Habitus bei 
Homosexuellen die Wirkung eines hypothetischen andersgeschlechtlichen Inkrets 
— des „Gynäcins‘ bei männlichen, des „Andrins' bei weiblichen Homosexuellen 
— annahm. Auch er musste den anatomischen Beweis schuldig bleiben, da er 
sich wie Krafft-Ebing hauptsächlich auf die Methoden der psychologischen 
Forschung stützte, umfangreiche anthropologische oder histologische Unter- 
suchungsmethoden aber nicht heranzog. | 

Den Beweis für die innersekretorischen Grundlagen der homosexuellen 
Veranlagung versuchte schliesslich Steinach zu erbringen, der angab, in den 
Hoden Homosexueller neben einer Atrophie der Samenkanälchen besonders ge- 
bildete grosse Leydigzellen gefunden zu haben, die F-Zellen, die er als Äqui- 
valente der weiblichen Luteinzellen ansprach und von denen er annahm, dass 
sie ein im weiblichen Sinne erotisierendes Inkret erzeugen sollten (5). Ihm trat 
vor allen Dingen Benda entgegen, der seine Befunde nicht bestätigen konnte 
und der auf die grosse Variationsbreite 'bei histologischen Hodenuntersuchungen 
hinwies, die es fast unmöglich macht, eine bestimmte Norm aufzustellen (6). 
Vorwegnehmend ‚kann ich an dieser Stelle auf eigene histologische Unter- 
Untersuchungen an den Hoden von sechs homosexuellen Männern hinweisen, 
bei denen ich in keinem Falle die F-Zellen als besonders charakteristisch sich 
abhebende, von den Leydigzellen verschiedene Gebilde nachweisen konnte. In 
einem Falle fand ich bei einem änfantilen 19jährigen das Bild eines Vor, 
pubertätshodens, in zwei weiteren Fällen Atrophie der Samenkanälchen, während 
die drei anderen beim Vergleich mit „normalen‘‘ Hoden keine groben Unter- 
schiede erkennen liessen. Doch möchte ich diese eigenen histologischen Unter- 
suchungen nicht zur Entscheidung der Frage in die Wagschale werfen, da 
ihre Zahl zu klein ist, um kein abschliessendes Urteil zu gestatten. 


Auf einem anderen Wege versuchte Weil die Frage zu lösen, ob bei Homo- 
sexualität anatomische Grundlagen zugunsten eines Angeborenseins sprächen. 
Wenn, so war sein Gedankengang, innersekretorische Störungen der Keimdrüsen 
dieser Abweichung parallel gehen, so müssen diese sich nach aussen hin in Ab- 
weichungen der Körperform und des Skeletts zeigen (6). Wie er an anderer 
Stelle hervorhob (7), unterliegt die Ausbildung der sekundären Geschlechts- 
charaktere aber nicht nur dem Einfluss der Keimdrüsen, sondern auch den 
anderen Gliedern des inkretorischen Systems, und die endgültige Körperform 
ist eine Diagonale der Kräfte aus dem Zusammenwirken ererbter Anlagen mit 
Thymus, Schilddrüse, Hypophyse und Keimdrüsen, von denen die drei ersteren 
in bezug auf das Skelettwachstum antagonistisch zu den letzteren wirken. Er 
unterschied in bezug auf die Proportionen des menschlichen Körpers zwei 
Gruppen: eine, welche sich aus dem Wechselspiel der vier genannten Drüsen 


3] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 25 


herausbildet, und zu der das Längenwachstum gehört, das wieder in dem Ver- 
hältnis Jer- Ober- zur Unterlänge seinen sichtbaren und messbaren Ausdruck 
findet und eine zweite, welche direkt nur. dem Einfluss der Keimdrüsen unter- 
liegt und zu der das Beckenwachstum gehört, dessen geschlechtsspezifische 
Bildung neben direkten absoluten in dem Verhältnis der Schulter- zur Hüft- 
breite zum Ausdruck kommt. Er stellte fest, dass die Kurve der Variations- 
breite dieser beiden Proportionen wesentlich von der heterosexuellen ver- 
schieden ist und schloss daraus, dass in 9500 der untersuchten Fälle eine endo- 
gene, inkretorisch zum Ausdruck kommende Veranlagung bestand. -—Romeis (8) 
glaubt, dass Weil bei der Untersuchung von Homosexuellen eine besondere 
Auswahl getroffen habe und zieht aus seinen Ergebnissen die Folgerung, dass die 
Wachstumsänderung des Skeletts mit der Ausübung der Homosexualität zu- 
sammenhängt, nämlich mit einer Schädigung des generativen Anteils der Keim- 
drüsen durch frühzeitige sexuelle Exzesse — ene Äusserung, die auf eine 
erstaunliche Unkenntnis des Wesens des gleichgeschlechtlichen Empfindungs- 
lebens schliessen lässt, da jeder Psychologe, der sich eingehender mit diesem 
Problem beschäftigt hat, weiss, dass homosexuelles Empfinden und homosexuelle 
Betätigung durchaus nicht identisch sind, und dass es in der Mehrzahl der 
Fälle überhaupt erst jenseits der zwanziger Jahre zu einem homosexuellen 
Verkehr kommt. 


Überhaupt zeigt ein Studium der Literatur, besonders der älteren Sexual- 
wissenschaft, in der Auffassung über den feineren Mechanismus des sexuellen 
Trieblebens eine merkwürdige Naivität. Wenn man sich selbst mehrere Jahre 
lang speziell mit der Psychologie der sexuellen Varianten beschäftigt hat, 
erstaunt man immer wieder über die‘ unbegrenzte Mannigfaltigkeit der indi- 
viduellen Veranlagungen, erkennt man immer mehr wie unendlich verwickelt 
die Zusammenhänge zwischen körperlichem und seelischem Geschehen sind, 
zwischen dem, was wir einerseits von vererbten Anlagen, den Vorgängen im 
inkretorischen, vegetativen und zentralen Nervensystem unter dem Begriff der 
Konstitution zusammenfassen ‘und andererseits von äusseren Einflüssen, Er 
lebnissen, Milieuwirkungen usw. Was speziell die Homosexualität anbelangt, 
so hat vor allem Kronfold (9) versucht, sich von einer Schematisierung 
frei zu machen und sich zu ‘einer „erfassenden Wesensschau‘ durchzuringen, 
die ihn zuletzt zu der Erkenntnis führt, dass „die Gleichgeschlechtlichkeit ihren 
Trägern etwas Wesensmässiges ist, mit ihrer Konstitution schicksalshaft ver- 
wachsen. Sie ist nicht eine zufällige Pervertierung der Seele und der Triebe, 
wie dies von bestimmten anderen sexuellen Verhaltungsweisen angenommen 
wird, sondern sie entspricht einem notwendigen und tiefen Wesensbedürfnis 
in den Grundlagen des gesamten Menschen, der sie trägt.“ Allgemeiner betont. 
Kretschmer diesen unlösbaren Zusammenhang zwischen Sexualtrieb und 
Konstitution (10). „Der Sexualtrieb ist nicht eine einfache Funktion der 
Keimdrüse, sondern entsteht wiederum unter deutlicher Mitwirkung anderer 
Drüsen und des nervösen Zentralorgans, indem sich Zentralnervensystem und 
Blutdrüsen in einem verschlungenen Zirkel von Wirkung und Rückwirkung 
teils auf dem Nerven-, teils auf dem Blutwege gegenseitig beeinflussen und mit 
Förderungs- und Hemmungsimpulsen regulieren. Der Sexualtrieb ist nicht ein 
Produkt der Keimdrüse, sondern eines aus Gehirn-Rückenmark und Blutdrüsen 
zusammengesetzten komplizierten Kausalringes, in dem die Keimdrüse eine by. 
sonders hervorstechende Rolle spielt. Zudem ist der Sexualtrieb keine selb- 
ständige psychophysische Grösse, sondern ein unlöslich hineingewebter Haupt- 


26 Arthur Weil. [4 


bestandteil des Gesamttemperaments.‘‘ Er weist dabei auf sein Material an 
Schizophrenen hin und auf die Inkongruenz zwischen psychischer und somati- 
scher Anlage der Sexualität, auf die geringere Triebkraft und das relativ häufigere 
Vorkommen psychosexueller Varianten, vor allem der Homosexualität. 


Wenn wir so die Frage „Sprechen anatomische Grundlagen 
für das Angeborensein der Homosexualität?“ in ihrer geschicht 
lichen Entwicklung verfolgen, so sehen wir den folgenden Weg 
vor uns: Nach anfänglichem Leugnen körperlicher Bedingtheit wird 
eine allgemeine hermaphroditische Grundlage von Caspor ange- 
nommen, dem Krafft-Ebing mit dem weiblichen Gehirn im 
männlichen Körper folgt, abgelöst von Hirschfeld-Steinach 
mit der Hypothese von der Erzeugung eines weiblich eroti- 
sierenden Inkrets im männlichen Körper und schliesslich von Weil- 
Kretschmer-Kronfeld, welche das Angeborensein in einer 
bestimmten Konstitution sehen, einer Reaktionsmöglichkeit auf der 
Grundlage eines bestimmten Temperaments, aus der heraus das 
Triebleben emporwächst. 


Wenn ich jetzt selbst die Lösung der gestellten Frage versuche, 
so bin ich mir dabei vollkommen der Schwierigkeiten bewusst, die 
sich schon bei dem ersten Schritt hoch auftürmen, wenn es gilt, 
den Begriff der Homosexualität abzugrenzen und zu definieren. 
Selbstverständlich ist, dass hierunter nicht die homosexuelle Hand- 
lung, der gleichgeschlechtliche Verkehr als solcher verstanden sein 
soll, sei es in welcher Art und ‚Weise er auch immer getätigt werde. 
Ausschlaggebend ist das seelische Empfinden, der Trieb des Mannes 
zum Manne oder des Weibes zum Weibe, also :zum gleichen Ge- 
schlecht, eine Einschränkung, die auch Bisexualität, Schwankungen 
in der Triebrichtung ausschliessen soll. Wir haben uns beim Ge- 
brauch des Wortes „Geschlecht“ angewöhnt, ihn mit dem äusseren 
Genitale begrifflich zu identifizieren, gebrauchen „Mann“ gleich 
Phallus, „Frau“ gleich Vagina und setzen stillschweigend voraus, 
dass mit diesem Symbol gleichzeitig alle die körperlichen und 
seelischen Eigenschaften verbunden sein sollen, die wir nach dem 
Gesetze der Häufigkeit mit diesem äusseren Genitale verbunden 
finden. Wie wenig aber eine solche stillschweigende Voraussetzung 
berechtigt ist, darauf hat jüngst wieder Weil (11) in einem Auf- 
satze über „den Einfluss der inneren Sekretion auf die Ausbildung 
der sekundären Geschlechtsmerkmale‘“‘ hingewiesen, in dem er die 
Mannigfaltigkeit der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten be- 
tont. Wenn wir z. B. hohen Körperwuchs mit kräftiger, musku- 
lösen Formen verbunden mit einem energischen, zielsicheren Tem- 
perament als männliche Eigenschaften bezeichnen, dann müssten 


5] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 27 


wir auch einen metatropen Mann, der einen: solchen männlichen 
Frauentypus liebt als homosexuell bezeichnen, da er ja nach unserer 
Definition „Mann“ als Phallusträger ist, aber bei einem anderen 
Wesen eine andere, männliche Eigenschaft liebt, und wenn wir diesen 
Gedanken weiter spinnen, dann ist der virila Homosexuelle, der den 
zarten, mädchenhaften Körper des Epheben. liebt, und der durch 
ein bebartetes Gesicht abgestossen wird, heterosexuell, da er ja 
die Eigenschaften liebt, die wir sonst als weiblich ‚bezeichnen. 
Andererseits finden wir wieder Homosexuelle, die nur Phallus- 
fetischisten sind, die also das lieben, was wir als eigentliches Kenn- 
zeichen des männlichen Geschlechts definiert hatten. — Wenn wir 
unter diesem Gesichtswinkel die Frage der gleichgeschlechtlichen 
Liebe betrachten, dann verschiebt sich die Problemstellung wesentlich 
von der bisher üblichen Auffassung; wir erkennen, dass „‚Homo- 
sexuelle“ gar nicht Personen sind, welche das gleiche Geschlecht 
lieben, einen künstlich geschaffenen Typus „Mann“ oder „Weib“, 
sondern (falls wir bei dem einfacheren Fall der männlichen Homo- 
sexualität bleiben) Menschen mit männlichen Keimdrüsen und Geni- 
tale, welche andere Menschen mit denselben äusseren Geschlechts- 
merkmalen lieben, ohne dass aber diese Merkmale selbst von aus- 
schlaggebender Bedeutung für die Erregung eines Liebesempfindens 
zu sein brauchen. ‚Wesentlich bei dem geliebten. Objekt sind vielmehr 
andere Eigenschaften des Körpers, des Temperaments usw., Eigen- 
schaften, die vielfach durchaus „weiblich“ sind. Gemeinsam ist 
allen gleichgeschlechtlich Liebenden nur eines, etwas Negatives: 
das Abgestossensein, das Nichtswissenwollen von der Vagina, ein 
Horror, der durchaus kein Äquivalent in der heterosexuellen Gemein- 
stellung gegen das männliche Glied: findet. 


Wenn ich nach diesen Überlegungen. „homosexuell“ definieren 
will, so bleibt mir also weiter nichts übrig, als vorläufig alle die 
Menschen unter dieser Gruppe zusammenzufassen, deren Trieb auf 
andere Menschen mit gleichem äusseren Genitale gerichtet ist. Wie 
absurd es nach diesen Feststellungen noch ist, überhaupt die Homo- 
sexuellen als besondere Gruppe zu klassifizieren, wird nach allem 
diesem wohl nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen. Die 
Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens wird uns noch besser 
zum Bewusstsein gebracht, wenn wir einmal die Fragestellung dieser 
Preisaufgabe so formulieren: „Sprechen anatomische Grundlagen 
für das Angeborensein der Heterosexualität?‘“ Das ungleich grössere 
Material, das uns hier zur Verfügung steht, lehrt uns selbst bei einem 
nur oberflächlichen Studium sofort, dass nie ein idealer Durchschnitts- 
typ „Mann“ oder „Weib“ geliebt wird, sondern eine bestimmte 


28 Arthur Weil. [6 


Gruppe oder eine einzige von körperlichen oder seelischen Eigen- 
schaften, die oft in Dysharmonie zu dem äusseren Genitale stehen. 
Ja, der Träger eines Phallus kann ibei Anorchie in seiner Erschei- 
nungsform und in seinem seelischen Empfinden ganz feminin sein, 
und trotzdem bezeichnen wir ihn, wenn er eine Frau liebt als 
„heterosexuell“. Dies möge genügen, um zu beweisen, dass der 
Begriff „Geschlecht“ für uns bis jetzt immer mit „äusserem Geni- 
tale‘ synonym war. 

Der Schwierigkeit einer schematischen Klassifizierung in zwei Menschen- 
gruppen nach der Triebrichtung waren sich auch imner diejenigen Forscher 
bewusst, die über ein grösseres Material verfügten, vor allem Krafft-Ebing 
und Hirschfeld. Der erstere stellte die Untergruppe auf: Psychische Herma- 
phrodisie —= Bisexualität; Homosexuale oder Urninge — Triebrichtung auf das 
gleiche Geschlecht, alle sonstigen Eigenschaften männlich; Effeminatio = homo- 
sexuelle Triebrichtung verbunden mit weiblichem Gefühlsleben; Androgynie = 
Effeminatio verbunden mit körperlichen Geschlechtsmerkmalen des anderen 
Geschlechts (12). — Hirschfeld teilt ein nach persönlicher Eigenart, nach der 
Triebrichtung (ältere oder jüngere) und nach der Triebbetätigung. Auch er 
definiert den Begriff ‚Geschlecht‘ nicht näher, sondern definiert: „Von Homo 
sexualität reden wir also nur dann, wenn bei einem Manne oder einer Frau 
die von einer Person desselben Geschlechts ausgehenden distantiellen Sinnes- 
eindrücke (besonders die Gesicht und Gehör betreffen) als Lust, die durch 
sie bewirkten proximalen Reize (der Kontakt) als höhere Lust, die von ihr 
ausgelösten genitalen als höchste Lust empfunden werden“ (13). 


Wenn ich selbst daran gehe, die von mir untersuchten Homo- 
sexuellen zu klassifizieren, so kann es im Binne dieser Arbeit nicht 
nach psychosexuellen Momenten geschehen, sondern nur von körper- 
lichen Gesichtspunkten aus. Ich möchte hier nach meinem Material 
3 grosse Gruppen unterscheiden: 


1. Personen männlichen Geschlechts, die ausgesprochen weib- 
liche sekundäre Geschlechtsmerkmale zeigen: Brustbildung, breite, 
weibliche Hüften- und Beckenbildung, kleine Hände und Füsse, 
zarten Skelettbau, reichliches Wachstum des (Haupthaares bei fehlender 
Körper- und Gesichtsbehaarung. — Von den bisherigen Beobachtern 
wurde auch Haarlosigkeit, dreieckige Pubesbehaarung, hohe Stimme, 
hohe Stimme mit unentwickeltem Kehlkopf, Fettansatz an den Hüften 
bei Penis- und Hodenträgern als weibliche Geschlechtsmerkmale ge- 
deutet. Ich kann mich dieser Anschauung nicht anschliessen, sondern 
bezeichne sie entsprechend Tandler und Gross (14) als 
„eunuchoid“ (in diesem Falle synonym mit infantil = fehlende männ- 
liche Entwicklung), da wir ja aus heute nicht mehr umstrittenen 
Tatsachen wissen, dass Verlust. oder Unterentwicklung der Testes 
dieselben Körpermerkmale bedingt, dass sie also Ausfallserschei- 
nungen oder Entwicklungshemmungen sind, die man nicht wie die 


T) Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 29 


unter dem Einfluss der Ovarien sich ausbildenden Brüste oder 
die breiten Becken als „feminin“ bezeichnen kann. Nimmt man 
allerdings eine potentielle bisexuelle Anlage auch des Somas an, 
so kann man diese Ausfallserscheinungen als „weiblich“ deuten, als 
Hervortreten bis dahin durch die Testesinkretion unterdrückter 
femininer Körpermerkmale. Durchaus unnötig ist es aber, in diesen 
Fällen das Postulat eines besonderen weiblichen Inkrets aufzustellen, 
da ja bei der Annahme dieser somatischen Bisexualität das Auf- 
treten von femininen Körpereigenschaften dann ungezwungen erb- 
biologisch erklärt werden kann. 

2. Die grösste Zahl der Homosexuellen gehört der zweiten 
Gruppe an; sie zeigen alle mehr oder weniger stark gemischt die 
oben erwähnten ‚„eunuchoiden“ Merkmale: fehlende Behaarung des 
Stammes, oft auch des Gesichtes, dreieckige Pubesbehaarung, hohe 
Stimme, schlankes Skelett, schwache Muskulatur; Fingerglieder und 
Zehen sind oft von einer übermässigen Schlankheit und Länge, die 
aber durchaus nicht feminin ist, sondern typisch eunuchoid, d. h. 
bedingt durch ein Überwiegen der nicht, oder nicht rechtzeitig 
durch die Testes gehemmten Hypophysentätigkeit. Auch sonst ge- 
hören sie oft jenem Typus an, den eine amerikanische Schule als 
den „hypophysis tropism‘ bezeichnet, die im Aufbau schlanke Form 
mit fehlender Körperbehaarung, rundlicher Linienführung und Fett- 
ansatz an den Hüften. In diesem Zusammenhange ist vielleicht die 
Äußerung eines Endokrinologen interessant, der mir berichtete, 
dass er bei diesem Typus unverhältnismässig häufig sexuelle Inversion 
gefunden habe (15). — Konstitutionell gehört diese Gruppe über- 
wiegend dem asthenischen Habitus an. Derjenige, der sich gewöhnt 
hat, auf solche Dinge zu achten, erkennt sie leicht an der überdurch- 
schnittlichen Körpergrösse, einer schlanken Figur, schmalen Schultern 
und der typischen Gesichtsform, die Kretschmer so gut in Bildern 
und Beschreibungen herausgeschält hat. Ich fand unter den 360 
Homosexuellen kaum 3 ausgesprochene Pykniker, häufiger war der 
athletische Einschlag; doch möchte ich hier auf genauere Zahlen- 
angaben verzichten, da Mischformen zu häufig waren. — Charakte- 
ristisch ist für diese zweite Gruppe die eunuchoide Längenproportion, 
auf die Weil zuerst hingewiesen hat, und die vom innersekretori- 
schen Standpunkte aus gedeutet darauf hinweist, dass entweder die 
Keimdrüsenfunktion bei gesteigertem Längenwachstum verspätet ein- 
gesetzt hat, oder dass die Hypophyse (und bestimmte damit im Zu- 
sammenhange stehende Gehirnzentren?) bei normaler Keimdrüsen- 
funktion ‚eine Zeitlang das Übergewicht hatten. Für solche inner- 
sekretorischen Störungen, die sich hier nach aussen hin in den 


20 Arthur Weil. [8 


Wirkliche Gynäkomastie fand ich unter 380 Fällen nur 'etwa 5 mal. 
Dagegen sind Hüftbreite, Schulterbreite, Standlänge, Ober- und Unter- 
Homosexuellen abweichend von dem grossen Durchschnitt der Hetero- 
sexuellen ist, dass sie eine erhöhte Hauttemperatur, also eine ver- 
änderte Reaktion der Vasomotoren zeigen oder — allgemein —, dass 
sie häufig dem Typus des ‚„Neurasthenikers‘ angehören. Für den 
eunuchoiden Einschlag spricht ferner die Tatsache, dass viele Homo- 
sexuelle dieser Gruppe noch um die Mitte der ‚dreissiger Jahre ein 
jugendliches Aussehen zeigen mit dem typischen faltenlosen und 
haarlosen Gesicht. | 

3. Die dritte Gruppe schliesslich kann man als „normale“ Männer 
bezeichnen, d. bh sie haben weder in ihren ‚Körperproportionen noch 
in der Körperbehaarung, der Muskulatur und der Skelettbildung eunu- 
choide oder feminine Einschläge. Was das psychosexuelle Verhalten 
anbelangt, so fand ich unter ihnen relativ oft, Transvestiten und Homo- 
sexuelle, deren Ideal der ältere Mann war, der in seinem Idealtypus 
sehr oft dem Vater, dem ersten Lehrer oder sonst irgendeiner ver- 
ehrten Person aus der Jugendzeit ähnelte. 

Diese dritte Gruppe schaltet selbstverständlich für die Beant- 
wortung der Frage nach angeborenen anatomischen Grundlagen 
der homosexuellen Triebrichtung aus; bei ihnen das Vorhandensein 
eines weiblichen Inkrets anzunehmen würde allen Grundlagen der 
Lehre von der inneren Sekretion widersprechen, da doch im Körper- 
bau nichts Weibliches vorhanden ist, und da wir doch geradegglen 
Einfluss der Inkrete auf das Soma aus ihrer Wirkung auf die Körper- 
zellen erschliessen. Auch bei der zweiten Gruppe kommt man un- 
gezwungen mit der Annahme einer 'Ausfallserscheinung (Hemmung 
oder Verspätung) von seiten der Keimdrüse oder einer vermehrten 
Hypophysentätigkeit zur Zeit der Pubertät aus. Dagegen kann man 
bei der ersten Gruppe vielleicht die Hypothese von. dem Vorhandensein 
eines weiblichen Keimdrüsenäquivalents aufstellen, ohne dass bis jetzt 
aber, abgesehen von den Fällen von Pseudohermaphroditismus, bei 
denen aber meistens in bezug auf die Keimdrüse Heterosexualität 
vorlag, der Nachweis einer weiblichen Keimdrüse bei äusserlich 
männlichem Genitale (Phallus) gelungen wäre. 

Wenn die von mir aufgestellten Häufigkeitsgruppierungen Be- 
weiskraft haben sollen, so müssen sie zahlenmässig belegt werden, 
besonders wichtig aber ist der Nachweis, dass sie bei heterosexueller 
Triebrichtung nicht in derselben Häufigkeit vorkommen. Für die 
weiblichen Eigenschaften der Gruppe 1 wird dieses nur für Becken- 
form und Hüftbreite möglich sein; die Diagnose „weibliche Brust- 
bildung“ wird in den meisten Fällen immer etwas subjektiv sein. 


9] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 31 


Wachstumsänderungen offenbaren, spricht auch die von Hirsch- 
feld angeführte Beobachtung (16), dass die nervöse Erregbarkeit. bei 
länga der exakten Messung zugänglich, und nach dem Vorbilde von 
Weil (17) benutzte ich darum diese Messungen, um nach ihrer 
variationsstatistischen Verarbeitung daraus Schlüsse auf die Ver- 
teilung innerhalb der ‚verschiedenen Gruppen ziehen zu können. 
Gegen die Untersuchungen des letzteren sind von verschiedener Seite 
Einwände erhoben worden. Bonhöffer und Forster (18) be- 
mängelten die kleinen Zahlen (80 bei der ersten ‚Publikation), 
Biedl (19) wollte die zugrunde gelegten Masse der Oberlänge als 
Entfernung vom Scheitel bis zum Ende der Wirbelsäule als veraltet 
nicht anerkennen; Peritz (20) machte zwar keine Einwendungen 
gegen die Untersuchungsergebnisse, wollte diese aber nicht im 
Sinne einer bisexuellen Anlage, sondern als Status thymo-Iymphaticus 
gedeutet haben, und schliesslich behauptete Romeis (21), dass die. 
Auswahl Weils einen besonderen Einfluss auf die Untersuchungs- 
resultate gehabt hätte. Die von Mair und Zuttan den Weilschen 
Befunden geübte Kritik ist wegen der geringen Anzahl der Fälle 
(sechs) nicht berücksichtigt. 

Um allen diesen Einwänden gerecht zu werden, schloss ich mich 
in der Untersuchungstechnik zunächst eng an die von Martin (22) 
gegebenen Vorschriften an und arbeitete mit Anthropometer und ` 
Stangenzirkel. Als Schulterbreite wurde die Entfernung zwischen 
den beiden Akromien gemessen (Mass Nr. 35), als Hüftbreite die 
Entfernung zwischen den grossen Rollhügeln (Trochanterbreite 
Nr. 42), als Unterlänge die Höhe des oberen Symphysenrandes über 
dem Boden (Nr. 6) und schliesslich als Oberlänge .die Differenz 
zwischen Stand- und Unterlänge. Um den Einwand der zu kleinen 
Zahlen zu entkräften, wählte ich als normale" Vergleichszahlen 
die von Weise (23) niedergelegten Untersuchungsbefunde an 
1000 Männern, bei denen absichtlich insofern ein Fehler eingeschaltet 
ist, als er dabei nicht die Triebrichtung analysierte, sondern auch 
die darunter befindlichen Homosexuellen als „normal“ aufführte, 
so dass Abweichungen bei rein homosexuellen Untersuchungen von 
diesen Werten noch grössere Beweiskraft zukommt, als wenn man, 
wie Weiles zuerst tat, nur rein heterosexuelles Material wählt. Ich 
verdoppelte die zuletzt von diesem veröffentlichten Zahlen und glaube 
mit 380 Personen ein für solche Untersuchungen genügendes Material 
herbeigetragen zu haben, das ich wahllos nahm, wie die Sprechstunde, 
das tägliche Leben, Versammlungen und Vereine es mir boten, so 
dass wohl auch der Romeissche Einwand damit hinfällig sein 
dürfte. 


32 Arthur Weil. [10 


Was die statistische Bearbeitung der gewonnenen Masse anbelangt, so habe 
ich mich dabei vor allem an die von Johannsen (24) in die biologischen 
Wissenschaften eingeführten Grundsätze gehalten und an die von Collier (25) 
verlangten und von anderen Forschern bei ähnlichen Untersuchungen be- 
rechneten Konstanten. — Ich habe vor allem auch die von Weise benutzten 
Berechnungsarten und Kurvenaufstellungen berücksichlig, um so Vergleichs 
werte mit seinen „Normal‘zahlen zu erlangen. 


Es wurden berechnet: 


1. Der Mittelwert M = A — b. A = Variantenklasse mit höchster Frequenzzahl, 


b= en wobei p die Differenz je zweier in bezug auf A symmetrischen 


Variantenklassen ist, a die Abweichung je zweier solcher Klassen von A. 
n ist die Anzahl der untersuchten Personen. 





2. Das Galtonsche Quartil Q = ds > dı , Wobei q, und q, die dritte und erste 


Viertelgrenze einer Aufzählungsreihe bedeuten. Die Auffassung über den 

variationsstatistischen Wert dieser Grösse ist nicht ganz einheitlich; sie lässt 

aber einen Vergleich über die Zuverlässigkeit der einzelnen Messungen zu. 
Q 100 


3. Der M-Quartilkoeffizient — "TV: 


4. Die Mediane als Hälftegrenze der Aufzählungsreihe der nach Varianten- 
klassen geordneten Frequenzen. 


nn 
5. Die Standardabweichung o = ay že“ — bi 


6. Der Variationskoeffizient wv nn 
5 a nae hei 
7. Der Korrelationskoeffizient = Spaz: ay —n:bz'by 
nox Oy 
8. Die mittleren Fehler für M, o und V-mm= + ee my = = 
Yn Y2n Y2n 


Die unter (8) angegebene Berechnungsformel für den Korrelationskoeffi- 
zienten wurde nur für die Korrelation Ober/Unterlänge zu Schulter/Hüftbreite 
angewandt, während für die Korrelation der Standlängen zu Ober/Unterlänge 
einerseits und Schulter/Hüftbreite andererseits die folgende Berechnungsweise 
angewandt wurde: Die Standlänge wurde in Variationsklassen von je 5 cm ein- 
geteilt, die zu jeder Gruppe gehörigen entsprechenden Proportionen heraus- 
gesucht und aus der Summe der so für die einzelnen Gruppen gefundenen Werte 
das arithmetische Mittel berechnet. 


Ich lasse zunächst in Tabellenform die gefundenen Werte folgen, denen 
ich die von Weise mitgeteilten Zahlen gegenüberstelle; eine Diskussion der 
Ergebnisse wird später folgen. 


11] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 33 








Tabelle I. | 

Schulterbreite. 
= Anzalıl der Fälle Prozentzahlen 
c 

Homosexuelle | Heterosexuelle | Homosexuelle | Heterosexuelle 

32 l i — 0,3 | = 
38 3 | = 0,8 | = 
34 4 y d 1,1 0,2 
35 , 17 24 4,7 | 24 
36 37 | 76 10,2 | 7,6 
37 59 | 151 16,8 351 
38 89 | 182 24,5 | 18,2 
39 57 | 162 15,6 16,2 
40 63 | 201 17,4 20,1 
41 25 | 124 6,9 12,4 
42 6 Ä 49 17 4,9 
43 2 | 20 0,5 | 2,0 
44 — | 9 —_ 0,9 


erbreite. 


983 Homosexuelle 
— = =... 1000 Heterosexuelle 
Ordinate = Prozente 
Abszisse = Schulterbreiten 


461 Frauen nach Weissenberg. 





årehiv für Frauenkunde. Bd. X. H, 1⁄2. 3 


34 Arthur Weil. [12 


Tabelle Il. 
Hüftbreite. 









Anzahl der Fälle Prozentzahlen 


Homosexuelle | Heterosexuelle Homosexuelle Heterosexuelle 





28,3 
11,1 


3,1 
0,2 
0,4 


Hüftbreite. 


376 Homosexuelle 
1000 Heterosexuelle 
Ordinate = Prozente 
Abszisse = Hüftbreiten. 





Mhet. M nhos. 


13] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborenscin der Homosexualität? 35 


Tabelle Il. 


Konstanten der Schulter- und Hüftbreite. 








|  Schulterbreite Hüftbreite 
Homo- Hetero- | Homo- Hetero- i 
sexuell sexuell sexuell sexuell 
cm cm 
Mittelwert i 81,41 
und mittlerer Fehler . + 0,05 
Quartil . .... 1,268 
M Quartilkoeffizient . 4,03 | 
Mediane . —— 31,81 
Standardabweichung . + 1,583 
und mittlerer Fehler . + 0,035 
Variationskoeffizient.. 9,04 
und mittlerer Febler . + 0.159 
Differenz. d. beid.Mittelwerte 0,81 Ke 0,11 | 0,85 e + 010 
| 


Tabelle IV. 
Standlänge. 


Zahl der Fälle 
Homosexuelle | Heterosexuelle 


Prozentzahlen 








Homosexuelle | Heterosexuelle 
















Anzahl d.Fälle 378 1000 


150/155 6 | 19 1,6 | 1,9 
156/159 10 81 2,6 | 8,1 
160/163 25 172 6.6 | 17,2 
164/167 56 277 14,8 27,2 
168/171 92 243 24,4 24,8 
172/175 82 132 21,7 13,2 
176/179 60 56 15,9 | 5,6 
180/183 27 15 7,1 ! 1,5 
184/187 5 4,5 | 0,5 
188/190 0,8 | Ss 


3* 


36 | Arthur Weil. [14 


Standlängen. | 

















nn 376 Homosexuelle 
— — 1000 Heterosexuelle 


Ordinate = Zahl in Prozenten | 
Abszisse = Länge in cm. | 


im mmın.m 563 Frauen 
nach Weissenberg. 











Tabelle V. 

i _ 100x Unterlänge, 

Verhältnis der Ober- zur Unterlänge p = — Oberlänge 

— Zahl der Fälle Prozentzahlen 

S Homosexuelle | Heterosexuelle | Homosexuelle | Heterosexuelle 
i 
87/93 5 29 1,4 | 2,9 
94/97 6 97 1,7 9,7 
98/101 28 170 7,8 | 17,0 
102/105 8 259 22,3 25,9 
106/109 95 225 26,4 | 22,5 
110/113 83 141 23,1 14,1 
114/117 87 | 57 10,3 | 5,7 
118/121 15 | 16 4,2 | 1,6 
122/125 9 7 2,5 0,7 
126/127 1 | — 0,3 | — 





Zahl d. Fälle | 360 | 1000 


15] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 37 













=. 360 Homosexuelle 
— 1000 Heterosexuelle 





Ordinate = Prozente 
Abdszisse = p = Unter- 

länge in Prozenten der 
Oberlänge. 





— — a — 
85 90 95 100 105 110 115 120 122.5 125 
M het M hos. 
Tabelle VI. 


100 x Hüftbreite 


Verhältnis der Schulter- zar Hüftbreite. p = -Schulterbreite ` 





Zahl der Fälle Prozentzahlen 


Homosexuelle | Heterosexuelle | Homosexuelle Ä Heterosexuelle 


1,1 2,7 
1,7 7,0 
7,2 19,3 
17,0 Ä 26,0 
27,2 | 23,1 
24,5 13,9 
10,6 | 5,8 
8,3 2,4 
2,5 | 0,3 


Zahl d. Fälle 


38 Arthur Weil. [16 


Schulter-:Hüftbreite. 


360 Homosexuelle 
nu = = 1000 Heterosexuelle 


Ordinate = Prozente. 
Abszisse = p-Hüftbreite in 
Prozenten der Schulterbreite. 





Tabelle VI. 


Me Konstanten der Standlänge und der Proportion Über: Unterlänge. 
(Unterlänge in Prozenten der Oberlänge.) 

















Standlänge DW Oberlange Unterlänge 
Homo- | Hetero- Homo- Hetero- 
sexuell sexuell sexuell 














Mittelwert 


und mittlerer Feliler . + 0,19 
Quartil . . 2... 4,145 
M Quartilkoeffzient . 3,857 
Standardabweichung . + 6,007 

und mittlerer Febler . + 0,134 


Variationskoeffizient.. 
und mittlerer Fehler . 


Differenz der beiden Mittel- 
werte 


17] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 39 


Tabelle VIIL. 


Die Konstanten der Proportion Schulter-: Hüftbreite (Hüftbreite in Prozenten der 
Schulterbreite). 








Homosexuel! 





Mittelwert . . : 2 2 2 200. 84,19 


81,12 

und mittlerer Fehler . . . . . . + 0,24 + 0,14 
Quartilli.. .... . 3,256 3,063 
M Quartilkoeffizient . . . . 2... 3,868 3,775 
Mediane . . . De en a 84,05 = 80,86 
SEN, | + 4,576 | + 4,449 

und mittlerer Fehler . , = + omi | 4 0,102. 
Variationskoeflizient . . . . . . . 5,443 | 5,484 

und mittlerer Fehler... . .. 4 0,208 + 0,122 
Differenz der beiden Mittelwerte . . 3,07 + 0,267 
Korrelationskoeffizient (Korrelation ``“ 

zwischen Proportion Schulter/Hüfte | 

und Ober-/[Unterlänge . . . . . — 0,0150 Ä — 0,0349 


l 
l 376 Homosexuelle 
i „1000 Heterosexuelle 


91 Med. Med. SA Falle 





Ober-:Unterlänge. 





3 360 Fälle 
1000 . 


40 Arthur Weil. [18 


Tabelle IX. 


Reduzierte Verteilungstafel für die Proportionen Schulter-: llüftbreite und 
Ober-: Unterlänge. 


1. 360 Homosexuelle. 
86,5 | 93,5 97,5 101,5 [105,5 | 109,5 | 118.5 | 117,5 : 121,5 | 126,5 
98,5 : 97,5 |101,5 | 105,5 | 109.5 118,5 -| 117,5 121,5 126,5 | 180,5 
i | , | 


1 t i 
| | | | 


Spielraum 














s-5| - — '- la! - EIER 
GT ENEE E E ENEE 
| ar 22 1) — 
185—815] — ~ 7:9 | ou on sl. 
815—845 | 1 2. 5 2| B ann nl: 
84,5-87,5| 1 | 2 mi S 20 10 3 $.: == 
87,5—90,5 | — 2 3 ll 8 4 — 2: = 
90,5—98,5 2 | 519 ı 2 1| ı 
93,5—96,5 "g 


l 
EE E Ee EE 9 1 


2. 1000 Heterosexuelle. 











86,5 | 93,5 | 97,5 101,5 |105,5 ees 113,5 117,5 121,5) $ 
Spielraum | — Be re — — — — — 

93,5 | 97,5 | 101,5 | 105.5 109,5 118,5 117,5 [121,5 |1265] ġ 

— — — ñ— 

| 2 4 | Ian 38 Ä Br e 
12,5—75,5 "now mm ni m 
75,5—78,5 | 12 an oli | — 19 
we el 2 
81,5—84,5 men em 
84,5- 87,5 nn a sn 5, 8j 1 Im 
87,5—90,5 | Ä Bi., 5, 1 o — — >» 53 
0585| — | e oe 4a ı -I- B 
98,5—965 | E 1 — — — — — 8 


| | | 
| ee 225 | 141 | 57 | 16 7 | 1000 


19] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 41 


Tabelle X. 
Korrelationen der Standlänge zu a) Ober-: Unterlänge, b) Schullter-: Hüftbreite. 


1. 392 Homosexuelle, 















Durchschnittszahlen Zahl 
Standlänge der zugehörigen 
— See der | Prozente 
am Längen- | Breiten- Fälle 
proportionen proportionen 














147,5/152,5 150 (103,5) 2 0,5 
152,5/157,5 155 105,5 106 28 
157,5/162,5 160 % 1. 106,2 86 4 ` 6l 
162,5/167,5 165 107,2 83,5 68 174 
167,5/172,5 170 I. 108,5 88,5 115 29,4 
172,5/177,5 175 108,0 85,5 97 | 247 
177,5/182,5 180 \ III. 111,4 85 48 | 122 
j 
182,5/187,5 185 111,3 87 24 OI 
187,5/192,5 (123,1) 3 08 
Mittel . . a. 1083 84,6 
2. 91 Heterosexuelle. 
Durchschnittszahlen Zahl 
Standlänge der zugehörigen 
EEN der Prozente 
er Längen- | Breiten- Fälle 
proportionen  proportionen 
4 | 0,3 
32 3,5 
15 | 192 
283 31,0 
266 29.1 
123 | 134 
26 2,8 


8 0,9 


42 


Arthur Weil. 


Korrelation zwischen 
Standlänge und Längenproportionen. 





Korrelation zwischen Standlänge und Breitenproportionen. 


Standlängen und Proportion Schulter-:Hüftbreite. 
— 
Be 
— 







155 160 165 170 15 180° 185cm 


[20 


` em — —— —— 


21] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 43 


Die Deutung der gefundenen Zahlen. 


Mit der Einführung variationsstatistischer Auswertungen grosser 
Massenuntersuchungen hat sich in der medizinischen Wissenschaft 
allmählich eine Wandlung des Begriffes „Norm“ vollzogen. Während 
man vor dieser Periode darunter das empirisch gefundene arith- 
metische Mittel aus vielen Einzeluntersuchungen verstand, gehen 
wir jetzt immer mehr dazu über, eine bestimmte Variationsbreite, 
das Mittelstück einer aus der Einreihung der einzelnen Befunde in ein 
Ordinatensystem gebildeten Kurve synonym mit diesem Begriff zu 
setzen. Ja, viele Forscher lassen den Begriff der Norm" über- 
haupt fallen und verzichten damit bewusst auf die Möglichkeit ver 
gleichender Untersuchungen. Wenn wir bei der Beantwortung der 
vorliegenden Aufgabe denselben Standpunkt einnehmen wollten, wäre 
die Lösung der Frage unmöglich, denn wie sollte man bei Homo- 
sexuellen nach angeborenen körperlichen Abweichungen forschen 
können, wenn wir nicht wissen, was das „Normale“ bei dem hetero- 
sexuell Empfindenden is. Um diese Schwierigkeit zu umgehen, 
habe ich es bei der Verarbeitung des vorliegenden ‚Materials ver- 
mieden, von einem bestimmten Durchschnitt als Norm auszugehen ; 
ich habe die Arbeitshypothese benutzt, dass heterosexuelle Männer 
einerseits und homosexuelle andererseits zwei voneinander ver- 
schiedene, aber untereinander gleiche und einheitliche Typen seien; 
ich habe nur diese beiden Typen als Gesamtheit miteinander ver- 
slichen und untersucht, ob die Verschiebung der Verteilungskurven 
gegeneinander, die Abweichungen der verschiedenen in den voran- 
segangenen Tabellen niedergelegten Konstanten voneinander gross 
genug sind, um überhaupt von einer Verschiedenheit der beiden 
Typen in bezug auf die zugrunde gelegten Masse sprechen zu können. 


Ein Blick auf die beigegebenen Tabellen und Kurven zeigt ` 
schon, dass der Typus „Homosexuell“ und der ‚„heterosexuelle“ 
deutlich voneinander verschieden sind. Die weitere Frage ist jetzt, 
ob diese Verschiedenheiten gross genug sind, um die Behauptung 
zu rechtfertigen, dass hier zwei ihrem körperlichen Aufbau nach ver- 
schiedene Menschengruppen vorliegen. Ein wichtiges Kriterium zur 
Feststellung der Verschiedenheiten zweier „Populationen“ ist die 
Differenz der Mittelwerte voneinander. Gestützt auf Collier (25) 
kann man eine solche Verschiedenheit annehmen, wenn nach Hinzu- 
fügen des mit 3 multiplizierten mittleren Fehlers die Differenz 
zwischen den Mittelwerten noch bestehen bleibt; schwieriger ist 
es schon zu entscheiden, ob wirkliche Verschiedenheiten vorliegen, 
wenn bei dieser Operation die Grenzen der wahren Mittelwerte in- 


44 Arthur Weil. [22 


einander übergehen. — Um die Vergleichsmöglichkeiten noch besser 
zu gestalten, liess Galton die extremen Abweicher überhaupt 
unberücksichtigt und verglich nur die Mittelstücke der Kurven, 
das 2. und 3. Viertel miteinander. Die hieraus berechneten Werte 
Quartil, Mediane und M-Quartilkoeffizient können zu Vergleichen 
benutzt werden, doch legt man ihnen neuerdings kein grosses Ge- 
wicht bei, da ja die eine Hälfte der gefundenen Werte überhaupt 
nicht berücksichtigt wird. Wertvoller sind die nach den Auf- 
zählungsreihen konstruierten Ogiven, aus deren Verlauf nan be- 
stimmte Schlüsse auf Verschiedenheiten ziehen kann. — Die Fehler 
der Quarilzahlen vermeidet man bei der Berechnung der Standard- 
abweichungen, durch die man beiderseits von den Mittelwerten 
einen Kurventeil erhält, den man als „Norm“ ansprechen kann, 
und der noch besser als der Teil der Ogive zwischen q, und q, zu 
Vergleichsurteilen herangezogen werden kann. 


Von diesen Gesichtspunkten ausgehend sollen jetzt die einzelnen 
berechneten Werte miteinander verglichen werden. 


1. Die Standlänge.! 


Nach Hinzufügen des mit 3 multiplizierten mittleren Fehlers 
des Mittelwertes reicht das Gebiet des homosexuellen Typus von 
169,6 cem-—171,8 cm, des heterosexuellen von 166,6 cm— 167,6 cm, 
die kleinste Differenz zwischen beiden wäre also 2 cm, ein Wert, 
der ausserhalb der Fehlergrenze der Messapparate und der persön- 
lichen Fehler der Untersucher lieg. Nimmt man 167,6 em als 
Plusgrenze der so herausgruppierten Population „heterosexuell“ an, 
dann wären nach den nicht reduzierten ursprünglichen Listen (wegen 
ihres Umfanges nicht im Original veröffentlicht) 69,2% der Homo. 
sexuellen und 3906 der Heterosexuellen jenseits dieser Norm- 
grenze. — Nach Hinzufügen der Standardabweichungen mit ihren 
mittleren Fehlern geht das Gebiet der Homosexuellen von 163 bis 
178 cm, das des heterosexuellen Typus von 161—173 cm. 
Jenseits der heterosexuellen Plusgrenze liegen dann 38,6% Homo- 
sexuelle und 12,70% Heterosexuelle --- oder mit anderen Worten: 
die Population „homosexuell“ enthält dreimal so viel Individuen, die 
jenseits der Standardabweichung liegen als die Population „hetero- 
sexuell“. 25,9%, also rund 1/, aller homosexuellen Standlängen 
liegt danach überhaupt ausserhalb der heterosexuellen Variations- 
breite. 


23) Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 45 


Der besseren Übersicht halber stelle ich diese Zahlen mit den ent- 
sprechenden der anderen Masse in einer Tabelle zusammen: 





Be nad tn - — rmſſm — 











Standlänge Längenproportion 
Homo- ` Hetero- Homo- | Hetero-' 
sexuell sexuell sexuell sexuell 





Mittelwert mit dreifachem 169,6 | 166,6 107,3 104,2 
mittlerem Fehler — | — — — 
171,8 | 167,6 109,2 105,3 
Mittelwert plus Standard- 163 161 102 99 
abweichung mit mitt — | = — — 
lerem Fehler 178 | 173 115 111 
Jenseits des Mittelwertes | 
der Heterosexuellen 69,2°/0 | 39°/o 66,8°/0 44,6°/o 
Jenseits der Plus-Standard- 
abweichung der Hetero- | 
sexuellen 38,6% | 12,7°/o 26,2% 13°, o 
| 





Schulterbreite Hüäftbreite 

















Homo- | Hetero- 
sexnell | sexuell 


Hetero- 
sexuell 


Homo- | Hetero- | Homo- 
sexuell | sexuell | sexuell 



























Mittelwert mit dreifachem | 37,9 38,8 32,0 31,3 83,5 80,7 
mittlerem Fehler — — Se, "ae — — 
38,5 89,2 32,5 31,6 84,4 81,5 

Mittelwert plus Standard- | 36,3 37,1 30,3 29,8 79,5, 76,6 
abweichung mit mitt- — — — — — — 
lerem Fehler 40,1 40,9 84,2 33,0 89,0 85,7 


Jenseits des Mittelwertes 
‚ der Heterosexuellen 






1) 42,1%|1) 56,5%] 64,6% 44,8%] 73,1% | 45% 


Jenseits der Plus-Standard- 
abweichung der Hetero- 
sexuellen 





') 9,1°/0|') 20,2%, 39,2%/0| 16,8% 


Die Korrelation zwischen Längen- und Breiten- 
proportion. 

Zwischen diesen beiden Proportionen besteht nach den durch- 

geführten Berechnungen keine Funktion, da die beiden Werte homo- 

sexuell = —-0,015 und heterosexuell = —-0,0349 zu klein sind, dh 


26,4%) 10,4°« 


ı) Der Homosexuellen. 


46 Arthur Weil. [24 


zu sehr von 1 abweichen. Auch aus den beiden mit angeführten 
reduzierten Tabellen IX, 1 und 2 geht dies Fehlen einer Funktion 
hervor, da die Längenproportionen 'nicht mit zunehmenden Breiten- 
proportionen anwachsen und umgekehrt. 


Die Korrelationen zwischen den Standlängen und 
Längenproportionen. 


Die Kurve Nr. VIII wurde folgendermassen gewonnen: In ein 
Ordinatensystem mit den Standlängen als Abszisse und den prozen- 
tualen Längen der Unterlängen als Ordinate wurden die Werte für 
die einzelnen Gruppen der Tabellen X und XI eingetragen. Dann 
wurden drei neue Gruppen gebildet I = 155 cm, 160 und 165; 
II =: 170; Ill = 175, 180 und 185 cm. 150 und 190 cm wurden als 
zu grobe Abweichungen nicht berücksichtigt. Aus Gruppe I und lI 
wurden die arithmetischen Mittel berechnet und die beiden so ge- 
fundenen Werte als Punkte eingetragen. Durch Verbindung mit dem 
Koordinatenpunkt der Gruppe II entstand dann eine annähernd 
gerade Linie, von der die anderen Punkte der einzelnen Gruppen 
nur wenig abweichen. Im Vergleich zu der auf demselben Wege 
konstruierten Geraden der heterosexuellen Korrelationen ergibt sich 
aus dem Abweichungswinkel der beiden Geraden voneinander deut- 
lich, dass bei Homosexuellen die Längenproportion eine Funktion 
der Standlänge ist, bei, heterosexuellen dagegen nicht. Der cos « 
des Neigungswinkels der beiden Geraden zueinander ist = 0,863. « 
= 300 20°. 


Korrelation zwischen Standlängen und Breiten- 
proportionen. 


Bis 170 cm besteht weder für Homosexuelle noch Heterosexuelle 
eine Korrelation, erst jenseits 170 cm Standlänge eine geringe, die 
sich aus dem Neigungswinkel der beiden Geraden zur Abszisse 
berechnet für Homosexuelle mit cos a = 0,856 und a = 31° 10°; 
für Heterosexuelle cos a = 0,967 und a —= 14° 40’. Mit anderen 
Worten für die ersteren ist die Funktion dieselbe wie bei den 
Längenproportionen, für die Heterosexuellen dagegen ist die Kurre 
lation nur einhalb so gross. 

Ich habe nun versucht, aus den so gewonnenen ‚Beziehungs- 
zahlen den Anteil des homosexuellen Typus an dem heterosexuellen 
zu berechnen, um so den von Weise absichtlich durch Unterlassung 
einer Psychoanalyse eingeschalteten Fehler wieder auszugleichen 
und die Population „heterosexuell“ reiner zu erhalten. -— Ich stellte 


25] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 47 


die folgende Formel auf, um die einzelnen Werte in Funktion zu- 
einander zu setzen: 

p =x + y (L— 110). 

b =x -4+ y (L — 170). . 
100 x Unterlänge 


Oberlänge 





p ist die Längenproportion = 


; : 100 x Hüftbreite 
b = Breitenproportion = "Schulterbreite “ 


x ist der Mittelwert der Längen-(Breiten-)proportionen, wie er sich aus 
Tabelle X, 1 und 2 ergibt. 
__ Mittel aus Gruppe II—I 


Längenmittel III—I 








So finden wir: 


p (Homosex.) = 108,3 + - — E 





(L — 170) = 108,3 -+ 0,195 (L — 170). 


p (Heteros.) = 104 + 0,03 * — paa 
b (Homos.) = 84,6 + 0,10 (L — 170). 
b (Heteros.) = 81,4 -+ 0,04 (L — 170). 


Geht man nun weiter und setzt voraus, dass bei Hetero- 
sexuellen p keine Funktion der Standlänge ist, dann werden von 
0,027 x 100 

0,195 
Population abzuziehen und der homosexuellen zuzurechnen sein, 
nach den Breitenproportionen sogar 40%, doch müssen wir diese 
letztere Zahl um mehr als die Hälfte verkleinern, da wir ja schon 
ausgeführt hatten, dass jenseits 170 cm auch bei Heterosexuellen 
eine Funktion zwischen Standlängen und Breitenproportionen be- 
steht. Wir würden den wirklichen Wert vielleicht nach der Formel 
40— x 149 40' 

31° 10’ 
14%0 vergleichen mit den auf S. 29 und 30 gefundenen Werten, 
so ergibt sich, dass sie auch gut mit anderen heterogexuellen Ab- 
weichungen von den heterosexuellen Standardwerten übereinstimmt, 
nämlich mit 12,7% der Standlänge, 13% der Längenproportion, 
20% der Schulterbreite und 16,8% der Breitenproportion. Die Ab- 
weichung 44% der Hüftbreite fällt hierbei aus dem Rahmen, doch 
erklärt die hohe Zahl sich aus der Tatsache, dass, wie wir aus 
Kurve IX ersahen, auch bei den Heterosexuellen jenseits 170 cm 
dieses Mass entsprechend der Längenzunahme wächst. 

Nach diesen Ausführungen will ich jetzt versuchen, die Befunde 
des Variationsstatistikers in die Sprache des Biologen zu über 
setzen: 


den Längenproportionen rund = 149), der heterosexuellen 


berechnen können: — 18,7%. — Wenn wir die Zahl 


48 Arthur Weil. [26 


Wenn wir die Mittelwerte der Homosexuellen zusammenstellen, 
Standlänga = 170,7 cm, Schulterbreite = 38,2 cm, Hüftbreite = 
32,3 cm, so sehen wir sogleich, dass er im Verhältnis zum Durch- 
schnittsmanne grösser und schlanker gebaut ist, also sich in den 
Umrissen dem asthenischen Typ einfügt. Als charakteristisch kommt 
hinzu eine Verschiebung der Längenproportionen nach der Seite 
des Eunuchoidismus hin und eine grössere Hüftbreite, so dass bei 
einer geringer differierenden Schulterbreite eine grössere Breiten- 
proportion als beim Heterosexuellen herauskommt. Für die Beant- 
wortung der vorliegenden Frage ist es unwesentlich, wie wir diese Ab- 
weichungen deuten wollen; mit Hirschfeld können wir in der 
breiteren Hüfte und der schmäleren Schulter Abweichungen nach 
der weiblichen Richtung sehen, und, ohne dass wir uns das Vor- 
handensein eines besonderen weiblichen Inkrets zu eigen zu machen 
brauchen, hierin den Durchbruch des weiblichen Anteils der erb- 
biologisch bedingten bisexuellen Anlage des Somas vorstellen. Wir 
können aber diese Abweichungen auch als eunuchoid deuten, da 
wir auch bei Eunuchoidismus breitere Hüften und schmalere Schul- 
tern als beim Durchschnittsmanne finden (Tandler-Grosz, Weil 
u. a.); die grössere Schulter-Hüftproportion entspricht schliesslich 
aber auch kindlichen Formen, da nach Weissenberg bei Knaben 
vor der Pubertät diese Proportion sogar grösser als bei Mädchen ist. 
— Nicht weiblich sind aber die grösseren Standlängen ‚und das ab- 
weichende Verhältnis Ober-: Unterlänge; beide sind Übergänge zum 
asexuellen, eunuchoiden Typ und deuten darauf hin, dass der 
Körper in seiner Entwicklung zum männlichen Standard eine Hem- 
mung erfahren hat, dadurch, dass das Gleichgewicht zwischen Hoden 
einerseits, Hypophyse, Thymus und Schilddrüse andererseits gestört 
wurde, wie es schon im Beginne dieser Arbeit ausführlicher er- 
örtert wurde. aJ | 

Es würde aus dem Rahmen des Ganzen herausfallen, wenn ich 
untersuchen wollte, inwieweit mit diesen somatischen Entwicklungs- 
(Pubertäts-)störungen, die man auch als partiellen Infantilismus 
auffassen kann, die Auffassungen Freuds und seiner Schüler, 
Kronfelds (26 u. 27) u. a. über das Wesen der Homosexualität 
als psychosexuellen Infantilismus in Zusammenhang gebracht werden 
können und Parallele zu ziehen, wie es Weil(7a) jüngst versucht 
hat. — Wir wollen uns hier mit den konstitutionellen Befunden be- 
gnügen. 

Die zweite Frage, die es jetzt zu beantworten gilt, ist die: wie 
kann man aus den gefundenen Werten die zahlenmässige Verteilung 
der Homosexuellen auf die von mir aufgestellten drei grossen Gruppen 


27] Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 49 


berechnen. Wie ich schon ausführte, kommt als weibliches sekundäres 
Geschlechtsmerkmal Gynäkomastie nur in sehr wenigen Fällen vor 
(kaum 2—3%). Nehmen wir breite Hüften als weibliches Merkmal 
an, so fehlen uns leider in’ der Literatur noch umfangreiche, gut 
durchgearbeitete Untersuchungen über die Trochanterenbreite bei 
Frauen. An einem kleinen von mir untersuchten Material fand ich 
folgende Werte: M = 33,45; = ;- 181,m =-+ 0,216. Die Standard- 
breite würde danach sein 31,4—35,5 cm (beim heterosexuellen Mann 
29,8—33 cm; Mittelwert 31,3—31,6). Machen wir nun die Voraus- 
setzung, dass alles, was jenseits des weiblichen Mittelwertes liegt, 
als „weiblich“, zu bezeichnen sei, dann würden 26,4% der Homo- 
sexuellen in bezug auf die Hüftbreite in die erste Gruppe fallen. 

In die 2. Gruppe (S. 29) würden zunächst alle Abweicher in 
- bezug auf die Längenproportionen zu rechnen sein, also 26,2%. 
Grösser wird diese Zahl, wenn man fehlende Körperbehaarung, Fett- 
ansatz an den Hüften, hohe Stimme usw. als eunuchoide Merkmale 
zählt; hier fehlt jede Vergleichsmöglichkeit mit „normalem“ Material 
— eine Lücke, die auszufüllen eine dankbare anthropologische 
Aufgabe wäre. | 

In die 3. Gruppe schliesslich würde der Rest zu rechnen sein, 
also 100— 52,6 = 47,40%. Doch wird diese Zahl dadurch verkleinert, 
dass man die unter den heterosexuellen Typen befindlichen `. homo. 
sexuellen“ zu den beiden ersten Gruppen hinzuzählen muss, also 
etwa 1400 (vgl. S. 46), um so den absichtlich von W eise einge- 
schalteten Fehler wieder auszumerzen. Es würden dann etwa 330% 
Homosexuelle übrig bleiben, die keine Abweichungen von dem hetero- 
sexuellen Standard in bezug auf die angeführten Masse zeigen. 

Wir haben so durch die Aufstellung eines Standardtyps in bezug 
auf die einzelnen Körpermasse die Möglichkeit gewonnen, die ge- 
stellte Frage zu beantworten und müssen zu dem Schluss kommen, 
dass bei mehr als der Hälfte bis zu zwei Dritteln aller untersuchten 
Homosexuellen Abweichungen von der „Norm“ vorkommen, ana- 
tomische Abweichungen, die bedeuten, dass hier eine andere Körper- 
beschaffenheit, eine andere Konstitution vorliegt als bei den hetero- 
sexuell empfindenden Männern. Mit dieser Feststellung ist zugleich 
auch die Frage nach dem Angeborensein beantwortet, denn nach 
unserer Auffassung des Konstitutionsbegriffes beruht alles, was wir 
äusserlich in dem Phänotypus erkennen, auf ererbten, also ange- 
borenen genotypischen Reaktionsmöglichkeiten, Dispositionen. Die 
von Weil in früheren Arbeiten gewählten Mittelwerte waren für die 
erste Formulierung des Problems sehr wertvoll; aus grösseren Unter- 
suchungsreihen hat sich jetzt ergeben, dass sie für genauere Ver- 

Archiv für Frauenkunde Bd. X. H. 1/2. A 


50 Artbur Weil. [28 


gleiche nicht in Betracht kommen. Aber auch die hier von mir 
angegebenen Werte möchte ich nicht als absolute Grössen hin- 
»estellt wissen: nach den von mir abgegrenzten Standardwerten sind 
sie sicher eher zu klein als zu hoch gegriffen, so dass man die Zahl 
der konstitutionellen Abweichungen bei den Homosexuellen mii 
660%% schätzen kann, ohne einen grösseren Fehler zu begehen, be- 
»onders wenn man berücksichtigt, dass unter den 1000 Hetero- 
sexuellen auch noch eine Anzahl homosexuell Empfindender war. 

Mit diesen Feststellungen ist vielleicht den Forschungen über 
ie gleichgeschlechtliche Liebe ein neuer Weg gewiesen worden, 
um die Lösung des Rätsels mit anderen Mitteln zu versuchen -- 
relöst ist es damit noch nicht. Immer noch bleibt es rätselhaft, wie 
selbst bei Voraussetzung einer bestimmten konstitutionellen Anlage 
diese Abkehr von dem anderen und die Zuneigung zu dem eigenen 
Geschlecht erfolgt. Späteren Forschern möge es vorbehalten bleiben, 
diese Brücke zwischen biologischen Tatbeständen und sexualpsycho- 
logischen Befunden zu schlagen. 

Am Schlusse angelangt, möchte ich nicht verfehlen, Herrn Dr. 
H. F. Bottlinger, Observator au der Universitätssternwarte in 
Neubabelsberg für die Überprüfung der angewandten Berechnungs- 
weisen und seine liebenswürdigen mathematischen Ratschläge meinen 
verbindlichsten Dank auch an dieser Stelle auszusprechen. 


Zusammenfassung der Ergebnisse. 


Es wurden bei 1000 heterosexuellen Männern Standardwerte 
für die Körpergrösse, Schulter- und Hüftbreite und Längen- und 
Breitenproportionen berechnet und diese mit den entsprechenden 
Zahlen von 370 homosexuell empfindenden Männern verglichen. 

Für das Angeborensein der Homosexualität sprechen bei einer 
grossen Gruppe, die über die Hälfte aller untersuchten Fälle um- 
fasst, die Abweichungen von den angeführten heterosexuellen 
Körpermassen. 

Das Angeborensein ist in einer bestimmten Körperkonstitution 
zu suchen, die bei etwa einem Drittel als asthenisch-eunuchoid zu be- 
zeichnen ist, und die den Boden bildet, auf dem, unlösbar verknüpft 
mit dem Gesamttemperament, die sexuelle Psyche erwächst. 


Literaturverzeichnis. 


l. Casper: Über Notzucht und Päderastie.e Caspers Vierteljahresbericht 
1852. Bd. 1. 
2. Ulrichs. C. H.: Inclusa. Leipzig 1898, 


29] 


E: 


cl ED Or 


7a. 


10. 
11. 
12. 
13. 
14. 


15. 


16. 
17. 
18. 
19. 


20. 
21. 
22. 


24. 


Sprechen anatom. Grundlagen für das Angeborensein der Homosexualität? 51 


Krafft-Ebing, R. v.: Psychopathia sexualis. Stuttgart 1903. 
Hirschfeld. Magnus: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. 
Berlin 1914. 

Steinach, E.: Archiv für Entwicklungsmechanik. 1920. Bd. 46, 
Benda, C.: Archiv für Frauenkunde und Eugenetik. 1921. Bd. 7. 
Weil, A.: Archiv für Entwicklungsmechanik. 1921. Bd. 49, 
Derselbe: Innere Sekretion. Berlin 1923. 3. Aufl. 

Romeis, B.: Klinische Wochenschrift 1921. Nr. 21. 

Kronfeld, A.: Über Gleichgeschlechtlichkeit. Stuttgart 1922. 
Kretschmer, E.: Körperbau und Charakter. Berlin 1922. 2. Aufl, 
Weil, A.: Archiv für Frauenkunde und Eugenetik. 1922. Bd. 8, 
Krafft-Ebing, R. v.: L c. 5, 249f. 

Hirschfeld, M.: 1. c. S. 305, 

Tardler und Grosz: Die biologischen Grundlagen der sekundären 
Geschlechtscharaktere. Berlin 1913. 

Nach. mündlichen Berichten von Dr. A. S. Blumgarten. 
Hirschfeld, M.: Sexualpathologie. Bonn 1918. Bd. 2. 

Weil, A.: Zeitschrift für Sexualwissenschaft. 1921. Bd. 8, 
Bonhöffer: Deutsche medizinische Wochenschrift 1921. S. 1311. 
Biedl, A.: Verhandlungen der Internationalen Tagung für Sexualwissen- 
schaft. Berlin 1921. 

Peritz: Innere Sekretion. Berlin 1923. 

Martin: Lehrbuch der Anthropologie. Jena 1914. 

Weise, S.: Untersuchungen über die Norm geschlechtsspezifischer Körper- 
proportionen. Dissertation Leipzig 1923. 

Goldschmidt, R.: Einführung in die Vererbungswissenschaft. Leipzig 
1923. 

Collier, W. A.: Einführung in die Variationsstatistik. Berlin 1921. 
Freud, S.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig 1915. 
Kronfeld, A.: Sexualpsychopathologie. Handbuch der Psychiatrie. 
Leipzig 1923. 


4* 


Suggestion und Sexualität. 


Sexual-psychologische Studie 


von 


Dr. E. Bukofzer, Berlin. 


Das Verständnis für die mindere Verantwortlichkeit bei zwangs- 
läufig vorgenommenen Handlungen ist im Publikum allgemeiner ge- 
worden. Während man vor dem Kriege für vorgenommene Verbrechen 
weniger an geistige Defekte dachte, hat man doch jetzt vor Gericht 
viel häufiger den medizinischen Sachverständigen zu Rate gezogen. 
Und mit Recht. Es gibt so viele unbekannte Regungen im mensch- 
lichen Geistesleben, die zu einem Verbrechen Anlass geben können, 
dass mit der Sühne nach dem Buchstaben des Gesetzes unter Um- 
ständen ein juristischer Missgriff getan werden kann. So haben 
einige Prozesse letzter Zeit eine Reihe grausamster Morde und Ver- 
brechen zum Gegenstande der Verhandlungen gehabt. Trotz der kalt- 
blütig und mit Vorbedacht begangenen Taten hat man die Schuldigen 
nur mit geringen Strafen belegt, da man bei den Tätern Sexual- 
störungen in weitestgehendem Masse berücksichtigte.e Man hat also 
den Einfluss des Sexualtriebes für so stark gehalten, dass jedes mora- 
lische Schuldbewusstsein und Zurückschrecken vor der Mordtat aus- 
geschaltet werden konnte. In der Gerichts- und Alltagsmedizin ist 
eine Anzahl von nervösen Erkrankungen bekannt, die auf geistige 
oder körperliche Verhältnisse abnormen Geschlechtssmpfindens zurück- 
geführt werden. Es finden sich zahlreiche Beispiele für die Tatsache, 
dass von anormal Veranlagten Sexualverbrechen entweder direkt oder 
durch Hörige dieser anormal Empfindenden begangen werden. Das 
Hörigkeitsverhältnis führt willenlose Personen oft dazu, sich unbe- 
denklich zum Werkzeug eines Stärkeren zu machen. Wie aus allen der- 
artigen Beobachtungen hervorgeht, ist Suggestion und Sexualleben 
fast untrennbar miteinander verbunden. — Es besteht aber über den 
Grad der Bedeutung. den man der Suggestion zuschreiben kann, grosse 


2] Suggestion und Sexualität. 53 


Meinungsverschiedenheit. Von vielen Autoren wird die Suggestions- 
wirkung als unerheblich bei bereits vorhandener abnormer Veran- 
lagung angesehen. Andere dagegen sind der Auffassung, dass die 
Beeinflussung des Willens gar nicht hoch genug eingeschätzt werden 
kann, und dass Anomalitäten im sexuellen Trieb häufig nur aus einer 
Beeinflussung resultieren. Zur weiteren Klärung der sexuellen Frage 
und zum Verständnis der hervorragenden Bedeutung von Suggestions- 
wirkung im Sexualleben diene eine Betrachtung der Zusammenhänge. 

Kritisch betrachtet ist der Begriff „Suggestion“ schwer zu er- 
klären. Ein Teil der Autoren begrenzt den Begriff eng, andere 
weiter. Erstere verstehen unter „Suggestion“ die mit Bewusstseins- 
einengung einhergehenden pathologischen geistigen Zustände, die auf 
hypnotischem Wege erreicht werden. Letztere erweitern den Begriff 
der Suggestion auf alle Beeinflussungen, auf die man zwangsläufig 
nichts erwidern oder gegen die man sich nicht wehren kann. Diese 
Richtung scheint mir die bessere Auffassung zu haben, obgleich 
sich nicht verschweigen lässt, dass auch sie einige Mängel aufweist. 
So könnte man demnach auf die Idee kommen, jede Beweisführung 
als Suggestionsversuch anzusehen. Das wäre natürlich zu weit ge- 
gangen. Die Begriffserklärung an sich ist deshalb so ungenau, weil 
das Gebiet fast unbegrenzbar ist. Der ersten Auffassung, wie sie 
von Wundt, Berillon, Hirschlaff und anderen vertreten wird, 
lässt sich entgegenhalten, dass eine grosse Reihe von Vorgängen des 
Wachlebens zur Beurteilung des Begriffes Suggestion in Betracht ge- 
zogen werden muss. So gibt es im Sexualleben viele Beweise dafür, 
dass die Suggestion auch ohne Bewirken traumhafter Zustände grosse 
Veränderungen hervorrufen kann. | 

Wenn man also den Begriff Suggestion nicht streng umgrenzt, 
so kann man auch den Begriff Suggestibilität (d. i. der Aufnahme- 
zustand, resp. die Empfangsmöglichkeit für Suggestionen) nicht als 
rein pathologischen Zustand auffassen. Es gibt. Alterationen des 
Körpers, die durch ihr ständiges Vorkommen den Charakter des 
Krankhaften verloren haben. Man kann also Suggestionswirkungen 
mehr physiologischer und pathologischer Natur unterscheiden, je 
nachdem die Einwirkung auf ein Individuum, dessen Ideen- Assoziation 
krass unterbricht, oder nur teilweise und unmerklich in andere Bahnen 
lenkt. Genau genommen ist natürlich der Suggestionszustand patho- 
logisch, aber, wie schon oben erwähnt, ist vielfach die Wirkung ein- 
zelner Suggestionen für uns so alltäglich, dass wir sie nicht als 
abnorm empfinden. 

Zusammenfassend für die Erklärung des Begriffes Suggestion ist 
zu sagen, dass er die Beeinflussung des psychischen Prozesses eines 


54 E. Bukofzer. [3 


Individuums durch irgendwelche Personen oder Umstände darstellt; 
hierbei kann die Schädigung der Willenskraft durch Ablenkung der 
Ideenassoziation oder durch Unterbrechung des Assoziationsweges 
herbeigeführt werden. Letzteres wäre die von einigen Autoren als 
eigentliche Suggestion aufgefasste Hypnosewirkung. Die Aufnahme- 
fähigkeit der einzelnen Individuen richtet sich zum Teil nach dem 
Grade der Intelligenz, sowie der Bildung. Angehörige intelligenter 
Kreise sind häufig durch überfeinerte Kultur ganz besonders zur 
Suggestion geeignet. Auch Fanatismus, Aberglaube u. a. m. spielen 
eine gewisse Rolle. Nicht zum wenigsten ist die Sensationslust ein 
geeigneter Boden für die Suggestion. 


Über den anatomischen Prozess dieses merkwürdigen Bewusst- 
seinsvorganges kann wegen Mangel an positiven Obduktionsergebnissen 
und auch wegen der Symptomenlosigkeit der wenigen untersuchten 
Fälle im allgemeinen nichts gesagt werden. Semon hat in geist- 
voller Weise die Zusammenhänge zwischen Bewusstseinsvorgang und 
Gehirnprozess wissenschaftlich auseinandergesetzt. Auch Schleich 
gab eine Theorie für die anatomischen Vorgänge des Bewusstseins; 
er verlegte die Aufnahmefähigkeit in die linke Hirnhemisphäre, 
während das rechte Hirn das handelnde und überlegende sein sollte. 
Diese Theorie ist jedoch nur ein genialer Versuch, für einen schwie- 
rigen Prozess eine Erklärung zu finden; irgendwelche Beweise für sie 
können anatomisch nicht geführt werden. 


Physiologisch spielt sich die Suggestion so ab, wie jeder psychische 
Aufnahmeprozess: Empfindung, Reizbogen, Ideenassoziation, Handlung. 
Anatomisch wäre der Weg: Rindenerregung des Grosshirns, Assoziations- 
fasern, motorische Zone, Weiterleitung der materiellen Erregung zur 
Peripherie und muskelwärts, Muskelkontraktion. 


Die Suggestion hat (wie schon oben besprochen) einen bestimmten 
Seelenvorgang zur Folge, der beim Geschlechtsleben von grösster Be- 
deutung ist. Es wird in dem suggerierten Geschöpf. die Vorstellung 
einer künftigen Geschlechtshandlung ausgelöst. Ist der Gefühlston 
so ausgeprägt, dass die Vorstellung zum Motiv des Wollens wird, so 
entsteht die Sehnsucht nach Besitz. Bei dem hierauf eintretenden 
Folgezustand kann der leidenschaftliche Charakter vorherrschen, es 
kann aber auch (vulgär ausgedrückt) ein sinnliches Verlangen hervor- 
gerufen werden. Ersteres ist ursprünglich das gleiche Gefühl wie 
das zweite. Es besteht aber ein Unterschied in der das Seelenleben 
bestimmenden Form. Ist zwischen beiden Individuen ein innerlicher 
Kontakt vorhanden, so ist die Suggestion meist eine gegenseitige 
und bezieht sich nicht allein auf den Geschlechtsakt, sondern auf 


4] Suggestion und Sexualität. 55 


die geistige Zuneigung der ganzen Person. Der EE EE EEN 
hat für diesen Zustand einen einzigen Ausdruck: „Liebe“. 

Im Gegensatz dazu besteht die Sinnlichkeit nur in der Augen- 
blickswirkung des geschlechtlichen Begehrens, die bei Aufhören der 
Suggestion oder nach ausgeübtem Geschlechtsverkehr erlischt. 

Zwischen diesen beiden Gefühlsarten gibt es eine grosse Reihe 
von Untertönen, die eine grosse Menge verschiedenartiger Einflüsse 
darstellen. — Die Veranlagung des einzelnen Individuums ist von 
grösster Bedeutung für die Erörterung unserer Frage. Ist die sug- 
gestive Kraft einer Persönlichkeit so stark, dass sie eine vorhandene 
Leidenschaft im Seelenleben eines anderen Individuums zum Erlöschen 
bringt, so ergeben sich seelische Konflikte, für die es häufig keine 
Lösungen im bürgerlichen Sinne gibt. So wird z. B. auf den eben 
erwähnten schweren seelischen Konflikt im jetzt noch geltenden 
Scheidungsparagraphen des B.G.B. keine Rücksicht genommen, gleich- 
gültig, ob das betroffene Individuum an der Qual dieses tragischen 
Kontliktes zugrunde geht oder nicht. Die ethische Grundlage der 
Ehe wird durch das Ausserachtlassen derartiger Momente schwerer 
erschüttert, als wenn man eine Trennung wegen Unantastbarkeit des 
Ehebündnisses für unangebracht hält. Dieses Thema ist ja schon 
reichlich oft behandelt worden; speziell die Frage, ob es moralisch 
ist, sich durch ein Jawort zu einer dauernden Treue zu binden, die 
man in Zukunft nicht halten kann. Kein Mensch ist gegen Änderung 
seines (reisteslebens gefeit. 

Im Gegensatz zu der Auffassung einzelner Autoren verstehe ich 
unter „Sinnlichkeit“ keine Vorstufe zur Liebe. Auch nicht umge- 
kehrt. Ich sehe in beiden verschiedene Begriffe. Dies mag aber auch 
vielleicht nur ein Streit um Worte sein, weil es an geeigneten Aus- 
drücken zum Teil fehlt. 

Im normalen sexuellen Leben kann die Suggestion in verschie- 
denen Formen erfolgen. Die Fixation des umworbenen Individuums 
erfolgt vielfach durch den Blick. Koketterie, gewolltes oder unge- 
wolltes Aufsichlenken des Blickes genügen oft, um den sexuellen 
Trieb erwachen zu lassen. Gerade im Grossstadtleben kann man die 
Blicksuggestion in verschiedenster Gestalt beobachten. Der sublimierte 
Geschmack des modernen Kulturmenschen hat gerade durch die Kultur 
andere Arten der Aufmerksamkeitsfesselung hervorgebracht. So kann 
die Fixation durch Bewegungen, Kleidung usw. bewirkt werden. Im 
Grunde genommen aber wiederholt sich hier nur der gleiche Vorgang 
wie in der Tierwelt, dass jedes Tier sich zur Balzzeit zu schmücken 
sucht. So ist auch die neueste Modenschöpfung nur der zeitgemässe 
Ausdruck eines Anlockungsmittels. Über die Wirksamkeit anmutiger 


56 E. Bukofzer. [5 


Bewegungen, sowie Kleidung ist sich das weibliche Geschlecht viel- 
fach nur instinktiv, aber immer bewusst. Es wäre sonst kaum mög- 
lich, dass die Prostitution so in Blüte stände. Das Bedürfnis nach 
sexuellem Sichausleben wird durch die Prostitution nur erhöht. Es 
ist daher kein falscher Gedanke, wenn man Bordelle gestattet, um 
der Prostitution der Strasse und derep suggestivem Einfluss entgegen- 
zutreten. Unwillkürlich wird durch die auffallende Kleidung und das 
Benehmen doch mehr männliches Publikum auf die Prostitution hin- 
gewiesen. Leider sorgt auch noch eine besondere Art von Sensations- 
“ dichtungen für die gesangliche Verherrlichung des Dirnentums. So 
muss notgedrungen die Prostitution durch die verschiedensten Mittel 
auf die Bevölkerung einen suggestiven Einfluss gewinnen, der für die 
kulturelle Weiterentwicklung von grossem Schaden sein kann. 

Die Suggestion durch Worte ist wohl die verbreitetste und wirk- 
samste. Sicherlich wirkt hier nicht np ? ‚gesprochene Wort, sondern 
auch das geschriebene und gedruckt-. Von den primitivsten Liebes- 
beteuerungen in Briefen bis zu den klassischen Liebesdichtungen er- 
weist sich die suggestive Kraft des Wortes. Und darüber hinaus 
schädigt die pornographische Literatur, die erzählte Zote, die Ethik 
der Gesellschaft. Selbst ganz starke Charaktere können durch diese 
Einflüsse der Prostitution in die arme getrieben werden. Inwiefern 
hier durch freie Aufklärung ohne Muckertum die suggestive Kraft 
der pornographischen Literatur und Kunst gebrochen werden kann, 
steht hier nicht zur Behandlung. 

Ein rein erotischer Gefühlsausdruck ist der Tanz. Im Gegensatz: 
zu den Propagandisten der- Tanzsportbewegung kann ich nicht be- 
stätigen, dass der Tanz ein reiner Sport sei. Entschieden wird durch 
den Tanz sowohl auf den Tänzer als auch auf Zuschauer ein sug- 
gestiver Einfluss ausgeübt. Selbstverständlich ist die Auswirkung 
auf die Individuen verschieden. So wird der eine mehr, der andere 
weniger erotisch berührt. 

Ebenso muss die Suggestionskraft der Musik bei der Erwähnung 
des Tanzes mitbeachtet werden. Bei moderner Tanzmusik ist ein 
erotischer Zug unverkennbar. Selbstverständlich wird nicht jeder 
Mensch in gleicher Weise den suggestiven Zauber spüren. Es sind 
auch hier nur ganz besonders empfindliche Naturen, die dem Reiz 
der Musik in sexueller Hinsicht erliegen. 

Alle die vorerwähnten Suggestionsarten können den sexuellen 
Trieb herausfordern. Der Reiz kann unbewusst erfolgen, er wird 
aber ausserordentlich oft mit genauer Wirkungsberechnung ausgenutzt, 
da alle Suggestionsarten auf sexuellem Gebiete meist widerstandslos 
entgegengenommen werden. Hierdurch ist bewiesen, dass die Jugend 


6] Suggestion und Sexualität. 57 


unmöglich von allen erotischen Reizen abzuschliessen ist und infolge- 
dessen die suggestive Wirkung bei scheuen Individuen, besonders bei 
engherziger Erziehung, zu nachteiligen Gemütsstörungen führen kann. 

Die Folgeerscheinungen der Suggestionen können ausserordentlich 
mannigfach sein. Oben wurde bereits die Seelen- und Geschlechts- 
gemeinschaft (Liebe), Sinnlichkeit und sinnliches Begehren, auch die 
Wirkung auf die Jugend erwähnt. Nicht immer sind die nachfol- 
genden Sinneseinstellungen normal sexuell. Es können auch auto- 
erotische und homosexuelle Regungen entstehen. 

Auto-Erotismus zeigt sich bei nicht ausgeglichenen Persönlich- 
keiten von scheuem Charakter. Durch das fortwährende Einstürmen 
sinnenerregender Reize der Grossstadt erliegt ein Wesen mit labilem 
Charakter dem Sexualtriebe durch Selbstbefriedigung. Da immer 
noch die törichte Art baeteht, junge Leute vor der Onanie durch 
warnende Erzählungen von i” nkheitsentstehen zurückzuhalten, so 
ist die moralische Demütigung or der eigenen Person meist sehr 
gross und dauernd anwachsend, bis sogar unter Umständen eine 
Gemütsstörung erfolgen kann. Es ist zu beobachten, dass der Onanist 
trotz empfundenen Ekels immer wieder die Suggestion sinnenerregender 
Reize aufsuchen muss; zwangsläufig tritt also eine immer grössere 
Willensabnahme ein; Folge davon: "Misanthropismus und Muckertum. 

Die Folgeerscheinungen suggestiven Einflusses im heterosexuellen 
Verkehr sind kaum aufzuzählen, da es deren zu mannigfaltige Ab-. 
arten gibt. Indessen ist als allen gemeinsam zu erkennen, dass die 
Persönlichkeit des suggerierenden Individuums es gerade im Sexual- 
verkehr mehr als je vermag, Perversionen, wie Sadismus und Maso- 
chismus, auch Fetischismus auszulösen. Nach meiner Ansicht sind 
alle diese Perversitäten im Geschlechtsverkehr durch eine erstmalige 
starke Beeinflussung entstanden, also durch eine Verführung. In der 
Nachwirkung blieb die Leidenschaft für sexuelle Perversität in dem. 
empfänglichen Individuum erhalten. — Demgemäss wären unter gün- 
stigen Umständen derartige Leiden durch Suggestion auch wieder zu 
beseitigen. Die so krankhaft veranlagten Personen leiden unter dem 
Zwange zur Perversität selbst sehr stark, haben aber trotz besten 
Willens nicht die nötige Energie, ihr Leiden wirksam zu bekämpfen. 

_ Mit unter die seltsamen Folgeerscheinungen der Suggestion 
anormal eingestellter Individuen rechne ich auch die Homosexualität. 
Von den wenigen seltenen Fällen, bei denen anatomisch eine doppel- 
geschlechtliche Anlage beobachtet wurde, nehme ich hier keine Notiz, 
da der echte Hermaphroditismus ein Kapitel ganz seltener Miss- 
bildungen darstellt. Betrachtet seien vielmehr die ausserordentlich 
zahlreichen Fälle von Homosexualität, bei denen keine anatomischen 


58 E. Bukotzer. [7 


Abweichungen nachzuweisen sind. Einige Autoren sind der Ansicht, 
dass sich bei allen derartigen Personen im Habitus oder eventuell 
auch durch digitale Untersuchungen immer Anomalitäten feststellen 
lassen. So sollen bei Frauen mit homosexueller Neigung Hoden- 
anlagen durch digitale Untersuchungen festgestellt sein, auch be- 
sonders eckige Körperformen usw. seien öfters zu beobachten. Der- 
artige Feststellungen sind aber so schwierig, dass sie kaum als genau 
angesehen werden können. Ich kann mir auch kaum denken, dass 
es selbst mit genauesten diagnostischen Kenntnissen möglich ist, bei 
inneren Untersuchungen irgendwelche Hervorragungen an der Grenze 
zum Kleinen Becken als Fierstocks- resp. Hodenbildungen zu erkennen, 
bevor nicht durch Öffnung der Bauchhöhle der genaue Beweis für 
die Annahme erbracht ist. Es müssten auch unbedingt bei der 
weiten Verbreitung der Homosexualität mehr positive Autopsiebefunde 
vorliegen. Demnach neige ich der Ansicht zu, dass das Verfüh- 
rungsmoment als Hauptursache des abnormen Sexualempfindens anzu- 
sprechen ist. 

Eine Reihe homosexueller Individuen leidet sehr stark unter 
dieser Abweichung vom Normalen. Bei anderen Homosexuellen, be- 
sonders bei Lesbierinnen, besteht aber gar keine Neigung zur Ände- 
rung des krankhaften Zustandes, weil der Befriedigungsakt nicht so 
gefährliche Folgen haben kann, wie Krankheit oder Schwangerschaft. 
Durch diese Überlegung sind schon viele weibliche Personen mit 
ursprünglich normaler Veranlagung zur Homosexualität gelangt. Von 
einer Reihe ganz normal veranlagter Männer wurde mir zugestanden, 
dass der Aufenthalt in Lokalen, in denen männliche Homosexuelle 
verkehrten, den anormalen Trieb durch das Beispiel anreizte. Alkohol 
und Verkleidung bewirken das übrige, so dass, wie mir mitgeteilt 
wurde, zunächst ein: merkwürdiges Gefühl in der Genitalsphäre ent- 
stehe, und später ohne eigentliches Wollen ein homosexueller Verkehr 
stattfinde. Übereinstimmend wurde mir dies von intelligenten, normal- 
sexuellen Männern beschrieben. 

Im Gegensatz zu Steinach glaube ich nicht, dass durch bio- 
logische oder chemische, oder auch operative Therapie eine Änderung 
des Zustandes der Homosexualität erreicht werden kann. Die An- 
sichten Molls und Rohleders erscheinen mir die richtigeren, wo- 
nach man versuchen muss, psychisch auf derartig erkrankte Per- 
sonen einzuwirken. Die Methoden können dabei ganz verschieden 
sein. Bei den in der Grossstadt zu beobachtenden Fällen von Homo- 
sexualität wird im allgemeinen auf diese Weise am meisten zu er- 
reichen sein. Rohleder hat vorgeschlagen, prophylaktisch die Jugend 
zu beeinflussen durch erstens öffentliche Belehrung in sexuellen Dingen, 


8] Suggestion und Sexualität. 59 


zweitens durch häusliche Belehrung bei der Erziehung im Eltern- 
hause, drittens durch Alkoholabstinenz hauptsächlich vor und im 
Pubertätsalter. Die Befolgung dieser Vorschläge würde das Sexual- 
leben der Jugend vor vielen Störungen des Seelenlebens behüten. 

Von der Überzeugung ausgehend, dass mehr oder weniger alle 
Erscheinungen des Lebens auf den Kampf und die gegenseitige 
Bindung der Geschlechter zurückzuführen sind, kann man die Suggestion 
im Sexualleben als die stärkste denkbare Beeinflussung ansehen. Der 
Beweis für diese Ansicht ist dadurch erbracht, dass es fast unmög- 
lich ist, bei Erregung des Lustgefühls „den gleichen Mut zu be- 
wahren“. Es zeigt sich aber auch bei Anerkennung dieser stärksten 
Beeinflussung, dass auf psycho-therapeutischem Wege ein grosser 
Teil der Anomalitäten des Sexualtriebes zu ändern ist, sofern die 
richtige Persönlichkeit die richtige Methode wählt. Für das juri- 
stische Urteil im Ehescheidungs- sowie im Strafprozess ist das Ver- 
führungsmoment eine stets zu berücksichtigende Ursache für be- 
gangene Taten. 


Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 


Von 
Dr. med. A. Heyn, Reichenbach, Schlesien. 


Unter Pollution wird verstanden die Auslösung des Orgasmus 
unter mehrweniger deutlichem Feuchtwerden, wie es sonst beim Koitus 
im Wachzustande aufzutreten pflegt, im Anschluss an einen Traum 
sexuellen Inhaltes. Die Kenntnis solcher pollutionsartigen Vorgänge 
beim Weibe ist noch nicht alt. Nach Kisch ist der erste, welcher 
über Pollutionen geschrieben hat, Rosenthal in seiner Klinik der 
Nervenkrankheiten, 1875. Er schildert pollutionsartige Vorgänge, 
ausgelöst durch laszive Traumbilder bei erotisch überreizten Weibern. 
In einem Falle schildert er Absonderung einer gummiartigen Flüssig- 
keit bei sonst intaktem Genitale, die aus den Bartholinischen 
Drüsen, oder den die Harnröhrenöffnung umgebenden stammen sollten. 
Gutzeit berichtet von Frauen, die Pollutionen mit Ejakulations- 
gefühl im Traume haben sollen. Krafft-Ebing (Über pollutionsartige 
Vorgänge beim Weibe) ist der Meinung, dass solche Pollutionen nur 
bei neurotischen, und zwar sexuell-asthenischen Weibern vorkommen. 
Kisch ist derselben Meinung. Montegazza sagt: Pollutionen treten 
auf bei Frauen von sehr erotischem Temperament, wenn 4—5 Tage 
ohne Koitus vergingen. Swediour beobachtete Pollutionen unter 
wollüstigen Träumen und Hildebrandt (Pitha-Billroth IV, Bd. 1) 
berichtet von erotischen Träumen mit stossweisen Ergüssen bei jungen 
Witwen. | 

Über Häufigkeit, Veranlassung, Gegenstand dieser Träume, Schädi- 
gungen durch dieselben usw. herrschen noch die verschiedensten 
Meinungen. Diese sollen im Folgenden einer kurzen Besprechung 
unterzogen werden. 

Pollutionen sollen nach verschiedenen Meinungen nie bei „reinen“ (?) 
Jungfrauen vorkommen. Was eine „reine“ Jungfrau ist, wird gewöhnlich 


2] Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 61 


nicht näher definiert. Die einen verstehen darunter eine Jungfrau, 
die den Koitus noch nicht kennen gelernt hat, eine sogenannte Hymen- 
jangfrau, andere stellen andere Forderungen, z. B., dass sie die Onanie 
noch nicht kennengelernt habe usw. Es schwebt über diesem Begriff 
„reine“ Jungfrau ein gewisses Dunkel. Löwenfeld glaubt, dass bei 
„normalen“ Mädchen Pollutionen und ähnliche Vorgänge völlig fehlen. 
Rohleder meint, dass der nächtliche Orgasmus bei einer „wırk- 
lichen“ Jungfrau nicht möglich sei. Adler ist der Meinung, dass 
Pollutionen bei der „keuschen“ und „reinen“ Jungfrau kaum vor- 
handen seien, beim „jungen Mädchen“ nur, wenn sie masturbiere 
und in ihre Vorstellungswelt den sinnlichen Gedanken an eine männ- 
liche Umarmung aufgenommen habe. Umgekehrt sagt Hammer 
(bei Adler): Lerne jetzt die Jungfrau die Selbstbefleckung nicht 
kennen, so trete in regelmässigen Zwischenräumen von etwa drei 
Tagen oder längerer oder kürzerer Zeit eine Traumentleerung über- 
mässig gespannter Schleimdrüsemein, die nicht etwa der Menstruations- 
blutung entspreche, sondern der Begattung, und deutlicher als alle 
Aufklärung, weniger deutlich als die Begattung selbst, die Beiwohnung 
in ihren Einzelheiten vorspiegle. Krafft-Ebing hält Pollutionen 
auch bei Jungfrauen, aber nur bei krankhaft gesteigerter Libido für 
möglich. Ellis hält Pollutionen bei Jungfrauen ebenfalls für möglich, 
doch sollen sie bei solchen, welche geschlechtliche Beziehungen noch 
nicht kennen gelernt haben, seltener sein, als bei solchen, welche mit 
dem Koitus schon vertraut seien. Man ersieht die Verschiedenheit 
der Auffassung des Begriffes „Jungfrau“. Ein anderer Grund zu den 
verschiedenen Ansichten liegt vermutlich auch darin, dass die Nach- 
fragen nur „soweit tunlich“ angestellt wurden, was bei der unvermeid- 
lichen Subjektivität dieses „soweit tunlich“ mit Bestimmtheit die 
verschiedensten Resultate erzielen muss. Hinzu kommt noch der 
Umstand, dass man mit dem Begriff Jungfrau vielfach Vorstellungen 
verband, und auch heute noch verbindet, die einer objektiven Forschung 
hinderlich in den Weg treten. Wir finden dieselben Verhältnisse 
wieder bei der Erörterung der Frage, ob eine „reine, normale, wirk- 
liche“ oder sonstwie benannte Jungfrau überhaupt einen Geschlechts- 
trieb habe oder nicht. 

Bei der Sichtung meiner seit mehr als zwanzig Jahren durch- 
geführten Aufzeichnungen fand sich, dass von 452 befragten Frauen 
und Mädchen die grössere Hälfte = 239 mehrweniger regelmässig 
träumten, die kleinere Hälfte = 213 nicht träumten. Betrachtet 
man die verheirateten Frauen allein, so findet sich ungefähr dasselbe 
Verhältnis, 113 träumen, 108 dagegen nicht. Genau ebenso zeichnen 
sich die Verhältnisse bei den Mädchen, welche den Verkehr bereits 


62 A. Heyn. [3 


kennengelernt haben, 126 träumten, 110 dagegen nicht, wie von 
vornherein zu erwarten war. Bei den Virgines intacta ändern sich 
die Verhältnisse insofern, dass hier eine kleine Mehrheit, 42, nicht 
träumt, und eine fast gleiche, etwas kleinere Zahl, 39, träumte. Da 
anzunehmen ist, dass sich unter den 39 träumenden Hymenjungfrauen 
auch eine Menge „reine, normale, wirkliche“ Jungfrauen befinden 
werden, so geht aus den. Zahlen wohl soviel hervor, dass der Glaube 
an die Ausnahmestellung der Jungfrau nicht zu Recht besteht. Es 
finden sich bei den Jungfrauen, Hymenjungfrauen, fast dieselben Ver- 
hältnisse, wie bei den übrigen weiblichen Wesen, welche den Koitus 
bereits kennen gelernt haben. Es scheint sich wohl die Ellissche 
Annahme zu bestätigen, dass diejenigen Mädchen, welche den Koitus 
noch nicht kennen gelernt haben, etwas weniger häufig träumen, als 
die, welche bereits verkehrt haben, aber gross ist der Unterschied nicht. 

Aus der Gegenüberstellung der Libido der Träumenden und nicht 
Träumenden cf.‘ Tabelle, ergibt sich mit Deutlichkeit, dass unter den 
Frauen mit starkem und sehr starkem Geschlechtstriebe die Träumenden 
erheblich überwiegen, und umgekehrt, dass bei den nicht Träumenden 
ein fehlender oder geringer Geschlechtstrieb in erheblich grösserer Anzahl 
zu verzeichnen ist, als bei den Träumenden. Von den Frauen mit 
mässig starkem Geschlechtstrieb träumt nur etwa die kleinere Hälfte. 
Aus dieser Betrachtung geht hervor, dass das Auftreten der sexuellen 
Träume abhängig ist von der Stärke des Geschlechtstriebes. Dazu 
stimmt die weitere Beobachtung, dass von 31 Frauen und Mädchen, 
welche angaben oft zu träumen, 28 einen starken und sehr starken 
Geschlechtstrieb verzeichnet haben, und nur drei einen mässigen oder 
geringen. 

Der Geschlechtstrieb der 39 Hymenvirgines, welche träumten, 
ist in 22 Fällen mit stark und sehr stark (5) angegeben, in 10 Fällen 
mit mässig, und in 8 Fällen fehlt die Notiz. Bei den 42 nicht 
träumenden ist der Geschlechtstrieb in 17 Fällen mit stark und sehr 
stark (1) angegeben, in 14 Fällen mit mässig, und in 4 Fällen mit 
gering, in 7 Fällen fehlt die Notiz. Hieraus geht hervor, dass die 
Virgines mit stärkerem Geschlechtstrieb sich eher unter den Träumen- 
den befinden werden, als die mit weniger starker Libido, also dieselben 
Verhältnisse, wie bei den Frauen. Interessant ist, dass auch unter 
den Frauen mit angeblich fehlendem (zeschlechtstrieb sich 6 unter 
113 befinden, welche Pollutionen haben. 

Unter den 452 Frauen und Mädchen, welche zu dieser Unter- 
suchung herangezogen wurden, befindet sich keine mit krankhafter 
oder irgendwie abnormer Libido, es sind sämtlich in ihrem Geschlechts- 
leben durchaus normale Personen. Daraus kann geschlossen werden, 


4] Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 63 


dass zum Auftreten sexueller Träume keinesfalls eine abnorm gesteigerte 
oder sonstwie pathologische Libido erforderlich ist. Weiter lässt 
sich behaupten, dass sexuelle Träume bei Frauen und Mädchen nicht 
eine Ausnahme, sondern fast die Regel sind. 

Auch die Onanie wird und wurde als Grund der Pollutionen 
angegeben. Wie schon angedeutet, muss dies abgelehnt werden. Es 
kommt weder die abnorm stark betriebene Onanie, noch die sich in 
normalen Grenzen haltende als Grund in Frage, sonst müssten bei 
der Häufigkeit der Onanie, über welche ich mich an anderer Stelle 
äussern werde, nicht die Hälfte, sondern fast die gesamte Frauen- 
und Jungfrauenschaft träumen. Onanie und Pollutionen sind beides 
Erscheinungen derselben Ursache, abgesehen von ÖOnanieformen in 
früher Jugend — des bis zu einer gewissen, subjektiv verschiedenen 
Höhe gestiegenen, nicht oder nicht genügend befriedigten Geschlechts- 
triebes. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass in Fällen 
aussergewöhnlich gesteigerter, ja krankhafter Libido auch die.Häufig- 
keit der Pollutionen steigen kann. Der Umstand, dass schon ein 
Verkehr stattgefunden hat, ist ebenfalls für das Eintreten oder die 
Häufigkeit von Pollutionen nicht zu verwenden, da meine Beobach- 
tungen bei den Hymenvirgines das Gegenteil beweisen. Es handelt 
sich offenbar um eine völlige natürliche Erscheinung, die mit dem 
Auftreten des Geschlechtstriebes und seiner genügenden oder unge- 
nügenden Befriedigung — in irgend einer Form — zusammenhängt. 
Beim Jüngling wird ja ohne weiteres anerkannt, dass mit dem Auf- 
treten der Pubertät früher oder später normalerweise Pollutionen 
auftreten, die an sich nicht als krankhaft anzusehen sind. Es besteht 
wahrhaftig kein Zwang zu der ganz willkürlichen Annahme, dass es 
damit beim Weibe ganz anders sich verhalten solle, und es ist zweck- 
los in diese Verhältnisse Dinge hineinzugeheimnissen, welche einer 
objektiven Kritik nicht standhalten können. Die Zeit des Beginnens 
der Pollutionen wird offenbar ebenfalls vom Auftreten des Geschlechts- 
triebes, dessen auslösende Gründe im Einzelfalle natürlich verschieden 
sein können, bedingt. Hierüber ist es schwierig genauere Angaben 
zu erlangen, da die meisten sich darüber keine genaue Rechenschaft 
geben können. Jedenfalls habe ich mehrfach nachweisen können, 
dass schon vor dem Eintreten der Menstruation sexuelle Träume vor- 
handen gewesen sind, wenn dies auch die Ausnahme bedeutet. Die 
Annahme Molls, dass beim „keuschen“ Mädchen das Auftreten des 
Orgasmus im Traume die Ausnahme sei, kann ich an meinem Materiale 
nicht bestätigen. 

In der Mehrzahl der Fälle treten die sexuellen Träume gegen 
Morgen ein. Die Frauen erzählen gewöhnlich übereinstimmend, dass 


64 A. Heyn. [5 


sie das Gefühl gehabt hätten, als wenn ein Verkehr mit völliger Be- 
friedigung stattgefunden hätte. Sie erwachen darüber mehrweniger 
vollständig und merken noch das Zucken der Scheide und das Arbeiten 
der Scheidenmuskulatur und fühlen, dass sie mehrweniger feucht 
geworden sind. In diesem Falle haben sie dasselbe angenehme Be- 
friedigungsgefühl wie nach einem genussreichen Koitus. Mitunter ist 
der sexuelle Traum die einzige Gelegenheit für die Frau zu einem 
vollständigen Orgasmus zu kommen (Dyspareunie). Auch die Virgines 
intactae, die den Koitus noch nicht kennen, haben in der Regel das 
Gefühl einer angenehmen Befriedigung. Mitunter sind allerdings bei 
ihnen die Gefühle von ganz unbestimmter Art, wie auch schon Ellis 
bemerkt. In manchen Fällen handelt es sich im Traume nicht um 
einen Koitus, sondern die Frauen erzählen, dass sie nur den Eindruck 
gehabt hätten, dass sie jemand an den Genitalien oder sonstwie 
berührt habe oder babe berühren wollen, dass sie jemand umarme, 
küsse, oder dass sie jemand habe umarmen oder küssen wollen, oder 
dass jemand die Absicht gehabt bätte mit ihnen zu verkehren. In 
manchen — aber selteneren Fällen — haben die Frauen keine bestimmte 
Erinnerung an die Vorgänge im Traume, sie erwachen nur mit dem 
Auftreten des Orgasmus. Fast nie können die Frauen angeben, dass 
sie im Traume Koitusbewegungen eines eingedrungenen Gliedes in 
ihrer Scheide gemerkt hätten, sie erzählen übereinstimmend, dass sie 
schon bei der Berührung des Gliedes mit ihren Genitalien aufwachten 
und nun nur das Gefühl hätten, als ob ein Verkehr stattgefunden 
haben müsse, sie fühlen nur noch das Spiel der Beckenmuskulatur 
als wollüstiges Zucken der Scheide und merken, dass sie in höherem 
oder geringerem Masse feucht geworden sind. In einem Falle träumte 
die Frau, dass sie im Begriff sei, sich zum Koitus zurechtzulegen. 
In seltenen Fällen kommt es in einer Nacht zu mehrfachem Orgasmus. 

Der Gegenstand der Träume ist auffallenderweise fast nie eine 
geliebte Person, der Ehemann oder Geliebte. Meist ist es ein völlig 
gleichgültiger Mensch, ein Mann, der für eine geschlechtliche An- 
näherung im Wachzustande nie und nimmer in Frage käme, irgend 
eine Person, die im Verlaufe des vergangenen Tages irgendwie in 
den Gesichtskreis der Träumenden getreten ist, ja ein Bettler oder 
sonst eine völlig indifferente Persönlichkeit. Ellis bringt die Schilde- 
rung eines solchen Traumes aus weiblicher Feder: „Ich habe erotische 
Träume von Männern gehabt, die mir gleichgültig sind, und aus 
denen ich mir gar nichts mache, wenn ich wach bin. Beim Erwachen 
ist die Stimmung noch so stark, dass es fast scheint, als wäre ich 
wirklich in die betreffende Person verliebt. Ich kann mir ganz gut 
denken, dass man sich infolge solcher Träume in jemanden verliebt.“ 


6] Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 65 


Von verschiedenen Autoren ist berichtet worden, dass der Inhalt 
der Träume sich auch nach den Eigentümlichkeiten im sexuellen 
Leben des Träumenden richten könne, auch abnorme Eigentümlich- 
keiten können im Traume wiedererscheinen. So berichtet beispiels- 
weise Moraglis davon, dass zwei Tribaden wollüstige Träume zu 
haben pflegten, deren Objekt stets die, bevorzugte Freundin gewesen 
wäre (?.. Von Homosexuellen, Sadisten, Masochisten wird ähnliches 
berichtet. 

In nicht so seltenen Fällen handelt es sich um Verwandte, welche 
im Traume als Kohabitator auftreten, ja um Vater, Bruder und sonstige 
Anverwandte. Die Angabe, dass es sich in den Träumen stets um 
Inzestpersonen handle (Sedger), kann ich aus meinen Erfahrungen aber 
keinesfalls bestätigen. 

Die Träume sind nicht immer mit angenehmen Gefühlen ver- 
bunden, anscheinend besonders dann nicht, wenn es infolge vorzeitigen 
Aufwachens der betreffenden Frau nicht zur völligen Auslösung des 
Orgasmus kommt. Eine Frau erzählte, dass sie zu ihrem Bedauern 
mitunter denselben Eindruck habe, als wenn beim Verkehr das Glied 
entfernt würde, ehe bei ihr die Aufregung abgeklungen wäre, und 
dass sie dann das Gefühl habe, als ob die Scheide leer arbeite. Auch 
kommt es mitunter vor, dass die Frauen das Gefühl haben, dass sie 
verkehren sollten, und aufwachen, ehe es zur Auslösung des Orgasmus 
kommt. Dann klagen sie gewöhnlich darüber, dass sie hochgradig 
sexuell erregt wären und nicht mehr einschlafen könnten. Moll 
deutet ähnliches an. 

Die Zeit, in welcher die Träume am häufigsten auftreten, fällt 
meist mit der Zeit zusammen, in welcher die Träumenden an meisten 
geschlechtlich erregt sind, also vor, während oder nach der Periode. 
Es kann natürlich auch zu jeder anderen Zeit ein Traum eintreten, 
wenn aus äusseren Gründen eine besondere Erregung im Geschlechts- 
leben der betreffenden Person stattgefunden hat. 

Wie bei der Onanie gibt es auch bei den Pollutionen eine Reihe 
weit verbreiteter Ansichten, welche den Pollutionen eine erhebliche 
Schädlichkeit andichten. So sollen Depressionen, Schlaflosigkeit, Er- 
mattung, Verstimmung, ja Kreuzschmerzen, Schwindel usw. usw. sich 
einstellen als Folge erotischer Träume. Eine hierhergehörige Äusse- 
rung bringe ich, weil sie aus Frauenmunde stammt: Überhaupt spielen 
die Träume sowohl in der erwachenden Erotik, wie später in dem 
unbefriedigten Eheleben und in dem Stadium der alleinlebenden Frau 
eine grosse und ernste Gefahr bringende Rolle. Diese Gefahr ist um 
so grösser, als wir ihr machtlos ausgeliefert sind, solange das sinn- 
liche Begehren nicht gesättigt ist, und die naturgemäss mit dem Wissen 

Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 1/2. 5 


66 A. Heyn. . [7 


dessen, was Sinnengenuss ist, sich noch steigert“. (v. Bagiensky.) 
Von solchen Klagen habe ich in meinen langen Untersuchungen nur 
selten etwas gehört. Die normalerweise zu bestimmten Zeiten, 
längst nicht so regelmässig wie bei'vielen Männern, und auf bestimmte 
Veranlassung auftretende Pollutionen schaden keineswegs, sie dienen 
im Gegenteil gewissermassen als Sicherheitsventil, durch welches 
„allzuüppige Kraft verpufft“ und allzuüppiges Verlangen in angenehmer 
Weise befriedigt wird. Selbstverständlich ist dazu ein vollständiger, 
nicht vorzeitig unterbrochener Ablauf der Empfindung nötig, weil 
sonst ähnliche Verhältnisse und Unbequemlichkeiten sich einzustellen 
pflegen, wie beim Coitus interruptus und ähnlichen Vorgängen im 
Geschlechtsleben der Frau. Zweitens ist es eigentlich überflüssig zu 
erwähnen, dass wie bei anderen Dingen z. B. der Onanie, nicht die 
Pollution an sich schädlich ist, sondern, dass nur eine übermässige 
Häufigkeit, oder eine längere Zeit wiederkehrende Störung des normalen 
Ablaufes bei dazu veranlagten Personen einmal schädigend einwirken 
kann. Man hört mitunter, dass die dauernden Abgänge von Schleim 
schädigen sollen, vermutlich in einer unzulässigen Übertragung der 
Vorgänge bei der männlichen Pollution, davon kann kaum die Rede 
sein. Eine wesentliche Störung habe ich nie nachweisen können. 
Im Gegenteil gaben die meisten an, dass sie sich behaglich fühlten, 
wenn die geschlechtliche Spannung durch eine Pollution ausgeschaltet 
sei. Nur ganz vereinzelt hörte ich, dass eine gewisse, bald vorüber- 
gehende Mattigkeit nach morgendlichen Ergüssen sich ab und zu 
einstelle. Mitunter hört man von Ängstlichen Frauen Fragen, ob diese 
Ereignisse schädlich seien? Eine ungünstige Beeinflussung des All- 
gemeinbefindens lag bei diesen Frauen niemals vor, und sie waren 
in den meisten Fällen durch entsprechende Belehrung leicht von ihrer 
Furcht zu befreien. 

Die Pollutionen werden für die merkwürdigsten Dinge verant- 
wortlich gemacht. So sollen Pollutionen Schuld tragen an der Sterilität 
der Frau, weil der Orgasmus d. h. die Ausstossung des Kristeller- 
schen Schleimpfropfes zu früh erfolge? (Rohleder). Welche positiven 
Unterlagen Rohleder ausser seiner mir bekannten Theorie vom 
Zustandekommen der Befruchtung hat, ist mir unbekannt. Obwohl 
diese Auffassung recht wenig für sich hat; habe ich mein Material 
in dieser Richtung geprüft. Aus der Rohlederschen Theorie müsste 
man schliessen können, dass, falls die Pollutionen einen Grund für 
eine Sterilität abgeben, unter den Sterilen sich prozentual mehr 
träumende Personen befinden werden, als unter den nicht sterilen 
Frauen. Mein Material spricht aber keinesfalls für diese Rohledersche 
Annahme, eher für das Gegenteil, was nach meiner Auffassung dieser 


— — — — 


8] Über sexuelle Träume (Pollutionen) bei Frauen. 67 


Verhältnisse zu erwarten war. Einerseits wächst mit der Höhe und 
Stärke des Geschlechtstriebes auch die Anzahl der Träume und anderer- 
seits wird zu erwarten sein, dass unter den Sterilen, welche stets 
eine erhebliche Anzahl von Frauen mit geringerem Geschlechtstrieb 
aufzuweisen haben, ganz automatisch auch die Menge der Träumenden 
fällt. Die Pollutionen selbst haben mit der nebenher bestehenden 
Sterilität ursächlich nichts zu tun. Es ist durchaus unklar, wie eine 
nächtliche Pollution, oder meinetwegen auch mehrere, bewirken soll, 
dass bei dem im Wachzustande vorgenommenen Koitus ein zu früher (?) 
Orgasmus zustande kommt, also vermutlich ausserhalb der optimalen 
Breite. Die Zeit, wenn der Orgasmus der Frau zustande kommt, ist 
in erster Linie abhängig von der Empfindlichkeit der Frau, die so 
gross sein kann, dass ständig bei der Frau der Orgasmus in uno 
actu mehrfach erscheint, also auch wohl meist zu zeitig, und doch 
haben ausser einer Frau alle diese leicht erregbaren und leicht zu 
befriedigenden Frauen meines Materials Kinder. An derselben Stelle 
(Lexikon der gesamten Therapie von Guttmann) macht Rohleder 
noch einige Bemerkungen, die zu einer Gegenäusserung Veranlassung 
geben müssen. Er bezeichnet differential-diagnostisch die Ausstossung 
einiger Tropfen Sekret der Bartholinischen Drüsen bei sexueller 
Reizung der Frau ohne Orgasmus als Vaginorrhoe sive Kolporrhoe. 
Diese Bezeichnung für das Feuchtwerden der libidinös erregten Frau 
ist abwegig und irreführend, weil die abgesonderte Schleimmenge nicht 
aus der Scheide, sondern aus den Bartholinischen Drüsen und dem 
Uterus, vermutlich der Zervix, stammt. Die Vagina hat damit nichts 
zu tun, denn sie besitzt in der Regel nur in den frühesten Stadien des 
Lebens vereinzelte Schleimdrüsen. Der Vorgang wäre also folgerichtig 
etwa als Prothalamorrhoe (Prothalamos — Vestibulum) und als 
Trachelorrhoe (Trachelos = Zervix) zu bezeichnen. Die Pollutionen 
nennt er Ejakulationen des Kristellerschen Schleimpfropfes aus der 
Zervix durch Muskeltätigkeit. Es ist nicht zu empfehlen, die Bewegungen, 
welche jeder in der Zervix adhärente Schleim, also auch derKristeller- 
sche Schleimpfropf, macht, soweit er überhaupt vorhanden ist, als 
Ejakulation zu bezeichnen, da dieser Schleimpfropf trotz einer even- 
tuellen Muskeltätigkeit des Uterus nicht in die Scheide ejakuliert wird, 
d. h. sich von seiner Ansatzstelle trennt, sondern an Ort und Stelle 
sitzen bleibt. Etwas mehr hätte es für sich, wenn man den Schleim, 
der sich bei starken geschlechtlichen Erregungen der Frau aus. der 
Zervix in die Scheide ergiesst, und der sich auch beim Orgasmus 
der Frau zeigt, als Ejakulat bezeichnen würde. Hier wird das Produkt 
noch nicht sicher bekannter Drüsen (Zervix, Korpus, Tuben?) tat- 
sächlich ın die Scheide entleert, und in diesem Sinne verdient der 
5* 


68 A. Heyn. [9 


Vorgang vielleicht die Bezeichnung Ejakulation, die den hin und her 
gehenden Bewegungen eines in der Zervix festsitzenden Schleimpartikels 
‚keineswegs zukommt. Für sehr befriedigend halte ich die Bezeich- 
nung allerdings nicht. Ebenso ist festzustellen, dass alle Bezeich- 
nungen, welche die Endung „rhoe“ haben, einen länger dauernden 
„Fluss“ bezeichnen, wie Gonorrhoe, Blennorrhoe, und dass infolgedessen 
die Bezeichnungen Vaginorrhoe, Kolporrhoe, Trachelorrhoe, Prothala- 
morrhoe, die sich nur auf eine vorübergehende Befeuchtung beziehen, 
nicht die richtige Bezeichnung tragen, und nur durch das Fehlen 
einer besseren einige Daseinsberechtigung haben. Über das Feucht- 


werden der Frau in libidine et orgasmo werde ich an anderer Stelle 
berichten. 








Virgines 
intactae 


Deflorierte | Frauen ohne | Frauen mit 
Mädchen Kinder Kindern 








© © © © © © © © 
Ka = "I 5 ve 5 5 5 
=) E fa Wei 8 8 Ai E E a E 
Ke © © Ep = o © Le gé © kk 
Libido E E g S E E 2 E E € E 
e K wë as = Si wë GE 
ka ka La f * ba Ae * 
Em E Em En E E E Cl 
WI Boa Do Do S 























stark und sehr stark . 70,5 






46,0 | 57,6 | 43.9 | 48,4 | 40,0 

















312 ` 41,32 








— 7tr — 


mässig . 29,7 | 46,0 au 34,1 | 35,2 | 49,0 





gering und fehlend. . — 8,8 

















79 151 | 219 16,1 | 20,0 


Die Pollutionen sind manchmal Gegenstand der Erörterung in 
der Sprechstunde, indem Frauen, die mit Pollutionen zu tun haben, 
sich dieserhalb an den Arzt um Hilfe wenden, weil sie sich darüber 
beunruhigen, dass der Kohabitator ihrer Träume nicht der eigene 
Ehemann oder Sponsus oder Liebhaber, sondern eine x-beliebige 
andere Person ist. Besonders sind es Frauen aus fromm katholischen 
Gegenden, in denen ein derartiges Ereignis als „Todsünde“ gilt, weil 
sie den Eindruck haben, dass sie im Schlafe einen Ehebruch oder 
gar eine Blutschande begehen. Ich habe mich in mehreren Fällen 
an den betreffenden Beichtiger mit aufklärenden Worten wenden 
müssen, um die geängstigten Frauen von ihrer Beunruhigung zu 
befreien. 

Als Zasammenfassung habe ich folgendes zu sagen: 

1. Die Pollutionen sind etwas durchaus Normales und Physio- 

logisches, solange es nicht zu einer derartigen Häufung der- 


10] 


Über sexuelle Träume (Pollutionen) beı Frauen. 69 


selben kommt, dass das subjektive Wohlbeäinden der Frau 
gestört wird. 


. Die Pollutionen treten normalerweise bei etwa der Hälfte 


sämtlicher weiblicher Wesen auf, sowohl bei Frauen wie bei 
Jungfrauen, mögen dieselben das Prädikat „rein, richtig, 
wirklich“ usw. verdienen oder nicht. Als Grund kommt nicht 
in Frage eine pathologische geschlechtliche Reizbarkeit oder 
neurotische Veranlassung, sondern nur der Umstand, dass 
der Geschlechtstrieb eine gewisse Höhe erreicht hat, und 
dass er nicht oder nicht in hinreichendem Masse befriedigt 
worden ist. 


3. Die Pollutionen treten zwar bei vielen Frauen nicht mit der- 


selben Regelmässigkeit auf, wie bei vielen Männern, aber sie 
halten sich doch im ganzen an die Höhe der sexuellen Welle 
der Frau, vor, während und nach der Periode. 


. Die nächtlichen Pollutionen schädigen die Frauen keineswegs, 


sie wirken im Gegenteil häufig beruhigend und wohltuend. 


. Das Objekt der sexuellen Träume ist meist nicht der Mann 


oder Geliebte, sondern eind beliebige andere Person. Nicht 
selten ist es eine Inzestperson, Vater, Bruder oder sonst ein 
Verwandter. 


IL Kritiken. 


Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an 
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden. 


Hart: Die Lehre vom Status thymico-Iymphaticus. Ein Beitrag zur Kan- 
stitutionspathologie. Verlag von J. F. Bergmann, München 1923. 


Diese mit lückenloser Sachkenn!nis geschriebene Studie des früh ver- 
storbenen verdienten Forschers bat das Ziel, Ordnung hinein zu bringen in das 
anatomische und klinische Bild der im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer 
Art Sammelbecken gewordenen Iymphatischen Konstitution. Die ausgiebige 
Klärung scheitert an der Unkenntnis vum Wesen der endokrinen Wirkung des 
Tbymus und an der Schwierigkeit, die primäre konstitutionelle Hypoplasie des 
Iymphatischen Gewebes von der sekundären durch äussere oder innere Reize ver- 
ursachten zu unterscheiden. Dazu kommt die Erweiterung des Begriffes zu dem 
Status hypoplasticus, die Berührung mit dem Infantilismus und Wnuchoidismos, 
der Asthenie universalis und die Beziehungen zur exsudativen und arthritiscben 
Diathese. Reinliche Scheidung ist da unmöglich. In den Mittelpunkt dor Betrach- 
tung stellt Verf. das audokrine System, dessen Leistungsstörung bald diesen oder 
jenen Teil der Blutdrüsen in den Vordergrund treten und so verschiedene Organ- _ 
und Leistungsänderungen entstehen lässt. 

Ein Literaturnachweis von 820 Nummern, dessen Werke sämtlich kritisch 
verarbeitet sind, macht die Schrift zu einem unentbehrlichen Werk der Kon- 
stitationsforschung. Max Hirsch, Berlin. 


Scheidt: Einführung in die naturwissenschaftliche Familienkunde. (Fa- 
milienanthropologie.) Mit 11 Textabbildungen. J. F. Lehmanns Verlag, 
München 1923. 


So sehr die experimentelle Vererbungswissenschaft die unentbehrliche 
Grundlage der menschlichen Vererbungslehre bildet, so wenig wird sie allein 
den Kıbgang beim Menschen zu klären imstande sein. Dazu bedarf es der Familien- 
forschung als naturwissenschaftlicher Personen- und Lebensbeschreibung auf Grund 
anthropologischer Untersuchung und Beobachtung. Hierfür gibt das vorliegende 
Buch die theoretischen Grundlagen und praktischen Anleitungen. So ergibt sich 
von selbst, dass auch die medizinische Konstitutionsforschung ohne Familien- 
kunde nicht vorwärts kommen und schiiesslich, dass auch die ärztliche Heilkunde 
sie nicht. entbehren kann. In welcher Weise gerade der ärztliche Praktiker 
sich an der Familienforschung beteiligen kann und — füge ich hinzu -— muss, 
ist in dem Buche besonders eindringlich dargestellt > Max Hirsch, Berlin. 


Fritz Lenz: „Menschliche Auslese und Rassenhygiene“. Il. Bd. J. F. 
Lehmann, München 1923. 


(egen die erste Auflage hat der II. Band einen stattlichen Zuwachs an 
Seiten erfahren. Er ist fast um die Hälfte dicker geworden. Wenn sich auch 





2] | Kritiken. 71 


manche wertvollen Ergänzungen finden, so wäre der Sache und dem Werke mit 
einer erbeblichen Kürzung und strafferen Zusammenfassung mehr genützt worden. 
Reichlich viel kleine polemische oder kritisierende Randbemerkungen und Seiten- 
hiebe ermüden und lenken von den Hauptsachen ab. Es erscheint z. B. hin- 
reichend komisch, wenn in einem ernsthaften wissenschaftlichen Werke Be- 
merkungen stehen wie „Mir kaın vor einiger Zeit Dinters Sünde wider das Blut“ 
in die Hände. Da standen an einer Stelle, wo von dem Geist der Rasse die 
Rede war, offenbar von weiblicher Hand geschrieben am Rand die Worte: „Das 
ist wunder-wunderschön!* Ich fand allerdings die betreffende Stelle sehr wenig 
schön, weil sie nach meiner Ansicht verzerrt und geschraubt war, wie überhaupt 
das ganze rassenbiologisch durchaus nicht einwandfreie Buch; aber jene Bemer- 
kung zeigte mir doch, dass der Glaube an die Rasse in manchen Herzen schon 
so lebendig ist, dass auch ein sehr unvollkommenes Werk tiefe künstlerische 
Wirkung haben kann. Der Verfasser schüttet häufig das Kind mit dem Bade 
aus. In den letzten zwei Jahrzebnten war es Mode geworden den Darwinismus 
etwas über die Achsel anzuseheu zugunsten lamarckistischer Anschauungen. 
Jetzt beginnt wieder die umgekehrte Strömung; nach Lenz deutet die Hinneigung 
zum Lamarckismus schon auf vorderasiatische Erbanlagen hin. Die Umwelt- 
faktoren werden in durchaus unzulässiger Weise vernachlässigt. Sie gehören der 
Jndividualhygiene, die aber nach Verfasser erst lange hinter der Rassenhygiene 
zu kommen hat. Dass körperliche Ertüchtigung auch gut möglich ist ohne „Hoch- 
schulen für Leibesübungen“ mit allerlei akademischen Zutaten, dürfte bei vielen 
Zustimmung finden. Verfasser warnt vor geistiger Überarbeitung „die möglicher- 
weise unmittelbar schädlich auf die Erbmasse wirken kënnte (GI. Akademischen 
Berufen sollen sich junge Leute nur zuwenden, wenn „ganz ausserordentliche 
Begabung oder ganz besonders günstige Umstände die Erringung einer aus- 
kömmlichen Lebensstellung in einem geistigen Berufe gesichert erscheinen lassen“. 
Nach diesem Rezepte besiünde die nächste Generation von Akademikern über- 
wiegend aus der Nachkommeuschaft Raffkes oder der Ordinarien. Mit grosser 
Objektivität werden oft. Auslese und Gegenauslese gegenüber gestellt. Welche 
im Einzelfall wertvoller und daher mehr zu erstreben ist, das ist oft Geschmacks- 
sache. Für recht unglücklich, teilweise geschmacklos, halte ich „rassenhygieni- 
sche“ Bemerkungen über Persönlichkeiten und Vorkommnisse dər Zeitgeschichte, 
die wir miterlebt haben. Ausführungen antisemitischer Art wie auf S. 277 ge- 
hören nicht in ein wissenschaftliches Werk. Abgesehen davon, dass sie inhaltlich 
falsch sind. 

Die von Hirsch zuerst aufgestellte eugenetische Indikation zur Schwanger- 
schaftsunterbrechung, die einst so leidenschaftlich bekämpft wurde, wird von Lenz 
verteidigt. Das Buch wird als Ferment segensreich wirken, indem es hoffentlich 
viele Leser zum Nachdenken über rassenhygienische Fragen anregt und sie ver- 
anlasst der Erbbiologie wichtiges Material zu sammeln. Wenn die menschliche 
Erbkunde gelernt haben wird, Genotypus und Phänotypus, Erbanlage und Umwelts- 
wirkung, zu unterscheiden. dann wird auch aus dem heute gärenden Most der 
Rasseubygiene einmal ein Wein werden — wenn nicht die Umweltsfaktoren ge- 
wisser politischer Richtungen verschiedener Färbung die Klärung aufhalten! 

Fritz Levy, Berlin. 


Rich. Koch: Ärztliches Denken. Abhandlungen über die philosophischen 
Grundlagen der Medizin. Verlag von J. F. Berymann, München 1923. 


Eine Schrift „aus dem Wunsche heraus geschrieben, dazu beizutragen, dass 
sich im ärztlichen Deuken die Überzeugung von der Wirksamkeit des Geistes, 
der Seele, des freien Willens wieder festige". In dieser Fassung ist das Endziel 
des Verfassers nicht verständlich, denn soll die Wechselwirkung von Geist und 
Körper betont werden, so ist der Zusammenhang mit einem freien Willen unklar. 
Wie dem auch sei, was Verfasser vom Sinn des Krankseins, vom psychogenen 
Kranksein, vom Heilen zu sagen weiss, spricht für den tiefgründigen Denker und 


72 Kritiken. [3 


wird jedem Leser der Schrift eine Fülle von Anregung zu eigener Denkarbeit 
geben. So einfach schon der ärztliche Leitsatz scheint, dass wir die nützliche 
Tätigkeit des Organismus unterstützen, die schädliche bekämpfen müssen, unsere 
Erfahrung versagt hier schon recht oft, wenn wir nach dem Nutzen eines Organs 
oder einer Funktion gegenüber einem bestimmten Eingriff fragen. Wir wissen 
oft nicht einmal, ob der Eingriff das wirklich tut, was wir von ihm erwarten. 
Auf die Entziebung von Blut kann der Organismus mit einer Blutbildung im 
Überfluss antworten, auf die Abkühlung durch Eisbeutel mit einer reaktiven Ent- 
zündung in der Tiefe, Abführmittel können reaktiv Verstopfung, verstopfen!e 
Mittel Durchfälle erzeugen usw. Wir müssen daher den Organismus als etwas 
Einbeitliches auffassen, das sich als Ganzes einem Eingriffe gegenüber verhält, 
nicht als eine Summe von Einzelteilen. Die Reaktion des Körpers ist im ganzen 
zweckmässig, aber nicht vollkommen zweckmässig. Deshalb nimmt der Arzt 
grundsätzlich für sich die Fähigkeit in Anspruch, manchmal besser zu wissen, 
was dem Organismus bekömmlich ist, als der Organismus selbst. Er wird Eın- 
griffe in das Naturgeschehen machen, von deren Nutzen er überzeugt ist. 


Der Raum verwehrt es, den Gedankengängen des Verfassers zu folgen oder 
gar sich mit ihnen kritisch auseinander zu setzen. Inhaltlich verdient es die 
gedankentiefe Studie, dass recht. viele Leser aus ihr Bereicherung ihres Wissens 
schöpfen. Placzek, Berlin. 


Havelock Ellis: Moderne Gedanken über Liebe und Ehe. Verlag von 
Curt Kabitzsch, Leipzig 1924. 


Wenn ein neuschöpferischer Geist wie Havelock Ellis über Liebe und 
Ehe spricht, sind bedeutungsvolle Gedankengänge zu erwarten, und diese Kıwar- 
tung wird nicht getäuscht, denn jedes Kapitel des kleinen Buches zeigt den 
Sexualforscher von ungewöhnlichem Literatur- und Erfahrungswissen. Schon 
was er über die nahe Verwandtschaft von sexueller Liebe und Elternliebe sagt, 
verdient gegenüber den Übertreibungen der Freudianer nachdrücklichst betont zu 
werden. Wohl kann ein ganz leiser Unterton von Sexualität in den Beziehungen 
des Vaters zur Tochter, der Mutter zum Sohn, der Tochter für den Vater, des 
Sohnes für die Mutter mitschwingen, doch nicht bewusst. Verfasser hält es für 
unnötig hervorzuheben, dass es sich dabei nicht um irgendein körperliches Ver- 
langen oder eine Begierde handelt. Aposteln sexueller Enthaltsamkeit begegnet 
er mit der Frage: „Wenn Enthaltsamkeit so ideal und schön ist, warum begrüsst 
man die Ehe mit soviel Beifall ?* 


Und wie seltsam, dass gerade die beiden Berufe, die am entschiedensten für 
die Enthaltsamkeit eintreten, Theologen und Ärzte, wie Rundfragen ergeben haben, 
sich in den wenigst idealen Formen sexuell betätigen, in der Prostitution und 
Onanie. Fasst man aber gar jede Art und jeden Grad sexueller Manifestation 
ins Auge, so muss man die Geschlechtstätigkeit als eine bis zu gewissem Grade 
regellose ansehen, so weit, dass jedenfalls sexuelle Reinheit nicht identisch ist 
mit Aufbebung oder unbestimmtem Aufschub sexueller Betätigung, sondern viel- 
mehr vernünftiger Mässigung. Unter „Auto-Erotismus“ fasst Verfasser die ganze 
Reihe von Erscheinungen zusammen, die spontan und ohne jedwede Anregung 
von aussen direkt aus dem Organismus hervorgehen oder sich umwandeln können 
in Wachträume, in auto-erotische Träume, in künstlerische oder literarische Tätig- 
keit, in krankhafte Störungen wie z. B. verschiedene Formen der Hysterie, ja 
sogar in hochgradige ınystische Frömmigkeit. Die angeblich schrecklichen Ge- 
fahren strenger Enthaltsamkeit hält er für durchaus grundlos, doch für ebenso 
falsch, dass sie gar keine schädlichen Folgen für Körper und Geist haben könne. 
Solche Ansicht findet er nur in anglikanischen Ländern nicht vertreten, „wo man 
aus prüder Moralität den Tatsachen nicht frank und frei ins Auge sehen will". 


Es ist dem Referenten nicht möglich, den klugen, lebenserfahrenen Gedanken- 
gäugen des hochverdienten Verfassers weiter im einzelnen nachzugehen. Was 


4] | Kritiken. 73 


er über den Zweck der Ehe, übér Ehemänner und Ehefrauen, über das Liebes- 
recht des Weibes, über das Liebesspiel beim Menschen, zu sagen weiss, ist un- 
gemein lehrreich, nicht allein für den erfahrenen Sexualforscher, sondern auch 
für jeden Arzt, der die Gewichtigkeit der vielfältigen Wechselbeziehungen von 
Sexualität und soziologischen Lebensbedingungen zu erfassen weiss und zu ent- 
rätseln strebt. Möge auch dem neuen Buche des Verfassers, dem in seiner engeren 
Heimat so machtvolle Widerstände sich entgegenstemmen, die Anerkennung aller 
Leser zuteil werden. Placzek, Berlin. 


E. Havelock-Ellis: Neue Horizonte für Liebe und Leben. Verlag von 
Manz, Wien-Leipzig 1922. 


Eine ungewöhnliche, viel zu früh dem Leben entrissene Frau spricht aus 
diesen Blättern. „Die Gedanken, noch mehr die praktischen Vorschläge, berühren 
mehr als einmal als Selbstverständlichkeiten, deren Wie das praktische Leben 
zwar noch nicht geformt hat, deren Was aber bereits Denkgrundlage ist. Nicht 
die Gedanken, sondern der Mensch und das Herz, die aus dem Buche sprechen, 
sind das eigentlich Wertvolle an dem Buche und sie müssen wir lieb gewinnen 
und mit ibnen, wie ich hoffe, auch das Buch“, sagt der Übersetzer. Doch selbst 
wir in Deutschland, die wir von der Verfasserin als Persönlichkeit nichts weiter 
wissen, als dass sie die kongeniale Gattin und lebensmutige Mitkämpferin von 
Havelock Ellis war, müssen die Frau bewundern, die rastlos und furchtlos 
ihre oft genug umstürzlerisch klingenden Ideen in gedruckter und gesprochener 
Rede in die Massen warf, unbekümmert darum, wie sie die Menschen berülıren. 
Aus sozialem Mitleid erwachsen ihre Gedanken. Im Sinne eines ethischen Sozia- 
lismus werden sie verkündet, wird Problem an Problem gereiht, auch das ihr be- 
sonders nahe liegende Problem der Geschlechter, die wirtschaftliche Unabhängig- 
keit des Weibes, eine durchgeistigte Art der Ehe, die Unsitten und Unsinnigkeiten 
der Dienstbotenfrage, die Kulturlosigkeit des Krieges. Kühn tritt sie aber auch 
gegen dic uns fast unfassbar scheinende Prüderie ihrer Heimat auf, immer nur 
vor dom Sehnsuchtsziel nach einem neuen, geläuterten Menschen. So wird und 
muss ihr Buch auch in deutschen Landen verdiente Anerkennung finden, in einem, 
wie Referent hofft, grossen Leserkreise. Placzek, Berlin. 


Georg Groddeck: Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine 
Freundin. Internat. psychoanalyt. Verlag, Leipzig 1923. 


Das ‚Es‘ ist das Unbewusste, „irgendein Wunderbares, das Alles, was der 
Mensch tut und was mit ibm geschieht, regelt‘ (S. 10). Das Es „lebt den 
Menschen, ist die Kraft, die ihn handeln, denken, wachsen, gesund und krank 
werden lässt, kurz, die ibn lebt“ (S. 281). Also ein selbständig regierender und 
zwar allmächtig regierender Bestandteil des Seelenlebens, nicht etwa, wie noch 
fassbar, nur ein Reservoir verdrängter, schlummernder Vorstellungen, die zur 
Bewusstseinshelle vorzudringen streben. Wenn man nun weiter hört, dass Ver- 
fasser sich nachdrücklichst als Schweninger-Schüler bezeichnet, kann man schon 
auf merkwürdige Outsider-Anschauungen im ärztlichen Denken sich gefasst 
machen, ist doch dem Referenten die Schweninger-Zeit noch gar deutlich in Er- 
innerung mit dem wenig rühmlichen Ausgang der Lichterfelder Krankenhaus- 
tätigkeit. Doch Verfasser nennt sich auch Schüler Freud’s. So liess sich er- 
warten, dass er die sattsam bekannten Leitsätze der Freudianer bringen und in 
verba magistri schwören würde, und zwar feuilletonistisch, wie es schon der viel- 
sagende Untertitel des Buches verheisst. Übrigens muss die Adressatin der Briefe 
ein merkwürdig gegen Frivolitäten schamlosester Art abgehärtetes Wesen sein, 
der er seine Wahrheiten enthüllt. Hätte Verfasser sich nur auf die Populari- 
sierung von Ideen der Freudianer beschränkt, so würde sich dagegen nichts prin- 
zipiell einwenden lassen, wenn auch diese Ideen und vor allem ihre praktische 
Nutzanwendung manch Unheil stiften. Es bliebe aber der diesen Ideen inne- 


74 Kritiken. [5 


wohnende, ernste. fördernde, heuristische Wert. Anders aber, wenn Verfasser 
diese Ideen überbieten za können vermeint und zu Verstiegenheiten gelangt, die 
auch der wohlwollendste Kritiker zurückweisen muss, und wenn er diese Ver- 
stiegenheiten durch seltszame Dogmatisierung zu unantastbarer Weisheitslehre 
stempelt. Hiervon einige Proben: 

Das Wesentliche des Arztes ist „ein Hang zur Grausamkeit, der gerade so 
weit verdrängt ist, dass er nützlich wird, und dessen Zuchtmeister die Angst ist, 
weh zu tun. Eine Anschauung, die schon Stekel in seltsamsten Formen variiert, 
und die uns Ärzten unser Wesen eındeutig klären soll. 


Groddeck weiss auch, weshalb die Frauen den Frauenarzt aufsuchen, 
„Weil die Frau nie Gelegenheit hat, sich ausserhalb der Ehe zu zeigen, weil das 
Kranksein alles entschuldigt, und weil das Kranksein die unbewussten, halb be- 
wussten und bewussten strafbaren Wünsche rächt und so vor der ewigen Strafe 
schützt“. Also der Exhibitionismus trägt die Schuld. Groddeck sagt einer 
Patientin, „sie gehe zum Frauenarzt, weil man gerne einmal eine andere Hand 
als die des Geliebten spüren möchte, ja, man werde zu diesem Zweck wirklich 
krank. Alles Wesentliche gehe auch bei der Gynäkologie ausserhalb des Bewusst- 
seins vor sich... .. Das unbewusste Es schafft die Krankheiten. Sie kommen 
nicht von aussen als Feinde, sondern sind zweckmässige Schöpfungen des Es.“ 
Nun kennen wir ja die Entstehungsbedingungen gynäkologischer Krankheiten. 
Was das Es auf diesem Gebiete Wunderbares leistet, verrät uns Groddeck an 
zahlreichen Stellen seines Buches. So findet er einmal, als er zu einer Gebärenden 
gerufen wird, das Kind in Steisslage.e Die Wehen hatten noch nicht begonnen. 
Was tut Groddeck in dieser Situation? „Ich habe mich zu ihr gesetzt, ein 
wenig in ihren mir schon ziemlich bekannten Verdrängungs-Komplexen geforscht 
und ihr schliesslich in glühenden Farben die Lust der Entbindung geschildert.... 
Sie solle selbst darüber entscheiden, ob sie narkotisiert werden wolle. Damit. 
bin ich abgereist. Eine halbe Stunde nach meinem Weggang lag das Kind mit 
dem Kopf nach unten.“ 

Hoffentlich werden nicht viele Ärzte das BeispielGroddecks befolgen, bei 
Steisslage des Kindes mit der Gebärenden über Verdrängungs-Komplexe zu plaudern 
und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen, in der Erwartung, das Unbewusste 
wird schon alles ins Lot bringen. Nur aus solcher Einstellung, wie sie Verfasser 
hier predigt, ist der folgende ungeheuerliche Satz möglich. „Sie mögen mir 
glauben oder nicht, es ist noch nie eine Fehlgeburt zustande gekommen, die 
nicht absichtlich, aus gut erkennbaren Gründen, vom Es herbeigeführt worden 
wäre.‘ Nun kennen wir auch die Entstehungsbedingungen der Fehlgeburt. 


Der Kropf ist ein phantasiertes Kind.. Groddeck wurde ihn los ohne 
Operation, ohne Behandlung, ohne Jod und Thyreoiden, auf denkbar einfachste 
Weise. Er verschwand, weil das Es einsehen lernte und das Bewusstsein ein- 
sehen lehrte, dass Groddeck wirklich wie jeder Mensch ein doppeltes Geschlechts- 
wesen und -leben habe, es also unnötig sei, das handgreiflich durch eine Ge- 
schwulst zu beweisen. Sic!! 

Menschen, die ihre Mutter hassen, sind kinderlos, und das ist. so wahr, 
dass man bei unfruchtbaren Eben ohne weiteres annehmen kann, einer von 
beiden Teilen ist Feind seiner Mutter. Wer seine Mutter hasst, der fürchtet sich 
vor dem eigenen Kinde, denn der Mensch lebt nach dem Satz: „Wie du mir, 80 
ich dir!'* Was kann dieser ungelieuerliche Leitsatz, wenn er kinderlosen Ehe- 
paaren vor Augen kommt, für niederdrückende Gedanken auslösen, sobald er 
unkritisch als wahr genommen wird! 


Da das Es symbolisch denkt, hier die tollsten Wortanklänge und Doppel. 
sinnigkeiten angeblich zweckvoll ausnützt, kann es nicht wundernehmen, dass 
für Groddeck die Nebenerscheinungen der Gravidität symbolische Wurzeln 
haben. Der Zahnschmerz ist der unbewusste Wunsch, dass der Keim des Kindes 
erkranken, sterben soll; die Übelkeit ist Wunsch und Versuch der Abtreibung. 


6] Kritiken. 75 


Ebenso symbolisiert sind Blutungen aller Art, unzeitgemässe Gebärmutterblutungen, 
Blutungen aus Nase, Mund, After, Lungen. Besonders sinnreich ist die Erklä- 
rung von Mastdarmwürmern, aus der Assoziation Wurm-Kind!! 

Eine Frau bricht durch Ausgleiten den Arm, sieht gleichzeitig einen Korb 
Spargel. Und die Groddecksche Erklärung? Ein wohl geluugener Versuch, 
die schwankende Moral zu stützen, eine verdrängte Onanie-Phantasie!! 

Kreuzschmerzen bei der Periode erleichtern der Frau den Widerstand gegen 
ihre Begierde. In dem Worte Kreuz steckt das Mysterium der Christenheit, das 
Os sacrum birgt das Problem der Mutter. Je schwerer der innere Konflikt des 
Menschen ist, um so schwerer die Erkrankungen, die ja symbolisch den Konflikt 
darstellen. So greift das Es zum Fieber, zur Lungenentzündung, zum Beinbruch, 
zur Lähmung, zum Krebs, zur Schwindsucht. „Denn nur der stirbt, der sterben 
will, dem das Leben unerträglich wurde.‘ Natürlich kann die Psychoanalyse 
auch die Heilung von Wunden und organischen Erkrankungen beeinflussen. 

Es mag an diesen Proben genug sein, obwohl die bekannten Dinge wie 
Penisneid, Kastrationskomplex, Kindersexualität im Sinne der Psychoanalyse vom 
Verfasser noch besonders monströs geschildert werden. Ernst kritisch zu seiner 
Darstellung, die er an eine Freundin richtet, sich zu äussern, erscheint nicht an- 
gebracht. Placzek, Berlin. 


Karen Horney: Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes. 
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse 1923. H. 1. 


Die bekannte Tatsache, dass manch weibliches Wesen lieber als Manu ge- 
boren sein möchte, fassen die Freudianer als zeitweiliges oder dauerndes Leiden 
vieler weiblicher Personen, die im kindlichen oder reifen Alter stehen, und führen 
sie zurück auf den Penısneid des kleinen Mädchens. Der Nichtbesitz eines 
Penis, unannehmbar in der Vorstellung, schaffe passive, die Racheeinstellung gegen 
den bevorzugten Mann aktive Kastrationsphantasie. Dass der Knabe beim Uri- 
nieren sein Glied anfassen darf, wird als eine ihm erteilte Onanieerlanbnis auf- 
gefasst. Da diese dem Mädchen verwehrt ist wegen andersartiger Uriniermög- 
lichkeit, fühlt es sich benachteiligt, hierin wie in der Befriedigung gewisser anderer 
Partialtriebe. Indem sie sich mit der Mutter identifiziert und den Vater zum 
Liebesobjekt nimmt, wird sie bei Erkenntnis der Realitätsmöglichkeit schwer ent- 
täuscht. Darauf wırd das oft so lärmend zur Schau getragene Männlichkeits- 
verlangen dieser Mädchen und Frauen zurückgeführt, als Urgrund einer Neurose, 
in der Vergewaltigungsphantasien dominieren. Auch der Wunsch nach einem 
Kinde vom Vater ist bedeutsam. Verfasser glaubt aber nun als tiefere Wurzel 
gewisser Zwangsneurosen eine Ablösung der Mutteridentifizierung durch eine 
solche der Vateridentifizierung gefunden zu haben. ‚Den Vater spielen heisst 
eben immer, irgendwie auch dıe Mutter begehren, also eine narzistische Regres- 
sion zur homosexuellen Objektbesetzung, die Phantasie, die den Verlust des 
männlichen Genitales einem Liebesakte des Vaters zuschreibt.‘“ Der Penisneid 
bindert nicht eine starke, ganz weibliche Liebesbindung an den Vater und erst 
das Scheitern am Ödipuskomplex führt zu der Abwendung von der eigenen Ge- 
schlechtsrolle. 

Referent möchte nicht unterlassen darauf hinzuweisen, dass der Gedanke 
des Penisneides schon seinen Vorläufer in einer Grundanschanung des griechischen 
Altertums hat, denn der Grieche sah im weiblichen Schosse nur fehlende, im 
männlichen potenzierteste Reize. Placzek, Berlin. 


Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Herausgegeben von Max Mar- 
cuse. Verlag von Marcus und Weber, Bonn 1923. 


Wenn man sich durch die Fülle des in diesem Werke dargebotenen Stoffes 
hindurchgearbeitet hat, ist man für die unendliche Mühe dankbar, die der Heraus- 
geber dabei auf sich genommen hat. Er hat den Begriff der Sexualwissenschaft 


76 Kritiken. [7 


in dem weitesten — und wohl auch tiefsten — Sinne genommen: nicht in dem- 
jenigen eines besonderen Gegenstandsgebietes, sondern in demjenigen einer be- 
sonderen geistigen, forschenden Einstellung, einer besonderen Blickrichtung auf 
Leben und Gemeinschaft überhaupt. Alle Gebiete der Menschenkunde, des Geistes- 
geschehens und der zwischenmenschlichen Ordnungen werden unter dem Gesichts- 
punkt gewürdigt, wieweit Sexus und Eros an ihren Gestaltungen beteiligt sind. 
So entstand ibm das Programm einer natur- und kulturwissenschaft- 
lichen Geschlechtskunde des Menschen. Dieses Programm ist in einer 
Reihe von — alphabetisch geordneten — Stichworten zur Durchführung ge- 
kommen, in denen jeweils die Grundprobleme der einzelnen Forschungsgebiete 
eingefangen sind. Die Bearbeitung dieser Stichworte hat der Herausgeber dann 
denjenigen Gelehrten übertragen, die dem einzelnen Problem besonders nahestanden. 
Und die Mannigfaltigkeit und — warum es verschweigen — zuweilen auch Bunt- 
heit, ja Divergenz der eingegangenen Bearbeitungen hat er aladann mit unermüd- 
licher Sorgfalt lexikographisch ergänzt und zu einem Ganzen zusammengesch weısst. 
In kluger Vorsicht hat er den anderen möglichen Weg vermieden: den des syste- 
matisch geordneten Handbuches. Zu einem solchen — das vielleicht didaktisch 
zweckmässiger scheinen möchte — ist die Zeit und die Sexualwissenschaft 
(wenigstens im Sinne des Begriffs, in dem sie hier gefasst wird) noch nicht reif; 
die Divergenz der einzelnen Bearbeiter und der verschiedene Stand der Furschung 
an den Teilproblemen, ja auch die Heterogeneität der Probleme selber, hätte not- 
wendigerweise den systematischen Rahmen sprengen müssen. Der enzyklopädische 
hingegen hält das Ganze dort — wenn auch manchmal etwas locker und äusser- 
lich — innerhalb einer Einheit zusammen. 

Das Werk hat zwei grosse Vorzüge: es ist interessant, und es hat ein 
— in der Sexuologie leider ungewöhnliches — hohes Niveau. Kein Forscher, 
der es liest, wird mit allem und jedem einverstanden sein; aber keiner wird 
auch ohne Anregungen von ihm scheiden. Diese beiden Eigenschaften sind in den 
Persönlichkeiten der vom Herausgeber ausgewählten Mitarbeiter ebensu begründet 
wie in der Art, wie er einen jeden derselben gerade mit denjenigen Problem- 
bearbeitungen betraut hat, die neben der Sache auch das Forscherprofil des Be- 
arbeiter hervortreten liessen. Mitarbeiter wie Leopold v. Wiese, Vier- 
kandt, Sudhoff, Posner, Mittermaier, Fürbringer, Freud, Birn- 
baum, Elster, F. Giese, Ph. Kuhn, W. Liepmann, Hammerschlag, 
Knud Sand, Siegel, Bovensiepen und 'limerding, wie Agnes Bluhm 
und Else Voigtländer berechtigen ja zu bedeutenden Erwartungen. Diese Er- 
wartungen werden auch kaum irgendwie enttäuscht. Für den Referenten waren 
die anthropologisch-ethnologischen Arbeiten v. Reitzensteins in all ihrer gegen- 
wärtigen Aktualität ein besonderer Genuss. 

Alles in allem: Referent glaubt, dass die Sexualwissenschaft mit diesem 
Buche ein Werk erhalten hat, das ihrer würdig ist. Kronfeld, Berlin. 


Ad. Czerny und A. Keller (Berlin): Des Kindes Ernährung, Ernährungs- 
störungen und Ernährungstherapie. Zweite vollkommen umgearbeitete 
Auflage. I. Bd., I. Teil. 6888. Grundpreis 36.— Mk. Fr. Deuticke, Wien 1923. 


Seit die 1. Lieferung der 1. Auflage erschienen ist, ist über ein halbes 
Menschenalter verflossen. In diese Zeit fällt für die Kinderheilkunde eine be- 
sonders rege und fruchtbare Forscherarbeit, grossenteils aus der Schule der Ver- 
fasser. Wenn auch, wie die Einleitung zur 2. Auflage hervorhebt, die Kinder- 
heilkunde von einer einheitlichen Auffassung des Ernährungsproblems leider noch 
weit entfernt ist, so bat doch in vielen Teilfragen eine Klärung stattgefunden. 
Die Verfasser erwarten eine Förderung der gegenseitigen Vorständigung gerade 
dadurch, dass sie in der vorliegenden Auflage ihre Erfahrungen von neuem be- 
gründen. Der vorliegende Abschnitt enthält die „Ernährung des gesunden Kindes“. 
Hoffen wir, dass das mit Spannung erwartete Werk bald vollständig vorliegt. 

G. Tugendreich, Berlin, 


8] Kritiken. 77 


Josef K. Friedjung (Wien): Die kindliche Sexualität und ihre Be- 
deutung für Erziehung und ärztliche Praxis. 37 S. Verlag von Julius 
Springer, Berlin 1923. 


Das Schriftchen, Sonderabdruck aus dem 24. Bande der Ergebnisse der 
inneren Medizin und Kinderheilkunde, führt in vortrefflicher Weise in die ja 
gegenwärtig viel erörterten Fragen der kindlichen Sexualität ein. Anerkennens- 
wert ist der massvolle vermittelnde Standpunkt des Verfassers, der zwar Freu- 
dianer ist, aber in der vorliegenden Arbeit nur ganz gesicherte Ergebnisse der 
Freudschen Forschung anführt. 

Fasst man mit Freud den Begriff der Sexualität so, dass er alle lust- 
betonten Triebregungen, die nicht dem Zwecke der Selbsterbaltung dienen, um- 
fasst, so lassen sich unstreitig schon im frühesten Kindesalter sexuelle Regungen 
feststellen, die z. T. wohl schon intrauterin erworben sind. Dahin zählt das 
Lutschen zum Beispiel, das Lustgefühl beim Gestreicheltwerden u. a. mehr. Solche 
„Partialtriebe‘“ dominieren, bis die Geschlechtsreife den „Primat der Genitalzonen‘“ 
aufstellt. Dem Kinde kann jede Stelle seines Körpers zur Vermittlerin von Lust- 
empfindungen werden; es sucht diese Lustempfindungen auszulösen, da Scham, 
Ekel, Moral, ja nach dem Alter des Kindes noch nicht aufgeführt oder erst in 
Bildung begriffen sind. 

Verfasser bespricht nach dieser Einführung die wichtigsten Sexualäusserungen 
des Kindes gesondert: die Autoerotik (Lutschen, Haut-, Analerotik, Onanie), 
die Heteroerotik mit der dem Kindesalter eigentümlichen Objektwahl (Eltern, 
Ödipuskomplex), das psychosexuelle Verhalten. 

Der zweite Abschnitt behandelt — etwas zu knapp — die Aufgaben der 
Erziehung, der dritte: ärztliche Gesichtspunkte. Die Onanie wird als unschädlich 
bezeichnet; gefährlich ist nur die von Erziehern gezüchtete Furcht vor der Onanie. 
Schliesslich wird dem Schularzte in allen diesen Fragen eine führende Rolle zu- 
gesprochen. G. Tugendreich, Berlin. 


Harry Benjamin: The Steinach-ÖOperation. Report of 22 cases with 
endokrine interpretation. (Bericht über 22 Fälle von Steinach- Operation 
mit Erklärung der Inkretion.) Endokrinologie. Bd. VI. Nr. 6. 1922. 


Als Steinach-Operation wird die Unterbindung des Ductus deferens mit 
Vasektomie bezeichnet. 6 Monate nach der Operation fanden sich bei 22 Patienten 
folgende Ergebnisse: Von 6 keine Angaben, bei 9 mehr oder minder grosse Besse- 
rung des Zustandes, 4 zweifelhaft bzw. subjektiv gebessert, 3 negativ. Die Puber- 
tätsdrüse soll zu stärkerer Tätigkeit angeregt werden, ebenso bzw. durch sie die 
Keindrüsen und durch diese die Schilddrüse. Fritz Levy, Berlin. 


I. L. Stanley: An Analysis of one thousand testicular substance im- 
plantations. (Analyse über 1090 Hodensubstanzimplantationen). Endokrino- 
logie. Bd. VI. Nr. 6. 1922. 


Die besten Wirkungen beobaclıtete Verfasser in Fällen von allgemeiner 
Schwäche, Rheumatismus, Acne vulgaris, Neurasthenie, sexueller Schwäche, Astlıma 
und Senilität. Hier wurde der Zustand .zahlreicher Patienten wesentlich gebessert. 

Fritz Levy, Berlin. 


Max Thoreck: The present position of testicle Transplantation in 
surgical practice. Appreliminary report of a new method. (Der gegen- 
wärtige Stand der Hodentransplantation in der chirurgischen Praxis. Vor- 
läufiger Bericht über eine neue Methode.) Endokrinologie. Bd. VI. Nr, 6. 


Die histologische Untersuchung von nach bisherigen Methoden transplan- 
tierten Hoden ergab, dass die Stücke nicht vaskularisiert waren und daher all- 
mählich einer Resorption anheimfielen. Verfasser hat eine neue Technik, die 


78 Kritiken. [9 


sog. Laternenmethode, über die er Näheres an anderer Stelle mitteilen will, 
gefunden, mit deren Hilfe es ihm gelungen ist, Transplantate von Hoden zu er- 
halten, die vaskularisiert wurden. Das Keimepithel ging zugrunde, die Zwischen- 
zellen wucherten erheblich. Es gelang so, Hoden von Menschen und höheren 
Affen auf Menschen zu transplantieren. Nach der Transplantation fand sich eine 
Beseitigung der Ausfallserecheinungen, die infolge Fehlens oder Unzulänglichkeit 
der Hoden vorher bestanden hatten. Fritz Levy. Berlin. 


M. Zawadowsky (Moskau): Das Geschlecht und die Entwicklung der 
Geschlechtsmerkmale. Zur Analyse der Formenbildung bei Tieren. (In 
russischer Sprache mit kurzem deutschen Anhange.) 1922. 


Prof. Zawado wsk y schrieb dieses Buch während der russischen Bürger- 
kriege in der Einöde von Askania-Nova, teilweise buchstäblich zwischen den 
Fronten zweier feindlicher Armeen. Es ist tief zu beklagen, daß ıhm dabei 
ein Teil seines wertvollen Materiales vernichtet wurde, der so nur in schema- 
tischer Art reproduziert werden konnte. Es ist ferner bedauerlich, dass Z. nicht 
in der Lage war, die seit 1914 erschienene Weltliteratur — mit Ausnahme 
einiger Arbeiten, die ihm 1920 aus kurzen Referaten bekannt wurden — zu 
benutzen. Um so grösser ist deshalb für die Wissenschaft der Wert seiner 
selbständigen Forschung, deren Resultate sich tatsächlich mit den unabhängig 
davon ausserhalb Russlands entstandenen in weitem Masse decken. 

Zwei Fragen werden ausführlich untersucht: erstens die der Bedeutung 
der innersekretorischen Drüsen im Prozess der Morphogenese, und zweitens 
die der Geschlechtsbestiimmung, wobei das Geschlechtsproblem als spezieller 
Teil der Morphogenese behandelt wird. Die Beziehungen zwischen Hoden 
bzw. Eierstock und Morphogenese werden an sehr zahlreichen Tierexperimenten 
nachgeprüft, besonders die Entstehung der sekundären Geschlechtsmerkmale 
beim Huhn. Z. teilt alle Merkmale der Hühnerorganisation vom morphogene- 
tischen Standpunkte in drei Gruppen ein: 


1. Asexuelle oder geschlechtslose Merkmale (Gattungsmerkmale'. 
Sie entwickeln sich unabhängig von den Geschlechtshormonen. 


2. Pseudosexucelle oder „unabhängige“ Merkmale (pseudogeschlechtliche 
Merkmale). 

Sie können sich ohne Mitwirkung der Geschlechtsdrüsenhormone ent- 
wickeln, doch kann ihre Entwicklung aufgehalten oder durch das Hormon der 
(Greschlechtsdrüse des einen Geschlechts modifiziert werden (z. B. das Hahnen- 
gefieder und die Sporen können durch das Hormon des Eierstocks in ihrer 
Entwicklung angehalten werden). 


3. Sexuelle oder „abhängige“ Geschlechtsmerkmale (eigentliche Geschlechts- 
merkmale). 

Die Entwicklung derselben ist nur unter Mitwirkung des Geschlechtsdrüsen- 
hormons möglich. 

Ferner folgert Z. aus seinen Versuchen, dass dese Thesen sich auch auf 
andere Vögel ausdehnen lassen. Daraus folgert er die allgemeine Gültigkeit 
des Satzes: „Die Sekretion des Hodens sowie des Eierstocks ist spezifisch. Das 
Maskulinisin M (Hormon des Hodens) und das Feminisin F (Hormon des Eier- 
stocks) produzieren qualitativ verschiedene Merkmale und unterscheiden sich 
selbst qualitativ.‘ 

Wenn nun die Sexualhormone ungleichartig sind, so bestände doch die 
Möglichkeit, dass auch die die Merkmale erzeugenden Gewebe beim männlichen 
und weiblichen Tiere ungleich sind. Da aber die Kastraten von beiderlei Ge 
schlecht“, also nach Wegfall der differenzierenden Sexualhormone, sich genau 
gleichen, so ınuss man logischerweise mit Z. zu dem Schluss gelangen, dass 
durch die Gleichheit bei der „Geschlechtslosigkeit‘‘ bewiesen wird, dass das 
männliche und das weibliche Soma äquipotentiell sind. Einige geringe Ab- 


10) Kritiken. 79 


weichungen zwischen kastrierten Männchen und Weibchen z. B. in der Grösse 
erklärt Z. zwanglos damit, dass die Kastrationen ja bereits an immerhin wenn 
auch gering geschlechtlich differenziertem Gewebe vorgenommen worden sind; 
da die Operationen im Alter von vier Wochen vorgenommen wurden, kann 
eine absolute Identität der Kastraten niaht verlangt werden. 

Sexuelle Umstimmungen im Sinne Steinachs gelangen Zawadowsky 
sowohl an Hähnen durch Implantation von Ovarien wie auch an Hennen durch 
Implantation von Hoden. Bei einem Hahn war die Adoption des implantierten 
Ovariums so vollkommen, dass es im Bereiche des Körpers zur Bildung von Eiern 
kam. Die bei Hennen unter die Haut verpflanzten Hoden heilten tadellos ein, die 
arterielle wie venöse Gefässversorgung war vorzüglich. In den Hoden bildeten 
sich eine Menge sehr beweglicher Spermien. Der histologische Bau der Trans- 
plantate unterschied sich durch nichts an den normalen Geweben. 

Abgesehen von den oben erwähnten geringen Unterschieden zwischen den 
Kastraten beiderlei Herkunft, sind die Übereinstimmungen sowohl der Kastraten 
als auch diejenigen der Geschlechtstiere mit den „künstlichen“ Geschlechtstieren 
so gross, dass man trotzdem zu dem Schlusse gelangt, dass beide Geschlechter 
äguipotentielle Gewebe haben. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass 
z. B.sowohl kastrierte Hähne wie Hennen zweimal im Jahre sich mausern, während 
die normalen Geschlechtstiere sich nur einmal mausern. 

Eigenartige Einblicke in die Geschlechtsentwicklung zeigten Hennen mit 
gänzlich entferntem Eierstock. Man kann bei ihnen nach vier bis fünf Monaten 
eine Entwicklung des Kopfschmucks, später eine solche der Stimme und des 
Instinktes des Hahnes beobachten. 

„Abhängige* männliche Merkmale verlangen nun aber ein Vorhandensein von 
M.; dies muss sich also vom rechten Eierstock absondern können, der beim 
normalen Huhn fehlt, beim kastrierten jedoch entwickelt wird; also ist M auch 
im normalen Huhn ausser F vorhanden. 

Zur Prüfung der Frage des hier in die Erscheinung tretenden Zusammen- 
wirkens von F und M und zur Prüfung und Begründung der Vorstellung von der 
hemmenden Wirkung von F auf M wurden Versuche zur Schaffung künstlicher 
Hermaphroditen vorgenommen durch Transplantation von Ovarien in normale und 
unvollkommen kastrierte Hähne sowie von Hoden in normale und unvollkommen 
kastrierte Hennen. Die Ergebnisse — auch im einzelnen sehr interessant — 
sprechen deutlich von einem Hervortreten der morphogenen Funktion des Eier- 
stocks, selbst bei Vorhandensein des funktionierenden generativen Teils des Hodens. 
Bei Vorhandenseins des Eierstocks äussert der Hoden seine morphogene Funktion 
vicht, d. h. also, dass das (Vogel)Weibchen F und M enthalten kann, nur dass M 
bei Vorhandensein von F nicht hervortritt. 

Die gesamten Resultate dieser Versuche werden vom Verfasser in sehr an- 
sprechenden „morphogenetischen Formeln“ zusammengefasst, deren Studium jedoch 
nur im Original erfolgen kanu. Ausgehend von den morphogenetischen Formeln 
sieht der Verfasser in Heterotransplantationsversuchen einen der fruchtbarsten 
Wege zur Analyse der Identitäten und Differenzen der am Prozesse der Form- 
bildung teilnehmenden Komponenten. Viele natürliche Beobachtungen lassen sich 
übrigens im ungezwungenen Einklang mit den experimentellen Ergebnissen des 
Verfassers bringen, so z. B. die Annahme des Hahbnengefieders als Hervortreten 
der pseudosexuellen Merkmale im Zusammenhang mit dem Aufhören oder den 
Defekten innersekretorischen Funktion des Eierstocks u. a. m. 

Des Weiteren wendet sich der Verfasser der Frage zu, ob die an Vögeln 
gefundenen Ergebnisse sich auch auf die Säugetiere ausdehnen lassen. Das Material 
von Askania-Nova war hierzu durch seinen auffallenden geschlechtlichen 
Dimorphismus besonders geeignet. Doch konnten die Untersuchungen — ebenso 
wie diejenigen von Steinach — nicht alle Elemente dieser Frage aufzeigen. 
Doch glaubt sich der Verfasser für berechtigt zu halten, aus seinen Implantations- 
versuchen an Säugetieren den Schluss zu ziehen, dass auch die Gewebe der 


80 Kritiken. [il 


Säugetiere äquipotentiell angelegt sind und nur durch Einwirkung eines spezifischen 
Geschlechtshormons differenziert werden. Doch hält er trotz anscheinender Be- 
gründung den Schluss für verfrüht, dass das Säugetierweibchen wie das Vogel- 
weibchen F und M enthält und F das Hervortreten von M hindert. So bält er 
die Bisexualität des Säugetierweibchens für wenig wahrscheinlich. Doch scheinen 
ihm auch für die gegenteilige Annahme beim Männchen die Beweise zu fehlen. 
Er hält im Gegenteil das Säugetiermännchen für wahrscheinlich bisexuell. 


Das bemerkenswerte Vorherrschen der hebridologischen Analyse veranlasst 
den Verfasser, das Fazit der Untersuchungen mit der abstrakten Symbolik der 
Genetik zu konfrontieren. Im folgenden seien die sehr bemerkenswerten Tabellen 
des Verfassers im Wortlaut angegeben: 


Thesen 


pt 
e 


w 


- Feminisin F beim Weibchen; 


der Morphogenese. 


Die Summe der Geschlechtsmerkmale 
steht in morphogenetischer Abhängig- 
keit vom Geschlechtshormon; vom 
vom 
Maskulinisin M beim Männchen. 


. Bei Vögeln ist, im Sinne des Hormon- 


inhaltes, das eine der Geschlechter 
bisexuell F(M), das andere mono- 
sexuell M. 

Bisexuell ist bei Hühnern das 
Weibchen. 


.Das Feminisin hindert das Hervor- 


treten des Maskulinisins. 


. Das Feminiein und das Maskulinisin 


verschiedener Hühnerrassen (und 
anderer Vögel) ist augenscheinlich 
identisch. 
F =F =F, 
M&M Mier 


. Bei ein und derselben Rasse ist das 


Soma des Männchens demjenigen des 
Weibchens gleichpotential 


1° 
Unter dem Einfluss von M diffe- 

renziert das Soma zu den Geschlechts- 
merkmalen des Männchens hin, unter 
dem Einfluss von F zu denjenigen 
des Weibchens. 

X+M—> cd 

X+F(M)—- ọọ 


. Das Soma des Männchens einer Rasse 


ist mit dem Soma des Weibchens einer 
anderen Rasse nicht identisch, d. h. 
X = X, 


der Hebridologie. 


1. Die Summe der Geschlechtsmerkmale 
kann mit einem Symbol ausgedrückt 
werden. 


F — Ọ und f oder M — Jg. 


2. Das eine der Geschlechter ist hetero- 
sigotisch fF, das andere homosigo- 
tisch ff. 

Heterosigotisch ist bei Hühnern 
das Weibchen. 


3. Das geschlechtliche „Gen“ des Weib- 
chens =F ist epistatisch im Ver- 
hältnis zum „Gen“ des Männchens 


=f. 


4. Bei Rassenkreuzung werden die „Ge- 
schlechtsgene“ verschiedener Rassen 
in den hebridologischen Formeln mit 
gleichen Symbolen ausgedrückt. 

F=F,.=F, 


f=f, =f 


5. Bei Kreuzung des Männchens und 
Weibchens einer Rasse ist es nicht 
erforderlich, die sekundären Ge- 
schlechtsmerkmale des Männchens 
und Weibchens in besonderen Sym- 
bolen auszudrücken. 


CH 


. Bei Kreuzung des Männchens und 
Weibchens verschiedener Rassen sind 
auch die sekundären Geschlechts- 
merkmale in besonderen Symbolen 
zum Ausdruck zu bringen. 


21] Kritiken. 81 


Der Parallelismus in den Angaben der morphogenetischen Analyse und der 
Hebridologie ist derart frappant und überraschend vollkommen, dass wir in den 
Angaben der Morphogenese Hinweise auf einen sich hinter den abstrakten Symbolen 
der Genetik verbergenden konkreten Inhalt zu schliessen bereit sind. Der Ver- 
fasser ersieht aus seinen Versuchen Hinweise darauf, dass hinter den Symbolen 
der „Geschlechtsgene* F und f die Geschlechtshormone Feminisin und Maskulinisin 
zu suchen sind. Der Verfasser glaubt meines Erachtens mit Recht, dass seine 
Lösung des Geschlechtsproblems der Wahrheit nahe liegt, da eine richtige Theorie 
immer die Probe besteht, wenn sie mit verschiedenen Methoden der Prüfung unter- 
worfen wird. Er ist der Meinung, dass auch die Genetik in einigen Fällen als 
Leiter der Lehre von der Formenbildung und der Physiologie fungieren kann. Er 
lehnt jedoch ferner als Illusion ab, dass alle „Gene“ der Genetiker ihren physio- 
logisch-chemischen Inhalt finden, der jedoch auch nicht hinter allen Symbolen der 
Hebridologen zu finden ist. Arnold Hirsch, Berlin. 


J. Rutgers: Das Sexualleben in seiner biologischen Bedeutung als ein 
Hauptfaktor der Lebensenergie für Mann und Weib, für die Pflanzen 
und für die Tiere. Verlag von R. A. Giesecke, Dresden. 


Wenn nicht die ersten Lieferungen des sechsbändigen Werkes an dieser Stelle 
besprochen wären (Band IX, Heft 1), so würde ich mich kaum veranlasst gesehen 
haben, hier über Heft V (Liebesleben) und VI. (Verstümmeltes Geschlechtsleben) 
zu berichten. Lyrisch-sentimentale Sprache ist im allgemeinen kein Ausdrucks- 
mittel für wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Wo der Versuch zu neuen 
biologischen Auffassungen gemacht wird, sind sie durchweg recht phantastisch 
und wissenschaftlich bedenklich. Die beiden Hefte können nicht zur wissenschaft- 
lichen Sexualliteratur gerechnet werden, sind auch den an diesen Fragen interessierten 
Intellektuellen (für die sich der Autor seine Arbeit ebenfalls gedacht hat) nicht zu 
empfehlen. Arnold Hirsch, Berlin. 


Georg Flatau: Sexuelle Neurasthenie. Verlag von Fischers med. Buch- 
handlung H. Kornfeld, Berlin 1923. 


Ein Buch aus der Praxis für die Praxis, aber recht einseitig, was der Ver- 
fasser ja auch keineswegs leugnet. Es berührt bei einer wissenschaftlichen Arbeit 
peinlich, wenn ein wichtiger Zweig der Sexualforschung, die Psychoanalyse, 
zum Teil nebensächlich erwähnt, zum grösseren und leider gerade wichtigsten Teile 
überhaupt totgeschwiegen wird. Einspruch erheben muss ich aber vom frauenkund- 
lichen Standpunkte dagegen, dass der Verfasser Kellnerinnen und Prostituierte in 
einem Atemzuge als Paradigmata für sexuelle Exzesse nennt (Seite 96). Wenn 
auch Kellnerinnen einen nicht geringen Prozentsatz der geheimen Prostituierten 
auszumachen scheinen, so muss man besonders in der heutigen Zeit, wo viele 
Frauen hart um ihre Existenz ringen müssen, sehr vorsichtig sein mit moralischen 
Werturteilen über eine ganze doch durchaus einwandfreie Berufsklasse Die An- 
schauungen desVerfassers über die psychischen Wurzeln der Sexualität bedürfen 
dringend der Anpassung an die modernen Forschungsergebnisse. 

Arnold Hirsch, Berlin. 


August Forel: Gehirn und Seele. 13. durchgesehene und ergänzte Auflage. 
Verlag von Alfred Kröner, Leipzig 1922. 


Dreissig Jahre sind verflossen, seit Forel zum ersten Male auf der 66. Ver, 
sammlung deutscher Naturforscher und Ärzte über Gehirn und Seele sprach, 
fünfzehn Jahre, seit der verdiente Forscher diesen Vurtrag in der 11. Auflage 
(1909) der modernen Forschung anpasste und in vielen durch die Semonschen 
Gedankengänge (vor allem auch in der Terminologie, deren Kritik aber hier zu 
weit führen würde) sehr geschickt ergänzte. Dem Werke, das nun nach weiteren 


Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 1/2. 6 


82 Kritiken. [13 


15 Jahren uns in der 13. Auflage vorliegt, ging dadurch zweifellos nichts von 
seinem individuellen Charakter (und Wert!) verloren. Es kann als schönes Bei- 
spiel dienen, wie unter Verzicht auf jedes kleinliche und rechthaberische Fest- 
halten an der eigenen vorgefassten Meinung ein Forscher mit unbeirrbarer Wahr- 
heitsliebe auch der Meinung seiner Gegner voll gerecht wird, und da, wo er sich 
mit ihnen auseinandersetzt (Pater Wasmann), nie mit Wortbegriffen operiert, son- 
dern nur aus der Summe des völlig gesicherten Erkenntnisschatzes mit strenger 
Logik seine Schlüsse zieht. 

Das Thema selbst beleuchtet der Verfasser von der physiologisch-psycho- 
logischen, der entwicklungsgeschichtlich-biologischen, der experimentell-zoologi- 
schen und der religiös-philosophischen Seite aus und kommt zu dem Schluss, 
dass Körper und Geist, Gehirn und Seele untrennbar sind. Was aber geradezu 
bewundernswert ist, der Verfasser weiss den gewaltigen Stoff auf 95 Seiten so 
gründlich zu konzentrieren, dass man, am Schlusse angelangt, erstaunt ist, keine 
Lücke gefunden zu haben. Arnold Hirsch, Berlin. 


Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros. 182 S. Verlag von Georg 
Müller, München 1922, 


Es wurde und wird in diesen Tagen von Berufenen und Unberufenen gar 
viel über Erotik und über den Eros geschrieben. Hier tritt Klages mit einem 
Werke vor die Öffentlichkeit, das in mebr als einem Sinne der Beachtung auch 
der Leute wert ist, die er selbst die „bücherschreibenden Sexusapostel“ nennt. 
— Dieses Werk ist von der wissenschaftlichen Plattform aus schwer zu bewerten, 
da es jede naturwissenschaftliche Grundlage und Methodik absichtlich überfliegt 
und mit künstlerischem Schwunge zu einer Apologie und zugleich Apotheose des 
Eros wird. Es haben natürlich schon vor ihm, namentlich Philosophen, den Eros 
zu einer metaphysischen Angelegenheit gemacht, aber er weicht doch in vielem 
von den Anschauungen, die hier schon Plato und neuerdings wieder Hans 
Blüher entwickelten, nicht unwesentlich ab. Sexus (Gattungstrieb) und Eros 
scheinen sich meist im Verhältnis einer gegenseitigen Störung zu befinden, wie 
auch die höchste Verwirklichungsebene des Erotischen sich nicht mehr in der 
Zweiheit, also an und mit den Partner, sondern in einem seelisch letztlich ein- 
samen Zustand bestimmter Formung erweist, nämlich in der Ekstase. 

Klages unterscheidet drei Formen der Ekstase: die heroische, die erotische 
und die magische. Es ist sehr bedeutsam, was er über die bindende und ent- 
bindende Gewalt des Rauschzustandes zu sagen weiss, dass nämlich der Rausch 
nicht die Seele vom Leibe befreie, sondern vom Geiste; überhaupt bedeuten seine 
klaren Feststellungen über das antithetische oft soger antinome Verhalten von 
Geist und Seele, von Person und Individualität einen Fortschritt im psychologi- 
stischen Sinne. 

Für den Leser besonders reizvoll sind die aus Mythologie und Historie 
herbeigeholten Materialien über die Feste und Kulte menschlicher Ekstase. Der 
hier schon ziemlich angehäufte, aber nicht leicht zugängliche Stoff, kommt nicht 
nur zu einer literarischen Überschau, sondern zugleich zu einer künstlerischen 
Neuformung, deren sprachlicher Schwung zuweilen sich zur dithyrambischen Be- 
wegung steigert. — Dieses Buch vom „weltenzeugenden Eros“ sei vor allem 
auch den sexuologischen Zunftgenossen anempfohlen, denen es nicht schaden 
kann, zuweilen daran erinnert zu werden, dass es durch Kunst und Intuition 
hindurch auch einen Weg zur Wahrheit gibt, der zugleich meist der kürzere und 
angenehmere ist. H. Ko erber, Berlin. 


Rosa Mayreder: Geschlecht und Kultur. 


In diesem bedeutsamen, 21 Bogen starken, bei Eugen Diederichs in Jona 
soeben herausgebrachten Werk bringt die durch ihre früheren Arbeiten, nament- 
lich durch das Buch „Zur Kritik der Weiblichkeit“ schon lange rühmlichst be- 


14] Kritiken. 83 


kannte Verfasserin eine Reihe gesammelter Essays über die Werte sozialer und 
kultureller Art, soweit sie den Lebensformen der Geschlechter zugrunde liegen 
oder durch die Geschlechtlichkeit abgeartet werden. Während ihre „Kritik der 
Weiblichkeit“ von der Frage ausging, was das Weib seiner Natur nach sei, be- 
handelt dieses Buch die Frage, was das Weib seiner Natur nach sein sollte. Dass 
hierüber nach der Natur der allgemeinen gegenwärtigen Lage noch nichts End- 
gültiges ausgesagt werden kann, da sich alle menschlichen Verhältnisse und Ein- 
sichten wie in einem neuen Werden noch unentschieden gegeneinander bewegen, 
ist ganz selbstverständlich. Die Behandlung der einzelnen Themen führt zu in 
sich gesonderten abgeschlossenen Erörterungen, und umgreift dennoch die ge- 
samte Problematik der geschlechtlichen Dinge, die gerade heute nach einer neuen 
Orientierung drängen. An die Ausführungen über „Kultur im allgemeinen“ und 
über „Zivilisation und Geschlecht“ sowie über die „Krise der Väterlichkeit“ 
schliessen sich Aufsätze über „Geschlecht und Sozialpolitik“, „sexuelle Lebens- 
ideale“ wie auch über den „Weg der weiblichen Erotik“, „Wandlungen der Ehe“, 
um mit einer Darstellung „vom Wesen der Liebe‘ wie in einem Dithyrambus zu 
schliessen, der durch den feinen Geist, der unbestechlichen Kritik und der liebenden 
Durchdringung dieses ewigen Stoffes ein neues Zeugnis von der hohen Bedeut- 
samkeit dieser wortführenden Frau gibt. H. Koerber, Berlin. 


Georg Cohn: Ethik und Soziologie. 2. Auflage. 316 S. 8. Grundzahl 10. 
Verlag von Joh. Ambros. Barth, Leipzig 1923. 


Lässt sich die Entwicklung der moralischen Phänomene und ein Urteil über 
ihren Wert aus den Tatsachen der Soziologie ableiten? Wenn ja, wäre die Ethik 
nur ein Teil der Soziologie, nicht eine selbständige Wissenschaft.. Es zeigt sich 
aber, dass geschichtlich-induktive Erklärung der ethischen Phänomene zwar zu 
ihrem Verständnis hilft, aber weder zu ihrer restlosen Erklärung noch gar zur 
Abschätzung ihres Wertes. So wenig die blosse Produktionsweise des materiellen 
Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebeusprozess überhaupt bedingt, 
Recht und Moral der Gesellschaft bloss einen Ausdruck für die in ihr bestehenden 
ökonomischen Zustände bilden, wie der sog. ökonomische Materialismus von 
Marx wollte, so wenig lässt sich aus den soziologischen Tatsachen, selbst wenn 
sie eindeutig festgestellt wären, die Summe der ethischen Phänomene reinlich als 
Ergebnis ablesen. Das Werten ist subjektiv-autonom, und die Ethik hat ihre 
eigenen Probleme wie z. B. das Verhältnis zwischen Norm und Wert, den Gegen- 
satz der äusseren und inneren Welt, die sittlichen Konflikte und ihre Lösung, 
das Risiko der Tat, die Freiheit des Willens, die Verantwortlichkeit, die Kategorie 
des Guten und des Sollens. Um nun, wägend mit gerechten Händen, das Verhält- 
nis zwischen Ethik und Soziologie festzustellen, hat der Verfasser sehr umfang- 
reiche, dankenswerte Studien angestellt. Nach der griechischen Ethik erledigt er 
die neuere mit Einschluss von Spinoza, Leibniz, Kant, dem Utilitarismus, ehe er 
zur allgemeinen Kritik der normativen Ethik übergeht. Dann kommt in den 
9 Kapiteln des zweiten Abschnitts (96—243) die soziologische Ethik (Saint Simon, 
Comte); die organisch-biologische Gesellschafts- Auffassung tritt uns in Spencer 
und Schäffle entgegen. Der Rassenkampftheorie schliesst sich eine Klassen- 
kampftheorie (Marx) an. Die sog. hypnotische Gesellschaftsauffassung von Tarde 
erklärt, die Gesellschaft das ist die Nachahmung, diese aber sei eine Art von 
Somnambulismus. Danu versucht man wieder, die moralischen Vorstellungen in 
ihrer psychologischen, geschichtlich-sozialen Entwicklung darzustellen. Statt des 
Krieges aller gegen alle von Hobbes kommt mutual aid zur Abwechslung; diese 
gegenseitige Hilfe soll sich nach Krapotkin als Entwicklungsfaktor von grösserer 
Bedeutung als der Kampf ums Dasein erweisen. Der kurzen Kritik der sozio- 
logischen Ethik (225—243) schliesst sich im dritten Abschnitt eine ausführliche 
Betrachtung des Verhältnisses zwischen Ethik und Soziologie an (245—315). Es 
ist selbstverständlich, dass der Verfasser auch zu Kants Ethik Stellung nimmt. 


Gë 


84 Kritiken. [15 


Kant habe recht, wenn er das Gute an sich wertvoll nennt, wenn er von einem 
Guten spricht, das nicht mit Rücksicht auf etwas anderes gut sei. Dagegen sei 
es falsch, wenn Kant dies als einen kategorischen Imperativ formuliert. Was 
für den Einzelnen gut ist, braucht es nicht für die Vielen zu sein. In bezug auf 
die unabreissbare Freiheitslehre sagt der Verfasser: „Ia Wirklichkeit beruht die 
traditionelle Zurechnungsiehre nicht auf der Freiheit des Willens, sondern im 
Gegenteil auf der Verursachungafähigkeit des Willens. Die Freiheit des Willens 
bedeutet, dass derselbe nicht nur als Wirkung, sondern auch als Ursache über 
den Kausal-Zusammenhang emporgehoben ist; er ist Glied in einer Seite des 
Daseins, wo Kausalerklärung keinen Sinn hat.* Freiheit bedeutet nicht Verant- 
wortlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit, sondern Handeln auf eigene Gefahr. Auch 
kann die Vorstellung von der Willensfreiheit damit zusammenhängen, dass wir 
einfach die Motive nicht genügend kennen, die unseren Taten zugrunde liegen. 


Der Verfasser ist mit den so mannigfachen Schicksalen seines Gegen- 
standes in alter und neuer Zeit sehr gut vertraut, wie seine kritisch-historische 
Darstellung zeigt; sie ist klar und ganz ohne Phrase, ohne die pathetische Wich- 
tigtuerei, durch welche Ethiker so leicht zu ermüden pflegen. Wirkt das Buch 
hierdurch sehr angenehm, so kommt als noch grösserer Vorzug, dass Georg 
Cohn den Problemen reinlich und sehr gründlich zu Leibe geht. Dem steht 
nicht entgegen, dass dem Verfasser zwischen mechanistischem und teleologischem 
Werden kein absoluter Gegensatz besteht, wie denn das Kausalgesetz nicht die 
Existenz der Dinge erklärt, sondern nur auf die gegenseitigen Beziehungen ihrer 
einzelnen Teile zur Anwendung kommt. K. Bruchmann, Berlin. 


Alfred Vierkandt: Gesellschaftslehre. Hauptprobleme der philosophischen 
Soziologie. 442 S. V. 8%. Verlag von F. Enke, Stuttgart 1923. 


Eine Gruppe ist ein Beieinander von Individuen, die innerlich mit einander 
verknüpft und durch die mannigfaltigsten Wechselwirkungen verbunden sind. 
Jede menschliche Gruppe unabhängig von ihrer Grösse und Bedeutung wird hier 
behandelt. Diese Soziologie will hauptsächlich die Analyse des menschlichen 
Zusammenlebens, dessen Erscheinungen sie beschreibt und zu dessen letzten noch 
unterscheidbaren Tatbeständen samt deren innerem Wesen sie vordringt. Somit 
will der Verfasser die angeborenen sozialen Triebe (doch ganz anders als Fourier 
mit seinem Luxus-, Gruppen- und Serientrieb), ihre gegenseitige Beeinflussung 
und Entwicklung feststellen, z. B. den Trieb der Gemeinschaft, Unterordnung, 
Anerkennung, Macht, Besitzvermehrung, Solidarität; sodann die Bedeutung der 
jedesmaligen Umwelt, wozu z. B. für den sittlich Handelnden auch der Druck 
gehört, der wabrgenommen oder vorausgesetzt im Urteil der Zuschauer liegt. Die 
angeborenen Triebe und deren Unterschied von geschichtlichen Beeinflussungen 
werden analysiert, der berechnende Intellekt gegen das subintelligente Verhalten 
abgeschätzt. Als Grundanschauung des Verfassers erschien mir etwa, dass das 
ungeheure Müssen der Geschichte allgemeiner wirksam und mächtiger ist als 
die Betätigung einer berechnenden Intelligenz, dass die natürlichen angeborenen 
Triebe bestimmender sind als künstliche Veranstaltungen, das natürlich Ge- 
wachsene als das künstlich Gemachte. Auf den Willen, sagt der geistvolle K. E. 
v. Baer, wirkt eine Nötigung, die Menschen und Tiere drängt, für Erhaltung 
ihres Selbst und ihrer Art zu sorgen. Diese Nötigung ist es, die wir Instinkt 
nennen. Er ist Ausfluss aus dem Weltganzen und nicht aus körperlichen Ver- 
hältnissen hervorgegangen. Wie die Tiere wunderbar in ihre Umwelt passen. 
so sind die Menschen mit den Trieben ausgestattet, durch deren Entwicklung sie 
zu den geschichtlichen Lebensformen fähig werden. Wie wir mit Kant die Natur 
a priori als teleologisch sehen, so ist auch beim Menschen eine geheimnisvolle 
Zweckmässigkeit mit seinen Trieben und mit dem sogenannten objektiven Geiste 
(8. u.) verbunden. Freilich verkümmern diese Triebe auch mitunter, und der Ver- 
fasser dürfte wohl zum Teil mit Schopenhauer übereinstimmen, der den Optimis- 


16] : Kritiken. 85 


mus einen Grundirrtum der Religionen und der Philosophie nennt, und dem diese 
Weltansicht nicht bloss als eine absurde, sondern auch als eine wahrbaft ruch- 
lose Denkungsart erscheint, weil bittrer Hohn über die namenlosen Leiden der 
Menschheit. Jedenfalls sind die Erfahrungen der Geschichte weniger als je für 
die Posuunen-Engel der sog. sittlichen Weltordnung ermutigend. 

Wenngleich der primitive Mensch nicht ganz in der Gruppe aufgeht, so 
werde doch die Einheitlichkeit der Persönlichkeit vollständig von der populären 
Denkweise überschätzt. Der Mensch, so betont auch der Verfasser, ist durchaus 
als Gruppenwesen zu betrachten. Gesellschaft und ihre Tatsachen sind unter 
Voraussetzung eines rein rationalen und bewussten Verhaltens nicht begreifbar. 
Vielmehr ist der Mensch ein Gebilde, das in den Hauptzügen durch die über- 
individuellen Tendenzen der Gesellschaft gestaltet werde. Zu diesen gehört z. B. 
die grosse Macht der Sitte. Wenn diese im Bereich des „objektiven Geistes“ 
liegt, so ist es sehr sachgemäss, dass der Verfasser diesem Begriff besondere 
Sorgfalt widmet, wie schon vor etwa 60 Jahren Lazarus, der Begründer der 
Völkerpsychologie, getan hat. 

Nach der Einleitung’ behandelt das erste Kapitel Allgemeine Fragen (15—57), 
das 2. die soziale Ausstattung des Menschen (Triebe, Instinkte, 58—178). das 
3. die gesellschaftlichen Grundverbältnisse (178-294), das 4. die wichtigsten 
historischen Formen der Gemeinschaft (Familie, Sippe, Stände, Klassen, politische 
Parteien, Volk, Staat, 295—341); das 5. die Kollektiv-Phänomene der Gruppe 
(Geist der Gruppe, Kollektiv- und Gruppenbewusstsein, die Eigenschaften der 
Masse, 342—440). Für die Musterung der angeborenen sozialen Anlagen ist zu 
beachten, dass sie häufig paarweise in gegensätzlicher Form auftraten; wie Selbst- 
gefühl — Geborsamstrieb, Hilfstrieb — Kampftrieb, Geselligkeitstrieb — Trieb zu 
Meiden. Wenn mit dem Wesen der Menschheit unmittelbar der Zustand der 
Gemeinschaft gegeben und universell verbreitet ist, so beruht dieses Verhältnis 
nur gewissermassen wie auf einem Vertrag, nämlich der Erwartung der Gegen- 
seitigkeit. In Wahrheit ist es angeboren und subintelligent wirksam. Zuerst in 
der Familie, von wo es zu Männerbünden und Berufsorganisationen, kulturellen 
Einheiten, Ständen, Parteien, zum Staat fortschreitet. 

Der Verfasser tritt oft weit verbreiteten Anschauungen entgegen. Soz. B. 
dass Unterordnung ein Ergebnis der Furcht sei und nicht ohne sie denkbar. Im 
Gegenteil ist zunächst an den Unterordnungstrieb zu denken, mit dem Furcht 
und Anpassung sich freilich verbinden können. Die wesentliche Wurzel des Ge- 
horsams bilde aber der angeborene Trieb dazu. Was ist denn nun Geist der 
Gruppe, und wie steht es mit einem Kollektiv-Bewusstsein? Man nennt die 
Gruppe mitunter gleichsam eine Person. Aber das Prädikat der Persönlichkeit 
im Sinne von Einheit und Geschlossenheit soll der Gruppe und ihren seelischen 
Äusserungen nicht beigelegt werden. Der Gruppengeist ist nicht etwas 'sub- 
stanziell für sich Bestehendes.” Sondern das Wesen des Gruppengeistes ist nur 
von aktueller und formaler Art. Es besteht in einer bestimmten Art zu denken, 
zu fühlen, zu handeln und in dem Einfluss, den diese Art auf den Einzelnen in 
dieser Richtung ausübt. Diese interindividuelle Kausalität entsteht aus dem Spiel 
der Wechselwirkungen zwischen den Individuen. Kollektiv-Bewusstsein im 
weitesten Sinne ist, jeder in mehreren Personen einer Gruppe vorhandene seelische 
Zustand und jede derartige seelische Haltung oder deren Inhalt, wie z. B. ein 
begeistertes Theater Publikum mit seinem Beifall, der einem Gesamtgefühl und 
Gesamtwillen entspricht. Durch dieses Kollektiv-Bewusstsein wird nicht auf eine 
mystische Substanz als seinen Urheber hingewiesen, ein Wesen, das ausserhalb 
der Einzelnen und unabhängig von ihnen sein Dasein hätte, sondern nur auf eine 
gemeinschaftliche Willensäusserung der Gruppe. Ein einziges Beispiel des ob- 
jektiven Geistes sei genannt: die Fahne eines Regiments. Man denke, welche 
geistigen Inhalte sie in sich verkörpert, was alle die aus diesem bunten Stück 
Zeug herauslesen, die bereit waren und sind, ihr Blut für das teure Vaterland zu 
opfern, alle, die es wahrhaft lieben. Wir sehen nicht nur über viel behandelte 


Su Kritiken Ä : [17 


Fragen einen reichen und anregenden Inhalt in dem Buche vor uns ausgebreitet, 
sondern werden durch unermüdliches, sehr sorgfältiges psychologisches Uhnter- 
scheiden und Analysieren angeregt, dem Verfasser zu folgen. Er bekennt, dass 
` der Kollektivismus sicherlich die Gesellschaft am Leben erhält, wenn er auch 
nicht unbedingt für die Steigerung ihres Gehalts sorgt. Einige Kritik über 
„Arbeiter“ und Sozialismus s. zutreffend S. 312 f. 336 f. Angenehm fällt auch 
die Benutzung langjähriger Lektüre auf. K. Bruchmanın. 


Jul. Schultz: Die Philosophie am Scheidewege. Die Antinomie im Werten 
und im Denken. 331 S. 80°, Felix Meiner, Leipzig 1922. 


Der griechische Philosoph Protagoras hat ja schon gesagt, dass der Mensch 
das Mass aller Dinge ist. Er bestimmt, was gut und schlecht, schön und häss- 
lich, richtig und falsch, ja rechts und links, oben und unten ist. Vor welcher 
Entscheidung steht denn hier die Philosophie? Es gibt wieder noch tiefgreifende 
Unterschiede, die sich in den Jahrhunderten wirksam zeigen unter den Menschen, 
die auf wichtige Fragen mit alternativen Antworten reägieren, die dann unwider- 
leglich scheinen und sich gegenseitig ausschliessen. Der Verfasser, der schon 
durch eine ganze Reihe philosophischer grösserer und kleinerer Arbeiten seinen 
Beruf vollauf erwiesen hat, unterwirft jene Antinomien einer ungewöhnlich sorg- 
fältigen und scharfsinnigen Prüfung, die für alle Denkfreunde und Weltbetrachter 
vom grössten Interesse sein muss. Wir suchen in aller Lebensfülle zunächst wie 
nach einem Polarstern nach überpersönlichen, objektiven, absoluten Werten: aber 
ihrer zwei bieten sich dar, wie wenn es ein Doppelstern wäre. Ein überper- 
sönlicher einwandfreier Wert scheint es, dus Gedeihen der Gruppe oder der volk- 
lichen Art anzustreben. Da aber Arten auch vergehen, so bleibt mindestens 
daneben die Fülle des Lebens selbst, der restlose Strom der Gestalten, sollte er 
auch schnell wechseln. Wer diese blosse Gestaltenfülle als hohen Wert vorzöge, 
den könnten wir einen Ästheten, Einfühler, Mimeten nennen, den anderen den 
Zielstrebigen, Zweckhaften, Praktischen, dem das Gedeihen der volklichen Art am 
höchsten ginge. Der schätzt die Erhaltungswerte, der Mimet den Formenreich- 
tum. Diese Grundstimmung macht sich dem Leben gegenüber bemerkbar z. B. 
in der Schätzung von Zahl und Mass, Zeit und Geld, Alter und Jugend, Arbeit 
und Spiel, Zivilisation und Natur. So gibts auch zwei Ethiken, die Charakter- 
und die Pflichtethik. Die Charakter-Ethik des sittlichen Seins bevorzugt der 
Mimet, der Praktiker die Erhaltungs- oder Pflichtethik. An einer Prüfung des 
Eudämonismus und Determinismus geht der Verfasser natürlich nicht vorüber. 
Auch Metaphysiken gibt es im Grunde nur zwei. Der Ästhet bekennt sich zur 
Mechanistik, der Praktische zum Vitalismus. Nach der mechanistischen Ansicht 
ist die Welt präformiert, ihre Kräfte tragen im Grunde seelenhaften Charakter. 
Einfühlend möchte der Ästhet alles Geschehen begreifen, mit dem All in eins 
verschmelzen. Ist die Welt von ewig präformiert, so bedarf sie nicht eines 
Werkmeisters an 1000 Stellen, der sie vitalistisch formt und leitet, der sich un- 
unterbrochen das Zweckmässigste aussucht und die Entelechie als helfende Zu- 
gabe benutzt, statt sich mit der ewig sinnvoll gearteten Präformiertheit der Welt 
zu begnügen. Bei der Entscheidung für Vitalismus oder Mechanismus in der 
Auffassung der Geschichte sieht der Mimet (und mit ihm der Verfasser) keinen 
Grund über die uns bekannten seelischen Kräfte hinaus teleologische Prinzipien 
des Geschehens anzunehmen. Auch hier gibt es keine zielstrebige Macht der 
Entelechie, oder es ist unmöglich, sie zu beweisen. Wer sich nun für eine dieser 
verschiedenen Alternativen entscheiden will, dürfte demgemäss auch, was für 
unsere gesamte Weltanschauung sehr wichtig ist, zu einer Abschätzung dessen 
gelangen, was wir glauben als unsere Zukunft betrachten zu müssen. Haben 
wir uns eine Meinung über Selektion und ihre mannigfachen Versuche gebildet 
und dem Verfasser (258 f.) zugestimmt, so werden wir zweifeln, dass der Kultur- 
verlauf wirklich die Tendenz habe, Kraft und Begabung in jedem Volke allmäh- 


18] Kritiken. 87 


lich zu steigern, dass aus einer wilden Rasse eine hochtalentierte Sprungvariante 
sich bildet. Auch befürchtet eine ganze Schule von Rasse-Ethikern von steigen- 
der Zivilisation einen Verlust an Volksgesundheit, weil dabei der Kampf ums 
Dasein gemildert wird (Säuglingsschutz, Tuberkulosebekämpfung usw.). Das Leben 
werde nicht bloss glatter, sondern auch platter. Auch der Verfasser hat den 
Glauben, dass die Neigung zur Erhaltung des Friedens zunehmen wird. Die 
grossen Leistungen im Verkehr und allgemeiner Organisation werden noch steigen 
Das soziale Zeitalter, das den Frieden vorziehen werde, werde vielleicht indivi- 
duell geringeren Antrieb zur Arbeit fühlen, aber die Arbeitspflicht ausgestalten. 
Wenn der Staat Fleiss und Sparsamkeit durch liebenswürdige Wegnahme von 
Erbgut beantwortet, so wird das nicht ermuntern und anspornen. Vielleicht wird 
auch eins von den Grundrechten: aus jedem kann alles werden, erst das ist 
menschenwürdige Gleichheit. Die Bewohnbarkeit der Erde wird sehr verschieden 
geschätzt; von 6 Milliarden (Lexis) wird sie auf 10—15 getrieben. Aber so zahm 
könnte die Masse werden, dass für das gewöhnliche Leben auf Einpaukung des 
Sittengesetzes verzichtet werden könnte. Gleichmässige Verteilung der Güter, 
zahlreiche Versicherungen, ausgedehnte Hygiene u. a.m. vermindert die Reibungen 
und die Anreizungen zu Verbrechen; der industrielle Ameisenmensch der Zukunft 
hat sich etabliert. Die Zahl der Querköpfe, die sich um Metaphysik bekümmern, 
hat stark abgenommen, die Vorliebe für diesen Sport hat sich stark verloren, 
der Positivisınus beginnt sich anzumästen. Und was haut bei der stetigen Zu- 
nahme des Industrialismus die Kunst noch zu sagen? Die Natur wird immer 
mehr in ihrem Bestand von Pflanzen und Tieren beraubt und geschändet. Unsere 
Nachkommen werden zwischen Stein, Stahl, Glas, Nutzgärten und Zierparken 
wohnen. Sollte für eine Reihe von Verbrechen der Anlass wegfallen? Nun gut. 
Wie wird man Ehe schätzen und behandeln? Die Kunst hat schon so viel wieder- 
holt, was sie oft gesagt hat. Ist die Lyrik nicht endlich alle? Wird die Tragödie 
nicht melır und mehr mit Ben Akiba abgeurteilt werden? Wird das Neue im 
Bizarren, in dreistem Archaismus gesucht? Die kurzen Wachstumsjahre der 
Menschheit, die wir Geschichte nennen, in einen unendlichen Fortschritt sich aus- 
bilden zu lassen, ist unbewiesen oder gedankenlos, obgleich wir unter der Über- 
fülle des Wissens ächzen. Aber die Herrschaft der Technik und die Zerstörung 
der Natur sind so mächtig geworden, dass es uns schwer fällt, au etwas Besseres 
zu glauben, selbst wenn es neu sein sollte. Sollte es nicht natürlich sein, bei 
dem, was Wachstum hat, auch Abnahme und Absterben voraussehen zu müssen ? 
Die Naturforscher sagen uns ja auch von der Entropie,;, wo die das Maximum 
ihrer zulässigen Grösse erreicht hat, geschieht nichts mehr. Warum soll denn 
nicht auch der Organismus der Kultur absterben ? 


Zur speziell psychologischen Verhandlung ergreift der Verfasser das Wort 
in der Schrift Jul. Schultz, Leib und Seele, Ein neuer Versuch die Er- 
lebnisse mit leiblichen Vorgängen zu parallelisieren 1923. E. S. Mittler u. Sohn, 
Berlin 124 S. 8. Wir heben daraus nur hervor, dass der Verfasser als die zwei 
möglichen Ansichten über die Seele 1. die dualistische, indeterministische, den 
Vitalismus, die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele nennt, 2. die monistische, 
mechanistische, deterministische, den spiritualistischen Parallelismus, wonach jeder 
seelische Vorgang mit einem leiblichen parallelisiert wird und umgekehrt. Die 
Einzelseelen sind Besonderungen der Weltseele. Die leibliche Parallele und die 
Psychologie des Denkens ruht wesentlich in Motorik. Eine Methode des Denkeus 
könne motorische Gewohnheit sein. Soll denn aber schliesslich (mit dem Deter- 
ministen) auch die höchste Geistestätigkeit sich als aus blinder Notwendigkeit 
ergeben ? Wenn die tiefste Realität des Universums Seele ist und alles seelische 
Tun aus der Allseele entspringt, so bringe der Einzelgeist Gestaltungen hervor, 
die auf die erscheinende Umwelt eingestellt, ihr angepasst sind und uns dann 
richtig, ästhetisch, vortrefflich heissen mögen. K. Bruchmann. 


88 Kritiken. [19 


J. Fröbes S.J.: Lehrbuch der experimentellen Psychologie. I. Bd. Zweite 
und dritte Auflage. 630 S. 8°. Herder & Co., Freiburg i. Br. 


Verfasser, Professor in Valkenburg (wohl im Südwesten), lässt sich nicht 
nur über Ziele and Wege der empirischen Psychologie, sondern auch über die 
psychophyaische Methodik aus (463f.). so dass ein lernbegieriger Leser recht vom 
Anfang unterrichtet wird. Aber der Verfasser ist auch umsichtig und gründlich 
und lässt nichts vermissen, was zur Sache gehört. Das ist ja nicht wenig, ob- 
gleich die experimentelle Psychologie erst etwa seit 1890 sich lebhafter geregt 
hat. Einzelne Fragen, die andauernd verschieden erörtert werden — und selbst 
in der „exakten“ Psychologie sind es nicht wenig — wendet der Verfasser be- 
sondere Aufmerksamkeit zu, so der Abschätzung der Assoziations-Psychologie. 
Empfindung, Gefühl, Wahrnehmung (Vorstellung), Vergleichung, Assoziation, Ge- 
danken bezeichnen ungefähr den wesentlichen Inhalt dieses ersten Bandes. Der 
Leser wird nicht bloss eingeleitet, sondern gleich eindringlich unterrichtet. Vom 
zweiten Band haben wir eine Darstellung der höheren Erkenntnisvorgänge, Ge- 
mütsbewegungen, psychischer Abnormitäten, der Pathologie der Assoziationen, 
wohl auch der Sprache zu erwarten. K. Bruch mann. 


Oswald Bumke: Kultur und Entartung. Zweite umgearbeitete Auflage. 
125 S. gr. 8°. Julius Springer, Berlin 1922. 


Das Buch des Leipziger Professors scheint mir ausgezeichnet durch reiches 
Wissen, Abwesenheit aller Phrase, klare Darstellung, treffendes Urteil, Besonnen- 
heit der Schlussfolgerung. Er fragt natürlich nach Begriff und Tatsache der 
Entartung. Gehört sie zu den deklamatorischen Redensarten? Wann spricht 
man von Degeneration? Wenn die körperliche Tüchtigkeit oder die Kultur- 
leistungen eines Volkes sinken, Verbrechen, Kinderlosigkeit und Selbstmord zu- 
nehmen, Syphilis und Alkohol sich steigern, wenn jede folgende Generation 
kränker oder schwächer ist als die vorhergehende, wenn nervöse Erkrankungen 
bei der Übertragung von den Eltern auf die Kinder schwerer und häufiger 
werden müssen. Erfolge Völkertod, so früge sich, ob aus natürlicher Schwäche, 
oder aus willkürlicher Einschränkung. Dass trotz erreichter langdauernder Kultur 
die Kinderzahl nıcht mit Notwendigkeit abnehme, lehren die Chinesen. Hier wie 
bei anderen pathologischen Verhältnissen müsse gefragt werden, ob sie rein sozial 
veranlasst seien. Ausser anderen Vorzügen hat Norwegen den Vorzug das einzige 
Land zu sein, in dem die Selbstmorde seit den sechziger Jahren seltener werden. 
Kommt sozialen Massregeln dabei einiges Verdienst zu? Der Arzt habe sich im 
einzelnen Falle und grundsätzlich zu fragen, inwiefern erworbene (schlechte) 
Eigenschaften erblich sind, und ob die Vererbung gewisser körperlicher und 
geistiger Eigenschaften unvermeidlich ist und die Gesamtheit schädigt, welcher 
Zusammenhang zwischen Mutation und Vererbung obwaltet. Nur die absolute 
Zahl der Aufnahmen in Irrenanstalten sei feststehend (65—88). M. v. Gruber 
leugnet Rassenschädigung durch Hygiene. Wer Nietzsches Reform-Pathetik und 
seine Rassenretterei glaubt einbüssen zu müssen, hat vielleicht eine kleine Ent- 
schädigung durch das dafür einzutauschende Permutationsspiel mit vier ihm ge- 
läufigen Worten, wie: Die Dekadence des halkyonischen Ressentiments der Tar- 
tüfferie, oder: die halkyonische Tartüfferie der Dekadence des Ressentiments. 
Tatsächlich wissen wir über die oft behauptete Zunahme der Psychosen gar 
nichts (88), ausser dem Einfluss durch die Dichtigkeit der Bevölkerung. Trotz 
allem kann oder muss (wie schon oft) gefragt werden, ob es in der Geschichte 
so etwas wie dauernden Fortschritt gıbt. Sollte die gewollte Beschränkung der 
Kinderzahl in erfolgreicher Mehrheit einmal beliebt werden, so wäre das nicht 
übel — falls es nicht bloss einseitige Mode wäre, sondern ein menschliches Ver- 
fahren, bei dem das ungeheure Müssen der Geschichte einen Blick unter den Saum 
ihres Mantels tun lässt. Allzu sicher können wir ja nie sehen, wenigstens, wenn 
wir J. St. Mill glauben (Logik dt. v. Gomperz II. Bd. 1872, Drittes Buch, 


20] Kritiken. 89 


Kap. 21, S. 290, 291): Es gibt keinen Satz, von dem man behaupten kann, dass 
ihn jedes menschliche Bewusstsein ewig und unwiderruflich glauben muss. Der 
Verfasser aber weiss seinen Glauben an die Zukunft. mit guten wissenschaftlichen 
Gründen zu stützen. RK Brochmann, 


H. Driesch: Wissen und Denken. Ein Prolegomenon zu aller Philosophie. 
152 S. 8°. Verlag von E. Reinicke, Leipzig 1922. 


Jetzt, aber erst jetzt (heisst es S. 97) bedeutet uns das, womit Kant seine 
Philosophie beginnt, etwas in gewissem Sinne Richtiges; es ist jedenfalls so, als 
ob „Dinge“ da seien, welche das Gemüt affizieren; und das Gemüt verarbeitet 
dann das ihm so dargebotene Material, weil es eine bestimmte Organisation be- 
sitzt. Wir begreifen, dass der Verfasser einen allerersten Ausgang alles Philo- 
sophierens will, wie man schon mitunter versuchte. Sucht nun der hocbgen. 
Leser Philosophie, so frage er zuerst: was heisst wissen oder besser vielleicht: 
„was beisst, ich weiss etwas?“ Es gibt gar kein Denken als einen bewusst er- 
lebten Vorgang; es gibt nur Wissen als Besitzen, als Haben, oder, wenn man 
will, als „Schauen“ (seit einiger Zeit sehr beliebt, auch als Schauung und in 
fremdem Gewande von no&öma und no&sis). Verfasser setzt „Ich habe etwas“ als 
wahren Ausgang alles Philosophierens; die Lehre vom Haben als einziger Ur, 
Beziehungsart zwischen Ich und Etwas genügt für alle Teile der Philosophie (11). 
Aber wir bleiben nicht auf der Stufe der Erkenntnis, die wir (S. 97) als eine 
Stufe der Jetzt—Hier—So—Gehabtheit bezeichnet finden. Geht nun bei dieser 
erkenntnistheoretischen Vorsicht etwa die interessante Metaphysik ganz verloren? 
Nein; dadurch braucht die Natur nicht entgöttert zu werden. Aber Verfasser 
bezeichnet sie noch besonders als hypothetisch. Aber doch ist Verfasser der 
Meinung, dass es echte Wahrheit nur auf metapbysischem Boden geben kann (115) 
dem Begriff nach. Aber Metaphysik kann nur ein Gefüge von Vermutungen sein, 
denn der Schluss von der Folge auf den Grund ist nicht eindeutig, lässt viel- 
mehr als sichere Aussage nur die eine zu, dass der Grund, d. h. das, was mit- 
setzt, nicht ärmer an Mannigfaltigkeit, d. h. an Inhaltskennzeichnung, sein darf 
als die Folge (137). Das Wirkliche ist 1. so geartet, dass es in Form des einzig- 
artigen Ich (Ich habe, weiss etwas) von sich weiss; 2. erscheint in der Form 
vieler Wissenssubjekte; 3. jeder Einzelwiesende weiss in der Form des habenden 
Ich (139). K. Bruchmann. 


“erh. Lehmann: Die Grundprobleme der Naturphilosophie. 79S. kl. 8°. 
Verlag von W. Seifert, Stuttgart- Heilbronn 1923. 


Wie die Natur als Stoff, Kraft, Leben zu begreifen sei, wird jetzt wieder 
mit Vorliebe am Mechanismus und Vitalismus geprüft. Man kann es auch so 
beantworten: Der Mechanismus in der Biologie ist ein methodisches Hilfsmittel, 
und doch ist der Vitalismug, d. h. die Einsicht, dass sich die Zweckmässigkeit 
mechanisch nicht erklären lässt, ein notwendiges wissenschaftliches Ergebnis. 
Wie gelingt, wird sich fragen, das Leben aus anderen Grössen abzuleiten, ohne 
die Zweckmässigkeit zu leugnen? Die „Zielstrebigkeit* ist kein Ersatz für sie, 
sondern nur Verschleierung. Verfasser geht natürlich auf alte Fragen syste- 
matisch zurück und auf ältere Vorgänger wie Schelling und Fechner. Wer für 
diese Dinge Interesse hat, kann sich dem Heft oder seiner Fortsetzung zuwenden. 

K. Bruchmann. 


Leo N. Tolstoj: Tagebuch. 1. Bd. 1895—1899. Autorisierte, vollständige 
Ausgabe von Ludwig Berndl. XII und 184 S. 8°. 2. Bd. von 1900-1903. 
204 S. Die Tagebücher von 1900—1903 werden in deutscher Sprache zuerst 
veröffentlicht. E. Diederichs, Jena 1923. 


Dass jemand auf etwa 400 Seiten inmer intim und zugleich interessant 
sei, ist nicht zu verlangen, zumal, wenn er schon viel geschrieben hat. Aber 


90 Kritiken. [21 


Tolstoj hat den Reiz, ein interessanter, vielseitiger, paradoxer und anscheinend 
völlig ehrlicher Mensch zu sein. ' Ehrlich muss doch der Bekenner eigener Fehler 
sein, wenn er nicht dabei wunderlich gelogen hat. Betroffen werden wir durch 
die wiederholte Versicherung, er sei zwar nie boshaft gewesen, aber doch ein 
Scheusal; als solches habe er zwei, drei Handlungen auf dem Gewissen; seinem 
Charakter nach ein sehr böser Mensch, sehr stumpf für das Gute und müsse 
darum grosse Anstrengungen machen, um nicht ein ganz abscheulicher Mensch 
zu sein (II, 40. 165). Diesen Eindruck macht doch Tolstoj durchaus nicht. 
Verblüffend ist auch, dass er oft Verfolgung zu leiden gewünscht habe. Das 
bedeute, er sei faul gewesen, habe nicht arbeiten gewollt, wollte andere für sich 
arbeiten lassen, damit sie das Quälen, er nur das Dulden zu besorgen hätte 
(I, 5). An Gott glauben könne doch eigentlich nur bedeuten, daran zu glauben, 
dass alles, was geschieht, gut sei, auch Leiden und Krankheit. Mit solchem 
Glauben werde man stets heiter und gut sein. Vom Übel aber sei jener Glaube, 
der ein blosses Fürwahrhalten sei (II, 87); ja eins von den zwei entsetzlichsten 
Übeln unserer Zeit sei das kirchliche oder vielmehr dogmatische, supranaturalistische 
Christentum, das dem Menschen von Kindheit an eingeimpft wird und ihn bis 
zum Tode nicht mehr aus der Hypnose entlässt; das andere sei der physio- 
logieche ... Materialismus (II, 64). Was für unglaubliche .. Absurditäten seien 
nicht über den Text der hl. Schrift zusammengeredet und geschrieben worden 
(I, 75)! Dasselbe gilt von den griechischen Tragikern, von Virgil, Shakespeare, 
Goethe, Bach, Raffael und neueren Autoritäten. Aber dass auch die Anwendung 
des Bittgebets ihre Schwierigkeiten habe, musste Tolstoj bemerken (II, 53). 
Einmal dachte er über die Unsittlichkeit der Medizin nach (II, 124); z. B. die 
Annahme der ärztlichen Hilfe, die nur dem Reichen zugänglich ist. Unsittlich 
auch das Privileg aller Bequemlichkeiten und Genüsse des Lebens; aber dıe 
höchste Unsittlichkeit ist das Privileg der Erhaltung und Verlängerung des 
Lebens. Wenn uns nun aber an anderer Stelle (II, 115) gesagt wird: das Leben, 
wie es auch sei, ist ein Gut, über das hinaus es kein grösseres gibt, ist es nicht 
doch erlaubt, ärztliche Hilfe zur Verlängerung des Lebens zu brauchen, oder 
muss man erst nachweisen (polizeilich oder notariell), dass Patient durch seinen 
Reichtum durchaus nicht berechtigt ist, die ärztliche Hilfe nachzusuchen? Un- 
sittlich sei. auch die Anordnung der Ärzte, dass der Kranke auf seine physischen 
Funktionen achtgeben, d. h. er weniger geistig und mehr materiell leben, dass er 
nicht denken, sich nicht aufregen, nicht arbeiten solle. Dagegen scheint Tolstoj 
ohne Einschränkung eine sog. Patience zu legen (I, 118, 125); doch darf sich 
niemand verbergen, dass ein ernsthafter Glaube an die Beweiskraft der Patience 
für die Zukunft erheblichen Bedenken unterliegt. Etwa eindutzendmal spricht 
Tolstoj über Frauen, Heirat, Liebe. Ich getraue mir nicht zu sagen, was er 
eigentlich unter Keuschheit versteht. Zu den paradoxen Sprüngen gehört (I, 166) 
„die Hauptursache der unglücklichen Ehen ist die Erziehung in dem Gedanken, 
die Ehe sei dazu angetan, glücklich zu machen“. Zur Verhandlung unserer Tage 
meldet sich eine Bemerkung vom Jahre 1903 (II, 155): „Der Irrtum des Feminis- 
mus besteht darin, dass die Frauen genau dasselbe leisten wollen, was die Männer 
eisten. Aber die Frauen mit ihren ganz besonderen Eigenschaften, sind ganz 
landere Wesen als die Männer, und wenn sie sich vervollkommnen wollten, 
müssten sie es nach ihrer besonderen Richtung hin tun. Was das für eine Richtung 
ist, das weiss ich nicht ..... doch so viel ist gewiss, dass ihre Richtung eine 
andere als die der Männer ist.“ 


„Für mich ist es vollkommen klar, dass das, was wir das Böse nennen, 
nichts anderes ist als das Gute, dessen Wirkungen wir nur noch nicht sehen 
(I, 32).“ Wäre, wenn wir wirklich einen Augenblick wieder mit diesem Gedanken 
spielen wollten, nicht mindestens als böse zu beklagen, dass unzählige böse und 
böseste Tatsachen als böso unaufgeklärt bleiben? Geniessen wir noch mit Tolstoj 
die „wunderbaren Verse“ (II, 207): 


22] Kritiken. 91 


Das Väterlein hat angefangen zu ächzen, 
Das Väterlein hat angefangen zu hüsteln, 
Angetan mit dem Totenhemdlein 
Wird es ruhen im Gräbelein. 
»Wie reizend ist die Volkssprache! Wie bildlich, rührend und ernst.“ 
Endlos sind die Betrachtungen über „Kunst“. K. Bruchmann. 


Richard Baerwald: Das weibliche Seelenleben und die Frage seiner 
Gleichwertigkeit. 202 S. Felsenverlag, Buchenbach-Baden 1923. 


In seinem Buche von angenehmer Darstellung vertritt der Verfasser An- 
schauungen, die mehrfach an die von Gina Lombroso (s. d. Zeitschr. Bd. 9, S. 138) an- 
klingen und mir das weibliche Wesen richtig zn sehen scheinen. Also sind die 
Frauen durchaus nicht schlechter oder weniger wert als die Männer, sondern 
ihrem Wesen nach anders, weil von der Natur für audere Zwecke bestimmt. Sie 
haben keine so ausgeprägte Ichliebe wie die Männer (129, 171), sind vielmehr 
altrozentrisch oder altruistisch (41, 69, 196). Sie übertreffen die Männer durch 
Intuition (105 f.), die der Analyse und Reflexion gegenüber etwas Primitiveres 
ist (107). In mancher Beziehung ist das weibliche Gehirn überhaupt ein „älterer 
Typ“ (120), aber durchaus nicht weniger wert. „Die Natur gab dem Weibe ein 
Mass von Geduld und Weisheit gegenüber allen Schicksalsschlägen, dass sie 
sogar als das glücklichere Geschlecht zu betrachten ist“ (80/81). Zur Erklärung 
ihres Wesens kommt auch die sog. Dissoziation der Hirnteile (92f.). Ist es denn 
nicht sonderbar, dass die Weiber immer noch gar soviel Mühe auf Nachahmung 
der Männer verwenden, z. B. in ihrer Schulbildung (118, 115, 137)? Sind die 
Männer etwa so reizend? Das glauben sie ja selbst nicht. Verfasser rühmt, dass 
die Frauen durch rasches Erfassen und Handeln den Männern überlegen sind. 
Die erwähnte Eigenheit eines „älteren Typs“ werde kompensiert dureh mannig- 
fach überlegene Eigenschaften. Ausserdem sind die Frauen (131) völlig konform 
der Welt, wie sie sich nach Meinung des Verfassers zu gestalten im Be- 
griff ist. Wenn die Organismen ihrer Umwelt und ihren Aufgaben ausge- 
zeichnet angepasst sind, also der Welt verschieden gegenüberstehen, so ist es 
unsinnig, zu glauben, dass aus jedem jedes werden kann. Es ist ja nicht wahr, 
dass die Menschen gleich sind. Es sei erwähnt, dass Verfasser vom Frauen- 
Stimmrecht noch Grosses erwartet (194, 171) und den Gedanken einer Probe- 
Ehe streift. Noch schwieriger als dem Verfasser, ja aussichtslos, erscheint mir 
die Einrichtung des Mutteramts, d. h. die staatliche Bezahlung der Frauen 
als Mütter (175 ff.). Es mag sem, dass die seelische Veranlagung des Weıbes 
keine ganz feste, naturgegebene Grösse sei und durch soziale Umstände mit- 
bestimmt werde, so wäre das Mutteramt doch undenkbar ohne Aufsicht und 
Mitbestimmung des Staates, also eine Einmischung in die Einzelheiten der Ehe, 
die dem vermutlich nach wie vor widerstreben würde, obgleich gegen die schran- 
kenlose Freiheit der Eheschliessung genug Bedenken geäussert worden sind. 

K. Bruchmann. 


Gustav Theodor Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode. 
Achte Auflage. Verlag von Leopold Voss, Leipzig 1922. 


Die tiefsinnigen Gedanken eines grossen Menschen, die hier in ihrem ur- 
sprünglichen Gewande neu erscheinen, können die Feierstunden jedes Natur- 
forschers bereichern und ihn über die materialistische Einstellung, zu der ihn 
seine Arbeitsweisen unwillkürlich drängen, hinwegtragen. 

Kronfeld, Berlin. 


Kurt Heynicke: Der Weg zum Ich. Prien-Ob.-B. Anthropos Verlag 1922. 


Eine in edler Sprache sich vortragende, etwas hymnische Ethik und Ver- 
vollkommnungslehre aus der Feder des bekannten Dichters. Wissenschaftlich- 


92 Kritiken. [23 


philosophische Grundlegungen werden weder angestrebt, noch sind sie der Art 
des Buches, das einen mehr künstlerisch-intuitiven Charakter trägt, angemessen. 
Bei grosser Schönheit von Absicht und Form ist der Inhalt des Buches etwas 
enttäuschend, das Triviale streifend. Kronfeld, Berlin. 


M. Vaerting: Die weibliche Eigenart im Männerstaat und die männliche 
Eigenart im Frauenstaat. @G. Braunsche Hofdruckerei und. Verlag, Karls- 
ruhe in Baden 1923. 


Das vorliegende Buch ist der erste Band einer „Neubegründung der Psycho- 
logie von Mann und Weib“ von denselben Autoren, nämlich Dr. Mathilde 
Vaerting und Dr. Mathias Vaerting. Es ist ein zeitgemässes Buch, das 
hier vorliegt, das auf Grund umfassender historischer und soziologischer Studien 
den Nachweis führen will, dass die heutige weibliche Eigenart in ihren Haupt- 
linien durch den Männerstaat, d. h. durch die männliche Vorherrschaft bestimmt 
wird, und dass es Zeiten und Völker gegeben hat, wo in genau umgekehrter 
Weise zur Zeit der Frauenherrschaft die männliche Eigenart durch die Macht- 
stellung der Frau tiefgehend beeinflusst wurde. Diese Machtstellung der Frau, 
d. h. der Frauenstaat, war der ursprünglichere, der sich bei hochkultivierten 
Völkern, z. B. den Ägyptern und Spartanern, noch zu historischen Zeiten nach- 
weisen lässt und bei manchen wilden Völkerschaften heute noch mehr oder 
weniger deutlich beobachtet werden kann, 

Die Mitte zwischen diesen beiden genannten Extremen stellt derjenige Zu- 
stand dar, bei dem Gleichberechtigung beider Geschlechter hinsichtlich des sexuellen, 
sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens herrscht, ein Zustand, dem wir 
ja heute ziemlich nahe gekommen sind. In diesem Umstande möchte ich auch 
die Bedeutung des Buches erblicken, dessen Inhalt uns die geistigen und morali- 
schen Bestrebungen der heutigen Zeit dem Verständnis näher bringt. In der Tat 
kann es auch keinem Zweifel unterliegen, und darin muss man den Verfassern 
unbedingt Recht geben, dass von der Machtstellung des einen Geschlechts in 
weitestgehender Weise das Verhalten des anderen Geschlechts auf sämtlichen 
Gebieten des sexuellen und sozialen Lebens, ja sogar seine Psychologie anhängig 
ist. Wenn aber die Verfasser sogar die Ausbildung der Körperformen wie z. B. 
kleineres Skelett, schwächere Muskeln, runde Formen, stärkere Behaarung am 
Kopfe nur als Merkmale des beherrschten Geschlechts bei eingeschlechtlicher 
Vorherrschaft des Mannes erklären, ja wenn sogar innerhalb kurzer Zeit solche 
Wandlungen der Körperformen vor sich gehen lassen, wie sie an anderer Stelle 
behaupten, so werden ihnen nur wenige hierin folgen können. Gewiss ist das 
Schönheitsideal Wandlungen unterworfen und natürlich kann im Laufe von 
mehreren Generationen eın gewisser Typ ın eınem Volke gezüchtet werden, näm- 
lich theoretisch, aber nicht etwa in einem Zeitraum von 30 Jahren, wie die Ver- 
fasser für Deutschland annehmen. Ganz besonders aber sind die Berichte von 
Reisenden über fremde Völkerschaften mit Vorsicht zu beurteilen, die erfahrungs- 
gemäss Dichtung und Wahrheit häufig ohne genügende Kritik vermischen. Das 
gilt z. B. auch für die Schwierigkeit der Unterscheidung von Männern und 
Weibern bei manchen Völkern. Die Verhüllung der Geschlechtsteile ist beim 
Manne in der Tat notwendiger wie beim Weibe, aber nicht etwa, weil er ebenso- 
viel oder mehr Schamgefühl als die Frau besitzt, und weil es „ihm kaum ange- 
nehm sein kant, wenn seine geschlechtliche Erregung sogleich jedem deutlich 
erkennbar wird“, sondern weil er einen Schutz gegen Verletzungen, z. B. bei der 
Jagd im Urwald usw., braucht. Wenn die Verfasser aus der Tatsache, dass bei 
manchen Völkern die Frauen alle harte Arbeit verrichten, den Schluss ziehen, 
dass dort auch die Frauenherrschaft oder doch mindestens Gleichberechtigung 
vorhanden sei, so ist der Schluss hinfällig, sie berufen sich hierbei unter anderem 
auch auf die Eingeborenen von Chile. In der Tat verrichten dort die Frauen 
die Hauptarbeit, aber nicht nur auf dem Felde, sondern auch im Hause am Herd 
und am Webstuhl und doch sind die Männer die Herren und es besteht Viel- 





24) Kritiken. 92 


weiberei, wənn auch im beschränkten Masse und die Stämme und Ortschaften 
werden von Häuptlingen geleitet. 

Mit diesen Einwendungen möchte ich nur zum Ausdruck bringen, wie vor- 
sichtig man in der Beurteilung und Deutung sowohl tatsächlicher Beobachtungen, 
als auch aus der Literatur gesammelter Berichte sein muss, die oft genau den- 
selben geringen Wert haben, wie Statistiken, die man zu Zwecken benützt, für 
die sie gar nicht aufgestellt waren, eine Fehlerquelle übrigens, die die Verfasser 
selbst sebr gut zu würdigen verstehen, wenn sie darauf hinweisen, wie die männer- 
staatlich eingestellten Schriftsteller aller Zeiten dank ihrer einseitigen Einstellang 
Sitten und Gewohnheiten der Völker oft falsch beurteilten. Mir scheint die jetzige 
Zeit, die wir selbst mit erleben, mehr Beweise für den Grundgedanken der Ver- 
fasser täglich vor Augen zu führen, als die ganze Literatur der Vergangenheit. 
Die Erscheinungen der Jetztzeit aber können bei klarer Stellung und Erfassung 
des Problems auch einwandsfrei untersucht werden und zu seiner Lösung bei- 
tragen. Eins aber möchte ich noch zum Schluss hervorheben, dass auf Körper 
und Seele von Mann uud Weib weit mehr als alle sozialen politischen und wirt- 
schaftlichen Einrichtungen die vererbten und angeborenen Anlagen, in erster 
Linie die mit der Fortpflanzung zusammenhängenden einwirken, ein Umstand, 
den die Verfasser fast vollständig vergessen haben. Westenhöfer, Berlin. 


Fritz Frank: Schutzengel oder Würgengel? Grundsätzliches zur Frage der 
Neugeborenen. Verlag der Volkswart-Verlagsgesellschaft, Köln 1921. 

Der bekannte sozialdemokratische Antrag im Reichstag auf Freigabe des 
künstlichen Aborts veranlasst den Universitätsprofessor und Direktor der Pro- 
vinzialfrauenklinik und Provinzialhebammenlehranstalt in Köln in einer Abhand- 
lung, die sich auch an Laien, insbesondere an Frauen, Geistliche und Juristen 
wendet, die Frage des künstlichen Aborts nach allen Richtungen hin zu be- 
leuchten. Als einzig berechtigte Schwangerschaftsbeseitigung lässt er nur gelten 
1. die Gefährdung der Mutter durch ein totes Ei; 2. Eileiterschwangerschaft und 
Traubenmole und 3. Blutungen in der ersten Zeit. Zur Vornahme der künst- 
lichen Unfruchtbarmachung des Weibes hat er sich noch nie veranlasst gesehen 
und lässt deutlich durchblicken, dass er eine Indikation dafür nicht anerkennt, 
zumal die Gefahren und Schädigungen für die Frau. oft sehr bedeutend sein 
können. Als „positive Vorschläge‘ zur Verhütung des Geburtenrückgangs empfiehlt 
Verfasser Aufklärung des Volks über das Glück und den Wert reichlichen Kinder- 
segens, Hebung des Hebammenstandes, rücksichtslose Bestrafung aller Anpreisung 
von Schwangerschaft verhütenden Mitteln, Errichtung möglichst zahlreicher Ent- 
bindungsheime. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass diese vier positiven Vor- 
schläge geeignet sein werden, die Geburtenzahl wesentlich zu erhöhen. Verfasser 
schliesst mit dem Aufruf: „Helfet uns das Leben des Kindes schützen, helfet den 
Frauen, die uns die deutschen Kinder schenken wollen, in wirksamer Weise! 
Helfet uns zu Gott rufen, dass er uns mit einem physisch und moralisch starken 
Geschlecht segne!“ Westenhöfer, Berlin. 


Edmund Schopen: Die Reform der Ehe. Räeinlandverlag zu Köln 1921. 

Nach Darlegungen der Ursachen des heutigen Zerfalls der Ehe und der ver- 
schiedenen Reformversuche, wie der Zeitehe und der Mehrehe, zeigt Verfasser, 
wie sich aus dem Wesen der Ehe zwei Vorbedingungen für ihre Gesundung und 
Höchstentwicklung ergeben, nämlich richtige Gattenwahl und Konstanz der Liebe. 
Ehe ohne Liebe ist unsittlich. Der Bürge einer sittlichen Ehe ist die Gattenwahl, 
dann ist auch gleichzeitig die Gewähr gewonnen für Konstanz der Liebe. Die 
höchste Liebesvereinigung zweier Menschen ist heilig und steht auf der zweiten 
Stufe jener Skala, auf deren erster Stufe die höchste Liebesvereinigung mit Gott 
steht. Daher hat die Ehe einen religiösen Charakter. Ein Eigentumsrecht der 
Gatten aufeinander besteht nur solange, wie eine echte Ehe besteht. Ist die 
Liebe erloschen, so besteht eine echte Ehe nicht mebr. Den Schluss des Heftes 
bilden Germanenbibelworte über die Familie. Westenhöfer, Berlin. 


94 Kritiken. [25 


H. Freund: Hygiene der Ehe. Aus Natur und Geisteswelt. Bd. 643. Verlag 
von B. G. Teubert, Leipzig- Berlin. 


Freund gibt in diesem 112 Seiten starken Bande in sehr anschaulicher 
Weise eine für den Laien bestimmte Einführung in alle die Fragen, die mit der 
Hygiene der Ehe zusammenhängen. Die Vorbereitung der Geschlechter zur Ehe, 
die Bedeutung der Geschlechtskrankheiten, Hygiene der Menstruation, der ausser- 
eheliche und voreheliche Geschlechtsverkehr und sein Einfluss auf die Ehe, Gatten- 
wahl, die Regulierung des Geschlechtsverkehrs unter Hinweis auf Malthus und 
den Neomalthusianismus werden besprochen und ein eheliches Geburtenregulie- 
rungsrecht verlangt. Ein umfangreicher Teil des Buches gilt der Hygiene der 
Ehe bei Kranken. Ausführlicher als wohl sonst in Werken ähnlicher Art ist die 
männliche Impotenz und die weibliche Frigidität besprochen. Aus jeder Seite 
spricht der erfahrene Arzt und Berater. Für den Arzt bietet das Buch selbst- 
verständlich nichts Neues, für den Laien dagegen ist es eine ganz vorzügliche 
Einführung, dessen weiteste Verbreitung sehr zu wünschen ist. 

E. Sachs, Berlin. 


Eberhard Buchner: Ärzteund Kurpfuscher. Kulturhistorisch interessante 
Dokumente aus alten deutschen Zeitungen. 329 S. Albert Langen, München 
1922. 


Nicht nur für den Arzt, sondern auch für den Kulturhistoriker ist dies 
fleissige Werk eine Fundgrube des Wissens und der Unterhaltung: Was die 
Menschheit des XVlI. und XVIlI. Jahrhunderts von wissenschaftlicher Medizin 
und ärztlicher Praxis, Operationen, Kuren, Heilmitteln, Krankheiten gewusst oder 
sich eingeredet hat, ist hier aus deutschen und fremden Zeitungen zusammen- 
getragen. Quacksalberei und Wunderärzte, Impfung, Elektrizität, Magnetismus 
und Hypnose, Bäder- und Heilquellen, Schwangerschaft, Niederkunft und Säug- 
lingspflege, Anatomie, Tod und Scheintod, Abnormitäten und was sonst mit Heil- 
kunde nur irgendwie zusammenhängt, zieht an unserem Auge vorüber: leider ist 
es nicht nur entschwundene Vergangenheit, sondern manches spukt auch noch 
heute, und so stellt das mühevolle Buch keinen ganz überflüssigen Beitrag zur 
Kenntnis menschlicher Verirrungen und des Aberglaubens dar. 

G. Mamlock, Berlin. 


Dr. Karl Rosenberger: Die Stationsschwester. Ein Führer durch die 
praktische Tätigkeit der Krankenhausschwester. Verlag von Julius Springer, 
Berlin 1923. 


Mit diesem Buch ist einem grossen Mangel in der Literatur der Kranken- 
pflege abgeholfen, indem nunmehr neben den üblichen Schwestern-Lehrbüchern 
für Unterrichtszwecke auch der im Berufe fortgeschrittenen Schwester ein Leit- 
faden an die Hand gegeben ist, welcher sie in Zweifelsfällen unterrichtet, die 
Lücken ibres Wissens ausfüllt und ihr zur Kontrolle ihres Handelns dient. Der 
Referent vermisst die gerade für die Stationsschwester so nötige Technik der Koch- 
salzinfusion und der Bluttransfusion und ihrer Folgezustände. Das Buch zeichnet 
sich aus durch klare Darstellung und warmen Ton. S. 


Dr. Walter Lindemann, Privatdozent in Halle a. S.: Schwestern-Lehr- 
buch für Schwestern und Krankenpfleger. Mit 440 Abbildungen im 
Text. Vierte und fünfte umgearbeitete Auflage. Verlag ron J. F. Berg- 
mann, München 1923. 


Das bewährte Lehrbuch ist erweitert durch einen kurzen Abschnitt über die 
Röntgenschwester und bereichert durch neue Abbildungen. Auch die schon er- 
fahrene Schwester findet viel Belehrung in der therapeutischen Technik. Auch 
hier fehlt die Technik der Blultransfusion. Durch leichte Form und Anschau- 
lichkeit zeichnet es sich vor vielen anderen Schwestern-Lehrbüchern aus. S. 


26] ` Kritiken. 95 


Haring: Leitfaden der Krankenpflege in Frage und Antwort. Vierte Auf- 
lage. Verlag von Julius Springer, Berlin 1923. 


Auf dieses seit langem bewährte Buch der Kranken;‚dege, welches schon 
vielen Schwesterngenerationen durch die Nöte des Exame..s geholfen hat, sei 
erneut hingewiesen. Die vorliegende 4. Auflage ist vermeli! um den Abschnitt 
über Säuglingspflege und den über Pflege von Geisteskranken. H 


Franziska Berthold, Viktoriaschwester, Operationsschwester an der Chirur- 
gischen Universitätsklinik Berlin: Der chirurgische Operationssaal. Rat- 
geber für die Vorbereitung chirurgischer Operationen und das Instrumentieren 
für Schwestern, Ärzte und Studierende. Mit einem Geleitwort von Geh. 
Medizinalrat Prof. Dr. August Bier. Zweite verbesserte Auflage. Mit 314 
Textabbildungen. Verlag von Julius Springer, Berlin 1922. 


Dieses Buch erfüllt ein grosses Bedürfnis. Auf Grund einer langjährigen 
Erfahrung und gesammelt im Arbeitsbereich eines Meisters der Chirurgie gibt die 
Verfasserin nahezu alles, dessen die Operationsschwester für Vorbereitung und 
Durchführung ihrer Arbeit im Operationssaal bedarf. Auch Ärzte werden viel 
nützliche Lehren darin finden und durch sachgemässe Behandlung ihrer Instru- 
mente vor wirtschaftlichem Schaden geschützt werden. S. 


Friedrich und Dorothea Schlegel: Briefwechsel 1818—1820. Heraus- 
gegeben von Heinrich Finke. Verlag von Kösel und Pustet, Miinchen- 
Kempten 1923. 


Die Zeit der deutschen Romantik, welche unter Novalis Führung das ab- 
solute Ich zum Mass aller Dinge erhob, hat die Entwicklung weiblichen Wesens 
zur vollen Blüte gebracht. Die Schrankenlosigkeit aller Lebensansprüche, unter 
denen das Recht auf Auswirkung und Vollendung eigenen Wesens an erster 
Stelle stand, schuf die Verbindung von Intellekt und Leidenschaft, welche wir 
heute an den Frauen und Freundinnen, Anregerinnen und Schutzgeistern der 
Romantiker bewundern. 

Der vorliegende Briefwechsel zeigt Dorothea Veit, die starkgeistige, schön- 
heitstrunkene Tochter Moses Mendelsohns in ihrem ganzen Einfluss auf Friedrich 
Schlegel. Dorothea ist zu ihren Söhnen nach Rom gegangen, um der wirtschaft- 
lichen Misere des Frankfurter Aufenthaltes zu entrinnen und so ihrem Manne die 
Existenz zu ermöglichen. Alsbald ist sie Mittelpunkt im Kreise der deutschen 
Künstler und Galehrten und gibt in ihren Briefen an Schlegel ein lebendiges, 
farbenprächtiges und anschauliches Bild dieses Lebens. Klaren Verstandes, 
scharfer Kritik, aber auch leicht und hell begeistert, voller Anregungen und 
Ideen, meisterhaft in der Ausdrucksform. Max Hirsch, Berlin. 


Ferrero, Guiglielmo: Der Untergang der antiken Zivilisation. Zweite 
Auflage. Verlag von Julius Hoffmann, Stuttgart. 


Was an diesem Werke des italienischen Geschichtsforschers am meisten be- 
merkenswert erscheint, ist die vergleichende Betrachtung jener in den ersten drei 
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung und der in unserem Zeitalter sich vollziehenden 
Katastrophe. Beider Ursache leitet Verfasser aus dem Verlust des Autoritäts- 
prinzips und dem Fehlen des Staatsgedankens her. Er betrachtet das heutige 
Europa als eine Einheit wie das römische Weltreich. Der Zerfall der Teile führt 
zum Untergang des Ganzen. Die Katastrophe der Gegenwart droht noch furcht- 
barer zu werden als die des Altertums, weil heute nicht wie damals im sieg- 
reichen Christentum ein sittliches Prinzip den Einzelmenschen in Schranken hält. 
Zur politischen Auflösung komme heute die geistige Anarchie. 

Dieses vortreffliche Werk sollte viel gelesen werden. Von Siegern und 
Besiegten. Max Hirsch, Berlin. 


96 Kritiken. [27 


Guglielmo Ferrero: Die Frauen der Cäsaren. Verlag von Julius Hof- 

mann, Sluligart. = 

Von neuem liegt dieses Meisterwerk geschichtlicher Darstellung vor uns. Seit 
es Referent zum ersten Male besprochen hat, ist die Welt durchgeschüttelt und 
Europa zerschlagen worden, und man gewinnt eine Vorstellung von den ge- 
waltigen Erschütterungen, welche das Rom der Cäsaren erfahren bat. Mit uner- 
hörter Kühnheit und list greifen die Frauen der Cäsaren ins politische Leben 
ein. Selbst meist Objekt staatlicher Notwendigkeiten, ausgenützt zu politischen 
Zwecken, ohne Willen verheiratet und ohne Schuld geschieden, sind sie beherrscht 
von einem unbändigen Willen, sich zu behaupten und Macht zu besitzen. Sie 
sind der Mittelpunkt einer Palastregierung, welche oft genug den Herrschern 
selbst zum Verhängnis wird. Mit dem Tode des Augustus, dessen Gattin Livia, 
ein Muster der Tugenden, göttliche Ehren geniesst, hebt das Chaos wilder Leiden- 
schaften an, welches unter Agrippina und Messalina seinen Gipfel erreicht. Die 
sensationellen Berichte über die sexuellen Ausschweifungen werden von Ferrero 
kritisch geprüft. Tacitus glaubt cr wenig und Sueton nicht alles. So schrampfen 
die fabelhaften Überlieferungen stark zusammen. Die Bigamie der Messalina 
wird als Mittel zum Zweck der Verschwörung und Palastrevolution geschildert. 
Geht schon Messalina aus Ferrero’s Darstellung in ganz neuem Gewande her- 
vor, so wird vollends die Geschichte der Agrippina zu einer Ehrenrettung der 
nach des Autors Meinung mit dem falschen Vorwurf des Giftmordes an ihrem 
Gatten Claudius beladenen Frau. Die Zeit der Cäsaren ist der Höhepunkt poli- 
tischer Weiberherrschaft in der Geschichte der Menschheit. Niemals in einem 
Gzschichtsbuch habe ich sie packender dargestellt gefunden als in Ferrero’s 
Meisterwerk. Max Hirsch, Berlin. 


Leopold v. Schlözer: Dorothea v. Schlözer. Eın deutsches Frauenleben 
um die Jahrhundertwende. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1923. 

Der Name Schlözer hat einen guten Klang in der Geschichte deutschen 
Wesens. August Ludwig, der grosse Geschichtsforscher und Publizist, damals 
neben Haller, Röderer, Michaelis, Heyne, Pütter, Kästner eine Leuchte der Georgia 
Augusta Göttingensis. Und Kurd von Schlözer, der feinsinnige preussische 
Diplomat, dessen „Römische Briefe“ ein wertvolles Gut der deutschen Literatur 
geworden sind. Zwischen ihnen steht Dorothea, die gelehrte Frau, der erste 
weibliche Doctor phil. in Deutschland, zugleich ein warmherziger Mensch, voll- 
wertiges Weib und hingebende Mutter. Um sie ist in diesem Buche ein Stück 
Zeitgeschichte gruppiert von einem prächtigen Ausmass. Politisch, wirtschaftlich 
und gesellschaftlich so umwälzend wie die Gegenwart. Kulturell so hochragend 
und reizvoll, wie man es heute schmerzlich vermisst. Göttingen, später Berlin, 
die geistigen Mittelpunkte. Eutin, ein kleines Städtchen von Ackerbauern und 
doch Brennpunkt geistiger Hochkultur: Stolberg, Jacoby, Voss. In Hamburg die 
Häuser Reimarus und Sieveking und Mathias Claudius. In Lübeck Charles de 
Villers. Und auch sonst an vielen Orten Norddeutschlands freier Geist und edles 
Streben. Deutschland — eine literarische Republik — zerrissen und zertreten, 
hatte doch die Führung der Welt in Wissenschaft, Dichtung und. Musik. Kant, 
Herder, Wieland, Klopstock, Goethe, Schiller, Fichte, Hegel, Schelling, Schleier- 
macher, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schlegel, Tieck, Caroline Michaelis, 
Rahel Levin, Therese Heyne und viele noch. Mit ihnen allen stand Dorothea 
Schlözer in mehr oder weniger enger Berührung: Ein voll ausgeschöpftes 
Menschenleben, trotz seines traurigen Abschlusses. Von einem Gegenwarlswert, 
wie er noch vor wenigen Jahren nicht hätte geahnt werden können. 

Max Hirsch, Berlin. 


Julie Vogelstein: Lily Braun. Ein Lebensbild.e Mit 5 Abbildungen und 
1 Brieffaksimile. Verlagsanstalt Hermann Klemm, Berlin, 


Ein seltenes Frauenschicksal liegt ausgebreitet. Harmonie und Glück? Nein. 
Solchen Naturen fehlt das Talent dazu. Leidenschaftliche Wahrheitssucherin mit 


28] Kritiken. 97 


dem Mut, alles daran zu wagen. Klarer Verstand, heisses Blut, hohes Ziel. Ein 
Leben voller Kämpfe, Erfolge und noch mehr Verzichten. Und schliesslich die 
Krönung in der Mutterschaft und in der Hingabe an einen hochbegabten Sohn. 
Die Darstellung dieses Lebensbildes ist bemerkenswert durch das hohe Mass 
von Gerechtigkeit, welche auch die schwachen Seiten nicht verschweigt. 
Max Hirsch, Berlin. 


G. Bransewetter: Eva Maria. Ein Führer zu wahrem Weibtum. Verlag 
von Max Koch, Leipzig. 


Der Zwiespalt zwischen Herz und Geist ist des Weibes Verhängnis. Seine 
Tragik: auf Kosten des Gefühls stark sein zu müssen. Ohne innerliche Über- 
zeugung. Aus Not. Die Errungenschaften der Zeit: Wahlrecht, Unabhängigkeit 
usw. sind keine Erlösungen. Sie sind Fortschritte, Anreger, Mittler zu neuem 
harmonischen Zusammenwirken zwischen Mann und Frau. Man sieht: das Ziel 
der Verfasserin ist hoch gesteckt. Das Buch ist gut geschrieben und von hohem 
sittlichen Ernst. Max Hirsch, Berlin. 


Matthäus Gerster: Der galante Stadtschreiber. Ein Wieland-Roman. 
Verlag von Strecker & Schröder, Stultgart. 


Auf kulturgeschichtlichem Hintergrunde süddeutschen Rokokos steht Wie- 
lands Lebensabschnitt, in der er Senator und Kanzlist im schwäbischen Biberach 
war. Diese Periode ist erfüllt von seiner jene Zeit kennzeichnenden Doppelliebe: 
der geistigen zu Sophie Laroche und der grobsinnlichen za Christine Heiler. Der 
Roman gibt ein fesselndes Bild dieser Zeit. Max Hirsch, Berlin. 


Juliane Karwath: Der wandernde Traum. 

Clara Ratzka: Renate im Irrgarten. 

Vicki Baum: Die Welt ohne Sünde. 

Vicki Baum: Die anderen Tage. Sämtlich deutsche Verlagsanstali, Stuttgart 
1922/23. 

Diese drei Künstlerinnen gehören zu den —— schriftstellerischen Ta- 
lenten der Gegenwart. Selbständig in der Problemstellung, eigenartig und kraft- 
voll in der Durchfübrung, schöpferisch in Stil und Sprache. 

Juliane Karwath wurzelt, wie G. Hauptmann, in den Bergen Schlesiens. 
Aber ihre Menschen sind nicht nur erdgebunden, sie sind Gefässe allgemeiner 
menschlicher Schicksale. Das Schicksal der Georgette Quingsberg und ihres 
Geschlechtes mit ibrer Gegenwartsfremdheit ist zugleich das Schicksal aller traum. 
haft und vergeblich Suchenden und das Los ganzer Geschlechter. Erfüllung winkt 
ihnen wie der Georgette aus dem Aufstieg der ihnen nachfolgenden Generation. 

Im Irrgarten wandelt auch Renate, die Heldin von Clara Ratzkas Roman. 
Ehe und Liebe sind voller Enttäuschungen. Darüber erhebt sie sich, gestählt durch 
Erfahrung und ungebrochen im Glauben an die Erfüllung, zu eigenem Leben als 
Mensch, Weib und Mutter. 

Vergeblich Suchende zeigt Vicki Baum in ihren Novellen, deren ersten 
beiden „Raffael Guttmann“ und „Das Joch“ zu dem schönsten gehören, was ich 
gelesen habe. Temperament und schöpferischer Schönheitssinn in Bild und Dar- 
stellung. Meisterschaft in der Entwicklung und Lösung seelischer Konflikte, ver- 
blüffende Neubildung in Wort und Ausdruck. „Die anderen Tage“ kommen nie. 
Der Suchende resigniert oder geht zugrunde. 

Die „Welt ubne Sünde“, das packende, lockende und schreckende Bild eines 
utopistischen Idenlstaates ist aus der Gegenwart und für die Zukunft geschrieben. 
Alle Probleme, Wirtschaft, Ehe, Liebe, Bildung werden in der bekannten Be- 
leuchtung utopistischer Staatsformen dargestellt. Sie leben im Gehirn des Meisters. 
Im Augenblick der Entscheidung durchlebt er den Zusammenbruch seiner Lehren 
in einer Minute und legt Hand an sich und sein Werk. 

Alle vier Bücher sind dichterische Kunstwerke. Max Hirsch, Berlin. 


Arehiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 1/2. 7 


98 Kritiken. Ä [29 


Herbert Eulenberg: Wir Zugvögel. Roman. Verlag von J. Engelhorna 
Nachf., Stuttgart 1923. 


Eine Sammlung von Menschen ungewöhnlicher Art. Meist Enterbte des 
Schicksals. Im Vordergrunde ein Mädchen, wie ein Geisterspuck, dem Leben ab- 
gewendet, dem 'Tode hingegeben. Darum herum Spiritismus, Poesie, Erotika, 
Humaniora. Durch diese Vielbeit und die Breite der Erzählung eine Art Lehr- 
und Erziehungsroman. In der schönen Sprachform, die Herbert Eulenberg 
eigen ist. Max Hirsch, Berlin. 


Philipp Witkop: Frauen im Leben deutscher Dichter. 203 3. Verlag 
von H. Haessel, Leipzig 1922. 


Unter den 11 uns vorgeführten Heldinnen erscheint Goethes Mutter und 
Schwester, Christiane als Ehefrau, Friederike, die nette Ulrike v. Levetzow. 
Weniger bekannt ist Marianne, Immermanns Frau nach der langen paradoxen 
Liebe zu oder mit Elisa, der Frau von Adolf v. Lützow (nicht zu verwechseln 
mit Therese v. Bacheracht, der Frau des Obristen Heinrich v. Lützow), die 1839, 
mit 52 Jahren, das Haus verliess. Marianne heiratete nun, um ihren Mann Immer- 
mann nach 11 Monaten zu verlieren. Aber 1847 heiratete sie ihren Oheim mit 
6 Kindern zu ihrem von Immermann gebliebenen einen. Zu den 7 kamen noch 4. 
Hölderlins Diotima (Susette Gontard), „Schwester, heilig mir verwandt“, bei der 
Hölderlin 1795 als Hauslehrer eintrat, war sehr schön und blieb brieflich mit 
ihm noch 1798 in Verbindung, starb 1802. Heines Mouche hat nun einen dritten 
Namen erhalten, da sie ausser Camilla Selden auch Elise Krienitz oder Elise v. 
Krienitz genannt wird. Kellers Mutter, keineswegs vom Glück begünstigt, aber 
höchst tüchtig, hatte wenigstens die Genugtuung, dass der Sohn stetig aufstieg. 
Aber Kleists Schwester Ulrike hat ibre ganz unsäglichen, anscheinend nicht ge- 
nügend gewürdigten endlosen Opfer eigentlich doch trostlos und ergebnislos ge- 
bracht. Christine zu finden war für Hebbel ein grosses Glück. Verfasser ist mit 
den Tatsachen wohl vertraut. K. Bruchmann. 


Rud. Unger: Herder, Novalis und Kleist. Studien über die Entwicklung 
des Todesproblems im Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur 
Romantik. 188 S. Verlag von Diesterweg, Frankfurt a. M. 1922. 


Kenntnisreich und mit besonderer Sorgfalt gearbeitet sind einige Aufsätze, 
die innerlich zusammengehören: Gedanken Herders, Novalie', H. v. Kleists über 
das Problem des Todes, das von Herder mit seiner Neigung zum Halbdunkel und 
seiner Empfänglichkeit für das Feierliche, von Novalis mystisch, von Kleist 
dramatisch, in Berührung mit zeitgenössischen Betrachtungen behandelt wird. 
Herder, der mit dem Gedanken der Wiedergeburt (Palingenesie) spielte, wirkte 
auf Novalis’ Hymnen an die Nacht. Bei Kleist. erscheint in der Penthesilea das 
Reifwerden zum Tode, im Prinzen v. H., dessen innere Überwindung, der Sinn 
der Wiedergeburt, durch seine Bejahung geschildert. Grillparzer meinte frei- 
lich in bezug auf Novalis, Mönche und Klausner mögen Hymnen an die Nacht 
herausgeben, für tätige Menschen ist das Licht. Aber welche Laune (Hom. Od. 
18, 136) ist wohl davor sicher, einmal etwas als leeres Gefasel zu betrachten, 
dann aber wieder mit Geisterseheraugen eine nähere Verbindung liebender Wesen 
gerade durch den Tod zu suchen oder zuerwarten und dabei Leben und Tod nach 
Analogie von Tag und Nacht zu benutzen? Zum Schluss zitieren wir von Novalis 
etwas, dessen Richtigkeit kaum zu bestreiten ist: Das Leben ist kurz, wo es 
lang und lang, wo es kurz sein sollte. K. Bruchmann. 


August Messer, Erläuterungen zu Nietzsches Zarathustra. 174 S. 8°. 
Strecker und Schröder, Stuttgart 1922. 


„Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen 
Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste‘, sagt uns der ver- 


30] | Kritiken, 99 


ewigte Nietzsche in der „Götzendämmerung“ (Werke I. Abteilung, Bd. 8, S. 165, 
Leipzig 1899) und: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bücher gegeben, die sie 
überhaupt besitzen — Grund genug, dass die Deutschen kein Wort davon ver- 
stehen“ (ebenda S. 44). Merkt! Hieraus ergibt sich klar, dass der verewigte 
Meister selbst einen Erklärer braucht. Und wer schon aus eigenem Vermögen 
den Zarathustra nicht immer verstehen konnte, kann sich wohl nach einem Erklärer 
umsehen, wenn er sich nicht einfach dem von Nietzsche bezeichneten Schicksal 
der Deutschen in bezug auf Nietzsche-Verständnis anschliessen will. Wer es 
noch nicht wusste, weiss es wohl nun, dass Nietzsche auch seine Mucken hatte, 
wenn er (nach seinem Ausdruck in der „Morgeuröte‘) Wasser aus dem Brunnen 
seines Selbst schöpfte. Der Verfasser hat sich sorgsam und geduldig dem ganzen 
Zarathustra zugewendet in der Art, dass er hier ausser Behandlung einzelner 
Wendungen auch den ganzen Gedanken kurz wiedergegeben hat. 
| RK Brochmann, 


Elisabeth Förster-Nietzsche: Der einsame Nietzsche. 589 S. 8°. 
A. Kröner, Leipzig 1922. 


Unter dem „einsamen“ Nietzsche denken wir wesentlich an Freundschafts- 
tragödien, Lösung oder zeitweilige Lösung von Freundschaften, einmal sogar ein 
Zerwürfnis nıit seiner Schwester, der Verfasserin, auch dass Nietzsche krank- 
heitshalber sich vom Verkehr zurückzieht. Die Darstellung ist sehr pietätvoll 
und sehr ausführlich. Die Verfasserin spricht auch viel von der Entstehung von 
mehreren Büchern Nietzsches, von seinem Aufenthalte im Süden, seinem Leiden. 
Lebhaft tritt sie der Auffassung vun P. J. Möbius über die Veranlassung der 
schliesslichen, zum Tode führenden Krankheit entgegen. Durch Obduktion sind 
die Voraussetzungen von M. meines Wissens übrigens nicht festgestellt. Wir 
erfabren u. a., dass Nietzsche der Ehe keineswegs grundsätzlich abgeneigt 
war, und dass man von nah befreundeter Seite einmal lebhaft bemüht war, eine 
passende Frau in einer Russin für ihn zu entdecken. Es erwies sich als pein- 
licher Irrtum. Einmal äusserte Nietzsche, er habe sich nur dreimal in seinem 
Leben inter pares gefühlt, nıit Richard Wagner, Erwin Rohde und H. e Stein. 
Aber mit Wagner und Rohde flaute die Freundschaft ja ab. H: v. Stein starb, 
glaube ich, zeitig. Die kluge, reizende Malwida v. Maysenbug hatte ihn als eine 
Art Hauslehrer bei Wagner empfohlen. Da konnte er merken, wie es sich in 
eiuer mit Unfehlbarkeit übersättigten Atmosphäre lebt. K. Bruchmann. 


Anna Chamberlain, Meine Erinnerungen nn Houston Stewart Cham- 
berlain. Mit 5 Bildnissen. 201 S. 8%. O. Beck, München. 


Die Verfasserin ist die nach mehr als 25 Jahren in Gnaden entlassene (ge- 
schiedene) Frau des bekannten Schriftstellers (Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 
Wagner, Kant) H. St. Chamberlain. Anscheinend ist sie Deutsche, in Preuss. 
Schlesien geboren. Sie führt uns nach Cannes, Genf, Florenz, Bayreuth (1882, 
Parsifal-Aufführung), Paris, Dresden, Wien (1889—1905), Bosnien usw. mit der 
Gewissenhaftigkeit eines treuen Chronisten, auch in bezug auf die mannigfaltigen 
Arbeiten ihres Mannes. Sehr viel Schönes hat sie in dieser langen Zeit erlebt, 
hochgebildete Leute kennen gelernt. Nur die in Paris gegen ein Nervenleiden 
gesuchte Heilung hat sie so gar nicht gefunden, obgleich sie tüchtig zahlen 
musste. K. Bruchmann. 


Anna Caspary, Maria Zanders, das Leben einer bergischen Frau, Mit 
6 Bildtafeln. 190 S. 8°. Eugen Diederichs, Jena 1923. 


Maria Zanders war nach dem vorzeitigen Tode ihres Mannes Besitzerin 
und Leiterin einer weltberühmten Papierfabrik in Gladbach im Bergischen Lande. 
Sie ist sympathisch durch ibre höchst mannigfaltige gütige Tätigkeit, als Gattin, 


7* 


100 Kritiken. e 


Mutter, Freundin, durch rastlose Fürsorge für alle, die für ihre Fabrik arbeiteten, 
unermüdlich in Massregeln für deren körperliches und geistiges Wohl, ja für 
Kunstpflege. Auch an sich selbst arbeitete sie viel und mit der ihr eigenen 
zähen Ausdauer. Ich babe, sagt sie mal, mich mein ganzes Leben überanstrengt. 
Sie liebte den Verkehr mit hochgebildeten Leuten. Trotz ibrer grossen Frei- 
gebigkeit gab es da keinen unverschämten Papierwucher. Vielmehr machte sie 
die freigebigsten und prächtigsten Geschenke z. B. an die Familie des Präsidenten 
v. Simson (76, 106). Sie starb 1904 als Vorbild und Trost für spätere Zeiten. 
K. Bruchmann. 


Rud. Eisler, F. Müller-Lyer als Soziolog und Kulturphilosoph. 188 S. 
A. Langen, München 1923. 


Der Verfasser will auf die Bedeutung der soziologischen Arbeiten des 1916 
in München verstorbenen Müller-Lyer hinweisen und zu ihrer Verbreitung bei- 
tragen, ab und zu leichte Abweichungen von jenem andeutend. Müller-Lyer steht 
auf dem positivistischen Boden Comtes, dessen grosses „Gesetz“ nach P. Barth 
(Die Philosophie der Geschichte als Soziologie I. Leipzig 1897) schon 70 Jahre 
vorher von Turgot entdeckt war. Inwiefern metapbysische Betrachtungen doch 
auch begründet sind, wird sogleich mit dem Begriff der Soziologie von Eisler er- 
örtert, wie auch die Fragen von. einem sog. Zweck der Geschichte und inwiefern 
von einem „Fortschritt* in ihr die Rede sein könne. Die Geschichte bedient sich 
dabei der natürlichen und absichtlichen Zuchtwahl und benutzt die Eugenik für 
die Rasse. Mit der Soziologie der Fortpflanzung befasst sich die „Geneonomie*. 
Immer wieder reichen unsere Worte für die Fülle der Gesichte leider nicht 
aus, sondern vermehren sich lästig durch Neubildung. Wir hören so auch von 
einer phaseologischen Methode, durch die die Richtungslinien, die Perioden oder 
Phasen studiert werden. Älte Fragen werden erneuert, z. B. wie sich der Einzelne 
zur Gesamtheit verhält (so auch Lazarus, Leben der Seele I. 323—411, 2 A.), ob 
alle Kulturerscheinungen nur von der Wirtschaft abhängen, was Müller-Lyer dahin 
beantwortet, ist nicht die Wirtschaft, sondern der Mensch Schöpfer der Kultur 
ist und das Psychische dem Ökonomischen vorangeht (92, Barth 284 ff.), dass 
uns die Kultur nicht glücklicher macht, wenn sie uns auch zum Teil von Aber- 
glauben befreit. Den eigentlichen Zweck des Lebens nennt Müller-Lyer „Euphorie“, 
Verbindung grösstmöglicher Glückseligkeit und objektiver Vollkommenheit des 
Lebens, während die Ärzte unter Euphorie wohl bloss an die Glücksempfindung 
denken. K. Bruchmann. 


Ad.Moszkowski, Die Inseln der Weisheit. 2838. F. Fontane, Berlin 1922. 


Schon manchmal ist behauptet worden, jeder sittliche, künstlerische, wissen- 
schaftliche Grundsatz, wenn ganz folgerichtig durchgeführt, führe zu unsinnigen 
Folgen. An einigen Beispielen dies zu erweisen fühlt sich der witzige und dia- 
lektisch gewandte Verfasser hier mit Erfolg aufgelegt. Ausserdem wirft er den 
Zeitverhältnissen ein sorgsam prüfendes Auge zu, dem das ekelhaft Verzerrte dessen 
nicht entgeht, was sich seit einigen Jahren nicht am wenigsten in Deutschland 
herausgebildet hat (man ontschuldige das Wort gebildet). Der Verleger sagt 
uns auf dem Umschlag u. a, dass das Buch für die Weltliteratur die gleiche 
Bedeutung gewinnen wird, wie Swifts berühmtes Werk Gullivers Reisen. Auch 
A. Moszkowski reist oder lässt höchst paradoxe und interessante Inseln (im Norden 
des Stillen Ozeans) entdecken. Auf einer wird z. B. der folgerichtig entwickelte 
Platonische Staat vorgefunden. Zu den erlebten Perversionen gehört die Stelle, 
wo man u. a. Ziegenkäse mit Sardellen am Spiess gebraten, Krähenzungen in 
Vanille, Kaviar mit Schlagsahne isst; wo der Brei um die Katze geht, der Kork 
entflascht, das Siegel entbrieft wird usw. Zu den Wundern der mechanisierten 
Insel gehört eine Taschenuhr mit drahtlosem Telephon in der nämlichen Gold- 


32] Kritiken. 101 


kapsel; der Vorgang, dass sich der Muss- zum Will-Arbeiter umbildet; der Staat 
Monopolist aller seelischen Neigungen wird. Auf einer Insel der schönen Künste 
ist z. B. noch vorbehalten, dass die Dichtkunst erst anfangen wird, wenn wir 
von der Sprache vollkommen losgelöst sind. Auf der Insel des „Als-ob“ schaffen 
Leute Romane u.a.m., als ob ihnen bei der Niederschrift etwas einfiele, ein 
Kämmerer verwaltet Kassen, als ob Geld drin wäre. Sehr gut ist in der Staats- 
bibliothek, dass 350000 Bände aller bis zum Vorjahr erschienenen Gesetze und 
Verordnungen aufbewahrt werden, deren Katalog allein 27 Zentner wiegt. Er 
wird dauernd unter Verschluss gehalten, weil sonst Gefahr ist, dass man etwas 
finden könnte. Auch Pazifisten gibts auf zwei Inseln. Es sind die, auf denen Krieg 
entsteht. Nicht am schlechtesten ist die rückschrittliche Insel (173 f.). Es ist 
ganz erstaunlich, wie reich an Einfällen und konstruktiver Phantasie der Ver- 
fasser ist, so dass das Interesse des Lesers dauernd gespannt bleibt. Ergebnis (283): 


... Und du entdeckst — nur eins ist prinzipiell: 
Dass kein Prinzip lebendger Probe standhält. 
K. Bruchmann. 


Verhandlungen 
der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Konstitutionsforsehung in Berlin. 


Sitzung vom 16. November 1923. 


1. Ausserordentliche Generalversammlung. Bericht des Vorsitzenden 
Herrn Hirsch über die im Anschluss an den Kongress „Sexualität und 
Konstitution‘ getanen Vorarbeiten zur Erweiterung der Gesellschaft in 
eine „Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Konstitutions- 
forschung“. 

Der Vorsitzende wirft einen kurzen Rückblick auf die Entwicklung der Ge 
sellschaft, welche mit der historisch-kritischen Behandlung der Sexualprobleme 
begonnen habe und nun über die biologisch chemische zur Konstitutionsforschung 
vorgedrungen sei. Der vor kurzem von der Gesellschaft unter lebhafter Betei- 
ligung des In- und Auslandes veranstaltete Kongress mit dem Thema „Sexualität 
und Konstitution“ bezeichne einen Gipfelpunkt und zugleich den Anfang neuer 
Entwicklung. Im Anschluss an ihn sei der Plan erwogen worden, die Gesell- 
schaft durch Einbeziehung der Konstitutionsforschung zu erweitern. Verhand- 
lungen mit Konstitutionsforschern haben zu günstiger Aufnahme des Planes ge- 
führt. Insbesondere sei Geheimrat Kraus ein lebhafter Förderer des ihm vor- 
getragenen Gedankens geworden. Eine erweiterte Vorstandssitzung vom 26. Juli, 
deren Protokoll eingesehen werden könne, habe sich mit allen gegen eine Stimme 
für die Erweiterung entschieden. 

Das tiefe nationale und wirtschaftliche Unglück Deutschlands mache es 
zur besonderen Pflicht, die geistigen Güter zu schützen und zu mehren. Auch 
vor 100 Jahren sei aus politischen Abgründen geistige Morgendämmerung herauf- 
gestiegen. Gottingen und Berlin leuchteten damals als helle Gestirne am Himmel 
der Wissenschaft. So dürfe man sich den Mut zum Fortschritt nicht nehmen 
lassen. „Sorgen wir dafür, dass man von uns nicht sage, dass wir den Gang 
der Entwicklung nicht verstanden, dass wir die rechte Zeit versäumt haben.“ 

Die vorgeschlagene Erweiterung der Gesellschaft wird daraufhin einstimmig 
beschlossen. 


2. Vortrag des Herrn Th.Brugsch: Geschlecht und Persönlichkeit 
(im Original wiedergegeben S. 1 dieses Heftes). 


8. Aussprache: 


Herr Kronfeld: | 

3. Der Begriff „Intersex“ ist auf zwei Weisen abgrenzbar: erstens des- 
kriptiv, zweitens konstruktiv-genetisch. Die Abgrenzung derselben durch 
Herrn Brugsch gehörte zur letztgenannten Klasse. Diese stellt sicherlich für 
eine jede Klassifikation das logisch Höherwertige dar, aber auch das dem Irrtum 
eber Zugängliche. Die Kriterien des durch irgendeine genetische Substraktion 
gewonnenen Begriffs des Intersexes sind letztlich dort wieder faktische, deskrip- 
tive. Vom Boden irgendwelcher erbbiologischer Annahmen aus kann man zwar 
postulieren, es gebe keine menschlichen Intersexe: entscheidend über ein derartiges 
Postulat bleibt aber das deskriptiv Vorfiudbare. Freilich ist der deskriptive Be- 
griff der Intersexualitäten auch wieder schwierig, weil schon mit den Ab- 
straktionen des deskriptiv Männlichen und deskriptiv Weiblichen behaftet, die 


2] Sexualwissenschaftliches Beiheft. 103 


ihrerseits schon unter dem leitenden Gesichtspunkt einer Theorie erfolgen müssen 
— sonst sind sie unvollziehbar oder mindestens vieldeutig. 

2. Der Geschlechtstrieb ist sicher weder biologisch noch psychologisch ein 
„Urtrieb“ im Sinne der Unmöglichkeit einer weiteren Reduktion. Dennoch ist 
er sowohl pbänomenologisch als auch biologisch etwas in seiner Ganzheit, seiner 
Gestalt, seinem '[elos durchaus Wesenseigenes, wesensmässig nicht weiter Fun- 
diertes, hingegen breiteste Funktionsweisen und Zusammenhänge Fundierendes. 
Die Persönlichkeit kann in ihrem Geschlechtstrieb abgebildet sein; aber weder 
sie noch dieser können auf die Urtriebe der vegetativ-striären „Tiefenperson* 
reduziert werden, ohne ihre „Gestalt“, ihre Wesensart zu verlieren. 


Herr Peritz: 

Meine Herren! Über die Morbidität und Mortalität der Eunuchoiden lässt 
sich wenig sagen. Bei der verhältnismässig grossen Seltenheit dieses Typus 
werden diese Menschen fast immer nur als Raritäten beschrieben, über ihr 
Schicksal erfäbrt man wenig. Ich weiss von 3 Eunuchoiden, die über 50 Jahr 
alt geworden sind. Mehr weiss man über die religiösen Sekten, die sich kastrieren 
lassen. Über die Skopzen existiert eine sehr interessante Monographie von Koch, 
aus der ich entnehme, dass diese Menschen scheinbar nicht mehr erkranken, als 
andere Menschen und auch recht alt werden. Das würde also mit der Anerken- 
nung des Herrn Brugsch, dass der Sexualtrieb kein Urtrieb ist, übereinstimmen, 
dass er auf Morbidität und Mortalität keinen Einfluss ausübt. Welcher Art aber 
der Einfluss des Sexuaitriebes auf die psychophysische Gebundenheit ist, das 
kann man auch wieder an den Eunuchoiden und Eunuchen erkennen. Auf den 
Habitus dieser Klasse von Menschen brauche ich nicht einzugehen, er ist genügend 
bekannt. Peychisch stellen sie sich als furchtsame, ängstliche, suggestible Menschen 
mit grossem Anlehnungsbedürfnis dar, mit geringer Initiative und mangelndem 
Antrieb. Man kann wohl sagen, dass bei ihnen der Trieb, den Brugsch als 
Reizhunger bezeichnet, sehr gering ausgebildet ist. Umgekehrt finden wir, dass 
Menschen mit starker Sexualität einen grossen Reizhunger haben. Hier scheint 
also der Sexualtrieb auf einen Urtrieb einzuwirken und so, wenn auch indirekt, 
auf die psychophysische Gebundenheit Einfluss zu gewinnen. Der Reizhunger, der 
meiner Ansicht nach als Unterbrechung des Automatismus von anderen Stellen 
aus anzusehen ist, wahrscheinlich vom Grosshirn aus, wird durch verschiedene 
Komponenten, unter anderem auch durch den Sexualtrieb bestimmt, in ihm haben 
wir eine Bindung der psychischen Freiheit und der psychophysischen Gebunden- 
heit zu sehen. | 


Herr Fritz Levy: 

Wenn auch zwischen dem Schwammspinner und dem Menschen erhebliche 
biologische Unterschiede bestehen, so darf man wohl kaum mit der Entschieden- 
heit, mit der es Herr Brugsch tat, behaupten: „Beim Menschen gibt es Mann 
und Weib. Tertium non datur“. Die Verhältnisse bei anderen Wirbeltieren 
weisen darauf hin, dass auch hier eine bisexuelle Anlage besteht, deren Kom- 
ponenten einen verschiedenen Entwicklungsrhythmus haben bei den sexuellen Ex- 
tremen, dem Manne und dem Weibe. Dieser Rhythmus scheint im wesentlichen 
genotypisch bedingt zu sein in dem Geschlechtschromosomenmechanismus. Wir 
beobachten Merkmale, die vererbt werden, also Phänotypen, wir schliessen 
durch einen Denkakt, auf Genotypen, wenn unter uns bekannten oder unbe- 
kannten Urweltsbedingungen das Merkmal nicht verändert wird. Witschi konnte 
in glänzenden Untersuchungen zeigen, dass die Kreuzung verschiedener Lokal- 
rassen von Rana fusca verschiedene Grade von Übergangs- und Adultherm- 
aphroditismus entstehen liess. Ja, er konnte experimentell einen Zwitter erzeugen, 
dessen Eier er mit den Spermatozoen desselben Individuums befruchtete In 
amerikanischen Arbeiten ernsthafter Biologen sind Fälle beschrieben, dass Hühner 
erst Eier legten und später zum Hahn wurden. Die funktionierende Keimdrüse 
drückt dem Individuum die Geschlechtsmaske auf, von der Herr Brugsch sprach. 


104 Sexualwissenschaftliches Beiheft. [3 


Nach unseren heutigen Kenntnissen führt Ausfall jeglicher Keimdrüsenwirkung 
zu den Erscheinungen des Eunuchoidismus. Intersexe entstehen, wenn keine der 
beiden Keimdrüsenanlagen imstande ist, hormonal die Wirkung der anderen zu 
unterdrücken bzw. wenn der Entwicklungsrhythmus der beiden Keimdrüsenanlagen 
sich, graphisch ausgedrückt, nicht oder zu spät überschneidet. 


Herr Stabel: 

Herr Brugsch hat behauptet, dass die Mehızahl der Homosexuellen in den 
Kadettenanstalten und anderen geschlossenen Anstalten gezüchtet werden. Ich 
bin der Ansicht, dass man eine derartige Behauptung nicht aufstellen darf, wenn 
man nicht über eine entsprechende Statistik verfügt; mir ist eine solche nicht 
bekannt. Dass in solchen Anstalten in erhöhtem Masse mutuelle Onanie ge- 
trieben wird, ist allgemein bekannt. Durch besondere Umstände habe ich sowohl 
in das Leben eines unter geistiger Leitung stehenden Stiftes am Rhein, als auch 
in das der Lichterfelder Kadettenanstalt Einblick gehabt. Ich kenne aus beiden 
Anstalten eine grosse Reihe von Zöglingen, die dort mutuelle Onanie getrieben 
haben und im späteren Leben keinerlei homosexuelle Anwandlungen hatten, die 
sich verheiratet haben und glückliche Familienväter wurden. 


Herr Max Hirsch: 

Die grössere Mortalität des männlichen Geschlechtes zeigt sich schon im 
intrauterinen Leben und drückt sich in der Überzahl männlicher Abortfrüchte 
aus. Diese ist um so grösser, je jünger die Föten sind. Das Geschlechtsverhältnis 
106 Knaben auf 100 Mädchen bei der Geburt ist schon Ergebnis des stärkeren 
Absterbens männlicher Früchte (pathologisches Geschlechtsverhältnis). Das physio- 
logische ist uns unbekannt und wird bei der Konzeption entschieden (s. Hirsch: 
Über das Verhältnis der Geschlechter. Zentralbl. f. Gynäkologie, 37. Jahrg., 
Nr. 12, 1913). 

Schlusswort. 

Herr Brugsch: Ich stimme durchaus mit Herrn Kronfeld überein, dass 
man die Frage der Persönlichkeit in ihrer Abhängigkeit vom Sexus auch psycho- 
logisch lösen kann, wie ich das bereits in der Einleitung zu meinem Vortrage 
bemerkt habe. Wie weit man allerdings von der psychischen Freiheit aus auf 
den Kern der Persönlichkeit stossen kann, ist eine Frage, die nicht ganz leicht 
lösbar sein wird, vielmehr sehr problematisch bleiben kann, da eben die psychischen 
Freiheiten die Irrationalität bedingen. Diese meine Auffassung berührt durchaus 
nicht die Frage, ob man in der Therapie praktische Erfolge durch sog. Psycho- 
analyse erzielen kann. Diese Frage kann nur praktisch gelöst werden und wird 
ja von vielen Psychoanalytikern im bejahenden Sinne beantwortet. Aus dem Er- 
folg der Therapie darf man aber nicht auf die Richtigkeit der Auffussung schliessen, 
dass man durch die Psychoanalyse an den Kern der Persönlichkeit herankommt. 

Herrn Stabel erwidere ich, dass mir keine kompetenten Statistiken über 
Homosexualität bekannt sind, während mich meine ärztlichen Erfahrungen ge- 
lehrt haben, dass ein gewisses Milieu die Homosexualität züchtet. Das ist per- 
sönliche Beobachtung. 

Was die Frage der Geschlechtsumstimmung, z. B. bei Amphibien, anlangt, 
so ist diese ja durchaus sicher. Ob die Geschichte des amerikanischen Hahns, 
der später Eier legt. nicht ein amerikanischer Blaff ist, möchte ich dahingestellt 
sein lassen. Beim Menschen scheint mir eine epigame Geschlechtsbestimmung 
durchaus walırscheinlich; ausschlaggebend wären dann die Hormone der Mutter 
in den ersten Monaten der Gravidität. An eines glaube ich aber nicht, das ist 
die Geschlechtsumstimmung beim Menschen. 


Namenverzeichnis. 


A. 


Abraham, Karl 67. 
Achilles, Paul S. 191. 
Alsberg, Paul 70. 
Amon 6l. 

Amos, T. G. 115. 
Ancel 1 

Pe 164. 

Asher 113. 
Auerbach, Fr. 207. 
Avenarius 86. 


B. 


Baer, A. 69. 

Bartel 107. 

Bartels, Paul 26. 
Barth, E. 143. 
‚Barthel, Ernst 72. 
Bauer, K. H. 113. 
Baur, Erwin 206. 

— Ludwig 71. 

Bebel, August 174. 
Becher 77. 

Bechstein, Ludwig 142. 
Bernstein 143. 
Bertholet 55. 

Besant, Anni 49. 

Bier, August 207. 
Binding 46. 

Bird 111. 

Birnbaum, Karl 211. 
Bloch, Iwan 1, 76, 215. 
Blumgarten, A. S. 187. 
Boas, Franz 67. 
Boehm, E. 111. 
Bomsdorf-Bergen, Herbert 


v. 59. 
Borchardt, L. 113. 
Bornstein 146. 
Borst 110. 
Bouin 168. 
Boveri 207. 
Boulet 108. 
Bradlaugh, Charles 49. 
Bramann 57. 
Brandt, Murray L. 117. 
Brown- Séquar 76. 


Bruchmann, K. 69, 70, 71, 
E 134, 137, 138, 139 
142. 


F. 


’ | Ficker, M. 207. 


Brunet, Walter Minson 188, | Fischer, Eugen 206. 


Bublitschenko 121. 

| Bühler, Charlotte 140. 
' Burckhardt, J. 69, 169. 
Buschan, G. 69. 
Basse, Kurt H. 180 

; Byron 69 

l 


C. 


| 
Corner, Bartholomäus 136. 


' Charles 49. 

' Cohen- -Kysper, A. 85, 88. 
Cox, Harald 51. 

i Crzellitzer 221. 

Cunow, Heinrich 174. 
Curtis, Artur H. 116. 

' Cuvier 69. 

Czerny, Ad. 62. 


D. 


Dahl, Friedrich 137. 

Dante 69. 

De Lapouge 27. 

Diepgen 60. 

Dietzel v. Nordenflycht 
65. 

Doubois 108. 

Dresel 61. 

Driesch, Hans 77, 137, 201. 


Drystale, George 49. 
Dürkheim 173. 


E. 


Ebermayer 42. 
Ehrenfels v. 90. 


' Eichstedt 64. 
| Ellis, Havelock 51. 
i Elster, Alexander 39. 


Enderlen 169. 

Ernst, W. 207. 
Eulenburg, Albert 75. 
' Evert, Raye 188. 

' Exner, M. J. 188. 


Fliess 177. 

Förster 169. 

Fraenkel, L. 198. 

Frank, Ludwig 213. 

Fränkel, Fritz 112. 

Franz, Victor 201. 

Freud, Sigmund 65, 174, 
175 


Freund, H. 64. 
Friedländer 147. 
Fries, C. 208. 
Furniss, H. D. 115. 


G. 


Bra T. W. 191. 
Galton 48. 

Garré 57. 

Gauss 69. 

Gersonides 60. 

Goldschmidt, R. 24, 76, 78, 
.151, 160, 220. 

Gottlieb 111. 

Götzl, A. 108. 

Grabe, v. 66. 

Graetz 206. 

Granier, C. 69. 

Greil, Alfred 2, 196. 

Grenser 6l. 

Gross 24. 

Grote 204. 

Gruber, M. 207. 

Grünberg 191. 

Guttmann, A. 147. 


H. 


Haberland 106. 

Haberlandt, L. 21, 198. 

Hada 108. 

Haeckel, Ernst 21, 60, 136, 
175 


Haecker, V. 132. 
Hammesfahr 169. 


i Hart, C. 111. 


224 


Hartmann 97, 149. 218. | 

Hartmann, E. v. 17. 

Hegel 68. 

Heller 146, 221. 

Henderson, H. 115. 

Henle 57. 

Herkner 209. 

Herzog, Alfred 193. 

Hettner 209. 

Hilgenberg 169. 

Hirsch, Arnold 134, 135. 

— Max 1, 39, 43, 45, 57, 
60, 61, 63, 73, 74, 75, 
103, 130, 131, 132, 136, 
137, 142, 144, 145, 146, 
149, 204, 205, 206, 209, 
217, 220. 

Hirschfeld, Magnus 148, 
150, 219. 

Hoche 46. 

Hoffmann, Hermann 131. 

Houten, van 49. 

Hübner 150, 219. 

Humboldt, Wilhelm v. 69. 

Hume 68. 


Israel 164. 
Israeli 60. 


J 


Jodl, Friedrich 77, 136. 
Juliusburger, Otto 65, 135, 
221. 


Jung, Gustav 69. 


K 


Kallert, E. 207. 

Kant 77, 202. 

Kappstein, Anna 59. 

Kehl, Renato 208. 

Kehrer, E. 63, 66, 114, 139, 

Kemnitz, M. v. 148, 174, 
180. 

Keynes 51. 

Knauer 164. 

Kocher 164. 

Koerber, H. 140, 143, 148, 
214, 215, 219. 

Koffka 93. 

Köhler, Otto 6l. | 

— W. 94, 95. | 

König 65, 66, 67, 134, 139. 

Krafft-Ebbing 76. | 

Kraus, Fr. 79, 81, 149, 216. 

Kretschmer, Ernst 78, 97, 





100, 144, 149, 210, 218. Mühsam, Richard 150, 163, | 


Krische, P. 148, 173. 

Kritzler, Hans 201. 

Kronfeld 59, 144, 146, 147, 
154, 211, 212, 213, 214, 
216, 217. M 


Namenverzeichnis. 


Kruse, Uve Jens 59. 
Küttner 57. 
Kyrle, J. 216. 


L. 


| Lahm 130. 


Langley 92. 

Lashley, K. S. 191. 

Lecky 69. 

Lenz, Fritz 206. 

Leupold, E. 111. 

Leverrier 70. 

Levy, Fritz 144, 207, 219. 

Lexer 57. 

Lichtenstern, R. 103, 169, 
170, 171. 

Lilienthal v. 47. 

Lillie 187. 

Lindemann 196. 

Lindner, Th. 68. 

Lingard 105. 

Lipschütz 169. 

Loeb, L. 198. 

Loewenstein, G. 143. 

Lombroso 69 

— Gina 138. 

Longet 92. 

Lorenz, O. 69. 

Lubarsch 104. 

Lundborg 144. 

Luschan, Fel. v. 134. 

Lusitanus, Amatus 60. 

Lydston, Frank G. 119. 


M. 


Maimonidas 60. 


Malthus 49. 

Mamlock, G. 215. 

Manouvrier 25, 69. 

Marchand 69. 

Marcuse, M. 109. 

Martius 81. 

ne Paul 96, 103, 150, 
l 


Matthes 160. 

Matthiessen, Wilhelm 205. 
Mayrhofer, Carl 114. 
Michels, Robert 51, 209. 


' Mittermaier 4l. 


Möbius 27. 

Mombert 209. 
Montessori, Maria 57. 
Moode, H. H. 191. 
Morawitz 205. 

Moser 134. 


219. 


_Müller-Lyer 148, 174, 176, 


178, 179. 
Mulzer 131. 
Münz 60. 


| N, 


' Nadeschdin 119. 
: Neumark, H. 106. 
| Nietzsche 48. 


| 

| 0. 

| Oldenberg 209. 

ı Oppenheim, Stefanie 23. 
Oppenheimer, Ellen 193. 

| Orth 55, 105. 


H 


P. 


Parazelsus 205. 

Pares 108. 

Payr 113. 

Pearson 222. 

' Penck 68. 

Peritz, ū. 130, 150, 151, 
21 


9. 

Peschel, Oskar 68. 
Peterson 115. 
Pfaundler 111. 
| Pfeiffer 169. 
| Pirkner, E. H. 118, 119. 
' Place, Francis 51. 
Placzek 59, 66, 67, 136. 
i 215. 

ı Poll 152. 

Porosz 109. 

Portigliotti 142. 

Posner 150, 219. 

— C. 103, 106, 108, 110. 
'— H. L. 110. 

' Prausnitz 205. 


R. 


Rammstedt 57. 
Ranke 26, 70. 
Ratzel 68. 
Rebentisch 25, 26. 
Reicke, Ilse 140. 
Reis 119. 
Reisinger, L. 198. 

Renan, E. 69. 

Robinson, William I. 187. 
Rogge, H. C. 63. 
Rokıtanski 79. 

Rongy 116. 

Rosenbaum, Julius 76. 

' Rosenfeld 116. 

Roux, W. 198. 

| Rubin 114. 

| Rubner, M. 207. 

' Rumpel, A. 105. 

Rutgers, J. 49, 62. 





S. 


Sachs, O. 106. 
Samson, I. W. 56.. 
Sand, Knud 168. 





Sanger, Margarete 51, 192. 

Schaxel 201. 

Scheele 106. 

Schelling 77. 

Schermann, Christine 135. 

— Lucian 135. 

Schindowski, M. 207. 

Schlange 57. 

Schläper 143. 

Schmidt, Ferd. August 207. 

— Peter 213. 

— Raymund 204. 

Schneider, Kurt 212. 

Schroeder, Robert 129 

Schröer, Karl Julius 72. 

ne Julius 143, 144, 
15 


Seiler 61. 

Selilheim 206. 

Serger, H. 207. 

Serralach 108. 
Siemerling 65. 

Solvay, Ernest 173. 
Sonntag 106. 

Spilmann 52. 

Spinner 45. 

Stabel 144, 169. 

Stahl, G. E. 91. 
Standfuss, R. 207. 
Steckel, Wilhelm 135, 214. 
Stein, O. 106. 

Steinach 76, 168. 

Steiner, G. 66. 

— Rudolf 72. 

Steinthal 57. | 


Namenverzeichnis. 225 


Stern, F. 112. ' Voss, Lena 73. 

Stiller 109. Vries, de 71. 

Stoeckel 57. | 

Stöcker, Helene 52, 14l. W. 

Streiber 148. | Wachtel, Ernst 40, 77. 

Stroh, Else 138. Waelsch 106. 

Sudhoff, Karl 60, 77, 205.| Waitz, Th. 68. 
‚Maldeyer 27. 

: Watson, J. B. 191. 
Tandler 24, 79, 97, 99. Wehner 108. 


Weichselbaum, A. 107. 
Weil, Arthur 108, 143, 141, 


Tannenbaum, S. A. 187. 
Theilhaber, Felix A. 221. 





Thiemich, Martin 61. 185, 221. 

Thiersch, Carl 59. : Weinberg, Margarete 128, 
— Justus 59. 141, 

Thomalla 146, 147. Weininger, Otto 76. 
T['horek, Max 119, 187. Wells 51. 

Tiedje 168. | Werth 106, 113. 

Timme 187. Wertheimer 93. 


; Westenhöfer 207, 208, 209. 
| Westermarck 51, 177. 
Wiedersheim 96. 

Wiese, L. v. 142.. 
Wilberfox 51. 

Wilson, Woodrow 186. 
Wittkovski, A. 147. 
Wollenberg 139. 

Wulffen, Erich 135. 


Tönnies, Ferd. 173, 174. 
Toenniesen 112. 
Tugendreich, G. 61, 62. 


U. 
Unterberger 21. 


V. 


Wundt 71. 
Vaihinger 79. 
Vecki, Victor G. 187. 2. 
Verweyen, Juhannes M. 69. enden Th. 132. 
Virchow, Rudolf 22. Zondek 89. 


Voronoff 119. ı Zuckerkandl 57. 


Sachverzeichnis. 


A. 


Aberglaube s. Spiritismus. 
Affentestikel, erfolgreiche Transplan- 
tation auf den Mann 118. 
Algolagnie (Sadismus und Masochis- 
mus), Versuch einer Analyse und 
Theorie 215. 

— Zur Ätiologie 144. 

Andrologie, die Sexualkonstitution ın 
ihr 103. 

Arbeiterfrau, zur Wertung von De- 

` szensus und Prolaps bei der länd- 
lichén 198. 

Ärzte als Erzieher des Kindes 62. 

— Die jüdischen im Mittelalter 60. 


B 


Bastardtypen, menschliche 144. 

Becken, Chirurgie desselben 57. 

Beiheft, sexualwissenschaftliches 143, 
217 


Bericht, zusammenfassender der Kon- 
gressvorträge über Konstitution und 
Sexualität 217. 

Biologische Grundlagen der Sexual- 
konstitution 149. 

Birma und seine Frauenwelt 135. 

Borgia, Die Familie 142. 

Briefwechsel B. Carneris mit E. Haeckel 
und Fr. Jodl 136. 


C. 
Ceylon, Nava, eine Erzählung 142. 
Charakter und Körperbau 210. 
Chirurgie, Handbuch der praktischen 56. 
— Die Sexualkonstitution in ihr 163. 
— der Wirbelsäule und des Beckens 57. 


D 


Degenerationszeichen, Zwillingsgeburten 
als solches 66. 

Diagnostik innerer Krankheiten, klini- 
sche 

Dipsomanie s. Impulshandlungen 

Dyspareunie 63. 


E. 
Ehekunst 59. 
Eheschließung, ärztlicher Ratgeber 63. 
Eifersucht, einige neurotische Mechanis- 
men 65. 
Entwicklungskurve, die individuelle des 
Menschen 131. 

Erblichkeitslehre, menschliche 206. 
Erotische Wahnbildungen sexuell un- 
befriedigter weiblicher Wesen 66. 

Erziehung und Frauenbewegung 140. 
Eugenese und Euthanasie 46. 
Eugenetische Lebensbeseitigung 39. 
Euthanasie und Eugenese 46. 


F. 
Fetischismus 214. 
Fibrosis 107. 
Filmdokumente zur Sexualwissenschaft 
6 


Fortpflanzung, Entstehung der ge- 
schlechtlichen 201. 

Frauenbewegung und Erziehung 140. 

Frauenkrankheiten, die pathologisch- 
len Grundlagen derselben 
1 


Frauenproblem in kommunistischen Ge- 
meinwesen älterer und neuerer Zeit 
121. 

Fruchtabtreibung und fahrlässigeTötung, 
Mitteilungen aus einem Schwurge- 
richtsverfahren gegen einen Arzt 149. 

Fürsorge, soziale 61. 


G. 


Gattenwahl 63. 

Geburt, Versuche der Bestimmung der 
Abnutzung des weiblichen Organis- 
mus im Zusammenhange damit 119. 

Geburtenregelung und Rassenhygiene 48. 

Geburtenreihenfolge, Bedeutung der- 
selben für die Qualität der Kinder 
221. 

Geistesstörung und Hypnotismus 65. 

Geschlecht und Stimme 143. 


Sachverzeichnis. 


Geschlechtskrankheiten, Kompendium 
131. 

Geschlechtsleben des Menschen 215. 

— zur Soziologie desselben 173. 

Geschlechtsmerkmale, die sekundären 
am menschlichen Schädel 28. 

Geschlechtsmoral des deutschen Weibes 
im Mittelalter 69. 

Geschlechtstrieb und Schmerz 215. 

Geschwister, Schizophrenie bei denselben 


134. 

Gesellschaft, ärztliche für Sexualwissen- 
schaft und Eugenetik in Berlin 74. 

— siehe auch Verhandlungen. 

Gesetzentwurf zur Durchführung der 
ärztlichen Schwangeren-, Keimes- 
und Keimlingsfürsorge 22. 

Gestationstoxonosen, Ab- und Entartung 
der Konstitution durch sie 196. 

Goethe und die Liebe 72. 

Goethes unsterbliche Freundin (Char- 
lotte v. Stein) 73. 

— Weltanschauung 72. 

— Wissenschattslehre in ihrer modernen 
Tragweite 72. 

Gynäkologie, Lehrbuch 129. 

— Die Bedeutung der Sexualkonstitu- 
tion für sie 96. 


H 


Haeckel, Ernst, Entwicklungsgeschichte 
seiner Jugend 60. 

Hautkrankheiten, Kompendium 1381. 

Hexengeschichten 142. 

Homosexualität, einige 
Mechanismen 69. 

Hygiene, Grundzüge 205. 

— Handbuch 207. 

Hypnotismus 139. 

— und Geistesstörung 6». 

Hypoplasten 38. 

Hysterie 210. 

— Begriffsbestimmung 139. 


I 


Impulshandlungen (Wandertrieb, Dipso- 
manie, Kleptomanie und verwandte 
Zustände) 135. 

Induratio penis plastica 106. 

Innere Sekretion, Einführung in die 
Klinik derselben 130. 

Intersexualität beim Menschen 150. 

Irrawaddy, im Stromgebiet desselben 135. 


J. 
Jugendkunde, Quellen und Studien 140. 


K 


Kastrationskomplex, Äusserungsformen 
des weiblichen 67. 

Keimdrüsen und Nervensystem, Wech- 
selbeziehungen 151. 


neurotische 


227 


ae ee biologische Prüfung 
44 


Keimesfürsorge 2, 196. 

Kind, der Arzt als Erzieher desselben 62. 

— Selbsterziehung 57. 

Kinderheime Maria Montessoris 57. 

Kleptomanie s. Impulshandlungen. 

Kommunismus s. Frauenproblem. 

Konstitution, Ab- und Entartung der- 
selben durch Gestationstoxonosen 196. 

— und Sexualität 74. 

Konstitutionsambulatorium 18. 

Konstitutionsproblem, Geschichte und 
Wesen desselben 81 

Konstitutionswissenschaft und Sexual- 
wissenschaft 75. 

IE desersten Menschen 


Körperbau und Charakter 210. 

Krankheiten, klinische Diagnostik inne- 
rer 205. 

Kreislauf, Schädigung desselben 200. 

Kritiken 57, 129, 204. 

Kultur und Rasse 67. 

— Redlichkeit als Kulturforderung 65. 

Kulturprobleme der Gegenwart, Monis- 
mug 136. 


L. 


Leben verbessern und verlängern 208. 

Lebensbeseitigung, eugenetische 39. 

Lebensenergie, das Sexualleben als ein 
Hauptfaktor desselben 62. 

EE Pbysiologie derselben 
07 


Libido und Röntgensterilisierung 139. 

Liebe 141. 

— Formenlehre derselben 188, 

— siehe auch Goethe. 

Liebesleben, Leitsätze zur Entwicklung 
a Gemeinschaftskunde desselben 
181. 


M 


Mädchen, Tagebuch eines jungen 140. 

Mann, erfolgreiche Transplantation von 
Affentestikeln 118. 

Masochismus 8. Algolagnie. 

Medizin der Gegenwart in Selbstdar- 
stellungen 204. 

Menschenerkenntnis 59. 

Menschenökonomie und Völkerökono- 
mie 52. 

Menschheitsrätsel 70. 

Metaphysik 71. 

Monismus und die Kulturprobleme der 
Gegenwart 136. 

Musikalische Begabung, zur Vererbung 
und Entwicklung derselben 132. 
Muskulatur, Ausbildung derselben und 
SECH? Veränderungen am Schädel 

28. 


228 


N 


Nachruf, Iwan Bloch 1. 

Nahrungsmittel, Hygiene derselben 207. 

Natur und Wirtschaft 209. 

Nervensystem und Keimdrüsen, Wech- 
selbeziehungen 151. 

Neurotische Mechanismen bei Eifersucht, 
Paranoia und Homosexualität 65. 


Q. 


Organismus, Versuche der Bestimmung 
der Abnutzung des weiblichen im 
Zusammenhange mit der Geburt und 
der allgemeinen Konstitution 119. 


P. 


Paranoia, einige neurotische Mechanis- 
men 60. 
Parazelsus’ sämtliche Werke 205. 
Philosophie der Gegenwart in Selbst- 
darstellungen 204. 
Physik, Lehrbuch 206. 
Physiologie der Leibesübungen 207. 
Prostituierten-Tuberkulose, sexual-hy- 
gienische Bedeutung derselben 52. 
Psychische Untersuchungen an Schwan- 
geren 66. 
Psychologie, medizinische 210. 
— vergleichende 137. 
Psychopathische Persönlichkeiten 212. 
Psychose, Aufbau derselben 211. 
R. 
Rasse und Kultur 67. 
— Völker, Sprachen 134. 
Rassenbygiene und Geburtenregelung 48. 
Rechtsleben und Sexualkonstitution 150. 
Rechtsprechung und Seelenleben 213. 
Redlichkeit als Kulturforderung 69. 
Röntgensterilisierung und Libido 139. 
Rundschau, wissenschaftliche 48, 114, 
196. 


S. 


Sachsen, Einrichtungen auf dem Gebiete 
der Volksgesundheits- und Volks- 
wohlfahrtspflege im Freistaat (1922) 
6l. 

Sadismus s. Algolagnie. 

Säugling, seine Entwicklung, Pflege und 
Ernährung 6l. 

Schädel, die sekundären Geschlechts- 
merkmale am menschlichen 23. 

Schizophrenie bei Geschwistern 134. 

Schmerz und Geschlechtstrieb 215. 

ee psychische Untersuchungen 

6 


Schwängerung durch Verbrechen 45. 

Seele des Weibes 138. 

Seelenleben und Rechtsprechung 213. 

— des Menschen und der Tiere (ver- 
gleichende Psychologie) 137. 


L 


Sachverzeichnis. 


Seelenstörung s. Spiritismus. 

Sekretion, Einführung in die Klinik der 
inneren 180. 

Selbstverwirklichung 138. 

Sexualität und Konstitution 74. 

Sexualkonstitution in der Andrologie 103. 

— die biologischen Grundlagen 149. 

— in der Chirurgie 163. 

— Bedeutung derselben für die Gynä- 
kologie 96. 

— die psychologischen Grundlagen 149. 

— und Rechtsleben 150. 

Sexualleben in seiner biologischen Be- 
deutung als ein Hauptfaktor der 
Lebensenergie für Mann und Weib, 
für die Pflanzen und für die Tiere 62. 


' — Störungen desselben 63. 


ee EE EE E EE A ER nn — 


Sexualpsychopathologie 214. 

non in den Vereinigten Staaten 
185. 

Sexualwissenschaft, Filmdokumente 146. 

— und Konstitutionswissenschaft 75. 

— Die Bedeutung der Untersuchungen 
von Ernst Kretschmer über Körper- 
bau und Charakter 144. 

— und Sexualreform in den Vereinigten 
Staaten 185. 

Sexualwissenschaftliches Beiheft 143 
217. 

Sinne, Erziehung derselben 58. 

Soziale Fürsorge 61. 

Sozialökonomik, Grundriss 209. 

Soziologie des Geschlechtsiebens 173. 

Spiritismus, Hypnotismus und Seelen- 
störung, Aberglaube und Wahn 139. 

Sprachen, Völker, Rassen 134. 

Steinachsche Operation, Theorie und 
Praxis 213. 

Sterilität, Diagnose und Therapie der 
selben 114. 

Strukturanalyse, Grundzüge der psychi- 
atrischen 211. 

Syphilis, Über den derzeitigen Stand 
der Lehre von der Pathologie und 
Therapie derselben 216. 


T. 
Tagebuch eines jungen Mädchens 140. 
Thiersch. Carl, sein Leben 59. 
Tuberkulose der Prostituierten, sexual- 


hygienische Bedeutung derselben 52. 
Typendifferenz am Schädel 31 ff. 


U. 


Unfruchtbarkeit, Ursachen und Behand- 
lung derselben nach modernen Ge- 
sichtspunkten 63. 


“ Untersuchung, die geburtshilflich-gynä- 


| 
| 
| 


kologische 206. 


V. 


Vereinigte Staaten, Sexualwissenschaft 
und Sexualreform in ihnen 185. 


Sachverzeichnis. 229 


Vererbung und Entwicklung der musi- | Wahnbildungen, siehe auch Spiritismus. 


kalischen Begabung 132. Wandertrieb s. Impulshandlungen. 
Verhandlungen der ärztlichen Gesell- : Weib, Geschlechtsmoral des deutschen 

schaft für Sexualwissenschaft und im Mittelalter 69. 

Eugenetik in Berlin 143. . — Seele desselben 138. 
Vitalismus, Geschichte desselben 137._ — als Sexualverbrecherin 135. 
Völker, Rassen, Sprachen 134. ' — siehe auch Wahnbildungen. 
Völkerökonomie und Menschenökonomie | Wirbelsäule, Chirurgie derselben 57. 

52. Wirtschaft und Natur 209. 
Volksgesundheitspflege s. Sachsen. Wissenschaftliche Rundschau 48, 114, 
Volkswohlfahrtspflege s. Sachsen. 196. 

W. Z 


Wahnbildungen, erotische sexuell unbe- Zwillingsgeburten als Degenerations- 
friedigter weiblicher Wesen 66. zeichen 66. 





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Die Naturphilosophie als Vorläufer der 
Konstitutions- und Sexualforschung'). 


Von 


C. Posner, Berlin. 


In der programmatischen Einleitung, mit welcher Rudolf 
Virchow im Jahre 1847 den ersten Band seines Archivs eröffnete, 
charakterisierte er die Entwicklung der Heilkunde in den vorauf- 
gegangenen Jahren durch Aufstellung von 3 Stadien: Natur- 
philosophie, Naturgeschichte, ‚Naturwissenschaft. 
Er bezeichnete damit scharf die Stellung, die er selber, im Sinne 
seines grossen Lehrers Johannes Müller, einzunehmen ge- 
dachte: nach Überwindung der früheren Epochen sollte nunmehr 
eine streng wissenschaftliche Bearbeitung der Medizin als eines 
Zweiges der gesamten Naturkunde einsetzen. Man weiss, mit welcher 
Energie er diesen Standpunkt vertreten und zu allgemeiner Geltung 
gebracht hat. Sein Bestreben ging, namentlich in jener Frühzeit 
seines Schaffens, zunächst dahin, die Lehre von den Ernährungs- 
einheiten und Krankheitsherden auf Grundlage der zellulären Auf- 
fassung aufzubauen. Das ist vielfach so gedeutet worden, als wollte 
er damit eine ausschliesslich lokalistisch eingestellte Pathologie ein- 
führen und jeder einheitlichen — nennen wir es gleich: konstitutio- 
nellen — Deutung entgegentreten. Ich glaube nicht, dass man ihn 
damit richtig verstanden hat.. Wenn er im IV. Bande des Archivs 
von „lauter einheitlichen Lebensherden mit gegenseitigen Be- 


1) Vortrag gehalten in der Sitzung der Ärztlichen- Gesellschaft f. Sexual- 
wissenschaft und Konstitutionsforschung am 17. Januar 1924. 


Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 2. 8 


106 C. Posner. [2 


ziehungen und Wechselwirkungen“ spricht, „welche 
erst die Einheit des Lebens ergeben“, so entkräftet dies ein 
solches Missverständnis; und wenn er (Bd. VI.) erbliche Krank- 
heitsanlagen zurückführt „auf eine gewisseSchwächeeinzelner 
Organe, welche widerstandsunfähig gegen äussere Einwirkungen 
und weniger geeignet sind, die Störungen, die sie erfahren haben, 
auszugleichen, oder weniger erregbar und daher mehr oder weniger 
funktionsfähig sind“, so liegt auch hierin eine Anerkennung des 
konstitutionellen Gedankens. Wie sehr ihn allezeit die Erblich- 
keitsfrage beschäftigt hat, darf als bekannt vorausgesetzt werden, 
und ebenso, wie er immer wieder versuchte, sich mit dem Problem 
der Lebenskrift auseinanderzusetzen, über die sein Urteil sich 
mählich wandelte: während er im Anfang einer ausschliesslich 
mechanistischen Auffassung huldigte, kam er später dahin, doch 
noch eine, von den, unsern Sinnen zugänglichen Molekularkräften zu 
unterscheidende, besondere Eigenschaft anzunehmen, so dass er sogar 
schliesslich dem Neovitalismus sich zuneigte. 


Immerhin muss zugegeben werden, dass die von Virchow 
inaugurierte Richtung zunächst dahin geführt hat, die örtlichen, 
greifbaren Gewebs- und Organveränderungen in den Vordergrund 
der Theorie und Praxis zu rücken. Es war das eine ganz bewusste 
Reaktion gegen die beiden verflossenen Epochen, in denen Speku- 
lation und Schematismus überwuchert hatten; aber wenn hierdurch 
schlimme Auswüchse beseitigt wurden, so gingen auch wertvolle 
Keime zugrunde, die aufzusuchen und neu zu beleben erst einer viel 
späteren Zeit vorbehalten blieb. 


Die uralte Vorstellung der Ärzte, „dass der Körper nur als 
Ganzes erkranken könne, und dass seine Gesamtbeschaffenheit, seine 
Konstitution, wie die Entstehung, so auch den Verlauf und das Bild 
der Krankheit wesentlich mitbestimmt‘“ hat, wie W. His in seinem 
vielleicht nicht genügend gewürdigten Vortrag „Geschichtliches 
und Diathesen inderinneren Medizin?2)“ sich ausdrückt, 
bis in die neue Zeit hinein in verschiedener Wandlung die patho- 
logischen Anschauungen beherrscht. Sie stützte sich zunächst auf 
ärztliches Erleben, war empirisch begründet, induktiv entwickelt und 
wurde dann erst mit theoretischen Überlegungen durchtränkt. Viele 
Hypothesen lösten einander ab — Animismus und Lebens- 
kraft, Irritabilität und elektrische Potenzen waren 
die Schlagworte, die nacheinander ein Verständnis für die Vorgänge 





*) Verhandlungen des XXVII. Kongresses für Innere Medizin. Wiesbaden 
1911. 


21 Die Naturphilosophie als Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschung. 107 


in der organischen Welt ausdrücken sollten. Keiner dieser Schul- 
begriffe, weder die einseitige idealistische noch die bloss mechanische 
Auffassung genügte, die Gesamtheit der belebten und unbelebten 
Natur zu umfassen, und so musste es gerade auf die denkenden 
Ärzte wie eine Lösung des grossen ‚Welträtsels wirken, als Schel- 
ling in grossartiger Konzeption den Versuch zu einer einheitlichen 
Erkenntnis machte. 


Seine Vorstellung einer „Weltseele‘ als der Urkraft, von welcher her 
die einzelnen Monaden sich lösen, um nun, formverschieden, aber als Abkömm- 
linge eines Zentrums, die anorganische wie die organische Welt zu bilden, ist 
ein Kernstück seiner ,Naturphilosophie“ 3). Diese Beziehung zwischen der 
zentralen Kraft und der ihr entstammten Materie, dies Schweben zwischen Produk- 
tivität und Produkt führt zu einer Duplizität oder Dualität, die sich aber 
letzten Endes harmonisch in der absoluten Einheit in der Identität von Sein 
und Denken auflöst. Innerhalb der Naturkräfte sind drei Eigenschaften als be- 
stimmend für die organisierten Wesen zu bezeichnen: Reproduktivität, 
Irritabilität, Sensibilität. Die erstere charakterisiert die Pflanze — 
ihr kommt Fortpflanzung und Ernährung zu; das Tier wird gekennzeichnet durch 
Irritabilität, wobei Atmung und Muskelkraft die entscheidende Bedeutung haben ; 
dem Menschen endlich eignet die Sensibilität, lokalisiert im hochentwickelten 
Nervensystem. In der anorganischen Natur findet sich dieselbe Dreiteilung in 
chemische, elektrische und magnetische Kräfte; jene, eben 
aufgezählten Kategorien der organischen Kräfte sind diesen entsprechend, aber 
„höher potenziert“. Die Irritabilität erinnert noch an den kurz vorauf- 
gegangenen Siegeszug der Lehren Brow ns, der — in Fortführung der Theorien 
von Albrecht Haller und Cullen — das Leben als einen Erregungs- 
zustand, bedingt durch das. Wechselspiel von Reizbarkeit und Reiz definierte; 
hierauf war seine Einteilung der Krankheiten in sthenische mit zu starker, 
asthenische mit zu geringer Erregbarkeit begründet; dies war verlockend 
einfach und schien namentlich der Therapie bequeme Handhaben zu bieten. 


Schelling selbst hing dieser Lehre im Beginn an, ebenso von 
bekannten Ärzten jener Zeit etwa Röschlaub und Marcus), 
denen beiden die medizinisch chirurgische Schule zu ‚Bamberg (1803) 
ihre wesentlichste Blüte dankte; er aber sowie auch die eben ge- 


3) Es ist mir natürlich wohlbekannt, dass Schellings mehrfach wech- 
seinde Systeme sich nicht mit einem kurzen Satz erschöpfend kennzeichnen 
lassen; für unseren besonderen Zweck mögen aber diese Andeutungen genügen. 
Ebenso unterlasse ich, um nicht zu weitläufig zu werden, hier naheliegende 
Hinweise auf die älteren naturphilosophischen Anschauungen von Spinoza, 
Leibniz, Paracelsus u.a. 


4) Über die Ärzte der romantischen Zeit findet man Näheres in Ricarda 
Huchs feinsinnigem und anregendem Buche „Die Romantik“, Leipzig, 
H. Haessels Verlag, 1920. Bd. 2. S. 264 ff. In der Wertung der einzelnen Persön- 
lichkeiten wird man freilich hier und da anderer Meinung sein, als die Ver- 
fasserin. An gleicher Stelle auch Quellenangaben über die wichtigsten einschlägigen 
Werke; ich verweise auf deren Verzeichnis. 


8* 


108 C. ‚Posner. [4 


nannten gingen dann über diese Theorie hinaus; sie glaubten, in 
der Naturphilosophie eine umfassendere Lösung, und besonders durch 
Ausarbeiten des erwähnten Dualitäts- oder Polaritätsprin- 
zips einen tieferen Einblick in die menschlichen Organisationsver- 
hältnisse zu gewinnen. Der ärztliche Hauptvertreter der naturphilo- 
sophischen Richtung wurde Eschenmayer in Tübingen, von dem 
August Wilhelm v. Schlegel in einem Briefe an Goethe 
rühmte, „es gebe vielleicht keinen anderen Arzt in Deutschland, der 
soviel Physik und Philosophie mit seiner ‚Wissenschaft verbinde“. 


Er versucht Einteilungen zunächst von einem sehr allgemeinen Gesichts- 
punkt aus: er unterscheidet 3 Reiche, der Natur, des Geistes und des 
Lebens. Dem ersten gehören an Schwere, Wärme, Licht — dem zweiten 
Denken, Fühlen, Wollen — dem dritten die von Schelling aufgestellten Funk- 
tionen der Reproduktivität, Irritabilität, Sensibilität sowie die Begriffe: Wahres, 
Schönes, Gutes. Und nun setzt das verhängnisvolle Spiel mit Analogien ein: 
er parallelisiert Licht-Wollen-Gutes; Wärme-Fühlen-Schönes; Schwere-Denken- 
Wahres. Im menschlichen Körper findet er drei Urformen in drei repräsentativen 
Organen, die er ihrer Wertigkeit nach ordnet. Das Gehirn hat Eiform, das 
Herz ist ein Conus, die Leber ein Rhombus; ebenso drei Hauptsysteme: 
Lymphgefässe, Blutgefässe, Nerven mit den Eigenschaften der 
Attraktion, Osillation, Expansion. In dieser Drittelung erkennt man das bei den 
Romantikern und Naturphilosophen immer wiederkehrende Prinzip der Polarität. 
Jeder Organismus besitzt zwei entgegengesetzte, extreme Anteile, die sich zum 
Ganzen vereinigen — durch die Formel + 0 — dargestellt. Diese Polaritäts- 
theorie ist besonders durch Reil, Oken, Malfatti durchgeführt und stellt 
unter anderem folgende Paare von Gegensätzen auf: 


Mann — Weib, 
Kopf — Bauch, 
Bewusst — Unbewusst, 
Licht — Schwere, 

Wille — Vorstellung 


oder auch sie erkennt jedem Tiere eine Doppelexistenz zu als 


Erdtier — Lichttier, 
Geschlechtstier — Empfindungstier, 
Pflanzentier — Tiertier(|) 


oder man drückt sich so aus, dass das Tier einen Geschlechtsbauch 
hat mit der Leber als dominierendem Organe, einen Hirnbauch mit dem 
Hirn als Zentralorgan — diese beiden Polaritäten würde man sich dann durch das 
dazwischen geschaltete Herz ausgeglichen denken können. 


Schon diese Beziehungen der Polaritätslehre zur Konstitution 
sind ohne weiteres einleuchtend: es würde hiernach für die Beur- 
teilung einer Person immer darauf ankommen, zu ermitteln, ob 
zwischen den genannten Kategorien, wie es normalerweise der Fall 
sein müsste, ein Ausgleich, eine Harmonie erzielt ist, oder ob etwa 
die eine, z. B. das Lymphsystem, oder der Bauch das Übergewicht 


5] Die Naturphilosophie als Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschung. 109 


hat und so dem Individuum seinen Stempel aufprägt. Am deutlichsten 
tritt, wie dies zu verstehen ist, im Gebiet des Nervensystems 
hervor. Hier wird scharf unterschieden zwischen zerebral und 
gangliös (oder sympathisch); das Hirn vertritt, wie abermals 
allegorisch gesagt wird, das monarchische, das Gangliensystem das 
republikanische Prinzip. Kopf- und Bauchmenschen lassen sich so 
unterscheiden. Im wachen Zustand dominiert das Gehirn; im Schlaf 
ist es ausgeschaltet und nun übernimmt das sympathische System 
die Herrschaft — es ist der Träger des Unbewussten, des Traum- 
lebens, es repräsentiert den inneren Menschen, seinen ‚„siderischen“ 
oder „Ätherleib‘‘ der, wie ein Embryo, im äusseren Menschen verborgen 
steckt. Ist das zerebrale Bewusstsein ausgeschaltet, so kann man, nach 
Wegfall dieser Hemmung, auf die Ganglien einen Einfluss ausüben, 
und zwar mittels der Kraft, welche wir vorhin schon als die spezifisch 
nervöse kennen gelernt haben — des Magnetismus. Hier er- 
kennen wir die Fäden, welche zum Mesmerismus hinüberführen, 
und es ist bezeichnend, dass gerade die Anhänger der Naturphilo- 
sophie — ich erinnere an den älteren Gmelin, an Ringseis, 
Windischmann, ferner an Koreff und Wolfart, die unserer 
Hochschule als Lehrer aufgedrängt wurden — diese Heilmethode mit 
Eifer ausübten. Es war dabei nötig, dass der Magnetiseur über 
positiv, der Kranke über negativ magnetische Kräfte verfügte — 
sie standen einander als aktive bzw. passive Medien, als Neuryander 
und Neurogyne gegenüber. Auch die Dämonen, vonderen Existenz 
bekanntlich Justinus Kerner und Eschenmayer so fest 
überzeugt waren, schlugen ihren Sitz in den Bauchorganen auf und 
konnten von dort durch Magnetismus, ja schon ‚durch die überlegene 
Willenskraft aus den Besessenen ausgetrieben werden; dieser Wille 
aber musste auf religiöser Grundlage beruhen, nur ein strenggläubiger 
Magnetiseur und Beschwörer konnte Erfolge erzielen, und es ist 
von hier aus zu verstehen, dass Religiosität überhaupt als Grund- 
eigenschaft eines Arztes verlangt wurde — die Medizin galt ale 
eine „christliche Wissenschaft“. Dies war insbesondere die Über- 
zeugung von Ringseis, der gerade deswegen, als Haupt der 
hierarchisch-reaktionären Richtung in Bayern, sich aufs energischste 
der !Berufung des Freidenkers Virchow nach Würzburg widersetzte. 
Wie nahe sich die erwähnten Ansichten mit denjenigen des jetzigen 
Okkultismus berühren, braucht nicht besonders betont zu werden. 
Auch mancherlei andere, jetzt wieder auftauchende Lehren besegnen 
uns hier, so z. B. die Annahme eines Sehens mit den Fingerspitzen ; 
ein so gelehrter Mann wie Carus begründete solche Möglichkeit 
mit der Darlegung, das Auge sei weiter nichts als modifizierte Haut 


110 C. Posner. [6 


und so könne auch die Haut wohl einmal die Rolle des Sehorgans 
übernehmen 5)! 

Ich will diese, ausserhalb unseres eigentlichen Themas liegenden 
Dinge nicht weiter verfolgen; wesentlicher für uns ist die Betrach- 
tung einer anderen Form der Polarität, welche eine Grundlage der 
Konstitution betrifft — die Trennung der Geschlechter. 
In diesem Betracht werden die äussersten Konsequenzen gezogen, 
und wir finden am verbreitetsten dieschon erwähnte Anschauung, dass 
der Kopfteil des Menschen das männliche, der Bauchteil 
das weibliche Prinzip repräsentiert; die beiden, so vorstellbaren 
Einzelwesen sind durch das Zwerchfell miteinander verbunden oder 
gegeneinander abgegrenzt. Die alte, ja schon auf Platon zurück- 
gehende Vorstellung von der ursprünglichen Doppelgeschlechtlich- 
keit sollte hierdurch einen morphologischen Ausdruck finden — 
nur darüber sind sich die Naturphilosophen nicht ganz einig, ob nicht 
vielmehr die rechte Körperhälfte als männlich, die linke als weiblich 
zu bezeichnen sei. Jedenfalls wird daran festgehalten, dass selbst 
bei ausgesprochener Sexualität doch immer ein Anteil des anderen 
Geschlechts vorhanden ist — der Mensch ist entweder Androgyne 
oder Gynander, je nachdem der männliche Einschlag beim Weibe 
oder der weibliche beim Manne betont ist. Dies ist allerdings nur im 
psychischen Sinne zu verstehen — der eigentliche, körperliche 
Hermaphroditismus, ja auch abnorme Triebrichtungen bleiben dabeı 
ausser Betracht. Diese Vorstellungen beherrschen die romantischen 
Denker und Dichter in hohem Masse, und es ist gewiss beachtenswert, 
was F. Giese®) neuerlich hervorhob, dass unter ihnen selbst solche 
geistigelntersexualität so oft vorkommt — bei Persönlich- 
keiten wie Rahel, Caroline, Dorothea einerseits, Schleier- 
macher, Schlegel, Hölderlin andererseits treten maskuline 
bzw. feminine Züge recht deutlich hervor. Symbolisch wird die 
Doppelgeschlechtlichkeit in der Form einer Ellipse dargestellt — 
der. Kreis wäre eine solche, deren Brennpunkte sich decken. Er ent- 
spräche dem undifferenzierten Geschlecht und dies sollte morpho- 
logisch sich so ausdrücken, dass seine Form im kindlichen Körper 


5) Es ist lehrreich, hierzu den Aufsatz Arthur Schopenhauers 
„Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt“ (Parerga und 
Paralipomena Bd. 1) zu vergleichen, in welchem die Phänomene des Traumes, 
des Hellsehens, des Somnambulismus abgehandelt werden; der Gegensatz 
zwischen Gehirn und Gangliensystem wird auch dort besonders betont, wenn- 
gleich in anderem Sinn als seitens der Naturphilosophen. 

D Vgl. sein Buch „Der romantische Charakter“ sowie seinen Artikel 
„Androgynenproblem" im Handwörterbuch der Sexualwissenschaft, herausg. 
von Max Marcuse, Bonn. Verlag von Marcus & Weber, 1923. 


7] Die Naturphilosophie als Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschung. 111 


vorherrscht — der ursprünglich runde Kopf des Kindes wandle 
sich erst allmählich in das bleibende Oval des Erwachsenen um. 

Wenn wir nun weiter dieErblichkeitalsein sehr wesentliches 
Moment für den Aufbau der Person in Anspruch nehmen, so ist 
gerade dieser Gedankengang der Naturphilosophie geläufig; treten 
doch in ihrem Kreise zum erstenmal ganz bewusst die Vorstellungen 
einer organischen Entwicklung und. Abstammung der 
Lebewesen auf. Es ist hier insbesondere Lorenz Oken zu nennen, 
der zwar im einzelnen vielfach irrte, aber doch das genetische Prin- 
zip wie kein Forscher in Deutschland vor ihm als beherrschend 
erkannte. Sein Urschleim freilich ist, auch nachdem er in Gestalt 
des Bathybius ein kurzes Dasein gefristet hat, der Vergessenheit 
anheimgefallen ; seine Annahme, dass alles Lebendige aus urerzeugten 
Infusorien sich bilde und wieder in golche zerfalle, dass auch das 
Sperma aus solchen Infusorien bestehe, dünkt uns heute absurd. Aber 
wenn er ausspricht, dass im einzelnen Menschen die Erbschaft von 
Jahrhunderten steckt, wenn er das Vegetative im Menschen aus dem 
Pflanzenreich, das ‘Animalische aus dem Tierreich herleitet, so sehen 
wir hier die Ahnung phylogenetischer Vorgänge, die vielleicht sogar 
bis heute noch nicht voll gewürdigt sind. Und wenn wir heute etwas 
mehr geneigt sind, auch den kosmischen Einflüssen — Sonne, Mond, 
Wasser, Klima — nachzugehen, so liegt hierin eine Anerkennung, 
ganz in seinem Sinne, dass diese Momente auf die frühere organische 
Entwicklung bestimmend eingewirkt haben und dass vielleicht die 
Spuren solcher Einwirkung auch heute noch dem forschenden Blick 
sich verraten mögen. 

Ich habe eingangs unserer Betrachtungen bereits hervorgehoben, 
dass die Wirkung der naturphilosophischen Anschauungen auf die 
Zeitgenossen — also um das Ende des 18. Jahrhunderts — eine 
geradezu unerhörte war. Man kann sich heute nur schwer vor- 
stellen, dass Schellings Kollegien in Jena das wichtigste Ereignis 
und ausschliessliche Gesprächsthema bildeten ; nicht bloss Studierende, 
sondern auch ältere Gelehrte drängten sich scharenweise hinzu — der 
Markt der kleinen Universitätsstadt war, so wird berichtet, um die 
Stunde seines Vorlesungsbeginnes schwarz von Menschen, so dass 
der Uneingeweihte an Auflauf und Ruhestörung glaubte. Es scheint 
mir besonders interessant, zu beobachten, wie sich das grösste natur- 
wissenschaftliche Genie jener Zeit mit den neuen Lehren abfand — 
ich spreche von Goethe’), 


1) Vgl. hierzu besonders Max Morris Einleitung und Anmerkungen zu 
Goethes Schriften zur Morphologie, Jubiläumsausgabe, Bd. 39. Ferner Goethe 
und die Romantik, Schriften der Goethegesellschaft. Bd. 13. 1898. 


112 C. Posner. [8 


Goethes Briefwechsel mit Schelling zeigt, dass ihm zunächst nicht nur 
dessen Philosophie zusagte, sondern dass er ihm auch ganz persönlich ein warmes 
Interesse widmete, wie er es ja auch in der Angelegenheit der Scheidung 
Carolinens von A. W. Schlegel und ihrer Wiederverheiratung mit 
Schelling praktisch betätigte. Schon. der Begriff der „Weltseele“ war 
ihm, anfangs wenigstens, durchaus sympathisch — wählte er doch dieses Wort 
zur Überschrift eines (früher „Weltschöpfung‘‘ betitelten) Gedichtes, welches 
durchaus naturphilosophischen Geist atmet. Später freilich sagte er sich von 
der Schellingschen Lehre, wonach von dieser Weltseele aus die einzelnen 
Monaden ausgeschwärmt seien, um nun eine selbständige Existenz zu führen, los 
und kehrte zu seiner alten, pantheistisch-spinozistischen Auffassung zurück, die 
Gott überall in der Natur suchte und sich beschränkte, das „Erforschliche zu 
erforschen, das Unerforschliche aber (seine Urphänomenel) ruhig zu verehren‘; 
seine Abkehr brachte er in einem Brief an Heinrich Steffens recht 
unverhohlen zum Ausdruck. Gewisse Gedanken aber, insbesondere die Betonung 
der Polaritäten, waren ihm aus der Seele gesprochen; ja, er hatte sie schon — 
wohl durch Kielmeyer angeregt — lange gehegt und in den Gegen- 
sätzen von Systole und Diastole, Bejahung und Verneinung, geradezu zur Grund- 
lage seiner Naturbetrachtung gemacht. Ebenso war er, der Begründer der Meta- 
morphosenlehre, mindestens einer der ersten Vertreter des genetischen Prinzips, 
wenn man ihn auch nicht als bewussten Anhänger der Deszendenzlehre im 
heutigen Sinne in Anspruch nehmen darf. Die Kontinuität des Lebens bildete 
für ihn jedenfalls ein wesentliches Axiom; seine Verse 

Das Ewge regt sich fort in Allen — 
Denn Alles muss in Nichts zerfallen 
Wenn es im Sein beharren will 


lassen keine andere Deutung zu; enthalten sie doch auch im Keime bereits die 
Lehre von der Erhaltung der Energie! Vor allem aber war ihm bei seinen 
unablässigen Studien zur Morphologie — auch dies Wort hat er ja geprägt — 
bereits die Erkenntnis aufgegangen, auf der unsere heutige Konstitutionsfor- 
schung zum grössten Teile sich aufbaut — die Erkenntnis von der Wechsel- 
wirkung der Organe. Dies beweist in voller Klarheit der folgende Satz 8): „Allein 
noch wäre zu wünschen, dass zu einem schnelleren Fortgang der Physiologie im 
ganzen die Wechselwirkung aller Teile eines lebendigen 
Körpers sich niemals aus den Augen verlöre; denn bloss allein durch den 
Begriff, dass in einem organischen Körper alleTeileaufeinenTeilhin- 
wirken und jeder auf alle wieder seinen Einfluss ausübt, können wir 
nach und nach die Lücken der Physiologie auszufüllen hoffen.‘ Nach und nach 
— es fehlten damals noch die Methoden der Experimentalphysiologie und der 
physiologischen Chemie, die die endgültige Begründung dieses Satzes ermöglicht 
haben, und selbst, wenn sie vorhanden gewesen wären, würde gerade Goethe, 
der sich im Gegensatz zu den Naturforschern und Naturphilosophen bescheiden 
als „Naturschauer“ zu bezeichnen liebte, sich ihrer kaum bedient haben. 
Noch in einem anderen Punkte übrigens, in der Unterscheidung von innerem 
Wachstum und äusseren, formativen Reizen ist er auf Grund eigener Versuche 
an Pflanzen seiner Zeit weit vorausgeeilt ?). 








3) „Von den Vorteilen der vergleichenden Anatomie und von den Hinder- 
nissen, die ihr entgegenstehen.‘ Vortrag, 1796 (Schriften z. Morphologie). 

9) Dass ihm auch die Vorstellung des „Eins und Doppelt“ im menschlichen 
Organismus geläufig war, hat er in dem Gedicht „Gingko biloba‘‘ (W. ö. Diwan) 
anmutig angedeutet. 


9] Die Naturphilosophie als Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschuneg. 113 


So gross der unmittelbare Erfolg, so rasch ‚war auch đer Nieder- 
gang der naturphilosophischen Ära; wie die romantische Kunst wieder 
einer klassizistischen Richtung Platz machte, so griff auch die Heil- 
kunde, von mystischer Schwärmerei sich abkehrend, zu einer exak- 
teren Methodik. Zunächst freilich geriet sie noch einmal auf einen 
Irrweg; sie verfiel in ein neues, nur scheinbar wissenschaftliches 
Schematisieren, indem sie, nach dem Beispiel der übrigen natur- 
historischen Disziplinen (Zoologie, Botanik, Mineralogie) sich auf eine 
systematische Ordnung beschränkte, das geistige Band aber 
vernachlässigte; die Krankheiten galten — was übrigens auch Ring- 
seis geglaubt hatte, — als parasitische Wesen, welche den Körper 
feindlich überfallen 10). Diese ontologische Anschauung hat 
bekanntlich kein Geringerer als Johann LucasSchönlein lange 
vertreten und durch seine Autorität gestützt. Aber man tut ihm, 
wie dies Virchowil) in seiner berühmten Gedächtnisrede aus- 
geführt hat, Unrecht, wenn man ihn lediglich als das Haupt der 
naturhistorischen Schule ansieht — der grosse Kliniker 
_ zeichnete sich vor allem durch die streng methodische Untersuchung 
am Krankenbett aus und hat als erster die genetische Beobachtung 
des Krankheitsprozesses gelehrt. Er hat auch selbst die naturhisto- 
rische Systematik nie als aller Weisheit Schluss angesehen, nur 
seine Schüler haben dies Prinzip so stark in den Vordergrund ge- 
rückt. Dass in seiner Denk- und Lehrweise für den konstitutionellen 
Gedanken viel Raum war, ist kaum anzunehmen, wenngleich schon 
in seiner Erstlingsarbeit ‚von der Hirnmetamorphose“ sich sowohl 
genetische, wie korrelative Ideen angedeutet finden (Virchow). 

Nicht vergessen aber war dieser Gedanke in einer neuen Rich- 
tung, die nunmehr auf den Plan trat, ja man darf sagen, dass er hier 
zum letzten Male vor seiner Wiedererweckung lebendige Gestalt an- 
nahm. Hatte auch die naturhistorische Schule bereits sich dafür 


10) Es wäre hier ein eigentümlicher Irrtum zu berichtigen, in welchen 
Ricarda Huch (Il. c. S. 284) verfallen ist. Sie gibt an, dass Ringseis 
„im hohen Alter — er starb erst im Jahre 1880 — aus einer kleinen Schrift 
von Virchow zu seiner Überraschung erfuhr, dass diese Theorie mit den 
modernsten medizinischen Forschungen übereinstimmte — die grosse Entdeckung 
des Tages, die Bazillentheorie, war eine wesentliche Behauptung seines ver- 
höhnten Systems gewesen“. Für den ärztlichen Leser braucht das Schiefe 
dieser Auffassung nicht besonders ausgeführt zu werden; und Virchow als 
Vertreter der Bazillentheorie hinzustellen, heisst doch den wirklichen Sach- 
verhalt arg verkennen! 


1) Rudolf Virchow. Gedächtnisrede auf Joh. Lucas Schön- 
lein. Berlin. A. Hirschwald 1865. Dort auch Näheres über Marcus, Rösch- 
laub, Walther, v. Ringseis.u. a. 


114 C. Posner. r10 


eingesetzt, dass die Medizin sich aller Hilfsmittel naturkundlicher 
Forschung zu bedienen habe, so wurde diese Idee zum leitenden Prin- 
zip derjenigen, welche die „pathologische Physiologie“ als 
Parole ausgaben — es waren dies in Deutschland einmal Jakob 
Henle, weiter aber die drei „schwäbischen Reformatoren‘“ 

Wunderlich, Roser, Griesinger. Namentlich Carl 
Wunderlich1?), gleich gross als Kliniker wie als Historiker, 
hat — wie das auch His in seinem vorhin erwähnten Referat ge- 
bührend hervorhob — die Konstitution geradezu als Grundlage 
für die allgemeine Pathologie betrachtet; nicht nur de- 
finiert er sie, ganz im heutigen Sinne, als „den Inbegriff der 
gesamten Organisationsverhältnisse, als „das Resul- 
tat der leiblichen Geschichte des Individiums“ auch 
seine Unterabteilungen, — venös, Iymphatisch, asthenisch usw. — 
gemahnen an die neueren Versuche solcher Differenzierung; ebenso 
berücksichtigt er ausgiebig den Erblichkeitsfaktor, wenn er 
gleich den äusseren Einflüssen etwas weiteren Spielraum zuschreibt, 
als wir meist anzunehmen geneigt sind. Damit aber verschwindet 
die konstitutionelle Betrachtungsweise für lange Zeit fast völlig aus 
der wissenschaftlichen Literatur, wenigstens aus: der deutschen, 
während man z. B. in Frankreich noch gern mit solchen Begriffen 
(z. B. Arthritismus) arbeitete13). Ich glaube allerdings, dass der 
Konstitutionsgedanke im Bewusstsein der Kliniker und Ärzte nie so 
gänzlich erloschen war; und wenn z. B. Ernst von Leyden 
immer wieder hervorhob, dass wir es nicht mit Krankheiten, sondern 
mit kranken Menschen zu tun haben, so konnte er schliess- 
lich damit nichts anderes meinen, als dass wir in jedem Einzelfall 
unser ärztliches Handeln den besonderen Bedingungen der Person, 
d. h. der Art, wie sie auf die krankmachenden und heilenden Reize 
reagiert, anzupassen haben 14). Aber, in der Tat, sowohl die vor, 
wiegend lokalistische Auffassung der pathologischen Ana- 
tomen, wie besonders die überwältigenden Ergebnisse der Bak- 
teriologie, die in ihrem ersten Überschwang gar zu ausschliess- 
lich die exogenen Erreger berücksichtigte, endlich wohl auch die not- 


12) C.A. Wunderlich, Handbuch der Pathologie und Therapie. II. Aufl. 
Bd. 1. Stuttgart, Ebner u. Seubert. 1852. S. 227 ff. 

13) Vgl. hierzu His’ oben erwähnten Vortrag. Von Deutschen sind z. B. 
Beneke und Ebstein als Anhänger des Konstitutionsgedankens, letzterer 
namentlich in bezug auf die sog. Diathesen zu nennen. 

14, In seinen „Lebenserinnerungen‘ (Stuttgart und Leipzig 1910) drückt er 
das so aus .„In der Beurteilung und Behandlung des kranken Individuums 
gipfelt die innere Medizin; ihr hat von jeher das Individualisieren für eine 
der höchsten Eigenschaften des Arztes gegolten.“ 


11] Die Naturphilosophie ale Vorläufer der Konstitutions- u. Sexualforschung. 115 


wendige Kleinarbeit des Laboratoriums überhaupt, lenkte den 
Blick von den Problemen der Konstitution ab, und es bedurfte erst 
der unausgesetzten, anfangs viel verkannten Bemühungen von 
Männern wie O. Rosenbach, Hueppe, Gottstein, Martius, 
Kraus, v. Hansemann, His u. a, um deren Bedeutung wieder 
ins rechte Licht zu rücken. 


Wir stehen jetzt mitten in der von diesen Forschern eingeleiteten 
Bewegung. Wer gewohnt ist, historisch und genetisch zu denken, 
wird sich gern Rechenschaft darüber ablegen, an welche, lange ab- 
gerissene Fäden sie sich anknüpfen lässt. Wenn ich dabei an die 
Zeit der Naturphilosophie erinnert habe, so weiss ich, dass 
der modern geschulte Arzt sich nur mit einem gewissen Unbehagen 
in jene Periode zurückversetzen lässt; hat doch gerade die damals 
herrschende schrankenlose Spekulation, die die Dinge aprioristisch 
konstruieren wollte, dahin geführt, dass der ganze Begriff der, Natur. 
philosophie‘ diskreditiert wurde und insbesondere die Medizin lange 
glaubte, durchaus ohne jede Beziehung zur Philosophie überhaupt 
auskommen zu sollen. Dies hat sich in jüngster Zeit gründlich ge- 
ändert — wir müssen jetzt eher von einer Renaissance der 
Naturphilosophie sprechen. Gelernt haben wir aber — oder 
wenigstens: wir sollten gelernt haben! — die beiden Gebiete, Natur- 
wissenschaft und Philosophie, einesteils streng gegeneinander abzu- 
grenzen, jedem seine Selbständigkeit zu wahren, insbesondere zu 
verhüten, dass nicht das eine das andere überwuchert und unterjocht 
— andererseits aber eine gegenseitige Befruchtung für unerläss- 
lich anzusehen. Was wir fordern ist, wie Berthold von Kern 15) 
dies ausdrückt „die Anerkennung der Leistungen derer, auf deren 
Schultern wir stehen, der Leistungen der ‚Vergangenheit in allen ihren 
Teilen und auch weiter darüber hinaus die Anerkennung der nur 
scheinbar auseinanderstrebenden Strömungen der Gegenwart.“ Dies 
bedeutet „einen endgültigen Bund zwischen reiner Naturwissen- 
schaft und reiner Philosophie“. 

Es ist das die gleiche Forderung, die schon Schiller und Goethe 


im Xenienjahr (1797) erhoben hatten, wenn sie den Naturforschern und 
Transzendental-Philosophen zuriefen: 


Feindschaft sei zwischen Euch, noch kommt das Bündnis zu frühe, 
Wenn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt. 
Jeder wandle für sich und wisse "nichts von dem Andern — 
Wandeln nur beide gerad, finden sich beide gewiss! 


15) B. Kern, Weltanschauungen und Welterkenntnis. Berlin, A. Hirsch- 
wald 1911. S. 450 sowie desselben Autors „Problem des Lebens‘, Berlin, Hirsch- 
wald 1909. 


116 C. Posner. [12 


Werden diese Forderungen erfüllt, dann werden uns auch 
die früher begangenen Irrtümer und Entgleisungen erspart 
bleiben. Dass die romantisch gerichteten Anhänger der Natur- 
philosophie in solche verfallen sind — wer wollte das leugnen? 
Es ist leicht, sie mit souveränem Spott abzutun und das Ver- 
kehrte ihrer Geistesrichtung nachzuweisen. Vergessen wir aber 
nicht, dass ihnen die Forschungsmethoden noch mangelten, denen 
wir unsere Kenntnisse auf dem Gebiet der Physiologie, wie der 
Klinik, der Erblichkeitslehre, der Anthropologie und 
der Psychologie zu danken haben. Dies sind die Wurzeln, aus 
denen Konstitutions- und Sexualwissenschaft ihre Nahrung ziehen — 
sehr verschiedene Wurzeln, die aber, wie wir hoffen, in gleichem 
Masse unserer Gesellschaft Kraft und Gedeihen sichern sollen ! 


Aus der II. medizinischen Klinik der Universität Berlin 
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Kraus). 


Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf 
dieKonstitution in den verschiedenen Lebensaltern 
des Menschen'). 


Von 
Dr. Max Berliner, Berlin- Charlottenburg. 


Wenn ich im folgenden auf die Konstitution des Menschen in 
den verschiedenen Lebensaltern und den Einfluss der endokrinen 
Hormone auf die Konstitution näher eingehen will, bin ich ge- 
zwungen, zuvor meine Stellungnahme zu dem Begriff Konstitution 
klarzulegen. Der Begriff Konstitution ist in der wissenschaftlichen 
Medizin einer der meist umstrittenen, so dass ich beinahe dem Vor- 
schlag von Mathes beipflichten möchte, dass einmal eine neutrale 
Kommission von Wissenschaftlern mit autoritativer Vollmacht eine 
genaue Umgrenzung dieses Begriffes festlegen möchte. Die Unter- 
schiede in der Auffassung beruhen darin, dass ein Teil der Forscher 
die Konstitution rein genotypisch auffassen, also alles auf die ererble 
Anlage zurückführen und auch die Reaktion auf bestimmte äussere 
Reize (Konditionen) auf die ursprüngliche Anlage zurückführen. 
Die andere Auffassung definiert den Konstitutionsbegriff phäno- 
typisch, d. h. aus der Summe der Anlage und der Erscheinung des 
Einzelwesens. 

Die genotypische Auffassung des Konstitutionsbegriffes ist ein fiktiver 
Begriff, der in keiner Weise exakt wissenschaftlich bei irgend einem mensch- 
lichen Individuum in präziser Weise festgelegt werden kann. Bei einer so ge- 
mischten Population, wie es die menschliche ist, ist es bei dem einzelnen Indi- 
vidaum beinahe unmöglich, mit absoluter Sicherheit zu trennen, was Erbanlage 
und Milieueinfluss ist, besonders aus dem Grunde, weil es „reine Linien‘ beim 
Menschen überhaupt nicht gibt, und ferner weil bereits zwei Familien derselben 
Verwandtschaft zu gleicher Zeit, geschweige denn in verschiedenen Generationen, 
niemals übereinstimmende Lebensführung aufweisen. 


1) Vortrag, gehalten am 17. Jan. 1924 im Verein für Konstitutions- 
forschung und Sexualbiologie in Berlin. 


118 Max Berliner. [2 


Ferner kommen noch andere Einflüsse in Betracht, die die Beschaffen- 
heit des Keimplasmus variieren: Jede Keimzelle, ob männlich oder weiblich, hat 
Reduktionsteilungen durchzumachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Tei- 
lungen jemals zwei identische Hälften ergeben, ist unendlich klein; jede auch die 
kleinste -Ungleichheit wird in der weiteren Entwicklung immer grössere Aus- 
schläge ergeben. Selbst bei eineiigen Zwillingen wird die Spaltung des schon be- 
fruchteten Eies praktisch so gut wie niemals völlig symmetrisch ausfallen, geno- 
typisch identisch werden also auch eineiige Zwillinge nicht sein. Der Zustand 
der Keimdrüsen bleibt oft in der Entwicklung und eindeutig sexuellen Differen- 
zierung zurück. Die Keimzellen selbst erlangen dann nicht oder nur unvoll- 
kommen die nötige Reife (Follikelatresie). Die Inkrete anderer endokriner 
Drüsen können hier verbessernd eingreifen und die Keimzellen zur Ausreifung 
bringen. Mathes hat durch Injektion von Hypophysen-Extrakt langjährige 
primäre oder sekundäre Sterilität geheilt. Schädigungen des Keimplasmas können 
ferner durch Gifte herbeigeführt werden (Blastophtheorie Forels) durch Alkohol, 


Morphium, Salze der Schwermetalle, Syphilis u. dgl. 

Mit Rücksicht auf diese Überlegungen schliesse ich mich be- 
züglich des Konstitutionsbegriffes der weitgehendsten Auffassung 
an, indem ich darunter die Gesamtheit eines Menschen sowohl in 
den Beziehungen der einzelnen Teile zum Ganzen und umgekehrt, 
als auch der ganzen Einheit zur Umwelt, also die gesamte physische 
und psychische Person mit seinem Milieu im Augenblick der Be- 
trachtung zusammenfasse. Die Konstitution eines Menschen ist damit 
etwas wissenschaftlich exakt Greifbares geworden, indem sie sich 
auf die vorhandenen Untersuchungsmethoden stützt und die ge- 
samten feststellbaren Ergebnisse in ihre Betrachtung einbezieht. 

Eine solche Untersuchung erstreckt sich auf folgende drei Punkte: 

1. Die Erfassung des äusseren Habitus mit Hilfe der anthropologischen 
Untersuchungsmethoden, wie sie besonders in leizter Zeit von Martin 
auch in eine für die Klinik brauchbare Fassung gebracht worden sind. 

2. Die genaue Untersuchung der inneren Organe des Menschen, sowohl 
bezüglich ihrer Form, der Lage zueinander, als auch ganz besonders be- 
züglich ihrer Funktion, und 
die Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines Menschen, die messbar ist 
an der körperlichen und geistigen Arbeitsleistung, der Ausdauer, der 
Ermüdung und der Erholung. S 


Wenn wir nunmehr auf unser eigentliches Thema eingehen, 
so besteht bei der Fülle von vorhandenen Forschungsergebnissen die 
Notwendigkeit, eine Einteilung vorzunehmen. Wir können eine solche 
Einteilung in der Weise vornehmen, dass wir die endokrinen Ein- 
flüsse in bezug auf die Ontogenie gesondert betrachten von den endo- 
krinen Einflüssen auf die phylogenetischen Fragen. Damit wäre die 
Teilung des menschlichen Lebens in zwei Zeitperioden gegeben, in die 
Perioden vor Beginn und nach Abschluss der Geschlechtsreife und 
in die Periode der Geschlechtsreife selbst. Diese Einteilung 
wird aber auch dann zu ihrem Rechte kommen, wenn ich aus prak- 


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3j Über den Kinfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 119 


tischen Gründen heute die Perioden des menschlichen Lebens in die 
fötale, die Zeit der Entwicklung, die Zeit der Reife und die Zeit der 
Involution einteile. 

Diese Art der Einteilung gestattet uns, die Wirkung der endo- 
krinen Hormone in ihrer Bedeutung für die einzelnen Perioden 
in folgender Weise festzulegen: In der Entwicklungszeit 
von der Befruchtung bis zum Ende des Wachstums 
macht sich der Einfluss der endokrinen Hormone 
voralleman den Erscheinungen des äusseren Habi- 
tus geltend, in der Zeit der Reife beherrschen die 
endokrinen Hormone vor allem die Funktionen und 
die Leistungsfähigkeit, und in der Involution diri- 
gieren sie die körperliche Involution, den Nieder- 
gang der Leistung und der Funktion. 

Fassen wir die Fötalperiode mit dem Bewusstsein des Fehler- 
haften als Symbiose zwischen der Mutter und dem Fötus auf, 
so wird es uns klar, dass alles, was das endokrine System der Mutter 
trifft, z. B. Ernährungsfehler, Infektionen oder dgl., ohne weiteres 
sich auch beim Fötus in irgend einer, wenn auch uns noch nicht 
immer zugänglichen Form bemerkbar machen wird. Es sind uns be- 
reits eine ganze Anzahl von Wechselwirkungen zwischen Mutter und 
Fötus bekannt, von denen ich hier nur folgende als Beispiel an- 
führen möchte: 

Besonders interessant ist der klassische Tierversuch, bei dem 
trächtige Tiere, des Pankreas beraubt, während der Gravidität zucker- 
frei blieben; das Pankreas des Fötus hat die Mutter vor dem Dia- 
betes bewahrt, nach der Geburt erkrankte das Muttertier an Pankreas- 
Diabetes. 

Eine ganz ähnliche Erscheinung, aber für die Mutter ungünstiger, 
wurde in einer Familie mit erblichem Diabetes insipidus beobachtet. 
Während der letzten Monate der Schwangerschaft traten bei der 
sonst gesunden Mutter Erscheinungen von Diabetes insipidus auf, 
unmittelbar nach der Entbindung verschwanden die Erscheinungen. 
Dieses Kind hatte von der väterlichen Familie her den Diabetes insi- 
pidus geerbt. Während der anderen Schwangerschaften traten bei der 
Mutter keine solche Erscheinungen auf. In diesem einen Falle haben 
die Hormone des kranken Kindes einen ungünstigen Einfluss auf 
die Mutter ausgeübt und sie in ihrem Stoffwechselgleichgewicht 
gestört. 

Da der Fötus auch bei unzureichender Ernährung der Mutter 
auf Kosten der Substanz der Mutter sich entwickelt, so machen sich 
Mängel in der mütterlichen Ernährung nicht immer beim Neuge- 


120 Max Berliner. [4 


borenen bemerkbar, eine qualitativ oder quantitativ mangelhafte 
Ernährung der Mutter kann aber auch zu einem vorzeitigen intra- 
uterinen Absterben der Föten führen, im allgemeinen pflegt ein 
erst später einsetzender Futtermangel aber keinen wesentlichen Ein- 
fluss auf das wachsende Tier zu haben, welches auf Kosten der 
Substanz der Mutter lebt. In Zusammenhang mit dem gesteigerten 
Bedarf des Muttertieres während der Laktationsperiode dürfte wohl 
auch das Auffressen der Plazenta und sogar der eigenen Jungen 
dienen. 

Auch bei der Schilddrüse lässt sich ein enger Zusammenhang 
zwischen Mutter und Fötus erkennen: denn die Neugeborenen, welche 
später an Hypothyreosen erkranken, sind während der Fötalperiode 
genügend mit Schilddrüsenhormon versorgt worden, so dass bei der 
Geburt noch keine Krankheitserscheinungen beobachtet werden, 
söndern sich diese erst allmählich einstellen. An dieser Stelle ist 
auch das häufige Anschwellen der Schilddrüse während der 
Schwangerschaft zu betonen. Eine ähnliche Bedeutung dürfte die 
Vermehrung und das Wachstum der Hypophyse überhaupt und 
besonders ihrer eosinophilen Zellen während der Schwangerschaft 
für den wachsenden Fötus haben. 

Wenn wir uns nunmehr dem extrauterinen Leben des Menschen 
zuwenden, so müssen wir zuerst uns darüber klar sein, dass ent- 
sprechend der vorhin von uns gegebenen Einteilung des Lebens 
in verschiedene Perioden verschiedene Hormone zu verschiedenen 
Zeiten das Bild beherrschen. Vor allem macht sich der Antagonismus 
zwischen der Zirbeldrüse und der Entwicklung der Geschlechtsorgane 
kenntlich. Es wäre weit verfehlt, anzunehmen, dass vor dem Offen- 
barwerden der Geschlechtsfähigkeit die Geschlechtsdrüsen nicht funk- 
tionieren. Dagegen spricht vor allem schon die charakteristisch ver- 
schiedene Entwicklung des Habitus bei Knaben und Mädchen und 
der Psyche während der ersten Lebensjahre und ferner der Befund 
von wachsenden Follikeln im Ovarium bereits kurz nach der Geburt. 
Ähnlich, wenn auch weniger erforscht, dürften die Verhältnisse beim 
Hoden liegen, wobei es ganz gleich ist, welche Stellung wir zu den 
noch immer umstrittenen Pubertätsdrüsen nehmen. In analoger Weise 
können wir zwar bereits vom siebenten Lebensjahr ab regressive Vor- 
gänge an der Zirbeldrüse beobachten, aber es fehlt uns bisher jeder 
Beweis, ob und wann die Zirbeldrüse ihre Tätigkeit überhaupt ein- 
stellt. Bei den anderen endokrinen Drüsen z. B. Thyreoidea, Thymus 
und Hypophyse sehen wir in der Abbildung 1 sehr wohl die Grössen- 
entwicklung, der vermutlich die Grösse der Funktion parallel geht, 
aber wir sehen gleichzeitig, dass nicht eine Drüse die andere ablöst, 


5] Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 121 


und wir wissen, dass sich die Funktionen der Drüsen bei Ausfall 
der einen korrigierend dem entstandenen Fehler anpassen können. 
Diese gegenseitige Überlagerung der verschiedenen endokrinen Hor- 
mone erschwert einerseits die Erfassung von nicht extremen Konsti- . 


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Abb. 1. Graphische Darstellung der Zeit, des Wachstums und der Funktion der 
endokrinen Drüsen. Die Gewichtsangabe ist bei Thymus und Thyreoidea in g. 
bei der Hypophyse in Ti g erfolgt. 


tutionsfehlern, andererseits hat uns die in den Tierversuchen be- 
obachtete Korrelation in der Beurteilung von nicht ganz reinen 
Krankheitstypen erheblich gefördert. 
In der Wachstums- und Entwieklungszeit des 
Menschen können wir im Groben die Einteilung des 
Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 2. 9 


122 Max Berliner. [6 


endokrinen Einflusses so vornehmen, dass wir der 
Zirbeldrüse und den Keimdrüsen wachstumshem- 
mende, der Thymus, Hypophyse und Thyreoidea 
wachstumsfördernde Einflüsse zuschreiben. Auf- 
fallende Abweichungen des Körperbefundes bei der Geburt pflegen 
sich späterhin meist auszugleichen, sowohl was den fötalen Riesen- 
wüchs als auch was den fötalen Kleinwuchs anbetrifft. Das kleinste 
lebensfähige Kind hat angeblich bei der Geburt 750 g gewogen, das 
grösste 10,5 kg. Letzteres hat sich allerdings später zu einer über- 
mässigen Körpergrösse entwickelt. Im allgemeinen kann man aber 
annehmen, dass fötaler Riesenwuchs mit einem Gewicht von 5000 g 
und darüber auf Spätgeburt zurückzuführen ist. Nur in seltenen 
Fällen dürfte es sich um familiäre Erscheinungen handeln. 

Seltstverständlich spielen auch im späteren Leben neben den 
hormonalen Einflüssen die gesamten Milieuverhältnisse, besonders 
die Ernährung, eine wichtige Rolle, letztere schon aus dem Grunde, 
weil bestimmte Edelstoffe der Nahrung imstande sind, die Tätigkeit 
der endokrinen Organe zu vermehren bzw. deren Mangel die Funk- 
tion herabsetzt!). Am besten lässt sich der Einfluss der endokrinen 
Drüsen auf das Wachstum an den extremen Fällen studieren. Am 
auffällissten und am relativ häufigsten beobachten wir dabei neben 
Störungen im Dickenwachstum den Klein- bzw. Zwergwuchs, der seine 
Ursache hat in mangelhafter Funktion des Thymus, der Thyreoidea 
oder der Hypophyse. 

Beim Menschen ist ein angeborenes Fehlen der Thymus nur 
bei schweren Missbildungen bei lebensunfähigen Kindern beobachtet 
worden. Angeblich angeborene Hypoplasie der Thymus bei hoch- 
gradig abgemagerten Kindern dürfte aber wohl nur auf akzidentelle 
Involution zurückzuführen sein infolge Druckwirkung der Tumoren 
und bei den verschiedensten Formen von Kachexie, aber nicht endo- 
kriner Art! Die experimentellen Versuche haben wohl ergeben, 
dass die der Thymus beraubten Tiere im Wachstum zurückbleiben. und 
rhachitisähnliche Knochenverbiegungen aufweisen, aber mit Sicher- 
heit, dass die Thymus kein lebenswichtiges Organ ist. 

Bei der Thyreoidea führt die Aplasie bzw. hochgradige Hypo- 
plasie zu den schweren Veränderungen, die wir beim myxödematösen 
Zwergwuchs finden, wo es neben der Wachstumsstörung noch zu 
den verschiedenartigsten anderen Ausfallserscheinungen kommt, die 





1) Die Minderwertigkeit der deutschen Organpräparate gegenüber den eng- 
lischen ist auf solche Mängel in der Ernährung des deutschen Viehs zurückzu:- 
führen, infolge der seit 10 Jahren durch politische Geschehnisse verursachten 
Futterschwierigkeiten. 


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124 Max Berliner. (8 


Noch schwerere Erscheinungen sowohl im Wachstum, als auch 
bezüglich der übrigen Symptome bietet der Kretinismus, den eine 
durch Generationen übertragene und kumulierte Entartung der Schild- 
drüse vorliegt. Wenn Finkbeiner in seinem Buche „Die kretini- 
sche Entartung“ zu dem Schlusse kommt, dass seine Untersuchungen 
an kretinen Skeletten die Annahme einer besonderen kretinischen 
Rasse mit atavistischen Merkmalen nahe legen, so möchte ich dem 
die Beeinflussbarkeit kretinoider Familien durch Milieuwechsel und 
Sanierung ganzer kretinischer Ortschaften durch Bodenassanierung 
(Grundwasser-Drainage) entgegenhalten. Auch die Beeinflussung des 
endemischen Kropfes durch systematische kleine Jodgaben, wie sie 
mit gutem Erfolge jetzt in der Schweiz geübt wird, dürfte mit Recht 
Zweifel an dieser Auffassung entstehen lassen. 


Die häufigste Form endokrinen Kleinwuchses dürfte aber be- 
dingt sein durch Störungen der Hypophyse, sei es primärer Art, wie 
sie durch Erkrankungen an der Hypophyse zustande kommen, z. B. 
Tumoren, Metastasen, embolisch-nekrotische Prozesse, sei es durch 
sekundäre Erkrankungen der Hypophyse, wie wir sie z. B. beim ange- 
borenen und erworbenen Hydrozephalus finden. Ein negativer Be- 
fund bei der seitlichen Schädelaufnahme ist nicht gegen die Annahme 
eines hypophysären Zwergwuchses zu verwerten, seitdem wir wissen, 
dass im Verlaufe von kindlichen Infektionskrankheiten toxische Ne- 
krosen im Hypophysen-Vorderlappen, der für das Wachstum über- 
ragende Bedeutung hat, vorkommen. 


Bezüglich der chondrodystrophischen Zwergwuchses sind wir 
noch im unklaren, ob der häufig erweitert befundenen Hypophysen- 
grube auch eine pathologische Funktion entspricht. Dafür spricht 
die in dem einen sezierten Falle beobachtete Vergrösserung der 
Hypophyse auf 2 g Gewicht, deren Sektion leider unterblieben ist. 
In anderen Fällen konnte eine Vergrösserung der Hypophysengrube 
nicht nachgewiesen werden, was allerdings auch nicht gegen eine 
Dysfunktion der Hypophyse ausgelegt werden kann. 


Selbstverständlich werden in den Fällen von proportioniertem 
universellen Kleinwuchs (Status hypoplasticus, Infantilismus uni- 
versalis) die eben genannten endokrinen Drüsen ebenfalls eıne be- 
herrschende Rolle spielen, da durch den Mangel an Edelnährstoffen 
oder mangelhafter Keimanlage ihre Funktion ebenfalls erheblich 
beeinträchtigt sein muss. 

Schliesslich gibt es auch einen familiären Kleinwuchs, der als 
wenn auch unbeabsichtigtes Zuchtergebnis zufällig kleiner Eltern- 
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11] Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 127 


der noch das besondere bietet, dass er ausser seiner unförmigen 
Körpergrösse und -dicke an jeder der vier Extremitäten sechs 
Finger hat. Bei solchen Individuen pflegen im allgemeinen 
Tumoren die Zirbeldrüse erdrosselt zu haben. Wächst ein solcher 
Tumor weiter, so kann es zu schweren Schädigungen des Gehirns 
kommen mit allen hierzu gehörigen Symptomen, Hirndruck, Er- 
blindung usw. Andernfalls kommt durch frühzeitiges Aufhören bzw. 
Verlangsamung des Wachstums ein Ausgleich zustande. 

Während in der Periode des Wachstums eine Störung der Tätig- 
keit der inneren Drüse vorwiegend somatische Störungen verur- 
sacht, finden sich in der Periode der Vollreife des 
IndividuumsbeiStörungenderTätigkeitderinneren 
Drüsen zwar auch Veränderungen des Habitus, das 
Krankheitsbild wird aber beherrscht von allen den 
Zuständen, die wirin.der Klinik der Krankheiten 
der Blutdrüsen beobachten. An dieser Stelle möchte ich 
nochmals darauf hinweisen, dass es keine isolierten Stö- 
rungen einer inkretorischen Drüse gibt, sondern 
dass jede Störung einer inkretorischen Drüse auch 
Störungen der anderen nach sich zieht, so dass die 
gesamteinnersekretorische Harmonie gestört wird; 
die Prävalenz der primären Drüsenstörung kann 
dabei im klinischen Symptomenkomplex mehr oder 
minder vollkommen gewahrt bleiben. Die korrela- 
tiven Störungen der inkretorischen Drüsen er- 
strecken sieh nicht nuraufden Stoffwechselimall- 
gemeinen, sondern auch auf den Zellstoffwechsel 
und auf das gesamte, auch das vegetative Nerven- 
system. Für den fiktiven konstitutionellen Ideal- 
zustandistdieHarmoniederinkretorischen Drüsen 
unerlässliche Vorbedingung. 

Die weitgehendste konstitutionelle Zustandsänderung finden wir 
bei den Störungen der Schilddrüse, die eine breite Skala von der 
Hyperfunktion bis zur Hypofunktion umfasst. Das Studium der 
Schilddrüsenstörungen ist sehr erleichtert worden durch die Mög- 
lichkeit der Zufuhr von Schilddrüsensubstanz von aussen. Die Schild- 
drüsenempfindlichkeit wechselt bei jedem Individuum im Laufe seines 
Lebens. Während sie im Säuglingsalter kaum Erscheinungen macht, 
ist sie um die Zeit der Pubertät und danach am grössten, beim weib- 
lichen Geschlecht grösser als beim männlichen. Im Greisenalter sinkt 
die Sehilddrüsenempfindlichkeit wieder ab. Die krankhaft gesteigerte 
Schilddrüsenfunktion ist ganz ähnlich der artefiziell erzeugten. Die 


128 Max Berliner. [12 


Erscheinungen treffen sowohl den Kreislauf als auch den Stoff- 
wechsel und das vegetative Nervensystem. Das Individuum mit 
Hyperthyreodismus zeigt einen gesteigerten Stoffwechsel bis zu 
hundert Prozent und einen schnelleren Körperverbrauch. Durch die 
ungünstige Kreislaufsarbeit kommt es zu einer starken Kreislauf- 
belastung und Herabsetzung der Leistungsfähigkeit. Allerdings scheint 
auch eine gesteigerte Thymusfunktion dabei eine wichtige Rolle 
zu spielen. -Im allgemeinen kommt es dabei zu deutlicher Ab- 
magerung. 

Im Gegensatz dazu zeigt der Hypo- und Athyreoidismus cine Tor- 
pidität sowohl des gesamten als auch des Zellstoffwechsels, wobei es 
für gewöhnlich zu charakteristischen Schwellungen des Unterhaut- 
zellgewebes kommt. Herabsetzung des Stoffwechsels um 20—400,o ist 
häufig. Die gesamte Betriebsfähigkeit des Organismus ist dabei unter 
das Optimum herabgesetzt und die Leistungsfähigkeit eines solchen 
Individuums stark gesunken. Die charakteristischste Form dieser Stö- 
rung ist das Myxödem, bei dem sich in leichter Weise die Störung des 
vegetativen Nervensystems im Sinne eines erhöhten Vagustonus nach- 
weisen lässt, mit der charakteristischen ‚Veränderung der Herzfigur 
im Sinne des Krausschen Spitzherzens und eigenartigen von 
Zondek näher beschriebenen charakteristischen Veränderungen im 
Klektrokardiogramm. Weiter finden sich dabei Störungen der Wärme- 
regulation mit. niederer Körpertemperatur und ein phlegmatisches, je 
nach der Schwere bis an Idiotie grenzendes Temperament, 

Der Ausfall der Epithelkörperchen löst einen eigen- 
artigen Symptomenkomplex aus, der in einer Steigerung der elele 
trischen und mechanischen Erregbarkeit des peripheren Nerven- 
systems im Verein mit einer Herabsetzung der Reizschwelle des 
vegetativen Nervensystems und in einer Herabsetzung der Assi- 
milationsgrenze für Kohlenhydrate besteht. Die Tetanie der Kinder 
und die Spasmophilie der Erwachsenen werden durch eine solche 
Insuffizienz der Epithelkörperchen erklärt, wobei der Steigerung des 
Kalkstoffwechsels eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Es 
ist wichtig, zu wissen, dass hypoparathyreotische Zustände auch 
heredo-familiär vorkommen und bei geeigneten Gelegenheiten, z. B. 
Gravidität, Laktation usw., manifest werden. 

Eine Hyperfunktion der Thymus wird dem Symptomenkom- 
plex des Status thymico-lymphaticus zugrunde gelegt, der mit einer 
verspäteten, bisweilen mangelhaften Entwicklung der Geschlechts- 
organe einhergeht, Neigung zu pastöser Fettansammlung und zum 
Hochwuchs zeigt. Die Neigung der Schilddrüse zur Vergrösserung 
und zur Ausbildung basedowischer Erscheinungen als Korrelations- 


13] Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 129 


erscheinung haben wir bereits vorhin erwähnt. Daneben zeigt sich 
aber auch eine Hypoplasie des Adrenalsystems mit labilem Blut- 
druck und Neigung zu Kollapsen, die mit einer gesteigerten Erreg- 
barkeit des vagischen Nervensystems einhergehen. Diese gesteigerte 
Vagus-Erregbarkeit dürfte auch die Ursache des bei Narkosen und 
anderen Umständen so gefürchteten Todes durch plötzlichen Herz- 
stillstand erklären. Der Zusammenhang der grossen Thymus mit der 
Myasthenie gravis pseudoparalytica ist noch nicht völlig geklärt. 

Die Hypofunktion der Thymus ist bisher nur experimentell be- 
obachtet worden, sie führt zu einer Veränderung des Kalkstoff- 
wechsels und rhachitisähnlichen Knochenveränderuhgen, wie wir 
bereits früher besprochen haben. 

Bei der Hypophyse beobachten wir als Folge der Hyper- 
funktion akromegalen Hochwuchs während des Wachstums, nach 
Atschluss des Wachstums Akromegalie. Dabei treten Beziehungen 
zum Kohlenhydratstoffwechsel auf, so dass die Toleranz gegen Kohlen- 
hydrate herabgesetzt wird. In gleicher Weise wird auch der Purin- 
stoffwechsel beeinflusst. Korrelativ finden sich dabei Vergrösse- 
rungen an fast allen endokrinen Organen. Die Hypofunktion bzw. 
der Ausfall der Hypophyse machen während des Wachstums genau 
die entgegengesetzten Erscheinungen. Es kommt zum Klein- bzw. 
Zwergwuchs mit Offenbleiben der Epiphysenfugen mit Herabsetzung 
des Stoffwechsels, starker Fettentwicklung, Zurückbleiben der Geni- 
talien, der inneren Keimdrüsen und korrelativ aller übrigen endokrinen 
Organe. Charakteristisch ist dabei die eigentümliche Fettverteilung 
am Mons pubis, Hüften und Brüsten (Abb. 7). Beim Erwachsenen 
führt der Ausfall der Hypophyse ebenfalls zu einer korrelativen 
Hemmung der: Keim- und Pubertätsdrüse, zu hypophysärer Fettsucht 
und Muskelschwäche und in den besonderen Fällen der Simmond:- 
schen Krankheit, zu einer schweren Kachexie infolge weitgehender 
Störungen des Wasser- und Salzhaushaltes. Nach den Untersuchungen 
von Aschner und Lescheke ist allerdings weniger der Funktions- 
ausfall der Pars intermedia als Ursache dieser Störungen aufzu- 
fassen, als vielmehr ein im Zwischenhirn gelegenes Regulations- 
zentrum, welches bei Erkrankungen vor allem durch Tumoren der 
Hypophyse geschädigt wird. 

Bei den Keimdrüsen ist eine H SE heredo-familiär bedingt 
oder indirekt durch die Zirbeldrüse bzw. Nebennierenrinde verursacht, 
möglicherweise findet sich auch bei einigen Fällen von chondrodystro- 
phischem Zwergwuchs eine Vergrösserung und Hyperfunktion der 
Keimdrüsen. Es kommt dabei zu vorzeitiger Entwicklung des Iudi- 
viduums, vorzeitiger Pubertät und frühzeitigem Abschluss des Wachs- 


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15] Über den Einfluss der endokrinen Hormone auf die Konstitution usw. 131 


der Keimdrüsentätigkeit werden wir noch im nächsten Abschnitt 
näher besprechen. 

Die Hyperfunktion der Nebenniere pflegt mit Hyperglykämie 
einherzugehen und mit einer Blutdrucksteigerung, die sich in mäs- 
sigen Grenzen halten kann, meist aber von frühzeitiger Arteriosklerose 
gefolgt ist. Die Hyperfunktion der Nebennierenrinde kann zu einer 
Pubertas praecox führen und mit gewissen Änderungen der sekun- 
dären Geschlechtscharaktere (Hirsutismus) einhergehen. 

Die Hypofunktion der Nebennieren, die mit einer Hypoplasie 
des Gefässsystems und der Keimdrüsen einhergeht, findet sich ge- 
wöhnlich als korrelative Störung beim Status thymico-lymphaticus 
als heredo-familiäre Erscheinung. Als erworbene Erkrankung ver- 
dient die Hypofunktion der Nebennieren beim Morbus Addison be- 
sondere Bedeutung, charakterisiert durch die Hypotonia arterialis, 
den niedrigen Blutzuckerspiegel, die Adynamie und Hypothermie. 
Dass die Tuberkulose gerade isoliert beide Nebennieren erfasst, 
scheint auf eine gewisse Disposition heredo-familiärer Art zu Er- 
krankungen bzw. Hypoplasie des Markes der Nebennieren hinzu- 
deuten. 

Der dritte Abschnitt unserer heutigen Betrachtungen betrifft 
den Einfluss der endokrinen Hormone auf das Altern. Es ist eine 
vielumstrittene Frage und vom Geschmack des einzelnen Beurteilers 
abhängig, an welchem Zeitpunkt des Individuallebens er den Beginn 
des Alterns festsetzen will. Ganz bestimmte eindeutige Symptome 
anzugeben, die diesen Zeitpunkt kenntlich machen, sind wir nicht 
in der Lage. Im allgemeinen wird das Altern zeitlich zusammen- 
treffen mit dem Auftreten von ‘Abnutzungserscheinungen. Es ist 
ohne weiteres klar, dass die abnutzenden Lebensfaktoren auf die 
einzelnen Individuen je nach ihrer Konstitution nicht einheitlich 
wirken. Das konstitutionell schwache Individuum pflegt zwar in 
seiner gesamten Anpassungsfähigkeit an die äusseren Lebensfaktoreu 
eine geringere Breite aufzuweisen, es vermag sich aber unter den 
hygienischen Verhältnissen eines Kulturstaates und den Bequemlich- 
keiten günstiger Lebensverhältnisse im Rahmen seiner Anpassungs- 
fähigkeit und Leistungsbreite gesund zu erhalten, ja, es kann frag- 
los seine Konstitution noch durch alle möglichen Einflüsse verbessern, 
2. B. Badereisen, Gebirgsaufenthalt, Sport usw.; bei ungünstigen 
materiellen Lebensverhältnissen, wenn der schwere Kampf ums Dasein 
berufliche Schädigungen mit sich bringt, wird seine Leistungsbreite 
oft und wesentlich überschritten werden und die Folge wird eine 
frühere Abnutzung sein. 

Es steht ausser jedem Zweifel und ist charakteristisch für den 


132 Max Berliner. [16 


Vorgang des Alterns, dass die das Altern verursachenden bzw. be- 
gleitenden Abnutzungsvorgänge im Organismus irreversibel sind, 
und zwar gleichgültig, ob diese Vorgänge physiologischer oder patho- 
logischer Art sind. Diese Vorgänge spielen sich auf allen Gebieten 
les Organismus ab, und zwar können sie annähernd gleichzeitig die 
verschiedenen Organsysteme befallen, das Auftreten kann aber auch 
uneinheitlich die verschiedenen Organsysteme befallen, was den Zeit- 
punkt des Auftretens anbetrifft. Somatisch erkennen wir das Altern 
an der Haarfarbe, der Hautbeschaffenheit, an den Gesichtszügen, 
der Haltung, dem Gang usw., kurz, an allem, was wir unter Gesamt- 
tonus und -turgor verstehen. Histologisch ist das Altern charakte- 
risiert durch die Zunahme der paraplastischen, d. h. der Interzellular- 
substanz in hochorganisierten Organen bzw. an der Einlagerung von 
gewissen Abnutzungspigmenten, z. B. in Herz und Hirn, die wir 
als liegengebliebene Stoffwechselprodukte auffassen müssen. Dass 
mit solchen Organveränderungen auch mehr oder minder erhebliche 
Funktionsstörungen einhergehen müssen, liegt auf der Hand. Be- 
trachten wir den Altersvorgang vom Standpunkt des Stoffwechsels 
aus, so beobachten wir einen Mangel der Assimilation einerseits und 
eine Unvollkommenheit der Dissimilation andererseits. Vom kolloid 
chemischen Standpunkte aus betrachtet, geht der Altersvorgang einher 
mit einer Wasserverarmung des Organismus (Marinesco). Am 
weitgehendsten ist die Eigenart des Alterns charakterisiert durch 
das :Nachlassen der Irritabilität (des Individuums sowohl in psychischer 
Hinsicht (Kritik, geistige Aufnahmefähigkeit, Begeisterungsfähigkeit 
als auch in somatischer Hinsicht, Herabsetzung der Empfindlichkeit 
segen Infekte, Erkältungskatarrhe und Gifte, z. B. Alkohol, Morphin 
usw., ferner Thyreodin. 

Wir haben gesehen, dass die Vorbedingung für eine gute 
körperliche und geistige Leistungsfähigkeit eine gute Harmonie des 
endokrinen Systems ist. Wir müssen also die Frage aufwerfen, ob die 
Involution einiger oder bestimmter endokriner Organe bereits aus- 
reicht, um den Eindruck des Alterns hervorzurufen. Wir müssen 
uns dabei hüten, solange unsere Kenntnisse noch nicht weiter ge- 
dichen sind, Ursache und Wirkung bei der Frage zu verwechseln, ob 
die Involution der endokrinen Organe das Altern mit sich bringt 
oder ob der allgemeine Altersprozess die Involution der inkretori- 
schen Organe hervorruft. Für zwei endokrine Organe können wir von 
vornherein ausschliessen, dass der Ausfall ihrer Hormone das Altern 
hervorrufen könne, das sind die Hormone der Zirbeldrüse und 
der Thymus. Wir hätten demnach also die Hormone bzw. den 
Ausfall der übrigen endokrinen Drüsen bei ihrer senilen Atrophie 


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134 Max Berliner. [18 


kungen und zu Veränderungen des Gemütslebens, meist depressiven 
Charakters. Das Klimakterium virile pflegt erst später aufzutreten 
und ist zeitlich nicht so scharf abgegrenzt. 

Bei dem Zustandekommen der Erscheinungen des Klimakteriums 
lässt sich nicht genau abgrenzen, welche Rolle dabei die ungefähr 
gleichzeitig auftretende Involution der Schilddrüse spielt. Sehen 
wir doch gar nicht so selten um. die Zeit des Klimakteriums 
eine Veränderung des Habitus besonders bei Frauen auftreten, welche 
mehr oder minder an myxödematöse Zustände erinnert, besonders 
was die Alterationen des Stoffwechsels, des Zirkulationssystems, des 
vegetativen Nervensystems und der geistigen und körperlichen Reg- 
samkeit anbetrifft. Bestätigend in dieser Auffassung ist die geringere 
Empfindlichkeit der Greise gegen Schilddrüsensubstanz. Im (iegen- 
satz dazu möchte ich auf die Beobachtung hinweisen, dass an Morbus 
Basedow erkrankte Individuen im allgemeinen jünger aussehen als 
ihren Jahren entspricht. 

Die Verminderung der Funktion der Nebennieren dürfte mit 
eine Ursache sein, warum es im höheren Alter zu der eigenartigen 
Herabsetzung der Körperkraft und des Gesamttonus nebst eigenartiger 
charakteristischer Pigmentablagerungen in der Haut kommt, die in 
gewisser Weise Ähnlichkeiten aufweist mit dem Morbus Addison. 
An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen den senilen 
Diabetes, der in gleicher Weise zustande kommen kann durch 
Altersveränderungen im Zwischenhirn, in der Hypophyse und an 
dem Insularapparat des Pankreas. 

Wir haben bereits gelegentlich der jugendlichen Schilddrüsen- 
störungen darauf hingewiesen, dass solche Individuen ein auffallend 
frühes Greisenaussehen haben. Bei den engen Beziehungen, welche 
die Schilddrüse zu allen übrigen endokrinen Erkrankungen hat, ist 
es begreiflich, dass es bei jeder weitergehenden Störung der Harmonie 
der inkretorischen Organe zu einer mehr oder minder starken Aus- 
bildung dessen komnt, was wir als Progerie bezeichnen. Je stärker 
die inkretorische Störung ist, um so früher pflegt bei solchen Indi- 
viduen der '‘Altersprozess durch den Tod abgelöst zu werden (Myx- 
ödem). Dass aber auch erhebliche Störungen des endokrinen 
Apparates trotz gewisser Progerie nicht zu einem vorzeitigen Lebens- 
ende führen müssen, dafür führe ich als Beispiel die nicht kleine 
Zahl von pathologischen Zwergwuchsformen an, die über sechzig 
und sogar bis neunzig Jahre alt werden. Im allgemeinen kann man 
nicht behaupten, dass früh gealtert aussehende Menschen entsprechend 
früher sterben, überhaupt ist eine Altersschätzung nur nach den 
äusseren Merkmalen möglich, aber niemals ein Massstab für das wahre 


19] Über den Einfluss der endokrinen Harmone auf die Konstitution usw. 135 


Alter. Noch weniger lässt sich die wirkliche Leistungsfähigkeit 
geistiger, körperlicher, sexueller Natur bei alt aussehenden Menschen 
schätzen. 

Jeder Beitrag zu dem Problem des individuellen Alterns muss 
uns auf dem genannten Wege erwünscht sein. Es ist auffällig, wie 
schon bei makroskopischer Betrachtung die gewöhnlichen Alters- 
zeichen der Organe (Atrophie, braune Pigmentierung) bei gleich- 
altrigen Greisen unterschiedlich sind. Besonders interessant sind 
die Befunde an dem Gehirn, dessen relativer Schwund am leichtesten 
abzuschätzen ist. So fand sich z. B. an dem Gehirn des 89 jährigen 
Adolf Menzel keine Atrophie im Gegensatz zu den Gehirnen des 
86 jährigen Mommsen und des 88jährigen Bunsen. In diesen 
Zusammenhange möchte ich noch erwähnen, dass es eine ganze 
Anzahl von besonders hochwertigen Menschen gibt, bei denen die 
Vollreife ohne Anzeichen regressiver Altersentwicklung ungewöhn- 
lich lange dauert, so dass das natürliche Tempo und der gewöhn- 
liche Grad der Abnahme der Leistungen durch das Altern verlangsamt 
wird. Diese Erscheinung ist als Teil einer allgemein gesteigerten 
menschlichen Vitalität zu betrachten und muss auf eine besonders 
gute Harmonie der Konstitution überhaupt mit nachweisbaren körper- 
lichen und geistigen Vorzügen zurückgeführt werden. Wenn es 
auch besonders unter den jetzigen Verhältnissen nicht das Ideal sein 
kann, ein Alter von 153 Jahren wie Thomas Parr zu erleben, so 
müssen gerade unsere letzten Betrachtungen uns dartun, dass nichts 
verkehrter ist, als die individuelle körperliche und. geistige Frische 
und Leistungsfähigkeit eines bereits ergraut aussehenden Mannes 
nach einem bestimmten Jahresalter nicht mehr anerkennen zu wollen. 
Es ist daher unbedingt als ein Fehlschlag zu verurteilen, wenn in 
einem Staate das Pensionsgesetz für die Beamten eine Höchstalters- 
grenze von 65 Jahren vorschreibt. Ebensowenig wie die Leistungs- 
fähigkeit bis zu diesem Lebensalter unbedingt auf einer nutz- 
bringenden Höhe gehalten werden kann, ist einem älteren, konsti- 
tutionell besser gestellten Individuum die Leistungsfähigkeit nach 
dieser Zeit abzusprechen. Je mehr die Lehre von der Individualität 
der einzelnen Persönlichkeit in weite und besonders die massgebenden 
Kreise getragen wird, um so eher können wir mit einer Abschaffung 
dieser Massnahme rechnen, welche jedes Individuum mit einem 
bestimmten Lebensjahre zu einem unfähigen Greise stempeln will, und 
statt dessen die leider oft nur auf dem Papier gebrauchte Formel in 
die Wirklichekit umsetzen, dass die Leistungsfähigkeit des Indivi- 
duums massgebend sein muss für seine Stellung im sozialen Leben. 


mm m —— 


Aus der Universitäts- Frauenklinik (Direktor Prof. Dr. L. Fraenke)) 
und dem Pathologischen Institut (Direktor Prof. Dr. Henke) in Breslau. 


Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 


Von 
Felix Spehlmann. 


Schon lange vor den ersten Anfängen einer medizinischen und 
Naturwissenschaft suchte man nach einem Anlass, welcher die Ge- 
stalten der beiden Geschlechter sich verschieden voneinander ent- 
wickeln liess. Durch die anatomischen Verhältnisse war es natür- 
lich, dass die männlichen Keimdrüsen sowohl leichter beobachtet 
als auch leichter verletzt und zerstört werden konnten, sei es durch 
Zufall, sei es mit Absicht. Die weiblichen Keimdrüsen des Menschen 
konnten dagegen erst beobachtet werden, als man Leichenöffnungen 
vornahm; vorher waren sie nur aus Vergleichen mit den Tieren 
bekannt. Daher gab es männliche Kastrate des Menschen seit altersher, 
wogegen weibliche erst ganz jungen Datums sind. Denn nicht nur 
Eunuchen, sondern auch Wallach, Ochs und Kapaun waren schen 
Eigentum der alten Völker. Durch die Beobachtung der Erschei- 
nungen beim’ Keimdrüsenausfall lag es am nächsten anzunehmen. 
dass die Gieschlechtsmerkmale überhaupt durch die Keimdrüsen her- 
vorgebracht würden. Ihren Gipfel erreichte diese Anschauung in 
dem klassischen Satz Rudolph Virchows: „propter solum ovarium 
mulier est quod est". 

Im Verhältnis hierzu ist erst in der jüngsten Zeit wissen- 
schaftlich erkannt worden, dass jeder Organismus neben seinem 
eigentlichen auch das andere Geschlecht enthält, wenn auch in 
viel geringerem Masse. Was über diese Tatsache früher bekannt 
gewesen ist, gehört in das Reich der Sagen und Legenden, deren 
stoffliche Unterlage herzuleiten ist von der phantasiegeschmückten 
Berichterstattung über Körperbildungen wie Vielarmigkeit, Doppel- 
monstra usw., für welehe man unter den Normalen keinen Platz 


2) Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 137 


fand. Die Vorstellung aber, die den Begriff des Geschlechts mit den 
Keimdrüsen aufs engste verbindet, hat sich bis in die Wissenschaft 
unserer Tage erhalten. Daher ist es nur folgerichtig, wenn man bei 
Fällen, die von der gewohnten Form abwichen, als Ursache solcher 
Abweichungen die Keimdrüsen verantwortlich machte. Denn wenn 
man den 'Keimdrüsen die Ursächlichkeit für die normale Gestalt 
des Körpers zuschrieb, so musste seine abnorme Gestaltung um so 
mehr durch die Keimdrüsen bewirkt sein. 

Die Frage nach den Bedingungen der normalen und abnormen 
Geschlechtsbildungen kann zweierlei Voraussetzungen haben: erstens 
kann angenommen werden, dass die Bedingungen für die Bildungen 
des Geschlechtes überhaupt von einer und derselben Art sind und 
nur — sei es durch verschiedene Zusammensetzungen, sei es durch 
äussere Einflüsse — zu den mannigfachsten normalen und abnormen 
Variationen veranlasst werden; zweitens kann geltend gemacht 
werden, dass die Geschlechtsbildungen untereinander so prinzipielle 
Verschiedenheiten aufweisen, dass daraus auf eine prinzipielle Ver- 
schiedenheit der Art ihrer Bedingungen geschlossen werden muss. 

Die erste Annahme ist von selbst zu verstehen; sie wird auch 
allgemein in der Wissenschaft vertreten. Zu der zweiten Ansicht 
kann man hauptsächlich dadurch gelangen, dass man die symmetrische 
Geschlechtsbildung einerseits betrachtet, welche nach herrschender 
Meinung ihre Bedingung in der inneren Sekretion gewisser Drüsen 
hat; und andererseits die Halbseitenzwitter, welche offenbar un- 
möglich durch innere Sekretion bedingt sein können. Allerdings 
machen die Autoren im letzteren Falle keine konkreteren Angaben 
über die Natur der Bedingungen, welche abweichend von der inneren 
Sekretion solche Erscheinungen hervorrufen könnten. 

An der ersten Fragestellung kann man mehrere Möglichkeiten 
unterscheiden. Die häufigste ist die, dass alle Erscheinungen des 
Geschlechtes auf innersekretorische Drüsen zurückgeführt werden: 
von den einen nur auf die Keimdrüsen, von den anderen auch auf 
andere Blutdrüsen, wobei Zirbel, Hirnanhang, Nebenniere und Schild- 
drüse eine betonte Rolle spielen. Eine andere Möglichkeit würde die 
innere Sekretion verwerfen und einen anderen (z. B. trophoneuroti- 
schen) Einfluss an deren Stelle setzen. 

Die. zweite Fragestellung würde etwa alle symmetrischen Erschei- 
nungen auf die innere Sekretion zurückzuführen, während die lateral 
verschiedenen durch mechanische Einwirkungen entstanden gedacht 
werden können. 

In der Geschlechtsgestaltung eines Organismus lassen sich haupt- 
sächlich drei Arten unterscheiden: | 

Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 3. 10 


138 Felix Spehlmann. [3 


I. Der Organismus hat eine normale Geschlechtsgestalt, d. bh 
die sekundären Geschlechtsmerkmale befinden sich in völ- 
ligem Zusammenpassen untereinander und mit seinem pri- 
mären Geschlechtsmerkmale, der Keimdrüse. 

II. Der Organismus zeigt eine Gestaltung, welche von der 
normalen Gestaltung abweicht (Hermaphroditismus, Pseudo- 
hermaphroditismus, Genus neutrum) d. h. die sekundären 
Geschlechtsmerkmale stehen untereinander und mit der 
Keimdrüse in Missverhältnis. Diese Anomalie kann sein: 
1. kongenital, 

2. postnatal entwickelt. 

Es gibt eine empirische Norm, welche mit bestimmten Keim- 
drüseneigenschaften bestimmte allgemeinsomatische Merkmale und 
Funktionen verbindet. An der normalen Entwicklung lässt sich jedoch 
nicht viel dafür und dawider beweisen, es sei denn im Experiment, 
wo schon vom Normalen abweichende Verhältnisse geschaffen werden. 
Es ist bekannt, dass ein geschlechtsnormaler Organismus einer be- 
stimmten Spezies eine ganz bestimmte Gestalt besitzt, und dass man 
dieselbe durch Entfernung der Keimdrüsen in verschiedener Weise 
beeinflussen und abändern kann, je nachdem zu welcher Zeit der 
Entwicklung man die Entfernung vornimmt. Doch kann aus diesen 
Veränderungen nur darauf geschlossen werden, dass die Keimdrüsen 
einen Einfluss auf die Geschlechtsgestaltung ausüben ; nicht aber, ob 
sie die einzigen, auch nicht, ob sie die hauptsächlichen Bedingungen 
dafür darstellen. 

Viel bedeutsamer in dieser Beziehung ist die zweite Art der 
Geschlechtsgestaltung: das sind die Fälle, welche als Missgeburten 
zur Welt kommen und in der gleichen Weise sich weiter entwickeln. 
Dazu gehören die Hermaphroditen und die Pseudohermaphroditen. 
Die beiden unterscheiden sich in der Weise, dass beim Herma- 
phroditismus verus die primären Geschlechtsmerkmale, d. h. die 
Keimdrüsen beider Geschlechter vorhanden sind; die sekundären 
sind hierbei nicht massgebend. Beim Pseudohermaphroditismus da- 
gegen besitzt das Individuum Keimdrüsen nur eines Geschlechts, 
während die sekundären Geschlechtsmerkmale des anderen Ge- 
schlechts oder beider Geschlechter vorhanden sind. Da jedoch hierbei 
die Keimdrüsen bezüglich ihrer Beschaffenheit, Lage usw. in den 
meisten Fällen nicht unerheblich von der Norm abweichen, so lassen 
sich Mutmassungen anstellen über den Zusammenhang dieser Ano- 
malien und denjenigen der Körpergestaltung. Doch kann’ auch hierbei 
gewöhnlich nicht eindeutig entschieden werden, was zufällige Koin- 
zidenz und was ein bedingender Zusammenhang ist. 


4) Über Nebennierenrinde und Geschlechtebildung. 139 


Ganz anders steht es mit dieser Frage bei der dritten Art der 
Geschlechtsgestaltung, nämlich dort, wo ein Organismus von einer 
ganz bestimmten normalen oder abnormen Geschlechtsform entsteht 
und aufwächst und dann in einem gewissen Zeitpunkt seiner Ent- 
wicklung eine plötzliche und einschneidende Veränderung 
seiner Geschlechtsgestalt erfährt. Hier lassen sich viel engere Be- 
ziehungen ableiten zwischen den Veränderungen der primären Ge 
schlechtsmerkmale einerseits und den der sekundären andererseits. 

Ehe wir jedoch auf eine nähere Betrachtung dieser Zusammen- 
hänge eingehen, müssen wir ins Auge fassen,‘ welche Ansichten 
hierüber in der Wissenschaft bisher bestehen. 

Diese Anschauungen lassen zwei wichtige Gruppen unter- 
scheiden. Der ersten liegt die ‘Art der Betrachtung zugrunde, welche 
wir ihrer Entstehung nach als die ursprünglichere bezeichnen können; 
nämlich diejenige, welche den Keimdrüsen nicht allein bedingenden, 
sondern oft sogar ursächlichen Einfluss auf die übrigen Geschlechts- 
merkmale zuschreibt. Das sind alle alten und älteren Autoren bis 
auf Rudolf Virchow und dann wieder alle, welche auf ihn 
folgten und auf seinen Grundlagen der ‚Wissenschaft fussten. Von 
neuen Autoren ist Steinach zu nennen, dessen Doktrin jedoch 
gegenüber dem bisherigen nichts wesentlich Neues enthält. 

Gegenüber dieser Blickrichtung begann sich innerhalb der letzten 
50 Jahre eine grundsätzlich andere Art von Anschauung geltend 
zu machen, welche sich von dem begrenzenden Keimdrüsenstand- 
punkte zu befreien suchte. Diese Betrachtungsweise vermied bewusst 
den Fehler, welcher der ersteren zugrunde lag und darin bestand, 
dass der Betrachtende durch einige von seiten der Keimdrüsen be- 
dingte augenfällige Erscheinungen seinen Blick an die Keimdrüsen 
fixierte und in der Bewertung seiner Forschungen immer wieder 
nur von den Keimdrüsen als bedingenden Mittelpunkt ausging. 

Die erste ‘Art ist mehr oder weniger allgemein bekannt. Dagegen 
soll die zweite durch die Auffassung einiger Autoren gekenn- 
zeichnet werden. 

Unter diesen ist es Benda, welcher die Erscheinungen der Geschlechts- 
missbildungen unter eine einheitliche Formel der Erklärung zu bringen sucht. 
Bendas Meinung geht von der wichtigen Tatsache aus, „dass bei den Wirbel- 
tieren zu keiner Zeit der normalen Entwicklung für die Geschlechtsdrüsen beider 
Geschlechter gesonderte Anlagen nebeneinander bestehen und somit ein primitiver 
Hermaphroditismus der Wirbeltiere nicht vorhanden ist“. Und ‚aus der Tat- 
sache, dass jedes der beiden Geschlechter aus ihr sich entwickeln kann, folgt 
ja vor allem, dass sie als indifferent anzusehen ist.“ Ferner folgert Benda 
aus den entwicklungsgeschichtlichen Verhältnissen, „dass die primäre Anlage 


des Geschlechtsapparates der höheren Wirbeltiere wirklich als weiblich anzusehen 
ist". Daher folgt, „dass die direkte selbsttätige Entwicklung der gesamten An- 


10* 


140 Felix Spehlmann. | [5 


lage zum ausgebildeten weiblichen Typus führen muss“. „Der männliche Typus 
stellt sich nach meiner Hypothese demnach nicht als eine dem weiblichen Typus 
entgegengesetzte, sondern als eine teils progressive teils regressive Entwicklung 
desselben dar.‘ Diese Hypothese reicht aber keineswegs dazu aus, alle Formen 
der Missbildungen lückenlos zu erklären, und dieser Tatsache ist sich auch 
Benda voll bewusst, wie er des näheren ausführt. 


Halban geht aus von der Lehre Virchows, „dass das Ovarium das 
wichtigste Organ des Weibes ist, dass von ihm seine Entwicklung, sein Nerven- 
system, seine Ernährung abhänge, dass all dies eine Dependenz des Ovariums 
darstellt.’ ‚Diese bedeutende Rolle, welche also der Keimdrüse zukommt, hat 
nun Schon seit langem den Gedanken nahe gelegt, dass sie auch in bezug auf 
die Entwicklung das Primäre, und dass die Entstehung der übrigen Genitalien 
von ihrer Existenz abhängig ist.‘ Dafür spräche auch die bedeutend frühere 
Differenzierung der Keimdrüse als des übrigen Geschlechtsapparates. Als be- 
sonderer Vertreter dieses Gedankens wird Herbst angeführt, welcher aus 
Pflanzen und Tierversuchen das tatsächliche Vorhandensein des formativen 
Reizes von seiten eines bestimmten Organs beweisen will. Halban zitiert 
als Gegenbeweis gegen das „post hoc, ergo propter hoc“ zunächst eine Zusammen- 
stellung von kongenitaler Anorchie der letzten 300 Jahre nach W. Gruber. 
Danach ist 1564 ein Soldat wegen Notzucht aufgehängt, welcher seziert wurde, 
ohne dass irgendwo etwas von Hoden gefunden wurde. Die übrigen Fälle 
sind anorche männliche Geschöpfe, welche mehr oder weniger Defekte und 
feminine Attribute aufweisen. Als gegenteilige Ergänzung hierzu kann eine Ver 
öffentlichung über einen Fall von kongenitalem Ovarialmangel angesehen werden, 
die von Olivet 1923 gemacht wurde. Es handelt sich dabei um ein 38 jähriges 
infantil entwickeltes Individuum von rein weiblicher Gestaltung, bei welchem 
bei der Obduktion trotz genauester Nachforschung keine Spur von Ovarialgewebe 
entdeckt wurde. Ausser Missbildungen anderer Art wie Hufeisenniere, Halsrippe 
usw. zeigte sich nur eine Anomalie in der Hypophyse in Gestalt eines Herdes 
von basophilen und eosinophilen Zellen. 

„Aus der Tatsache nun, dass sich z. B. innere und äussere männliche 
Geschlechtsorgane bei Individuen finden, welche nur Ovarien und nicht die 
homologe Keimdrüse besitzen; und ebenso innere und äussere weibliche Ge- 
schlechtsorgane bei Individuen, welche nur Hoden und keine Ovarien besitzen, 
erhellt ohne weiteres, dass die Entstehung der Geschlechtsorgane nicht von der 
homologen Keimdrüse abhängig sein kann, sondern dass sie vollkommen unab- 
hängig von dieser erfolgt. Aus allen diesen Überlegungen ergibt sich nun der 
Satz: Die Enstehung der übrigen Geschlechtsmerkmale ist nicht abhängig von 
der Keimdrüse.‘ 


Ferner wird die Frage nach der hemmenden Wirkung der Keim- 
drüse auf die Merkmale des anderen Geschlechts aufgeworfen. Auch 
diese Ansicht wird vornehmlich von Herbst vertreten. Nach 
Halbans Meinung liegt derselben der allgemein begangene Fehler 
zugrunde, „dass man das männliche Genitale und den männlichen 
Geschlechtstypus als den höheren in bezug auf die Entwicklung 
hinstellt“‘. Herbert Spencer und Darwin nannten das Weib 
einen in der Entwicklung zurückgebliebenen Mann. Das sei ganz 
unzutreffend und fusse nur auf den äusseren Genitalien, während 


6] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 141 


es für die inneren sowie manche sekundären Geschlechtsmerkmale 
gerade umgekehrt sich verhalte. Die Annahme der Hemmung wird 
abgelehnt mit dem Satz, „dass die Keimdrüse weder eine entwick- 
lungsauslösende Kraft besitzt für die homologen Geschlechtsteile, 
noch — wie dies mehrfach angenommen wurde — eine entwicklungs- 
hemmende oder sogar unterdrückende bezüglich der heterologen Geni- 
talien“. Halban gelangt daher zur folgenden Erklärung: „Ebenso 
wie die Keimdrüse durch eine uns unbekannte ‚„„‚geschlechtsbestim- 
mende Ursache“ in der D. Emtryonalwoche sich in dem einen 
Fall zu einem Ovarium, in dem anderen zu einem Hoden differenziert, 
ebenso differenzieren sich infolge derselben unbekannten geschlechts- 
bestimmenden Ursache im 3. Monat aus dem Geschlechtshöcker 
und aus den Müllerschen und Wolffschen Organen in dem einen 
Falle weibliche, in dem anderen männliche Genitalien“. Dieser Er- 
klärung müssen wir uns vollständig anschliessen und mit Halban 
bekennen, dass das Geschlecht eines Individuums mindestens bei 
der Befruchtung, wenn nicht schon davor entschieden ist, und wir 
aus der Unfähigkeit, beim „neutralen“ Embryo mit unseren Hilfs- 
mitteln einen Unterschied zu erkennen, keineswegs schliessen dürfen, 
dass auch keiner vorhanden ist. Also ist die bisher angenommene 
Indifferenz nicht weiter zu glauben möglich, sondern beruht darauf, 
dass wir nicht mehr erkennen können als ein indifferentes Stadium. 
Aus der weiteren Betrachtung ergibt sich, „dass sich die sekundären 
Geschlechtsmerkmale auch ohne das Vorhandensein der entsprechen- 
den Keimdrüsen entwickeln können,‘ und also „dass die homologen 
Keimdrüsen für die Entstehung der entsprechenden sekundären 
Sexualcharaktere nicht nötig sind.“ Was den Keimdrüsen übrig 
bleibt, ist kein formativer, sondern ein protektiver Ein- 
fluss, denn die Keimdrüsen haben sehr wohl einen wesentlichen 
Einfluss auf die volle Entwicklung und ‚Ausgestbaltung des übrigen 
Genitals.. Da Halban alles Entstehende schon im Keime vorhanden 
sieht, so lehnt er auch jede Angabe über eine plötzliche und ein- 
schneidende Veränderung während des Lebens eines Organismus 
aufs entschiedenste ab. Hierin aber nimmt Halban einen Stand- 
punkt ein, worin er ein gewisses Präjudiz schafft. Denn wenn er 
bei der von Kaltenbach-Krafft-Ebing beschriebenen Mas- 
kulinierung einer 30 jährigen vorher normalen Frau alle gründlichen 
und besonders alle plötzlichen Veränderungen mit Ausrufungs- und 
Fragezeichen versieht und sie so zweifelhaft zu machen sucht; 
wenn er ferner an Stelle der Krafft-Ebingschen Deutung: 
„Klimax praecox mit Untergang der bisherigen weiblichen Sexualität. 
Psychische und physische Entwicklung der bisher latent gewesenen 


142 ‘ Felix Spehlmann. {7 


männlichen Sexualität. Interessantes Beispiel für die Tatsache bi- 
sexueller Veranlagung und die Möglichkeit des Fortbestandes der 
anderen Sexualität im latenten Zustande unter bisher allerdings un- 
bekannten Bedingungen.“ — Wenn Halban diese Deutung ersetzt 
durch seine: „Pseudohermaphroditismus femininus secundaris. Die 
sekundären Geschlechtsmerkmale entwickeln sich langsam, so dass 
sie erst um das 30. Lebensjahr hervortreten. Die vorzeitige Meno- 
pause ist zurückzuführen auf eine gleichzeitige mangelhafte Entwick- 
lung der Ovarien, wie dies häufig in diesen Fällen vorkommt” — 
so können wir ihm hierin durchaus nicht folgen, denn Halbans 
Deutung scheint den Dingen keineswegs gerecht zu werden. 

Die grösstmögliche Einsicht in die Bildung der Geschlechts- 
gestalt und ihre Bedingungen ist uns, wie oben erwähnt, dort ge- 
währt, wo an einem Organismus von einer bestimmten Gestalt 
während seines Lebens plötzlich auftretende und einschneidende Ver- 
änderungen dieser seiner Gestalt vor sich gehen. Solche Verände- 
rungen sind in letzter Zeit häufiger beobachtet und beschrieben 
worden, wobei sich fast regelmässig an der Nebennierenrinde gleich- 
zeitig abnorme Vorgänge abspielen. Eine zusammenfassende und 
systematisierende Übersicht solcher Fälle veröffentlichte Mathias 
1922. Aus derselben geht schon hervor, dass in Fällen von korti- 
kalen Nebennierentumoren sowie von einfacher Rindenhyperplasie 
sich gleichzeitig grundlegende Veränderungen an den Genitalien 
der betreffenden Individuen ausbilden. Und zwar handelt es sich 
um folgendes: die Nebennierenveränderungen treten in jedem Alter 
auf. Befindet sich das Individuum noch vor der Geschlechtsreife, 
so erfährt es entweder eine gleichgeschlechtliche Frühreife, oder 
seine Genitalien wandeln sich nach der gegengeschlechtlichen Ge- 
stalt um. Ist es dagegen ein geschlechtsreifes Individuum, so erlischt 
die Funktion seiner Keimdrüsen und die übrigen Geschlechtsmerk- 
male werden denen des gegenteiligen Geschlechtes angenähert, soweit 
dieses anatomisch möglich ist. Danach unterscheidet Mathias drei 
Möglichkeiten der Veränderung: 

I. Isosexuelle Frühreife, 

II. Maskulinierung weiblicher Individuen, 

Ill. Feminierung des Mannes. 

Zur ersten Kategorie gehören die Fälle von Linser und Die- 
trich, Bullock und Sequeira, Herzog. 

Zur zweiten die von Rössle-Mathias, Israel, Krafft- 
Ebing, Jump Beates Babcock, Schiff, Benda, Fie- 
biger. 

Zur dritten die von Bittorf-Mathias und Brutschy. 


8] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 143 


Dazu könnte noch eine erhebliche Zahl von neuen Fällen hinzu- 
gefügt werden mit Ausnahme der dritten Kategorie. So der Fall 
P. Schneider, Krokiewicz und die zahlreichen früheren 
Fälle von Änderung der Geschlechtsmerkmale, bei denen über die 
Nebennieren nichts angegeben ist. 

Jedenfalls sehen wir die Tatsache, dass die Nebennierenrinde, 
sowohl in früher als auch in später Zeit der Entwicklung eines 
Organismus auf die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale 
desselben einen durchgreifenden Einfluss ausüben kann. Derselbe 
ist entweder ein protektiver nach der Art, wie ihn Halban den 
Keimdrüsen zuschreibt; oder er ist ein ausgesprochen formativer. 
Dabei kann diese Einwirkung sowohl im Sinne des Geschlechtes des 
Individuums als auch im Sinne des gegenteiligen Geschlechtes er- 
folgen. , | 

So wenig begreiflich diese Erscheinung von seiten der Neben- 
nieren anfangs war, so war es das Verdienst Knud Krabbes 
durch die Knüpfung eines Zusammenhanges zu den genitalen Organen 
einen Hinweis für die Erklärung dieser Wirkungsweise gegeben zu 
haben. Krabbe greift nämlich zurück auf die homologe Abstam- 
mung der Keimdrüsen und der Nebennierenrinde vom Kölomepithel 
der lateralen Urnierennische, wie es in der einschlägigen Arbeit 
von Alfred Kohn ausgeführt ist. 


So schreibt Krabbe am Ende seiner Arbeit „The relation between the 
adrenal cortex and sexual development“ (in Übersetzung): „In Anbetracht des 
Einflusses der Nebenniere auf die sexuelle Entwicklung muss an eine andere 
Wechselbeziehung erinnert werden. Wir können nicht aus der pathologischen 
Funktion der Geschwülste einen Schluss auf die normale Funktion der Neben- 
nierenzellen ziehen. Man muss sich erinnern, dass wir es nicht mit einer ein- 
fachen Hyperplasie zu tun haben, sondern mit einer Entwicklung bösartiger 
Tumoren, deren Zellen in vielen Fällen sehr verschieden sind von den 
normalen Nebennierenrindenzellen. Aber abgesehen von diesen Fragen ist eine 
Erscheinung auffallend: wenn die Nebennierenrinde wirklich irgendeinen Ein- 
fluss auf die Entwicklung der Pubertät hat, warum bewirkt die Hypersekretion 
bei Mädchen eine männliche Pubertät und nicht eine weibliche? Es wäre diese 
Tatsache schwer aus der Theorie zu erklären, dass die Nebennierenrinde 
normalerweise einen Einfluss auf die weibliche Geschlechtsentwicklung hat. 
Man muss sich erinnern, dass der Einfluss auf die Geschlechtsentwicklung, den 
wir von den anderen innersekretorischen Drüsen kennen, wie Schilddrüse, Hypo- 
physe usw., derart ist, dass sie Bedingungen sind für die männliche Entwicklung 
bei Männern und für die weibliche Entwicklung bei Frauen. Und ferner wissen 
wir, dass, obgleich eine Verzögerung der Pubertät im Falle von Insuffizienz der 
Thyreoidea und Hypophyse vorhanden ist, keine genitale Frühreife in Verbin- 
dung mit Geschwülsten dieser Drüsen vorkommt. Abgesehen von Fällen von Ge- 
schwülsten der Zirbeldrüse, die immer Teratome gewesen sind, nicht pineale 
Adenome oder Karzinome, ist unsere Kenntnis der Komplikation von Ge- 


144 Felix Spehlmann. [9 


schwülsten mit genitaler Frühreife nur entnommen den Nebennierentumoren und 
Tumoren der Eierstöcke und Hoden. 

In Anbetracht aller dieser Tatsachen glauben wir, dass eine andere Theorie 
aufgestellt werden könnte, die die seltsame Tatsache von Nebenniereurinden- 
tumoren, welche sowohl bei Männern wie bei Frauen eine männliche Pubertät 
erzeugen, besser erklären könnte und die für die Mehrzahl der Fälle von ge- 
schlechtlicher Frühreife einen einheitlichen Standpunkt geben könnte: nämlich 
die Hyperfunktion der interstitiellen Hoden- oder Eierstockzellen. 


Marchand, der Nebennierenhypertrophie bei weiblichem Hermaphro- 
ditismus beschrieben hat, hat sie bezogen auf die Entwicklung von Eierstöcken 
und Nebennieren im fötalen Leben. Wir 'wollen seinem Beispiel folgen, indem wir 
versuchen, den Virilismus, verbunden mit Nebennierentumoren bei Mädchen zu 
erklären. Es ist wohl bekannt, dass der erste Ursprung der Nebennierenrinde vom 
Endothei der Leibeshöhle aus sich entwickelt. Gerade neben dem Sitz der 
Nebennieren ist der Ursprungsort der Hoden und Eierstöcke. Aus den For- 
schungen von Laulanie, Janosik, Nagel und Coert, deren Ergebnisse 
in die Handbücher von Hertwig und Broman aufgenommen sind und noch 
1920 von einer wichtigen Arbeit von Kohn bestätigt worden sind, wird ange- 
nommen, dass der Ursprung des Eierstockes hermaphroditisch ist. Während der 
Hoden sich fast direkt aus dem ursprünglichen indifferenten Zustand entwickelt, 
passiert der Eierstock einen Zustand, in welchem der kortikale Anteil als weib- 
lich betrachtet werden kann, wogegen der tiefere, markige Anteil als männlich 
oder hodenähnlich anzusehen ist. Während der Entwicklung bleibt der männliche, 
markige Anteil rudimentär. Dieser männliche, markige Teil ist es, welcher auf 
einer gewissen Stufe innig verknüpft ist mit den niederen Entwicklungsstufen 
der Nebennierenrinde. Diese Verschiedenheit der Entwicklung bei männlichen 
und weiblichen Individuen, die rein hodenähnliche Anlage bei männlichen 
Embryonen, die ovariotestikuläre Anlage bei weiblichen Embryonen und der 
Zusammenhang zwischen dem hodenähnlichen Teil und der Nebennierenrinde 
würde denn die Verschiedenheit im Beginn der Pubertät bei Kindern mit Neben- 
nierentumoren erklären, welche reine Pubertas praecox bei Knaben und männ- 
liche Reifezeichen bei Mädchen hervorruft. Die Theorie, die auf diesen 
Parallelismus zwischen fötaler Entwicklung und Wirkung der Geschwülste ge- 
gründet werden könnte, ist folgende: die Nebennierenrindengeschwülste in den 
beschriebenen Fällen entwickeln sich von einer abnorm gelegenen Nebenniere her. 
Die Abnormität besteht darin, dass der männliche Teil des Eierstockes nicht 
rudimentär geworden ist, sondern in die Nebenniere aufgenommen ist und zu 
einem Teil derselben sich entwickelt hat. Die Geschwulstzellen, welche von der 
Nebennierenrinde sich entwickeln, sind daher nicht von den Nebennieren- 
rindenzellen im gewöhnlichen Sinne entstanden, sondern von Zellen, die ur- 
sprünglich den markigen (männlichen) Teil des Eierstockes darstellten. Diese 
Beziehung findet Ausdruck darin, dass die Geschwulstzellen ein Hormon mit 
charakteristischen Merkmalen eines testikulären Hormons absondern. Mit anderen 
Worten: es bringt männliche Merkmale hervor, verursacht bei Mädchen viri- 
lismus.‘ 


Diese Theorie Krabbes reicht bei weitem mehr dazu aus, 
die Erscheinungen der Veränderungen der Geschlechtsmerkmale zu 
erklären, als die vorher gemachten Versuche. Ja diese Erklärung 
Krabbes würde allen hierüber bekannten Tatsachen gerecht werden, 


10] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 145 


indem sie eine lückenlose allgemeine Formel für sie darstellte, wenn 
nicht zwei Fälle existierten, welche in offenem Widerspruch damit 
stehen: das sind die Fälle Bittorf-Mathias und Brutschy; 
der erste betrifft die Effeminierung eines normalen, reifen Mannes 
durch ein Hypernephrom, der zweite einen Pseudohermaphroditismus 
masculinus externus bei Nebennierenhyperplasie. Sehen wir vor- 
läufig von diesen beiden ab, so bleiben ausser den Maskulinierungen 
reifer und unreifer Frauen, die ja primär unter die Erklärung der 
Theorie Krabbes fallen, noch die Fälle übrig, in denen Knaben 
eine vorzeitige Geschlechtsreife durch Hypernephrom erfahren. 

Auch diese bespricht Krabbe im Zusammenhang: „In den 4 Fällen von 
Pubertas praecox bei Knaben mit Nebennierentumoren ist anzunehmen, dass der 
Fintritt der Pubertät in ähnlicher Weise vor sich gegangen ist. Es ist wahrschein- 
lich, dass in diesen Fällen der Tumor von einer abnorm gelagerten Nebenniere 
sich entwickelt, einer Drüse, welche zum Teil aus der testikulären Grundlage 
stammt und deren Zellen daher ein Hormon ähnlich dem Hodenhormon er- 
zeugen mögen.“ 


Der Vorgang, mit welchem wir es hier nach Krabbes Ansicht . 
zu tun haben, gleicht in hohem Grade derjenigen Vorstellung, welche 
der Lehre von der Keimversprengung oder -verlagerung zugrunde 
liegt. Dieser Vorgang ist bekanntlich von Cohnheim für die 
Entstehung der Geschwülste überhaupt verantwortlich gemacht 
worden und unsere Frage würde demnach nur einen speziellen Fall 
davon darstellen. Wenn wir den Zeitpunkt in der Ontogenie in 
Betracht ziehen, in welchem wir uns den Beginn dieses Geschehens, 
vielleicht sogar den Anlass desselben vorzustellen hätten, so wird 
sich wohl heute niemand finden, welcher als solchen irgendeinen 
zufälligen, womöglich mechanischen Insult oder ähnliches annehmen 
wollte; sondern es ist fast allgemeine ‚Ansicht, dass die Vorbedin- 
gungen einer solchen teilweisen Fehlentwicklung mit grösster Wahr- 
scheinlichkeit in den Beginn der Ontogenie selbst, in die Befruch- 
tung zu verlegen sind. Dabei ist es nicht der Vorgang: der Befruch- 
tung, welcher die Entstehung der ätiologischen Faktoren zur Folge 
hat. Sondern die Entwicklungsenergien sind stets gleicherweise im 
Keimplasma vorhanden und der Befruchtung kommt in diesem Sinne 
nicht die Bedeutung einer Zäsur (Rössle) zu. Wenn wir also die 
uns im einzelnen unbekannten Bedingungen solcher Erscheinungen 
letzten Endes in gewissen Eigenschaften des Keimplasmas suchen, 
so liegt als nächste Annahme auf der Hand, bei Individuen von 
gleichem oder ähnlichem Keimplasma gleiches oder ähnliches Auf- 
treten solcher Erscheinungen zu erwarten, 'd. h. dass wir das familäre 
Auftreten dieser Erscheinungen für sehr wahrscheinlich halten 
müssen. Diese Annahme wird tatsächlich auch in einer Reihe von 


146 Felix Spehlmann. [11 


Fällen bestätigt. So sind von Durlacher 1912 zwei Fälle be- 
schrieben bei einem 1?/, jährigen Kinde und seinem 1/, jährigen 
Schwesterchen. Das ältere Kind war bei seiner Taufe für ein weib- 
liches gehalten worden. Es hatte eine tiefe Stimme, war kräftig 
entwickelt, besass ein starkes Fettpolster an den Mammae und dem 
Mons Veneris. Die Brustdrüsen waren stark entwickelt. Die äusseren 
Genitalien waren dicht mit 2 cm langen Haaren bestanden. Die 
Klitoris war penisartig mit einem Präputium, welches nach 
unten offen war und in die kleinen Labien überging. Die Klitoris 
glich einem hypospadischen Penis; die Urethra war gut entwickelt; 
darunter befand sich eine kreisrunde, 3 mm ‚weite Öffnung, welche 
einer Sonde auf 7 cm Eintritt liess. Hoden wurden nirgends ge- 
fühlt. Die jüngere Schwester hatte eine nur wenig vergrösserte Glans 
der Klitoris; dagegen stark vergrössert waren das Frenulum und 
Präputium sowie die Nymphen, welche einer 15 jährigen Entwick- 
lung glichen. Alles Übrige war normal weiblich. Aus Analogie mit 
. anderen Fällen können wir mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, 
dass die Nebennierenrinde dieser Geschwister hyperplastisch gewesen 
ist. Denn es muss hier sofort auf die bekannte Tatsache hingewiesen 
werden, dass Erscheinungen ganz derselbne Art beobachtet werden, 
einerseits im Gefolge von Tumoren der ‚Nebennierenrinde, anderer- 
seits bei einfach hyperplastischen Zuständen derselben. Es ist be- 
kannt, dass eine gewisse Klasse der als Pseudohermaphroditen ge- 
borenen und lebenden Individuen bei Gelegenheit einer Autopsie in 
vivo oder mortuo die Nebennierenrinde weit über das gewöhnliche 
Mass hinaus vergrössert zeigt. Trifft diese auffällige und allein- 
stehende Vergrösserung der Nebennierenrinde mit der auffälligen 
Fehlgestaltung im Bereich der Genitalien zusammen, und will man 
zwischen diesen beiden Erscheinungen Zusammenhänge in der Art 
von Anlass und Wirkung annehmen, so ist es beinahe nicht anders 
möglich, als sich den Anlass in der Weise eines Zuviel, einer Über- 
funktion (entsprechend der Überbildung des Organs) seitens der 
Nebennierenrinde zu denken. Besteht andererseits eine Koinzidenz 
von jnalignem Rindentumor und den nahezu gleichen: morphologischen 
Erscheinungen am Genitale, und wollen wir zwischen beiden 
wiederum den obigen Zusammenhang annehmen, so müssen wir die 
gleiche Wirkung auf wahrscheinlich wohl den gleichen Anlass zurück- 
führen und daher eine Überfunktion von Nebennierenrinde denken. 
Also muss diese Überfunktion geknüpft sein an die Tumorbildung 
der Rinde, also muss der Tumor nach unserer Annahme eine ge- 
steigerte Rindenfunktion besitzen. 

Der Unterschied in den morphologischen Erscheinungen ent- 


12] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 147 


spricht völlig dem Unterschiede im zeitlichen Verlauf der beiden 
Vorgänge an den Nebennierenrinden: die Hyperplasie ist gewöhnlich 
ein seit dem Bestehen des Organismus vorhandener Zustand, dem 
eine kaum sich ändernde pseudohermaphroditische Gestalt des ganzen 
Körpers zur Seite steht; während der maligne Tumor stets ein plötz- 
liches Ereignis darstellt und dementsprechend auch von einer jähen 
und einschneidenden Veränderung des ganzen Organismus begleitet 
ist (P. Schneider). Trotzdem diese letzte Tatsache nur zu einwand- 
frei feststeht, lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass bei den 
kongenital-hyperplastischen Fällen der Zusammenhang in derselben 
Weise wie bei den Tumoren von Bedingung ‚und Wirkung mit einem 
gewissen Recht angezweifelt werden kann und auf ein anderes Ver- 
hältnis der beiden Erscheinungen mit nicht unerheblicher Wahr- 
scheinlichkeit nach der Art Halbans hingewiesen werden kann. 
Nämlich, wie auch wir glauben, dass es nicht wahrscheinlich ist, 
eine bedingende Einwirkung seitens einer innersekretorischen Drüse 
zur Zeit des dritten Monats auf die Gestaltung eines Organsystems 
anzunehmen, zumal doch zu jener Zeit die Sekretion dieser Drüse 
wohl kaum stattfindet, so ist hierbei doch das Ersichtlichste — wie ` 
oben bei Halban angeführt — die beiden Erscheinungen als dem 
Range nach gleichwertig nebeneinanderstehend der im Keime vor- 
handenen „unbekannten geschlechtsbestimmenden Ursache“ unter- 
geordnet zu denken. Diese Betrachtung soll uns aber nicht zu 
einer Einseitigkeit veranlassen ; denn schon in der ao in die Augen 
fallenden Koinzidenz dieser beiden Ereignisse ist ein sehr enger 
Zusammenhang beider vorhanden. Um Halbans Argument hierauf 
zu modifizieren: aus unserer Unfähigkeit, die A'rt des Zusammen- 
hanges zu erkennen, dürfen wir nicht schliessen, dass auch’ keiner 
vorhanden ist. 

Anschliessend betrachten wir die weiteren Fälle von familiär 
auftretenden Geschlechtsmissbildungen begleitet von Nebennieren- 
anomalien. 

Loeser und W. Israel beschreiben den Fall von zwei Schwestern von 
19 und 21 Jahren. Ihr Wachstum soll mit 12 bzw. 13 Jahren vollständig auf- 
gehört haben. Bei ihnen zeigten sich „Barthaare am Kinn und an der Oberlippe, 
sowie eine männliche Behaarung des Unterbauches. Die Stimme wurde tiefer, 
und zwischen den Schamlippen kam, an Grösse allmählich zunehmend, ein 
männliches Glied zum Vorschein.‘ Die Brüste blieben unentwickelt, Menstruation 
fehlte. Das Geschlechtsgefühl war weiblich und beide verkehrten mit Männern. 
Die Gliedmassen sind sehr kurz, die Phalangen sind auffallend kurz. Es wird eine 
Laparotomie vorgenommen, bei der sich ein kleiner Uterus findet, an dem ein 
hodenähnlicher Körper sitzt. Dieser, sowie ein ähnlicher am Ende der einen 
Tube, erweisen sich als Ovarium mit Corpora albicantia. Die jüngere Schwester 
zeigt äusserlich fast genau denselben Bau. Durch Pneumoradiogramm wird bei 


148 Felix Spehlmann. [18 


der älteren Schwester links eine ungewöhnlich vergrösserte Nebenniere gefunden. 
Daraus wird auf den gleichen Zustand der anderen Seite und auch bei der 
jüngeren Schwester geschlossen. 

Diesen Fällen reiht sich ein Fall an vom Vorkommen dieser Missbildung 
bei drei Schwestern. 

Die eine dieser Schwestern ist die 42 jährige plötzlich verstorbene Person, 
welche von P. Fraenckel seziert und deren Skelett von Waldeyer be- 
schrieben ist. Dieser Fall wird von Mathias in seiner Arbeit im Zusammen- 
hang mit der anderen Schwester besprochen, welche von Küstner operiert 
worden ist und sich noch am Leben befindet. Um unnötige Wiederholungen 
zu vermeiden, verweise ich auf die Beschreibungen von P. Fränckel, 
Waldeyer und Küstner, sowie auf die Besprechung von Mathias. Das 
Wesentliche an diesen zwei Schwestern ist folgendes: beide sind mit kongenitalen 
virilen Anomalien der Geschlechtsmerkmale behaftet; an der einen werden bei der 
Obduktion erheblich vergrösserte Nebennieren gefunden, welche eine Rinden- 
hyperplasie aufweisen. Daraus wird mit einer an Sicherheit grenzenden Wahr- 
scheinlichkeit gefolgert, dass die Nebennieren der operierten Schwester die 
gleichen Veränderungen besitzen müssen. Die besondere Bedeutung dieses 
Falles ist die, dass ihm seit 11 Jahren seine Keimdrüsen entfernt sind und 
diese anatomische Veränderung keine wahrnehmbaren morphologischen oder 
physiologischen Veränderungen nach sich gezogen hat, wie eine im Sommer 
1923 stattgehabte Nachuntersuchung von L. Fraenkel und Mathias ergeben 
hat.1) Daraus kann abgeleitet werden, dass der Einfluss der Keimdrüsen auf 
die Geschlechtsgestaltung und Funktion des Körpers, welcher auch immer er 
sei, in diesem Falle von den Nebennieren ausgeübt wird. Denn ist einmal ein 
Zusammenhang zwischen Nebennierenhyperplasie und Morphogenese der sekun- 
dären Geschlechtsmerkmale angenommen und bleibt andererseits nach Kastration 
die übliche Veränderung durch den Ausfall eines Einflusses aus, so ist der 
Schluss sicher, dass dieser selbe, sonst den Keimdrüsen gehörende Einfluss, 
in diesem Falle seinen Sitz in der Nebennierenrinde hat. 

Nun reiht sich diesen zwei Schwestern die dritte Schwester an. Diese 
ist 1923 von Maicher in einer Inaugural-Dissertation beschrieben worden, 
in welcher er nach einer Darstellung der Genitalentwicklung die drei Schwestern 
nacheinander bespricht. Da zwei Schwestern bereits aus der Literatur hin- 
länglich bekannt sind, entnehme ich der Arbeit Maichers nur die Angaben 
über die dritte Schwester. 

„Frau Martha L.... geb. den 29. IX. 1877... begab sich im August 
1909 wegen Unterleibschwellung, die mit Schmerzen verbunden war, in die Be 
handlung des Frauenarztes Dr. Schubert in Beuthen O.-S., der einen Tumor 
des Uterus feststellte und ihr eine Operation, mit welcher sie sich einverstanden 
erklärte, vorschlug. 

Martha L. ist seit 1906 kinderlos verheiratet. In der Familie sind Nerven- 
und Geisteskrankheiten nicht vorgekommen, auch angeblich nicht in der ent- 
ferntesten Verwandschaft. Die Eltern waren nicht blutsverwandt. Der Vater 
starb im Jahre 1894 an Cholera. Er war körperlich gesund, im Genuss von 
Alkohol mässig. Die Mutter lebt und hat 11 Kinder geboren. Zwei Schwestern 





1) Den Bemühungen von Herrn Prof. Fraenckel und Herm 
Prof. Mathias verdanke ich so manche freundliche Beihilfe zu der Ent- 
stehung dieser Arbeit. | i 


14] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 149 


— beide unverheiratet — fallen auch durch ihr männliches Aussehen auf. Von 
diesen machte Olga — die 5. an Geburt — vor mehreren Jahren in Breslau eine 
Unterleibsoperation durch. Der Arzt ist ihr nicht bekannt. Sie war etwas 
trunksüchtig.“ Hier folgen Mitteilungen über die Entdeckung der anderen 
Schwester durch Verf.. Darauf fährt er fort. „Von den übrigen Geschwistern ist ein 
Bruder kinderlos verheiratet. Frau L. nimmt an, dass auch dieser geschlechtlich 
nicht normal gebaut ist. Ein Bruder war dem Alkohol stark zugetan. Er starb 
im Alter von 38 Jahren. Frau L. hatte als Kind schwere Krankheiten nicht durch- 
gemacht, insbesondere nicht an Krämpfen, Bettnässen, Kopfschmerzen und 
anderen Störungen gelitten. Vom 6. Lebensjahr an besuchte sie die Volksschule 
in K. Sie zählte stets zu den besten Schülerinnen. Als Kind haben sich bei ihr 
besondere Neigungen im Spiel, z. B. Puppen oder Soldaten, nicht gezeigt. Auch 
später bestand keine Neigung zum Zigarenrauchen oder sonstige männliche 
Neigungen. Sie beschäftigte sich vielmehr gern mit weiblichen Arbeiten — 
Nähen, Stricken, Kochen usw. M. L. hat sich stets zum männlichen Geschlecht 
hingezogen gefühlt. Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht hat sie nie ge- 
pflogen, auch keine Freundschaft unterhalten. Seit dem 19. Lebensjahr entfernt 
sie mit einem Pulver „Haarschwund‘“ ihren starken Bartwuchs — Schnurr- und 
Backenbart. Als junges Mädchen hatte sie sehr schönes Haupthaar; vor wenigen 
Jahren ist ihr das Haar sehr ausgegangen, und zwar nach einer Kopfrose, die 
sie durchgemacht hat. Jetzt trägt sie eine Perücke. Seit dem 14. Lebensjahr 
haben sich bei ihr oft Leibschmerzen eingestellt. Deswegen wurde sie von den 
Eltern wiederholt zum Arzt geschickt. In den späteren Jahren musste sie oft 
die Arbeit auf der Grube, wo sie arbeitete, wegen Schmerzen im Leibe ein- 
stellen. Im 24. Lebensjahr hat ihr ein Arzt eine Unterleibsoperation vorge- 
schlagen, zu der sie sich aber nicht entschliessen konnte. Mit 29 Jahren hat 
sio geheiratet. In ihrem 30. Lebensjahr hat sich zweimal die ‚Regel‘ eingestellt, 
sonst will sie nie Monatsblutungen gehabt haben. Das erste Mal erfolgte Abgang 
von Stücken Blutes, bei der zweiten Regel ging flüssiges Blut ab, das mit 
Schleim vermischt war. Die Blutungen hielten 2 bis 4 Tage lang an und waren 
mit heftigen Kreuz- und Unterleibschmerzen verbunden. An Nasenbluten hat sie 
nicht gelitten. Beim Beischlaf empfand sie Wollustgefühle, doch bereitete ihr 
derselbe immer Leibschmerzen. Etwa ein Jahr nach der Verheiratung bemerkte 
sie eine auffallende Zunahme ihres Leibesumfanges. Sie wurde allgemein in 
erster Zeit für schwanger gehalten. Doch musste sie sich bald sagen, dass es 
sich hier um etwas anderes handelte. Sie begab sich mit ihrem Leiden zum 
Frauenarzt Dr. Schubert Beuthen, der sie über ihren Zustand genau auaf- 
klärte. Jetzt fiel es ihr nicht schwer, in eine Operation einzuwilligen. 


Status am 15. August 1909. Frau MarthaL. ist 150 cm gross, von kräfti- 
gem Körperbau und gutem Ernährungszustande. Der Kopf ist breitknochig. Die 
Ohrmuscheln sind mittelgross; die Ohrläppchen sind für Ohrringe durchlöchert. 
Auf dem Kopfe trägt sie eine Perücke mit einem falschen Zopf. Nach Abnahme 
derselben bemerkt man das blonde und schwache Kopfhaar. Die Augenbrauen 
und Augenwimpern sind stark entwickelt. Die Stirn ist vorstehend und männ- 
lich gerunzelt. Der ganze Gesichtsausdruck ist durchaus männlich. Es besteht 
starker Bartwuchs. Der Hals ist mittellang, der Kehlkopf vorstehend wie beim 
Manne. Die Stimme ist tief. 


Der Brustkorb ist kräftig gebaut, gut vorgewölbt und elastisch. Die Schlüssel- 
beingruben sind nicht eingefallen. Die Schultern sind etwas abfallend. Die 
Brüste zeigen männlichen Typus. Die Brustdrüsen sind nicht zu fühlen. Der 


150 Felix Spehlmann. [15 


Atemtypus ist abdominal. Herz, Lungen ohne nachweisbare Abweichungen. 
Milz, Leber nicht vergrössert. Der Leib ist zwischen Nabel und Schambeinbogen 
sichtbar vorgewölbt. Die Hüften zeigen männlichen Charakter. Die Wirbelsäule 
ist o. B. Die Extremitäten sind muskulös und kräftig entwickelt. Insbesondere 
die Hände und Füsse. Die Gelenkkonturen sind überall gut männlich ausgeprägt. 
Die Muskulatur ist am ganzen Körper kräftig, das Fettpolster nur in mässigem 
Grade entwickelt. Gliedmassen, Bauch, Brust und Rücken sind mit starkem 
Haarwuchs besetzt. 

Am Nervensystem und Geist sind Abweichungen nicht wahrzunehmen. 
Von Messungen führe ich an: 


Körperlänge 150 cm, 

Kopfumfang 56 cm, 

Halsumfang 361/4 cm, 

Brustumfang in Warzenhöhe 88/93 cm, 

Bauch in Nabelhöhe 94 cm. 
Becken: | 

Distantia spinarum 26 cm, 

Distantia cristarum 30 cm, 

Distantia trochanterum i 32 cm, 

Conjungata externa 22 cm. 
Gliedmassen : 

Armlänge 64 cm, 

Beinlänge (Spitze des Trochanter maior 

bis Fussohle) 75,5 cm. 


Genitalien: Der Mons Veneris ist fettarm. Dieser sowie die grossen Labien 
und die Analgegend sind ziemlich stark behaart. Die Behaarung setzt sich nach 
oben in der Linae alba bis zum Nabel fort. Die grossen Labien sind mittel- 
stark entwickelt. Die Vulva ist geschlossen. Die Klitoris ist zum Penis ausge- 
wachsen mit sehr deutlichem Präputium und gut ausgebildeter Glans. Die 
Vorhaut bedeckt nicht die Glans, lässt sich aber so weit vorziehen, um dieselbe 
zu bedecken. Bei der Untersuchung erigiert sich dieselbe zu fast Zeigefinger- 
grösse. Durchbohrung durch die Harnröhre ist nicht vorhanden. Die Lefzen 
liegen einander an und vereinigen sich dammwärts unter einem spitzen Winkel. 
Die kleinen Labien sind nur kümmerlich entwickelt. Ausführungsgänge von sper- 
matischen Gefässen sind nicht festzustellen. Bei der Palpation sind Geschlechts- 
drüsen weder im Leistenkanal noch in den Labien zu fühlen. Das Orificium 
externum Urethrae liegt an der Wurzel der Klitoris, ist ziemlich weit und fast 
für die Kuppe eines kleinen Fingers durchgängig. Es entleert sich Harn bei der 
Einführung eines Katheters in diese Öffnung. Es liegt im Vestibulum vaginae 
oberhalb des Scheideneinganges. Letzterer ist oben von Hymenresten um- 
geben. Die Vagina ist gut für einen Finger durchgängig. An den Scheiden- 
wandungen sind ziemlich deutlich die Columnae rugarum zu fühlen. Im hinteren 
Scheidengewölbe fühlt man mit dem Finger deutlich die Portio uteri, die für 
die Untersuchung ohne weiteres zugänglich ist. Bimanuell tastet man einen sehr 
kleinen Uterus, der mit einem kindskopfgrossen Tumor in Zusammenhang zu 
stehen scheint, der sich derb und kugelig anfühlt. Er reicht nach oben bis zum 
Nabel. Schulze Phänomen --. Ovarien sind bei der Enge der Scheide und bei 
den straffen Bauchdecken nicht zu tasten. 


Operation am 16. August 1909. 


16] ] Über Nebennierenrinde und Geschlechtsbildung. 151 


In der Linea alba, etwa 2 cm unterhalb des Nabels beginnend, wird ein 
Schnitt bis zur Symphyse gemacht. Nach Eröffnung des Abdomens präsentiert 
sich der in ein etwa kindskopfgrosses, bis zum Nabel reichendes Kugelmyom 
aufgegangene Uterus, der vorn und rechts seitlich kleine Stränge aufweist, die 
teils zur vorderen Blasenwand, teils zur Bauchwand ziehen und mit dem Messer 
mühelos durchtrennt werden. Die Ligamenta rotunda verlaufen bis etwa zur 
Mitte des Tumors. Der Tumor selbst hat sich zum grössten Teil im Fundus und 
der Hinterwand des Uterus entwickelt. Nach Herauswälzen des Tumors vor die 
Bauchdecken erblickt man etwa 3 cm fundalwärts von den Ansätzen der 
Ligamenta rotunda die beiden Tubenansätze.e Die Tuben selbst zeigen ein 
normales Aussehen. Hinter den Tuben sitzen an ganz regelrechter Stelle die 
makroskopisch normal aussehenden Ovarien. Auffallend ist, dass die Umschlag- 
stelle des Blasenperitoneums, nicht in der Gegend des inneren Muttermundes, 
sondern über dem oberen Teil der Scheide sich befindet.‘ Weiter wird anfangs 
die supravaginale Amputation beabsichtigt, jedoch beim suspekten Aussehen 
des Tumorquerschnittes die Totalexstirpation ausgeführt, wobei ein Ovarium 
zwecks Untersuchung mitgenommen wird. Postoperativer Verlauf normal. 

Die im Pathologischen Institut in Breslau vorgenommene mikroskopische 
‘ Untersuchung von Tumor und Ovarium zeigt, dass es sich um ein Leiomyom 
handelt mit lockerem etwas infiltriertem Zwischengewebe. Das Ovarium weist 
einige Follikularzysten auf. Normale Follikel in reichlicher Zahl sind vorhanden. 


Trotzdem auch bei diesem Fall keine Angaben über die Neben- 
nieren vorhanden sind, kann durch Analogie geschlossen werden, 
dass sie sich ganz ähnlich verhalten werden, wie bei der von 
P. Fraenckel obduzierten Schwester. Wir schliessen uns hierin 
der Ansicht an, wie sie Mathias vertritt, dass es jedesmal ein 
ausgesprochen hyperplastischer Zustand ist, welcher während des 
ganzen Lebens offenbar keinen akuteren Entwicklungsschub gezeigt 
hat. Nach unserer Kenntnis aber von dem allgemeinen Verhältnis von 
hyperplastischen Zuständen und malignen progredienten Neoplasmen 
muss angenommen werden, dass in den ersteren stets die Möglichkeit 
eines plötzlichen Überganges in das .letztere vorhanden ist; analog 
der Pigmentanomalie eines Naevus, welcher stets in ein Melanom 
übergehen kann. Abgesehen von äusseren Anlässen, welche in ihrer 
ätiologischen Bedeutung gewöhnlich sehr zweifelhaft sind, kommt es 
augenscheinlich auf den Grad der Wachstumsenergie an, welche eine 
solche Gewebsanomalie besitzt, um sie das eine Mal zur progre- 
dienten Entwicklung zu veranlassen, das andere Mal beliebig lange 
in ihrem anfänglichen Zustande verharren zu lassen. Dabei lehrt 
uns die Erfahrung, dass in den allermeisten Fällen der Tumor schon 
in ganz früher Jugend mit seinem ‚Wachstum einsetzt; tut er es 
dann nicht, so kommt es gewöhnlich nicht zu seiner Entwicklung, 
sondern es bleibt bei der einfachen Hyperplasie. 


Wenn demnach ein aus der Nebennierenrinde hervorgehendes 
Gewächs auf die Gestaltung des Organismus einen Einfluss hat, 


152 Felix Spehlmann [17 


welcher der Art des Einflusses der Keimdrüse völlig gleicht (wobei 
es gleichgültig ist, in der Richtung welches Geschlechts sich die 
Wirkung kundgibt), wenn andererseits die viel grössere Anzahl der 
Nebennierengewächse eine solche Wirkung gänzlich vermissen lassen ; 
wenn wir endlich die von Krabbe dargestellte Rntwicklungsgemein- 
schaft von 'Nebennierenrinde und Keimdrüse in Betracht ziehen, so 
können wir daraus die sehr wahrscheinliche Annahme herleiten, dass 
vom geschlechtlich bestimmenden Gewebe des Körpers, welches 
normalerweise nur in den Keimdrüsen enthalten ist, in manchen 
Fällen auch ein Anteil während der Entwicklung in die Neben- 
nierenrinde gelangt und von dort aus in höherem oder geringerem 
Grade zur Wirksamkeit kommt. 

In Anbetracht dieser Umstände wäre die Deutung der Mar- 
chandschen Nebennieren, welche sich oft im Ligamentum latum 
und an anderen Stellen vorfinden, eine solche, dass auch sie in 
vielen Fällen nicht eigentliche Nebennieren sind, sondern aus ge ` 
schlechtsbestimmendem Gewebe bestehen, welches normaliter sich 
nur in den Keimdrüsen findet. Dass ein solches Gewebe nicht auch 
noch die Struktur einer Keimdrüse — wenn auch nur unvollkommen 
— aufweist, liegt auf der Hand. Denn das Wesen dieser Missbildung 
besteht ja gerade darin, dass ein Gewebsanteil, welcher sonst zum 
Aufbau eines bestimmten Organs (der Keimdrüse) verwendet wird, 
nun „fälschlicherweise“ in den Bau eines anderen Organs (der 
Netennierenrinde) gerät und so die morphologische Struktur des 
jenigen Organs trägt, dessen Bau es eingegliedert ist; in seiner 
Funktion dagegen zurückgreift auf die Wachstumsenergie derjenigen 
Gewebsanlage, weleher es entstammt. 

Wir gelangen zu dem Ergebnisse, dass trotz der hohen Ähn- 
lichkeit der Erscheinungen bei Hyperplasie der Nebennierenrinde 
und Tumor zwischen beiden keine völlige Einheitlichkeit herrscht. 
Die erstere ist den genitalen Erscheinungen mehr oder weniger bei- 
geordnet, ohne einen nachweislichen bestimmenden Einfluss auf sie 
auszuüben, während der letztere dieselben ohne Zweifel bedingt. 
Zwischen beide kann als vermittelndes Glied der Fall Löser und 
Israel gestellt werden, bei dem wir es augenscheinlich mit einer 
Hyperplasie zu tun haben und bei welchem das Wachstum der 
Klitoris angeblich beobachtet wurde. 

In jedem von diesen Fällen aber muss man sich die Wirkung 
als auf innersekretorischem Wege hervorgebracht denken. 

Demgegenüber stehen die Halbseitenmissbildungen, welche nicht 
durch innere Sekretion bedingt sein können und für deren. Ent- 
stehen notwendig andere Anlässe zu suchen sind. Ä 


17] Über Nebennierenrinde und Geschlechtebildung. 153 


So zeigt sich, dass die Bedingungen für die Geschlechtsbil- 
dungen von mehr als nur einer Art sein müssen. 


Literatur. 


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Kryptorchiasis sinistra. Virch. Arch. 126. 

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Archiv für Frauenkunde Bd. X. H a II 


154 


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30. 


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II 


Aus dem erbwissenschaftlichen Seminar der Universität Berlin 
(Leiter Prof. Dr. Poll). 


Über den Ursprung der Intersexualität beim 
Menschen. 


Von 
Dr. Kurt Wolff, Berlin. 


E 


I. Moderne Erbkunde und Geschlechtsbestimmung. 


Die neuzeitliche Erbkunde hat die alten Vorstellungen über das 
Wesen des Geschlechtes völlig umgestaltet. Die zum Teil recht 
phantastischen Ideen über die Bestimmung des Geschlechtes haben 
einer Auffassung Platz machen müssen, die, gestützt auf neue 
wissenschaftliche Beobachtungen und Experimente, imstande ist, die 
aufgeworfenen Probleme kritisch zu beleuchten und einheitlich zu 
erklären. Das Problem der Geschlechtsverschiedenheit ist so aus 
einer Spekulation eine erbbiologische Frage geworden. 

Schon Mendel vertrat den Gedanken, dass sich das Geschlecht 
ähnlich betrachten lasse wie ein gewöhnlicher Erbfaktor, und dass 
die ungefähr gleiche Anzahl der Geschlechter als die Folge einer 
Rückkreuzung zwischen Reinzucht und Bastard aufzufassen sei. 
Diese Hypothese wurde, wie man sehen wird, durch die Erfahrungen 
der modernen Vererbungslehre bestätigt. 

Darwin und Weissmann betonten bereits ausdrücklich, 
dass jedes Geschlecht unter bestimmten Bedingungen die Charaktere 
des anderen zu entwickeln vermag, wie z. B. die hahnenfedrige 
Henne beweist. Es lag also nahe, anzunehmen, dass in beiden Ge- 
schlechtern dieselben Faktoren zur Ausbildung der Geschlechtsmerk- 
male enthalten seien, und nur eine verschiedene Abstimmung der- 
selben zueinander geschlechtsbestimmend wirke. In der modernen 
Erbliteratur bezeichnet man die alte Mendelsche Vorstellung als 
das Ka sotie-Homozygotie-Schema und betrachtet dies allge- 


2] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 157 


mein als den Mechanismus der Geschlechterverteilung, d. bh also, 
wenn wir mit M den Männlichkeitsfaktor bezeichnen, mit klein m 
sein Fehlen, so ergeben sich für die Geschlechter allgemein folgende 
Möglichkeiten: MM = Mann, Mm = Frau. 

Mm = Mann, mm = Frau. 

Bezeichnen wir mit W den Weiblichkeitsfaktor, mit w sein 

Fehlen, so ergeben sich: 

WW = Frau, Ww = Mann. 

Ww = Frau,: ww = Mann 
je nachdem man das männliche oder weibliche Geschlecht als homo- 
zygot oder heterozygot auffassen will. Zwischen diesen vier Möglich- 
keiten sind wir in zweifacher Weise beschränkt. Wir müssen uns 
ans die Erfahrungsexperimente halten, um für jede Spezies darüber 
entscheiden zu können, ob Mann oder Frau das zweierlei Gameten 
bildende Geschlecht ist. 

Teils die Tatsachen über die geschlechtsgebundene Vererbung, 
teils unmittelbare mikroskopische Beobachtungen bei der Samen- 
und Eibildung zwingen beim Menschen z. B. und der Taufliege, das 
männliche, beim Schwammspinner und beim Huhn das weibliche 
Geschlecht als heterozygot aufzufassen. So ist nach den Morgan- 
schen Untersuchungen über das geschlechtsgebundene Mendeln der 
weissen und roten Augenfarbe bei der Drosophila ausgeschlossen, 
die Geschlechtsverteilung an eine Digametie des Weibchens zu 
knüpfen; denn wenn man weissäugige Weibchen mit wilden rot- 
äugigen Männchen kreuzt, so erhält man in überwiegender Zahl 
rotäugige Weibchen und weissäugige Männchen. 

Auch beim Menschen sind derartige Typen geschlechtsgebun- 
dener Vererbung beobachtet worden. Der Erbgang der Farben- 
blindheit beweist in genau gleicher Weise die Heterozygotie des 
männlichen Geschlechtes. Daher fallen für den Menschen aus unserer 
Übersicht die Formeln MM = Mann und ww = Mann unter allen 
Umständen aus, und die Entscheidung schwankt zwischen Mm = 
Mann und Ww = Mann. 

Es bleibt nun übrig, den Schwierigkeiten zu begegnen, die sich 
aus den vorstehenden Erklärungen für die Veranschaulichung des 
Geschlechtsverhältnisses und der Geschlechtsverteilung ergeben. Bei 
der Formulierung Ww = Mann stört der Gedanke, dass der männlich- 
keitsbestimmende Faktor W rein weibliches Erbgut repräsentiert, 
der Mann also deshalb ein Mann wäre, weil er nur weibliche Charak- 
tere besässe. Dieser Fehler entfällt also einzig bei der Formulierung 
Mm = Mann und mm = Frau. Oder man müsste sich denn zur 
Abstraktion von zwei differenten Genen vom allgemein biologischen 


158 Kurt Wolff. [3 


Standpunkte aus entschliessen, sich auf den rein quantitativen Stand- 
punkt stellen, S als einzig vorhandenes Sexualgen (Sexualkomplex) 
formulieren und je nach dem Ergebnis der geschlechtsgebundenen 
Erblichkeit die Formeln wählen : SS = Mann, Ss = Weib bei Hetero- 
zygotie des Weibchens; SS — Weib, Ss = Mann bei Heterozygotie 
des Männchens. 

Diese Formelwahl dient vollkommen zur Erklärung des formalen 
Geschehens beim Mechanismus der Geschlechtsverteilung;; aber diese 
vereinfachte Darstellung scheitert nun an den Tatsachen der ab- 
normen Geschlechtsbestimmung, wie sie Goldschmidt in grossen 
Versuchsreihen am Schwammspinner (Lymantria dispar) aufgestellt 
hat. Hierbei kam Goldschmidt zu dem Ergebnis, dass beide 
Geschlechter auch die dem anderen Geschlecht charakteristischen 
Faktoren besässen und zwar dergestalt, das3 beide Männlichkeits- und 
Weiblichkeitsmerkmale enthalten. Auch die geschlechtsbestimmenden 
Faktoren müssen nach determinierten Gesetzen verteilt werden. Beide 
Geschlechter müssen also den Bestimmungsfaktor M = für Männlich- 
keit und W für Weiblichkeit besitzen. Bei Heterozygotie des Männ- 
chens würden also die Formeln lauten: 

a) Männchen: (M) Ww. 
b) Weibchen: (M) WW. 
Bei Heterozygotie des Weibchens würden die Formeln lauten: 
a) Männchen: (W) MM. 
b) Weibchen: (W) Mm. 

Auch diese Formulierung der beiden Geschlechter reicht ledig- 
lich aus, um uns den erbbiologischen Unterschied zwischen männ- 
lichem und weiblichem Geschlecht in der Verschiedenartigkeit des 
Auftretens gleichartiger Faktoren erblicken zu lassen. Sie ist durch- 
aus brauchbar für das Studium der Norm, mit der wir uns bis jetzt 
beschäftigt haben. Eine grosse Schwierigkeit entsteht nun mit der 
Frage, wie unsere Theorie bei Erkennung gewisser Typen einge 
schaltet werden muss, die im phänotypischen Sinne weder als Männ- 
chen noch als Weibchen gedeutet werden können. Es sind mit den 
erwähnten Typen Übergänge von einem Geschlechte zum anderen 
gemeint, die man ganz allgemein mit dem Ausdrucke „Sexuelle 
Zwischenstufen“ belegt hat. 

Unter den Begriff der „Sexuellen Zwischenstufen“ fallen zwei 
Erscheinungen, die phänotypisch einander zuweilen ausserordent- 
lich ähnlich sehen können, genotypisch aber einer durchaus ver- 
schiedenen Erklärung bedürfen. Es sind dies: 

1. Das Zwittertum oder der Gy ERD 

2. Die Intersexualität. 


4] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 159 


Beim Gymandromorphismus stellt der Körper gewissermassen 
ein genisches Mosaik, ein lokales Nebeneinander genotypisch diffe- - 
renter Zellen, Gewebe oder Organe dar. Bei der Intersexualität ist 
der gesamte Körperbestand gleichartig, und zeitlich nacheinander 
treten die Zellen, Gewebe oder Organgruppen unter die Herrschaft 
gegensätzlicher Entwicklungsrichtungen. 

Ein Beispiel des Gynandromorphismus mag die Form der sog. 
Mosaikzwitter bilden. Diese sind dadurch ausgezeichnet, dass, wie 
schon der Name sagt, ganz zirkumskripte Körperbezirke desselben 
Tieres verschiedenen Geschlechtern angehören. Oft ist eine Körper- 
hälfte, die Keimdrüsen mit einbegriffen, männlich, während die 
andere weiblich ist. Oder es kommt vor, dass z. B. der vordere oder 
obere Rumpf männlich, der hintere oder untere weiblich ist und 
umgekehrt. 

Für die Entstehung des Gynandromorphismus gibt es mehrere 
Erklärungen, die jedoch alle ein identisches Prinzip zur Grundlage 
haben: nämlich, dass durch eine Abnormität während oder nach 
der Befruchtung die Furchungskerne oder deren Abkömmlinge bei 
irgend einem Teilungsschritt erbungleich werden; und zwar der- 
gestalt, dass das eine Teilstück die ursprüngliche Verfassung bei- 
behält, während das andere sich durch regelwidriges Vereintbleiben 
oder durch Elimination der Erbkomplexe in das Gegenteil verkehrt. 


Die Intersexualität ist im Gegensatz zum Gynandromorphismus 
nach Goldschmidt das Erzeugnis zwar eines vollkommen nor- 
malen HetrozygotieHomozygotiemechanismus, aber zwischen Genen, 
die ihrer Wertigkeit nach nicht aufeinander abgestimmt sind. 


Goldschmidt fand nämlich als Ergebnis einer grossen Reihe von 
Untersuchungen, dass ein besonderes quantitatives System bestimme, welche der 
beiden Geschlechtern eigentümlichen Anlagen latent und welche patent werden 
sollen. Die Intersexualitätsforschungen sind fast ausschliesslich an Schmetter- 
lingen gemacht, bei denen — wie man wissen muss —, das weibliche Geschlecht 
das heterozygote ist. Er nahm nun an, dass sowohl der Faktor M wie auch der 
Faktor W eine bestimmte, für jede Rasse spezifische Wertigkeit besässe. Es ist 
nicht notwendig, dass sich M mit demjenigen W verbindet, das die seiner Rasse 
eigentümliche Valenz besitzt. Es kann auch eine Verbindung mit dem W eines 
anderen Biotypus eintreten, das zwar eine andere Wertigkeit besitzt, nichtsdesto- 
weniger aber doch ein durchaus lebensfähiges Tier mit erzeugen kann. Was 
sich nun bei der Vereinigung der Keimzellen herausbildet, ist ein anderes Ab- 
stimmungsverhältnis der Geschlechtsfaktoren zueinander. Diese Verschiebung 
des Wertigkeitsverhältnisses aber ist imstande, das absolute Überwiegen von M 
oder W bis zur Gleichwertigkeit oder Unterwertigkeit herabzumindern und durch 
solche Nuancierungen Zwischenstufen jeden Grades zu erzeugen. In die Wertig- 
keitstheorie übersetzt, bedeutet einseitig charakterisiertes Geschlecht das Über- 
wiegen des einen Faktors über den anderen, und da wir annehmen, dass beiden 


160 Kurt Wolff. [5 


Geschlechtern dieselben Geschlechtsfaktoren innewohnen, und die Geschlechter 
nur durch das Überwiegen des Männlichkeits- oder bzw. Weiblichkeitsfaktors 
entstehen, so müssen notwendigerweise bei einer Annäherung oder Gleichstellung 
der Valenzen Zwischenstufen erzeugt werden. 

Durch Kreuzungen verschiedener Rassen des Schwammspinners ([L,ymantria 
dyspar) mit in der Rasse begründeter verschiedener Wertigkeit der Faktoren 
gelang es Goldschmidt, in lückenloser Reihe geschlechtliche Zwischen- 
formen vom Weibchen bis zum Männchen und umgekehrt zu erzeugen. Ein ihm 
entlehntes Beispiel soll das eben Gesagte klar machen: Angenommen, der Faktor 
(W) besässe die Potenz 100 und jeder Faktor (M) die Wertigkeit 60, so würde 
die Formel für das Weibchen lauten: (W),oo Meo m, für das Männchen (W),oo 
MsoMeo- Es würde also beim Weibchen (W) gegen M beim Männchen M gegen (W) 
überwiegen. Wenn wir nun aber noch eine Rasse haben, bei der (W) gleich 
200 und (M) —120 ist, so muss es möglich sein, durch Bastardierung beider 
solche Individuen zu erzeugen, bei denen in der weiblichen Konstitution M in 
der männlichen (W) überwiegt. Die Annäherung oder gar das Überwiegen des 
gegengeschlechtlichen Faktors bedeutet aber, wie die Experimente zeigen, die 
Erscheinung eines Intersexes. 

Die Annäherungstheorie deckt sich nun auch mit der Einteilungsmöglich- 
keit der intersexuellen Stufen in bestimmte Kategorien. Es ist daher für das 
Verständnis der Intersexualität überhaupt - erforderlich, die Goldschmidt- 
sche Einteilung mit Fortlassung der hier nicht interessierenden Haupttypen 
kurz wiederzugeben. Goldschmidt unterscheidet: 


Weibliche Intersexualität. 


a) Beginnende Intersexualität (Lymantria dispar), Weibchen. 
Flügelform und Farbe weiblich. Einige Antennenfiedern zuerst dann weiterhin 
alle verlängern sich. Abdomen normal, Genitalien normal. Instinkte normal. 
Die Tiere sind fruchtbar. 

b) Schwache Intersexualität, sie ist kontinuierlich mit vorher- 
gehender verbunden. Flügelform weiblich. Kopulationsapparat bereits geut- 
lich intersexuell. Instinkte weiblich. Die Tiere kopulieren und setzen normal 
aussehenden Eierschwamm ab, der aber keine Eier enthält, da die J,egeröhre 
nicht mehr funktioniert. 

c) Mittlere Intersexualität, kontinuierlich mit vorhergehender 
verbunden. Flügelform weiblich ...... Abdomen und innere Genitalien 
weiblich aber weniger reife Eier im Ovarium. Kopulationsapparat beträchtlich 
intersexuell. 

d) Starke Intersexualität kontinuierlich mit vorhergehender ver- 
bunden ...... Das Abdomen ist bei Minusindividuen noch ziemlich dick 
und nimmt dann ab bis zu nahezu völliger Männlichkeit. Die Form und Be- 
haarung ist fast männlich bis ganz männlich. Die Gonade ist ein jugendliches 
Ovar mit weitgehenden Rückbildungen. Kopulationsapparat stark intersexuell . . . 

e) Höchstgradige Intersexualität oder Weibchen- 
Männchen. Tiere äusserlich völlig gleich Männchen . . .. . Gonade zeigt die 
letzten Übergänge von einem sich rückbildenden Ovar in einen Hoden. Kopu- 
lationsapparat männlich oder fast männlich. Instinkte männlich. 

N Die völlige Geschlechtsumkehr, d. h. die Entwicklung 
aller genetischen Eier zu Männchen, die sich, soweit bekannt, in nichts vom 
normalen Männchen unterscheiden. Es wurde nur bisweilen festgestellt, dass 


6] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 161 


die zuletzt schlüpfenden Männchen dieser Zuchten mit Sicherheit als genetische 
Weibchen anzusprechen sind und unfruchtbar waren. Die Ursache ist noch nicht 
bekannt. 


Männliche Intersexualität. 


a) Beginnende Intersexualität. Flügelform männlich. Antennen 
männlich. Abdomen und innere Genitalien männlich. Kopulationsapparat ent- 
weder rein männlich oder erste Zeichen der Intersexualität am Unkus. Flug- 
instinkte männlich, ebenso Kopulationsinstinkte. Völlig fruchtbar. 


b) Schwache Intersexualität. Flügelform männlich. In der 
Flügelfarbe treten mehr keilförmige Streifen weiblicher Farbe in unregelmässiger 
Verteilung aber typisch im Verhältnis zu Flügelaxen und Adern auf..... 
Innere Genitalien männlich, aber im Hoden befinden sich bei manchen Indi- 
viduen Eizellnester. Kopulationsapparat beginnend intersexuell (Unkus). Instinkte 
und Kopulationsfähigkeit männlich. Fruchtbar. 


c) Mittlere Intersexualität. Flügelform nähert sich der weib- 
lichen mit merkwürdigen Wachstumsstörungen ..... Abdomen leicht ver- 
dickt, beginnende weibliche Behaarung, Zeichnung und Afterwolle. Innere Geni- 
talien ein oft beträchtlich geschwollener Hoden, der fast atypische Spermien 
enthält, manchmal auch Eier. Kopulationsapparat mehr intersexuelll. Instinkte 
und Kopulationsfähigkeit bei den Minusindividuen noch männlich, bei den 
Plustieren schon intermediäre Instinkte, keine Kopulationslust. Fruchtbarkeit 
minimal oder fehlend. 


d) Starke Intersexualität. Flügelform fast bis ganz weiblich... . 
Abdomen mehr und mehr weiblich ..... Innere Genitalien ein grosser mehr 
oder weniger zweiteiliger Hoden bis zwei längliche Gonaden. Diese sind degene- 
rierende Hoden, gefüllt mit degenerierendem Material und meist atypischen 
Spermienbündeln, dazwischen manchmal, aber nicht immer, Eizellgruppen ... 
Das Vas deferens beginnt vier Kelche in den Hoden zu treiben, entsprechend 
dem Übergang der gemeinsamen Eileiter in die Eiröhren. Kopulationsapparat 
noch mehr intersexuell. Instinkt intermediär bis völlig weiblich bei den Plus- 
individuen. Natürlich keine Kopulation oder Fruchtbarkeit. 


e) Höchstgradige Intersexualität..... wurde bis jetzt 
nicht gezüchtet. 


f) Völlige Geschlechterumkehr. 


Es seien an diese Einteilung noch einige Bemerkungen über die Umkeh- 
rung der Sexualinstinkte intersexueller Schmetterlinge angeschlossen. Weibchen 
der beginnenden Intersexualitätsstufe üben noch normale Anziehungskraft auf 
Männchen aus. Diese wird aber schon bei schwacher Intersexualität wesentlich 
geringer, und etwa beginnende Kopulationsversuche sind meist wegen der vor- 
handenen Enge der Bursa copulatrix vergeblich. Das Weibchen hat noch die 
Instinkte der Eiablage und reibt sich die Afterwolle zum Zwecke der Ei- 
schwammherstellung ab. In der mittleren Intersexualitätsstufe üben die Weibchen 
nur selten noch eine Anziehungskraft auf die Männchen aus und laufen beı An- 
näherung eines Männchens davon. In der starken Intersexualitätsstufe zeigen 
einige Weibchen bereits männliche Sexualinstinkte. Sie flattern um «die Weibchen 
herum und machen vergebliche Kopulationsversuche. Die höchstgradig inter- 
sexuellen Weibchen aber benehmen sich völlig wie Männchen, nur dass auch ihre 
Kopulationsversuche meist vergeblich sind. 


162 Kurt Wolff. [7 


Das Verhalten der intersexuellen Männchen ist analog dem der Weibchen. 
Jedoch wurde in der starken Intersexualitätsstufe eine Anziehung auf normale 
Männchen nicht beobachtet. i 

Man muss sich jedoch nun vor Augen halten, dass nicht bei 
allen Tieren die Verhältnisse so einfach sind wie beim Schwamm- 
spinner. Es müssen vielmehr zwei gross® Gruppen unterschieden 
werden, die nach der Abhängigkeit der Geschlechtsmerkmale von 
inneren Faktoren eingeteilt werden können. 

Bei der ersten Gruppe sind die sekundären Geschlechtsmerkmale 
nicht an die Keimdrüsen gebunden. Eine Kastration und Trans- 
plantation andersgeschlechtlicher Gonaden hat keine Wirkung auf 
eine phänotypische Veränderung des Versuchsobjektes. Es handelt 
sich bei dieser Gruppe um alle Tiere, bei denen noch keine innera 
Sekretion vorliegt. Die Versuche von Meisenheimer an Lyman- 
tria dispar sind für diese Auffassung beweisend gewesen. Raupen, 
deren Keimdrüsen zerstört oder denen nach Entfernung der ihnen 
zugehörenden Gonaden die des anderen Geschlechtes inplantiert 
wurden, wiesen als Schmetterlinge stets das ihrem Geschlechte eigene 
Flügelkleid auf; ein Ergebnis, das sich auch bei dem gleichen Experi- 
ment mit embryonalen Keimdrüsen nicht verschob. Man muss also 
nach diesen, auch vonHegener, Kopec u.a. erhaltenen Resultaten 
annehmen, dass bei Tieren ohne innere Sekretion die Intersexualität 
bereits bei der Befruchtung bestimmt ist. 

Die zweite Gruppe besteht aus denjenigen Tiergattungen, bei 
denen die innere Sekretion einen mehr oder weniger entscheidenden 
Einfluss auf den psychischen oder konstitutionellen Aspekt ausübt 
Dieser Einfluss ist je nach dem Grade der Einwirkung verschieden, 
und wir wissen, dass er bei den Säugetieren am ausgesprochensten 
ist. Kastrations- und Transplantationsexperimente zeitigen hier ein 
vollkommen anderes Ergebnis. 

Bei der Berücksichtigung der hormonischen Umstimmung dieser 
zweiten Gruppe ist es also klar, dass neben dem Determinations- 
faktor noch ein anderer Faktor beachtet werden muss, dessen Ein- 
greifen die Intersexualität erst zur Vollendung bringt, und ohne den 
sie niemals in Erscheinung treten würde — die innere Sekretion. 
Gründe und Art dieser Wirkungen werden wir noch später aus- 
führlich zu besprechen haben. 

Da wir vorher das psychische Verhalten von Intersexualitäts- 
stufen des Schwamnispinners erwähnten, dürfte es interessieren, auch 
das psychische Verhalten künstlich feminierter bzw. maskulinierter 
Tiere zu beobachten; trotzdem sie keineswegs Zwischenstufen in 
unserem Sinne darstellen. Aber sie zeigen uns erstens einen ganz 


8] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 163 


ähnlichen und nicht zusammenhanglosen Vorgang und zweitens den 
starken Einfluss der Hormone auf bereits seit langer Zeit determinierte 
Individuen. Wir werden auch beim Menschen ganz parallele Er- 
scheinungen zu erwähnen haben. 

Das feminierte Rattenmännchen zeigt den sog. Schwanzreflex 
des normalen Weibchens; d. h. es hebt während der Verfolgung durch 
das Männchen den Schwanz senkrecht hoch. Auch rüstet es sich 
nie zum Kampfe gegen ein normales Männchen. 

Das feminierte Rattenmännchen wird vom normalen als Weib- 
chen aufgefasst und mit Deckversuchen verfolgt. 

Das feminierte Rattenmännchen zeigt den Abwehrversuch des 
normalen, nicht brünstigen Weibchens; d. h. es hebt ein Hinterbern 
in die Höhe und führt mit ihm Bewegungen aus, die den Aufsprung 
des verfolgenden Männchens abwehren sollen. 

Das maskulinierte Weibchen erkennt ein brünstiges Weibchen 
sofort als solches und verfolgt es. Es beriecht ein neuzugekommenes 
Tier in typischer Weise, was das normale Weibchen nicht tut. 

Bei der Beobachtung der psychischen Umkehr mehr oder weniger 
extremer Intersexualitätsstufen fällt das parallele Verhalten der femi- 
nierten bzw. maskulinierten Meerschweinchen und Ratten auf, das 
wir eben besprochen haben. Bei aller Ähnlichkeit und sicherlich auch 
Verwandtschaft des Verhaltens müssen aber doch hier zwei grund- 
sätzliche und scharf zu trennende Unterschiede hervorgehoben werden: 

1. Stellen die Versuchstiere niemals Intersexualitätsstufen dar. 
Es sind noch niemals durch Transplantationen sexuelle Zwischen- 
stufen erreicht worden. 

2. Ist die Umkehr des Verhaltens durch künstliche und gewalt- 
same Eingriffe in den bereits seit langer Zeit geschlechtsdeter- 
minierten Körper hervorgebracht worden. 

Wir wissen aber nun durch die Goldschmidtschen Ver. 
suche, dass zur Hervorbringung der Intersexualität eine Determination 
nach der Vereinigung der Keimzellen.notwendig ist, und wir wissen 
ferner, dass bei Vögeln und Säugetieren zu ‘diesem ersten Faktor noch 
ein zweiter treten muss, ohne den der erste nicht wirksam sein 
kann — die innere Sekretion. Bei den Ratten und Meerschweinchen 
nun ist künstlich der 2. Faktor umgestellt worden. Der 1. wies eine 
bestimmte geschlechtliche Konstellation auf. Deshalb eben wurden 
nun die besprochenen Formen der Inversion erreicht, weil die 
Zwischenstufen durch beide Faktoren bedingt werden. 

Wie wir uns die Komposition des ersten Faktors vorzustellen 
haben, erklären die Goldschmidtschen Analysierungsversuche 
am Schmetterling befriedigend. Wir werden später noch sehen, in 


164 Kurt Wolf. [9 


welcher Weise diese auch speziell auf den Menschen angewandt 
werden können. Es bleibt noch übrig, das Zustandekommen des 
2. Faktors zu deuten, der ja bei den Intersexen nicht künstlich her- 
vorgerufen wird, sondern bereits im Laufe der fötalen Entwicklung 
zustande kommen muss. Es muss also nach dem eben Gesagten hier 
eine Störung oder frühzeitige antagonistische Einwirkung der inneren 
Sekretion vorliegen, die durch bestimmte, uns vorläufig unbekannte 
Umstände bedingt wird. 

Man weiss, dass der Fötus auf einer bestimmten Stufe seiner Ent- 
wicklung indifferent ist, und sich die seinem Geschlecht zuge- 
hörigen Eigentümlichkeiten erst später herausbilden. Die anders- 
geschlechtlichen Charaktere treten zurück, sind aber noch beim Er- 
wachsenen als Rudimente erkennbar. Dies Zurücktreten der anders- 
geschlechtlichen Charaktere glaubt man durch eine spezifische Hor- 
monwirkung bedingt, die das genetische Geschlecht über die Zwischen- 
stufen siegen lässt. Der Fötus produziert also zur Zeit seiner In- 
differenz die Hormone beider Geschlechter. Das ihm genetisch zu- 
kommende Hormon muss aber auf einer bestimmten Stufe der Ent- 
wicklung — sei es durch seine Qualität, sei es durch seine inten- 
sivere Stärke — das andersgeschlechtliche Hormon unterdrücken. 
Diesen Zeitpunkt hat Poll den Terminationspunkt T genannt, und 
durch seinen früheren oder späteren Eintritt wollen wir uns die 
Geschlechtseinstellung des Individuums bewirkt denken. Es bleibt 
nun die Frage zu beantworten, in welcher Weise dieser Terminations- 
punkt die Geschlechtsfaktoren M und W beeinflusst, oder wie er mit 
ihnen in Verbindung zu bringen ist. Diese Verbindung ist 
nurdenkbar, wenn TinirgendeinerForm die quanti- 
tative Abstimmung der Geschlechtsfaktoren zu ver- 
ändern vermag, und zwar dergestalt, dass sie durch seine Wir- 
kung in einem anderen Potenzverhältnisse zueinander stehen. Da 
aber diese Faktoren nur in einem durchaus frühen Stadium abge 
ändert werden können, so liegt es nahe, T bereits ebenfalls in der 
Determination liegend anzunehmen. Man hat also den Beweis ge 
schlossen, wenn man die Bedingtheit der hormonischen Realisation 
nicht phänotypisch sondern genotypisch zu erklären vermag. Die 
quantitative Abstimmung der Geschlechtsfaktoren ist es also im 
Verein mit dem früheren oder späteren ‚Eintritt des Terminations- 
punktes, die so die Reihe der sexuellen Zwischenstufen bewirkt. Der 
Terminationspunkt wird zum Drehpunkt! 

Goldschmidt hat nun, von seinen Forschungen ausgehend, 
es versucht, eine Deutung auch der menschlichen konträren Sexualität 
zu geben. Er lässt die Frage offen, durch welche Zufälle hier eine 


10] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 165 


abnorme Faktorenkombination zustande kommen könne. Seine An- 
nahmen gründen sich auf Hypothesen, denen nur ausgiebig verwertete 
Ahnentafeln, die ihm jedoch nicht vorlagen, Halt zu verleihen ver- 
mögen. In der vorliegenden Arbeit ist es unternommen worden, die 
von Goldschmidt postulierten Stammtafeluntersuchungen zu 
geben, und es war, bei Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte 
interessant, zu untersuchen, ob die menschliche Intersexualität sich 
wirklich nach ähnlichen Gesetzen bestimmen lässt. 


Zur Analyse wurde eine bestimmte Form der klinisch soge- 
nannten Homosexualität ausgewählt, die sogleich erörtert werden soll. 


II. Material und Methodik. 


Die Homosexualität ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern 
bekannt gewesen. Sie steht in keinem Zusammenhange mit Kultur 
oder Zivilisaton uind ist demzufolge ein Phänomen, das vollkommen 
unabhängig von Volk oder geographischer Begrenzung ist. Ihre 
Diagnose ist im allgemeinen ein der Klinik entnommener Begriff und 
stellt somit einen Standpunkt dar, der sich mit biologischen Begriffen 
nicht ohne weiteres zu decken braucht, Er müsste zu diesem Zweck 
erst den Erfahrungen über Wesen und Vererbung des Geschlechtes 
angepasst werden. Trotzdem sind wir bei der Auswahl eines Materials 
nicht sofort in der Lage, die letztgegebenen Regeln beobachten zu 
können, da das Wesen der Individuen, die wir zu untersuchen Ge- 
legenheit haben, sich uns gewissermassen in einer Projektion dar- 
stellt, die wir erst klinisch und in zweiter Reihe biologisch zu ver- 
werten vermögen. Das klinische Bild der Homosexualität aber stellt 
sich dem Beobachter in einer ausserordentlichen Mannigfaltigkeit dar, 
die er erst sondern muss, um sie zu beherrschen. Um sie aber sondern 
zu können, muss er imstande sein, die Erscheinung von den ver- 
schiedensten Gesichtspunkten aus zu betrachten. 


Jedem, der Gelegenheit hat, viele Homosexuelle zu beobachten, 
muss die ungeheure Variabilität der verschiedenen Typen auffallen, 
und man kommt im Verlaufe der Untersuchungen immer mehr zu 
der Überzeugung, dass man hier eigentlich unter einem gemeinsamen 
Namen Individualitäten vereinigt hat, die zwar phänotypisch das 
Merkmal der inveıtierten Geschlechtsrichtung gemeinsam haben und 
so stufenmässig in einander überzugehen scheinen, genotypisch aber 
gänzlich verschieden voneinander sein können. So ergibt sich denn 
als erste Aufgabe, für eine vererbungsbiologische Arbeit, unter der 
Vielheit der Phänotypen eine engumschriebene Gruppe herauszu- 
finden, die geeignet ist, unseren Anforderungen zu entsprechen und 


166 Kurt Wolff. m 


gleichzeitig eine gewisse Aussicht dafür zu eröffnen, dass die ge- 
nische Komponente sich erbbiologisch fassen lässt, und dass wir es 
nicht mit einer wenig greifbaren psychischen Aberration, sondern 
mit einer Intersexualitätsstufe zu tun haben. Bei der psychischen 
Analyse allein nämlich hat man immer wieder die Idee, dass zum 
Zustandekommen dieser Abweichung von der normalen Korrelation 
auch Faktoren mitsprechen können, die ihre Ursache in irgendwelchen 
phänotypischen Alterationen hätten. Die psychischen Merkmale sind 
nicht zu allen Zeiten vorhanden, sondern entwickeln sich viel später. 
Sie kommen einerseits unabhängig von physischen Korrelationsaber- 
rationen vor, wie andererseits diese wiederum auch ohne erstere in 
Erscheinung treten. So gewinnen die psychischen Störungen erst 
dann an Wert für unsere Untersuchungen, wenn sie mit physischen 
einhergehen. Der Typ, der also allein für uns zunächst in Frage 
kommen kann, ist der, der neben den psychischen Abweichungen 
auch noch somatische aufzuweisen hat. Wenn auch nicht bestrittten 
werden kann, dass körperliche Störungen ebenfalls durch phäno- 
typische Faktoren hervorgerufen werden können, so bieten doch diese 
im Verein mit den psychischen eine gewisse Sicherheit ihres keim- 
plasmatischen Ursprungs. ' Dieser Typ ist der Typus inversus psycho- 
somaticus genannt worden, und wenn im weiteren Verlauf der Arbeit 
von Inversion oder Homosexualität die Rede ist, so ist nur diese 
Form derselben damit gemeint; keineswegs aber der Begriff der Homo: 
sexualität im landläufigen Sinne. 

Während die psychische Inversion im allgemeinen bei jedem 
Vertreter dieses Typs ein ähnliches Gesamtbild ergibt, nämlich die 
Inversion von Geschlechtstrieb und Neigungen, liefert die physische 
srscheinungsform einen durchaus wechselnden Eindruck. Hier stellen 
sich Übergänge von fast reinem Mannestyp bzw. Frauentyp bis zum 
Hermaphroditismus, zur Gynandrie bzw. Androgynie dar. Diese 
letzten, stark ausgeprägten Formen, die oft mit Transvestitismus ein- 
hergehen, sieht man natürlich verhältnismässig selten; auch wäre es 
falsch, nun anzunehmen, dass jeder androgyne Mann bzw. jene gynan- 
drische Frau oder jeder Hermaphrodit bzw. jeder Transvestit absolut 
homosexuell sein müsste. Auf diesen Fehler hat bereits Hirsch- 
feld hingewiesen. Aber es ist auffallend, dass die Mehrzahl dieser 
Formen mit Homosexualität verbunden ist. Es wurden natürlich für 
diese Arbeit nur solche Fälle ausgewählt, für die eine Inversion fest- 
stand. Bei den weniger ausgebildeten Formen sieht man häufig nur 
recht geringfügige Unterschiede, wie ein sehr zarter Knochenbau 
oder ein weiches Fettpolster besonders der Brustmuskulatur beim 
Mann. Diese Unterschiede können jedoch auch stärker hervortreten. 


12] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 167 


Man beobachtet dann beim Mann ein Zurücktreten des Adamsapfels 
oder gar die Entwicklung von Mammae. In einem Falle gelang es 
sogar, in einer sezernierenden Brustdrüse Kolostrum nachzuweisen. 
Auch die Maße von Becken und Schultern verschieben sich bei diesem 
Typ häufig dergestalt, dass das Becken breit und flach, ‚die Schultern 
schmaler als das Becken sind. Ähnlich verhält es sich. mit der 
Schambehaarung. Anstatt der Behaarung der Linea alba sieht man 
oft die des Mons veneris. Die Behaarung des Gesichtes ist oft sehr 
spärlich oder gar nicht vorhanden. Bei der homosexuellen Frau 
scheint das Verhältnis in derselben Weise umgekehrt vorzuherrschen. 
Ihre Stimme ist tief, ihr Adamsapfel trittt hervor. Die Mammae sind 
oft nur schwach ausgebildet“, das Becken ist schmaler als die 
Schultern. Die Schambehaarung geht oft auf der Linea alba weiter. 
Die Oberlippe zeigt häufig einen Bartanflug. Ob allerdings die 
Häufigkeit der psychischen Inversion der Frau der des Mannes ent- 
spricht, kann wegen der geringen Zahl der Beobachtungen an dieser 
Stelle nicht entschieden werden. 

Es kann, wie bereits oben erwähnt, nicht genug davor gewarnt 
werden, etwa jeden femininen Mann oder jede virile Frau von vorn- 
herein als homosexuell anzusehen. Mit einer physischen oder psy- 
chischen Inversion braucht keine Inversion des Geschlechtstriebes 
einherzugehen. Die Diagnose der Homosexualität ist keineswegs so 
leicht, dass sie auf den ersten Blick zu stellen ist. Erst genaue Be- 
obachtung und Verwertung von Aufzeichnungen der Patienten ver- 
mögen hier Klarheit zu schaffen. Der vorstehende Typ erschien je- 
doch der für eine vererbungsbiologische Untersuchung geeignetste, 
weil er allein die Vertreter einer mehr oder weniger physischen und 
psychischen Inversion in sich schliesst. Er allein kann für eine 
strenge kritische Untersuchung in Frage kommen, weil in ihm die 
wenigsten Gefahren begründet liegen, unechte Homosexualität mit 
einzubegreifen und so einen Typ zu verwerten, der zwar invertiert, 
in gewisser Hinsicht aber nicht intersexuell ist. 

Ausgeschaltet sind diese Gefahren natürlich nicht ganz; denn 
man kann, wie erwähnt, kaum ermessen, welche Fülle von Faktoren 
vermag, ein Verhalten in seinen Auswirkungen umzuändern. Der 
eben besprochene Typ ist seinem Sinne gemäss in der vorliegenden 
Arbeit der Typus inversus psycho-somaticug genannt worden. 

Was nun die Auswahl und Beschaffung des Materials anbetrifft, so hat nur 
der Typus inversus psycho-somaticus Berücksichtigung gefunden. Wenn man 
besondere Komponenten der Homosexualität annimmt, so bildet der Typus in- 
versus eben die meiste Gewähr, weil er der äusgebildetste ist! Ob und wie weit 


diese Annahme zutrifft und wir die Berechtigung haben, von ihr zu sprechen, 
muss dem späteren Teil der Untersuchungen vorbehalten bleiben. Die Einteilung 


168 Kurt Wolff. [13 


des Materials jedenfalls ist von diesem Standpunkte aus vorgenommen worden. 
Es muss noch hinzugefügt werden, dass der Typus inversus sowohl bei seinen 
Vertretern selbst als auch in deren ‚Ahnentafeln gewisse Eigentümlichkeiten 
bietet. Diese, nämlich sein Verhältnis zur Neuropathie bzw. Psychopathie, sollen 
in einer späteren Arbeit untersucht werden. 


Die Beschaffung des Materials ergab insofern Schwierigkeiten, als sich nicht 
alle Fälle direkt ermitteln liessen. Es mussten dann Aufzeichnungen und gut 
und vollständig ausgefüllte Fragebogen zu Hilfe genommen werden, die das 
Institut für Sexualwissenschaften als psychobiologische Fragebogen herausgibt. 
Andere Fragebogen, die sich an die eben erwähnten anlehnen, wurden eigens für 
die vorliegende Schrift ausgearbeitet. In diesen Fällen wurde ganz besonders 
kritisch vorgegangen. Vieles, was erst für geeignet angesehen wurde, musste 
dann bei der Sichtung des Materials wieder verworfen werden. Jeder einzelne 
Fall ist viele Male auf seine Eignung hin geprüft worden. In den anderen 
Fällen wurde eine persönliche, körperliche und psychische Untersuchung einge- 
leitet; zuweilen konnten selbst Eltern und Verwandte beobachtet werden. Es 
ist natürlich, dass diese Fälle am ausgiebigsten verwertet wurden. Bei der 
Auswahl des Materials ist also auf das strengste lediglich der Probandus unter- 
sucht worden, ohne jede Rücksicht auf Beschaffenheit von Aszendenz oder Ge 
schwisterschaft. Dadurch wurde eine völlige Sicherung dagegen geschaffen, 
dass etwa das Material einseitig nach dem Masse der familiären Belastung oder 
der Verwertbarkeit für Erbforschungen ausgewählt wurde. So stellt denn auch 
unsere Auswahl eine bewusste Beschränkung des gesamten Materials dar. Für 
die Ermittlung der Gesetzlichkeiten spielt das aber keine Rolle; denn die 
Erkennung der Zahlenregeln ist nur daran geknüpft, dass zwischen den Pro- 
banden und ihren Geschwistern stets eine allgemein gültige Zahlengesetzlichkeit 
herrscht. 


Zum Schluss muss noch eine Erscheinung hinzugefügt werden, die bei der 
Durchsicht des Materials auffallen musste. Das ist die geringe Anzahl: von Frauen, 
die erfasst werden konnte. Unter den insgesamt 148 Homosexuellen finden 
sich nur 8 Frauen. Der Grund liegt, glaube ich, in der Auswahl des Materials, 
das stets rein zufällig erfasst wurde. Die physische Beschaffenheit der Frau ge- 
stattet ihr, sich zu verheiraten und ihre Triebrichtung viel leichter zu verbergen 
als es dem Mann möglich ist. Von dieser Gelegenheit wird die Frau aber um 
so eher Gebrauch machen als Erziehung und Anschauung der Umwelt sie dazu 
drängt, ihre Inversion zu verleugnen. Infolgedessen wird die Inversion des 
Mannes numerisch viel stärker in Erscheinung treten, und diese numerische 
Überlegenheit wird nur dann paralysiert, wenn vorsätzlich nach Frauen gesucht 
wird. Das ist bei der Auswahl des Materials aber nicht geschehen. In jedem 
Falle wäre es verfehlt, aus der zahlenmässigen Geringheit eines bestimmten 
Materials ohne weiteres auch auf eine zahlenmässige Geringheit der weiblichen 
Homosexualität zu schliessen. 


1II. Das heredofamiliäre Vorkommen der Homosexualität. 


Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Abweichungen von den 
normalen Korrelationen der Geschlechter und der akzidentellen 
Sexualcharaktere in verschiedenen Familien gehäuft vorkommen. In 
der Literatur findet sich bereits der Hinweis, dass solche Störungen 


14] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 169 


auf psychischem Gebiete — sog. Homosexualität im landläufigen 
Sinne —- bei nahen Verwandten — Vätern und Söhnen, Geschwister- 
kindern, Onkeln und Tanten, Brüdern und Schwestern -— in einem 
verhältnismässig hohen Prozentsatze vertreten sind. So hat 
v. Römer (die erbliche Belastung des Zentralnervensystems bei 
Uraniern, geistig gesunden Menschen und Geisteskranken: Jahrb. f. 
Sexuelle Zwischenstufen Jahrg. 7 Bd. 1) in 25% der Fälle ein 
familiäres Vorkommen der Erscheinung beobachtet. Hirschfelds 
Zahlen (Die Homosexualität des Mannes und des Weibes) erreichen 
diese Höhe zwar nicht, weisen aber doch immerhin einen beträcht- 
lichen Prozentsatz auf. Er gibt in seinem diesbezüglichen Buche an, 
in 23,200 der Fälle ein familiäres Vorkommen der Homosexualität 
gefunden zu haben. Um seine Untersuchungen und Resultate klar zu 
kennzeichnen, ist es am besten, ihn selbst sprechen zu lassen: „Ich 
fand nicht ganz so hohe Zahlen (wie Römer), doch immerhin so be- 
trächtliche, — 23,2% — dass kein zufälliges Zusammentreffen ob- 
walten kann. In nahezu der Hälfte der Fälle handelt es sich um 
Bruder und Schwester. Unter 58 urnischen Geschwistern, die mir 
persönlich oder dem Namen nach bekannt sind, finden sich 23 mal 
Bruder und Schwester, 21 mal homosexuelle Brüder, darunter 2 mal 
Zwillingsbrüder, 3mal homosexuelle Schwestern, 6 mal 3, 1mal 5, 
1 mal 4 urnische Geschwister; 28 mal sind sämtliche (2, 3, 5) Kinder 
homosexuell.‘ 


Es bleibt nun übrig, zu erörtern, wie sich diese Zahlen zu dem 
vorliegenden bestimmteren, d. h. nach physischen und somatischen 
Abweichungen orientierten Material verhalten, das zwar z. T. auch 
von Hirschfeld beobachtet worden ist, aber nach den hier zu- 
grunde gelegten Begriffsbestimmungen ausgelesen wurde. Hierbei 
ist zu beachten, dass weder der Begriff Römers noch Hirsch- 
felds sich mit den hier behandelten Intersexualitätsstufen deckt, 
sondern dass diese eine nach biologischen Gesichtspunkten getroffene 
Auswahl desselben darstellen. 

Von den 113 untersuchten Familien kennen wir 79 = 700%% mit nur einem be- 
hafteten Familienmitglied; bei 34 tritt also die Homosexualität familiär in Er- 
scheinung. Dieses Ergebnis entspricht also einem Satz von 30% und steht 


somit zwischen den v. Römer und Hirschfeld gefundenen Zahlen, soweit 
man diese überhaupt zum Vergleiche heranziehen darf ‘und will. 


Wenn man die Familien einzeln in Betracht zieht, so zeigt sich das Vor- 
kommen der Inversion bei Bruder und Bruder in 20 Fällen. Bei Bruder und 
Schwester in 3 Fällen, bei Onkel und Neffe in 10 Fällen, bei Onkel und Nichte 
—; bei Tante und Neffe in 2 Fällen, bei Tante und Nichte in 2 Fällen, bei 
(seschwisterkindern in 5 Fällen, und zwar in 3 Fällen bei Geschwisterkindern 
väterlicherseits, in 2 Fällen mütterlicherseits. Bei Vater und Sohn zeigt sich 


Arehiv für Frauenkunde. Bd. X H 2. 12 


170 Kart Wolff. [15 


das Vorkommen der Homosexualität in 2 Fällen, und zwar sind in dem einen 
Falle alle Söhne homosexuell, im anderen die Hälfte. 

In 6 Familien finden sich die eben geschilderten Erscheinungen neben- 
einander, und zwar dergestalt, dass in einer Familie Grossonkel und Vettern 
(Brüder), in 3 Onkel und Neffen (Brüder), in einer Tante und Neffe und Nichte 
(Geschwister) und in einer Onkel, Tante und Neffen (Brüder) behaftet sind. Wenn 
wir also die erhaltenen Ergebnisse nach ihrer Häufigkeit ordnen, so stehen Ge- 
schwisterfälle (24) in erster Linie; sie machen 2200 sämtlicher Familien aus. 


In 2. Reihe stehen die Fälle von Onkel und Neffe mit 8,8%, in 3. Reihe 
von Geschwisterkindern mit 4,14%, in 4., 5., 6. Reihe von Tante und Nichte. 
Tante und Neffe, Vater und Sohn mit je 1,7%. 

Es kommen in dem vorliegenden Material folgende Kombi- 
nationen also nicht vor: 

1. Homosexuelle Mutter und homosexuelle Kinder. 

2. Homosexueller Vater und homosexuelle Tochter. 

3. Homosexueller Onkel und homosexuelle Nichte. 

Diese Häufung der Triebstörung in Familien mit zu mindest 
einem in unserem Sinne anormalen Mitgliede — dem Probauden — 
Kanu klinisch durch zwei völlig verschiedene Meinungen erklärt 
werden. Beide Ansichten haben, auf so verschiedenen Standpunkten 
sie stehen mögen, ein Recht darauf, so lange als daseinsberechtigt 
angesehen zu werden, wie nicht ganz bestimmte und umschriebene 
Beweise biologischer Art eindeutig gegen die eine oder die andere 
sprechen. Die eine Richtung — die psychoanalytische — steht 
einer konstitutionell begründeten Komponente der Homosexualität 
durchaus skeptisch gegenüber. Sie negiert eine Vererbung und führt 
die Erscheinung der Inversion auf irgendwelche späteren, wohl 
meist im Kindesleben auftretenden psychischen Einflüsse zurück. 
Diese Erinnerungsbilder der Kindheit, die sich meist auf irgendwelche 
homoerotischen Akte oder Gesichte beziehen, werden — wie uns 
diese Schule lehrt — später verdrängt und damit der Bewusstseins- 
sphäre entzogen. Was übrig bleibt und nach aussen in Erscheinung 
tritt, ist die Umwandlung des Geschlechtstriebes. 

Die psychoanalytische Schule würde sich also zu der Frage 
der Inversionshäufung in den Familien so stellen, dass sie sie 
durch eine Beeinflussung der zuerst homosexuell gewordenen Mit- 
glieder erklärte. Gegen diese Deutung spricht die Tatsache, dass 
in dem vorliegenden Material zwei Brüder von allerfrühester 
Jugend an bei verschiedenen Pflegern und in verschiedenen Städten 
erzogen wurden und doch beide den Typus inversus psycho-somaticus 
ergaben. Hierzu könnten die P’sychoanalytiker wieder sagen, dass dann 
eben beide an den verschiedenen Wohnorten ähnlichen Einflüssen 
unterlegen seien. Diese Annahme hat nur recht geringe Wahrschein- 


16] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 171 


lichkeit für sich, um so mehr, als das Material auch zahlreiche Fälle 
von nahen Verwandten ergibt, die so lange nichts von ihrer gleich- 
geschlechtlichen Veranlagung wussten, bis eben diese sie zufällig 
zusammen führte, oder bis sie sich in homosexuellen Vereinen 
trafen und dort zu ihrem grössten Erstaunen erkannten. Auch 
könnte durch diese Erklärung wohl in manchen Fällen die psychische 
Inversion niemals aber die somatische verstanden werden. 


Biologisch würde die Auffassung der psychoanalytischen Schule 
also bedeuten, dass die Triebstörung eine Modifikation der mensch- 
lichen psychischen akzidentalen Sexualunterschiede ist. Unter den 
geeigneten Umfeldbedingungen liegt diese Reaktionsform zur Reali- 
sation bereit, und zwar in jeder menschlichen Konstitution. Die 
Modifikation in dieser Richtung wäre also als eine allgemein genische 
Eigenart der Spezies „Mensch“ zu betrachten. 


Die andere Richtung stellt sich in den schroffsten Gegensatz 
zur psychoanalytischen Schule. Sie nimmt unbedingt eine konsti- 
tutionell begründete Komponente für die Homosexualität an und sieht 
diese in der Hauptsache in einer anderen Artung der Sexualhormone; 
dergestalt, dass die Geschlechtsdrüsen des männlichen Homosexuellen 
z. T. ein eigentlich für das weibliche Geschlecht bestimmendes, 
die der homosexuellen Frau ein für das männliche Geschlecht aus- 
druckgebendes Inkret hervorbringen. Diese Richtung würde sich 
ihrer biologischen Einstellung nach gegebenenfalls der Annahme einer 
Vererbung weit eher geneigt erweisen. Sie wird unterstützt durch die 
Beispiele vom Pseudohermaphroditismus, die Neugebauer (Der 
Hermaphroditismus beim Menschen: Beobachtung Nr. 432, 872, 965, 
986, 1108 u. S. 470) anführt und die teils durch ein Ovotestis, teils ` 
durch ein Adenoma testiculare ovarii bzw. testiculi ovotestes bedingt 
gewesen sein sollen. Als eine Stufe in der Richtung zum Hermaphrodi- 
tismus ist nach der Ansicht dieser Lehre auch die Homosexualität zu 
betrachten, und sie hat diesem Gedanken Ausdruck gegeben, indem 
sie diese irı den Begriff der sexuellen Zwischenstufen einreihte. So be- 
stechend diese Theorie aber auch ist, ein Umstand spricht unbedingt 
dafür, sie nur vorsichtig und mit grösster Kritik aufzunehmen; ab- 
gesehen nämlich davon, dass die Frage einer funktionierenden Ovo- 
testis noch lange nicht entschieden ist, hat sich auch in keiner 
der bisher untersuchten Keimdrüsen eine andersgeschlechtliche 
Substanz im mikroskopischen Bilde oder in chemisch-physiologi- 
schen Untersuchungen mit Sicherheit nachweisen lassen. Alle in 
dieser Richtung angestellten Untersuchungen haben schliesslich ein 
negatives Resultat ergeben. 


12* 


172 Kurt Wolf. [17 


Diese — wie man sie nennen kann — innersekretorische Rich- 
tung könnte die familiäre Häufung der Homosexualität durch eine 
Mutation erklären, indem sie das Keimplasma durch irgendwelche 
Umstände nach der gegengeschlechtlichen Seite hin verändert glaubt: 
in dem Sinne, dass bei gegebenen Umfeldverhältnissen eine abnorme 
Reaktion eintritt, und zwar dergestalt, dass das Abirren der akziden- 
tellen Sexualdifferenzierung nicht eine Spezies, sondern eine Linien- 
eigenschaft bestimmter Biotypen darstellt. Mit der Annahme der 
Mutation ist selbstverständlich zugleich eine Vererbung gegeben: 
alsoein gesetzlich bestimmtes, wenn auchinnerhalb 
gewisser Grenzen variables Vorkommen einer ähn- 
lichen Erscheinung. 


Man könnte nun schliesslich noch eine diese beiden Vorstel- 
lungen — Psychoanalyse und innere Sekretion — vermittelnde 
Anschauung verteidigen. Angenommen nämlich, dass die Modi- 
fikation tatsächlich eine so grosse Rolle bei der Entstehung sexueller 
Abweichungen spielt, wie sie die Psychoanalytiker vermuten, wäre 
es möglich, auch eben dieser Modifikation selbst eine Erblichkeit 
zuzusprechen. Wir müssten dann modifikatorische Gene annehmen, 
die, nur bestimmten Individuen eigen, ihre Wirkung bei geeigneten 
Umfeldverhältnissen entfalten würden. Was also nach Annahme 
der psychoanalytischen Schule eine allgemeine genische Reak- 
tion bedeutet, wäre nach dieser Theorie eine nur besonderen 
Individuen zugehörende erbliche Modifikabilität. Diese Individuen 
würden auch spezifischen Einwirkungen ebenso mit der Inversion ant- 
worten, während andere sich diesen gegenüber völlig reaktionslos 
verhalten würden. 


Gelänge es, in den vorkommenden akzidentellen Sexualabwei- 
chungen ein genischgesetzliches Verhalten — Erblichkeit — nach- 
zuweisen, so wäre damit zugleich die konstitutionelle Eigenart der 
erwähnten Triebstörungen bewiesen; allerdings nur für diese unter- 
suchten und besonderen Fälle. Es muss jedoch auch hier wieder be- 
achtet werden, dass das Vorkommen modofikatorischer Störungen 
durchaus nicht ausgeschlossen werden soll oder darf. Sprechen 
irgendwelche Ergebnisse gegen die Erblichkeit, so sprechen diese 
gleichzeitig — wenn auch nicht unbedingt — gegen das Vor- 
handensein einer konstitutionellen Komponente. Es kommt dann 
aber auf ein Spiel mit der Bedeutung oder der Definition des Konsti- 
tutionsberriffes hinaus, indem man dann annimmt, epigame Ge- 
schehnisse vermöchten die Komposition (Poll) eines Lebewesens 
in wesentlichen Teilen umgestalten, so dass diese veränderte Reaktions- 


18] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 173 


art nunmehr ebenfalls zu einer Charaktereigenart der Persönlichkeit 
geworden sei. 


Wir werden im folgenden sehen, ob und wie weit die Durch- 
arbeitung von Ahnentafeln dazu beitragen kann, die Entscheidung 
für eine der eben genannten Richtungen zu erleichtern — Modi- 
fikation oder Mutation —, die alle in fast gleicher Weise Meinungen 
und Umstände für oder gegen sich haben. 


IV. Die Vererbung der Homosexualität und das Ergebnis 
der Familienuntersuchungen nach der Weinberg schen 
Methode. 


Bei der Untersuchung jedweden Erbgangs muss man sich zu- 
nächst die Frage vorlegen, nach welchen Gesetzen sich derselbe voll- 
zieht. Der Erbgang der Störungen in den akzidentellen Sexualdiffe- 
renzierungen würde der Aufmarksamkeit der früheren Beobachter 
wohl kaum entgangen sein, wean es sich um ein so einfaches Ge- 
schehen wie Monohybridität, Dominanz und Rezessivität oder ge- 
wöhnliche Heterozygotie gehandelt hätte. In der Tat lässt das uns vor- 
liegende Ahnentafelmaterial ein derartiges Verhalten mit grosser Sicher- 
heit ausschliessen. Bei der Annahme einer Monohybridität müssten 
wir erwarten, dass beim Vorhandensein homosexueller Kinder 
mindestens eins der Eltern ebenfalls homosexuell wäre. Oder umge- 
kehrt, dass, wenn eins der Eltern homosexuell ist, die Kinder zum 
grösseren oder geringeren Teil dieselbe Veranlagung aufweisen. Dies 
ist aber bei dem vorliegenden Material fast gar nicht der Fall. Nur 
in zwei Ehen finden wir, dass behaftete Väter behaftete Söhne 
haben, in allen anderen Fällen stammen die Nachkommen von in 
bezug auf die Homosexualität phänotypisch völlig unbehafteten Eltern. 
Ob sich also die Annahme der Monohybridität auf die Dauer wird 
halten können, wird sich im Laufe der folgenden Untersuchungen 
noch erweisen; denn erst die genaue Untersuchung des Prozentsatzes 
behafteter Kinder erlaubt einen Schluss auf die Faktorenzahl, die bei 
dem Zustandekommen unserer Intersexualitätsstufen eine Rolle spielt. 


Wenn wir die uns vorliegenden Geschwisterschaftstypen betrachten, so 
haben wir zunächst zwei Hauptgruppen zu unterscheiden: nämlich Geschwister- 
schaften mit gesunden Eltern (negativ konkordant im Sinne Haeckerts) und 
Geschwisterschaften mit homosexuellem Vater (patro positiv diskordant). Die 
noch denkbaren Kombinationen: Geschwisterschaften mit homosexueller Mutter 
(matro positiv diskordant) oder homosexuellen Eltern (positiv konkordant) 
sind bei unserem Material leider nicht vorhanden: eine T,ücke, deren Ausfül- 
lung mit Ahnentafelmaterial dringend erforderlich scheint. Die vorher erwähnten 
Gruppen muss man sich der Übersicht halber wieder in verschiedene Unter- 


174 Kurt Wolf. [19 
abteilungen zerlegt denken. Wir haben also dann folgende Kombinationen zu 
unterscheiden: 


A. Negativ konkordante Ehen: 
a) nur heterosexuelle Kinder, 


b) nur homosexuelle Kinder Monotyp (Poll, 
c) homosexuelle Söhne, 
d) homosexuelle Töchter Dityp 


e) homosexuelle Söhne und Töchter. 


B. Patro positiv diskordante Ehen: 
a) nur hetlerosexuelle Kinder, 


b) nur homosexuelle Kinder Monotyp 
c) homosexuelle Söhne, 
d) homosexuelle Töchter Dityp. 


e) homosexuelle Söhne und Töchter. 


Das Bild der Ahnentafeln zeigt nun, dass in unserem Falle für die Gruppe A 
nur die Unternbteilung a ausfallen muss, da ja doch vollkommen heterosexuelle 
Geschwisterschaften natürlich nicht untersucht worden sind. Dass sie vor- 
handen sind, wird niemand bestreiten. Für die Gruppe B fallen alle Unter- 
suchungen mit Ausnahme von b und c fort. Diese Erscheinung ist sicherlich 
eine Folge der noch ımmer zu geringen Zahl der beobachtsten Familien. Im 
übrigen muss, was die Erklärung für das Vorkommen der  Unterabteilungen an- 
betrifft, aus bestimmten Gründen auf das folgende Kapitel verwiesen werden. 
Was uns in diesem beschäftigen muss, ist die Zusammensetzung der Elternpaare 
und ihr Einfluss auf die Geschwisterschaften. 


Für eine vererbungsbiologische Berechnung kann die Gruppe B nicht in 
Betracht kommen, da in ihr überhaupt nur zwei Familien vorhanden sind. 
In der weitaus grössten Mehrheit stammen also die homosexuellen Nach- 
kommen von phänotypisch unbehafteten Eltern! Dies wird nicht nur auf das vor- 
liegende Material passen, sondern, da dieses in bezug auf die Eltern. rein zufällig 
ausgewählt ist, wird es auch klinisch für die Gesamtheit im ganzen zutreffend 
sein. Warum es aber auch biologisch für die Allgemeinheit Gültigkeit zu haben 
scheint, wird ebenfalls im nächsten Kapitel auseinandergesetzt werden. 


Wenn von den insgesamt 113 Familien die beiden in Gruppe B gehörigen 
abgerechnet werden, so bleiben uns 111 Familien mit 451 Kindern. Unter 
diesen 451 Kindern finden sich 145 Homosexuelle, was einem Satze von 32,15% 
entsprechen würde. Die Arbeiten von Weinberg haben uns nun gezeigt, 
dass aus einem derartigen Material auf derartige Weise gewonnene Zahlen ohne 
weiteres als unrichtig betrachtet werden müssen. 


Die Art, in der das Material ausgewählt worden ist, muss auch die Methode 
bestimmen, es zu berechnen. Das Material ist nun so ausgewählt worden, dass 
jeweils ein Homosexueller untersucht und analysiert worden ist, der dann über 
Geschwister und Familie hat Auskunft geben müssen. Es hat also — wie Wein- 
berg sich ausdrückt — eine einseitige Auslese stattgefunden. Diese Auslese trägl 
keinen repräsentativen, d. h. keinen für die Allgemeinheit gültigen Charakter, 
da dem U'ntersuchenden die Familien mit einer grösseren Anzahl Behafteter eher 
zu Gesicht kommen als die mit einer kleineren oder gar nur einem Individuum. 


20] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 175 


Das Ausleseverhältnis wird also stark zuungunsten der behaftet armen Familien 
und zugunsten der behaftet reichen Familien verschoben. Die Folge dieser Ver- 
schiebung wiederum ist ein Behaftetenüberschuss, den Weinberg für diese 
Art der Auswahl mit seiner Probandenmethode zu paralysieren gelehrt hat. 


Der Gedankengang der Probandenmethode ist nach Ju st in Kürze folgender: 
„Anstatt des naiven Vorgehens, alle rezessiven Nachkommen zu zählen und ihr 
Verhältnis zur Gesamtzahl festzustellen, fragt Weinberg nach den Ge- 
schwistern derjenigen Rezessiven, die dem Untersuchenden zu (Gesicht ge- 
kommen sind. Denn die Geschwister dieser Rezessiven sind in ihrer (resamtzahl 
von diesen unabhängig, abhängig dagegen lediglich von der Erbkonstitution 
ihrer Eltern und spiegeln in ihrer prozentualen Zusammensetzung unverzerrt das 
Gesamtbild wieder. Die Summe der Rezessivengeschwister muss also das Resultat 
der Kreuzung heterozygoter Eltern ergeben. Die zur Beobachtung gekommenen 
Rezessiven nenn!. Weinberg ‚Probanden‘, die erst in zweiter Jinie, also bei der 
Untersuchung der Geschwister erfassten „Sekundärfälle“. Letztere werden erst 
dann wieder zu Probanden, wenn Gelegenheit gegeben wird, sie zu untersuchen. 
Der Rezessivenüberschuss wird also dadurch auf die Norm zurückgeführt, 
dass man gar nicht nach den Probanden selbst, sondern nach ihren rezessiven 
Geschwistern fragt, deren Summe dieselben Regeln aufweisen muss wie die 
Summe der Probanden.‘ = | ` | 


In eine von Weinberg für derartige Untersuchungen aufgestellte Tabelle 
wurde nun auch unser Material eingesetzt. 


Es ergab sich natürlich von selbst, dass nicht alle Geschwister in die Be- 
rechnung mit hineingezogen worden sind. Die Eigentümlichkeit der Anlage 
macht es zur Bedingung, die direkt oder indirekt erfassten Individuen erst von 
einem bestimmten Alter an in die Berechnung einzuschliessen; nämlich von dem 
Alter an, in dem eine Entscheidung in bezug auf die Ausgestaltung ihrer psychi- 
schen und physischen Sexualmerkmale getroffen werden kann. Poll hat 
dieses Stadium das Stadium der Entscheidbarkeit genannt. Man weiss, dass die 
Richtung des Geschlechtstriebes in der Zeit der Pubertät bei sehr vielen Per- 
sonen eine besonders schwankende ist, und es gibt Forscher, die dieses Phä- 
nomen als für alle Menschen gültig annehmen wollen. Tatsache ist, dass diese 
Erscheinung ausserordentlich häufig ist. Mir selbst haben etwa 75% der von mir 
befragten (Homosexuellen und Heterosexuellen) = 400 eine derartige Schwankung 
zugestanden. Es schien also nach dem eben Gesagten sehr von Vorteil zu sein, 
das Stadium der Entscheidbarkeit möglichst hoch anzunehmen. Es wurde für 
die vorliegende Arbeit auf 16 Jahre festgesetzt. Die Individuen unter 16 Jahren 
wurden ebenso wie die Fehl- und Frühgeburten oder im Kindesalter Ver- 
storbenen für die Hauptberechnung ausgeschaltet und unter dem Sammelbegriff 
„Unentscheidbare‘‘ zusammengefasst. Dieses Verfahren bedeutet nur dann einen 
Fehler, wenn erhebliche Unterschiede in der Absterbeordnung in der Zeit vor 
oder in dem Entscheidbarkeitstermin für die Gruppe der Behafteten und Unbe- 
hafteten anzunehmen wären. Es ist keine Tatsache bekannt, die für die vor- 
liegende Intersexualitätsstufe auf eine solche differentielle Ausmerzung hinweisen 
würde. So kürzt der Fortfall dieser Gruppe in unschöner aber unvermeid- 
barer Weise das vorhandene Material, verschiebt aber, was entscheidend ist, in 
keiner Weise die Proportion. 


Bei der Einordnung des Materials in die Tabelle ergibt sich nun folgendes 
Bild: 


176 Kurt Wolff. [21 















Kinder- Zah! der Homosexuellen rezessiven 

Ge- Un- | Ge- 
schwister-ientscheid-| ohne Un- schwister- 
schaften bare Tas; Pro- schaften 
are der Fro- 


gesamt | banden 





S.P S S. Y. S. Y. S. Y 
(P—1) (X—1) 
115 68 451 145 116 29 337 31 


Es verhalten sich also die Erfahrungen der Probanden über das Zahlen- 
verhältnis von: 
Sekundäre Fälle 31 
alle Geschwister 337° 


Dieses Verhältnis entspricht einem Werte von: 
9,2%. 

Es wäre nun verfehlt, den erhaltenen Wert ohne weiteres als vollkommen 
richtig zu betrachten. Wir haben aus einer sehr grossen Reihe eine kleine 
herausgeschnitten, und das Resultat würde sich bei der Berechnung von grösseren 
Reihen in bestimmten Grenzen verschieben. Wir müssen also der Variabilität 
dieses Wertes Rechnung tragen und tun dies, indem wir den mittleren Fehler 
suchen, um den das bekannte Teilergebnis von dem uns immer unbekannten Ge- 
samtresullate abweichen kann. Um der grösseren Genauigkeit willen wurde, wie 
üblich, der dreifache mittlere Fehler errechnet. 





Bei Anwendung der Formel m = +y Pre ergibt sich dann für den 


mittleren Fehler m = + 1,5. 
Der dreifache mittlere Fehler ist also H- 4,5. 


Wenn man den so erhaltenen dreifachen mittleren Fehler mit der erhaltenen 
Prozentzahl in Verbindung setzt, so ergibt sich eine Schwankung zwischen 
13,7% ‚als oberer und 4,7% als unterer Grenze, die den dihybriden Idealwert von 
6,2 in sich schliesst. 


Dieses Zahlenergebnis schliesst aus, dasses sich bei 
dem Erbgeschehen um Monohybridismus handeln kann. 
EswidersprichtjedochnichtdereinfachenAnnahme,dass 
zweiunabhängig voneinander mendelnde Gene das Phäno- 
men bedingen. 


Wenn wir also in einem kurzen Rückblick das Resultat dieses 
Kapitels zusammenfassen, so fällt ausser dem eben erwähnten Prozent- 
satz vor allem die eigentümliche Tatsache auf, dass weitaus die 
grösste Mehrheit der Geschwisterschaften aus konkordant negativen 
Ehen stammt. Nur ganz wenige stammen aus patropositiv diskor- 
danten Ehen. Von diesen Hauptgruppen aber sind in unserem 
Material wieder nur ganz bestimmte Umnterabteilungen vertreten. 
Zu erklären, wie viele der in dieser Arbeit nicht vorkommenden 


22] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 177 


Kombinationen auch für die Allgemeinheit ausgeschlossen bleiben 
dürfen und warum, soll nun untersucht werden. 


V. Die moderne Auffassung der Geschlechtsbestimmung und 
die menschliche Intersexualität. 


Es ist unverkennbar, dass die rein klinische Betrachtungsweise 
solcherlei Ergebnissen gegenüber versagen muss. Da drängt sich 
vielmehr die Notwendigkeit auf, im Sinne der Goldschmidt: 
schen Potenz-Hypothese über Geschlechtsbestimmung die beobach-- 
teten Zahlen biologisch zu verwerten. Selbstverständlich hat man 
nicht das Recht, auf Grund rein statistischer Untersuchungen ge- 
fundene Zahlenverhältnisse auf jederzeit im Experiment prüfbare 
Ergebnisse zu übertragen. Wenn in folgendem versucht wird, in 
der exakten Sprache der Mendelforschung eine Arbeitslıypothese 
vorzulegen, so geschieht es einerseits, um die gefundenen Ergebnisse 
in der denkbar strengsten und eindeutigsten Form auszusprechen, 
andererseits vorausblickend konkrete Fragestellungen aufzurollen, von 
denen die weitere Untersuchung ausgehen kann, um die angegebene 
Deutung als richtig oder falsch und in welcher Richtung zu er- 
weisen. Bei der Anwendung der im ersten Kapitel erwähnten Ideen 
auf den Menschen ist zu "beachten, dass hier das männliche Ge- 
schlecht das heterozygote ist. Wir haben also, wie erwähnt, wenn 
wir M den Männlichkeitsfaktor und W den Weiblichkeitsfaktor 
nennen, folgende Formeln zu unterscheiden: Für den Mann (M)Ww, 
für die Frau (M)WW. Hier unterdrückt also beim Mann der Faktor 
(M) den Faktor W, während bei der Frau die beiden Faktoren W 
den Faktor (M) nicht zur Wirkung kommen lassen. Hieraus folgt 
wieder, dass der Faktor (M) höherwertig sein muss als der Faktor W. 
Bei einer zahlenmässigen Veranschaulichung können wir dem Faktor 
(M) die Potenz 4, dem Faktor W die Potenz 3 zuerteilen, so dass 
sich die nun erhaltenen Formeln folgendermassen gestalten: Für den 
Mann ‘(M),W,w, für die Frau (M),W,W.. 

Wenn wir nun den vorliegenden Typ der Homosexualität als ein 
Intersex im Goldscehmidtschen Sinne betrachten, so würde dieser, 
wie bei den Schmetterlingen Goldschmidts durch ein abnormes 
quantitatives Valenzverhältnis der Faktoren gegeben sein. Das würde 
‘die Annahme bedeuten, dass in irgend einer Zygote oder in einem 
Gameten W, in W, mutativ übergegangen ist, und eine Vereini- 
gung zwischen den Geschlechtszellen mit der höheren und normalen 
Valenz zu irgend einer Zeit stattgefunden habe, wenn also beim 
Manne (M) = W wird. Dann entstehen zwangsläufig in der nächsten 


178 Kurt Wolff. [23 


Generation, da das W des Männchens stets vom Weibchen stammt, 
männliche Individuen von dem vorher genannten Typus, und diese 
wollen wir für unsere vereinfachte Ausdrucksweise und Darstellungs- 
ziele vorläufig als die hier behandelte Intersexualitätsstufe definieren. 

Auf diese Weise gelingt es jedoch nicht, das Vorkommen inter- 
sexueller Frauen zu erklären, da beispielsweise die Formel (M),W,W, 
eine ganz extreme Frau bezeichnen würde. Ferner würde niemals ver- 
standen werden können, dass die Intersexualität beim Menschen 
ersichtlich nicht monohybrid spaltet, wie das in den Schmetterlings- 
versuchen für die bei diesen entsprechende weibliche Intersexualität 
der Fallist. Um derartige Spaltungsverhältnisse zu erhalten, bedürfen 
wir der Annahme eines 2. Faktors, und als solcher kommt in erster 
Linie ein Terminationsfaktor in Betracht, der imstande ist, den Zeit- 
punkt des Eintritts von Gleichgewicht oder Ungleichgewicht 
zwischen (M) und W zugunsten von (M) zu verschieben; d. h. also 
ein Faktor, dessen Wirkung wir dahin veranschaulichen können, 
dass er in einer Dosis bei Heterozygotie die Wertigkeit von W um 1, 
in zwei Dosen bei Homozygotie die Wertigkeit von W um 2 er- 
niedrigt. Dieser Faktor aber kann nur in dem bereits im ersten 
Kapitel erwähnten Drehpunkt zu suchen sein. Je früher dieser eintritt 
um so stärker, nehmen wir an, tritt beim Menschen der Weib- 
lichkeitsfaktor, —- je später er eintritt, um so stärker tritt der 
Männlichkeitsfaktor in Erscheinung. Bei der Annahme, dass TT 
die Norm darstellt, also die Absenz von T., bedeutet (Tt) das 
spätere und (tt) das ganz späte Erscheinen des Drehpunktes. Mit 
dieser Formulierung kommt man nun auch auf die Möglichkeit, ein 
weibliches Intersex durch die Faktorenkombination (M),W,W tt zu 
erklären. Alle diejenigen Individuen, bei denen ein Überwiegen von 
(M) oder W stattfindet, fallen nicht in den Begriff unseres Intersexes. 


Wir haben also nach den eben gegebenen Definitionen folgende Gruppen 
männlicher und weiblicher Individuen zu unterscheiden: 


Frauen: Männer: 
(M,W,W,TT (M,W,wTT (Intersex) 
(M,W,W,Tt (M),W,wTt 
(M),W,W tt (M).W. wtt 
(M,W,W,TT = 
M, WW, Tt _ 

(MW, W;tt — 
(M,W,W,TT (MW, wTT 
M). W. W.Tt (NM), We Dt 
(M,W,W,;tt (Intersex.) (M),W ‚wtt 


Die oben erwähnten Gruppen ergeben sonach 54 verschiedene Ehekombi- 
nationen, in denen die Ehen behaftet X behaftet 1 mal, behafteter Mann X un- 


24] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 179 


behaftete Frau 8 mal, behaftete Frau X unbehafteter Mann D mal und unbehaftet x 
unbehaftet 40 mal vorkommen. 

Bei der Untersuchung dieser Kombinationen ergibt sich zunächst die auf- 
fällige Erscheinung, dass zwei homosexuell behaftete Eltern (M),W,wTT x 
(M),W;W,;tt nur unbehaftete Kinder erzeugen müssen. 











W,T W,W,Tt (normales Mädchen) 


wT W,wTt (normaler Knabe) 
(Gametenkombination.) 


Diese Beobachtung wäre als ein Experimentum crucis für die vorstehenden 
Ausführungen zu betrachten. Leider kann die Richtigkeit dieser Kombinationen 
infolge der Seltenheit des Vorkommens durch keinen Fall unseres Materials be- 
wiesen werden. 
Die 8 Ehen behafteter Mann X unbehaftete Frau ergeben folgende Resul- 
tate, die nach dem obigen Schema berechnet sind: 
1. (M),W,wTT x (M,W,W,TT = Alle Söhne homosexuell 
Alle Schwestern normal. 

2. (M,W,wTT x (M),W,W,Tt = Die Hälfte der Söhne homosexuell. 
Alle Schwestern normal. 

3 (M,W,wTT x (M,W,Witt == Alle Kinder gesund. 

4. (M,W,wTT x (M),W,W,TT = Die Hälfte der Söhne homosexuell. 
Alle Schwestern normal. 

5. (M,W,wTT x (M,W,W,Tt = Die Hälfte der Söhne homosexuell. 
Alle Schwestern normal. 

6. (M,W,wTT x (M,W,W;tt = Alle Kinder gesund. 

1. (M,W,wTT x (M,W,W,TT = Alle Kinder gesund. 

8. (M,W,wTT x (M,W,W,Tt == Alle Kinder gesund. 


Die Ergebnisse der bisher besprochenen Kombinationen zeigen 
uns eine biologische Erklärung für das Häufigkeitsverhältnis, insofern 
nämlich, als ja erstens heterosexuelle Kinderschaften nicht unter- 
sucht wurden, die homosexuellen Eltern dieser also uns von vorn- 
herein entgangen sein müssen. Zweitens aber sind von den 8 Kom- 
binationen behafteter Mann und unbehaftete Frau die Hälfte der 
Kinderschaften in ihrer Gesamtheit ebenfalls gesund. Auch diese 
Eltern waren also aus der Sammlung des Materials ausgeschaltet; 
es sei denn, dass der Vater selbst zufällig Proband war. 

Was die UInterabteilungen der patropositiv diskordanten Ehen 
anbelangt, so zeigen uns die Berechnungen, dass d) und e), die, wie 
erwähnt, in unserem Material nicht vorhanden sind, auch für die 


180 Kurt Wolff. [25 


Gesamtheit der möglichen Fälle ausgeschaltet bleiben dürften. Das 
Vorkommen von e) ist nur durch die Kleinheit der menschlichen 
Familien gegeben. Von den hier vorhandenen Ehen besitzen also 4 
gesunde Kinder und 4 nur homosexuelle Söhne. Alle weiblichen 
Nachkommen aus diesen Ehen sind unbehaftet. 


Es bleibt noch übrig, nach denselben Regeln die 5 Kombinationen 
aus den matropositiv diskordanten und die 40 Kombinationen aus 
den konkordant negativen Ehen zu untersuchen. 


Die Berechnung ergibt folgende Resultate: 


Matropositiv diskordante Ehen: 
1. (M,W,wTt x (M,W,Wjtt= Alle Kinder gesund. 
2. (M,W;,wtt > (M,W,Wjtt= Alle Kinder gesund. 
3. (M,W;,wTT x (M,W,Wjtt = Alle Kinder gesund. 
4. (M),W;wTt x (M,W,W,;tt = Die Hälfte der Töchter homosexuell. 
Alle Söhne normal. 
5. (M,W;,wtt x M,W3;Wjtt = Alle Töchter homosexuell. 
Alle Söhne normal. 
Bei der Unterabteilung der matropositiv diskordanten Ehen würde also 
c) und e) ausschalten; b) ist wie vorhin nur möglich durch die Beschränktheit 
(ler menschlichen Familie. Es sind also 3 Ehen mit nur gesunden Kindern und 
2 mit homosexuellen Töchtern vorhanden. Alle männlichen Nach 
kommen aus diesen Ehen sind unbehaftet. 


Konkordant negative Ehen. 


1. ON), Welt xv (M,W,W,TT = Die Hälfte der Söhne homosexuell. 
Alle Töchter normal. 

2. (M),W,wTt x (M)W,W,Tt = !/ der Söhne ist homosexuell. 
Alle Töchter normal. 

3. (M,W,wTt x (M),W,Witt = Alle Kinder gesund. 

4. (M),W,wTt x (M,W,W,TT = !/s der Söhne ist homosexuell. 
Alle Töchter normal. 

5. (M,W,wTt x (M),W,W,Tt = !/s der Söhne ist homosexuell 
Alle Töchter normal. 

6. (M,W,wTt x (M)W,W;tt = Alle Kinder gesund. 

7. (M,W,wTt x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund. 

8. (M,W,wTt x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund. 

9. (M),W,wtt x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund. 

10. (M,W,wtt x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund. 

LL. (M,W,wtt x (M,W,Witt = Alle Kinder gesund. 

12. (M),W,wtt x (M,W,W,TT=Alle Kinder gesund. 

13. (M),W;,wtt x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund. 

14. (M),W,wtt x (M,W,Wj;tt = Alle Kinder gesund. 

15. ON, Wett x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund. 

16. (M,W,wtt x (MWW,W,Tt = Alle Kinder gesund. 

17. (M),W;wTT x (M)\W,W,TT = Alle Söhne homosexuell. 
Alle Töchter normal. 

18. (M),W,;wTT x (M,W,W,Tt =: !/a der Söhne homosexuell 
Alle Töchter normal. 


26] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 181 


19. (M,W,wTT x (M,W,Witt = Alle Kinder gesund. 

20. (M),W,wTT x (M,W,W,TT = '/» der Söhne homosexuell. 
Alle Töchter normal. 

21. (M,W,wTT x (M),W,W,Tt = !/ı der Söhne homosexuell. 
Alle Töchter normal. 

22. (M,\W,wTT x (M,W,W;tt = Alle Kinder gesund. 

23. (M,W,wTT x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund. 

24. (M,W,wTT x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund. 

25. (M,W,wTt x (M,W,W,TT = !/: der Söhne homosexuell. 
Alle Töchter normal. 

26. (M,W;wTt x (M„W,W,Tt = '/ der Söhne homosexuell. 

: Alle Töchter normal. 

27. (M),W;,wTt x (M,\W,W;tt = Alle Kinder gesund. 

28. (M),W,wTt x (M,W,W,TT = !/ı der Söhne homosexuell. 
Alle Töchter normal. 

29. (M,W;,wTt x (M,W,W,Tt = !/s der Söhne homosexuell. 
t/a der Töchter homosexuell. 

30. (M,W,wTt x (M),W,W;tt = !/s der Töchter homosexuell. 
Alle Söhne normal. 

31. (M,W,wTt x (M,W;W,TT= Alle Kinder gesund. 

32. (M),W,wTt x (M),W,W,Tt = !/s der Töchter homosexuell. 
Alle Söhne normal. 

33. (M),W;,wtt x (MWW,W,TT= Alle Kinder gesund. 

34. ON), Wett x (M,W,W,Tt = Alle Kinder gesund. 

35. (MW ;,wtt x (M,W,Witt = Alle Kinder gesund. 

36. (M,W;,wtt x (MWW,W,TT= Alle Kinder gesund. 

37. (M,W;wtt x (M,W,W;,Tt = '!/s der Töchter homosexuell. 
Alle Söhne normal. 

38. (M,W,wtt x (M,W,W;3tt =!/a der Töchter homosexuell. 
Alle Söhne normal. 

39. (M),W;wtt x (M,W,W,TT= Alle Kinder gesund. 

40. (M,W;,wtt x (M),W,W,Tt = Alle Töchter homosexuell. 
Alle Söhne normal. 


Die Betrachtung der vorstehenden Kombinationen ist imstande, 
uns zu erklären, wie aus zwei vollkommen gesunden Eltern homo- 
sexuelle Nachkommen durch Potenzverschiebungen entstehen können. 

Von den 40 eben angeführten Fällen sind 23 solche mit nur 
gesunden Kindern, 11 solche mit homosexuellen Söhnen, 5 mit 
homosexuellen Töchtern, und einer mit homosexuellen Söhnen und 
Töchtern. | 

Wenn man alle 54 Kombinationen in Betracht zieht, so sieht man, 
dass die Homosexualität der Söhne in bezug auf ihre Anzahl eine 
Schwankung zwischen allen und !/,, die der Töchter ein gleiches Mass 
aufweist. | . 

Es bleibt noch übrig, die im vorigen Kapitel nach klinischen 
Gesichtspunkten gegebene Einteilung der Geschwisterschaften nach 
unseren biologischen Ergebnissen zu korrigieren. Wir haben nun zu 
unterscheiden : 


182 Kurt Wolff. [27 


A. Konkordant positive Ehen: 
a) Nur heterosexuelle Kinder (100%). 


B. Patropositiv diskordante Ehen: 
a) Nur heterosexuelle K'nder (50%). 
b) Homosexuelle Söhne nit stets heterosexuellen Schwestern 
(50%0). 
C. Matropositiv diskorda .. Ehen: 
a) Nur heterosexuelle . inder (600/0). 
b) Homosexuelle Töchter mit stets heterosexuellen Brüdern 
(40%). 
D. Konkordant negative Ehen: 

a) Nur heterosexuelle Kinder (57,5%). 

b) Homosexuelle Söhne (27,5%). 

c) Homosexuelle Töchter (12,5%). 

d) Homosexuelle Söhne und Töchter (2,5%). 

Daraus ergibt sich, dass im Durchschnitt aus allen Ehen in 
überwiegender Anzahl nur heterosexuelle Geschwisterschaften 
stammen müssen. 

Es ist auf Seite 15 erwähnt worden, welche Kombinationen 
in unserem Material nicht vorhanden sind. Nach den nunmehrigen 
Ergebnissen ist noch zu untersuchen, welche Kombinati ..:n auch in 
der Gesamtheit überhaupt nicht vorhanden sein könen. Es ehlen 
klinisch im Material : 

1. Homosexuelle Mutter und homosexuelle Kinder. 

2. Homosexueller Vater und homosexuelle Tochter. 

3. Homosexueller Onkel und homosexuelle Nichte. 

Die Gruppendurchsicht der matropositiv diskordanten und patro- 
positiv diskordanten Ehen zeigt uns nun, dass homosexuelle Mütter 
nur homosexuelle Töchter, homosexuelle Väter nur homosexuelle 
Söhne haben können. Es fehlen biologisch und damit tatsächlich im 
Material also nur: 

1. Homosexuelle Mutter und homosexuelle Tochter. 

2. Homosexueller Onkel und homosexuelle Nichte. 

Durch unsere Betrachtungen ist nur die Möglichkeit des ersten 
Falles erwiesen, die des zweiten nachzuprüfen sind wir vorläufig 
ausserstande. 


VI. Zusammenfassung und Ergebnisse. 


Lie hier gegebene Vorstellung geht von dem Gesichtspunkte 
aus, dass die zentralisierte Hormonenproduktion beim Säugetier 


28] Über den Ursprung der Intersexualität beim Menschen. 183 


von Hause aus genetisch abgestimmt ist. Es bedarf wohl keiner 
Betonung, dass ein zygotisch festgelegtes Valenzverhältnis modi- 
fikatorisch noch in hohem Ausmasse, verändert werden kann, wie 
die Versuche über Kastration und Transplantation ja ohne weiteres 
beweisen. Modifikatorisch hormonise: ‚d. h. also rein phänotypisch 
durch intra- oder extrauterine Schi. sale bedingte phänotypische 
Intersexualität einerseits und zygotıs ' hormonisch bedingte Inter- 
sexualität andererseits sind wir nicä.' imstande zu unterscheiden, 
ebensowenig wie wir die Idiotie durey! intrauterine Meningitis von 
einer ldiotie auf keimplasmatischer Grundlage zu trennen vermögen. 
Ein, wenn auch unsicherer Anhaltspunkt, für die Annahme geno- 
typisch hormonaler Intersexualität ist in dem ausserordentlich früh- 
zeitigen Auftreten irgendwelcher Intersexualitätscharaktere zu er- 
blicken. Aber auch dieser Anhaltspunkt sagt uns nur, dass der die 
Intersexualität bestimmende Faktor zu einer sehr frühen Zeit in 
Wirkung getreten ist. Je früher er auftritt, um so mehr Wahrschein- 
lichkeit für seine genetische Bedingtheit ist vorhanden. Diese ist mit 
Sicherheit nur dann anzunehmen, wenn sie vor den uns ja unbe- 
kannten Drehpunkt fällt. 


Wir können jedoch den 'genetischen Ursprung eines Intersexes . 
mit grösserer Wahrscheinlichkeit für eine grössere Gruppe von 
Individuer!ännehmen, wenn wir für sie oder ihre Nachkommen 
bestinhnte biologische Gesetze anzunehmen berechtigt sind. Diese 
Gesetze exakt zu beweisen, kann nur die Aufgabe gross angelegter 
Forschungen sein und ist keineswegs im Laufe weniger Jahre zu be- 
wältigen. Die vorstehende Arbeit soll nur den Versuch einer Er- 
klärung bedeuten, keineswegs eine exakte genische Erklärung selbst. 
Diese zu geben wird um so schwerer fallen, als beim Menschen ja 
das ausgesprochenste Hilfsmittel der Botaniker und Zoologen, das 
Experiment, gänzlich fortfallen muss, und die Ahnentafeln, als ein 
sehr unzulänglicher Ersatz, seine Stelle einnehmen. Trotzdem scheint 
es, als ob selbst bei unserem geringen Material bereits vererbungs- 
biologische Gesetze in Erscheinung treten: 


1. In 30% der untersuchten Familien kommt die 
Homosexualität (in unserem Sinne) gehäuft vor. Be- 
stimmte Verwandtschaftskombinationen, die auch 
in unserem Material nicht auftreten, müssen nach 
den Erklärungen auf S. 27 für die Gesamtheit ausge- 
schlossen werden. 2. Die durch die Weinbergsche 
Probandenmethode gewonnene Zahl (aus Ehen unbehaftet 
Xx unbehaftet) v on 9,2 -L 1,50%% bzw. --4,5schliessteineMono- 


« 
— 72 


184 Kurt Wolff. [29 


hybridität aus und spricht für Dihybridität. 3. Für 
Dihybridität sprechen ebenfalls die Ausführungen 
im 5. Kapitel, nach denen bei Voraussetzung der 
Dihybridität die Erzeugung von Intersexen nur auf 
der Mendelung der Faktoren W und T beruht: Auch 
aus normalen X normalen Ehen können hiernach 
intersexuelle Zwischenstufen entstehen. Ein be- 
sonderer Belastungsfaktor für die Homosexualität 
existiert infolgedessen nicht. 4. Auch die mensch- 
liche Intersexualitätscheintalsoinihrer Mehrzahl 
nur die Folge von Valenzverschiebungen der Ge- 
schlechtsfaktoren zu sein! 


Kritiken. 


Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an 
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden. 


Ss: 
ER 


Halban und Seitz: Biologie und Pathologie des Weibes. Ein Handbuch 
der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Verlag von Urban und Schwarzenberg, 
1923, 

Kein zusammenhängendes gynäkologisches Werk der neueren Zeit kann 
freudiger begrüsst werden als das Halban-Seitzsche Handbuch. Wird doch 
in ihm ein gerade von Konstitutionsforschern schon lange geforderter Wunsch der 
Erfüllung nahe gebracht. Der Gynäkologe tritt heraus aus dem engen Kreis seiner 
Fachwissenschaft, die reine „Frauenheilkunde“ erweitert sich zur Frauen- 
kunde. Es darf für die Freunde des ArchivsfürFrauenkunde und für 
seinen Herausgeber eine Genugtuung sein, dass ihre Bemühungen und Anregungen 
so tief Wurzel geschlagen haben. Man muss anerkennen, dass auf den von 
Max Hirsch 1912 vorgezeichneten Wegen frauenkundlicher Forschung reiche 
Saat aufgegangen ist, und dass in dem weitgespannten Rahmen des Archivs für ` 
Frauenkunde dem ärztlichen Denken ein grosser Schatz von Erkenntnissen und 
Fragestellungen geboten wird, so dass in weiterer Zukunft mächtiger Auftrieb 
ärztlicher Bildung und fruchtbare Durchdringung ärztlichen Berufsinhaltes zu er- 
warten ist. Das vorliegende Werk vonHalban-Seitz ist auf diesem Boden er- 
wachsen. Die Herausgeber sagen im Vorwort „Mehr und mehr kommt aber 
allenthalben der Grundsatz zum Durchbruch, dass nur eine biologische Denkungs- 
weise die Grundlage der Medizin bilden kann, und dementsprechend darf 
die moderne Gynäkologie nicht eine reine Frauenheilkunde sein, sondern sie 
muss auf dem Boden der Frauenkunde aufgebaut sein.“ Aber im Sinne 
der von Hirsch vertretenen Frauenkunde ist selbst der biologische Rahmen zu 
eng. Grenzgebiete wie Psychologie, Psychiatrie, Kriminalistik, Soziologie, Sta- 
tistik, Anthropologie, Ethnologie und Vorgeschichte, Philosophie und Pädagogik, 
individuelle und soziale Hygiene, Vererbungslehre und Familienforschung müssen 
überschritten werden. In dem Handbuch von Halban und Seitz ist das 
auch mehrfach geschehen. Es braucht nur auf die Beiträge von Walthard, 
Lenz, Reuter, Stratz und Max Hirsch hingewiesen zu werden. 

Die bisher erschienen Lieferungen sind verheissungsvoll. Das Werk soll nicht 
nur die Krankheitszustände der weiblichen Geschlechtsorgane schildern, es soll 
alles zusammenfassen, was von Einfluss auf Entstehung und Behandlung dieser 
Krankheiten vom Augenblick der Zeugung bis zum Grabe ist. Es muss daher 
seine Grenzen weiter stecken, als das die bisherigen Handbücher getan haben. 
Breit und erschöpfend soll neben der Anatomie vor allem die Physiologie und die 
physiologische Anatomie behandelt werden. Zur Vervollständigung wird die ver- 
gleichende Anatomie, Morphologie und Pathologie der höheren Tiere heran- 
gezogen. Die wichtigen konstitutionellen Fragen, Rassenlehre und Rassenhygiene, 


Arehiv für Frauenkuude. Bd. X. H. 2. 13 


186 Kritiken. [2 


Vererbungsgesetze und soziale Einflüsse finden Berücksichtigung. Das Vorwort 
verspricht weiter eine Würdigung seelischer Vorgänge auf die Entstehung und 
Heilung scheinbar körperlicher Leiden. Wie man sieht: ein weit gestecktes Ziel, 
das des Interesses weitester Kreise sicher sein kann. 

Erschienen sind bisher 5 Lieferungen. Den Anfang macht Halban mit 
einem Kapitei Allgemeine Symptomatologie und Diagnostik in der Frauenbeil- 
kunde. Hier ist besonders der Abschnitt über den Schmerz, speziell den Bauch- 
schmerz hervorzuheben, der in dieser Ausführlichkeit ın gynäkologischen Werken 
bisher nicht zu finden war. 

Polano: Gynäkologische Untersuchungslehre schliesst sich an. Dies 
Kapitel ist besonders reich illustriert. Erwähnenswert scheint mir hier der Ab- 
schnitt über die Untersuchung mittels optischer Instrumente, Röntgenphotographie 
mittels Pneumoperitoneum. Untersuchung der Eileiter auf Durchgängigkeit und 
Untersuchung des Gleichstromwiderstandes der Haut. 

Eine prachtvolle Leistung ist das Kapitel von Köhler: Medikamentöse und 
Organtherapie.. Schon die Nennung der Kapitelüberschriften würde zu weit 
führen. Ich beschränke mich darauf, anzugeben, dass das Kapitel wohl alles er- 
wähnt, was bei der Behandlung des spezifischen und unspezifischen Fluors, der 
Gonorrhöe mit ihren Komplikationen, des Krebses erwähnenswert scheint. 
Kapitel über Antikonzipientia, Abortiva, Emenagoga, schliessen sich an. Organo- 
therapie, Aphrodisiaka usw. folgen. Kurzum eine Fundgrube für den Forscher, 
und um so besser zu gebrauchen, als jedem Kapitel eine reiche Literaturangabe 
beigegeben ist. 


Lindigs Proteinkörpertherapie erhält seinen Wert dadurch, dass der 
Autor auf diesem Gebiet selbstschöpferisch tätig war. 

Den Abschluss der ersten Lieferung bildet eine gross angelegte Arbeit von 
Seitz über Röntgen- und Radiumbehandlung, ein Kapitel, das kaum einer 
besseren Hand hätte anvertraut sein können. 

Die zweite Lieferung, mit der das ganze Werk beginnen soll, gibt eine Ge- 
schichte der Gynäkologie aus der bewährten Hand des Wiener Autors 
J. Fischer. Er führt uns aus der präliistorischen Zeit über das Altertum (Baby- 
lonier, Assyrer, Ägypter, Juden, Inder, Perser, Griechen, Römer) zum Mittelalter 
(Byzanz, Araber, Germanen, Schule von Salerno usw.) und in die Neuzeit. Das 
reich illustrierte Kapitel endet mit einem China und Japan betreffenden Anhang 
und gibt ein überaus interessantes Bild vom Werden unserer Fachwissenschaft. 

Es würde zu weit führen, wollte man alle Kapitel des Werkes im einzelnen 
genau besprechen. Wir finden als Schluss der Lieferung weiter von Lubosch: 
Normaie Entwicklungsgeschichte der weiblichen Geschlechtsorgane des Menschen. 

Mit wehmütigem Gedenken schlägt man die dritte Lieferung auf, in der 
Mathes auf über 100 Seiten die Konstitutionstypen des Weibes, insbesondere 
den intersexuellen Typus schildert. Aus seinem „Schlusswort‘‘ seien die nach- 
folgenden Gedanken wiedergegeben. „Je mehr ich mich mit der Erforschung der 
Konstitutionstypen beschäftigt habe, desto mehr musste ich erkennen, dass die 
vom Hausarzt mühsam auf empirischem Wege erworbene Kenntnis der „Natur“ 
seiner Pilegebefohlenen diesen sehr zum Heile gereichen könne. Die Aufgabe 
der Konstilutionsforschung ist es nun, das, was der Hausarzt erst durch lange 
Erfahrung empirisch erwerben konnte, lehrhaft zu vermitteln und jedem Anfänger 
begreiflich zu machen, dass die individuellen Lebensvorgänge nicht mit Mass- 
stab und Zirkel gemessen, nicht ınit der Wage gewogen oder im chemischen 
oder bakterivlogischen Labvratorium erschlossen werden können. Es ist ein 
falscher Weg, der eingeschlagen wird, wenn man einer Erscheinung, einem 
Objekt, mit dem man gedanklich nichts anzufangen weiss, mit Messen und Wägen 
an den Leib rückt. Das Messen und Wägen ist erst am Platz, wenn man weiss, 
warum man messen und wägen soll und muss, dann wenn man das Objekt ge- 
danklich schon bezwungen hat.“ 


3) Kritiken. 187 


Dass dieses Kapitel gerade für Leser dieses Archivs von besonderem Inter- 
esse ist, braucht nicht betont zu werden. 

Über Vegetations- und Wachstumstörungen spricht im nächsten Kapitel 
der Berner Klinker Guggisberg. Zwergwuchs und Riesenwuchs sind die 
ersten Kapitelüberschriften, Agenitalismus, Eunuchoidismus, Hypergenitalismus 
schliessen sich an. Reich illustriert geben diese Kapitel Einblicke in Wachstums- 
typen, wie sie in dieser Klarheit und Ausführlichkeit bisher in gynäkologischen 
Lehr- und Handbüchern nicht zu finden waren. 2 kleinere Arbeiten über Osteo- 
malazie und Chlorose von demselben Autor schliessen sich würdig an. 

Dem Fachgynäkologen am meisten Neues aber bietet die 4. Lieferung 
mit ihrer vergleichenden Anatomie der weiblichen Geschlechtsorgane der Haus- 
säugetiere, bearbeitet von Schmaltz, weiter mit der Arbeit vonDrahn über: 
Der weibliche Geschlechtsapparat von Kaninchen, Meerschweinchen, Ratte und 
Maus, und der Rassenlehre von Stratz (Haag). Diese Lieferung bringt dann 
noch den Schluss der schon erwähnten Luboschschen Normalen Entwick- 
lungsgeschichte der weiblichen Geschlechtsorgane des Menschen und den Anfang 
der Physiologie der weiblichen Genitalorgane von Fränkel (Breslau). Dass 
die Stratzsche Arbeit besonders reichhaltig illustriert ist, versteht sich für 
den, der Stratz Werke kennt, von selbst. 

Diese kurze Übersicht der 4 ersten Lieferungen möge zeigen, was das 
Halban-Seitzsche Werk bietet. Dass Druck und Ausstattung voll und ganz 
den Friedensstand, d. h. Vorkriegszustand erreicht haben, braucht nicht besonders 
betont zu werden. Es ist ein Genuss sich in das Werk in all seinen einzelnen 
Teilen zu vertiefen. Je nach Erscheinen weiterer Lieferungen wird über ein- 
schlägige Arbeiten berichtet werden. E. Sachs, Lankwitz - Berlin. 


Grotjahn: Soziale Pathologie. Versuch einer Lehre von den sozialen Be- 
ziehungen der Krankheiten auf Grundlage der sozialen Hygiene. (3. neubearb. 
Aufl. Verlag von Julius Springer, Berlin 1923.) 

Die erste Auflage dieses Buches ist 1911 erschienen und stellte zweifellos 
einen Markstein dar für die jüngste Phase unserer neuzeitlichen Medizin, die 
soziale Hygiene. Waren auch bis dahin die Krankheiten der Menschen bereits 
vereinzelt und gelegentlich einer Betrachtung von sozialen Gesichtspunkten aus 
unterzogen worden, so stellte die soziale Pathologie den ersten Versuch einer 
systematischen Durcharbeitung der Materie dar. Die jetzt vorliegende 
Auflage unterscheidet sich von den beiden voraufgegangenen darin, dass sozial- 
hygienisch interessierte Ärzte zur Bearbeitung von Einzelkapiteln herangezogen 
worden sind. 

Die Beziehungen der einzelnen Erkrankungen zur sozialen Umwelt sind 
vorwiegend nach folgenden 6 Gesichtspunkten abgehandelt: 1. die soziale Be- 
deutung einer Krankheit wird in erster Linie bestimmt durch ihre Häufigkeit. 
Demnach erhalten selbst leichte Affektionen allein durch ihre ausgedehnte Ver- 
breitung oft erhebliche soziale Wichtigkeit. 2. Dabei ist jedoch ausschlaggebend 
die Gleichartigkeit des sich abspielenden Vorgangs bei den zahlreich neben- 
einander bestehenden Einzelfällen. 3. Die wichtigsten Beziehungen zwischen 
krankhaften Zuständen und sozialen Verhältnissen liegen auf ursächlichem Ge- 
biete. Viele Krankheiten entstehen nicht nur primär aus sozialen Ursachen, 
sondern ungleich mehr werden sekundär durch die begleitenden sozialen 
Nebenumstände in ihrem Verlaufe entweder günstig oder ungünstig entscheidend 
beeinflusst. Daraus ergibt sich, dass: a) die sozialen Verhältnisse die Krank- 
heitslage schaffen oder begünstigen; b) die sozialen Verhältnisse die Träger der 
Krankheitsbedingungen sein können; c) die sozialen Verhältnisse die Krankheite- 
erregung vermitteln und d) den Krankheitsverlauf beeinflussen können. Die Ein- 
wirkung der sozialen Verhältnisse ist wiederum verschieden je nach Stabilität 
und Qualität der allgemeinen sozialen Lage. 4. Die krankhaften Zustände werden 
durch soziale Verhältnisse nicht allein in Entstehung und Verlauf bedingt, sondern 


13* 


188 Kritiken. [4 


sie beeinflussen auch ihrerseits wieder die sozialen Zustände, insonderheit Be- 
völkerungsbewegung, Volkskraft und Arbeitsleistung; speziell durch die Art 
ihres Ausgangs: in Tod, Heilung, Verschlimmerung, Siechtum, Veranlagung für 
andere krankhafte Zustände und Entartung. 5. Möglichkeit und Ausmass ärzt- 
licher Behandlung bei sozialpathologisch wichtigen Krankheiten und Feststellung 
des Veränderungsgrades der Krankheiten im sozialen Leben. 6. Möglichkeit der 
Beeinflussung des Verlaufs krankhafter Zustände und ihre Verhütung durch 
soziale Massnahmen. Letzterer Punkt gibt zugleich die notwendige enge Ver- 
knüpfung zwischen der sozialen Hygiene und der Eugenik. 

Es folgt dieser Abhandlung der einzelnen Krankheitsgruppen ein allgemeiner, 
folgende Fragen umfassender Teil: 1. soziale Wertung der Krankheitsgruppen 
und ihre soziale Bedingtheit. 2. Der soziale Wert der ärztlichen Betätigung. 
3. Der soziale Wert der hygienischen Betätigung und die soziale Hygiene. 
4. Der soziale Wert des Krankenhaus- und Anstaltswesens. .5. und 6. die 
quantitative und die qualitative Rationalisierung der menschlichen Fortpflan- 
zung. Die beiden letztgenannten Kapitel lenken eingehend die Aufmerksamkeit 
auf die Erscheinung des Geburtenrückganges und die dysgenische und eugenische 
Rolle der Geburtenprävention. Hans Haustein, Berlin. 


Walter Frey: Herz und Schwangerschaft. Mit 15 Abbildungen und einem 
Geleitwort von W. Stöckel und A.Schittenhelm. Verlag von G. Thieme, 
Leipzig 1923. 

Ein Grenzgebiet fruchtbar bearbeiten kann nur der, der in beiden Diszi- 
plinen gut ausgebildet ist, sonst gibt es Stümperarbeit. Eine Bearbeitung des ım 
Titel genannten Fragekomplex unter Benutzung des Materials einer geburts- 
hilflichen Klinik durch einen internen Fachmann hat uns bisher 
gefehlt; der Internist sah die Fälle meist allzu schwarz, da er nur die Frauen 
zu sehen bekam, die wegen übler Folgen der Schwangerschaft zu ihm kamen. So 
kommt es, dass man immer wieder als Geburtshelfer sehen muss, dass der 
konsultierte Internist mit dem Rat zur Schwangerschaftsunterbrechung sehr 
schnell zur Hand ist. Durch Benutzung und Nachuntersuchung des in der Kieler 
Frauenklinik zusammenströmenden Materials ist es dem internen Kliniker Frey 
gelungen, in geradezu vorbildlicher Weise die Fragen zu lösen, die sich bei 
der Komplikation von Schwangerschaft mit Herzleiden ergeben können, und 
eine Grundlage zu schaffen, die für jedes weitere Arbeiten richtunggebend 
bleiben wird. Frey verwendet das ganze Rüstzeug einer gut geleiteten modernen 
inneren Klinik, Röntgenuntersuchung, volumetrische Pulsuntersuchungen, Gefäss- 
untersuchung, Auskultation usw. Die Untersuchungen wurden auf Herzgesunde, 
scheinbar Gesunde mit relativer Klappeninsuffizienz und organische Herz- 
schädigungen ausgedehnt. Die Frage der Herzvergrösserung und ihre Ursachen 
werden besprochen. Der Einfluss der verschiedenen Geburtsperioden exakt ge- 
prüft und in jedem Kapitel eine klärende Zusammenfassung gegeben, die die 
Lektüre des Buches erleichtert. 

Selbstverständlich wird auch der extrakardiale Kreislauf in den Betrach- 
tungsbereich bezogen. Schliesslich ist ein Kapitel der Prognose und ein weiteres 
der Behandlung gewidmet. Und der Schluss der Arbeit? „Für die Behandlung 
der Klappenfebler ist die Beurteilung der Suffiziens des Herzens und ausserdem 
das Vorhandensein oder Fehlen frisch entzündlicher Veränderungen von prin- 
zipieller Bedeutung. Der Nachweis der Dekompensation eines Herzens während 
der Gravidität begegnet zuweilen gewissen Schwierigkeiten. Zyanose und Dys- 
pnoe liefern die sichersten Kennzeichen, und ausserdem die Untersuchung des 
Radikalpulses auf Druck und Volum. Die wichtigsten Zeichen für das Bestehen 
einer akut entzündlichen Endokarditis sind die Tachykardie, das Vorhanden- 
sein einer (sekundären) Anämie und der Nachweis subfebriler Temperaturen." 
Bei Fällen mit akuter Endokarditis oder Myokarditis befürwortet Frey die Unter- 
brechung der Gravidität in jedem Stadium der Schwangerschaft. Die Mitral- 


5] Kritiken. 189 


stenose — und hier besteht ein Gegensatz zu den bisherigen Anschauungen der 
Gynäkologen, den Frey aber wohl begründet, nimmt keine Sonderstellung ein. 
Klappenfehler ohne Dekompensation, ohne entzündliche Veränderungen bieten 
keine Indikation zur künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft. Die Pro- 
gnose der Vitien im allgemeinen .erscheint im Hinblick auf Schwangerschaft, 
Geburt und Wochenbett gar nicht besonders ungünstig. 

Wir haben hier ein Werk vor uns, das man nicht nur mit Genuss liest, 
sondern das dem dGeburtshelfer, der die Frage der Schwangerschaftsunter- 
brechung oder Erhaltung nicht leichtsinnig entscheiden mag, ein guter Ratgeber 
sein kann, der ihm hilft, in dieser so heiklen Frage das Richtige zu treffen. 
Das Werk unterscheidet sich von anderen, die vielleicht ein grösseres Material 
bearbeiten, dadurch, dass alle Herzen von demselben Untersucher durchunter- 
sucht wurden, so dass der Autor sich in keinem Fall auf alte klinische 
Journale anderer zu stützen brauchte, die doch immer mehr oder weniger in 
speziellen Fragen zu versagen pflegen. Wir könnten entsprechende Werke auch 
über die anderen Komplikationen der Schwangerschaft gut gebrauchen. 

/ E. Sachs, Lankwitz-Berlin. 


Hermann Zondek: Die Krankheiten der endokrinen Drüsen. Ein Lehr- 
buch für Studierende und Ärzte. Verlag von Julius Springer, Berlin 1923. 
Verf. hat sein Werk wohl absichtlich frei von allen den grundlegenden 
physiologischen Fragen und biologisch-konstitutionellen Erörterungen zu halten 
gesucht, welche den klinischen und lehrbuchmässigen Charakter des- 
selben hätten beeinträchtigen können. Was auf diese Weise entstanden ist, das 
ist eine in ihrer Materialfülle oft bewunderungswürdige, in ihren Fragestellungen 
aber nicht eben tiefe klinische Darstellung von Krankheitsbildern 
— ebenfalls nicht unter der leitenden Maxime, dass die Dysfunktion einzelner 
endokriner Organe oder der einzelne abnorme Konstitutionstyp in den Vorder- 
grund tritt, sondern aus grober Krankenhaus-Empirie heraus. Für den Prak- 
tiker, an den bei dieser Behandlung des Stoffes offenbar in erster Linie ge- 
dacht wurde, sind zu viele, praktisch noch unverarbeitbare Details auf- 
geführt; der als Forscher Interessierte wird diese Fundgrube von Finzelmaterialien 
gerne und dankbar hinnehmen, ohne aber Neues darin zu finden. Einzelne 
Kapitel sind schwach und unzulänglich; so etwa dasjenige über präsenile 
Involution. Psychologisches und Psychopathologisches fehlt fast gänzlich, wiewohl 
die Involution, der Infantilismus, der Eunuchoidismus usw. denn doch einigen 
Anlass zu entsprechenden vertiefteren Hinweisen geboten hätten. Überhaupt ist 
der Gesichtspunkt der Darstellung ein recht enger, nichts-als-internistischer. Auch 
stehen die monströseren Abweichungen, offenbar aus didaktischen Gründen, 
gegenüber den weit häufigeren Durchschnittsfällen etwas zu stark im Vorder- 
grunde. 
Es wäre vielleicht nicht schade gewesen, wenn dieses Buch erst nach drei 
bis fünf Jahren weiterer Forschung in Druck gegangen wäre. So bleibt zu 
erbitten, dass der kundige Verf. für die nächste Auflage den oft noch spröden 
Stoff durch eine vertieftere, physiologisch fundierte Formung in manchen 
Einzelheilen umgestaltet, insbesondere die Beziehungen der Krankheiten zu den 
Konstitutionstypen mehr herausarbeitet, und die Darstellung mehr als bisher 
unter den leitenden Gesichtspunkt der grundlegenden Probleme des Gesamt- 
gebietes bringt. — Die grösste Zierde des Buches ist der Reichtum und die 
Schönheit seiner Bildermaterialien, für die Verfasser und Verleger 
besonderen Dank verdienen. Ä Kronfeld, Berlin. 


Hüssy: Die Schwangerschaft in ihren Beziehungen zu den anderen Ge- 
bieten der Medizin und ihre biologischen Probleme. Mit 8 Textabbil- 
dungen und 18 Kurven. Verlag von Ferdinand Enke, Stutigart 1923. 

Was bisher in Lehrbüchern und Zeitschriften ungeordnet und schwer auf- 
findbar über die physiopathologischen Probleme der Schwangerschaft geschrieben 


190 Kritiken. | [6 


steht, ist hier zum ersten Male unter einheitliche Gesichtswinkel und übersicht- 
lich zusammengefasst. In dem Widerstreit der Meinungen tritt die persönliche 
Auffassung der Verfasser naturgemäss mit starker Betonung hervor. Der Heraus 
geber selbst hat die Vererbungsprobleme, Schwangerschaftsdauer, Geschlechts 
bestimmung, biologische Graviditätsdiagnose, Schwangerschaftstoxikosen, Innere 
Krankheiten, Nervenkrankheiten, Geisteskrankheiten, Gynäkologische Krankheiten, 
Ohrenkrankheiten behandelt. Werdt hat die Beeinflussung der normalen 
Organe durch Gravidität, Forster Befruchtung, Einbettung und Plazention; 
sowie die Biologie der Plazenta; Knüsel die Augenkrankheiten; Zollinger 
Unfälle, Vergiftungen und Gewerbekrankheiten; Kircher chirurgische Erkran- 
kungen, Jost die Tuberkulose, Forster die Erkrankungen des Eies ge 
schrieben. Umfangreiche Literaturverzeichnisse dienen dem wissenschaftlichen 
Arbeiter auf diesem noch ganz im Werden begriffenen Gebiete. Die Indikation 
zum künstlichen Abort und zur Sterilisation werden in allgemeinen Grundsätzen 
besprochen. Dabei werden Gesichtspunkte qualitativer Bevölkerungspolitik hervor- 
gehoben. Max Hirsch, Berlin. 


Holmes: A Bibliography of Eugenics. University of California Publications 
in Zoologie. Vol. 25. University of California Press Berkeley, California 1924. 
Wenn ich nicht irre, ist das die erste bibliographische Übersicht über die 
gesamte eugenetische Literatur. Das Archiv für Frauenkunde hatte es sich zum 
Ziele gesetzt, die frauenkundliche Literatur unter Einschluss der Eugenetik 
zu sammeln, und hatte auch in den ersten Bänden erfolgreich damit begonnen. 
Der Krieg hat die Fortsetzung dieses Unternehmens vereitelt, doch soll damit 
demnächst von neuem begonnen werden. Mit Befriedigung sehen wir, dass die 
vorliegende Bibliographie durch zweckmässige Einteilung und Lückenlosigkeit 
den Verlust ersetzt. Sie ist eine wertvolle Bereicherung und Unterstützung gerade 
unserer wissenschaftlichen Arbeit. + Max Hirsch, Berlin. 


v. Reitzenstein: Das Weib bei den Naturvölkern. Mit 265 Abbildungen 
und 11 Tafeln. 485 S. Text. Grundpreis in Halbleinen 40 M. Verlag von 
Neufeld und Henius, Berlin 1923. 

In diesem Werke wird ein Stück Frauenkunde dargeboten aus den An- 
fängen der Entwicklung menschlicher Kultur. Viele Erscheinungen der Gegenwart 
im Leben des einzelnen und der Völker erhalten die rechte Beleuchtang erst, 
wenn sie im Spiegel primitiver Anfänge betrachtet werden. Seien sie anthropologi- 
scher, ethnologischer, biologischer, psychologischer, pathologischer, sozialer oder 
kultureller Art. Wer frauenkundliche Aufschlüsse sucht, für den ist das Werk von 
Reitzenstein eine ergiebige Quelle. In seinen 5 Hauptabschnitten wird 
die Anthropologie des primitiven Weibes, seine Stellung zu Mann, Kind und 
Öffentlichkeit, sein häusliches, sein geistiges Leben, seine Stellung in Kunst und 
Dichtung behandelt. Denjenigen, welcher nur ärztliches sucht, lohnt reicher 
Fund an physiologischen und sexualbiologischen Mitteilungen. Die Betrachtungs- 
weise ist durchaus gegenwartsstark durch konstitutionelle und innersekretorische 
Blickrichtung. Die soziologischen Beziehungen der Fruchtbarkeit, des Geschlechts- 
verkehrs, der weiblichen Tätigkeit, die Geschlechtssitten im Leben, in Kunst und 
Dichtung, die rechtliche Stellung des Weibes in der Volksgemeinschaft und in der 
Familie, Körperschmuck und Körperpflege, kurz eine Fülle von Stoff wird ver- 
arbeitet, deren Zusammenfassung nur dadurch möglich geworden ist, dass nur 
wesentliches erwähnt wird. 

Aber ein Vorzug verdient besondere Betonung. Das soeben in kurzer Über- 
sicht genannte Material erscheint nicht in ungebundener Zusammenfügung von 
Einzeltalsachen. Vorgängen und Erkenntnissen, wie es so oft in ethnologischen 
Darstellungen üblich ist. Sondern das ganze ist zusammengefasst zu einem ein- 
heitlichen Bilde von greifbarer Plastik und warmen Leben. Und als Bindung 
dient eine einfache, klare, fremdwortlose, oft dichterisch schöne Sprache. 


7 Kritiken. 191 


Und dieser schöne Inhalt erscheint in einem seiner würdigen Gewande, 
welches der Verlag sich zu grossem Verdienste anrechnen darf. 
Max Hirsch, Berlin. 


Schmidt: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. IV. 
Benedetto Croce, Constantin Gutberlet, Harald Höffding, 
Graf Hermann Keyserling, Wilhelm Ostwald, Leopold Ziegler, 
Theodor Ziehen. Mit Namensregister zu Bd. I-IV. Verlag Felix Meiner, 
Leipzig 1923. 


Das Werk weitet sich. Es tritt hinaus über die Grenzen der akademischen 
Offizien und des deutschen Reichs. Es rundet sich und fasst die ersten 4 Bände 
durch Register zu einer Übersicht zusammen. Der vorliegende Band steht dem 
Mediziner besonders nahe durch Mitarbeiter wie Ostwald und Ziehen. Es 
ist immer wieder bemerkenswert, wie mit besonderer Einstellung jeder Autor 
an die doch immerhin gleiche Aufgabe herangeht. Hier wird ein Stück Kultur- 
arbeit geleistet, welches die Gegenwart erhellt und in die Zukunft leuchtet. 

Max Hirsch, Berlin. 


Schwalbe: Diagnostische Technik für die ärztliche Praxis. Ein Hand- 
buch für Ärzte und Studierende. Bearbeitet von Amersbach usw. Heraus- 
gegeben von J. Schwalbe. Verlag von G. Thieme, Leipzig 1923. 


Dieses Werk bildet den Abschluss der von Schwalbe herausgegebenen 
Lehrbücher und Sammelwerke. Es enthält wohl lückenlos alles, was in der 
Sprechstunde, am Krankenbett und im Laboratorium vom Arzt an technischen 
Mitteln’ der Diagnostik angewendet und gekannt wird. Die Anordnung des Stoffes 
ist mit der von dem Herausgeber gewohnten Übersicht und Durchdachtheit ge- 
troffen, die so naheliegende Gefahr lästiger Wiederholungen, Belastung mit 
überholten, der Geschichte angehörenden, oder mit für die Praxis noch nicht 
reifen Methoden, vermieden. Es ist ein Lehr-, Fortbildungs- und Nachschlagebuch 
für den allgemeinen und spezialistischen Praktiker. Ein Führer durch alle dia- 
gnostischen Nöte. Max Hirsch, Berlin. 


Brockhaus: Handbuch des Wissens. In vier Bänden. 6. gänzlich um- 
gearbeitete Auflage von Brockhaus kleinem Konversationslexikon. Mit über 
10000 Abbildungen und Karten im Text und auf 178 einfarbigen und 88 bunten 
Tafel- und Kartenseiten und mit 87 Übersichten und Zeittafeln. Verlag von 
F. A. Brockhaus, Leipzig 1923. 


Man kann nur mit dem Gefühl des Stolzes auf dieses Werk deutschen 
Fleisses und Unternehmungssinnes schauen, vollendet in einer Zeit, in welcher 
Körper, Geist und Gemüt von schweren Lebenssorgen bedrängt waren. Wen das 
kleine Lexikon in den Jahren vor dem Kriege durch die Lücken seines Wissens 
begleitet hat, wird in Anschauung dieser neuen Auflage den ungeheueren 
Fortschritt des Unternehmens ermessen können. 

Es ist natürlich unmöglich, sich innerhalb weniger Wochen ein Urteil über 
die Vollständigkeit eines solchen universalen Wörterbuches zu bilden. Die Stich- 
proben, welche ich in dieser Zeit während der laufenden Arbeiten machen 
konnte, haben durchaus befriedigt. Namentlich erscheinen mir die Erläuterungen 
des Textes durch Abbildungen und Übersichten als wertvolle Unterstützung der 
Belehrung. 

Dass nicht alle Fachwissenschaften lückenlos, besonders in ihren neuesten 
Ausdrücken, vertreten sein können, versteht sich bei der Art des Unternehmens 
von selbst. Dem Verlage werden Hinweise auf Fehlendes gewiss erwünscht sein. 
Und so tut der Leser gut, sich darüber im Laufe des Gebrauches Aufzeich- 
nungen zu machen. Mit Bezug auf Frauenkunde, Sexualwissenschaft, Eugenetik, 
Fortpflanzungslehre, Bevölkerungslehre, Fruchtabtreibung usw. wären mancherlei 
Fehlanzeigen zu melden. 


192 Kritiken. [8 


Aber diese Lücken beeinträchtigen den grossen literarischen und volks- 
erzieherischen Wert des Werkes nicht, dessen Preis sehr mässig genannt 
werden muss. Max Hirsch, Berlin. 


Diepgen: Geschichte der Medizin. Zweite vermehrte Auflage 1. Teil: 

Altertum. Verlag von Walter de Gruyter & Co., Berlin 1923. 

Dieser kurze Abriss ist ganz vorzüglich. Er stellt die Heilkunde im Orient, 
in Hellas und Rom dar und gibt einen festgefügten Rahmen, der von dem 
Leser je nach Bedürfnis mit Sonderstudien ausgefüllt werden kann. Ein um- 
fangreiches Register hilft zurecht. Die folgenden Teile dürfen mit Spannung 
erwartet werden. Der Anfänger auf dem geschichtlichen Gebiet der Medizin 
kann nichts Besseres tun, als sich dieses Führers bedienen. 

Max Hirsch, Berlin. 


Waibel-Seuffert: Leitfaden für die Prüfungen der Hebammen. 7. Aufl. 
Verlag von J. F. Bergmann, München 1923. 

Dieses altbewährte Unterrichtsbuch von Waibel hat E. v. Seuffert in 
Anpassung an neuere Forschungsergebnisse und an das höhere Bildungsniveau 
der Hebammenschülerinnen von heute erheblich vervollständigt. Anordnung 
und Folge der Fragen sind dieselben geblieben. So darf das Buch auch weiterhin 
als literarische Grundlage für die Aus- und Fortbildung der Hebammen dienen. 
Vielleicht würde ein eingehendes Sachregister dem Nachschlagezweck dienlich 
und für die nächste Auflage nachzuholen sein. S. 


Walther: Kurzer Leitfaden der praktischen Geburtshilfe. In Anlehnung 
an das Preussische Hebammenlehrbuch 1920 für Hebammen, Hebammenlehrer, 
Medizinalbeamte und Ärzte. Mit 50 Abbildungen. Verlag von Elwin Siaude, 
Osterwieck 1923. S 

Titel und Untertitel geben Inhalt und Zweck des Leitfadens bekannt. Die 
grosse Erfahrung des Verf. in langdauernder Tätigkeit als Hebammenlehrer ver- 
bürgt lücklose und eindringliche Darstellung des unerlässlichen Wissensstoffes. 

Das Buch ist als Ergänzung, nicht als Ersatz des Hebammenlehrbuches gedacht 

und deswegen auch mit vielen Hinweisen auf dieses versehen. Es dient also der 

Hebamme nach vollendeter Ausbildung als Berater, zu Nachprüfungen und 

Wiederholungen und bildet so ein wertvolles Mittel zur Hebung der Leistungs- 

fähigkeit des Hebammenstandes. S. 


G. Schmorl: Die pathologisch-histologischen Untersuchungsmethoden. 
12. und 13. neubearbeitete Auflage. Verlag von F. C. W. Vogel, Leipzig 1922. 
Es hiesse Eulen nach Athen tragen, wollte man über das rühmlichst be- 
kannte und weil verbreitete Schmorlsche Werk viele Worte der Empfehlung 
machen. Dies Buch bedarf keiner Empfehlung mehr, denn jeder, der pathologisch- 
histologisch arbeiten will, weiss schon durch Tradition, dass er keinen besseren 
Wegweiser und Ratgeber findet, als den Schmorl. Trotzdem nur solche 
Methoden aufgenommen sind, die sich auf pathologisch-anatomischem Gebiet 
bewährt haben, ist das Buch auch für normale histologische Untersuchungen 
durchaus zu gebrauchen. Der Abschnitt über das Nervensystem ist entsprechend 
der Bedeutung, die sowohl die normale wie die pathologisch-histologische For- 
schung dieses Gebiets neuerdings genommen hat umgearbeitet worden (mit Unter- 
stützung von Dr. Schob). Durch Ausmerzung älterer Methoden, die durch bessere 
ncue ersetzt wurden, wurde verhindert, dass der Umfang des Buches vergrössert 
wurde. Westenhöfer, Berlin. 


M. Vaerting: Wahrheit und Irrtum in der Geschlechterpsychologie. 
Grundpreis brosch. 4 M., geb. 5 M. Verlag von G. Braun, G. m. b. H., Karls- 
ruhe 1923. 

Das Buch ist der zweite Band der „Neubegründung der Psychologie von 

Mann und Weib. Über den ersten Band: Die weibliche Eigenart im Männerstaat 


sf A 


- ~ 


9) Kritiken. 193 


und die männliche Bigenart im Frauenstaat ist bereits früher in dieser Zeitschrift 
berichtet worden. Konnten wir uns bei der Besprechung des ersten Bandes 
durchaus nicht immer mit den Anschauungen und Beweisführungen der Ver- 
fasser (Mathilde und Mathias Vaerting) einverstanden erklären, so können wir 
dem Inhalt des zweiten Bandes im grossen und ganzen durchaus zustimmen. 
Der Grundgedanke des Werkes, der an zahlreichen Berufen und menschlichen 
Beziehungen und Einrichtungen abgewandelt wird, ist der, dass überall da, wo 
die beiden Geschlechter miteinander in geistige Berührung kommen, z. B. im 
Schulleben und im Gerichtsverfahren usw. mit einer sexualen Beeinflussung und 
daher auch mit einer dadurch bedingten einseitigen Einstellung und Beeinflussung 
des Urteils zu rechnen ist. Diese sexuale Beeinflussung nennt Vaerting die 
Sexualkomponente. Es ist allerdings nicht richtig, dass das etwa eine neue 
Erkenntnis sei, sie ist für jeden aufmerksamen Beobachter des menschlichen 
Lebens eine altbekannte und wohl auch oft genug im praktischen leben ge- 
würdigte Tatsache. Das soll aber keineswegs das Verdienst Vaertings, diese 
Beziehungen an zahlreichen Beispielen nachzuweisen und sie so einem grossen 
Kreise verständiich beizubringen, schmälern. Dadurch, dass wie im ersten 
Bande ausgeführt ist, die Herrschaft in den modernen Staaten von Männern 
ausgeübt wird, ist infolge der einseitigen Sexualkomponente auch die einseitige 
männliche Auffassung die herrschende ‘und sind Irrtümer der Geschlechter. 
psychologie entstanden. Demnach sieht Vaerting das Heil weder in der ein- 
seitigen Männerherrschaft noch Frauenherrschaft „Fingeschlechtliche Vorherr- 
schaft lastet stets auf beiden Geschlechtern. Erst die Herrschaft beider Ge- 
schlechter, die Gleichberechtigung, wird uns mit der Ungerechtigkeit zugleich 
von der Unfreiheit erlösen‘'. 

Es ist unmöglich im Rahmen eines kurzen Referats auf Einzelheiten des 
Buches einzugehen, das zweifellos auf jeden, der es liest, ausserordentlich 
anregend wirken und wohl manchem wie ein Licht in das Dunkel seines Unter- 
bewusstseins leuchten wird. Ganz besonders ist das Werk zu empfehlen Erziehern 
und solchen Leuten, die dazu berufen sind an den Reformen unseres staatlichen 
und gesellschaftlichen Lebens verantwortlich mitzuarbeiten. Notwendiger aber 
scheint mir das Studium des Werks und die Verarbeitung seiner Gedanken für 
den Mann als für die Frau, nicht weil wir im Männerstaat leben, sondern weil 
die „Sexualkomponente‘“ bei der Frau viel mehr im Bereich des Bewusstseins 
liegt als bei dem Manne. Das beruht aber nicht auf irgendwelchen politischen 
und sozialen (Männerstaat oder Frauenstaat) oder kulturellen Einwirkungen, 
sondern einzig und allein in uralten vererbten Anlagen und Eigenschaften, die 
aus einer Zeit stammen, in der es keine Zweigeschlechtlichkeit gab. In diesem 
Sinne herrscht die Frau (das weibliche Geschlecht) auch heute im Männer- 
staat, wie sie es schon tat, als es noch gar keinen Staat gab und wie sie 
es auch in Zukunft tun wird. Westenhöfer, Berlin. 


Adele Wiener: Entstehung und Wesen von Natur und Kultur. Versuch 
einer Transitologie als Wissenschaft der Übergänge. Verlag von Wilhelm 
Braumüller, Wien und Leipzig 1923. 


Dass man die Entstehung und das Wesen der Kultur einigermassen erfassen 
und darstellen kann, versteht sich. Wie aber jemand heute über die Entstehung 
und das Wesen der Natur (?!) auch nur einigermassen sicheres aussagen will, ist 
schon schwerer verständlich. Aber kaum fassbar wird es erscheinen, wenn 
jemand auf hundert Seiten diese Probleme mit ihrer Lösung glaubt vorführen 
zu können. Wenn man auch manchen Ausführungen der Verfasserin, und zwar 
besonders auf sozialem (Gebiete zustimmen, und überhaupt anerkennen kann, 
dass die Tendenz ihrer Arbeit von hohem sittlichem Gefühle getragen ist, so ist 
doch andererseits der schwerwiegende Einwand zu erheben, dass ihre Kenntnisse 
auf naturwissenschaftlichem und speziell biologischem Gebiet nicht ausreichen, 


194 Kritiken. - [10 


um dem Thema gerecht zu werden, wie könnte sie sonst unter anderem auf S. 23 
behaupten, dass ‚vor 2000 Jahren aber die Ähnlichkeit zwischen Mensch und 
Menschenaffen wohl noch nicht gross war“. Westenhöfer, Berlin. 


H Ziemann: Beitrag zur Bevölkerungsfrage der farbigen Rassen. 
Sonderabdruck aus: Metron. Vol. IIl Nr. 1 1928. (Internationale statistische 
Rundschau.) Ferrara Italia, Casa edürice Tadei. 


Lass die Bevölkerungsfrage der farbigen Rassen nicht nur vom Standpunkt 
dieser Rassen selbst oder vom Standpunkt des Naturforschers und Anthropologen 
von Interesse ist, sondern aufs innigste zusammenhängt mit der Möglichkeit 
Kolonien in tropischen Ländern auszunützen, ja, dass jede koloniale Tätigkeit 
mit dem Bestand der farbigen Rassen steht und fällt, ist heutzutage eine aner- 
kannte Tatsache. Die Erhaltung und gegebenenfalls Vermehrung dieser Bevölke- 
rungen ist daher vielleicht die wichtigste Aufgabe der Kolonialvölker, zu denen 
wir Deutsche ja leider nicht mehr gehören. So kommen auch die Ausführungen, 
die Ziemann macht, leider nicht mehr uns zu gute. Aber wenn sie dazu bei- 
tragen, der farbigen Bevölkerung der Kolonialländer zu nützen, so wird Zie- 
mann, der frühere langjährige Medizinalreferent in Kamerun, doch seine 
Genugtuung haben. In seiner Abhandlung, die reiches statistisches Material aus 
den früheren deutschen Kolonien enthält, führt er die Gründe der relativen 
Bevölkerungsarmut und die speziellen Ursachen der Kindersterblichkeit auf und 
gibt die Mittei an, die zur Behebung dieser Mängel angewandt werden müssen. 

f Westenhöfer, Berlin. 


Wilhelm Strohmayer: Die Psychopathologie des Kindesalters. Vor- 
lesungen für Mediziner und Padagogen. 2. Auflage. Verlag von J. F. Berg- 
mann, München 1923. 


Das bekannte, ausgezeichnete Werk hat in der zweiten Auflage eine 
Bearbeitung erfahren, die besonders die Tübinger Arbeiten in die Darstellung 
cinbezogen hat. Seine Vorzüge braucht man im einzelnen nicht mehr zu rühmen; 
auf die feinfühlige Einstellung zu den Werten der Freudschen Forschung sei 
ebenso hingewiesen wie auf die Entschiedenheit, mit welcher dem Arzte der 
Primat vor dem Pädagogen zugesprochen wird. Die kindlichen Psychopathien 
bieten freilich noch immer einer wirklich genugtuenden psychopathologischen 
Analyse Trotz; hier ist noch weites, ungenügend bestelltes Feld für die ‚Forschung. 
Bezüglich der Schizophrenie deckt sich Verfassers Standpunkt mit dem modernen: 
Bei allen psychotischen Syndromen Jugendlicher an diese Möglichkeit denken; 
und dort selbst bei anscheinend ganz katatoniformen Erscheinungen im Kindes- 
aller durchaus noch mit der Möglichkeit einer guten Prognose rechnen. Leider 
fehlt in dieser Auflage noch (bis auf eine kurze Andeutung) das Gebiet der 
Folgezustände nach lethargischer Enzephalitis. Kronfeld, Berlin. 


Gaston Vorberg: Über den Ursprung der Syphilis. Quellengeschicht- 
liche Untersuchungen. Verlag von Julius Püttmann, Stuttgart 1924. 


Verf. beschäftigt: sich mit dem zeitlichen und regionären Ursprung der 
Syphilis, insbesondere mit der Frage, ob sie nach der Entdeckung Amerikas 
von diesem Erdteil eingeschleppt worden sei, und kommt zu dem Ergebnis, dass 
dies nicht der Fall war; vielmehr wàr sie seit jeher endemisch, und ihr Ur- 
sprungsland ist nicht mehr zu ermitteln. Zar Leistung dieser relativ mageren 
Resultate bedurfte es aber einer unendlich mühevollen kritischen Sammlung 
und Sichtung der einschlägigen historischen Quellenwerke und der Beseitigung 
des darin vorhandenen Wustes schiefer, z. T. abergläubischer Fehl- und Vor- 
urteile. Durch diese Einzelarbeit ist das Werk interessant. Es ist vom Verlag 
mit vorbildlicher Schönheit des Druckes und der Abbildungen ausgestaltet. 

Kronfeld, Berlın. 


11) Kritiken. ® 195 


Kaupe und Küster: Mutter und Kind. Ratgeber für Bräute, Mütter und 
Pflegerinnen. Mit 10 Abb. im Text; geh. 1,45 M., geb. 1,65 M. Verlag von 
A. Marcus & E. Weber (Dr. jur. Albert Ahn), Bonn 1922. 


Dr. Walter Kaupe, Kinderarzt und leitender Arzt des Säuglingsheims 
Lungstrastift und des Vereins Säuglings- und Genesungsheim Bonn, und Prof. Dr. 
Hermann Küster, Frauenarzt, leitender Arzt der Frauenklinik und Ent- 
bindungsanstalt an Dr. Lahmanns Sanatorium, Weisser Hirsch, konsultierender 
Frauenarzt der Woaldparkkrankenanstalt Blasewitz, zeichnen als verantwort- 
liche Autoren. Ihre ausgedehnte praktische Betätigung auf dem grossen Ge- 
biete Mutter und Kind veranlasste sie, den zahlreichen guten Werken, die zu 
den Einzelfragen Mutter oder Kind erschienen sind, ein beide Teile als zn- 
sammengehörige Einheit behandelndes hinzuzufügen. Um das Gesamturteil vorweg 
zu nehmen: das Buch ist gut, bürgt aber doch für den Laien, selbst für, den 
gebildeten, an manchen Stellen etwas zu viel Wissenschaft. Wenn man sich 
seit Jahrzehnten mit hygienischer Volksbelehrung beschäftigt und als General- 
sekretär des Landesausschusses für hygienische Volksbelehrung in Preussen 
in den letzten Jahren diesen Aufklärungsfragen besonders nahe getreten ist, 
kommt man immer mehr zu der Überzeugung, dass man bei seinem Hören und 
Lesen wenig oder gar nichts voraussetzen darf; je einfacher, desto besser. 

Einige spezielle Kleinigkeiten. Nach Ansicht des Herrn Küster entsteht 
kein Schaden, wenn den Schwangeren keine Zulagen gegeben werden, ‚da wir 
doch ohnedies mehr als nur das Notwendige essen‘. Also machen alle Menschen 
ihr ganzes Leben hindurch Überernährungs- also Mastkuren. Glücklicherweise 
essen die Schwangeren nicht nach Gramm und Kalorien, sondern nach instink- 
Deem Bedürfnis und nehmen infolgedessen um soviel mehr, als der Aufbau 
des Embryo erfordert; sonst lebt das Kind auf Kosten der Mutter. — S. 35. 
„Die Gesamtmenge der Nahrung soll eher zu knapp als zu reichlich sein.‘ Nur, 
sie soll genügend sein. „Der Alkohol, ein Gift für das Herz und die Nieren, 
das auch auf das Kind übergeht, sollte gemieden werden.‘ Sehr richtig und 
vernünftig. — „Doch mag ein mässiger Genuss von Bier und Wein für den, 
der daran gewöhnt ist, verträglich sein usw. oder Liköre in Menge sind Gift.“ 
Dieser 2. Absatz widerspricht dem ersten und ist in seiner Tendenz falsch. 
Zwei Seelen wohnen auch in der Brust manches Autors. Das Gift, das auch auf 
das Kind übergeht, soll gemieden werden. Geht es bei dem daran Gewöhnten 
nicht auch auf das Kind über? Oder soll dieses schon vor der Geburt davon ge- 
nährt werden?“ Kennt der Autor nicht die Erbgesetze. Ich finde diese Zwie- 
spältigkeit gar nicht in der Ordnung. Die Angst vor dem Bekennen — und 
man wird beiden Teilen gerecht. Likör in Mengen Gift? Nein „Herr Kollege: 
Alkohol = Gift.“ Auch 0,01 Morphium ist Gift. — 

S. 39. „Ein Korsett ist für die Frauen, die daran gewöhnt sind, eine 
Wohltat.“ Gibt es nicht bessere Wohltaten? S. 62 heisst es bei dem Siechtum 
des Wochenbettes: „Alkohol in jeder Form dürfte entbehrlich sein, Liköre sind 
verboten.‘ Enthalten Bier und Wein keinen Alkohol? — Wieder mangelnder 
Bekennermut! Beim Speisezettel amüsierten mich die Spargelspitzen. „Man 
nehme" wenn man hat. — S. 88: „Gewiss ist der Alkohol in Übermass oder von 
solchen, die ihn nicht vertragen können genossen, ein schweres Gift.‘ Aber 
Herr Kollege! Ist Morphium für die Morphinisten oder weil es die Morphinisten 
in grossen Mengen vertragen, kein schweres Gift? Derlei Sätze müssen in einem 
Archiv für Eugenetik mit Entschiedenheit und Entrüstung zurückgewiesen 
- werden, weil sie unwissenschaftlich und schädlich sind, ‚„dysgenetisch‘“. 

S. 103: „Bezüglich des Alkoholgenusses, der ebensowenig wie mässiger 
Kaffee- und Teegenuss zu verbieten ist, raten wir natürlich zu Mässigkeit.“ 
Bravo Herr Kollege! Auch wenn nachgewiesenermassen der Alkohol in die 
Milch der Stillenden übergeht? — Also Alkohol — Kaffee — Tee! — 

Bornstein, Berlin. 


196 ' Kritiken. [12 


Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung. 
Brosch. 515 S. 8° Sibyllen- Verlag, Dresden, 1922. 

Als Leverrier 1846 den Ort angab, an dem ein noch unbekannter 
Planet (Neptun) gesucht werden müsste, der die Uranusbahn beeinflusste, war er 
als vorwärts gewendeter Prophet auf dem mathematisch-physikalischen Gebiet 
besser daran, wie unsere rückwärts gewendeten Propheten auf dem biologischen. 
Obgleich der Verf. sich sagt, dass die erste Entwicklung des Menschen 
viel problematisches habe, bietet er uns das von ihm entworfene Bild zur 
Prüfung an. Ven dem Ur Ostaffen stammt der Pithekanthropogonëus (= P.A.G.) 
in einer schwächeren und stärkeren Form. Er war nicht mehr Baum-, sondern 
schon wesentlich Bodentier, während die früheren Vorläufer des Menschen 
Baumtiere waren. Aus jener stärkeren Form gingen Gorilla und Mensch hervor. 
Der P.A.G. hatte schon menschenähnliche (gewölbte) Schädelbildung, frei von 
Knochenkämmen, von Raubtiergebiss u. a. m., lief vierfüssig. Von ihm also 
stammen der Reihe nach homo Primigenius, h-Trinilis (Java = Pithekanthropus 
erectus), Neanderthalensis, Aurignacensis, Recens. Der h-Primigenius war körper- 
lich und geistig getreues Abbild seines tierischen Vorläufers. Die Körperaufrich- 
tung war zunächst noch, wie beim P.A.G. unvollständig. Die erste Entwicklung 
habe sich auf gerölligem Felsboden abgespielt, wo es wohl viel Steine, aber 
wenig Bäume gab. Auf abhängigem Boden genügte oft statt des Werfens das 
Wälzen der Steine. Der erste Mensch ist dasjenige Wesen, dessen Entwicklung 
erstmalig unter das Prinzip der Körperausschaltung trat. Nicht durch 
Gehirn und Beine ist ein Tier zum Menschen geworden, sondern durch den 
Übergang von tierischem Entwicklungsprinzip zum Menschheitsprinzip. Damit 
das nicht wie ein idem per idem ‚aussieht, hören wir, den Anstoss zu diesem 
Übergang gab die ausserkörperliche Abwehrmethode. Deren Möglichkeit be- 
ruht auf der Hand; sie machte den Menschen zum Menschen. Nun braucht ja 
aber der Affe auch die Hand? Bei ihm stehe das „Werkzeug“ aber in keinerlei 
positiver Beziehung zu seiner Entwicklung. Dagegen ist das Entwicklungs- 
prinzip des Menschen die Körper-Ausschaltung. Dadurch ist der Mensch wesens- 
verschieden vom Tier; seine Entwicklung ist nicht eine Steigerung der tierischen. 
sondern eine von anderer Art. Aus der Einheit dieses Prinzips folgt auch die 
Einheit der Menschheit. 

Durch die ausserkörperliche Anpassung erfährt der Mensch eine Be 
freiung von der Naturbeschränktheit, eine Einbusse an Instinkten. 

Der Mensch war zuerst sprachlos und ohne Feuer. Die Menschheit 
ist mit einem Schlag entstanden, geboren „mit dem Augenblick der 
ständigen Übung der Steinabwehrmethode‘ ; bei ihr büsste er den Kletter- 
fuss ein, weil er sich aufrichten musste, um die Steine zu wälzen und zu 
werfen. Verf. hält die Existenz des Tertiärmenschen für unwiderruflich belegt. 
Er brauche ja noch kein Feuer gehabt zu haben. Alles also aus dem unschein- 
baren Entwicklungsprinzip der Körperausschaltung hervorgegangen. So ganz 
durch Zufall? Nein. Sondern ohne den Zwang des Kampfes wäre das nie ge- 
kommen. In langem, hartem Daseinskampf wurde die Abwehr mit Steinen ge- 
übt und verbessert. In Wirklichkeit war der Urmensch nicht der Jäger, sondern 
das gehetzte Wild. Mit der Geburt des Menschen ging nun freilich ein tiefer 
Riss durch die gesamte organische Welt, der Mensch und Tiere für immer von 
einander trennte. Der Mensch bedeutet einen Umschlag, nicht eine Steigerung 
gegen das Tier. Aber wenn auch die Natur zwei grundverschiedene Entwick- 
lungs-Prinzipien innerhalb der organischen Lebenswelt geschaffen hat, so müsse 
man doch zugestehen, dass der Mensch im Affen schon ideell angelegt gewesen 
sei und insofern kein Zufallsprodukt. Die mechanistische Entwicklung besitze 
auch Zielstrebigkeit, sei zugleich tendenziös fortschrittlich. Ein sinnvolles Ge- 
schehen sei anzunehmen. Wir könnten dem Geschick nicht dankbar genug sein, 
dass der Mensch den Weg zur Menschwerdung eingeschlagen habe. Da die 
Kulturentwicklung aufwärts gehe, so werde der Pessimismus eines Schopen- 


13] Kritiken. 197 


hauer entlarvt, seiner falschen Voraussetzung beraubt und mache geradezu 
einem blühenden Optimismus Platz. 

Da es an Platz fehlt, so füge ich nur hinzu, dass ich auch glaube duo 
cum faciunt idem non est idem. Der Affe, der mal Steine wirft, ist nicht 
ein Wesen, in dem der Mensch schlummert. Der ist auf einem anderen 
Zweige gewachsen. Analoga gibts bei den Tieren; aber nicht Identitäten. 
Wenn wir auch nicht aufhören werden, die kontinuierliche Entwicklung er- 
kennen zu wollen, so wird man wohl viel tierische Analogien als solche ein- 
schätzen. Die zähen Bemühungen, im Tiere menschliches zu finden, sind trotz 
allem darauf verwendeten Scharfsinn wenig überzeugend. Auch die seit einigen 
Jahren besonders betriebene Affen-Beobachtung, die mit gespanntem Blick auf 
die Sensation der Tierwerkzeuge und -Sprache harrt, scheint leider in der 
Hauptsache aussichtslos. K.Bruchmann, Berlin. 


Dr. Hans F. K. Günther: Rassenkunde des Deutschen Volkes. Mit 
14 Karten und 537 Abbildungen. III. Aufl. 518 S. 8°, geb. 11 Goldmark. 
Verlag von J. F. Lehmann, München 1923. 


Diese Rassenkunde ist schon mit vielem Beifall aufgenommen worden. 
„Keinem Aufmerksamen kann es entgangen sein, was das Ziel dieses Buches be- 
gründet: Die Ertüchtigung des Deutsches Volkes“ so heisst es beim Verf. S. 420 A. 
Über das Germanische Gebiet hinaus greifen die vier europäischen Rassen, als 
die der Verf. 1. die nordische, 2. die westische, 3. die ostische, 4. die dinarische 
nennt. Unter ihnen steht körperlich,. geistig, nach geschichtlichen Leistungen 
die hochgewachsene, langschädlige, schmalgesichtige, nordische Rasse an erster 
Stelle. Ihre Urheimat war in Nordwest-Europa; Schweden, Norwegen, Däne- 
mark, Schleswig-Holstein, Nord. und Ostseeküste (188: 140.333). Ob etwa 
Nord- und Westeuropa auf einen gemeinsamen Ursprung, eine Rassen-Einheit in 
frühester Zeit zurückgehen, wissen wir nicht (245), ebenso wenig, wie Rassen 
überhaupt gemacht werden — eine Unterabteilung der Lotzeschen Formel: 
wie Sein gemacht wird, wissen wir nicht. Doch kann, nach dem Gehörten 
wenigstens, aus einer Rasse bis zu gewissem Grade eine andere werden — 
analog, könnten wir uns denken, wie etwa Helium aus Radium. Die andern 
Rassen des heutigen Europa (ausser der nordisch-westischen) würde man 
kaum auf eine gemeinsame Urform zurückführen können, und gar die Zurück- 
führung aller europäischen Rassen auf eine gemeinsame Urform wäre schon 
gleich der Zurückführung europäischer und asiatischer Menschen auf ein ge- 
meinsames Urmenschenbild (245 f... Auch der Verf. erklärt sich gegen Asien als 
Heimat der sogen. indogermanischen Sprachen (383). Über Körperlichkeit und 
Begabung jener obigen nordischen Rasse als Korrelate tappen wir im Dunkeln 
(160), wie wir auch von den Blut-Reaktionen, Anfälligkeiten von Krankheiten 
u. dgl. noch nicht genug wissen (140, 142). In Deutschland und ganz Europa 
‚wohnen jetzt Mischlinge (209, 386). Die Entnordung beginnt schon etwa mit 
dem 6. Jahrhundert, eine besondere Beschleunigung erfuhr sie mit dem Ende des 
18. Jahrhunderts (359). Der Schwund der nordischen Rasse erfolgte durch 
Kriege, Wanderzüge, bei Aufsaugung durch die Städte (153). Man fragt unter 
unserer Mischlings-Bevölkerung nach Kelten und Slawen. Von allen nordischen 
Völkern sind für Deutschland die Kelten und Germanen am wichtigsten, die 
zweitletzte und letzte Welle der Nordrasse, die sich etwa von 900—200 v. Chr. 
ausbreitete. Von Süddeutschland und der Ebene zwischen Rhein und Weser 
aus begann der Vorstoss der Kelten nach dem späteren Gallien, wohl zwischen 
1000 und 600 (307). Die Kelten werden bei ihrem ersten Erscheinen als hoch- 
gewachsen. blond, blauäugig geschildert (313). Ihre Urheimat ist angeblich 
Süddeutschland und das Donautal. Nun die Slawen: „Eine slawische Rasse gab 
und gibt es nicht. Menschen, die man slawisch findet, sind meist ostisch-nordisch 
oder mongolisch-nordisch‘‘ (356). Aber die Urslawen (354) waren ein nordi- 
sches Volk, das sich aus einer in östlicher Richtung abgewanderten Gruppe 


198 Kritiken. d 


nordischer Rasse gebildet hatte, stark genug, dem Osten Europas die slawischen 
Sprachen aufzuzwingen. Die Urslawen, die Oberschicht der slawischen, 
damals wohl nordisch-ostischen, -dinarischen, -mongolischen Völker, die eine 
besondere Bestattung erfuhr, waren nordischer Rasse wie die Germanen; 
s. auch 355. Slawische Sprache ist nicht = slawische Rasse. Von Rassen- 
Mischung ist wohl zu unterscheiden "Völkermischung. Dass Rassen-Mischung 
günstig wirken müsse, ist gar nicht allgemein zu erwarten (326). Es scheint, 
dass jeder Untergang eines Volkes mit indogermanischer Sprache bedingt ist 
durch Versiegen des Blutes der schöpferischen, d. h. Nord-Rasse (330). Bei 
unserer „Allmischung‘‘ und namentlich bei unserer starken Entnordung ist die 
Frzeugung einer „Deutschen Rasse‘ keine Möglichkeit der Deutschen Zu- 
kunft (237). Die nordische Rasse mag etwa 60% des Deutschen Blutes aus- 
machen (208), die ostische 20%, die dinarische 15%, die westische Zou Kann 
man denn für diese Reste der schwindenden nordischen Rasse überhaupt noch 
etwas tun? Wer es glaubt (409 f.), muss sich dabei von dem Gedanken leiten 
lassen: eine folgerichtige, reine und werterzeugende Entfaltung deutschen 
Lebens ist nur möglich aus dem Blut und Geist der Nordrasse heraus (410). 
Könne durch hygienische, staatliche Einrichtungen zum Schutze für die kämpfen- 
den Reste der nordischen Rasse beigetragen werden? Da müsste der Staat erst 
die Überzeugung von der unersetzlichen Bedeutung der nordischen Rasse ge- 
wonnen haben. Jedenfalls sei alles zu tun, damit die Geburtenzahl der nordischen 
Menschen sich hebe (416). Mit grosser Gewissenhaftigkeit wendet sich der Verf. in 
einem „Anhang‘‘ (432f.) dem Zionismus und den mit ihm zusammenhängenden 
Volks- und Rassefragen unter Benutzung von Autoren wie Goldmann,Gold- 
stein, Buber u. a. zu. Die Chasaren-Frage wird 468f. erörtert. Die lehr- 
reichen Karten und die oft interessanten zahlreichen Abbildungen sind besonders 
als wertvoll hervorzuheben. Was der Gang der Geschichte sein wird? Vergeb- 
lich ists zu fallen ins bewegte Rad der Zeit? Wird der Mischlings-Charakter der 
Bevölkerung doch immer ausgeprägter werden? Vgl. übrigens Gust. Kossinna, 
Die Indogermanen. I. Teil: Das indogermanische Urvolk. 79 S. 8. Leipzig 1921. 
Verlag Kabitzsch. ` K Brochmann, Berlin. 


Max Bauer: Liebesleben in deutscher Vergangenheit. Mit 75 Abbildungen 
nach alten Meistern. 3890 S. Verlegt bei Dr. P Langenscheidt, Beriin W. 15, 
1924. 

Das Liebesleben in deutscher Vergangenheit schildert der Verfasser in 

14 Abschnitten. Sehr gross ist die Zahl der Urkunden, die er für seine Zwecke 

zusarnmengebracht hat. Dazu sind dem Text mehr als 70 Abbildungen einver- 

leibt. Es lässt sich rühmen, dass wir ein deutliches und ungefärbtes Bild 
erhalten. Der Verf. tut recht daran, dass er auf alle Schönfärberei verzichtet. 

Jene Sitten sind nicht selten unseren analog, zeigen aber auch, dass Perversität 

sehr wohl ohne Hochkultur denkbar ist. In manchen Sitten (z. B. den Badesitten) 

hat man anders empfunden als wir, in der Schminkerei ziemlich gleich (323); 

war ihr doch sogar Penelope nicht ganz abgeneigt. Es erscheinen vor uns Bauern 

und Ritter, Klerus und Klöster, Frauenhäuser und fahrende Frauen, Tänze und 

Spiele, Ehe und ausserehelicher Verkehr, Schönheitsideale und Mode, Liebes- 

zauber und der entsetzliche, unerträgliche Hexenwahn. Im Abschnitt Hofluft 

ist vom Mätressenwesen und besonderen Scheusslichkeiten im Fürstenleben 
die Rede (ein Sohn Philipps von Hessen). Ekelhafte Roheit, schmähliche, nieder 
trächtige Bedrückung, Rechtsbeugung gegen Arme, Unfreie, Machtlose treten als 
düsterste, traurigste, schrecklichste Züge ununterbrochen hervor. Verhältnis- 

mässig unbedeutend sind Regungen der Frauenfrage in Nürnberg 1449 (S. 322); 

abweichend von unseren offiziellen Sitten ist, dass 1434 die Herren von Ulm die 

zum Frauenhaus führenden Strassen beleuchteten, damit der Kaiser Sigismund 
den Weg dahin nicht verfehlen möchte. Die Berner wiederum stellten dem 

Kaiser und seinem Gefolge drei Tage hindurch das Bordell kostenlos zur Ver- 

fügung, was der Herrscher durch ein herzliches Dankschreiben anerkannte 


15] Kritiken. 199 


(weiteres S. 138). Über Nackt-Tänze nach Turnieren in Frankreich S. 40. Die 
Vergangenheit hatte auch ihre grotesken Namen für Tänze (232) und ihre Tanz- 
Psychose, wie unsere gute, fein gebildete Gesellschaft. Nun, hatte doch der 
berühmte Prediger auch zeitweise seine kleinen Schwächen (2,8). Das liebevolle 
Kloster Gnadenzell erscheint auch hier S. 93 wie in dem Buche von Dr. G. Jung 
Die Geschlechtsmoral des Deutschen Weibes im Mittelalter. Leipzig 1921. S. 206 £. 
K. Bruchmann, Berlin. 


Alexander von Gleichen-Russwurm: Liebe, eine Kritik der ver- 
liebten Liebe. 392 S. Verlag von Julius Hoffmann, Stuttgart. 

Von den zwei bekannten Triebkräften Hunger und Liebe ist die zweite 
die bei weitem paradoxere. Der Verf. erklärt uns zunächst, was er unter 
verliebter Liebe versteht und verschont uns mit dem „Kampf der Geschlechter“ 
und ähnlichen Kostbarkeiten. Vielmehr entrollt er uns in den Abschnitten Eros, 
Amor, Minne, Frau Venus, Kupido, Der Liebe Erziehungsamt, Von der Ritter- 
schaft des Eros, was nach Völkern und Zeiten über die Liebe gedacht und in 
ihr von berühmten Paaren erlebt worden ist. Sein Thema ist also nicht in 
europäische Grenzen eingeschlossen, sondern grenzenlos auch in dem Sinne, 
dass die Literatur darüber unendlich ist. Der damit verbundenen Gefahr gelegent- 
lich trivial oder fade zu werden, entgeht der Verf. dadurch, dass er kultur- 
psychologisch ist und durch seine höchst mannigfaltigen Studien. Einen tief- 
gehenden Unterschied zwischen Osten und Westen stellt er gleich im Anfang 
fest (5 f.). Der Leser kann nun die ungeheuren Gegensätze der Zeiten und Völker 
mustern. Ja, die Welt ist voller Widerspruch; und wenn Goethe in der 19. Röm. 
El. widernatürliche Verirrungen der Liebe nennt, so sind sie verglichen mit 
den Torheiten der gesamten Geschichte unbedeutend, noch abgesehen von den 
Possierlichkeiten, die Goethe nachsichtig scherzend anführt ... deswegen 
Jungfern und Junggesellen Im Frühling sich gar geberdig stellen (Gleich und 
Gleich). Durch einige Namen sei auf den Inhalt des inhaltreichen Buches hin- 
gewiesen. Indien, Ägypten, Griechen (Freundschaft und sogen. Platonische 
Liebe), Römer, Hellenismus, Christentum und Puritanismus, Minne, Italien und 
Frankreich seit der Renaissance, Petrarka, Boccaccio, Michelangelo und Vittoria 
Colonna, Schakespeare, Schäfereien, Rousseau, Wieland, die Romantiker, La- 
martine, George Sand, Leopardi, Wagner und Mathilde Wesendonck; die Ver- 
Findung von Musik und Liebe in der Oper. Zu Ovids Erzählung vən Tiresias 
(Venus huic eral utraque nota) findet sich die Analogie, dass ein Inder wegen 
Beleidigung eines Gottes einige Zeit in eine Frau verwandelt war. Aus helle- 
nistischer Zeit klingt etwas an Romeo und Julia an (S. 84). i 

K. Bruchmann, Berlin. 


J. Harnik: „Schicksale des Narzissmus bei Mann und Weib.“ Internationale 
Zeitschrift für Psychoanalyse. 1928 H. 8. 

Verf. sieht die Pubertät für das Mädchen durch eine neuerliche Ver- 
drängungswelle gekennzeichnet, von der gerade die Klitorissexualität betroffen 
wird. Die „vielfach bis dahin geübte Klitorismasturbation‘ wird aufgegeben. 
Für das Unbewusste des halbwüchsigen Mädchens ist die erste Menstruation 
eine Kastrationsblutung und wirkt wie eine „Kastrationsdrohung‘. Mit der Aus. 
bildung der bis dahin latenten weiblichen Sexualorgane scheint eine Steigerung 
des ursprünglichen Narzissmus aufzutreten. Also in der Vorpubertät: „männlich 
gerichtetes Sexualleben, Klitoriserregbarkeit, Klitorismasturbation; in der Puber- 
tät: „Verstärkung der Sexualhemmnisse, Hervortreten der sekundären Ge- 
schlechtsmerkmale, Entwicklung zur ‚Schönheit‘, Steigerung des Narzissmus.“ 

Seltsam ist die psychoanalytische Ausdeutung der ersten Menstruation als 
Kastrationsblutung. Vor der Pubertät soll das kleine Mädchen virtuell, d. h. 
in der Phantasie einen Penis besessen haben; mit der Pubertät entwickelt sich 
aber bei ihr die „Schönheit“, das Verlangen, ihre „Reize auszubilden, die das 


200 Kritiken. [16 


sexuell und ästhetisch Reizende für den Mann werden sollen. Diesen Reizen 
gilt auch ihre narzistische Selbstliebe, die sie nicht nur für die dem Weibe 
sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl entschädigt, sondern auch für 
das Aufgeben der infantilen Männlichkeit, für den Verlust ihres Penis. Zwischen 
dem Genilale und dem narzistischen Ich bleiben zeitlebens die allerintimsten 
Bezielungen bestehen, ja das Genitale ist vielleicht der Kristallisationskern der 
narzistischen Ichbildung. Die Unterdrückung der Klitorismasturbation und die 
Einschränkung der Klitoriserregbarkeit soll in der Regel eine Vorbedingung 
für die richtige, vollwertige Ausbildung der weiblichen Reize sein. Die verdrängte, 
von ihrem ursprünglichen Ziele abgelenkte und doch zugleich mit der ganzen 
Wucht der Pubertät strömende verstärkte Genitalität soll sich sozusagen auf 
Kollateralwegen auswirken und mit ihren Libidoquantitäten die Geschlechts- 
merkınale bilden helfen. Placzek, Berlin. 


M. Josef Eisler: „Über hysterische Erscheinungen am Uterus“. Inter- 
nationale Zeitschrift für Psychoanalyse. IX. Jahrgang. 1928. H. 3. 


Es kann nicht wundernehmen, dass die Psychoanalyse sich an der Tat- 
sächlichkeit psychischer Abhängigkeit oder gar Beeinflussbarkeit von menstru- 
ellen und. Geburtsveränderungen nicht genügen lässt, sondern sie mit ihrer 
Methodik zu enträtseln sucht. Selbst von den Vorgängen, die durch unzulängliche 
Entwicklung der inneren Geschlechtsorgane bedingt werden, will sie nur die 
anatomische Unterentwicklung aussondern, doch die funktionale, auch den 
Drüsenapparat betreffende, die mit anderen endokrinen Drüsen vielfach zu- 
sammenarbeitet, für sich reservieren. Ob Amenorrhöe — Ausbleiben der regel- 
mässigen Blutung — oder Dysmenorchöe — das Gesetz der Periodizität durch- 
brechende und sich in plötzlich auftretenden Blutungen von unbestimmter 
Dauer äussernde Blutung, der Psychoanalytiker entdeckt in dem Ausbleiben 
der Blutung ein „Konversionssymptom.‘* Das beteiligte Organ lehnt es cin- 
fach ab, die von der Natur befohlene Aufgabe zu leisten. 
In solchem Falle sei das Gefühlsleben von dem Wunsche gelenkt, ein Mann 
zu sein. „Dieser Wunsch ist seinem ganzen Wesen nach infantiler Natur und 
hat seinerzeit vermocht, die normalen weiblichen Strebungen in der Weiter- 
entwicklung zu hemmen oder niederzuhalten.‘‘“ Der Wunsch ist nicht immer un- 
bewusst, ja oft liegt er fast greifbar im psychischen Material — in den Phanta- 
sien, Charakterbildungen usw. — zutage, doch kann er als konfliktbildender 
Faktor den Ablauf der Affekte modifizieren und das psychische Verhalten in 
weitgehendem Masse abändern. Unter seinem Einflusse dünkt sich das Weib 
von der Natur benachteiligt und schafft sich bei genügender Stärke und unter 
gleichzeitigem Gegendruck der verdrängten Weiblichkeit einen Ausweg in das 
neurotische Symptom. Dieses letztere präsentiert sich dann als Ausdruck des 
sog. „Männlichkeitskomplexes‘‘. Die Amenorrhöe ist nur die eine Modalität einer 
solchen krankhaften Lösung, indem sie nämlich in der uterinen Schleimhaut Ent- 
gegenkommen findet. 

Auch die besondere Komplikation der „vikariierenden Menstruation‘ kommt 
in Frage, die ‚ectopie menstruelle‘, wo Nasen-, Lungen-, Magenblutungen be- 
obachtet wurden, die genau die Zeit der Monatsregel einhielten. Sogar Kehl- 
kopf, Schilddrüse, Auge und Ohr sollen Ersatz für die unterbliebene Menstruation 
leisten können, alles angeblich erogene Zonen, die auf Grund einer — phylo- 
genetischen — Abgestimmtheit die Rolle des ablehnenden Organs übernehmen. 
Auch einfachere, nicht eigentlich krankheitbildende Ursachen können in Frage 
kommen und die zeitliche Regelmässigkeit der Menstruation verändern, so ge- 
wollte Ablehnung des Geschlechtsverkehrs aus irgendwelchem Grunde. Immer 
also der plastische Einfluss psychischer Kräfte, ein Einfluss, der im Einzelfall 
soweit gehen soll, dass in einen Falle die Menstruation 5 Jahre andauerte, um 
sich gegen den Ehemann zu schützen (Shok durch unzüchtigen Antrag). Nun 
ist es wohl richtig, dass eine Abhängigkeit der Menstruation vom Seelenleben, 


17) Kritiken. 201 


bzw. eine Wechselwirkung zwischen beiden ‚besteht. Aufregung, plötzlicher 
Schreck, geistige Störungen können die Menstruation hemmen, auf der anderen 
Seite verändert die Menstruation oft auffallend die Gemütslage. So unanfechtbar 
diese Erfahrungstatsachen sind, ist wohl ein wirklicher Beweis bisher dafür 
gegeben, dass eine psychische Abwehr aus irgendwelchen Gründen den Ein- 
tritt und die Dauer der Menstruation nach Belieben zu beherrschen vermag? 
Oder soll man gar die Möglichkeit einer 5 Jahre dauernden Menstruation dis- 
kutieren, und zwar als Abwehrvorrichtung gegen den Ehemann? Um zu 
solchen Überzeugungen zu zwingen, bedarf es anderen und beweiskräftigeren 
Materials. 

Was von der Schleimhaut des Üterus gilt, soll auch von seinen musku- 
lösen Gewebselementen gelten. Bekannt ist ja deren reflektorische Reiz- 
lähigkeit, wie eine unzeitgemässe Wehentätigkeit nach Schreck, gewisse Schmerz- 
empfindungen, Krämpfe, Unterleibsempfindungen zur Zeit der Regel, die Reiz- 
fähigkeit soll aber bis zur Schwangerschaftsunterbrechung gehen können infolge 
einer hysterischen Anlage, wenn eine ambivalente Anlage besteht, Schwanken 
zwischen dem Gefühl der Liebe im Bewussten und dem Gefühl des Hasses im 
Unbewussten (?). Leider — Eislers Beweismaterial nicht ‚überzeugend. 
Placzek, Berlin. 


S. Jessner: „Körperliche und seelische Liebe‘. Belehrende Vorträge über 
das Geschlechtsleben. 1. und 2. Lieferung. Verlag von Curt Kabitzsch, Leipzig. 
Gemeinverständliche Vorträge sollen es sein, die ganz zwanglos, in unter- 
haltend-belehrendem Ton das wesentliche über Ziele und Wege, Freud und 
Leid des Geschlechtstriebes aufrollen, ohne dabei wissenschaftlichen Problemen 
aus dem Wege zu gehen. Eine verdienstliche, doch ungemein schwere Aufgabe, 
wenn die solcher Absicht drohenden Gefahren der Verflachung und Oberfläch- 
lichkeit vermieden werden sollen. Sie wurden in glücklichster Weise vermieden, 
wie schon diese ersten Lieferungen des Werkes beweisen, und das kann nicht 
wunder nehmen bei einem so erfahrenen Autor, dem die Ärzteschaft schon so 
manches wertvolle Buch zu danken hat und der bislang als einziger Ver- 
treter die Sexualwissenschaft zu lehren gerufen ist. Ungemein anschaulich zeigt 
Verf. zunächst die Fortpflanzungsvorgänge, unterstützt seine Worte noch durch 
instruktive farbige und andere Bilder, zeigt des Menschen Werdegang, die tief- 
greifenden Umwälzungen durch die Pubertät, die atypischen Triebrichtungen 
und auch die übertragbaren Geschlechtsleiden. Vielleicht empfiehlt es sich, in 
einer späteren Auflage die Perversitäten nicht unter „krankhaftes Geschlechts- 
leben‘‘ abzuhandeln, da, wenn irgendwo, dann auf diesem Gebiete das Wort 
„krankhaft“ nur recht vorsichtig angewandt werden sollte. Auch ästhetische 
Werturteile über diese Triebrichtungen könnten fortbleiben. Höchst erfreulich 
ist des Verí. Stellungnahme zu den Freud schen Lehren. „Was soll die Kritik 
zu solchen kühnen Annahmen sagen? Meines Dafürhaltens kann diese sich nur 
vollkommen ablehnend verhalten. Ein Säugling ist satt und zufrieden, und das 
betrachtet man als erotische Befriedigung. Wer versteht das?“ Nach -cingehender 
Würdigung der seltsamen Lehren sagt Verf.: „Dificile est satiram non scribere. 
Es ist schwer, dabei seinen Ernst zu wahren, wie es wissenschaftlichen Betrach- 
tungen doch zukommt. Eine solche Überweisheit wird zur Unweisheit.“ Und 
diese harte Ablehnung trotz durchaus anerkennender Wertung so manches Kern- 
gedankens von Freud! — Den weiteren Heften des Jessnerschen Buches 
kann man hoffnungsvoll entgegensehen. Placzek, Berlin. 


Albert Hellwig: „Okkultismus und Strafrechtspflege.‘‘ Über die Ver- 
wendung von Hellsehern bei Aufklärung von Verbrechen. Verlag von Ernst 
Bircher, Bern-Leipzig 1924. 

In einer Zeit, die stärker denn je mystischen Einflüssen hingebungsvoll 
zuneigt und transzendente Deutungen erwartungsvoll, gläubig aufnimmt, kommt 


Arehiv für Frauenkunde. Bd. X, H. 2, 14 


202 Kritiken. [18 


das Hellwigsche Buch besonders zeitgemäss und willkommen, spricht doch 
aus ihm ein scharfsinniger Denker, der durch jahrelange Beschäftigung mit 
okkultistischen Dingen das vielgestaltige Wissensgebiet in mustergültiger Weise 
sich zu eigen machte und mit der nüchtern wägenden Einstellung des hervor- 
ragenden Juristen vorbildlich durchdrang. So spricht aus jeder Zeile der Fach- 
mann allerersten Ranges. Klar und überzeugend zergliedert er dem; wissens- 
durstigen Leser zahlreiche Geschehnisse, wo Hellseber zur Aufklärung rätsel- 
hafter Verbrechen hinzugezogen wurden, zeigt er die Fehlerquellen, wie sie ein- 
seitige, unkritische Einstellung, fixierte Erwartung, unbewusste Unterstützung 
durch den Rat Suchenden schafft, er zeigt aber auch die geschickte, menschen- 
kundige, jede Blösse ausnutzende, oft mit raffinierter Technik arbeitende Manier. 
Und das Schlussergebnis aus all seinen überreichen Erfahrungen, die noch durch 
eindringendes Aktenstudium erweitert sind? 

Nirgends ein Beweis für das Vorkommen okkulter Kräfte und noch weniger 
ein Beweis für deren nutzbringende Verwertung. Im Gegenteil ungeheuerliche, 
in ihrer Tragweite kaum ausdenkbare Gefahren durch Verdächtigung Unschuldiger, 
skrupellos heraufbeschworen, aufs Geratewohl, mitunter phantastisch zugestutzt. 
Trotz alledem erklärt Verf. ruhig, dass vielleicht noch die Möglichkeit 
hellseherischer Kräfte erbracht werden kann, ein mustergültiges Vorbild von Ob 
jektivitäl, das nachzuahmen man nur den okkultistischen Phantasten dringend 
empfehlen kann. Es wäre zu wünschen, dass das Buch zu diesem Endziele 
weiteste Verbreitung fände. Placzek, Berlin. 


S. Ferenczi und Otto Rank: „Entwicklungsziele der Psychoanalyse.“ 
Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis. Internat. psychoanalyt. Verlag, 
Leipzig- Wien- Zürich. 

Seltsam, höchst seltsam, wie es selbst in den Köpfen der ‚unentwegten‘ 
Freudianer zu dämmern beginnt. ‚„Fehlentwicklungen‘‘ werden freimütig be- 
kannt. So wird offen zugestanden, dass die Methodik, die sich in der 
Regel auf das Anhören, resp. die breite Schilderung von Symptomen oder 
perversen Regungen beschränkte, nicht wesentlich therapeutisch wirke. Da 
wird das Sammeln von Assoziationen eine missverständliche Art der Analyse 
genannt. Da wird von „einem weniger harmlosen Deutungsfanatismus' ge 
sprochen, die Symptomanalyse als längst überholt bezeichnet, das Wort Kom. 
Dez — man staunel — ‚beinahe nichtssagend‘ gewertet, ein unbrauchbar 
gewordenes Rudiment aus früherer Zeit! Was wird sein Entdecker Jung 
dazu sagen? Oder soll auch er abgeschüttelt werden? Man höre: „die Komplex- 
analyse verleitet den Patienten leicht dazu, seinem Analytiker angenehm zu 
sein. „So kamen Krankengeschichten zustande, in denen die Patienten Erinne- 
rungen erzählen, offenbar erdichten.‘‘ Wenn das ein Nicht-Freudianer gesagt 
hättel Als extremes Beispiel für die Subjektivität solcher Komplexvorlieben 
wird Stekel zitiert und ihm nachgesagt, dass er „dieselben neurotischen 
Symptome zuerst auf Sexualität, dann auf Kriminalität, endlich auf Religiosität 
zurückführte.‘“ Das ist hart und lieblos gegen einen Freudschüler ersten 
Ranges, wenn auch eines später boykottierten, zumal wenn der Vorwurf in dem 
Satz ausklingt: „Er mag ja, da er alles Mögliche behauptet hatte, auch mit 
manchen seiner Einzelbehauptungen recht behalten.‘ Man höre und staune aber 
über das folgende erfreuliche Selbstbekenntnis: „Besonders häufig geschah 
es, dass Jdie Assoziationen des Patienten unzeitgemäss aufs Sexuelle hingelenkt 
oder er dabei belassen wurde, wenn — wie so häufig — mit der Erwartung 
in die Analyse kam, dass er fortwährend nur von seinem aktuellen oder infan- 
tilen Sexualleben zu erzählen habe.“ Als „verhängnisvoller Irrtum‘ wird es 
bezeichnet. dass man niemand vollständig analysiert glaubte, der nicht auch 
theoretisch in alle Einzelheiten der eigenen Abnormität eingeweiht wurde. Wie 
seltsam klingt es. dass man anfänglich in jedem Neurosenfalle ausnahmslos 
sexuelle Traumen der Kinderzeit entdeckte, sich nun aber überzeugte, dass 


19] Kritiken. 203 


manches so entdeckte Trauma unmöglich vorgekommen sein konnte. Also 
alles, wie Ref. schon vor Jahren behauptete. Endlich kommt herzerfrischend 
ein Bekenntnis, dass in der Analyse keineswegs das blosse Finden eines Fehlers 
(in der Entwicklung) zugleich therapeutische Wirkung bedinge. Einen begreif- 
lichen, aber verhängnisvollen Irrtum nennen es die Autoren. ` 

Diese Blütenlese selbst zugestandener Irrtümer sagt genug, muss als 
erfreuliche Selbstkritik bezeichnet werden. Jedenfalls wird der Leser der Schrift 
erkennen, dass ein grosser Teil der früher unumgänglichen Forderungen für 
eine wirksame Analyse fallen gelassen wurde und nur Reste übrig bleiben, die 
jetzt noch als Grundpfeiler anerkannt werden. Ob sie auch in Zukunft bestehen 
bleiben werden ?? Placzek, Berlin. 


Alexander Moszkowski: „Der Venuspark“. Fantasien über Liebe und 

Philosophie. Fontane & Co., Berlin 1923. 

Ein Naturwunder dieser schöpferische Geist, der mit jedem neu zurück- 
gelegten Jahre eine gesteigerte geistige Spannkraft und Produktivität erweist. 
Immer fesselnder, immer eigenartiger werden seine Problemstellungen und er- 
reichen im vorliegenden Buche eine Höhe wie noch nie zuvor. Wie fesselnd 
schon der seltsame Gedanke, den Begriff der Zeit zugunsten einer zeitlosen 
Ewigkeit auszulöschen und die Gegenwartsmenschen von der Überzeugung zu 
erfüllen, dass sie schon in grauer Vorzeit als Wesensverwandte über die Erde 
wandelten und in neuer Gestaltung wieder auferstanden — und nan von den 
Denkern der Antike die Mysterien der Liebe unter Beherrschung der wissen- 
schaftlichen Erkenntnis bis in die Neuzeit tiefgründig erörtern zu lassen! Im 
Mittelpunkt der Erzählung steht die Gottheit Venus Urania, ihr zunächst der 
Liebeshof der berühmten Hetäre Lais, und hier tauchen sie alle auf, die be- 
rühmten Griechen, und halten Zwiesprache, seelenwandlerisch schon erfüllt von 
allem Wissenswerten früherer und späterer Zeit. Staunend, bewundernd sieht 
Ref. wieder einmal das ungeheure Wissen des Verf. auf philosophischem, mathe- 
matischem Gebiete und sogar auf dem ihm so fernliegenden Gebiete sexual- 
wissenschaftlicher Probleme, staunend auch, wie Verf. dieses Wissen mit 
souveräner Selbstverständlichkeit beherrscht und zu scharfsinnigster Kritik 
wertet. Nicht verwunderlich, dass gar manches Rätsel der Sexualprobleme von 
diesem scharfsinnigen Denker neu gesehen und eigenartig erhellt wird, ein 
Ansporn mehr für jeden sexualwissenschaftlich interessierten Arzt, sich in das 
Werk zu vertiefen, das sein Verfasser so bescheiden nur als „Fantasien“ kenn- 
zeichnet. Den Einzelheiten des Werkes auch nur andeutungsweise kritisch 
nachzugehen, so lockend es auch wäre, verbietet leider der zur Verfügung 
stehende Raum. Placzek, Berlin. 


Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, mit besonderer Berück- 
sichtigung der Homosexualität. Herausgegeben im Namen des wissen- 
schaftlich-humanitären Komitee von Magnus Hirschfeld. 23. Jahrgang. 
246 Seiten. Verlag von Julius Pültmann, Stuttgart 1923. 

Der 23. Jahrgang des Jahrbuches für sexuelle Zwischen- 
stufen bringt zunächst aus der Feder des Herausgebers Magnus Hirsch- 
feld, eine grössere Arbeit unter dem Titel „die intersexuelle Konsti- 
tution“. Sein Zwischenstufensystem, das er als ein Ördnungsprinzip, nicht 
als eine Theorie aufgefasst wissen möchte, begreift zwischen den beiden Polen 
der Variationsreihe, nämlich zwischen der Homosexualität und der Hetero- 
sexualität, die Zwischenformen des Transvestitismus, der Bisexualität und des 
Metatropismus auf der seelischen Linie, der Androgynie, des Pseudohermaphrodi- 
tismus und des Hermaphroditisınus auf der morphologischen Linie Wenn 
Hirschfeld sein Schema mit der Konstitutionslehre und mit den Ergebnissen 
der Inkretionsforschung in Beziehung bringt, erhebt er es nun eben doch zur 
Dignität einer Theorie, was den heuristischen Wert der Angelegenheit ja nur 
erhöht. aber eine gründliche Diskussion notwendig macht. 

14* 


` 


204 Kritiken. [20 


Belangreich sind auch die eingehenden Bemerkungen über Bisexualität 
und über eine Sonderform der Homoerotik, den von ihm sogenannten Erotypus 
(supervirile Ephebophile). 

Arthur Weil berichtet über neueste Ergebnisse auf dem Gebiete der 
experimentellen Geschlechtsbestimmung („Geschlechtsbestimmung und 
Intersexualität‘). Er geht ein auf Zawadowskys Kastrationsver- 
versuche an Hühnervögeln und an Antilopen, die zu dem Ergebnis führten, dass 
bei Hühnervögeln das weibliche Geschlecht heterozygotisch, das männliche homo- 
zygotisch ist, wogegen bei Antilopen die Verhältnisse umgekehrt liegen. Weil 
überträgt dann Zawadowskys Ergebnisse und Thesen auf das Gebiet der 
Erforschung der menschlichen Intersexe und stellt eine Reihe von Arbeits- 
hypothesen auf. 

An Hand dreier ausführlich geschilderter Fälle beschreibt Arthur 
Kronfeld einen bestimmten Typus metatropischer Frauen, 
die alle eine besondere Form sexualer Antinomik erleben. Sie alle leiden an 
einem praktisch unlösbaren Problem ihrer Sexualität, an der Unvereinbarkeit 
des Weiblichen und des Unweiblichen ihrer Doppelseele. „Die Weiblichkeit in 
ihrem Wesen lässt den Vollzug metatropischer Aggressionen in der Wirklichkeit 
nicht zu; die metatropische Eigenart aber verhindert diese Frauen an der Er- 
füllung erotisch-sexuellen Wunscherlebens.‘ 

In seiner „der Pathicus‘ überschriebenen Abhandlung zergliedert 
Michaelvon Muromzeff die Seelenart des passiven Homosexuellen. Mit 
Recht deckt er die masochistischen Wünsche des pathischen Empfindens auf, 
vergisst aber die dabei wesentliche narzissistische Komponente, den Selbstgenuss. 
Als solcher und nicht als altruistischer Opfergedanke ist die pathische Selbst- 
'hingabe in den meisten Fällen zu verstehen. Dies geht denn auch aus des Ver- 
fassers Auffassung des pathischen Sexualerlebens als eines sublimierten Maso- 
chismus hervor: das wesentliche ist das Bewusstsein des Pathikus, der sexuellen 
Befriedigung seines Partners zu dienen, und der Lustgewinn, den er aus diesem 
Bewusstsein zieht. 

Die sehr originelle Arbeit gibt vielerlei Hilfen für die Einfühlung in 
passiv-homosexuelle Seelenartung und in die den pathischen Prostituierten be- 
herrschenden Empfindungen, welche aber auch beim metatropischen Mann hetero- 
sexueller Richtung vielfach realisiert sein mögen. 

Die von Muromzeff geförderten Einsichten erweisen die Notwendigkeit, 
für die verschiedenen Formen pathischen Empfindens, unter denen der Maso- 
chismus ja nur die seltenste und gröbste darstellt, einen neuen generellen Namen 
zu prägen. Auch der Sadismus ist ja in Wahrheit lediglich eingefühltes patbisches 
Empfinden, eine Art von Identifikationsvorgang. 

In einem „offenen Brief an den Herausgeber der Jahr- 
bücher über Louise Michel“ verteidigt die amerikanische Freiheits- 
kämpferin Emma Goldmann ihre verstorbene Freundin, die Barrikadenheldin 
Louise Michel gegen die von v. Levetzow ihr angemutete homo- 
sexuelle Empfindungsart. Die auf blosse Indizien gestützte Diagnose v. Levet- 
zows bekämpft Emma Goldmann ihrerseits mit Indizien und vermag 
so das Problem nicht zur Lösung zu bringen. 

In einer kurzen Skizze betitelt: Franz von Holstein und Hein- 
rich Bulthaupt, gibt Dr. Richard Meienreis eine kurze Lebens- 
beschreibung der beiden miteinander bekannten Künstler, die beide homosexuell 
waren. 

In einer langen und reich dokumentierten Abhandlung: die Rolle der 
HomoerotikimArabertum, spricht Prof. Dr. Karsch von der starken 
Verbreitung homoerotischer Empfindungsweise und homosexueller Betätigung 
unter den Arabern, und von der Freiheit und der unbedenklichen Wahrhaftigkeit, 
mit der in diesem Volke das Thema der Homosexualität in Schrifttum und täg- 
lichem Leben von jeher behandelt wurde. 'Ein bedeutsamer Beitrag zur Geschichte 
des Geschlechtslebens der Völker. Walter Wolf, Berlin. 


21] Kritiken. 205 


O. F. Scheuer: Friedrich Nietzsche als Student. 79 S. 8°. Albert Ahn, 

Verlagsbuchhandlung, Bonn 1923. 

Mit Benutzung der zahlreichen Literatur und unter mehrfachen Berichti- 
gungen seiner Vorgänger gibt der Verf. anscheinend völlig genaue Nachricht 
über Nietzsches Leben auf Schule ‘und Universität. In Bonn war er einige 
Zeit Farbenstudent und hatte auch eine Mensur — eigentlich ganz ohne Anlass. 
Trotz starker Kurzsichtigkeit drängte er auf Ableistung seines militärischen 
Dienstjahres. Er musste aber nach 5 Monaten wegen eines schweren Unfalls ent- 
lassen werden. Ohne noch promoviert zu haben wurde er 1869 (geb. 1844) auf 
Empfehlung von Ritschl als Professor nach Basel berufen. „Muss selber 
nun Philister sein‘ schrieb er seinem Freunde v. Gersdorff. 

K. Bruchmann. 


Briefe Schleiermachers, ausgewählt und eingeleitet von Hermann 
Mulert. Propylaen-Verlag, Berlin 1923. 

Wer sich mit der Persönlichkeit Schleiermachers, den man wohl als 
den grössten deutschen Theologen seit Luther bezeichnen darf, befasst hat, dem 
werden diese Briefe eine willkommene Ergänzung und Gelegenheit sein, das 
hohe Menschentum dieses Mannes zu erkennen. Unter diesem Gesichtspunkt ist 
die Auswahl der Briefe getroffen. Der grösste Teil ist an Frauen gerichtet, deren 
Umgang in seinem Leben von besonderer Bedeutung gewesen ist. Damals war wie 
heute vieles ins Wanken gekommen von Herkommen und Überlieferung in Wissen- 
schaft und Leben. Schleiermacher gehört zu den Baumeistern der neuen 
Zeit. Angefeindet und verfolgt und vieler Früchte beraubt. Besonders bemerkens- 
wert sind die Briefe an Eleonore Grunow, Henriette Herz, Rahel 
Levin. Seine tiefe Neigung zur erstern und seine Freundschaft zu den beiden 
anderen zeigen den Mut und die Selbstsicherheit eines Mannes, welcher das 
Gesetz seines Handelns in sich selber trägt. Wie wenige Werke gewährt diese 
Briefsammlung einen Einblick in die geistige Struktur der Zeit im Anfange des 
19. Jahrhunderts. Aus ihr darf die Gegenwart Hoffnung und Mut schöpfen zu 
Erhebung und neuer Entwicklung. | Max Hirsch, Berlin. 


Marta Marquardt: Paul Ehrlich als Mensch und Arbeiter. Deutsche 

Verlagsanstalt, Stuttgart 1924. 

In der von Richard Koch geschriebenen Vorrede wird Ehrlich der 
erste Nachfahre des grossen Parazelsus genannt, insofern er von dem Wunsche 
und Streben nach spezifischen Heilmitteln erfüllt ist. In diesem Suchen aus 
dem Innern der Natur heraus, unabhängig von Zufall und Forscherglück unter- 
scheidet er sich von Pasteur, Koch und Behring, die ihm im Gegen- 
ständlichen so verwandt sind. Die pietätvollen Aufzeichnungen der Verfasserin, 
welche 13 Jahre seine Helferin gewesen ist, geben ein lebensvolles Bild des 
Menschen mit vielen persönlichen Zügen anscheinend kleiner, aber doch 
scharf kennzeichnender Art. Es zeigt besonders den Menschen in seiner genialen 
Einseitigkeit, die von ihm mit voller Bewusstheit immer weiter getrieben wird. 
So wird es zugleich ein wertvoller Beitrag zur Psychologie des genialen Schaffens. 

Max Hirsch, Berlin. 


Max Brod: Leben mit einer Göttin. Verlag von Kurt Wolf, München. 

Hier rollt sich das Drama des Eifersuchtswahns ab, dessen psychologische 
Höhen und Tiefen dem Psychiater wertvolle Einblicke eröffnen. Göttin wird 
der Gegenstand der Liebe genannt, weil seine Seelenlage dem Verständnis des 
Liebenden, der durch sie zum Verbrecher wird, unerreichbar entrückt ist. 
Der Wechsel ihrer Stimmung erfolgt wie nach einem Naturgesetz, das noch un- 
ergründet ist. So kommt er zu dem Schluss: „Frauen reden nur scheinbar 
dieselbe Sprache wie wir‘ und ‚ist es ein Widerspruch, dass das Meer heute 
stürmt und morgen klar und blau daliegt?' Aber diese Erkenntnis kommt nach 
der Tat. ‚Misstrauen ohne Beweis, das ist Eifersucht.‘ „Mit allen Krankheiten 
kann man leben, nur mit erkranktem Vertrauen nicht.‘ Der Roman schüttet ein 
Füllhorn seelenkundlicher Erkenntnisse aus. Max Hirsch, Berlin. 


Verhandlungen 
der ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Konstitutionsforschung. 


Sitzung vom 17. Januar 1924. 


1. Generalversammlung. Der Schriftführer erstattet den Jahresbericht, 
der Kassierer den Kassenbericht. Der Vorsitzende gibt bekannt, dass der Preis 
der ärztlichen Gesellschaft für die beste Bearbeitung des Themas: Sprechen 
anatomische Merkmale für das Angeborensein der Homosexualität? der unter 
dem Kennwort „Konstitution“ eingegangenen Bearbeitung zuteil geworden ist. 
Verfasser ist Dr. Arthur Weyl zur Zeit New York. Die Arbeit ist im 
Archiv für Frauenkunde veröffentlicht Bd. X, H. 1. ; 

Bei den Neuwahlen des Vorstandes werden gewählt: 1. Vorsitzender Herr 
Posner, stellvertretende Vorsitzende die Herren Brugsch, Max Hirsch, 
Westenhöfer, Schriftführer die Herren Kronfeld und Schuster, 
Kassierer Herr O. Adler, Beisitzer die Herren Kraus, Bumm, Lepp- 
mann, L. Pulvermacher, Körber. Durch Kooptation ferner Herr 
Peritz. 

Es wird einstimmig beschlossen, Herrn Kraus zum Ehrenmitgliede der 
Gesellschaft zu ernennen. 


Wissenschaftlicher Teil: Herr Posner, Die Naturphilosophie als Vor- 
läuferin der Sexualwissenschaft und Konstitutionsforschung. (Im Original 
gedruckt in Bd. X. Heft 2 dieses Archivs.) 


Aussprache: 

Herr Julius Schuster. Die Beziehungen der deutschen Naturphilo- 
sophen zu den Griechen sind auch für die Geschichte des Konstitutionsproblems 
bedeutsam. Schon Galen betont in der „Kleinen Kunst‘, dass es ausser dem 
Gesunden und Kranken etwas gibt, was weder gesund noch krank ist. Die 
Krankheiten werden bezogen auf drei Dinge: Körper, Ursache und Symptom. 
Wenn ein Organismus nur unter gesunden Zuständen lebte, brauchte man 
weder Mediziner noch Medizin. Wenn cine Ursache sich geändert hat, ist der 
Arzt da: damit fängt die Behandlung an. Bei dem Bau des Schädels können 
nach Galen Teile konstitutionell bestimmt sein, so die protuberantia occipitalis. 

Das historische Verdienst der deutschen Naturphilosophie ist es, das innere 
Leben des toten Gerippes der Morphologie, vor dem sie stand, erforscht zu 
haben. Dabei fiel auch Licht auf das sexuale Problem. Oken sagt: „Wer in 
der organischen Welt das Geschlecht leugnet, begreift das Rätsel der Welt nicht.“ 
Der von Goethe gefundene Begriff der Metamorphose leuchtete tief hinein in 
Probleme der Konstitution und des Geschlechts, wie die von mir im Turm der 
Bibliothek zu Weimar entdeckten Goetheschen Öriginalzeichnungen zur Meta- 
morphose der Pflanze beweisen (erschienen bei W. Junk 1924). Den Begriff 
der Metamorphose hat der naturphilosophische Mediziner Karl Friedrich 
Burdach auf die Geschlechter übertragen und wurde 1814 durch seine Schrift 
„Die Metamorphose der Geschlechter oder Entwicklung der Bildungsstufen, durch 


2] Verhandlungen. 207 


welche beide Geschlechter ineinander übergehen‘ zum Vorläufer der Zwischen- 
stufen-Theorie. 

Möchten recht viele aus der historischen Betrachtung das Gefühl geschöpft 
haben, mit der Erweiterung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft zur Konsti- 
tutionsforschung eine Tat getan zu haben. Das wäre ganz im Sinne der Vorläufer 
und Begründer dieser Wissenschaft: „Des Mannes schönste Feier ist die Tat“ 
(Goethe). 


Herr Kronfeld. Die von Schelling ausgehende spekulative Natur- 
philosophie der Romantik befand sich in einer grundsätzlich anderen 
denkerischen Einstellung zur Natur als alle empirische Einzelforschung, und war 
sich dessen voll bewusst. Sie vollzog, auf intuitiver Begründung, synthetische 
Konstruktionen. Anstatt des seit Aristoteles methodisch festgelegten Verfahrens 
der Analyse und genetischen Theorie der Naturgegebenheit setzte sie einen 
übersteigerten, rein morphologisch verbleibenden, die Kausalbetrachtung ab- 
lehnenden Platonismus. Es lassen sich zwar auch gegenwärtig Parallelerschei- 
nungen gewisser naturphilosophischer Art hierzu feststellen — weniger geniale, 
aber sicherer fundierte als die romantischen: die Gefahr und Willkür dieser 
philosophischen Richtungen in ihrer Anwendung auf Natur ist jedoch grösser 
als ihr — nie beglaubigter — Gewinn an neuen Gesichtspunkten. Gerade die 
Konstitutionsforschung sollte davor behütet bleiben, damit sie nicht in ihren 
Methoden Anstoss bei der wirklichen Naturforschung erregt. Was sie 
gebraucht, sind neue exakte empirische Arbeitsweisen. Dem widerspricht 
nicht, dass phirosophisch die Begriffe Ganzheit, Gestalt, Persönlichkeit, 
Konstitution einer analytischen und genetisch-kausalen Bearbeitung niemals ganz 
ohne Rest zugänglich sind. 


Herr Max Hirsch: Wenn je ein Mensch zum Naturforscher geboren 
gewesen ist und dieser natürlichen Berufung zur fruchtbarsten Auswirkung 
verholfen hat, so ist es Goethe Das muss — entgegen dem zünftigen 
Widerspruch zu seinen Lebzeiten und auch noch heute — immer wieder mu 
allem Nachdruck und mit vollem Rechte betont werden. In die Breite und in 
die Tiefe geht sein forschender Sinn. Chemie, Physik, Geologie und Mineralogie, 
Astronomie und Meterologie, Zoologie und Botanik, Physiologie und Biologie 
verdanken ihm wertvolle Anregungen, Erkenntnisse und Entdeckungen. Wäre 
hier der Ort dazu, so liesse sich erweisen, dass Goethes naturwissenschaftliches 
Denken seinem Zeitalter um 100 Jahren vorausgeeilt ist. Der Entwicklung- 
gedanke, die Grundlage aller Naturwissenschaft der Gegenwart, war hell in ihm 
aufgegangen. Kein geringerer als Charles Darwin sagt, dass Goethe, 
Darwin und St. Hilaire zu gleicher Zeit zu gleichen Ansichten über die Ent- 
stehung der Arten gekommen seien. 

Auch das, was wir heute Konstitutionsforschung nennen, steht seinem 
Gedankenkreise durchaus nahe. In seiner Metamorphose der Pflanzen, welche 
erst jetzt durch die Entdeckung neuer Handzeichnungen von Goethe durch 
Julius Schuster in ihrer ganzen Bedeutung erkannt werden kann, macht 
Goethe auf ein doppeltes Gesetz aufmerksam ‚erstens auf das Gesetz der inneren 
Natur, wodurch die Pflanzen konstituiert werden, zweitens auf das Gesetz der 
äusseren Umstände, wodurch die Pflanzen modifiziert werden.“ Da haben wir 
Wort und Begriff der Konstitution, ihre Begründung in ererbter Keimanlage. 
Daneben den Begriff „Modifikation“ im Sinne der modernen Vererbungslehre. 

Goethe hat ferner alle seine Bemühungen dem Nachweis des Typischen 
gewidmet und hat in seiner Gestaltlehre, die er Morphologie genannt hat, 1795 
Grenzen und Arbeitsrichtung dieser neuen Wissenschaft dargelegt. Indem er 
nicht nur die Feststellung der Körperformen durch den Anatomen und Anthro- 
pologen, sondern auch die Erforschung der inneren Gesetze, auf denen das 
Leben der organischen Natur beruht, durch die Mittel der Physik und Chemie 


208 Verhandlungen. [3 


verlangt, indem er ferner des psycho-physischen Komplexes gedenkt, gibt er 
seiner Gestaltlehre einen ganz modernen biologischen Inhalt, der ganz dem ent. 
spricht, was die Konstitutionswissenschaft von heute bedeutet. 


Herr Posner, Schlusswort. Aus dem Verlaufe der Diskussion könnte 
man schliessen, dass ich einen Lobeshymnus auf die Naturphilosophie und den 
Vitalismus angestimmt hätte. Beides lag mir selbstverständlich fern — ich 
habe mich nur bemüht, unparteiisch aufzuzeigen, wie sich vor einem Jahr- 
hundert die Anhänger jener Richtungen mit Fragen abzufinden suchten, die uns 
jetzt von Neuem beschäftigen. Auch wer noch so „exakt“ gerichtet ist, wird aus 
solchem historischen Rückblick immerhin einigen Stoff zum Nachdenken ent- 
nehmen können. Wenn die romantisch gerichteten Ärzte ganz besonders mit dem 
Begriff der Lebenskraft gearbeitet haben, so lag dies im Zuge ihrer Zeit. Es 
wird sich vielleicht verlohnen, die Entwickelung des Vitalismus zum Neo- 
vitalismus, die sich so rasch nicht darlegen geschweige denn beurteilen lässt, 
später einmal eingehender zu behandeln. 


Herr Kurt Berliner: Die Bedeutung der Hormone in den ver- 
schiedenen Lebensaltern des Menschen. (Im Original gedruckt in Bd. A. 
Heft 2, dieses Archivs.) 


Sitzung vom 21. Februar 1924. 


Herr Julius Heller: Die ärztlich wichtigen Rechtsbeziehungen des 
ehelichen Geschlechtsverkehrs. (Erscheint als Nr. 7 der Monographien zur 
Frauenkunde ım Verlage von Curt Kabitzsch in Leipzig.) 


Aussprache: 


Herr F. Strassmann: Es wird vielleicht eine nicht unerwünschte Er- 
gyänzung des Vortrages des Herrn Heller sein, wenn ich Ihnen berichte, wie 
sich die ärztliche Sachverständigentätigkeit in der Praxis der Ehestreitigkeiten 
darstellt, welche Fragen hier an uns herantreten und in welcher Häufigkeit. 
Ich habe zu diesem Zwecke mein Material aus ‚einem grösseren Zeitraum 
zusammengestellt, und zwar habe ich aus technischen Gründen die 11/, Jahr- 
zehnte von 1906 bis 1920 gewählt. Freilich habe ich meine Gutachten aus diesen 
Jahren nicht vollständig verarbeitet. Es war mir bei der Kürze der Zeit, die 
mir zur Verfügung stand, nicht möglich, die psychiatrischen Gutachten in Ehe- 
streitigkeiten, die ich innerhalb dieses Zeitraums erstattet habe und die an anderer 
Stelle registriert sind, herauszusuchen. Ich kann nur sagen, dass dese Gut 
achten ziemlich zahlreich waren. Sie betrafen zu einem Teil die Frage, ob die 
Bedingungen der Ehescheidung wegen Geisteskrankheit gegeben sind, zum 
andern die, ob die Ehe nichtig sei, weil ein Teil bei der Eheschliessung geistes- 
krank und geschäftsunfähig war, oder weil seine geistigen Mängel und seine 
krankhafte Anlage dem anderen Teil damals nicht bekannt waren und somit ein 
error in persona vorlag, endlich drittens die Frage, ob geistige Defekte oder 
vorübergehende Erregungzzustände die Verantwortlichkeit für schwere Ehe- 
verfehlungen ausschlossen oder wenigstens so weit herabminderten, dass sie 
nicht mehr als schwer anzusehen waren. 

Von diesen Fällen abgesehen habe ich 52 andere zusammenstellen können. 
Die Zahl ist zu klein, um statistische Schlüsse darauf aufzubauen. Ich will 
nur anführen, dass auf die neun Vorkriegsjahre durchschnittlich 22/, Gut- 
achten jährlich kamen, auf die 4 Kriegsjahre je 5, auf die 2 Nachkriegsjahre 
je 4. Da der mir zugeteilte Bezirk !/, von Gross-Berlin umfasst und da die Ge 
richte vielfach andere Sachverständige als die angestellten Gerichtsärzte hören, 
schätze ich die Zahl der ärztlichen Gutachten. die in Ehestreitigkeiten innerhalb 
Berlins erfordert wurden, etwa auf das Zehnfache meiner Zahlen. 

Unter diesen 52 handelte es sich 29 mal um die Geschlechtskrankheit 
eines Eheteils, zumeist um Lues (einmal um kongenitale), etwas seltener um 


4] Verhandlungen. 209 


Gonorrhöe. Entweder wurde unter Behauptung einer solchen Erkrankung, die 
schon zur Zeit der Eheschliessung bestanden hat, die Ehe angefochten, einmal 
nach 20 Jahren und 4 normalen Geburten: oder es wurde Erkrankung erst in 
der Ehe angegeben und darauf die Behauptung des Ehebruches als Schei- 
dungsgrund gestützt, oder aber es kamen noch andere Fragen vor: ob ein 
Zusammenleben für den anderen Teil gefährdend sei, ob die Kinder (vorhandene 
oder zukünftige) gefährdet würden, es wurden Kurkosten beantragt u. dgl. 
mehr. In einer erheblichen Zahl von Fällen konnte die Behauptung der Ge- 
schlechtskrankheit nicht bestätigt werden. Mehrfach wurde z. B. bei behaupteter 
Lues nur eine gewöhnliche Schuppenflechte gefunden. Hier und da ist die 
Blutentnahme zur Wassermannschen Reaktion verweigert worden. Eine völlige 
Verweigerung der Untersuchung überhaupt kam mir nicht vor. 

In 15 weiteren Fällen handelte es sich um geschlechtliche Unfähigkeit des 
Mannes, in 5 um solche der Frau. Darunter betrafen 2 Gutachten denselben 
Mann in 2 aufeinander folgenden Ehen. Die Unfähigkeit wurde manchmal auf 
Geschlechtskrankheiten zurückgeführt, ich habe diese Fälle aber nur unter 
dieser Rubrik gezählt. Zumeist wurde wegen solcher Unfähigkeit die Nichtigkeit 
der Ehe verlangt. Einmal wurde Scheidung verlangt wegen angeblich in der 
Ehe durch Onanie entstandener Impotenz und damit Vorliegens eines unsittlichen 
Verhaltens. Bei den Männern wurde zumeist Beischlafsunfähigkeit behauptet, 
gelegentlich aber auch Nichtigkeit wegen Zeugungsunfähigkeit bei erhaltener 
Beischlafsfähigkeit verlangt und wenn die Behauptung bestätigt wurde, was ein 
paarmal durch den Befund der Azoospermie geschah, auch anerkannt. In anderen 
Fällen sollte aus der Zeugungsunfähigkeit des Mannes bei stattgehabter Geburt 
Ehebruch der Frau erschlossen werden, einmal wurde von den Verwandten des 
Mannes, der an Tuberkulose verstorben war, die Illegitimität des 248 Tage 
nach seinem Tode geborenen Kindes behauptet, von mir aber als nicht sicher 
feststellbar erklärt. In einigen Fällen konnte aus den übereinstimmenden Angaben 
der Eheleute die tatsächliche Impotenz des Mannes mit genügender Sicherheit. 
bewiesen werden. Als Ursache fanden sich Kriegsneurasthenie, Frigidität auf 
dem Boden der Debilität, vorzeitiges Altern. Verhältnismässig oft wurde dabei 
Fjaculatio praecox angegeben. Öfter war die Betätigung der behaupteten 
Unfähigkeit nicht möglich. In dien 5 Fällen, in denen sich die Klage gegen die 
Ehefrau richtete, deren Geschlechtsteile angeblich verkrümmt seien und dergleichen 
mehr, war nie eine Abnormität nachweisbar. Hervorzuheben ist vielleicht ein 
Fall, in dem behauptet wurde, dass der Frau der Kitzler operativ entfernt 
sei und damit das Organ des Lustgefühls und dass dem Manne der dauernde 
Verkehr mit einer Frau, der dieses fehlte, nicht zugemutet werden könne. Die 
grundsätzliche Frage ist nicht entschieden worden, da die Behauptung jener 
Operation sich als aus der Luft gegriffen erwies. Tatsächlich war der Frau der 
eine Eierstock vor der Ehe, der andere in der Ehe entfernt worden. Die Be- 
hauptung des Mannes, dass bei Eingehung der Ehe schon der andere Eierstock 
krank und funktionsunfähig gewesen sei und damit Konzeptionsunfähigkeit 
bestanden habe und ein Anfechtungsgrund gegeben sei, wurde vom 1. Operateur 
nicht bestätigt. 

Nur dreimal bezog sich mein Gutachten auf die Frage der Verweigerung 
der ehelichen Pflicht. Der Punkt ist allerdings häufiger in den Prozessen, in 
denen ich tätig war, ausgeführt worden, doch ist ihm, soweit ich sehe, weiter 
nicht nachgegangen worden, was ja begreiflich ist, da er nicht objektiv und 
durch Zeugenaussagen, wie andere Gründe der Ehescheidung und Eheanfechtung 
festzustellen ist und auf diese daher mehr Wert gelegt wurde. Einmal wurde 
die Verweigerung dem Manne vorgeworfen und durch den objektiven Befund. 
der bei der Frau völlige Jungfräulichkeit ergab, unterstützt: zweimal der Frau. 
darunter ist einer besonders merkwürdig. Hier klagte der Ehemann gegen seine 
74 jährige Frau, mit der er in 43 jähriger Ehe eine Reihe von Kindern erzeugt 
hatte, wegen solcher Verweigerung. Die Frau gab sie zu, rechtfertigte sich mit 


210 Verhandlungen. [5 


Herzleiden und Gebärmuttervorfall. In der Tat bestand bei ihr eine schwere 
Arteriosklerose und ein Vorfall von Scheide und Gebärmutter hohen Grades. 
Ich erklärte ihre Weigerung für gerechtfertigt. M. H.! Ich bin natürlich der 
Meinung, dass das Gericht gut tut, möglichst häufig ärztliche Sachverständige 
zuzuziehen, aber in diesem Falle will ich gern zugeben, dass auch ohne mein 
Gutachten hätte entschieden werden können. 


Herr Otto Adler: Auf zwei Punkte möchte ich eingehen, von denen 
Herr Heller den Vaginismus gestreift, den anderen — die geschlecht 
liche Empfindungslosigkeitdes Weibes — Herr Strassmann 
mit einem Fragezeichen angedeutet hat. 

Der Vaginismus gehört nach dem Vortragenden zu denjenigen Störungen 
des Geschlechtslebens, welche auf Verlangen des anderen Ehegatten durch 
Operation zu beseitigen sind. Im Weigerungsfalle kann die Ehe vom Manne 
mit Vorteil angefochten werden. 

Ich möchte vor dieser Verallgemeinerung des Operationszwanges bei 
Vaginismus dringend warnen! Der Vaginismus ist nur in einem kleinen 
— vielleichtdemkleinstenTeilaller Fälle — ein operativ zugängliches 
Leiden. Gewiss sind Hymenalreste, zuweilen auch innere Verwachsungen aus- 
lösende Krampfmomente. Aber nur in diesen Fällen heilen Messer und 
Narkose, in allen anderen — der überwiegenden Zahl! — nützt die Operation 
nichts, sondern sie kann neuen erheblichen Schaden hinzufügen! Der Vagi- 
nismus ist ähnlich wie der epileptische Krampf ein psychisches Leiden 
und wie man bei der Epilepsie nur die verhältnismässig seltenen lokalen 
Formen (Jackson) operiert, so sollte man auch beim Vaginismus 
zurückhaltend sein. Ein Operationszwang bei drohender Eheauflösung dürfte 
oft genug ein ärztlicher und juristischer Doppelfehler sein! 


Die andere interessante Frage: Wie urteilt der Richter über die Ehe mit 
einer geschlechtskalten Frau? hat der Vortragende nicht berührt, 
dagegen warf Herr Strassmann diese Frage bei seinem Falle von vor- 
geschobener Klitoris-Exzision auf. 

Der „kalten Frau“ habe ich in meiner Monographie über diesen Gegen. 
stand ein eigenes juristisches Kapitel gewidmet !). Ich bin dabei zu folgender 
Schlussfolgerung gekommen: 

„Es dürfte sich meiner Meinung nach nicht leicht ein Richterkollegium 
finden, welches auf die mangelhafte Empfindung der Frau hin dem Manne 
allein das Recht zuspräche, die Ehe anzufeinden. Gewiss! es liegt für ein 
empfindsames, sensibles und höherstehendes Geschlechtsbedürfnis des Mannes 
sicherlich ein Manko, ein .Irrtum über eine persönliche Eigenschaft des 
anderen Ehegatten“ (8 1333 BGB.) vor. Der Betreffende wäre bei vor- 
heriger „Kenntnis der Sachlage‘ diese Ehe sicherlich nicht eingegangen. 
Trotzdem wird diese feine Nuancierung der Auffassung des Geschlechts- 
verkehrs schwerlich in einem richterlichen Urteil als Stütze der Anfechtung 
figurieren. Solange die rein mechanischen Verhältnisse für einen normalen 
Koitus bei beiden Teilen vorhanden sind, wenn womöglich Kinder dieser Ehe 
existieren, dürften vermutlich die feinen Seelenschwingungen einer unbe- 
friedigten Sexualität des Mannes als „nebensächlich“ ad acta gelegt 
werden. — — — 

Dies waren die Ausführungen der letzten (II. Auflage der vorgenannten 
Monographie. Inzwischen haben sich die schüchternen Hoffnungen auf ein 
„feiner nuanciertes“ Urteil verwirklicht. Ich bin in der Lage für die neue im 
Druck befindliche IV. Auflage folgendes Urteil des Düsseldorfer Landgerichts 
anzuführen: | 

1) Dr. Otto Adler, Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes. 
Verlag H. Kornfeld, Berlin. 4. Auflage im Druck. 





6] Verhandlungen. 211 


Entscheidungsgründe. 


„Die auf § 1333 BGB. gestūtzte Klage ist begründet. Nach den 
Bekundungen der Sachverständigen Dr. X. und Dr. Y. leidet die Beklagte 
an sexueller Hysterie. Sie ist zwar normal gebaut und eine Beiwohnung 
ist möglich, ihr Scheideneingang ist aber sehr eng, so daß ein Mutterspiegel 
kaum eingeführt werden kann. Sie gibt auch an, dass der verstorbene 
Frauenarzt Dr. Z. durch häufige Eingriffe versucht hat, den Scheideneingang 
zu weiten, um den geschlechtlichen Verkehr zu ermöglichen. Bei Berührung 
der Genitalien ist sie äusserst empfindlich, die Gebärmutter und die Eier- 
stöcke sind nicht ganz voll entwickelt (?) und selbst bei schonender tmanueller 
Untersuchung schmerzhaft. Es besteht bei ihr eine Abneigung gegen den 
normalen Geschlechtsverkehr, die sich bis zum Ekel steigert. Dagegen 
empfindet sie weder Libido noch Voluptas. Nach jeder geschlechtlichen Be- 
rührung tritt eine starke nervöse Abspannung bei ihr ein. 

Ob dieBeklagtenach diesem Befunde beiwohnungs 
fähig ist, kann dahingestellt bleiben, jedenfalls leidet 
sie an einer geschlechtlichen Empfindungslosigkeit 
gegenüber dem Kläger, die diesen berechtigt, wegen 
Irrtums über diese persönliche Eigenschaft der Be- 
klagten die Ehe anzufechten, da anzunehmen ist, dass 
ihm diese Eigenschaft bei Kenntnis der Sachlage und 
bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von 
deren Eingehung abgehalten haben würde (vgl. Entsch. d. 
RG. im Recht 1915 Nr. 2290 u. 2291). — 

Der vorliegende Fall gibt kein ganz reines Bild der idiopathischen Empfin- 
dungslosigkeit. Einige Schlagworte des ärztlichen Gutachtens: ‚Hysterie‘, „Ekel“, 
der „enge Scheideneingang‘‘, „die nicht voll entwickelten Eierstöcke und Gebär- 
mutter“, „die Empfindlichkeit bei Berührung der Genitalien“ (Vaginismus ?) 
werden ihren suggestiven Einfluss auf das Urteil kaum verfehlt haben. Immerhin 
erhebt sich das Urteil am Schlusse vollkommen selbstlos darüber hinaus und 
stellt „die geschlechtliche Empfindungslosigkeit dem 
Kläger gegenüber“ als eigentlichen Entscheidungsgrund klar und unein- 
geschränkt hin. 

Das Urteil ist nur ein erstinstanzliches — es fehlt ihm noch die Sanktion 
durch das Reichsgericht. Die Zahl der „frigiden‘‘ Frauen ist so übergross, dass 
es nicht schwer fallen sollte, eine Ehe-Anfechtung aus diesem Grunde einmal 
vor das höchste Gericht zu bringen. 


Herr Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg betont, dass er mit dem Vor- 
tragenden dahin übereinstimme, dass die Berufsrichter sich mit der grössten 
Sorgfalt und Liebe in die Psychologie der Eheprobleme vertieft hätten, und dass 
er der Anerkennung des Vortragenden, dass die Richter nicht weltfremd diesen: 
Problem gegenüberstünden, durchaus zustimmen müsse. Der Vortrag des 
Vortragenden zeige aber auch, wie alles noch im Fluss sei, und wie dringend 
wünschenswert es erscheine, dass die Rechtsprechung Gelegenheit habe, zu den 
neu auftauchenden Problemen Stellung zu nehmen, insbesondere die Fortschritte 
der Wissenschaft und Psychologie bei der Auslegung des Rechts zur Anwendung 
zu bringen. Unter diesen Umständen erscheine es besonders bedauerlich, dass 
durch die neue Verordnung die Revisionstätigkeit in Ehescheidungssachen eine 
so erhebliche Einschränkung erfahren habe, dass an eine weitere Fortbildung 
des Ehescheidungsrechts durch eine höchstrichterliche Rechtsprechung nicht 
gedacht werden könne. 


212 Mitteilungen. Ä [1 


Mitteilungen. 


Aufforderung. 


Die ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Konstitutionsforschung 
hat in der Vorstandssitzung vom 6. Dezember 1923 auf Anregung des damaligen 
Vorsitzenden Max Hirsch beschlossen, den Lebensschicksalen der Eunuchoiden 
nachzugehen, über welche nur wenig bekannt ist, und zu diesem Zweck eine 
Sammelforschung zu veranstalten. 

Sie richtet an alle, welche Material besitzen oder beschaffen können, die Bitte 
um Mitarbeit wie folgt: 


Sehr geehrter Herr Kollege! 


Im Auftrage der „Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Konstitutions- 
forschung“ wenden sich die Unterzeichneten an Sie mit der höflichen Bitte, bei- 
liegenden Fragebogen freundlichst ausfüllen zu wollen. Es handelt sich um eine 
Rundfrage, die sich mit der Lebenskurve, dem sozialen und psychischen Ver- 
halten der Eunuchoiden und ihrem katamnestischen Ergehen statistisch beschäftigt. 
Die Gesellschaft wäre Ihnen bei der grossen Bedeutung des Problems für die 
Konstitutionsforschung für eine Beantwortung der Fragen dankbar. Falls es Ihnen 
zu grosse Mühe bereiten sollte, die Krankengeschichten im Hinblick auf die zu 
beantwortenden Punkte durchzusehen, so würden die Unterzeichneten gern bereit 
sein, die Fragebogen nach eingesandten Krankenblättern selbst auszufüllen. Dass 
Ihre Fälle nicht etwa durch diese Sammelforschung Ihrer eigenen Bearbeitung und 
Veröffentlichung vorweg genommen werden, und dass auch bei einer statistischen 
Veröffentlichung Ihre gütige Unterstützung dankbar erwähnt werden wird, bedarf 
keiner Versicherung. 

Das Ergebnis der Sammelforschung soll im Archiv für Frauenkunde und 
Konstitutionsforschung veröffentlicht werden. 

Einsendungen ausgefüllter Fragebogen, einschlägiger Krankengeschichten — 
— letztere zur Einsichtnahme für kurze Zeit — werden erbeten an die zweite 
med. Klinik der Charite, Berlin N, z. H. von Prof. Dr. Peritz. 

Wir hoffen auf Ihre Mitarbeit und zeichnen 


Mit kollegialer Hochachtung 


Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft 
und Konstitutionsforschung in Berlin. 
i. A.: der Vorstand. 


Begriffserklärung. 


Der Eunuchoidismus ist eine angeborene Entwickelungsstörung, als deren 
wichtigstes Symptom die Aplasie bzw. Hypoplasie der Genitalien anzusehen ist. 
Der Penis ist besonders klein, der Hoden erbsen- bis bohnengross oder gar nicht 
palpabel, das Skrotum ziemlich verkümmert. Ferner fehlen als Zeichen der 
mangelnden Geschlechtsreife die sekundären Geschlechtsmerkmale (mangelnde Be 
haarung, Kastratenstimme). 

Körperlich sind 2 Typen zu unterscheiden: 

1. Dereunuchoide Fettwuchs: Charakteristische Form und Lokalisation 
des Fettansatzes (Obere Augenlider, Mammae, Unterbauchgegend, Cristae iliacae, 
Nates). Eine mässige Skelettdisproportion ist vorhanden. 


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Aus der Frauenklinik der Universität Halle a. S. (Direktor: Geh. 
Med.-Rat Prof. Sellheim). 


Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 


Von 
Hugo Sellheim. 


Mit 8 Abbildungen im Text. 


Nachdem ich bei einer Frau den Beweis habe führen können, 
dass es sich bei ihr um einen an den absoluten Kastraten heran- 
reichenden „Kastratoidısmus“ mit höchstens einem Minimum von 
Eierstocksfunktion handelt, halte ich mich für verpflichtet, dieses 
Krankheitsbild, nach dem man ausweislich der Klagen in der Literatur 
so lange vergeblich gesucht hat, dem Kreise der engeren Fachgenossen 
vorzuführen. 1 

Bei einem 21jährigen Mädchen fiel den Eltern vor zwei Jahren ein Hinken 
auf. Seit der Zeit bestehen Klagen über Schmerzen, die von der linken Hüfte 
nach dem Knie hin ausstrahlen. Die Beschwerden machen sich namentlich beim 
stärkeren Gebrauch der Beine geltend und verschwinden mit der Ruhe. 

Ein Vierteljahr später traten dieselben Erscheinungen in der rechten Hüfte 
auf. Der Gang wurde watschelnd.. Während die Beugung der Beine im Hüft- 
gelenk frei war, wies die Abduktion sowie die Rotation eine starke Behinderung 
auf. Anamnese und Untersuchung liessen die gewöhnlichen Formen der Hüft- 
gelenkserkrankung ausschliessen. 

Röntgenologisch wies das Skelettsystem eine gewisse Kalkarmut auf, 
wodurch die Knochenstruktur, besonders die Bälkchenzeichnung, deutlicher ins 
Auge springt. 

Die Mehızabl der Epiphysenfugen ist sehr gut erhalten (Abb. 1). 

Am unteren Ende von Radius und Ulna erwies sich neben der strichförmigen, 
etwas unregelmässigen Aufhellung an der Epiphysenlinie der Knochen kalkreicher. 


1) Auswertung des Falles inbezug auf die Ätiologie der dabei gleichzeitig 
vorhandenen Osteochondritis juvenilis hat in der Zeitschrift für Chirurgie bereits 
stattgefunden. — Vgl. Lieschied und Sellheim, Osteochondritis und endokrine 
Störung. Deutsche Zeitschr. f. Chirurg. 185. Bd. 


Arehiv für Frauenkunde. Bd. X. H.3. 15 


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3] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid‘“. 217 


Beiderseits besteht Coxa-vara-Bildung. Links ist der Befund ähnlich wie 
rechts. 

Der Beginn, die Symptome und der besonders an beiden Hüftgelenken er- 
hobene Röntgenbefund sind so charakteristisch, dass von chirurgischer Seite an 
der Diagnose „Osteochondritis deformans coxae juveniles duplex“ 
— ein von Perthes im Jahre 1910 gewählter Name — nicht gezweifelt 
werden kann. 

Die Skeletterkrankung besteht in ciner hochgradigen Störung des normalen 
Knorpelknochenbaues. 

In der Ätiologie spricht man von einem angeborenen Zustand mit Störung 
dor Knochenkernbildung, Ernäbrungsstörung, Entwicklungsstörung des Skeletts, 
Trauma, Rachitis, Tuberkulose, Lues, bakterieller Schädigungen, statischen Ein- 
flüssen oder einer Kombination von allen möglichen Ursachen. Auch wurden 
daneben Störung der inneren Sekretion, z. B. Hypothyreoidismus gelegentlich 
beobachtet !); Störung der Keimdrüsentätigkeit wird erwähnt. 

Neuerdings werden ausser der Osteochondritis deformans coxae juvenilis 
in der Literatur auch Lokalisation an anderen Körperstellen, z. B. am Fusse 
beschrieben. Das Wesentliche der Erkrankungsform igt, dass sie die Stellen des 
Skeletts befällt, die noch wachsen, und dass der dort vorhandene Knorpel in 
seiner Verknöcherungstendenz geschwächt ist, also, was für die 
weitere Behandlung des Themas wichtig ist, eine sigenarlige Ossifikations- 
schwäche des Knorpels. 


Der vorliegende Fall bot nicht nur wegen der multiplen Osteo- 
chondritis chirurgisches Interesse. Es handelt sich auf den ersten 
Blick um eine schwere Störung der inneren Sekretion der 
Ovarien. 

Um den Fall richtig zu beurteilen und einzureihen, schicke ich 
eine kurze Bemerkung über die Charakterisierung der Eier- 
stocksstörungen und ihre Nomenklatur voraus. 


Unter Kastraten versteht man männliche und weibliche Individuen, bei 
welchen die von Haus aus gut angelegten Keimdrüsen früher oder später, also 
frühestens unmittelbar nach der Geburt, zerstört oder entfernt wurden. Eunuchen 
sind männliche Personen, bei welchen neben der Kastration auch noch gleich- 
zeitig eine Ablatio penis stattfand. Wegen dieser gründlicheren Ausrottung ihrer 
Sexualfunktion werden die Eunuchen in ihrer Verwendungsweise als Harems- 
wächter den nichts als Kastraten vorgezogen. 

Ausser diesen künstlich radikal verschnittenen Personen gibt es auch noch 
solche, bei welchen eine mehr oder weniger ausgesprochene Unterentwicklung 
der Keimdrüsen vorliegt. Da sie in den Folgeerscheinungen den Eunuchen ähn- 
lich sehen, hat man sie als Eunuchoide bezeichnet. Da aber das wesentliche 
Vergleichsmoment nicht das Fehlen des Penis ist, das den Eunuchen auszeichnet, 
sondern die Verkümmerung der Keimdrüse, ausserdem der Zustand bei Mann 
und Frau vorkommt, ist die Bezeichnung Eunuchoid wohl nicht gut gewählt und 
besser durch das Wort „Kastratoid“ zu ersetzen. 


Ob es neben den Kastratoiden mit angeborener Unterentwick- 
lung und dementsprechend mangelhafter Funktion ibrer Keimdrüsen 





1) Ausführlicher Literaturbericht bei Lieschied und Selllieim l. c. 
15* 


218 Hugo Sellheim [4 


auch noch angeborenen vollkommenen Defekt beider Keimdrüsen gibt, 
ist bis heute zweifelhaft geblieben. 

Tandler und Grosz!) welche sich mit dem Gegenstand ein- 
gehend beschäftigt haben, kommen wenigstens zu dem Schluss, dass 
die in der Literatur beschriebenen Fälle von angeborenem beider- 
seitigem Fehlen der Testikel („Anorchie“) einer wissenschaftlichen 
Kritik nicht stand halten. 

Ein angeborener Mangel beider Eierstöcke wird nur für lebens- 
unfähige Missgeburten zugegeben, kommt also für die Beobachtung 
am lebenden Menschen auch nicht in Betracht. 

Über die Wirkung von Frühkastration beim Manne sind wir gut 
unterrichtet, da aus der Verschneidung ein Gewerbe zur Gewinnung 
von treuen Haremswächtern und vielleicht auch noch Diskantsängern 
gemacht wird. Über frühzeitige Verschneidung bei Frauen existieren 
dagegen nur Reiseberichte, die im allgemeinen als unzuverlässig an- 
gesehen werden. 

Wie solche Gerüchte entstehen, darüber habe ich eigene Erfah- 
rungen machen können. Ich habe seinerzeit viele Kastrationsversuche 
an allen möglichen männlichen und weiblichen Tieren ausgeführt ?). 
Die Arbeiten wurden in der damaligen schreibmaschinenlosen Zeit 
für die Drucklegung abgeschrieben und zwar in einem Gefängnis von 
einem merkwürdigen Manne, über dessen Herkunft man nichts wusste. 
Er gab sich als Arzt aus und führte sich dementsprechend auf, ohne 
irgend welchen Ausweis für die Berechtigung, diesen Beruf auszuüben, 
beibringen zu können. Die Revision des Gepäckes bei der Haftent- 
lassung des Abschreibers förderte umfangreiche Manuskripte über Reisen 
in fernen Ländern zu Tage. Darin spielten eigene Beobachtungen 
über Frühkastraten männlichen und weiblichen Geschlechtes beim 
Menschen eine grosse Rolle! Der einsame Schriftsteller hatte seine 
Phantasie dazu benutzt, eine in meinen Schriften erwähnte Lücke 
auszufüllen. Fingierten menschlichen Frühkastraten waren in geschickter 
Weise die analogen Veränderungen angedichtet, die ich in den ihm 
zum Abschreiben übergebenen Arbeiten bei Tieren festgestellt hatte. 
Wäre man diesem Betrug nicht rechtzeitig auf die Spur gekommen, 





ı) Tandler und Grosz, Die biologischen Grundlagen des sekundären Ge- 
schlechtscharakters. Berlin, Julius Springer, 1913, S. 44 u. 8. 52. 

?) Zur Lehre von den sekundären Geschlechtscharakteren. Hegars Beitr. 
z. Geb. u. Gyn. Bd. 1 u. 2. 1898. — Kastration und Knochenwachstum. Hegars 
Beitr. z. Geb. u. Gyn. Bd. 2. Heft 2. 1899. — Kastration und sekundäre Ge- 
schlechtscharaktere. Hegars Beitr. z. Geb. u. Gyn. Bd. 5. Heft 3. 1902. — 
Einfluss der Kastration auf das Knochenwachstum des geschlechtsreifen Organis- 
mus und Gedanken über die Beziehungen der Kastration zur Osteomalazie. Zeit- 
schrift f. Geb. u. Gyn. Bd. 74. 


5] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 219 


so dürfte dem Mangel einer einleuchtenden Literatur über männliche 
und weibliche Frühkastraten heute abgeholfen sein. 


Beim Weibe besitzen wir bis jetzt also weder die Beobachtung 
von angeborenem völligem Defekt der Eierstöcke, noch von einer 
zuverlässig verbürgten Frühkastration. Wir verfügen lediglich über 
Fälle von angeborener mangelhafter Ausbildung und unzulänglicher 
Funktion von Eierstöcken, dem immerhin noch ziemlich unklaren 
Bild des weiblichem Hypogenitalismus, Hypovarismus, weiblichen Eu- 
nuchoiden oder besser Kastratoiden. 

Da bei teilweisem Ausfall der Keimdrüsenfunktion Körper und 
besonders Genitaltraktus in ihrer Entwicklung gehemmt werden und 
auf einem normalerweise zu durchlaufenden Jugendstadium verharren, 
so sind mit dem Kastratoidentypus auch infantile Merkmale ver- 
bunden. Das Wesentliche ist aber in solchen Fällen wohl nicht der 
Infantilismus, sondern der Kastratoidentypus, es sei denn, dass man 
sich auf den Standpunkt stellen wollte, es gäbe ja auch im Embryo 
ein Stadium, in dem die Keimdrüse noch mehr oder weniger unent- 
wickelt sei; das Stehenbleiben auf dieser Stufe daher auclı ein Infan- 
tilismus (beziehungsweise Fötalismus) wäre, wogegen ja schliesslich 
nichts einzuwenden sein dürfte. Es erhebt sich dann nur die Frage, 
ob der unterentwickelte Zustand der Keimdrüse, des Sexualcharakters 
und des Organismus überhaupt auf ein und dieselbe retardierende 
Ursache zurückzuführen, oder ob der Infantilismus des übrigen Ge- 
schlechtscharakters erst sekundär von dem Infantilismus der Keim- 
drüse abhängig zu denken sei. Vor allen Dingen wäre dann schwierig, 
die Grenze zu ziehen, weil ja schliesslich die Frau durch und durch 
weiblichen Sexualcharakter aufweist. Jedenfalls bestehen Beziehungen 
zwischen „Kastratoidismus“ und Infantilismus, Wir wissen nicht 
genau, inwiefern vielleicht alle Grade von Infantilismus etwas mit 
einer primären oder sekundären Keimdrüsenstörung direkt oder in- 
direkt zu tun haben. 

Bemerkenswert ist auch der Einfluss des Eierstocksaus- 
falles auf die übrigen Drüsen mit innerer Sekretion. 
Mangelhafte Anlage, gestörte Entwicklung und Hypofunktion des 
Oyvariums sollen ihrerseits den rechtzeitigen Abbau der Thymus und 
des Iymphatischen Systems hindern. Ein grosser Thymusrest soll 
zurückbleiben und kompensatorisch Hyperplasie der Thyreoidea und 
der Hypophyse eintreten'). 

Da es nun selbstverständlich ist, dass die körperlichen Eigen- 
tümlichkeiten kastratoider Personen im allgemeinen denen der Kastraten 


ı) Walthard, in Menge-Opitz Handbuch der Frauenheilkunde. 4. Aufl. 8. 249. 


220 Hugo Sellheim. [6 


entsprechen und sich nur durch den Grad der Ausbildung unter- 
scheiden, so sind für unsere Beobachtung gerade die Fälle von Kastra- 
toidismus am interessantesten, welche sich infolge frühzeitiger hoch- 
gradiger Funktionsstörung der Eierstöcke so weit an den Früh- 
kastratentypus annähern, dass sie sich mit ihm in ihrer äusseren 
Erscheinung fast oder ganz decken. 

Für den weiblichen Kastratoidismus (Eunuchoidismus) liegt nach 
der neusten Zusammenstellung in der Literatur (Guggisberg)') die 
Hauptschwierigkeit für die Abgrenzung des Krankheitsbildes darin, 
dass wir über die Folgen der Frühkastration nur sehr dürftig auf- 
geklärt sind. Wir können uns einzig auf Angaben von Roberts 
und Miklucho Macley stützen. 

Dr. Roberts beschreibt in einem Werke über eine Reise von 
Delbi nach Bombay weibliche Kastraten. „Die von ihm untersuchten 
Personen waren ungefähr 25 Jahre alt, gross, muskulös und voll- 
kommen gesund. Sie hatten keinen Busen, keine Warzen und keine 
Schamlıaare. Der Scheideneingang war vollkommen verschlossen und 
der Schambogen so eng, dass sich die aufsteigenden Äste 
der Sitzbeine und die absteigenden der Schambeine fast 
berührten?). Die ganze Gegend der Schamteile zeigte kene Fett- 
ablagerung, ebenso wie die Hinterbacken nicht mehr entwickelt waren 
wie bei Männern während der übrige Körper hinreichend mit Fett 
versehen war. Es war keine Spur einer Menstrualblutung oder eine 
deren Stelle vertretende vorhanden, ebenso kein Geschlechtstrieb“ ®). 
Bei den von Miklucho Macley beschriebenen weiblichen Früh- 
kastraten fehlte auch der Geschlechtstrieb. Die Fettentwicklung war 
gering, die Fettverteilung nicht typisch weiblich. 

Das ist die einzige Grundlage für die Beurteilung des frühzeitigen 
weiblichen Keimdrüsenausfalls, deren Sicherheit selbst, da es sich 
lediglich um Reiseberichte handelt, nicht ohne weiteres erwiesen sein 
dürfte. | 

Im allgemeinen scheint der Eunuchoidismus beim weiblichen Ge- 
schlecht überhaupt selten zu sein. Das Ergebnis der Literaturzu- 
saımnmenstellung ist ein recht klägliches. In den zahllosen Publika- 
tionen der letzten Jahre über dieses Krankheitsbild sind nur ganz 

1) Guggisberg, Vegetations- und Wachstumsstörung in Halban-Seitz 
Biologie und Pathologie des Weibes, Urban u. Schwarzenberg 1924. Lief. 8. 

TI Von mir gesperrt gedruckt, weil auf diese diagnostische Feststellung, wie 
wir unten sehen werden, viel ankommt. 

`) Nach Bischoff, Beweis der von der Begattung unabhängigen periodi- 
schen Reifung und Loslösung der Eier der Säugetiere und des Menschen als der 


ersten Bedingung ihrer Fortpflanzung. Giessen 1844, J. Rickersche Buchhand- 
lung. S. 41. 


7] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid‘. 221 


spärliche Angaben über weibliche Eunuchoide vorhanden, deren Ab- 
grenzung zudem noch nach dem Urteil von Guggisberg auf grösste 
Schwierigkeiten stösst. Meist handelt es sich nicht um wahre Eu- 
nuchoide, sondern nur um Erkrankungen mit einem gewissen eunuchoiden 
Einschlag. Aschner!) vertritt sogar die Meinung, dass man bezüglich 
des weiblichen Eunuchoidismus über die theoretische Definition nicht 
hinauskommt. | 

Jedenfalls sind nach dem sachverständigen Ausspruch von Gug- 
gisberg Krankheitsbilder, die den von Roberts und Macley 
beschriebenen Frühkastraten genau entsprechen, bis jetzt noch nicht 
veröffentlicht worden. Aschner?) schreibt kurz und bündig: „Einen 
Eunuchoidismus des Weibes, ähnlich wie beim Manne, gibt es über- 
haupt nicht“. 

Nach diesem Stande der Angelegenheit wäre ein Fall von wirk- 
lichem, mit unseren theoretischen Berechnungen übereinstimmendem 
Kastratoidismus geeignet, erwünschte Klarheit zu bringen. Man könnte 
zu den von Roberts und Macley gegebenen Schilderungen Zutrauen 
gewinnen und annehmen, dass sie nicht nur ihre Phantasie haben 
spielen lassen, sondern dass ihnen tatsächlich Frühkastraten zu Ge- 
sicht gekommen sind. Wir hätten damit einen sicheren Ausgangs- 
punkt für die Beurteilung des Kastratoidismus. Es wäre dem seit- 
herigen, in der Literatur beklagten Mangel eines Falles von echtem 
Kastratoidismus abgeholfen und wir hätten in Zukunft in einem solchen 
ausgesprochenen Stadium der Erkrankung eine feste Grundlage für 
die Beurteilung und Abgrenzung ähnlicher Grade. 

Die Bedeutung unseres Falles liegt darin, dass nach dem charakte- 
ristischen Befunde und der weitgehenden Übereinstimmung mit den 
Angaben von Roberts und Macley an dem an Frühkastration 


heranreichenden kastratoiden Typus nicht mehr gezweifelt werden kann. 

Das Mädchen war niemals menstruiert. Über die Einwirkung einer beson- 
deren Schädlichkeit im Embryonallehen oder im Kindesalter ist nichts herauszu- 
bringen. Es bestehen keine ausgesprochenen weiblichen Neigungen, keine Neigung 
zum Manne, kein Geschlechtstrieb. Die Intelligenz ist mässig. Die Frau leidet 
sehr unter dem Gefühle, nicht weiblich zu sein und wünscht, wenn irgend mög- 
lich, dringend Abhilfe. 

Die Untersuchung in Narkose ergibt: über mittelgrosse Person, ausser- 
ordentliche Länge der Diaphysen an den langen Röhrenknochen. Fettpolster ist 
fast nicht vorhanden. Es besteht eine auffallende Magerkeit. Von einer fürs 
weibliche Geschlecht charakteristischen Fettverteilung kann keine Rede sein. Die 
mageren Hüften, Nates und Oberschenkel fallen direkt auf. (Abb. 5 u. 6.) Die 
Schädelform ist brachyzephal. Kopthaar blond, wenig dicht, mittellang. Der 
Gaumen ist gut gewölbt, die Zähne sind gut gestellt. Die Schilddrüse nicht ver- 


!) Zitiert bei Guggisberg. 
2 Konstitution der Frau. J. F. Bergmann, 1924. S. 811. 


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11] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid‘“. 225 


als ein plattes Gebilde von 1’/s—2 cm Breite zwischen Jen Fingern abrollen. 
Er spitzt sich nach oben zu und geht über in ein Körperchen von etwa Lin em 
Dicke, ?/« cm Breite und höchstens 2 cm Länge (Abb. 5). Unten, wo das Gebilde 
an die Scheide ansetzt, ist es etwas breiter, verjüngt sich etwas nach der Mitte 
und verbreitert sich dann auch wieder etwas nach oben. Nach hinten und unten 
fühlt man viele gurrende Darmschlingen, wahrscheinlich im tiefen Douglas. -- 
Ein dem Eierstock ähnlicher Körper ist nirgends zu entdecken, obwohl man, 
wenn auch mit grosser Mühe, selbst die Gegenden vor dem oberen Teil der 
Articulationes sucro-iliacae absuchen kann. Rechts und links fühlt man etwas 
oberhalb von der Grenze zwischen Scheide und oben aufsitzendem kleinen Körper 
ganz feine Stränge, die in der Richtung der Ligamenta sacro-uterina um den 
Mastdarm herumziehen. 

Die Spiegeluntersuchung ergibt auf dem Knöpfchen im Scheidengrund 
in der Mitte eine etwa 2 mm haltende Öffnung. 

Eine feine, etwa 2 mm starke Sonde geht auf eine Strecke von etwa 2 cm 
leicht ein. Man wird also in der Annahme bestärkt, dass es sich hier um die 
Porto vaginalis und ein daran nach oben anschliessendes Uteruskörperchen 
handelt (Abb. 5). 

Zum Schluss wird noch die Portio vaginalis e einer doppelkralligen Zange 
angehakt und daran der rudimentäre Uterus heruntergezogen. Nun lässt sich 
mit grösserer Deutlichkeit bei der Rektaluntersuchung nachweisen, dass in der 
Tat ein ganz kleiner Uterus mit kleiner Portio vaginalis, kleinem supravaginalem 
Teil des Halses und darüber auch einem kleinen Körper vorhanden sind (Abb. 5). 
Von dem zierlichen Fundus gehen nach links und rechts deutliche Stränge 
herüber, die sich nach den Seiten etwas zuspitzen und sich dann für das Gefühl 
verlieren. Aber auch jetzt ist mit der grössten Mühe nichts von einem eierstock- 
ähnlichen Gebilde zu entdecken. 


Die Diagnose lautet: Fehlen des Beta und seiner typi- 
schen weiblichen Verteilung. Vollständiger Mangel von Brustdrüsen- 
gewebe, stärkste Unterentwicklung der Brustwarze, starke Entwick- 
lungsstörung am Haarkleid, an den äusseren Genitalien und am 
Introitus, mässige Unterentwicklung der Scheide, minimaler kanali- 
sierter Uterus, infantiles Becken. Typische Malproportionen des 
Knochengerüstes wie beim Kastraten. 

Die vollständige Aplasie der Brust legt den Gedanken nahe, dass 
die Eierstöcke überhaupt nicht vorhanden sind. Immerhin ist die 
Unmöglichkeit, sie zu fühlen, noch kein Beweis für ihr vollständiges 
Fehlen. Sie können mangelhaft deszendiert, abnorm hoch liegen, so 
dass sie, besonders unter den vorhandenen, in dem engen Becken- 
ausgang liegenden Untersuchungsschwierigkeiten vom tastenden Finger 
nicht erreicht werden könnten. Jedenfalls besteht eine an vollständiges 
Fehlen der Eierstöcke grenzende Funktionslosigkeit. 

Diese rein gynäkologische Untersuchung wurde noch nach ver- 
schiedenen Richtungen ergänzt. 

Zunächst wurde festgestellt, dass ein grösserer Tymusrest nicht 
existierte. Die Schilddrüse ist normal. Im Röntgenbild zeigte sich 








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13] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 227 


(Abb.6 und Abb. 7), sowie aus einem Vergleich der einzelnen Knochen- 
masse hervor. Besonders auffallend wird die Störung in den Propor- 
tionen, wenn man die Körperlänge in Kopfhöhen ausdrückt. In der 
Norm soll die Körperlänge acht Kopfhöhen betragen. Unser Vergleichs- 
fall hat es nur auf sieben einhalb Kopfhöhen gebracht. Bei unserem 
Kastratoiden machen neun Kopfhöhen die Körperlänge aus. Das Mass 
in Kopfhöhen soll (Stratz) wichtiger sein als die absolute Körperlänge. 

Die von Herrn Prof. Grund zweimal vorgenommene Stoff- 
wechseluntersuchung ergab keine erhebliche Abweichung in den 


Oxydationsprozessen. 

Ich lasse das Protokoll kurz folgen: Am 16. VI. 23 Grundumsatz (nüchtern) 
— 1168 Kalorien pro Tag (verbrannt — 165,6 ccm O, pro Minute). Das heisst 
inbezug auf den Normalwert nach Benedict, der 1227 Kalorien pro Tag be- 
trägt, eine Umsatzverminderung von 4,7°/o, was innerhalb der normalen Schwan- 
kungen liegt. 


Vergleich der Skelettmasse zwischen Normal- und Kastratentypus. 


Normaltyp. Kastratentyp. 
Körpergrösse . . . .: 200m) 1,65 m 1,61 m 
Körpermitte . . . . . . . . In Höhe des oberen 16 cm unterbalb 
Symphysenrandes der Spinallinie 
Kopf: 
Kopfhöhe . . . » 2 2 2 2 20. 22 cm 18 cm 
Seggelsche Linie . . . . . . . . Genau in der Mitte Oberhalb der Kopf- 
der Kopfhöhe höhenmitte 
Grösster Querdurchmesser des Kopfes 14,25 cm 16 cm 
Kopfumfang (Mitte der Stirn) . . . 55 52 
Mentookzipitallinii. 185 , 17,5 , 
Frontookzipitallinie . . . . 2... 185 , 16 e 
Haargrenze — Scheitelhöhe . . . . 55 , 25 „ 
Glabella —Baargrenze . . . . . . 5 S 45 „ 
Nasenlöcherhöhe — Glabella . . . . 6 a 5 5 
Kinn — Nase . . 2. 2 2200. Ah 5 6 „ 
Unterkiefergelenk — Kinn . . . . 115 , 115 , 
Kinn — Unterkieferwinkel . . . . 95 , 9,25 „ 
Rumpf: 
Kinn — Brustwarzenhöhe `, . . . . = Kopfhöhe 22 cm 17 S 
Brustwarzenhöhe — Nabel . . . .. 24 cm SE 
Verbindungslinien zwischen Oberarm- 
gelenkpfannen und Brustwarzen 
schneiden sich . . . .» 2.2... Im Nabel Im Nabel 
Oberschenkelpfannenverbindungslinie 
— Nabel u 4 ee a: AE 13,5 cm 7 cm 
Wirbelsäulenlänge . . . . 2... 66 , Luftlinie 56, Gesamt- 
länge 62 cm 


Oberarmgelenksentfernung . . . 27 , 25 cm 


228 Hugo Sellbeim. [14 


Normaltyp. Kastratentyp. 

Obere Extremität: 
Klavikula.. . . ge y 185 „ 16 cm 
Akromion — Mittelfingerspitze € wn g VI o, 3 , 
Achselhöhle — Mittelfingerspitze . . 69 . 14 , 
Entfernung zwischen den Spitzen der 

Mittelfinger . . . 173 , 179 , 
Differenz zwischen Körpergrösse ind 

Entfernung zwischen den Spitzen 
der Mittelinger. -. . ..... 8 , 18 , 
Akromion — Olekranon . . . 35 , 38,5 „ 
Olekranon — Processus styloideus ulnae 25 , 26,5 , 
Processus styloideus ulnae — Mittel- 

fingerspitze - » : 2 200 0a 185 , 185 , 
Zeigeingerlänge . . . . 2.2. H u 9: j 
Zeigefingergrundglied . . . .» . . 5,5. 48 5, 
Handgelenkumfang . . . » .... 16 , 15 à 
Ellenbogengelenkumfang . . 4 , 20,5 » 


Mittelfingerspitze bei hängenden E 18,5 cm über dem 12 cm über dem 
Kniegelenkspalt ; Kniegelenkspalt; 
80,5 cm unter der 38,5 cm unter der 


Spina iliaca Spina iliaca 

Entfernung zwischen Processus ensi- 

formis — Spina iliaca . . . ; 35 cm 27 cm 
Processus ensiformis — Spina — 36 , 29 „ 
Sternumlänge.. . . . 2 2 2000. 17 , l5 , 
Untere Extremität. 
Spina-Symphysenmitte . . . ... 15,5 „ 16 „, 
Spina iliaca — Trochanter. . . . . 8 „ 9, 
Distautia spinarum . . ....n 28 S 24 5 
Trochanter — Fusssohle . . . . . 86 = 96 „ 
Spina iliaca — Kniegelenksspalt . . 46 „ 49 „ 
Kniegelenksspalt — Malleolus lateralis 40 , 43 „ 
Fusslänge . . . . Dr en ar k 24 , 23 , 
Fussspannumfang . . . . . 2... 4 , 30 , 
Knieumfang . . . 2 2 2 2 202. 28 , 33 „ 


Nach Aufnalıme von | Liter Milch erhöht sich der Minutenverbrauch an 
Sauerstoff auf 194,1 ccm, das sind 1370 Kalorien pro Tag. Die spezifisch-dyna- 
mische Wirkung beträgt 17,2°/o, was als normal anzusehen ist. Dann 18. VII. 28. 
Grundumsatz nüchtern — 1187 Kalorien pro Tag (verbrannt an Sauerstoff pro 
Minute — 168,2 ccm). In bezug auf den Normalwert nach Benedict (1217 Ka- 
lorien pro Tag) Umsatzverninderung von 2,4°;o. 

Nach Belastung mit 1 Liter Milch erhöht sich der O,-Verbrauch pro Minute 
auf 196,6°/o, das sind 1387 Kalorien pro Tag. Die spezifisch dynamische Wirkung 
auf den vorigen Nüchternwert beträgt 16,9 °/o. 


Damit ist eine irgend wie nennenswerte Abweichung vom nor- 
malen Stoffwechsel nicht nachzuweisen. Im übrigen wird heutzutage 


15] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 229 


ja so wie so mit dem Ausfall der Eierstocksfunktion eine Abweichung 
in den Oxydationsprozessen kaum mehr in Zusammenhang gebracht. 

Wichtiger erscheint es uns durch die Abderhaldensche Blut- 
untersuchung Anhaltspunkte dafür zu bekommen, ob Eierstocks- 
gewebe im Körper vorhanden sei, oder sich vermissen liesse, da diese 
Frage bei der klinischen Untersuchung zunächst offen geblieben war. 


Untersuchungsergebnis des Serums. 


Dialysierverfahren Interferometer 
Serum allein | 
E + Hoden — -— 
» + Ovarien (+) 1,52 ais 
> + Schilddrüse [(+)] 2,23 0/0 
„ + Thymus — 0,81 °/o 
á + Nebenniere — — 
„ + Hypophyse — 1 f 
5 + Uterus +1. 2,23 °/o. 


Herr Abderhalden schrieb zu diesem Resultat ganz unum- 
wunden, „es ist natürlich nicht ganz leicht, das Ergebnis zu erklären. 
Da das Dialysierverfahren und das interferometrische Verfahren das 
gleiche Ergebnis gezeitigt haben, muss schon etwas besonderes vor- 
liegen. Das interferometrische Verfahren ist das feinere. Ich weiss 
für den Ausfall der Reaktion keine andere Erklärung als die, dass 
ganz bestimmt Ovarium vorhanden sein muss.“ 

Ich muss sagen, ich habe den diagnostischen Mut Abderhaldens 
geradezu bewundert. Viele Laboratoriumsforscher sind zurückhalten- 
der: Zeig mir deinen Patienten und ich sag dir meine Diagnose! 
Hier wurde aus dem Blute allein mit absoluter Sicherheit eine Diagnose 
gestellt, die mit dem klinischen Befund zunächst in einem weitgehen- 
den Widerspruch zu stehen schien, denn wir neigten nach der voll- 
kommenen Aplasie der Brustdrüse und Brustwarze und dem Mangel 
jeglichen charakteristischen Tastbefundes sehr stark zur Annahme 
eines vollkommenen Defektes der weiblichen Keimdrüsen. 

Durch diese Abderhaldensche Untersuchung waren wir in den 
Stand gesetzt, das Resultat unserer klinischen Untersuchung in voll- 
kommener Weise zu ergänzen. Wir mussten annehmen, dass 
im Körper, wenn auch dem tastenden Finger unerreich- 
bar, weibliche Keimdrüsen vorhanden wären, dass es sich 
also nicht um einen angeborenen völligen Defekt der Eierstöcke, wie 
es scheinen könnte, also um einen echten, natürlichen Kastraten, 
sondern nur um eine an den vollkommenen Defekt grenzende Unter- 
funktion der Eierstöcke, also den lange gesuchten echten Kastratoiden, 
handele. 


230 Hugo Sellheim. [16 


Von grossem praktischen Interesse ist das Zusammen- 
treffen des kastratoiden Befundes mit dem eigentüm- 
lichen Krankheitsbild der multiplen Osteochondritis und 
insbesondere mit der Osteochondritis deformans coxae juvenilis. Um 
den vermuteten Zusammenhang herauszusetzen, muss ich etwas weiter 


ausholen. 

Das Zusammentreffen von Kastratoidentypus und 
Östeochondritis legt uns eine Ursache der rätselhaften Erschei- 
nung nahe, an die in der Literatur noch nicht oder zu wenig ge- 
dacht zu sein scheint. 

Der in unserem Falle eklatant nachgewiesene Ausfall der Keim- 
drüsenfunktion führt ja, wie ich experimentell durch Frühkastration 
für männliche und weibliche Tiere nachgewiesen habe!) an sich zu 
einer Knorpelknochenwachstumsstörung — im Sinne einer Ossifika- 
tionsschwäche des Knorpels, wie sie die Osteochondritis auszeichnet 
— und zu einer sich vor allen Dingen im Offenbleiben der Epiphysen- 
linien aussprechenden Störung im ganzen Wachstum. Bei einer Hündin 
z. B., die ein ganz abnormes Höhenwachstum zeigte, waren die Epi- 
physenlinien noch in Tätigkeit zu einer Zeit, in der das Knochen- 
wachstum bei einer Wurfschwester schon längst zum Abschluss 
gekommen war. | 

Meine Experimente hatten für das männliche und weibliche Geschlecht den 
Beweis erbracht, dass durch die Verschneidung im jugendlichen Alter ein sonst 
um die Pubertätszeit in Erscheinung tretender, die ganze Knorpel-Knochen- 
Produktion hemmender und sie zu relativem Abschluss bringender Einfluss aus- 
geschaltet wird. Dass dieser Einfluss von der Keimdrüse seinen Ausgang nimmt, 
war klar, ebenso dass er ein sowohl von Testikeln als auch von Ovarien zuerst von 
der Pubertätszeit abgesonderter chemischer Stoff sein müsse. Natürlich ist der 
Zusammenhang auch so denkbar, dass der Ausfall der Keimdrüse erst den Anlass 
gibt zur Produktion eines wirksamen Agens einer auderen Drüse mit innerer 
Sekretion. 

Es lag nahe, das auf diese Weise erkannte Rätselhafte innerer Sekretions- 
produkte der Keimdrüsen weiter zu studieren. Dazu erschien die Feststellung 
des Einflusses der Kastration auf den ganzen geschlechtsreifen Organismus 
zweckmässig. 

Es musste der Umweg über die vergleichende anatomische Untersuchung 
gewählt werden. Freilich darf beim Bestreben, die von Tieren gewonnenen 
Resultate auf den Menschen zu übertragen, dann die Vorsicht nicht ausser Acht 
gelassen werden. 

Geeignete Studienobjekte für die Frage des Zusammenbanges von Knochen- 
wachstum und Knochenstoffwechsel mit der Keimdrüsensekretion nach Abschluss 


1) Sellhleim, Kastration und Knochenwachstum. Hegars Beitr. z. Geb. 
u. Gyn. Bd. 2. Heft 2. 1899 und Der Einfluss der Kastration auf das Knochen- 
wachstum des geschlechtsreifen Organismus und Gedanken über die Beziehungen 
der Kastration mit Osteomalazie. Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 74. S. 269. 


17] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid‘. 231 


des Skelettwachstums, sind Tiere, welche ausweislich ihres Geweihwechsels im 
reiferen Lebensalter Knochen im regelmässigen Wechsel produzieren und in der 
Produktion wieder nachlassen und sie zum Abschluss bringen. 

Das Geweih ist ein ans dem Stirnbein durch Vermittlung des Stirnzapfens 
herauswachsender Knochen. 

Zwischen Geweihwachstum und Fortpflanzung besteht bei vielen Tieren 
zum mindesten ein deutlich ausgeprägtes, abwechselnd seitliches Verhältnis. Das 
Ergebnis meiner Versuche war folgendes: Beim kastrierten männlichen Rehkitz 
bleibt die Bildung des geweihtragenden Stirnzapfens (Rosenstock), der normaler- 
weise schon im ersten Jabr gebildet wird, und damit jegliche Geweihbildung aus. 

Dagegen bot das geschlechtsreife Tier für unsere Nachforschung zwischen 
seinem Eigenwachstum und Fortpflanzungswachstum ein eigeuartiges abwech- 
selndes Verhältnis. Das Knochenwachstum am Geweil fällt in die Zeit ge- 
schlechtlicher Unproduktivität; sein Abstossen in die Zeit geschlechtlicher Pro- 
duktivität. 

Wartet man mit der Kastration, bis die Tiere älter geworden und die 
Stirnzapfen gebildet sind, so tritt etwas Merkwürdiges ein: Die Verschneidung 
setzt eine permanente Knochenproduktion anstelle des regel- 
mässig intermittierenden Knochenwachstums,. | 

Für diese auffallende Umstimmung des intermittierenden ins permanente 
Knochenwachstum ist es ganz gleich, in welcher Jahreszeit die Kastration vor- 
genommen wird. Ein bereits fertiges Geweih wird als letztes Erzeugnis des 
periodischen Knochenwachstums bald abgeworfen und an seine Stelle tritt das 
stetig wachsende Gehörn. Ein zur Zeit der Verschneidung noch im Wachsen 
begriffenes Geweih wächst dagegen sofort im Sinne unentwegter Zunahme 
weiter!). 

Bei ausgewachsenen 'lieren mit periodischem Knuchenwachstum, z. B. am 
Geweib, entfiel also mit der Spätkastration der das Knochenwachstum temporär 
hemmende und zum Abschluss bringende Faktor. 


In unserem Falle sehen wir diese von mir nachge- 
wiesene typische primäre Ossifikationsschwäche des 
Kastraten deutlich ausgesprochen. Es liegt also der 
Gedanke nahe, lediglich in der Beanspruchung eines 
solchen von Haus aus ossifikationsschwachen, unfertigen 
Skelettes, ohne Hinzutunanderer seither angeschuldigter 
Faktoren, die Ursache für die sekundäre, an den Haupt- 
belastungsstellen auftretende multiple osteochondri- 
tische Störung zu sehen. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob 
der Ausfall der Ovarialfunktion an sich oder die dadurch bedingte 
oder eine andere Störung in der Symphonie der inneren Sekretion 
die Schuld an dem Defekt des ganzen Wachstums trägt. 

Jedenfalls scheint uns das in unserem Falle nachgewiesene Zu- 
sammentreffen von endokriner Störung und der darauf gegründeten 


1) Sellheim, Der Einfluss der Kastration auf das Knochenwachstum des 
geschlechtsreifen Organismus und Gedanken über die Beziehung der Kastration 
zur Osteomalazie. Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 74. 


Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H.3. 16 


232 Hugo Sellheim. [18 


Verknöcherungsschwäche mit multipler Osteochondritis geeignet, die 
Aufmerksamkeit auf einen ätiologischen Zusammenhang zu 
lenken, an den in der Literatur seither nicht oder zu wenig gedacht 
worden ist, wenn endokrine Störung auch nicht immer so stark in 
Erscheinung zu treten braucht wie in unserem Falle. 

Diese Theorie erweist ihre Fruchtbarkeit, indem sie 
sofort praktische Konsequenzen zeitigt. 

Auf die Vermutung einer endokrinen Störung als Ursache der 
sonst schwer zu beeinflussenden Osteochondritis gründet sich unser 
Plan die Störung genauer zu definieren und auf den Eierstock zu 
lokalisieren, um dann durch künstliche Einverleibung der ausfallenden 
Stoffe die gestörte Symphonie der inneren Sekrete wieder herzustellen 
und durch Ausschaltung der Grundkrankheit rationell Heilung an- 
zustreben. | 

Wo, wie ın unserem Falle, das klinische Bild und der anato- 
mische Befund auf eine Funktionsstörung und Unterfunktion des Eier- 
stockes so deutlich hinweisen, dürfte daher (nachdem die Einverlei- 
bung von Eierstockspräparaten laut Angaben in der Literatur?) wenig- 
stens bei Eunuchoiden keinen Erfolg gezeitigt hatten), der Versuch 
der Eierstockstransplantation durchaus gerechtfertigt er- 
scheinen. 

Die erneute Aussprache mit dem Mädchen ergab den dringenden 
Wunsch, sie, wenn irgend möglich, ins Weibliche umzustimmen, weil 
sie sich in diesem Zustande, der schon in ihrem Äusseren jegliche 
Weiblichkeit vermissen liess, ganz unglücklich fühlte. 

In dieser Richtung freilich war ihr nichts Sicheres in Aussicht 
zu stellen. Man konnte immerhin versuchen, durch die Einpflanzung 
eines Eierstockes ihren wenig weiblichen oder unweiblichen Charakter 
mehr zu verweiblichen. 

Was sagt dazu aber die klinische Erfahrung? 

Man hat in der Gynäkologie alle Arten von Bierstockstrans- 
plantation vorgenommen. 

Umpflanzung am selben Individuum = Autotransplantation, Überpflanzung 
von einem menschlichen Weibe auf das andere = Homoiotransplantation und 
Übertragung von Tiereierstöcken auf Menschen =- Heterotransplantation. Die 
Ansichten über die Resultate sind ganz verschieden. Der Begeisterung auf der 
einen Seite steht ein vernichtendes Urteil auf der anderen Seite gegenüber. 

Am erfolgreichsten erscheint noch die Autotransplantation. Von ihr 
wird viel Gebrauch gemacht, wenn man aus technischen Gründen bei operativer 
Entfernung entzündlicher Adnexschwellungen die Eierstöücke in jugendlichem Alter 


mit entfernen muss, aber doch die Eierstocksfunktion und die Menstruation 
erhalten möchte. Es wird dann der Eierstock aus dem Konglomerat heraus- 





1) Guggisberg, |. c. S. 187. 


19] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 233 


präpariert und wieder eingepflanzt. Die Erfolge sind ziemlich gut. Es besteht 
Aussicht, die Ausfallserscheinungen hintanzubalten und auch die Periode über 
einige Zeit wiederkehren zu lassen. 

Des Versuches wert ist auch die Homoiotransplantation. Es wird 
davon z. B., so weit man bis jetzt seben kann, mit recht gutem Erfolg zur 
Heilung der mit Hypovarismus verbundenen Sterilität Gebrauch gemacht'). Man hat 
gesehen, dass die Periode regelmässig wurde und auch Schwangerschaft eintrat. 

Versuche, bei alten Frauen die Periode und damit die Blüte der Jahre im 
Sinne einer „Verjüngung“ wieder zu erwecken, sind dagegen nicht sehr er. 
mutigend ausgefallen. Wohl ist es gelungen, Uterusblutungen einige Male wieder 
zu erzeugen, auch ein vorübergehendes gewisses Aufblühen vielleicht wieder zu 
erzielen. Weniger erwünscht waren aber die psychischen Veränderungen. 
Die so behandelten Frauen gerieten in hochgradige sexuelle Erregung, drängten 
nach Hause und bedrängten dort ihre Männer mit ihren unzeitgemässen und 
ihrern Alter nach gänzlich unangebrachten Gelüsten. Einer dieser Männer hat in 
seiner Verzweiflung an die Klinik berichtet, „seine Alte sei ganz toll geworden“ ?). 

Dagegen bestehen hinsichtlich der Erfolge der Heterotransplantation, 
trotz einiger günstiger Mitteilungen in der Literatur, grosse Zweifel. 


In unserem Falle schien nach dem Erfolgder Homoio- 
transplantation bei Hypovarismus die Aussicht auf Er- 
folg einigermassen gegeben, weil eigene, wenn auch noch in 
ihrer Funktion schlummernde Eierstöcke, nach der Abderhalden- 
schen Reaktion angenommen werden durften und man durch die Im- 
plantation von funktionsfähigem Eierstocksgewebe einer anderen Frau 
vielleicht eine Anregung der eigenen Eierstöcke zum Funktionieren 
annehmen konnte. 

Die Besserung des Zustandes brauchte sich (in unserem Falle 
auch) nicht auf die äussere Form, insbesondere die Entwicklung der 
Brustdrüse, und die Gefühlsumstimmung zu beschränken. Man durfte 
vielleicht noch weiter denken. Da man einen kanalisierten, wenn 
auch nur minimalen Uterus gefunden hatte, so waren vielleicht auch 
kanalisierte Eileiter vorhanden. Damit tauchte ein Hoffnungsschimmer 
auf, diese im Wachstum zurückgebliebenen Organe zum Nachwachsen 
und vielleicht zur Funktionsfähigkeit erwecken zu können. Für die 
Tragweite dieser Hoffnung war natürlich der innere Befund mass- 
gebend, so dass es dringend erwünscht erschien, der Transplantations- 
operation einen Einblick in die Bauchhöhle vorausgehen zu lassen, 
wie ja auch bei der Transplantation bei Hypovarismus ganz allgemein 
die Forderung aufgestellt wird, die Eierstöcke vor der Operation einer 
Revision zu unterziehen’). 





t) Paul Sippel, Schwangerschaft nach homoioplastischer Uvarientrans- 
plantation bei Hypovarismus. Zentralbl. f. Gyn. 1924. Heft 1/2. S. 15. 

2) Bumm, Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft f. Gynäkol. Berlin. 
Zeitschr. f. Geb. u. Gyn. Bd. 84. S. 814. 

3) Sippel, l. c. S. 15. 


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21] Endlich ein echter, weiblicher ,Kastratoid“. 235 


achse steht etwa in der Körperlängsachse. Die Ligamenta infundibulo-pelvica 
sind auffallend dünn, etwa '/« cm dick. Die Ligamenta ovarii propria sind lang 
und dünn, die Ligamenta lata sind beiderseits dünne, etwa 4 cm breite zarte 
Gebilde. Die Ligamenta rotunda sind als dürftige Stränge angedeutet. Sie ver- 
laufen fast in der ganzen Ausdehnung mit den Ligamenta lata zusammen quer 
durchs Becken. Die Ligamenta sacro-uterina sind als ganz feine Stränge ange- 
deutet, mehr füblbar als sichtbar. Eine Plica vesico-uterina ist so gut wie nicht 
vorhanden, dagegen ist eine Plica recto-uterina deutlich ausgeprägt und verhältnis- 
mässig tief. 

Der rechte Eierstock und ein Teil der rechten Tube werden entfernt. 

Die mikroskopische Untersuchung sollte einen Anhaltspunkt dafür geben, 
inwieweit die Hoffnung auf die Erweckung der Eierstocksfunktion und Tuben- 
funktion durch die Ovarienimplantation gerechtfertigt wäre. 

Beiderseits etwa 3 cm vom Uterus entfernt wird in der vorderen Peritoneal- 
platte des Ligamentum latam ein 4—5 cm langer querer Schnitt angelegt. Rechts 
wird zwischen den beiden Peritonealplatten mit dem Finger stumpf ein Bett ge- 
graben. Das zu implantierende Ovarium von der 25Jahre alten Patienten ist 
5—6 cm lang, 3 cm breit, 1 cm dick. Es wird aus dem Abdomen der gleich- 
zeitig operierten Frau entnommen, vom Hilus bis zum konvexen Rande mitten 
durch das Corpus luteum hindurch gespalten. Auf der rechten Seite wird die eine 
Eierstockshälfte in das vorher angelegte Bett versenkt und das Peritoneum durch 
eine fortlaufende Katgutknopfnaht darüber vollständig geschlosssn. Auf der 
linken Seite wird in den mit dem Finger nur wenig gedehnten Peritonealschlitz 
die andere Hälfte des Eierstockes in der Weise implantiert, dass die funktio- 
nierende Oberfläche dos Eierstockes in die freie Bauchhöhle hineinragt. Dazu 
wird der Rand des Eierstockes mit den Wundrändern des Peritonealblattes des 
Ligamentum latum ringsum durch 10 feine Katgutknopfnähte vereinigt. Ausser- 
dem wird der Eierstock durch zwei feine Katgutknopfnähte in der Mitte seiner 
Fläche an die Wundfläche im neuen Bett hineinfixiert, also durch eine Art 
Matratzennaht auf die den Grund der Wunde bildende hintere Platte aufgesteppt. 
Der Eierstock liegt also der Unterlage fest an und sein Rand ist ringsum mit 
Peritoneum vereinigt. 


DiehistologischeUntersuchung vonEierstockundTube 
wurde von Herrn Prof. Stieve besorgt. Es stellte sich heraus, dass 
zahlreiche Primordialfollikel stellenweise wie im Eierstock des neu- 
geborenen Mädchens und eine für die grosse Zahl der Primordial- 
follikel verbältnismässig kleine Zahl von in Entwicklung begriffenen 
Follikeln vorhanden ist. Die wachsenden Follikel gedeihen höchstens 
bis zu einem an die Reife heranreichenden Stadium, um dann der 
Follikelatresie zu verfallen. Man findet von solcher Follikelatresie 
herrührende Corpora fibrosa und candicantia, aber nirgends ein auf die 
normale Ovulation mit Corpus luteum Bildung zurückzuführendes Rück- 
bildungsprodukt eines Follikels. Zwischenzellen waren vorhanden. 

Die mikroskopische Besichtigung der Eierstöcke ergibt also ein 
eigenartiges Bild. Trotzdem alle anatomischen Vorbedingungen für 
die Ovulation in bestem Grade geboten sind, reichliche Primordial- 
follikel, alle Stadien von in Entwicklung begriffenen Follikeln, kommt 


236 Hugo Sellheim. [22 


es nicht zu regelmässiger Eireifung und Eiablieferung und ihren Folge- 
zuständen der Corpus luteum- Bildung usw. Die Follikelentwicklung 
macht kurz vor der Reife Halt und die bis zu gewissen, oft bis an 
den Reifegrad ziemlich nahe heranreichenden Follikel gehen durch 
Follikelatresie zugrunde. In diesem Falle ist es nicht richtig, von 
einer Unterentwicklung des Eierstockes zu reden, sondern nur von 
einer unvollkommenen Funktion eines an sich gut ausgebildeten 
Organes. Was aber dahinter steckt und diese eigentümliche Art der 
Unterfunktion des Eierstockes bedingt, ist nicht ohne weiteres er- 
sichtlich. 

Man darf aus dem Vergleich des anatomischen Befundes mit dem 
klinischen Bilde vielleicht den vorsichtigen Schluss wagen: Alle im 
Eierstock anatomisch nachweisbaren Gebilde, Primordialfollikel, wach- 
sende Follikel, der Reife mehr oder weniger nahestehende Follikel, 
atretische Follikel und daraus entstandene Corpora albicantia und 
 candicantia, sowie Zwischenzellen sind nicht imstande, die dem nor- 
malen Eierstock zugeschriebene innere Sekretion vollkommen hervor- 
zubringen. 

Es erhebt sich die Frage, wo liegt die Ursache für diese eigen- 
artige Hemmung in der Funktion des von Natur aus gut aus 
gestatteten Eierstockes? Man kann in der Tat in unserem Falle 
nicht von einer Hypoplasie des Eierstockes, sondern nur von einer 
Hypofunktion sowohl in aussensekretorischer als auch innensekreto- 
rischer Richtung sprechen. 

Am Eileiter zeigte die Schleimhaut nur ganz wenig oder ein- 
fache Falten, die Muskulatur war sehr dürftig entwickelt. Eierstock 
und Eileiter hatten ungefähr das Aussehen von Organen aus dem 
8.—10. Lebensjahr, soweit man darüber Vermutungen hegen kann. 

Danach war wenigstens etwas Hoffnung berechtigt, durch Im- 
plantation den mit reichlich Primordialfollikeln ausgestatteten, in 
seiner Funktion auf einer freilich recht frühen Entwicklung stehen- 
gebliebenen eigenen Eierstock der Kastratoiden zur Funktion anzu- 
regen, und auch Uterus und Eileiter bis zur Funktionsfähigkeit nach- 
wachsen zu lassen. Ob diese Theorie berechtigt ist und die so weit 
gehende Forderung in Erfüllung gehen wird, bleibt abzuwarten; denn 
so etwas braucht Zeit. 

Auch die weiter berechtigte Forderung auf Umstimmung ins Weib- 
liche, Anregung von Wachstum der Keimdrüsen, Erweckung eigener 
Ovulation, Geschlechtstrieb, typische Umstellung des weiblichen — 
liegt noch im Schosse der Zukunft. 

Aber die eine nächstliegende Hoffnung hat sich bereits erfüllt 
und sie ist allein schon die ganze Operation wert. Die Beschwerden 


23] Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. 237 


von seiten der Knorpelknochenerkrankung sind prompt ver- 
schwunden. | 

Damit ist ein Teil unseres wissenschaftlichen Suchens wenigstens 
zunächst befriedigt. Wir halten uns für berechtigt, den Erfolg als 
Gewinnst zu buchen, und auf die Richtigkeit unserer Annahme einen 
Schluss zu ziehen, dass die durch die Eierstockstransplantation günstig 
beeinflusste endokrine Störung die Grundursache der zur Heilung 
gebrachten Osteochondritis gewesen sein dürfte. 


Wir haben es im vorliegenden Falle mit einem weiblichen Kastra- 
toiden zu tun, bei dem, so weit sich im Grade der Ausbildung des 
Geschlechtscharakters und an den charakteristischen Abweichungen 
des Skelettbaues nachweisen liess, die Eierstocksfunktion gleich Null 
war. Damit wurde der in der Literatur so lange ver- 
misste echte Kastratoid nachgewiesen, dessen Mangel so 
lange beklagt wurde. Es dürfte durch diese Art Nullpunkt von 
Eierstockfunktion ein Standard für die Beurteilung des Kastratoidis- 
mus überhaupt gegeben sein. 

Immerhin verriet der Eierstock seine Anwesenheit durch die 
Abderhaldensche Serumreaktion, was diese feine Untersuchungs- 
methode für einschlägige Fälle ganz besonders empfehlenswert er- 
scheinen lässt. Für das Auftreten der Abderhaldenschen Reak- 
tion bildete vielleicht der atretische Follikel das histologische Substrat. 


Vermutlich hatte der Ausfall der inneren Sekretion über die 
gewöhnliche Störung des Skelettbaues hinaus zu einer eigenartigen, 
mit Störung des Knorpelknochenwachstums einhergehenden Knochen- 
erkrankung, der Osteochondritis geführt, die durch Einpflanzung eines 
gesunden Eierstockes anscheinend prompt gebessert werden konnte. 
Es liegt die Annalıme nahe, dass auch in Fällen von weniger endo- 
krinen Störungen, die ja in allen möglichen Abstufungen vorkommen 
und die ja durchaus nicht immer und allein durch den Ausfall von 
Keimdrüsenfunktion bedingt zu sein brauchen, das Knorpelwachstum 
gehemmt wird und durch eine normale oder vielleicht gar übermässige 
Belastung, weil unfertigen, empfindlichen Skelettsystems zu dieser 
oder jener Form der Osteochondritis führen kann. 


Die Auffassung kommt nicht unvermittelt. 

Die Osteochondritis ist nicht die einzige Knochenerkrankung, 
die von der Umstimmung des Getriebes der inneren Sekretion thera- 
peutisch beeinflusst werden kann. 

Es scheint das vielmehr eine ganz allgemeine Eigentüm- 
lichkeit der Knochenerkrankung überhaupt zu sein. Ich 
erinnere nur an die Osteomalazie, die durch Schwangerschafts- 


238 Hugo Sellheim, Endlich ein echter, weiblicher „Kastratoid“. [24 


unterbrechung und in schweren Fällen durch Kastration geheilt 
werden kann. . 

Der scheinbare Widerspruch, dass eine Knochenerkrankung, die 
Osteochondritis, durch das Einsetzen des Eierstockes und die andere 
Knochenerkrankung, die Osteomalazie, durch die Herausnahme eines 
Eierstockes geheilt werden kann, klärt sich dahin auf, dass wir es 
ja mit zwei Faktoren zu tun haben, erstens mit einem das Knochen- 
wachstum zum Abschluss bringenden, der im normalen Eierstock tätig 
ist und zweitens mit einem das Knochenwachstum wieder wie in den 
Jugendjahren anregenden, der vom Eierstock aus gehemmt wird und 
der durch die Herausnahme des Eierstockes mobil gemacht werden 
kann. Man braucht bei der Heilung der Osteomalazie vielleicht aber 
gar nicht auf diese Wirkung zurückzugreifen. Es gibt auch noch 
eine andere Erklärungsmöglichkeit. 

. Schwangerschaftsunterbrechung und Kastration bedeuten die 
Unterbindung des Wachstums über die Grenzen des Organismus 
hinaus, um die dadurch freiwerdenden Wachstumskräfte dem Eigen- 
wachstum des Organismus, seiner Reparatur, im Falle der Osteo- 
malazie der Ausheilung dieser Krankheit zu gute kommen zu lassen. 

Ferner beilen bekanntlich in der Schwangerschaft Knochenbrüche 
schlecht. 

Rachitis sucht man mit Erfolg durch Einverleibung von 
Hypophysen- und neuerdings Nebennierenpräparaten günstig zu beein- 
flussen. 

Wir konnten durch vorliegende Untersuchung erneut zeigen, dass 
normales Knochenwachstum und seine pathologische Störung weit- 
gehend unter dem Einfluss innerer Sekretion stehen. 

Es wird durch unsere spezielle Studie die ganz allgemeine Er- 
fahrung bestätigt, dass durch Erfassung des endokrinen Getriebes und 
seiner Störungen ein Stück der Therapie nach dem anderen in den 
Bann der inneren Sekretionsforschung hineingezogen wird. 
Immerhin bewegen wir uns trotz solcher gelegentlichen Lichtblicke 
auf reichlich dunklem und widersprechendem Gebiete. Nur emsige 
und unbefangene Forschung kann weiterhelfen. Das wenige Sichere, 
das wir an Forschungsmitteln haben, müssen wir dankbar benützen. 
Am meisten ist von dem Rüstzeug der Abderhaldenschen Unter- 
suchung zu erwarten, die wenigstens in unserem Falle einen glänzenden 
Beweis ihrer diagnostischen Leistungsfähigkeit gezeigt hat. 


Das menschliche Kinn, 
seine Entstehung und anthropologische 
Bedeutung", 


Von 
Professor Dr. M. Westenhöfer, Berlin. 
Mit 18 Abbildungen auf Tafel. 


M. D. u. H.! Diejenigen von Ibnen, die meinen Vortrag vor 
zwei Jahren über die Erhaltung von Vorfahrenmerkmalen beim Menschen 
in dieser Gesellschaft gehört haben, werden sich vielleicht noch erinnern, 
dass ich damals auf Grund der von mir beobachteten Unterschiede in der 
Morphologie von Milz und Nieren zwischen dem Menschen und der 
Mehrzahl der Säugetiere, insbesondere der Anthropoiden, darauf hinwies, 
dass es nötig werden könnte, unsere Anschauungen über die Herkunft 
des Menschen einer erneuten Durchsicht zu unterziehen). Es liegt nahe, 
dass man, um ein solches Unternehmen zu beginnen, zu allererst sich 
an solche Merkmale hält, die als ausgesprochen menschliche gelten 
und dass man versucht, ihre Entstehung und phylogenetische Her- 
kunft herauszubekommen. Ein solches Merkmal ist nun das mensch- 
liche Kinn. Es hat daher stets in den Erörterungen der Anatomen 
und Anthropologen eine grosse Rolle gespielt und über seine Ent- 
stehung und Bedeutung ist eine grosse Literatur entstanden. Erst 
noch vor kurzem, im Jahre 1920, hat in einer überaus sorgfältigen 
Bearbeitung der Ehringsdorfer Skeletreste Hans Virchow auch die 
Frage der Entstehung des Kinns und die wichtigsten in der Literatur 
darüber niedergelegten Anschauungen einer eingehenden Besprechung 
unterzogen, ohne freilich selbst zu einer befriedigenden Lösung des 
Problems zu gelangen ®). Im Nachfolgenden werde ich versuchen an 

ı) Vortrag, gehalten in der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethno- 
logie und Urgeschichte am 12. April 1924. 

2) Über die Erhaltung von Vorfahrenmerkmalen beim Menschen, insbesondere 
über eine progonische Trias und ihre praktische Bedeutung. Mediz. Klinik 1923. 
Nr. 37 (Verlag von Urban u. Schwarzenberg. Berlin N 4.) 

2) H. Virchow: Die menschlichen Skeletreste aus dem Kämpfer’schen Bruch 


im Travestin zu Ehringsdorf bei Weimar. Jena, bei Gustav Fischer 1920. (Ebenda 
Literaturangaben.) 


240 M. Westenhöfer. [2 


der Hand zahlreicher vergleichender Objekte, die ich hier aufgebaut 
habe und deren Photographieen auf einer Tafel vereinigt ich herum- 
gebe, sowohl die Entstehung wie die anthropologische Bedeutung des 
menschlichen Kinns klarzustellen. Ehe ich aber auf mein Thema 
eingehe, muss ich eine Bitte an Sie richten, nämlich diese Objekte 
so unvoreingenommen wie möglich zu betrachten, ich möchte fast 
sagen als reine Laien, und sich in Ihrem Urteil nur von den Objekten 
selbst beeinflussen zu lassen und alles dasjenige, was in Ihrem 
Gedächtnis aus der Literatur über diese Dinge niedergelegt ist, 
vollkommen zu verbannen, als ob es niemals existiert hätte. So habe 
ich es nämlich auch gemacht und nur so bin ich zu meinen neuen 
Ergebnissen gelangt; die Literatur habe ich erst durchgesehen, als 
ich mit meinen Untersuchungen fertig war, eine Arbeitsmethode, 
die ich auch sonst, nicht zum Schaden meiner Beobachtungen und 
Schlussfolgerungen, anzuwenden pflege. Dabei wird freilich oft genug 
manche Arbeit, was die Möglichkeit der Veröffentlichung angeht, um- 
sonst gemacht, der persönliche Gewinn aber, der im eigenen Erleben 
der Probleme besteht, ist unberechenbar und ein dauernder. 


I. Die Entstehung des Kinns. 


Das Kinn ist bekanntermassen ein Vorsprung in der Mitte des 
Unterkiefers und kommt in seiner charakteristischen Ausbildung nach 
allgemeiner Annahme nur beim Menschen vor. Das Kinn selbst ist 
also ein Teil des Unterkiefers und dieser wiederum trägt und enthält 
in seiner oberen Hälfte das Gebiss des Unterkiefers. Es ist natur- 
gemäss und entspricht unseren modernen Anschauungen, dass die 
einzelnen Teile, aus denen irgendein lebendes körperliches Gebilde 
besteht, sich nicht nur räumlich, sondern auch funktionell in weit- 
gehendstem Masse beeinflussen. Ein grosser blühender Zweig der 
Anatomie, die von W. Roux begründete Entwicklungsmechanik, be- 
schäftigt sich hauptsächlich mit diesen Beeinflussungen. Es ist 
daher unmöglich, einen solchen Teil, wie das Kinn für sich zu be- 
trachten, man muss ihn im Zusammenhang mit den übrigen Teilen 
des Kiefers betrachten, Weichteilen sowohl wie festen Teilen. Die 
Weichteile, nämlich Haut, Muskeln, Sehnen, Bänder, Gefässe und Nerven, 
können wir vorläufig ausser acht lassen. Sie haben selbstverständlich 
ihre Bedeutung, besonders für die Bewegung, und beeinflussen in 
mancher Richtung auch die Form im Einzelnen. Uns interessiert 
aber hauptsächlich die Form im Ganzen. Wir wollen annehmen, 
dass die mazerierten, von Weichteilen befreiten Knochenpräparate, 
die Sie hier vor sich sehen, etwa als fossile Funde in unseren Besitz 


3] Das menschliche Kiun, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 241 


gelangt wären und wir die Aufgabe hätten, diese Knochen in eine 
genetische Reihe zu bringen. Die Präparate stammen zum grösseren 
Teil aus dem hiesigen naturkundlichen Museum, für deren gütige Über- 
lassung ich dem Direktor des Museums, Herrn Prof. Zimmer, sowie 
den verschiedenen Abteilungskustoden, den Herren Prof. Matschie 
und Dr. Pohle, Herrn Prof. Pappenheim und Dr. Ahl ich auch 
an dieser Stelle meinen besten Dank ausspreche. Zum Teil stammen 
sie aus dem meiner Obhut unterstellten Pathologischen Museum in der 
Charite. Um die Vergleichung zu erleichtern und sie gewissermassen 
ganz auf die Form (statt auf die Grösse) zu konzentrieren, habe ich 
die Abbildungen ungefähr in der gleichen Grösse anfertigen lassen. 
Manche Präparate sind also relativ mehr oder weniger verkleinert, 
manche vergrössert dargestellt. (Eine beträchtliche Anzahl der Ab- 
bildungen mussten der Kosten wegen weggelassen werden.) 

Ich beginne mit der Demonstration des Kiefers vom Hai (Prio- 
nodon oxyrhynchus, Abb. 1), eines der einfachsten Fische aus der 
Gattung der Knorpelfische. Wir sehen den schmalen, fast band. 
artigen, biegsamen (knorpeligen) Kiefer, der mit mehreren Reihen 
dünner dreieckiger stachelähnlicher Zähne besetzt ist. Diese Zähne 
sitzen auf dem Kiefer obendrauf, ohne Verbindung mit dem Knorpel, 
und sind stark nach einwärts, nach der Mundhöhle zu, gerichtet. 
Die hinteren Reihen liegen sogar fast parallel zur Kieferoberfläche. 
Ein Blick auf diese Zähne und ihre Beziehung zu dem Kiefer genügt, 
um uns zu vergewissern, dass diese Zähne nicht zum Beissen ein- 
gerichtet sind und ibre verhältnismässig lose Verbindung mit dem 
Kiefer zeigt ausserdem noch, dass sie auch als Haltezähne nicht 
allzu stark belastet und zweifellos bei stärkerer Gewalteinwirkung 
leicht abgenutzt und verloren gehen können. Dementsprechend zeigt 
auch der Kiefer eine schwache Ausbildung. Er verhält sich etwa 
wie ein dünner, in der Mitte gebogener Stab, der sich immer mehr 
im Dickendurchmesser verringert und schliesslich vorn so abgeplattet 
und verdünnt ist, dass die Zahnreihen wie auf einem dünnen Band 
hintereinander stehen. 

Das nächste Präparat zeigt das Vorderende eines Dorsches, 
eines Knochenfisches (Gadus morrhua, Abb. 2), nämlich Unter- und 
Oberkiefer und das sogenannte Os intermaxillare, welch letzteres die 
oberen Zahnreihen trägt. Ausser den hier sichtbaren Zähnen ist 
hervorzuheben, dass bei diesem Fisch, wie bei vielen anderen eben- 
falls, was ja jeder Hausfrau bekannt ist, der ganze Rachen und die 
Kiemenbögen mit unzählbaren, oft wie kleine Moospflänzchen in 
Büscheln und Gruppen zusammenstehenden grösseren und kleineren 
Zähnchen besetzt ist. Alle diese stachelförmigen Zähne, die wenigstens 


242 M. Westenbhöfer. [4 


im Bereich der Kiefer eine festere, wenn auch immer noch ziemlich 
lose Verbindung mit dem darunter liegenden knöchernen Hartgebilde 
aufweisen, als in dem zuerst gezeigten Fall des Haies, sind wie 
Widerhaken nach einwärts in die Mundhöhle gerichtet. Während 
das Intermaxillare, das das Obergebiss trägt, einem einfach ge- 
krümmten Stabe vergleichbar ist, zeigt der Unterkiefer eine deutliche 
seitliche Abplattung und Erhöhung, woraus man wohl auf eine stärkere 
mechanische Beanspruchung dieses Knochens in der Richtung von oben 
nach unten schliessen kann, obwohl von einem eigentlichen Beissen 
bei der Anordnung des Gebisses keine Rede sein kann. 

Der Bogenteil des Unterkiefers steht auf der Unterlage senkrecht 
und es springen beiderseits am oberen und unteren Rande der Kiefer- 
äste in der Kieferfuge je 2 kleine halbkugelige Höckerchen über das 
Niveau nach vorn vor, die den Eindruck von Verstärkungen der 
Kieferastendigungen erwecken, die häutig oder knorplig, jedenfalls 
nicht knöchern miteinander vereinigt sind. 

. Die nächsten beiden Präparate zeigen die Gebisse von Riesen- 
schlangen (Pythonreticulatus); in Abb. 3 (dem jüngeren Exem- 
plar) ist der ganze Kopf mit dargestellt. Hier zeigt sich dank der 
Grösse und Stärke der Zähne die Einwärtsrichtung der Zähne fast 
noch deutlicher als bei den Fischen. Sie sind mithin auch bei diesen 
Tieren nicht zum Beissen, sondern hauptsächlich zum Festhalten der 
Beute eingerichtet. Die Zähne stehen aber in viel festerer Verbindung 
mit dem Kiefer als in den vorigen Fällen; sie befinden sich in kleinen 
runden Gruben im Kiefer eingelassen, die ausserdem noch einen über 
die Oberfläche des Kiefers hervorstehenden Rand besitzen, wodurch 
die Befestigung der Zähne noch erhöht wird. Auch diese Zähne sind 
stachelförmig. Der Unterkiefer zeigt deutlich die Umwandlung eines 
wie beim Hai flachen bandartigen Stabes in einen zwar immer noch 
etwas rundlichen aber doch deutlich in die Höhe gekanteten Stabes, 
d. h. einer länglichen Knochenspange, bei der der Höhendurchmesser 
grösser ist als der Breiten- (Dicken-) Durchmesser. Er ist auch be- 
deutend kräftiger als beim Dorsch. Die Unterkiefer der Schlangen 
zeichnen sich dadurch aus, dass die beiden seitlichen Äste vorn nicht 
miteinander knöchern, sondern nur häutig verbunden sind, wodurch 
es den Schlangen ja ermöglicht wird, unverbältnismässig grosse Tiere 
zu verschlingen. Diese Kieferäste zeichnen sich im Gegensatz zu den 
vorhin beschriebenen Fischen aber noch dadurch aus, dass sie am 
vorderen Ende mehr oder weniger scharf zugespitzt sind, eine 
Zuspitzung, die, wenn wir die beiden Präparate miteinander ver- 
gleichen, um so spitzer und schärfer ist, je stärker die Zähne ein- 
wärts gekrümmt sind, so dass man sofort den Eindruck bekommt, dass 


5) Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 243 


der Grad dieser Zuspitzung von dem Grade der Krümmung der Zähne 
abhängig ist. Man könnte mit einem gewissen Recht diesen Vor- 
sprung des Unterkiefers nach vorn als Kinn bezeichnen. Allerdings 
tritt es bei dem mit Weichteilen bedeckten Kopf nicht in Erscheinung. 

In dem abgebildeten Präparate tritt dieser Vorsprung deswegen 
besonders stark in Erscheinung, weil das vorderste Zähnchen aus- 
gefallen ist, so dass der Vorsprung länger erscheint, als er in Wirk- 
lichkeit ist. Man kann den Vorsprung vielleicht in Parallele zu den 
halbkugeligen Vorsprüngen beim Dorsch setzen. Sowohl die Vorsprünge, 
als auch die Andeutung der Alveolarbildung, wie die kräftigen Zähne 
und ganz besonders die erhebliche Stärke und Härte der Kieferäste 
zeigen uns deutlich, dass die Bewältigung der Beute an den Schlangen- 
kiefer bedeutend höhere Anforderungen stellt als es beim Fisch der 
Fall ist. Wir können aus dem Vergleich der 3 bisher beschriebenen 
Kiefer treffiende Schlüsse über die Art der Beuteergreifung und -Be- 
handlung machen. 

Die Fähigkeit der Schlangen, eine Beute zu verschlingen, die be- 
deutend umfangreicher ist als (hr eigener Kopf, verdanken sie der 
freien Beweglichkeit der vorn nicht vereinigten Kieferäste, zwischen 
deren Enden sich eine Art von Band befindet. Inwieweit dieses eine 
Weiterentwicklung des auch bei anderen Reptilien und fast allen 
Fischen in mehr oder weniger starkem Masse vorhandenen Sym- 
physengewebes des Kiefers darstellt und ob auch bei diesen Tieren 
eine, wenn auch viel geringere Möglichkeit des Auseinanderweichens 
der Unterkieferäste vorhanden ist, z. B. beim Verschlingen einer zu 
grossen Beute, will ich dahingestellt sein lassen. Wir werden nachher 
Fischgebisse kennen lernen, wo echte Nage-, Beiss- und Zerkleinerungs- 
zähne vorhanden sind und dementsprechend auch eine häutige oder 
knorplige Kieferfuge kaum angedeutet, sondern die Kiefer vorn fast oder 
.ganz knöchern vereinigt sind. 

Bei dem nächsten Präparat, dem Unterkiefer eines afrikanischen 
Krokodils (Crocodilus niloticus) sehen wir die Stachelzähne an dem 
langen Kiefer in verhältnismässig spärlicher Anordnung in den Knochen 
in besonderen Gruben versenkt, die teilweise einen erhöhten Rand 
aufweisen; alle Zähne zeigen noch eine leichte Krümmung nach innen, 
auch sie sind offenbar weniger zum Beissen als zum Festhalten der 
Beute bestimmt. Im Gegensatz zu den auseinander weichenden Unter- 
kieferästen bei den Schlangen sind hier die beiden Kieferäste etwa 
bis zur Hälfte der Gesamtlänge vorn in Gestalt einer Naht ziemlich 
fest aneinander gelegt, wodurch die Festigkeit des Knochens zweifel- 
los erheblich verstärkt wird, sie wird gewissermassen verdoppelt und 
dadurch gegen Bruch gesichert. Wir sehen dementsprechend im 


244 M. Westenhöfer. | | [6 


Gegensatz zu dem gekanteten Unterkiefer der Schlange, wie der 
Unterkiefer des Krokodils in seinem vorderen, der Länge nach ver- 
schmolzenen Abschnitt nahezu rundliche Stabform darbietet, während 
erst in seinem hinteren nicht verschmolzenen Abschnitt eine leichte 
Kantung eintritt. Das vordere Ende der beiden vereinigten Kiefer 
zeigt keine besondere Form, es ist leicht abgerundet und lässt die Zu- 
spitzung wie bei der Schlange vermissen, so dass wir ohne weiteres 
. den Schluss ziehen können, wie er sich ja aus dem ganzen Bilde 
ergibt, dass irgend eine nennenswerte Krafteinwirkung in irgend- 
einer bestimmten Richtung auf den Vorderteil des Kiefers nicht 
eingewirkt hat. Eine bewegliche Kieferfuge braucht das Krokodil dank 
der Möglichkeit, das Maul gewaltig weit aufzusperren, nicht. 

Wir haben bis jetzt an den gezeigten Präparaten gesehen, wie 
sich der Unterkiefer bei nach einwärts gerichtetem Gebiss (Einwärts- 
Klinodontie) verhält. Eine je grössere Gewalteinwirkung (Zug und 
Druck von innen nach aussen) das Gebiss bei der Einwärts-Klinodontie 
auszuhalten hat, um so mehr befestigen sich die Zähne im Kiefer 
bis zur Bildung von Alveolen, um so mehr erhöht sich der Kiefer, 
er wird gekantet und es kann sogar zur Bildung einer nach vorn 
gerichteten Spitze wie bei den Schlangen kommen. Im Falle des Kro- 
kodils wird die Verstärkung durch eine ausserordentlich lang gestreckte 
Synostose bewirkt. Diese Umwandlungen sind zurückzuführen auf 
die Wirkung, die von der Funktion des (Grebisses und der Art der 
Beute in mechanischer Weise auf den Kiefer ausgeübt wird. 

Wir gehen über zu einer zweiten Reihe von: Kiefern, nämlich 
solchen, bei denen das Gebiss nach auswärts gerichtet ist, wenigstens 
in seinem vorderen Abschnitt, bei denen also eine Auswärts- 
Klinodontie besteht. Wir beginnen mit solchen Kiefern, bei 
denen die Klinodontie nur gering entwickelt ist. In den Abbildungen 


6 und 7 sehen Sie den Unterkiefer eines erwachsenen Gorilla be-. 


ziehungsweise eines Macacus. Genau entsprechend der Schrägstellung 
der Schneidezähne sehen Sie den Kiefer in seinem vorderen Abschnitt 
in steiler schräger Linie nach abwärts und hinten gewissermassen 
sich verflüchtigen. Dass nun in der Tat diese Vertlüchtigung oder 
um diese Erscheinung mit einem wissenschaftlichen Ausdruck zu be- 
legen, diese Atrophie oder dieser Schwund der vorderen Kieferrundung 
und Kantung abhängig ist von dem Grade der Auswärts-Klinodontie, 
das zeigt sich sofort, wenn wir ‚höhere Grade derselben betrachten, 
wie sie in den Abbildungen 8 (Hund), 9 (Pferd) und 10 (Schwein 
vorbanden sind. Je schräger nach aussen, gewissermassen je flacher 
und schaufelförmiger die Schneidezähne nach aussen und vorn ge- 
richtet sind, um so stärker ist die Atrophie des Vorderkiefers. Das 


7] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 245 


Schiff mit hohem aus dem Wasser herausragendem Bug, das vergleichs- 
weise der Kiefer der Affen, besonders der Anthropoiden darstellt, hat 
sich beim Pferd und Schwein in einen ganz flachen niedrigen Kahn ver- 
‘ wandelt, dessen vorderer Rand fast im Wasser versinkt, während er 
beim Hund wie der Bug eines flachen Fischerkahns sich noch leicht 
über die Wasseroberfläche erhebt. Beim Schwein (Abb. 10) gewinnt 
man den Eindruck, dass durch die grossen Hauer die Tendenz zur 
horizontalen Verflachung des Unterkiefers, wie sie in vollendeter 
Weise beim Pferd (Abb. 9) sichtbar ist, unterbrochen wird und der 
der Einsenkung der Hauer entsprechende Teil ausserdem noch 
verdickt ist. Die Ursache, die diese Umwandlung der Kiefer- 
form herbeigeführt hat, kann in nichts anderem liegen, als in der 
mechanischen Einwirkung, die über das Gebiss auf den Kiefer- 
knochen eingewirkt hat. Die Gewalt, die beim Beissakt, d. h. 
beim Erfassen und Festhalten der Nahrung, auf das Gebiss wirkt, 
pflanzt sich in gleicher Richtung nach physikalischen Gesetzen auf 
den Knochen fort und bedingt durch Abbau einerseits und Verstärkung 
andererseits diejenige Form, die dem Druck den stärksten Widerstand 
leisten kann. Wir brauchen uns z. B. nur vorzustellen, dass bei 
gleicher Konfiguration der Kiefer die Schneidezähne des Pferdes und 
des Schweines senkrecht stünden und dass auf sie mit gleicher Stärke 
derselbe Druck ausgeübt würde, wie er bei diesen Tieren tatsächlich 
ausgeübt wird, um einzusehen, dass beide Kiefer bei dem ersten 
kräftigen Biss glatt durchbrechen würden, ganz abgesehen davon, dass 
schon vom künstlerisch-ästhetischen Standpunkt aus eine solche Formen- 
zusammenstellung uns als unmöglich erscheinen würde: schön, gut 
und nützlich sind eben identisch. 

Dass diese Überlegungen durchaus richtig sind, geht ohne weiteres 
hervor aus einer weiteren Reibe von Präparaten. Sie sehen in den 
folgenden Präparaten von Pagrus-Pagrus und Chrysophrys 
(Abb. 11) die Kiefer von Fischen, die teils mit spitzen, teils mit 
stumpfen kegelförmigen starken Zähnen fast wie ein Raubtiergebiss be- 
setzt sind. Die Zähne sind auswärts-klinodont und stecken mit ihren 
Wurzeln in tiefen Gruben des Knochens, die sie voll und ganz ausfüllen. 
Die Kieferäste sind hochgekantet, der vordere Teil der Kieferrundung 
fliehend in einem Grade, der etwa einer Zwischenstufe entspricht, 
die man sich zwischen Affe und Hund denken könnte. Die Atrophie 
entspricht genau dem Grade der Klinodontie. Am beweisendsten aber 
ist das Gebiss vom Fische Sargus Capensis (Abb. 12). Hier sehen 
wir ganz schräg und flach aus dem Kiefer nach vorn gerichtet und 
wirklich diegerade Verlängerung des vollkommen flachen schalenförmigen 
Kiefers darstellend ausserordentlich zierliche und feine hohlmeisselförmige 


246 M. Westenhöfer. [8 


Schneidezähnchen herauskommen, an deren lange schmale Krone sich 
eine noch längere und schmälere Wurzel anschliesst, die lose in echten 
tiefen Alveolen steckt. Das Gebiss dieses Fisches stellt gewissermassen 
das Extrem der Auswärts-Klinodontie dar, während das des Haies 
in Abb. 1 das Extrem der Einwärts-Klinodontie darstellt: In beiden 
Extremen ist der Kiefer, was Höhe und Stärke angeht auf ein 
Minimum reduziert, was ja sehr begreiflich ist, da in beiden Fällen 
die einwirkende Kraft den Knochen fast tangential trifft, wobei 
im Falle des Haies auch die absolute Kraft verschwindend gering, 
während sie bei Sargus zweifellos ziemlich beträchtlich ist. (Ich möchte 
nicht unterlassen, bei der Demonstration dieser merkwürdigen 
Fischgebisse darauf hinzuweisen, wie man an ihnen in wundervoller 
Weise die verschiedensten Formen und Grössen von Zähnen und die 
Entstehung zusammengesetzter Zähne aus einfachen Zapfen- oder 
Kegelzähnchen studieren kann, die übrigens auch beim Menschen 
nicht allzu selten vorkommen (Emboli). Da diese Frage uns indessen 
hier nicht beschäftigt, brauche ich nicht darauf einzugehen.) 

Die Auswärts-Klinodontie hat noch eine weitere Folge für die 
Morphologie des Kiefers, die ebenfalls bezüglich ihrer Ausbildung von 
dem Grade der Klinodontie abhängig ist, das ist die Entwicklung 
einer sogenannten Basalplatte. Diese stellt, wie wir an dem 
Affenkiefer Abb. 13 sehr schön sehen können, eine Knochenplatte dar, 
welche an der Innenseite des Kiefers an seinem vorderen Ende die 
beiden Kieferäste miteinander verbindet und so eine Verstärkung des 
Kiefers, gewissermassen einen Schutz gegen das Auseinanderbrechen 
der Kiefer, darstellt. In Wirklichkeit ist sie freilich nichts anderes, als 
eine Synostose der nach vorn und oben zu etwas verlängerten und verbrei- 
terten Kieferastendigungen im Bereiche des Bogens. Schon beim Krokodil 
sahen wir, wenn auch nicht die Entwicklung einer Basalplatte, aber 
doch bezüglich der Wirkung etwas Ähnliches, nämlich das Aneinander- 
legen der vorderen Hälften der nicht verbreiterten und verstärkten 
Kieferäste. Je stärker die Auswärts-Klinodontie, um so stärker und 
um so weiter nach hinten reichend ist die Entwicklung der Basal- 
platte. Sie fehlt vollkommen bei den Tieren mit Einwärts-Klinodontie 
und bemerkenswerterweise auch bei den genannten Fischen mit 
Auswärts-Klinodontie, deren Kiefer sogar nicht einmal immer fest 
knöchern miteinander sind, sie stossen meistens nach Art einer fast 
linearen Synostose in der Mitte zusammen. Das lässt darauf schliessen, 
dass das Beissen bei diesen Tieren trotz der Ähnlichkeit der Klino- 
dontie mit den höheren Säugetieren in anderer Weise, jedenfalls nicht 
mit derselben Gewalt vor sich gehen muss als bei diesen. Während 
bei den Säugetieren der Unterkiefer im Kiefergelenk gegen den einen 


9] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 247 


festen Widerstand darbietenden mit dem Kopf innig verschmolzenen 
Oberkiefer angepresst wird, fehlt bei den Fischen ein derartiges festes 
Widerlager, gegen das der Unterkiefer gepresst wird. Würde z. B. 
ein solcher Fischunterkiefer mit der gleichen Kraft gegen das Inter- 
maxillare gepresst werden, so müsste man bei dessen lockerer Be- . 
festigung mit dem auch an und für sich mannigfach und locker zu- 
sammengesetzten Kopfskelett erwarten, dass dieses aus den Fugen 
ginge. Wahrscheinlich drückt der Fisch seine starken Kiefer gegen 
den harten Gegenstand, den er bearbeitet (Muscheln, Korallen usw.), 
indem er mit Hilfe der Flossen seinen ganzen Körper einschliesslich 
des Kopfes gewissermassen gegen den festen Gegenstand „stancht“ 
und dadurch den Kopf fixiert. Wir werden übrigens nachher sehen, 
dass auch das Kopfskelett bei solchen Fischen sich unter der Einwir- 
kung des Beissens und bei beweglicher Beute erheblich umwandeln 
und verstärken kann. Bei Sargus capensis wird eine Art Basal- 
platte vorgetäuscht in Gestalt einer grossen Anzahl dichtgedrängt 
stehender knopfförmiger Zähnchen, die die Innenfläche der fast hori- 
zontal stehenden muldenförmigen Unterkieferbogen völlig zudecken und 
so erheblich verstärken. 

Wir verstehen ausserdem, wie bei Klinodontie bei jedem Kiefer 
als dritte mechanische Folge eine gewisse Neigung bestehen muss, 
sich d. h. den Kieferbogen zu verlängern und eine Schnauze zu bilden. 
Während dieses bei der Einwärts-Klinodontie infolge der geringeren 
Gewalteinwirkung nicht so unbedingt nötig ist, muss bei der Aus- 
wärts-Klinodontie mit der Zunahme der Schrägstellung der Vorder- 
zähne auch eine Verlängerung des Kiefers entsprechend der mehr 
oder weniger tangenitalen Krafteinwirkung stattfinden. Ist Zahn- 
stellung und Kieferrichtung fast parallel geworden, dann hört auch 
gewöhnlich die Verlängerung auf, sie findet ihr natürliches Ende. 
Daraus ergibt sich der Satz, dass die Rundung des Kieferbogens, 
ob mehr spitz, oval oder kreisförmig, hauptsächlich 
abhängig ist von der Stellung der Vorderzähne. 

Wenn wir so gesehen haben, wie sich der Kiefer bei Klinodontie 
verhält, so haben wir jetzt zu untersuchen, wie verhält er sich bei 
Orthodontie? | 

Es ist klar, dass auch bei Orthodontie, bei der die Zähne senk- 
recht im Kiefer stehen, dieselben mechanischen Gesetze gelten, wie 
bei Klinodontie. Wenn die Zähne senkrecht im Kiefer stecken und 
die Gewalteinwirkung beim Beissen senkrecht auf die Oberfläche der 
Zähne erfolgt, so muss ein Kiefer daraus hervorgehen, der nach allem, 
was wir im vorhergehenden Abschnitt auseinandergesetzt haben, hoch- 
gekantet sein und einen mehr oder weniger runden, kreisförmigen 

Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 3. 17 


248 M. Westenhöfer. [10 


Bogen bilden muss. Ein solcher Kiefer kann keine Basalplatte oder 
nach hinten verlängerte, die Äste verbindende Synostose haben, ein 
solcher Kiefer kann nur kurz sein, ein solcher Kiefer muss in seinem 
vorderen Abschnitt im Bereiche der Rundung oder des Bogens un- 
gefähr dieselbe Höhe haben wie an den seitlichen Abschnitten der 
Kieferäste. Einen Kiefer, der ungefähr diesem Zustande entspricht. 
kann ich Ihnen hier zeigen und zwar von einem dem Fisch Pakuü oder 
Piaractus brachypomus (Abb. DL Bei diesem Fische sehen 
wir einen hohen Unterkiefer mit einem grossen runden parabolischen 
Bogen. In der Mitte des Kieferbogens springt aussen etwa oberhalb 
des unteren Randes eine Spitze fast wie ein Kinn oder besser wie 
ein Rammsporn vor. Die Zähne stehen absolut senkrecht in dem 
Kiefer. Jedoch ist dabei zu bemerken, dass diese Zähne, die pracht- 
voll geformte, breite in der Mitte eine kleine spitze Erhebung tragende 
Schneidezähne darstellen, eigentlich nur aus einer Krone bestehen und 
mit ihrer Hinterfläche in die Vorderfläche des Kieferbogens ein- 
gebettet sind, sie stehen also eigentlich gewissermassen vor dem Kiefer. 
Es kann die mechanische Wirkung auf den Knochen nicht so intensiv 
sein, wie wenn die Zähne mit tiefen Wurzeln im Kiefer selbst be- 
festigt wären. Vielleicht ıst hierauf der Umstand zurückzuführen, 
dass der Kiefer im Bereich des Bogens nicht ganz so hoch ist wie 
im Bereich der Seitenteile. An der Innenseite zeigt dieser Kiefer 
eine deutliche Verstärkung, die man als (vertikal stehende) Basalplatte 
ansprechen könnte, wenn sie nicht ebenfalls zwei Schneidezähne 
trüge, wodurch ihre Deutung als Basalplatte hinfällig ist, obwohl 
sicher eine Verstärkung des Kiefers dadurch geschieht. Man könnte 
sogar geneigt sein, die im Vergleich zu den übrigen bisher be- 
sprochenen Fischen auffallend geringe Zahl von Zähnen in Verbindung 
zu bringen mit der Orthodontie, d. h. der neuen und ganz anderen 
Art der Nahrungsaufnahme. Bei diesem Fisch übrigens ist das 
Kopfskelett so stark verknöchert und in seinen einzelnen Teilen so 
fest miteinander verbunden, dass man hier die Möglichkeit, ja Wahr- 
scheinlichkeit zugeben muss, dass der Unterkiefer mit grosser Gewalt 
gegen den Oberkiefer gepresst werden kann, dass die beiden Zahn- 
reihen wie Äxte auf den gefassten Gegenstand einschlagen können, 
ohne dass für den Zusammenhalt des Kopfes eine Gefahr besteht. 
Dieses Fischgebiss ist also auch imstande, frei bewegliche Gegen- 
stände zu fassen und zu zerschneiden. 

Ich zeige Ihnen ferner den Schädel eines Negers (Abb. 15), bei 
dem Sie im Oberkiefer eine starke Prognathie (Klinognathie nach 
H. Virchow) mit Klinodontie sehen, so dass die hintere Fläche der 
oberen Schneidezähne fast horizontal steht. Die Zähne des Unterkiefers 


11} Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 249 


sind orthodont') und beissen derartig gegen das Obergebiss, dass, wie 
ganz deutlich zu erkennen ist, die Schneidezähne des Untergebisses 
an ihrer Oberfläche horizontal abgeschliffen sind. Auf dieses Gebiss 
hat demnach der Beissdruck nahezu senkrecht eingewirkt (Aufbiss). 
Dementsprechend sehen wir einen hochgekanteten fast kreisrunden 
Unterkiefer, an dem ein Kinn kaum angedeutet erscheint. 

Im Anschluss hieran zeige ich Ihnen den isolierten Unterkiefer 
(Abb. 4) und den Schädel eines Europäers (Abb. 14). Bei beiden 
sieht man einen hochgekanteten schön gerundeten Unterkiefer 
ohne jedes Zeichen einer Basalplatte, dagegen mit einem ausge- 
sprochenen Kinnvorsprung. Die Zähne stehen orthodont im Unter- 
kiefer, wir sehen aber, besonders deutlich an dem isolierten Unter- 
kiefer, dass die Kronen der Zähne eine ganz leichte Biegung nach 
einwärts machen und dass die Zahnreihe des Unterkiefers nicht nur 
binter der Zahnreihe des Oberkiefers im Bereich der Schneidezähne 
verschwindet, sondern auch, dass die Beisskante der Schneidezähne 
am vorderen oberen Rande schräg abgeschliffen ist, mit anderen 
Worten die Schneidezähne des Unterkiefers beissen hinter der Beiss- 
kante der oberen Schneidezähne vorbei. Man nennt diese Art des 
Beissens den Scheerenbiss, weil die beiden Schneidezahnreihen 
wie die Klingen einer Scheere sich aneinander vorbeibewegen. Alle 
die anderen Kiefer mit Auswärts-Klinodontie, die wir besprochen 
haben und ebenso das Gebiss des vorhin gezeigten Negerschädels zeigen 
den sogenannten Aufbiss, wobei Zahnkante gegen Zahnkante trifft 
und die Schneidekanten beim Gebrauch gleichmässig horizontal ab- 
geschliffen werden. Besonders deutlich zeigt dies auch der Affen- 
schädel (Abb. 16)?). Bei Scheerenbiss und Orthodontie wirkt die Beiss- 
gewalt nicht vollkommen senkrecht auf den darunterliegenden Knochen 
wie etwa bei Orthodontie und Aufbiss, sondern die Gewalt wirkt in 
leicht schräger Richtung von oben innen nach unten aussen. Die 
Folge davon muss sein, dass auch die Knochenverstärkung in dieser 
Richtung sich ausbilden muss. Das Resultat dieser Wirkung ist aber 
nichts anders wie die Entstehung des Kinns. Die Kinnbildung 
des Menschen ist mithinzurückzuführen auf seine Ortho- 
dontie und seinen Scheerenbiss. Es versteht sich nach diesen 
Ausführungen von selbst, dass die Kinnbildung zwar eine ausgesprochen 


1) Nach Adloff stehen beim Menschen selbst bei Progn athie die Zähne 
besonders ihre Wurzeln, stets orthodont (Das Gebiss des Menschen und der Anthro- 
pormorphen bei Jul. Springer 1908). 

2) Es ist ausserordentlich lehrreich, immer wieder die Reihenfolge der 
Abb. 14—16 anzusehen. In den Lehrbüchern der vergleichenden Anatomie und 
Anthropologie pflegt die Reihenfolge, wenn sie angeführt wird, genau umgekehrt 
zu sein, aus Gründen, die im folgenden Abschnitt erläutert werden. 

17* 


250 M. Westenbhöfer. [12 


menschliche Eigentümlichkeit ist, dass sie aber bei den einzelnen 
Menschen individuell ganz verschieden stark oder schwach oder gar 
nicht aufzutreten braucht je nach der Stellung und Funktion des 
Gebisses. Die bei dem Fisch Pakü und bei den Schlangen angedeuteten 
ähnlichen Bildungen, deren Entstehungsmechanik aber anders ist, wird 
man daher höchstens als kinnähnlich, besser aber als äussere Kiefer- 
stacheln bezeichnen, worauf im zweiten Teil zurückgekommen wird. 
Würde man einem tüchtigen Ingenieur den Auftrag geben, einen 
horizontal gehaltenen runden, etwa halbkreisförmig gebogenen Stab 
in der Weise an seiner Oberfläche, d. h. von oben her zu belasten, 
dass die Druckrichtung immer stärker werdend nacheinander alle 
Winkel von 0—180° durchläuft und der-Belastung entsprechend den 
Stab so zu formen, dass er der Belastung am besten Widerstand 
leistet, d. h. seine Druckfestigkeit bewahrt, so könnte die Lösung nicht 
anders ausfallen, als die Natur sie uns in den verschiedenen Kieferformen 
bei den verschiedenen Zahnstellungen und den daraus sich ergebenden 
Druckwirkungen auf den Kieferknochen vormacht und wie sie in klassi- 
scher Weise die beiden stärksten Extreme zeigen : Das einwärts-klinodonte, 
fast tangential liegende Gebiss des Hais (Winkel von fast 0°) und 
das auswärts klinodonte, fast tangential liegende Gebiss von Schwein 
oder Pferd oder Sargus (Winkel von fast 180°), zwischen denen genau in 
der Mitte das orthodonte Gebiss des Pakü (90°) und des Negers und 
das zwar ebenfalls orthodonte, aber bei der Funktion leicht einwärts 
klinodont wirkende Gebiss des europäischen Menschen steht. 


II. Die anthropologische Bedeutung des Kinns. 

Es dürfte niemand daran zweifeln, dass die älteste Bezahnung 
der aus dem vordersten Kiemenbogen umgewandelten Kiefer wie über- 
haupt die Zahnbildung in der Mund-Rachenhöhle von dem diese Teile 
überkleidenden Ektodern ausging und dass diese einfachen Hautzähn- 
chen, wie wir es beim Hai und Dorsch gesehen haben, mit ihrer 
Spitze nach einwärts gerichtet sind. Im Laufe der Phylogenie muss 
aus dieser Einwärts-Klinodontie über die Orthodontie der Weg zur 
Auswärts-Klinodontie gegangen sein, ein Weg, der zweifellos durch 
die Umweltbedingungen, in denen die Organismen gelebt haben, vor- 
geschrieben wurde. Und wir können mit einem gewissen Recht die 
Behauptung aufstellen, dass, wie die stärkste Einwärts-Klinodontie 
den einfachsten und primitivsten Zustand des Gebisses, so die stärkste 
Auswärts-Klinodontie die weitest gehende Entwicklungsstufe darstellt. 
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet können wir nicht anders 
als erklären, dass die menschliche Kieferbildung mit ihrer Ortho- 
dontie und der Ausbildung eines Kinnes einen Zustand darstellt, der 


13] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 251 


unmittelbar der Einwärts-Klinodontie folgt, d. h. der in den frühesten 
Beginn der Säugetierzeit verlegt werden muss, ja man könnte 
sogar behaupten, dass der Scheerenbiss einen Zustand darstellt, der 
noch an ein Stadium vor der Säugetierzeit (Reptilien) erinnere. Man 
könnte hierin noch bestärkt werden, wenn man sich die Kiefer 
menschlicher Embryonen betrachtet. Ich habe hier 3 mazerierte 
menschliche Schädel von 8, bezüglich 19, bezüglich 30 cm Umfang, 
sie stammen also etwa aus dem 4., 6. und 8. Fötalmonat. Wir sehen, 
wie bei diesen Föten die Unterkieferäste vorn in der Mitte noch nicht 
vereinigt, sondern durch einen dreieckigen Spalt, dessen Spitze im 
Alveolarfortsatz liegt, mehr oder weniger getrennt sind (Abb. 17). 
Denken wir uns von diesen Kiefern den Alveolarfortsatz entfernt, so 
würden wir auf beiden Seiten eine ziemlich niedrige, aber doch gekantete 
Knochenspange vor uns haben, die an ihrem vorderen unteren Ende 
in eine eben angedeutete und nach vorn leicht vorspringende Spitze 
ausläuft d. h. ein Gebilde, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem 
Unterkieferast einer Schlange hat, und zwar ist dieser kinnähnliche 
Vorsprung schon deutlich, obwohl derjenige Teil, der dem mensch- 
lichen Unterkiefer eigentlich erst endgültig und ganz besonders stark 
den Kinnvorsprung verleiht, nämlich die Kinnknöchelchen, noch 
gar nicht vorhanden sind, wenigstens nicht bei den beiden kleinsten 
Schädeln. Die Kinnähnlichkeit wird besonders dadurch noch verstärkt, 
als unmittelbar an den Vorsprung sich eine leichte Grube anschliesst, 
deren Vorhandensein beim Kiefer des Erwachsenen das endgültige 
Kinn ganz besonders stark hervortreten lässt. Die Kinnknöchelchen 
entwickeln sich in dem weichen Gewebe zwischen den vorderen Enden 
der beiden Kieferäste und vereinigen sich im Laufe des ersten Lebens- 
jahres mit einander und mit den angrenzenden Kieferendigungen zu 
einem festen, von dem Kiefer nicht weiter trennbaren Teil, dem so- 
genannten Kinntetraeder, der von vorn als sogenanntes Kinn- 
‘dreieck sichtbar und bei den verschiedenen Menschen ganz ver- 
schieden stark ausgeprägt ist. Es ist nun bemerkenswert, dass diese 
Kinnknöchelchen nur beim Menschen vorkommen, woraus gewissur- 
massen a priori der Schluss gezogen werden kann, dass die Kinn- 
bildung von diesen Knöchelchen abhängt. Es liegt nahe, die Er- 
klärung hierfür auf demselben Wege zu versuchen, wie diejenige für 
die Entstehung des Kinnes. Ich zeige zum Vergleich den Unterkiefer 
eines l4tägigen Schimpansenkindes (Abb. 18). Zunächst fällt 
die ausgezeichnete Rundung des ganzen Unterkiefers auf, die der 
eines menschlichen Neugeborenen kaum nachsteht. Alle Zähne (Milch- 
gebiss) stehen ausgesprochen orthodont im Kiefer. Dementsprechend 
ist der Kiefer allenthalben gleich hoch und zeigt weder die Aus- 


252 M. Westenhöfer. [14 


bildung einer Basalplatte noch eines Kinnes. Die Kieferfuge 
(Synostose der Endigungen der beiden Kieferäste) geschieht in einer 
in der ganzen Ausdehnung gleichmässig ausgebildeten zackigen Naht 
(sie ist leider auf dem Bild durch den Faden verdeckt). Nirgends 
ist Platz oder ein weiches Gewebe in grösserer Menge vorhanden, 
in dem sich Sonderknöchelchen entwickeln könnten. Dieser Befund 
zeigt sehr deutlich, dass die Kinnknöchelchen des Menschen 
zwar eingeschaltet sind in die Synostose des Kiefers, dass sie unter 
keinen Umständen aber mit den bekannten Nahtknochen zu vergleichen 
sind, sondern, dass sie Bildungen ganz besonderer Art, nämlich 
echte Schaltknochen, sein müssen. Diese Bildung, die nicht aus 
den Nahträndern, sondern mitten aus dem weichen Mesenchymgewebe 
zwischen den beiden Kieferenden entstanden ist, wie das an dem 
8 Monate alten Fötus schön zu sehen ist, kann nur aus einer funktionellen 
Anpassung entstanden sei. In diesem weichen offenbar zur Knochen- 
bildung befähigten Spaltgewebe zwischen den leicht zugespitzten Kiefer- 
endigungen müsste sich Knochen nach denselben mechanischen Ge- 
setzen bilden, nach denen sich Knochensubstanz im Organismus über- 
haupt bildete, und zwar in dem Augenblick als die Druckverhältnisse 
sich an dieser Stelle änderten. Das aber geschah zu der Zeit, als 
die vorher einwärts-klinodonten Widerhakenzähne sich 
umwandelten in die orthodonten Scheerenbisszähne. Die 
Kinnknöchelchen und der aus ihnen hervorgehende Kinntetraeder 
machte den orthodonten Kiefer überhaupt erst gebrauchsfähig, indem 
sie sein Auseinanderweichen beim Beissen verhinderten. Würden wir 
z. B. den beweglichen Schlangenkiefer zu einem einheitlichen Knochen 
vereinigen und befestigen wollen, so müssten wir in dem die Kiefer- 
enden verbindenden Weichteilstrang Knocheneinlagerungen eintreten 
lassen ganz nach Art der Kinnknöchelchen. Solange das nicht der 
Fall wäre, würden die Enden trotz ihrer Annäherung immer wieder 
auseinanderweichen, zumal wenn diese Eigenschaft durch lange Genera- 
tionen hindurch erbmässig fixiert wäre. Kinnknöchelchen und Kinn- 
tetraeder sind somit funktionell dasselbe was die Basalplatte bei den 
auswärts-klinodonten (weiterentwickelten) Säugetieren ist. Da in Wirk- 
lichkeit das Kinn oder das Kinndreieck nur die Vorderseite eines die 
ganze Dicke des Knochens einnehmenden Tetraeders darstellt, so könnte 
man diesen nicht mit Unrecht in Anlehnung an den Begriff der Basal- 
platte den Basaltetraeder oder die Basalpyramide nennen. Wie 
die Basalplatte eine schräge bis horizontale einwärts- 
klinoide Verstärkung des Kiefers darstellt, so stellt also 
das Kinn, speziellder Kinntetraeder eine vertikale bezüg- 
lich mehr oder weniger auswärtsklinoide, zwischen die 


15] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 253 


KieferästeindieKieferfugehineingeschobene orthotische 
Verstärkung des Kieferbogens dar. Diese vertikale 
(auswärts-klinoide) Verstärkung musste verloren gehen, als die horizontale 
(einwärts-klinoide) sich ausbildete und so sehen wir, wie die Entwicklung 
der Kinnknöchelchen bei all denjenigen Säugetieren ausbleibt, die 
auswärts-klinodont sind. Bemerkenswerterweise bleibt die Bildung 
von Kinnknöchelchen auch dann aus, wenn, wie hier bei dem Schim- 
pansenkind-Kiefer, abgesehen von der vollkommenen Naht-Synostose, 
die Kieferbildung noch stark an die menschliche und damit auch an 
die Reptilien-Bildung erinnert. Dieser Schimpansenkiefer zeigt in der 
Tat am unteren vorderen Rande der beiden Kieferastendigungen einen 
Vorsprung, den man leicht geneigt sein könnte mit dem menschlichen 
Kinn zu identifizieren und doch ist das nicht statthaft, denn dieser 
Vorsprung entspricht zwar demjenigen, den die menschlichen Embryonen 
noch vor der Anlage der menschlichen Kinnknöchelchen ebenfalls 
zeigen, aber nicht dem Teile, der später das Kinn der Hauptsache nach 
bildet. Da kein Anthropoide jemals Kinnknöchelchen zeigt, ist es. 
fraglich, ob diese in seiner Phylogenie überhaupt vorhanden und etwa 
gänzlich rudimentär geworden seien. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, 
irgend wann müsste man doch einmal einen atavistischen Rückschlag 
beobachtet haben. Daraus könnte man aber den Schluss ziehen, dass 
der menschenähnliche Unterkiefer des Schimpansenkindes doch mit 
dem Menschen oder dessen Vorfahren nicht direkt etwas zu tun zu 
haben braucht, dass er z. B. das Stadium der Orthodontie so rasch 
überwunden und zu dem der Klinodontie übergegangen ist, dass 
weder Kinnknöchelchen noch echtes Kinn sich entwickeln konnten. 
Es ist vielleicht aber auch möglich, dass bei reiner Orthodontie die 
Druckverhältnisse so geartet sind, dass die freien Kieferendigungen 
sich vereinigen können (wie beim kindlichen Schimpansenkiefer) ohne 
dass die Kinnknöchelchen als Schlusssteine nötig sind, während bei 
der leicht einwärts klinoiden Orthodontie (dem Scheerenbiss) die 
Kieferendigungen leichter auseinandergedrückt werden können, sodass 
die Kinnknöchelchen die Lücke ausfüllen müssen '!). 


ı) 14 Tage nach meinem Vortrag demonstrierte Hauschild in der Gesell- 
schaft naturforschender Freunde in Berlin kindliche Unterkiefer aus dem ersten 
Lebensjahr, bei denen er zeigen konnte, dass an die Kieferendigungen innerhalb 
der Lücke je ein kleines Muskelbündel des m. digastricus sich ansetze, das erst 
im Laufe der weiteren Entwicklung durch die Bildung und Vereinigung der Kinn- 
knöchelchen mit den Kieferendigungen verschwinde. Hauschild glaubt, dass 
das Vorhandensein dieser feinen Muskelzüge die primäre Vereinigung der Kiefer- 
endigungen zu einem Ganzen verhindere. Dass die Existenz eines Muskels 
zwischen zwei Knochenteilen die Verknöcherung derselben verhindern kann, ist 
gewiss möglich, aber im vorliegenden Fall geschieht die Verknöcherung in kurzer 


254 M. Westenböfer. [16 


Der Schimpansenkind-Kiefer zeigt uns aber trotz des Fehlens 
der Kinnknöchelchen auf Grund seiner überall fast gleichmässigen 
Höhe, seiner schönen Rundung, dem leichten Vorsprung und nicht 
zuletzt der ausgesprochenen Orthodontie, die die Milchschneide- 
zähne in den Alveolen zeigen, eine grosse Ähnlichkeit mit einem 
menschlichen Unterkiefer aus dem ersten Lebensjahr, nur ist der 
Unterkiefer, ebenso wie der Oberkiefer, dank besonders der stärkeren 
Entwicklung des Gebisses entschieden plumper als beim menschlichen 
Neugeborenen und Säugling im ersten Lebensjahr. Betrachten wir den 
zu diesem Unterkiefer gehörigen Schädel (Abb. 18), so fällt uns die 
ganz besondere Wölbung und fast kugelige Beschaffenheit des Gehirn- 
schädels sofort in die Augen und auch hier drängt sich uns die grosse 
Ähnlichkeit mit dem Schädel eines neugeborenen Menschen auf. Der 
Hauptunterschied allerdings besteht abgesehen von der genannten 
grösseren Plumpheit des Ober- und Unterkiefers darin, dass der Kopf- 
umfang dieses 14 Tage alten Schimpansen 10 cm weniger beträgt 
als der eines neugeborenen Menschen, d. h. 24:34 cm. Aber die 
Ähnlichkeit zwischen dem Schimpansen- und Menschenkind einerseits 
ist bedeutend grösser als die zwischenSchimpansenkind und Schimpansen- 
erwachsenen andererseits. 

‚Wenn wir alle diese Momente zusammennehmen und wenn wir 
insbesondere noch einmal die Reihe der Gebisse betrachten, so scheint 
ein Zweifel darüber, an welche Stelle in der Reihe wir den Menschen 








Zeit ja doch trotz des Vorhandenseins der Muskelbündel. Aber vor allem ist die 
viel wichtigere Frage von Interesse, wie kommt dieses Muskelbündel dazu, sich 
gerade an die Kieferendigungen zu inserieren? Es ist ja klar, dass das nicht 
geschehen könnte, weon kein Platz da wäre. Es kann also auch so sein, dass 
die Lücke im Kiefer nicht etwa erhalten bleibt, weil der Muskel dort inseriert, 
sondern dass der Muskel dort inseriert, weil die Lücke da ist. Zum Beweis 
dieser letzten Ansicht habe ich mit gütiger Unterstützung des Assistenteu am 
anatomischen Institut, Herrn Dr. Kniepkamp, den Kiefer einer Riesenschlange 
präpariert und konnte feststellen, dass bei geschlossenem Munde in die Lücke 
zwischen die freien Kieferendigungen sich das beide Enden verbindende Kiefer- 
band nach vorn hineinlegt. An dieses Band inseriert sich an der Stelle, wo es 
sich an den vorderen Teil des Kiefers anlegt (anscheinend als Fortsetzung einer 
Aponeurose eines breiten Mundboden-Kiefermuskels) ein kräftiger Muskel, von 
dem eine besondere Portion hinter und lateral von dem Bande sich unmittelbar an 
den Knochen des Kieferendes inseriert. Der Muskel kommt von den Knorpel- 
ringen der Luftröbre ber. Ich darf mithin zwar nicht die Deutung, die ich ablehne, 
wohl aber den Befund Hauschilds als wichtige und stützende Ergänzung zu 
meinen Ausführungen über das Problem des Kinns buchen, ohne zunächst die 
Frage zu berühren, in welchem Verhältnis (z. B. phylogenetischen) dieser Schlangen- 
muskel zu dem des menschlichen Säuglings steht, wie es ja überhaupt unmöglich 
ist, alle sich aus meiner Betrachtung ergebenden Einzelfragen auch nur annähernd 
festzustellen, geschweige denn schon jetzt zu beantworten. 


17] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 255 


zu setzen haben, ausgeschlossen. Man könnte den Versuch machen, 
irgendeinem unbefangenen Laien den menschlichen Unterkiefer in 
die Hand zu geben mit der Aufforderung, ihn an diejenige Stelle der 
Reihe zu setzen, wo er seiner Beschaffenheit nach hingehört: er würde 
ihn ganz gewiss an die Stelle setzen, wo ich ihn auch hingesetzt 
habe, nämlich hinter die Fische und Reptilien und vor jedes andere 
Säugetier. 

Wir können uns leicht vorstellen, wie aus dem einwärts-klinodonten 
der orthodonte und aus diesem der auswärts-klinodonte Kiefer wird. 
Der umgekehrte Weg wird uns kaum möglich erscheinen und ist 
wohl auch niemals vorgekommen. Bezüglich des Vergleichs des Ge- 
bisses selbst des Menschen und der Anthropoiden hat schon Adloff 
gegen Walkhoff einen gleichen Standpunkt eingenommen, indem 
er geneigt ist, die „senkrechte Stellung der Schneidezähne, wie sie beim 
Menschen vorhanden ist, für die primitivere zu halten“ 1). Der mensch- 
liche Kiefer kann mithin niemals aus einem Affenkiefer entstanden sein, 
wohl ist aber das Umgekehrte möglich. Der Vorfahre, der beiden ge- 
meinsam sein soll, kann, was seine Kieferbildung angeht, niemals 
affenähnlich, sondern er muss menschenähnlich gewesen sein. Darauf 
deutet auch alles dasjenige hin, was ich vorhin über das Schimpansen- 
kind ausgeführt habe: es hat in seiner Kindheit menschenähnlichere 
Züge als später und wir werden hier mit Recht das biogenetische 
Grundgesetz Haeckels zur Anwendung bringen. 

Hier ist ferner die Stelle, eine zweite Überlegung einzuschieben. 
Wenn wir sehen, wie bei dem Schimpansenkind, abgesehen von seiner 
geringen Grösse der Gehirnschädel eine so auffallende, fast mensch- 
liche Dominanz über den Gesichtsschädel aufweist, so wird in uns 
die Beobachtung in Erinnerung gerufen, die wir bei der Mehrzahl 
der Säugetiere machen können, dass in der Embryonalzeit und noch 
kurze Zeit nach der Geburt der Gehirnschädel im Gegensatz zu den 
späteren Lebenszeiten ein deutliches Übergewicht über den Gesichts- 
schädel zeigt, d. h. dass diese Tiere in ihrer Embryonalzeit bei schon 
bestehender vollkommener Differenzierung aller einzelnen Teile in 
ihrer Kopfbildung eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit dem 
Menschen darbieten. Ich darf da vielleicht auch auf die be- 
kannten vergleichenden Abbildungen hinweisen, die Haeckel in 
‘seiner Anthropogenie gegeben hat?). Alle diese Tatsachen bedeuten 


1) J. c. S. 109. 

2) Wenige Tage vor Durchsicht des ersten Korrekturbogens lese ich in dem 
1. Heft des vor kurzem neu erschienenen Anthropologischen Anzeigers 
(Herausgeber R. Martin-München, Schweizerbartsche Verlagsbuchbandlung in 
Stuttgart) ein kurzes Referat (W. Scheidt) einer Arbeit Bolk’s aus den Ver- 


256 M. Westenböfer. [18 


doch wohl nichts anderes, als dass der Säugetierstamm insgesamt 
gewissermassen den Wegzum Grosshirn eingeschlagen hatte, dass 
diese Entwicklung aber in um so stärkerem Masse gehemmt wurde, 
je klinodonter das Gebiss, d. h. je stärker und mächtiger die Fress- 
werkzeuge wurden. Dieser Entwicklungsgang ist ja leicht zu ver- 
stehen und ist in ähnlicher Weise wiederholt schon betont worden. 
Wir wissen aus zahlreichen anderen Beispielen, dass. wenn ein Teil 
sich besonders stark entwickelt, er so viel Nahrung in Anspruch 
nehmen muss, dass andere Teile darunter leiden müssen. Die Mög- 
lichkeit einer starken Entwicklung der im Kopfe liegenden und den 
Kopf zusammensetzenden Teile war ja in der Zeit gegeben, als die 
Wirbeltiere aus dem Wasser an das Land gingen und ihre ausser- 
ordentlich blutreichen Kiemen verloren. Fast den Hauptteil des Blutes 
der Kiemenarterien, die nun zum grössten Teil zurückgebildet wurden, 
musste schon aus anatomisch-topographischen Gründen neben den zu- 
erst ja sehr einfachen Lungen der Kopf erhalten. Die grosse Hals- 
schlagader hat z. B. beim Menschen ein Kaliber, das fast demjenigen 
der Beckenschlagader entspricht, von der nicht nur die Beckeneinge- 
weide, sondern auch die unteren Extremitäten versorgt werden. Von 
der Umwelt musste es abhängen, welchen Weg die neuen Landwirbel- 
tiere, insbesondere die Säugetiere beschritten, ob das freiwerdende 
Blut zur Entfaltung der Fresswerkzeuge oder des Gehirns verwandt 
wurde. Hierauf werden wir noch zurückkommen. 

Wir haben gesehen, dass unmöglich der Mensch von einem affen- 
ähnlichen Vorfahren abstammen kann. Das Umgekehrte ist wahr- 
scheinlicher. Der in seiner drastischen Fassung ja schon längst als 
unrichtig oder besser ungenau erkannte Satz, dass der Mensch vom 
Affen abstamme, müsste daher, freilich ebenso ungenau und irre- 
führend, umgewandelt werden in den Satz, dass der Affe vom Menschen 
abstamme. In gleicher Weise wird die noch viel wichtigere und uns 


öftentlichungen der holländischen Akademie der Wissenschaften über „Das Pro- 
blem der Orthognathie“. Bolk behauptet, dass nach gewissen Unterscheidungs- 
merkmalen, die die Schädelbasis bei Ortho- und Prognathie betreffen, „alle Säuge- 
tiere im Fetalleben orthognath sind; der Zustand erhält sich jedoch nur beim 
Menschen und einigen Affen. Demnach ist die Orthognathie als fixierte fetale 
Eigenschaft anzusprechen. Die Umwandlung derselben in den prognathen Zustand 
ist phylognetisch älter‘. Die Behauptung einer fetalen Orthognathie fügt sich 
ausgezeichnet in den Rahmen meiner Ausführangen ein, ja scheint sie sogar 
zu bestätigen, insbesondere was meine Bemerkungen über das Verhältnis von 
Gehirn- und Gesichtsschädel im fetalen Leben betrifft. Der Schlusssatz des Referats 
zeigt allerdings, dass der Verfasser durchaus nicht auf dem gleichen Standpunkt 
zu stehen scheint, den ich einzunehmen für richtig halte, offenbar deswegen, weil 
er durch die traditionellen Anschauungen ebenso befangen ist, wie manche 
andere Untersucher, die schon dicht vor der richtigen Erkenntnis standen. 


9] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 257 


unmittelbar berührende Frage beleuchtet, in welchem Verhältnis 
die bisber gemachten fossilen Menschenfunde zu uns 
stehen. Niemand zweifelt heute daran, dass sie Entwicklungsstufen 
des Menschen darstellen, die der unsrigen vorausgingen, d. h. dass 
wir uns über diese diluvialen Funde hinaus weiter entwickelt hätten. 
Wir brauchen aber nur die Unterkiefer des Ehringsdorfer-, des 
Mauer- oder des Hauserschen Le Moustier-Menschen vor 
uns aufzustellen, um sofort zu sehen, dass diese Menschen mit den 
plumpen Kiefern, dem fliehenden Kinn und der Auswärts-Klinodontie 
mit Aufbiss nicht unsere Vorfahren gewesen sein können. Die Merk- 
male, die sie bieten, zeigen, dass sie über die primitive Orthodontie 
sich hinausentwickelt hatten. Sie sind zwar Menschen, aber nicht 
die Verbindungsglieder, das „Missing link“ zwischen dem „tiefer- 
stehenden“ Affen und „höherstehenden“ Menschen, sondern umgekehrt, 
sie sind Verbindungsglieder zwischen dem primitiveren einfacheren 
Menschen und dem weiterentwickelten Anthropoiden oder besser und 
richtiger, sie sind ein Zweig der wahrscheinlich aus gemeinsamer 
Wurzel stammenden menschenähnlichen Wesen, der sich nicht in der 
Richtung zum heutigen Menschen, sondern infolge anderer Umwelt- 
einwirkungen zu den Anthropoiden hin entwickelt hat. Ganz all- 
gemein wird es wohl zutreffen, dass je frühzeitiger die Trennung er- 
folgte, je abweichender die Lebensbedingungen wurden, mmer mehr anch 
eine morphologische Verschiedenheit eintreten musste. Wenn wir die 
menschenähnlichen Affen Anthropoide oder Anthropomorphe nennen, 
so steht nichts im Wege, diese fossilen Menschen allgemein als 
Theroide oder Theromorphe und speziell als „Pithekoide“, d.h. 
als Tier- bezügl. Affenähnliche zu bezeichnen. Das gilt mit grosser 
Wahrscheinlichkeit für die ganze Neanderthal-Rasse. Es ist durch- 
aus wahrscheinlich, dass diese „Theromorphen“ oder „Nachmenschen“ 
in ihrer Embryonal- und Kinderzeit viel menschenähnlichere Züge, 
insbesondere einen grösseren Gehirnschädel aufwiesen, wie das heute 
noch die Anthropoiden zeigen, aber es ist schon zweifelhaft, 
ob sie etwa Kinnknöchelchen hatten. Dagegen spricht schon die 
'auffallende Aushöhlung der Kinngegend, wie sie z. B. der Kiefer 
von Mauer zeigt. Überhaupt sind die menschlichen Rassen viel- 
leicht leichter zu begreifen, ihre Entstehung und ihre Beziehungen 
untereinander vielleicht leichter zu erforschen, wenn man sie einmal 
von dem Gesichtspunkt als fliessende Übergänge zu den tierischen 
Formen, d. h. inwieweit sie sich aus primitiven menschlichen Formen in 
theromorphe weiter entwickelthaben, betrachtet. Die Neanderthal-Rassen 
sind vielleicht vom orthodonten Kinn- und Gehirn-Menschen vernichtet 
worden, spärliche Reste vielleicht in den menschlichen Verband überge- 


258 M. Westenhöfer. [20 


gangen, so dass man hie und da noch Andeutungen an diese Rasse in unserer 
Bevölkerung antrifft. Das Vernichten und Ausrotten ist ja von jeher 
eines der wesentlichen Merkmale des Homo sapiens gewesen. Genau 
betrachtet geht dieser Vernichtungsprozess heute noch vor sich, wenn 
wir an die Australier und Neger Afrikas denken, wenn wir überhaupt 
an die Verhältnisse der weissen Europäer zu allen farbigen Rassen 
denken, die wohl alle mehr oder weniger theroid weiter entwickelt 
sind als der Weisse. Wenn dem so ist, so müsste heute noch der Aus- 
spruch Cuviers gelten: L’homme fossile n’existe pas, welchem Aus- 
spruch ich nur das Wort encore hinzufügen möchte. Das ist ja durch- 
aus nicht so unwahrscheinlich, wenn wir an die zwar zugänglichen aber 
noch unerforschten Teile der Erdrinde und an die von ewigem Schnee 
und Eis bedeckten, ehemals tropischen Polargegenden und die in den 
Fluten der Ozeane versunkenen unzugänglichen Erdteile denken. Es 
ist überhaupt misslich, und hätte schon längst zum Widerspruch auf- 
fordern müssen, dass aus so verschwindend wenigen und dazu noch 
unvollständigen Funden aus einem kleinen Teil der Erdoberfläche so 
weitgeliende und bedeutungsvolle Schlüsse über die Abstammung des 
Menschen und seine Stellung in der Natur gezogen wurden. Diese 
Schlüsse und vorgefasste Meinung (Primaten-Stellung) waren es auch, 
welche die wahre Deutung des menschlichen Kinnes bis heute un- 
möglich machten und so verhinderten, dass dieser „angulus mentalis“ 
der Angelpunkt der Anthropologie wurde, von dem aus man die Kenntnis 
vom Menschen in Bewegung hätte setzen können, wie Archimedes mit 
seinem Hebelgesetz die Erde: Ads uoi noü orð xal yy xuýow. 
Wir können also nicht behaupten, dass der Mensch das höchst- 
entwickelte Säugetier sei. Wir haben keine Berechtigung, den Menschen 
und die Menschenaffen als Gruppe der „Primaten“ an die Spitze der 
Tierwelt zu stellen. Ist doch diese Einteilung, die in allen ernsten 
naturwissenschaftlichen Werken durchgeführt ist, auch heute trotz 
der fortgeschrittenen Erkenntnis nichts anderes als der Ausdruck 
der aus der mosaischen Schöpfungsgeschichte übernommenen An- 
schauung von dem besonders gottähnlichen Wesen des Menschen 
als der „Krone der Schöpfung“. Wir müssen auf Grund der vor- 
liegenden Tatsachen uns durchaus bescheiden und ehrlich zugeben, 
dass die Mehrzahl der Säugetiere sich weiter entwickelt hat als 
wir. Es ist überhaupt nicht angängig bei der Betrachtung der 
Welt der Organismen von höherer oder niedrigerer Entwicklung zu 
sprechen; wir können nur von einfacher oder weiterfortgeschrittener 
d. h. Weiter-Entwicklung sprechen. Sie geht gewissermassen in einer 
Ebene, in der Horizontalen, nicht in der Vertikalen, vor sich, die 
uns durch die Schichten der Palaeontologie vorgetäuscht wird. Jeder 


21] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u anthropologische Bedeutung. 259 


Organismus ist für sich betrachtet gleich hoch oder gleich niedrig 
entwickelt. Jedes Werturteil aber ist hinfällig und zu verwerfen, 
schon desswegen, weil bei denselben Wesen einzelne Teile auf ein- 
facherer Stufe stehen bleiben, während andere sich weiter entwickeln 
können. Nach welchen Gesichtspunkten will man dann ein Wert- 
urteil abgeben? Die Hauptsache für jeden Organismus ist doch, dass 
er seiner Umwelt möglichst vollkommen angepasst ist, sodass ihm 
sein Bestand gewährleistet wird. Wir Menschen haben, wenn man will, das 
ganz besondere Glück gehabt, dass dank der Orthodontie und der 
geringen Entwicklung unserer Fresswerkzeuge sich das Gehirn stärker 
entwickeln konnte Wenn man uns treffend bezeichnen wollte, so 
müsste man, den Begriff des Menschen identifizieren mit dem Begriff 
Gehirntier (a potiori fit denominatio), womit freilich nicht gesagt 
ist, dass man ihn allein so nennen dürfte, denn es gibt Tiere, z.B. der 
Walfisch, dessen Gehirnentwicklung, wenigstens was Reichtum der Win- 
dungenangeht, das menschlicheübertrifft. Der Mensch istaber dasjenige 
Gehirntier, das mit Hilfe seines Gehirnes in weitestgehendem Maasse 
die Erde und die auf ihr lebenden Wesen beeinflusst, meistens noch 
dazu in einer Weise, die berechtigte Zweifel an der Nützlichkeit und 
dem Vorteil dieser Entwicklung erwecken. 

Wenn wir uns nun fragen, welchem Umstande verdankt 
der Mensch dieses Stehenbleiben seinesKiefers und seines 
Gebisses auf primitiver Stufe, so müssen wir nach den Um- 
weltbedingungen forschen, unter denen er gelebt hat und die eine 
Weiterentwicklung der Fresswerkzeuge oder mit anderen Worten, die 
die Schnauzenbildung verhindert hat. Zunächst könnte ja schon daran 
gedacht werden, dass es genügt hätte, dass die Gebirnentwicklung bei 
der Landtierwerdung so rasch und intensiv eingesetzt hätte, dass eine 
stärkere Blutversorgung der Kauwerkzeuge nicht eintreten konnte. 
Das wäre aber nur möglich gewesen, wenn die Umwelt eine solche 
relativ geringe Inanspruchnahme der Kauwerkzeuge gestattet hätte. 
Wir kommen also auch bei dieser Fragestellung wieder zur Umwelt 
als dem ausschlaggebenden Faktor. Umwelteinwirkung und Vererbung 
sind ja die beiden Pfeiler, zwischen denen das Leben gewissermassen 
pendelt. Wir müssen für den Menschenvorfahren eine Umwelt suchen, 
bei der er zwar eines Gebisses zwecks Festhaltung und Zerkleinerung 
der Nahrung bedurfte, bei der aber die Anforderungen besonders hin- 
sichtlich der Ergreifung der Beute nicht besonders grosse gewesen 
sein konnten. Die Anforderungen, die an sein Gebiss gestellt wurden, 
und die Art, wie er die Nahrung zu sich nahm, muss eine andere 
gewesen sein, wie sie etwa die Affen im Urwald hatten. (Ich lasse 
mit voller Absicht die Extremitätenfrage aus dem Spiele, deren Bear- 


260 M. Westenhöfer. [22 


beitung eine besonders reizvolle, aber sehr schwierige Aufgabe dar- 
stellt und will nur darauf hinweisen, wie reich an inneren Wider- 
sprüchen z. B. die Tbeorieen über die Gestaltung des menschlichen 
Fusses sind. Zuerst soll er ein Greiffuss gewesen sein, angepasst an 
das Baumleben, dann soll er sich an den Gang auf dem Boden an- 
gepasst haben. Dann kam das merkwürdige Wesen auf den Gedanken 
wieder auf die Bäume zu klettern, aber nun nicht mehr mit dem 
Greiffuss, sondern mit dem nun sich neu ausbildenden „Kletterfuss“‘. Und 
dann ging das Wesen wieder auf den Boden und läuft nun heute noch mit 
einer Art „Kletterfuss‘‘ herum. Den endgültigen Beweis aber aller dieser 
Theorieen hält man für erbracht, weil in Australien einige Neger (natürlich 
nur die männlichen) zur Ausübung ihres Berufes als Palmweinzapfer eine 
besondere Klettertechnik ausgebildet haben). Im Gegensatz hierzu bitteich 
Sie, sich zunächst noch an meinen Vortrag vor zwei Jahren zu erinnern. 
Damals führte ich aus, dass der Mensch ım kindlichen Zustande und bei 
einem gewissen Prozentsatz auch im erwachsenen Zustande Einrichtungen 
in seinem Blinddarm, seiner Milz und seinen Nieren hat, die auf eine 
frühere Vorfahrenstufe hinweisen (Progonismus), Einrichtungen, die 
er bezüglich der Milz und Nieren mit gewissen Gruppen von Säugetieren 
teilt, die vorwiegend am oder im Wasser leben und die man daher auch 
als Wassersäugetiere bezeichnet. Ich habe daraus den Schluss 
gezogen, dass vielleicht auch in der menschlichen Vergangenheit ein 
solches Stadium eines Wassersäugetiers vorhanden gewesen sein, ja 
noch bis in die Zeit der Menschwerdung gereicht haben könnte. 
Schon damals habe ich den Zweifel durchblicken lassen: ob es wahr- 
scheinlich sei, dass bei einer solchen Annahme der Mensch ein Urwald 
bewohnendes Klettertier gewesen wäre. Der menschliche Wurmfort- 
satz nimmt eine Mittelstellung ein zwischen der des reinen Fleisch- 
fressers und der des reinen Pflanzenfressers, in der Mehrzahl der 
Fälle ist er klein, 5—8 cm lang, so dass es eine ganze Anzahl Autoren 
gibt, die der Meinung sind, dass er sich im Zustand der Rückbildung 
befindet. Ob das in Wirklichkeit so ist, steht noch dahin. Ich 
glaube, dass wenn er wirklich rückgebildet wird, es nicht infolge 
primärer Funktionsaufhebung geschieht z. B. durch Änderung der 
Nahrung, sondern weil er beim erwachsenen Menschen infolge des 
aufrechten Ganges aus seiner ursprünglichen Lage verschoben und 
dadurch zu Erkrankungen prädisponiert wird. Der menschliche Blind- 
darm kann ebenso gut von einem Fleisch- wie Pflanzenfresser ab- 
geleitet werden. Ein solches am Wasser lebendes Säugetier würde 
sehr wohl eine Umwelt finden, die eine stärkere Entwicklung des 
Gebisses bei der relativen Weichheit der Nahrung überflüssig macht. 
Man könnte sogar noch den Umstand, dass der Mensch unbehaart ist, 


23] Das menschliche Kinn, seine Entstehung u. anthropologische Bedeutung. 261 


früher aber sicher einmal behaart war, in Analogie zu dem relativen Haar- 
schwund bei Wassersäugetieren (Wale, Robben, Nashorn, Flusspferd) 
setzen, zumal es bis jetzt keine andere plausible Erklärung gibt. Auch 
die Leichtigkeit, mit der das menschliche Unterhaut-Fettpolster zu 
starker Entwicklung gebracht werden kann, welche Fähigkeit offenbar 
schon ein vorzivilisatorischer Besitz ist (ich erinnere an die sogenannte 
Venus von Bassompiere) würde mit der genannten Auffassung in 
Einklang stehen. Auch die bisher ohne befriedigende Lösung gebliebene 
Frage der verschiedenen Pigmentierung der Menschen hängt viel- 
leicht mit diesem Problem zusammen (z. B. nicht Pigmentverlust 
des Weissen, sondern Pigmentvermehrung des Farbigen). 

Dass nach Aufhören des Wasserlebens, trotz der nun neuen Um- 
weltbedingung das Gebiss und der Kiefer sich nicht weiter zu ent- 
wickeln brauchten, das könnte unser damaliger Vorfahr der mittler- 
weile eingetretenen stärkeren Entwicklung seines Gehirns, der Ent- 
wicklung seiner Hand und dem aufrechten Gang verdanken, drei 
Dinge, die ihm die Möglichkeit gaben, seine Umwelt nach eigenem 
Willen und in bewusster Weise zu beeinflussen und sich dienst- 
bar zu machen. Solche Wasserzeiten für den’ Menschen könnten 
ganz gut zur Kreidezeit oder noch früher bestanden haben. Wenn 
wir uns daran erinnern wollen, dass die sagenhaften Erzählungen und 
bildlichen Darstellungen von Land- Wasser- und Luftdrachen, die 
sich in dem Sagenschatz aller Völker finden, noch in unserer Kinder- 
zeit in das Reich der Fabeln und Märchen verwiesen und als niemals 
wirklich existierend betrachtet wurden, sohaben uns die paläontologischen 
Forschungen eines Besseren belehrt. Die menschliche Tradition reicht 
ausserordentlich weit zurück und sicher ist, dass der Mensch nichts er- 
finden kann, was nicht wirklich existiert, auch die kühnste Phantasie ver- 
mag das nicht. Irgendwo knüpft sie an die Wirklichkeit an. So ist 
z. B. für mich die Sage von Beowulfs Kampf mit dem Drachen unter 
Wasser ein solcher Hinweis, dass der Mensch im Wasser mit solchen 
Drachen lebte und kämpfte. Haben sich die Drachen im Laufe der 
Zeit ihre Existenzberechtigung bis zur Handgreiflichkeit erkämpft, 
so wird auch für den ersten Urmenschen dieser Wasser-Existenz- 
Nachweis im Laufe der Zeit vielleicht auch noch erbracht werden: Wir 
wollen nur nicht nachlassen ihn zu suchen. Vorläufig lebt erja nur in den 
Sagen und Märchen, in der dunklen Erinnerung der heutigen Menschen. 

Meine Damen und Herrn! Sie werden leicht unterschieden haben, 
was an meiner Darstellung rein tatsächlich und was hypothetisch ist. 
Die dargestellten tatsächlichen Dinge schliessen sich eng an die vor- 
geführten Präparate an und die daraus unmittelbar gezogenen Schluss- 
folgerungen entsprechen den Gesetzen der Logik und unseren Kennt- 


262 M. Westenhöfer, Das menschliche Kinn, seine Entstehung usw. [24 


nissen über die Entwicklung von organischen Gebilden. Diese Schluss- 
folgerungen zwingen dazu, die bisherigen Anschauungen über die 
Stellung des Menschen in der Tierreihe und insbesondere seine Stellung 
zu den Anthropoiden und den bisher gemachten fossilen Funden von 
Grund aus neu zu gestalten, gewissermassen umzudrehen. Die sich 
daraus weiter ergebenden Schlüsse, insbesondere alle Bemerkungen 
über eine aquatile Lebensweise sind, wenn auch nicht ganz ohne 
triftige Gründe und Anhaltspunkte doch noch hypothetischer Natur. 
Diese Hypothese ist aber eine echte Arbeitshypothese — hat sie 
mich doch auch zu den heute vorgetragenen Beobachtungen geführt — 
und ich spreche sie nicht aus, ohne mir die Verpflichtung aufzuerlegen, 
in dieser Richtung weiter Untersuchungen anzustellen, über deren 
Ergebnis ich Ihnen in absehbarer Zeit hoffe Bericht erstatten zu 
können. Allerdings hoffe ich dabei auch, dass der eine oder andere 
Anatom oder Zoologe durch meine Darstellung angeregt, sich ver- 
anlasst sehen wird, in gleicher Richtung zu forschen, selbst wenn es 
mit der Absicht geschehen sollte, meine Beobachtungen und Schluss- 
folgerungen zu widerlegen. Irgend ein Nutzen und ein Fortschreiten 
unserer Erkenntnis’wird sich doch daraus ergeben. 


Verzeichnis der Abbildungen. 
(Erklärung im Text.) 


. Kiefer vom Hai (Prionodon oxyrhynchus). 

. Kiefer vom Dorsch (Gadus morrhua). 

. Kiefer der Riesenschlange (Python reticulatus). 

. Kiefer des Menschen (Europäer). 

. Kiefer vom Pakuü (Piaractus brachypomus). 

. Kiefer eines Gorilla. 

. Kiefer eines Macacus. 

. Kiefer vom Hund. 

. Kiefer vom Pferd. 

10. Kiefer vom Schwein 

11. Kiefer vom Chrysophrys. 

12. Kiefer von Sargus capensis. 

13. Kiefer von Macacus (Ansicht von innen und oben, 2 Zähnchen ausgefallen). 
14. Schädel eines Europäers. 

15. Schädel eines Negers. 

16. Schädel eines Macacus. 

17. Schädel eines 6 Monate alten menschlichen Foetus. 
18. Schädel eines 14 Tage alten Schimpansen. 


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Neue Untersuchungen 
des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 


Von 
Dr. Felix A. Theilhaber, Berlin-Wilmersdorf. 


Die nachfolgenden Untersuchungen legen die Wandlung der 
Geburtenvorgänge in ihrer wesenhaften Bedeutung dar. 


Das Geburtenproblem ist ein vielfältiges. Es hat Beziehungen 
und Verankerungen an biologischen, staatspolitischen, juristischen, 
ökonomischen und ethischen Bedingtheiten. Auch der Arzt als Ver- 
treter der Biologie und als Hüter der Volkshygiene hat Interessen 
an der Geburtenbewegung und gliederte deshalb die Nachwuchs- 
ziffern der Medizinalstatistik an. In dieses Interesse teilen sich der 
Sexualwissenschaftler, der Gynäkologe, der ärztliche Beschützer der 
Säuglingsfürsorge, der Kinder- und Schularzt, der Sozialhygieniker, 
selbst der Praktiker und der Hausarzt, alle die Berater der Öffent- 
lichkeit und der einzelnen Familien. Die Entwicklung der Sexual- 
vorgänge und der Familie verlangen nun im Wandel ihres Bildes eine 
neue Einstellung. 


Prinzing, der Altmeister der Medizinalstatistik, hat die Kräfte der 
Geburteneinschränkung noch nicht ermessen. Die ökonomischen Ursachen lässt 
er in seinem umfassenden Standardwerk nur für die Gegenden gelten, wo der 
Ackerbau die Wirtschaft beherrscht. Wo die Menschen von Handel und Industrie 
leben, sei die steigende und fallende Kurve der Geburten auf Sitten, Gebräuche 
und Gesetze (also auf Frühehe und Ehebeschränkungen, Verteilung von Stadt 
und Land) zurückzuführen. In der Studie „Das sterile Berlin" (Berlin 1913) 
habe ich den Nachweis versucht, die stärksten Kräfte, die die Reduktion der 
Nachwuchsziffer bewerkstelligen, in den ökonomischen Voraussetzungen zu finden. 
Max Hirsch gelangte im gleichen Jahre in seiner eingehenden Studie über 
die Geburtenfrage und die Prävention (Würzburg 1913) zu ähnlichen Schlüssen — 
unabhängig von mir. Die Mehrzahl der Statistiker und besonders die nam- 
haftesten glaubten aber die Tendenz und die Beweggründe des Gebürtenrück- 
ganges in Abrede stellen zu können. 


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3] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 265 


Jahre zurückzugehen, die Geburten sinken naturgemäss stärker in der 
Kriegszeit, um sich nach dem Kriege zuerst fast so weit einzu- 
stellen, dass die Zahl des Jahres 1913—14 erreicht wird. In den 
letzten Jahren zeigt sich ein weiteres Absinken. Diese allgemeine 
Entwicklung ist ja bekannt. Ä 


Tabelle II. 
XI. und weitere Geborene in Berlin 1881—1921. 





70 5 7920 


Nicht so sehr verbreitet ist die Kenntnis der Entwicklung der 
Eheschliessungen mit Berücksichtigung der ehelichen Geburten. Zeigt 
man die Zahl der Heiratenden, so ergibt sich, dass bereits zu Bezinn 
dieses Jahrhunderts die Ziffer der Eheschliessenden grösser ist als 
die ihres Nachwuchses. Nun muss man berücksichtigen, dass ein 
Teil der Eheschliessenden zum zweiten Male heiratet und dass ein 

18* 


266 Felix A. Theilhaber. [4 


Teil der unehelichen Geburten von Eheleuten legitimiert wird. Aber 
wenn man diese Ziffer auch berücksichtigt, so genügt der Nachwuchs 
der ehelichen längst nicht mehr die Zahl der Eheleute zu ersetzen 
und es ergibt sich noch immer die Tatsache, dass nadh dem Krieg 
ungefähr 100 Eheschliessenden nur 50 ehelich geborene gegenüber- 


Tabelle III. 
IX. Geborene in Berlin 1821—1921. 









a —— 
IT ID 
VTWITIIITT 
ITIWIITIT 
—— 
III 


Zi 


7680 di 90 9 /900 05 70 











stehen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass ein steigender 
Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt nicht zu Eheschliessung und 
überhaupt nicht zur Mutterschaft kommt. 

Die Entwicklung der ganzen Geburtenfrage ‚wird vollkommen 
klar, wenn wir die Geborenen in den einzelnen Familien durch- 
sehen. Wir verfolgen also die Kurven der Erst-, Zweit-, Dritt- 


5] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 267 


Geborenen usw. in der Bevölkerung. Wir sehen die einzelnen Phasen 
durch und verfolgen die Statistik der kinderreichen Familien. Dabei 
gewinnen wir folgenden Überblick: Seit dem Anfang der acht- 
zigerJahrebestehteinharmonischer,fastabsolutge- 
setzmässig mathematischer Prozess, der nicht nur zu 
einer Einschränkung, sondern zu einem vollkommenen Ver- 


Tabelle Iila. 
V. Geborene. 





schwinden der fünft- und mehrgeborenen führt. 
Man hätte bereits 1890 die Ziffer der 6., 7., 8., 9., 10. Geborenen 
usw. für das Jahr 1923 voraussagen können auf Grund der bereits 
bestehenden Entwicklung und hätte sich darin nicht getäuscht. Der 
Krieg spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Er gibt sich in 
unseren Bildern als eine kleine ‚Aussparung, als ein unwichtiges 
Intermezzo, das in keiner erheblichen ‚Weise die grosse Linie der 


268 | Felix A. Teilbaber. [6 


Entwicklung beeinflusst. Es ist absolut falsch, den Krieg für die 
Gestaltung der Dinge verantwortlich zu machen, deren gewaltiges 


Tabelle IV. 
Ill. Geborene. 





Sich-verändern bereits seit den achtziger Jahren deutlich und un- 
verkennbar in Erscheinung tritt. 


7] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 269 


Aus raumtechnischen Gründen sind allerdings die Kurven der 
VIL.-, VII., VI.-, sowie der 1V.-Geborenen weggelassen worden. Sie 
bieten nicht viel wesentlich anderes. 

Die kinderreiche Familie ist zum ‚Aussterben verurteilt. Sie 
ist so stark zurückgedrängt, dass wir bereits mit dem Nachwuchse 
daraus zu rechnen aufhören können. Wir lernen also, dass die 
Fruchtbarkeitsperiode der natürlichen ungehemmten Fruchtbarkeit 
etwa vom Jahre 1882-85 anfängt, ihren Charakter zu verlieren, 


Tabelle V. 
II. Geborene 1881—1922. 





85 90 II T900 O. 70 


und dass von dieser Zeit an eine Geburtenbeschränkung einsetzt, 
welche die hohe Kinderzahl immer stärker, immer zielbewusster 
ausschaltet. Sodann lernen wir eine zweite Phase der Geburten- 
entwicklung kennen: 

Mit dem Beginn der neunziger Jahre begegnen 
wir auch einer Reduktion der Dritt- und Viert- 
geborenen. Etwa ein Jahrzehnt wiederum später folgt die dritte 
Etappe der Fruchtbarkeitsentwicklung. Von der Mitte des 
ersten Jahrzehntes unseres Jahrhunderts folgt die 


270 `” Felix A. Theilhaber. [8 


Kurve der Erst- und Zweitgeborenen der übrigen 
rückläufigen Entwicklung. Bis dahin entsprach im grossen 
und ganzen die Zunahme der Erst- und Zweitgeborenen der Zunahme 
der Eheschliessungen. Von nun an beobachten wir also eine erheb- 
liche Verstärkung kinderloser Ehen. Rechneten wir vordem mit einem 


Tabelle VI. 
1. Geborene 1881—1922. 


— 





Ausfall von etwa 1200 kinderloser Ehen, so entsteht bereits eine 
von Jahr zu Jahr steigende Unsumme unfruchtbarer Ehen, die 
entweder somatisch oder intellektuell bedingt unfruchtbar bleiben. 
Der Krieg hat die Kurve der Drittgeborenen nicht wesentlich beein- 
flusst. Gegenüber 7000 Drittgeborenen der Generation, die in den 


9] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 271 


achtziger Jahren die Blüte ihrer ‚Fruchtbarkeit hatte, treffen wir 
jetzt den vierten Teil an, ‚bei den Zweitgeborenen ist es die Hälfte 
der ursprünglichen Zahl, obwohl sich trotz des Ausfalles von Männern 
im. Kriege die Zahl der zeugungsfähigen mit der Ziffer der Berliner 
Bevölkerung von 1890 die Wagschale hält. Die Erstgeborenen waren 
1920 etwa 16000, um aber im letzten Jahr bereits auf 10000 nach- 
zugeben. 

Die Entwicklung der Kurve der Erstgeborenen ist noch nicht 
ganz klar. Berücksichtigen wir die Jahre nach dem Krieg zusammen, 
so entspricht die Zahl der Erstgeborenen im Durchschnitt etwa der 
Ziffer der neunziger Jahre, wobei die in der Fruchtbarkeitsperiode 
stehende männliche Bevölkerung ungefähr der Zahl jener Zeit ent- 
spricht, bringt man die Erstgeborenen aber mit der Statistik der 
Eheschliessenden zusammen und setzt sie in ein Verhältnis mit 
den immer das Jahr vorausgegangenen Heiraten, dann wird auch 
hier ein Rückgang offenbar, der aber nicht das Ausmass der übrigen 
Geburteneinschränkung angenommen hat. Die Elft- usw. Geborenen 
sind z. B. von einem ‚Höhepunkt von knapp 1000 (recte 997, anno 
1889) Geborenen bereits auf 71 anno 1921 herabgesunken, die 
Zehntgeborenen in derselben Zeit von 700 auf 70, die Achtgeborenen 
von 1500 auf 150, die Siebtgeborenen von 2000 auf 200, die Sechst- 
geborenen von 3000 auf 350, die Fünftgeborenen von über 4000 
auf 600, die Viertgeborenen von 5500 auf 1000, die Drittgeborenen 
von 7000 auf über 2000. 

Der Rückgang vollzieht sich also ziemlich proportional. Von 
Elf- und Mehrgeborenen sehen wir 1921 nur noch 7% der früheren 
Zeit, von Zehntgeborenen 10%, etwa ebenso viele Neuntgeborenen und 
‚Acht- und Siebentgeborene, die Sechstgeborenen sind knapp 12%, die 
Fünftgeborenen 15%, die Viertgeborenen 180%, die Drittgeborenen 
3500, die Zweitgeborenen etwa 75%. Es handelt sich hier um Durch- 
schnittswerte, welche einen gewissen Überblick vermitteln sollen. 
Aber man kann daraus wohl sehen, wie bedeutungslos z. B. die 
Vielgeborenen geworden sind, von denen statt zehn durchschnittlich 
eines auf die Welt kommt. Da dieser Prozess, der bereits seit 
40 Jahren in durchaus konsequenter ‚Weise sich entwickelt, die 
Tendenz hat zur Ausschaltung der Vielgeborenen zu führen, so 
ist mit grosser Wahrscheinlichkeit zu rechnen, dass wir im Jahre 
1923 noch nicht mit dem Ende dieses Vorganges zu rechnen haben. 

Um dem Einwurf zu begegnen, als wären alle diese Dinge nur 
durch den Krieg bedingt, ist es nötig, cie Verteilung der Bevölkerung 
auf die einzelnen Jahresklassen anzusehen. Es würde den Raum zu 
sehr ausfüllen, wenn jede Jahresklasse einzeln aufgeführt würde. 


272 Felix A. Theilhaber. [10 


Dis Bevölkerung der Jahrgänge 20—40 Jahre z. B. betrug in Berlin 





männlich 244 000 310 000 370 000 404 000 308 000 
weiblich 227 000 322 000 387 000 422 000 359 000 


Infolge des Krieges steht also die männliche Bevölkerung etwa 
auf dem Status des Anfanges der neunziger Jahre, die weibliche 
auf der Höhe der Mitte dieses Jahrzehntes. 


Tabelle VII. 


Auf 100 Eheschliessungen des Vorjahres kamen I. Geburten 
in Berlin (1881—1921.) 





Eine weitere Tabelle zeigt, dass die Erstgeburten bis zum Jahre 
1905 etwa 60-—70%0 auf 100 Eheschliessende ausmachen. Im Krieg 
waren sie bis auf 400% gesunken und nach einem energischen Nach, 
ziehen der Erstgeborenen nach den Eheschliessungen gehen sie 
doch wieder 1921 auf 50 herab, so dass also nur auf jede zweite 
Eheschliessung das Jahr darauf ein Erstgeborener kommt. 

Damit lässt sich nicht leugnen, dass in den letzten zwei Jahr- 
zehnten des vorigen Jahrhunderts zuerst das Dreikindersystem, dann 
das Zweikindersystem angestrebt wurde, dass dieser Vorgang bereits 
vor dem Kriege überholt wurde durch die Ausschaltung der Frucht- 
barkeit überhaupt. Der Wille zur Ehe deckt sich nicht mehr mit dem 
Willen der Ersehnung der Familie im Sinne der Einbeziehung der 


11] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 273 


Kinder. Die Ehe wird als sexuelles Erlebnis losgelöst von der 
Zeugung. 

Die Auszählung der Geborenen nach ihrer Reihenfolge lässd einen 
weiteren wichtigen Schluss auf die Zahl der weiblichen Wesen 
überhaupt zu, die zur Mutterschaft gelangen. 


Tabelle VII. 
Bevölkerungsaufbau 1921. 


71000 
männliche 


(22000 , 
weibliche Personen 


Altersklassen 
20-30 Jahre im Durchschnih‘ 





Unsere Statistik mag einen Augenblick ausser acht lassen, wann 
die erste Schwangerschaft jedes Weibes tatsächlich stattfindet. Wir 
nehmen einmal an, dass dieses Ereignis sich mathematisch bei jedem 
‚Weibe im 24. Lebensjahr vollzöge. Nun finden wir diesen Jahr- 
gang (bei der Auszählung von 1919) mit 22000 weiblichen Wesen 
und 14682 männlichen besetzt. Da wir wissen, dass die Bevölke- 
rung seit 1919 sich nicht verminderte, sondern durch Zuzug ge- 
wachsen ist, so ist für die letzten Jahre mit keinem Ausfall an ge- 


274 Felix A. Theilhaber. [12 


schlechtsreifen Elementen zu rechnen. Gleichwohl kommen also auf 
einen Jahrgang von 22000 weiblichen Wesen und 15000 männlichen 
nur 10000 Erstgeborene, so dass wir'also von 100 weiblichen Wesen 
überhaupt nur noch bei 45% wenigstens eine Geburt erleben und von 
100 Männern 75 Väter werden. Die Kurven zeigen das enorme 
Anschwellen der Eheschliessungen nach dem Krieg und die Zu- 
nahme der Erstgeburten, die deren natürliche Folge sind. Wenu 
trotz der Heiratsepidemie die ins Wanken geratene Kurve der Zweit- 
geborenen den Rückgang der Vorkriegszeit weiter fortsetzt, danu 
ist dieser Rückgang keine vorübergehende zufällige Erscheinung. 


Tabelle IX. 
Geburtenfolge inden Jahren 1885. 1910 u 1921. 


Entwicklung der Geburten in Berlin 
Auf 100 Ersigeberene hamen 
m Jahre: 


H 
/ 
/ 
/ 





Militza- 


CI wes 1910 D /327 





Man kann die Zweitgeborenen auf die Zahl der geschlossenen Ehen 
oder noch besser ebenso auf die Altersbesetzung, auf einen Durch- 
schnittsjahrgang der Bevölkerung beziehen und bemerkt, dass von 
über 22000 weiblichen Wesen heute nur 6000 oder 27% zu einer 
zweiten Geburt kommen oder auf die 15000: Väter bezogen 40%. 

In den siebziger Jahren kamen auf 100 Erstgeborene ca. W 
Zweitgeborene, 1910 waren es noch 77, dann sinkt die Zahl und 
fällt so stark, dass jetzt 44 Zweitgeborene je 100 Erstgeborenen 
gegenüberstehen. 

Schon während des Krieges ergab sich, dass die Geburten von 
den Ereignissen stärker als die Eheschliessungen beeinflusst wurden. 
Die Heiratsziffern sanken in den Kriegsjahren auf 3/, der Vorkriegs- 


13] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 275 


zeit, die Geburten aber auf durchschnittlich die Hälfte. Wir haben 
die Zahlen für die Zeiten um und nach dem Siebenjährigen Krieg 
und für die napoleonischen Kämpfe und für 1870/71. Selbst in 
diesen Kriegszeiten war die Geburtenziffer dreimal so hoch wie jetzt 
in Friedenszeiten. Der Kontrast zwischen der Zahl der Heiratenden 
und der Ziffer ihres Nachwuchses tritt trotz aller Fehlerquellen 
überall stark hervor. 


Tabelle X. 
Statistik der unehelichen Geburten in Berlin 1881—1923. 





Die Ehe ist eine Form des sexuellen Bündnisses zwischen Mann 
und Frau, dem früher ständige Geburten entsprangen. Von diesem 
primitiven Typus hat sich die Berliner Bevölkerung freigemacht. 

Sogar die Unverheirateten haben sich von dem Zwang 
losgelöst. Die Zahl der unverheirateten Mädchen war früher eine 
nicht allzu bedeutende. Der Männermangel lässt heute 22000 Mäd- 
chen nur 15000 Männer in den Altersklassen, die am Krieg beteiligt 


276 Felix A. Theilbaber. [14 


waren, gegenüberstehen. Wirtschaftliche Not verstärit die Unmög- 
lichkeit der Eheschliessung resp. die späte Heirat. 

Die voreheliche „Sittlichkeit“ hat infolge der Berufstätigkeit 
des Mädchens, der Erlebnisse während des Krieges und der voll- 
kommenen weiblichen Emanzipation sicher nicht zu einer stärkeren 
sexuellen Abstinenz des Mädchens geführt. 

1923 begegnen wir 3000 unehelichen Geburten gegenüber 
10000 vor dem Krieg. 

Früher trug die uneheliche Schwangerschaft noch einen wesent- 
. lichen Prozentsatz zur ‚Volksvermehrung bei. Die Kurve der un- 
ehelichen Geburten dürfte zeigen, dass auch hier eine noch radikaler 
wirkende Umwälzung, die aber erst seit den letzten Jahren vor dem 
Kriege und nach demselben wesentlich in die Erscheinung tritt: 
Die Abkehr von der Gebärtätigkeit. Die älteren Ehefrauen, die am 
meisten Kinder geboren hatten, kamen also zuerst zu dieser Er- 
kenntnis, die dann allmählich auf die jüngeren Ehefrauen übergriff 
und nun bei den Jugendlichen, bei den Arbeiterinnen, den Dienst- 
mädchen und allen denen, die das Hauptkontingent der unehelichen 
Mutter stellten, um sich greift. Diese Einschränkung der unehe- 
lichen Geburten erfolgt vermutlich durch die Abtreibung, da gerade 
der Geschlechtsverkehr der Jugendlichen noch nicht in weitem 
Masse durch Präventivmittel vor der Empfängnis sich schützt. Es 
bleibt also nur Zunahme der ‚Abtreibung als Schlüssel der Erklärung 
übrig. Bei der wie es scheint Gesetzmässigkeit der Entwicklung ist 
mit einem weiteren bedeutsamen Nachlassen der unehelichen Ge- 
burten in den nächsten Jahren zu rechnen. 

Es bleibt also die Entwicklung der Geburten auf die Frucht- 
barkeit der Ehen beschränkt. Die überschüssigen Jahrgänge, die im 
Krieg künstlich von der Heirat zurückgehalten wurden, haben all- 
mählich die äussere Möglichkeit der Heirat finden können. Obwohl 
jede Jahresklasse der 20er Jahrgänge nur mit 15 000 jungen Männern 
besetzt war, trafen wir in den ersten Friedensjahren 20 —25 000 
Ehekandidaten jeden Geschlechts. Damit ist der Überschuß der 
Unverheirateten erschöpft! 

Die letzte Entwicklung lässt bereits diese starke Heiratsbeteili- 
gung abflauen. Es kommt keine Reservearmee aus dem Krieg mehr 
in Frage und die wirtschaftliche ‚Not, die in Konstanz zu treten 
scheint, veranlasst wahrscheinlich sogar eine Einschränkung der 
Familienbildung. 

In aller Mund sind ja die ökonomischen Probleme der Woh- 
nungsnot, Arbeitslosigkeit, des mangelhaften Verdienstes. Die 
Menschen kommen nun zu einer Art von Selbsthilfe. Sie nehmen 


15] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozestes in Berlin. 277 


eine weitgehende Beschränkung des unfruchtbaren Teiles der Be- 
völkerung, die nur zehrend am Volksvermögen Anteil nimmt, vor. 
Damit vollzieht sich eine bisher noch nirgends beobachtete starke 
Umstellung der Bevölkerung. 


Wir haben jetzt einen Altersaufbau, wobei die Klassen 20 bis 
40 Jahre ca. je 38—40 000 Individuen zählen, dagegen ist der Nach- 
wuchs 1923: 19000, also nach ‘Abzug der Säuglingssterblichkeit 
nicht einmal die Hälfte. 


Es entspricht also der geschlechtsreifen Bevölkerung nur etwa 
50% Nachkommenschaft. Diese Berechnung stimmt überein mit den 
von mir getroffenen Bestimmungen, wonach eine Geburtenquote 
von 38 auf 1000 gebärfähige Frauen das Einkindersystem; repäsentiert. 

Es kamen um diese Form der Statistik hier anzuführen auf je 1000 gebär- 
fähige Frauen in Preussen. 

| auf dem Lande in Berlin 


1876:80 183 149 
1891/95 182 106 
1900/10 169 82 
1913/21 40 
1923 35 


Die deutliche Umwälzung, die sich in der ganzen Fruchtbarkeitsentwick- 
lung verfolgen lässt, erstreckt sich ferner auch auf das Alter der Gebärenden. 
Es bekamen unter 100 Müttern ihr 1. Kind 


im Jahre 1914 1921 


20 jährig 6 4 
—25 , 43 35 
—30 „ 34 38 

35 „ 11 17 
—40 „ 4 5 
—45 , 1 1 


Die Verschiebung der Zeit, in der die Berlinerinnen Mütter wurden, ist auf- 
fallend. 1914 war die Hälfte bis 25 Jahre alt, 1921 sind es knapp 40% und 
statt der 160% über 30 jährigen sind es 23%0 geworden. Es ist recht lehrreich 
zu sehen, wie spät heute die Frauen ihr erstes Kind bekommen. Das zweite 
Kind wurde geboren von Müttern: 


das 3. Kind: 

1914 1921 1914 1921 

— 20 jährig 2 1 0,4 — 
—25 ,„ = 83 24 20 10 
—30 , 40 40 40 32 
—3 e 18 25 24 37 
—40 ` 6 9 12 16 
usw. 1 2 4 T 


Der Turnus der Schwangerschaften war ehedem der, dass in 
der ersten Hälfte der zwanziger Jahre das erste Kind kam, wenige 


278 Felix A. Theilhaber, [16 


Jahre nachher das zweite und das dritte so, dass vor dem 30. Jahr 
das dritte Kind schon da war. 

Jetzt stellt sich das dritte Kind in der Hauptsache bei der 
schon in den dreissiger Jahren befindlichen Mutter ein. Die Zeit- 
räume der Schwangerschaften sind mehr auseinandergezogen, an 
Stelle der früher häufigen jugendlichen Mutter treten die älteren 
Mütter selbst bei den ersten Kindern. 

Das werktätige Mädchen heiratet eben spät und empfängt noch 
später. Diese banale Weisheit gibt sich auch in dieser Statistik 
wieder. Also nicht nur die berühmte Scheu vor dem Kinde ver- 
anlasst den Geburtenausfall, sondern, wie wir völlig beweiskräftig 
dartun können, eine rein soziologisch - wirtschaftliche Erscheinung. 
Sie verringert die Zahl der unproduktiven Bevölkerung. Bei dem 
Bevölkerungsaufbau von früher kamen durch- 
schnittlich zwei Kinder auf einen Erwachsenen, 
während jetzt das gerade Gegenteil sich durchzu- 
setzen begonnen hat. Wir haben mit 2 Erwachsenen auf 
1 Kind zu rechnen. Die Anpassung des Menschen an die Wirtschafts- 
verhältnisse gibt sich auch darin kund. 

Die Untersuchungen, die an der bäuerlichen Bevölkerung ge- 
macht wurden, ergaben, dass überall wo Kinder eine wirtschaft- 
liche Stärkung bedeuteten, nirgends das Zweikindersystem in Er- 
scheinung trat. Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass gerade 
bei den wohlhabenden Bauern, deren Kinder keine billige Arbeits- 
kraft für die Eltern darstellen, ebenfalls vielfach schon früher die 
Geburtenbeschränkung wahrgenommen wurde. 

Der Drang der Bevölkerung nach einem besseren Leben lässt die 
Einsparung heute im Haushalt besonders stark in der Kinderbeschrän- 
kung sich zeigen. Nachteile sind damit frąglos verbunden. Aber in einer 
Zeit, in der den breiten Massen tatsächlich die Mittel für die gute 
Aufzucht der Kinder, für die Nahrung, Bekleidung, Wohngelegenheit 
usw. fehlen, ist diese Beschränkung eine vor allem segensreiche. 
Selbst wenn der Arzt sich dagegen stemmt, kann diese Entwicklung 
nicht mehr aufgehalten werden. Sie wird in der, wie hier gezeigt 
wurde, geraden Linie der Entwicklung weitergehen und keine noch 
so wohlgemeinte Vorstellungen werden die Ereignisse beeinflussen. 

Wenn die Fruchtbarkeit der Berliner Bevölkerung um die Hälfte 
niedriger ist als die französische, so bedeutet das noca nicht einen 
50o niedrigeren Tiefstand der Moral. Es ist meines Erachtens nach 
nur ein Beweis für die schwere wirtschaftliche Beeinträchtigung 
der Eltern durch den Kinder,segen“ und die zur Durchführung 
gelangende ökonomische Rationalisierung, d. h. Regelung der Ge- 





17] Neue Untersuchungen des Geburtenauflösungsprozesses in Berlin. 279 


burten durch den Verstand. Bei dem heissen Verlangen vieler 
Frauen, ihre Bestimmung als Mutter zu erfüllen, gibt sich der 
Niedergang der Geburten als ein Kennzeichen unserer Gesellschafts- 
ordnung. Letzten Endes aber dürfte er ein Glück bedeuten, in 
einer Zeit, in der das Menschenleben wertlos und die Zahl der 
Menschen vielfach als zu gross erscheint. In dem Niedergang der 
Geburten liegt so eine gesunde Reaktion gegen die stellenweise 
unsinnige und unbeaufsichtigte Überfüllung der Welt, der Länder 
und der Grossstädte. Der Zukunft wird es vorbehalten sein, aus 
dieser Entwicklung die kulturfördernden Tendenzen zu erfass:n und 
sie vorzuspannen den Bestrebungen, die das Glück der Menschen 


propagieren. 


Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 3. 19 





Bibliographie. 


Zusammengestellt von 


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II. Wissenschaftliche Rundschau. 
Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 





Ist der Arzt zur temporären ovariellen Sterilisierung 
berechtigt? (Erwiderung an Herrn Professor Dr. L. von Haber- 
land", Von Alfred Greil, Innsbruck. Sippel berichtet jüngst 
im Zentralblatte für Gynäkologie über erfolgreiche Überpflanzung von 
Eierstöcken in die Bauchdecken von Frauen im Alter von 20—30 Jahren 
mit unregelmässiger Eireifung, Unterentwicklung der Gebärmutter und 
dadurch bedingter Unfruchtbarkeit. Der eingepflanzte Eierstock wirkt 
auf den gesamten Stoffwechsel und insbesondere den Umsatz der Ovarien 
so fördernd, dass sich die monatlichen Blutungen regelmässig einstellen 
und sogar Schwängerung möglich wird. — Durch Einpflanzung von 
Ovarien in Hündinnen wurde Brunst und Laktation hervorgerufen. — 
Haberlandt erzielte durch Implantation von  Ovarien trächtiger 
Kaninchen in die Rückenmuskulatur ruhender, nicht trächtiger Stall- 
tiere eine vorübergehende Hemmung der Eireifung, eine temporäre 
Sterilisierung — soferne die Implantate anwuchsen. Wurden die 
Ovarien resorbiert, so war keinerlei Hemmung zu beobachten. Die 
Implantation von Ovarien nicht trächtiger Tiere beeinträchtigte das 
Follikelwachstum in keiner Weise. — Wie sind nun diese einander 
scheinbar vollkommen widersprechenden Befunde mit einander in Ein- 
klang zu bringen? 


Allen drei Fällen ist gemeinsam die totale Vernichtung sämtlicher 
Oozyten, die diffuse, ausnahmslose Follikeldegeneration (Atresie). Die 
enorme Konzentrationsarbeit und Energiespeicherung dieser Riesen- 
mastzellen wird durch die Einschränkung und Aufhebung der Blut- 
versorgung jählings unterbrochen. Auch die in promotorischen Wechsel- 
wirkungen hochgezüchtete nahverwandte Granulosa wird derart mitbe- 
schädigt, dass sie der Dekomposition verfällt. Die in reicher Fülle 
entstehenden, hochwertigen Abbauprodukte der atresierenden Follikel 
sind nun der umschliessenden, vaskularisierten Interna — der durch 
eindringende Kapillaren und Bindegewebe abgebröckelten Aussenlage 
des einheitlichen Stammfollikels — also den nächsten Verwandten der 
Granulosa ein zustandseigenes gewebseigenes Nutzstoffangebot von 
höchstem Energieinhalte. Die reaktive Hypertrophie der Interna 


1) Wissenschaftliche Rundschau des Bandes IX. dieses Archives: Haberlandt: 
Ab- und Entartung der Konstitution durch Gestationstoxikosen und Keimesfürsorge. 


310 Wissenschaftliche Rundschau. [2 


erreicht namentlich beim Kaninchen enorme Grade, so dass die implan- 
tierten Ovarien eine ebenso üppige Entfaltung und Wuchermast des 
interstitiellen Gewebes aufweisen wie jenes der Hoden in der Umge- 
bung käsiger Tuberkel, von Chorionepitheliomen, bei schweren toxischen 
und vorzeitigen Altersabiotrophien, marantischen Greisen, ganz herab- 
gekommenen Malaria- und Neoplasmenkachektikern. Zahlreiche Analo- 
gien an anderen Organen und Geweben liessen sich anführen. — Ein 
guter Teil der Abbauprodukte gelangt jedoch in den Kreislauf und 
bildet ein rapide, ganz unvermittelt einsetzende Vermehrung der 
physiologischen, andauernd eingemischten Abbauquote der andauernden 
Follikelatresie. Kommen doch von den zur Zeit der Geburt, spätestens 
im zweiten Lebensjahre vollzähligen 400000 Oozyten der menschlichen 
Ovarien im ganzen Lebenslaufe höchstens 400 zur Vollreife und Aus- 
pellung; alle übrigen minderwertigen oder ungünstig gelagerten unter- 
liegen der Konkurrenz und ihre hochwertigen Abbauprodukte (Autolysate) 
wirken vor allem in qualitativ elektiver Hinsicht promotorisch auf den 
Gesamtorganismus; allerdings nicht in so hohem Grade, wie die elektiven, 
höchstwertige Baustoffe der Nukleoproteidsynthese betreffenden, den 
Stoffverkehr qualitativ beeinflussenden Ansprüche des höchstaviden 
Follikelapparates.. Wir bestreiten auf das entschiedenste aus andern- 
orts ausführlich dargelegten Gründen die Richtigkeit der Theorie der 
inneren Sekretion, welche auf massloser Überschätzung der Beweis- 
kraft des einseitig, ohne zureichende Gegenprobe ausgeführten Experi- 
mentes aufgebaut ist. Noch nie sind durch Injektionen die Erschei- 
nungen der Frühkastrationen aufgehalten worden, welche durch den 
Ausfall der elektiv wirkenden Ansprüche der wachsenden Gonaden an 
den Aufnahmstätten, des Emporschraubens der Umlaufquote höchst- 
wertiger Baumaterialien entstehen. Diese werden bei Pubescenten 
auch anderen, minder aviden Formationen angeboten, welche ohne 
Gonaden niemals so hohe Anforderungen stellen können. Sind die 
Gonaden entfernt, dann beherrschen andere ausbaufähige, in ihrer 
Eigenart elektiv wirkende Formationen (Skelett, Gehörn) die Situation. 
Wir bestreiten es ferner auf das entschiedenste, dass mystische Inkrete 
des Corpus luteum die Menstruation hervorrufen. Es erscheint sonach 
vollkommen begreiflich, dass durch die in ganz exorbitanter Weise 
eingemischten Autolysate der implantierten Ovarien ganz unvermittelt 
eine hochwertige Abbauquote den eigenen Ovarien und dem übrigen 
Soma, allen Stoffwechsel- und hömopoetischen Organen zugeführt wird 
und dadurch die Fertilität gesteigert, die vita sexualis durch solche 
Reizkörperbehandlung bei Amenorrhoischen günstig beeinflusst werden 
kann. 


Werden nun einem ruhenden, nicht brünstigen Kaninchen (Stall- 
tiere) die Ovarien eines trächtigen Tieres, welches nach dem Wurfe 
am sichersten zu belegen gewesen wäre, einverleibt, heilen sie ein, so wird 
der promotorische Effekt der Abbauquote durch einen gegenwirkenden 
Faktor vereitelt. Bei den Deziduaten wird durch die Abscheidung 
sämtlicher nicht vaskularisierter Zotten- und Wurzelwerkabschnitte 
der Plazenta, durch solche Einmischung eines zähflüssigen nutzstof- 
reichen Nährlösungsgemisches der gesamte mütterliche Organismus im 
Sinne einer komplexen, einschleichenden Reizkörperbehandlung aktiviert, 


3) Wissenschaftliche Rundschau. 311 


in erhöhten Umsatz versetzt, so dass er den wachsenden Ansprüchen 
des Keimlings geradezu zuvorkommen kann. Von dieser Leistung- 
steigerung werden vor allem die Ovarien, die Nebennieren und Mammae 
betroffen, doch auch sämtliche Stoffwechselorgane, der gesamte hämo- 
poetische Apparat. Daher die überaus mächtige Entfaltung des 
interstitiellen Apparates. Sind nun solche Ovarien überpflanzt und 
angeheilt, so tritt die auch noch durch die umfassende Follikelatresie 
lokal geförderte, mächtig hypertrophierte Interna der vergrösserten 
Oearien mit den wirtseigenen Ovarien in ein Konkurrenzverhältnis. 
Niemals sind sämtliche Organe des Körpers zugleich und gleichmässig 
in Aktion, niemals sind sämtliche Kapillaren gleichweit geöffnet, sondern 
der weitaus überwiegende Teil verengt und geschlossen (Plenus venter 
non studet libenter, usw.). Derartige Balanceverschiebungen kommen 
jederzeit und allenthalben vor und sind dem Physiologen etwas durch- 
aus Geläufiges. Was sich hier im grossen zwischen den Ovarien, ferner 
zwischen paarigen Organen abspielt, besteht in kleinerem Massstabe, 
aber nach demselben Prinzipe zwischen den Follikeln und dem Corpus 
luteum, der nach der Auspellung der Eizelle plötzlich entspannten, 
unter günstigere Stoffwechselbedingungen gelangten und daher reaktiv 
so mächtig hypertrophierenden Granulosa. Werden die Corpora lutea 
eines Meerschweinchenovars entfernt, so reifen die Follikel rascher 
heran; gelänge es, eine ebenso grosse Zahl ausser den bereits sich 
mästenden zur glatten Einheilung und reichlicher andauernder Gefäss- 
versorgung zu bringen, so würde das Follikelwachstum sicherlich noch 
mehr gehemmt werden als unter den physiologischen Bedingungen. 
Es wäre doch widersinnig, wollten wir diese einfache Sachlage dahin 
missdeuten, dass wir sagen: die Corpora lutea menstruationis, also die 
‚nach der Auspellung der Oozyte entspannt hypertrophierte Granulosa : 
hemme durch ihre mystischen Inkrete die nachbarlichen, gewebseigenen 
Follikel. Eine der Oozyte nahverwandte, zu ihr bei gewissen Wirbel- 
losen in ganz strengen genealogischen Verhältnissen stehende Zell- 
schichte, welche nur durch die Ansprüche der von ihr umschlossenen 
Oocyte zu so eigenartiger Leistungsteigerung und Abänderung gebracht 
wurde, also eine ganz typische Nährzellschichte wird doch nicht nun 
plötzlich durch Hormonproduktion die Nachbarfollikel schädigen! Das 
widerspräche doch durchaus dem Sinne des Wortes „Hormone“. Wir 
führen also den Erfolg des Haberlandt’schen Experimentes auf eine 
Stoffwechselkonkurrenz, auf die Etablierung ganz neuer, höchst avider 
Gefässprovinzen zurück. Bei der histologischen Untersuchung der 
Wirtsovarien würde Haberlandt sicherlich keine Steigerung der 
physiologischen Follikelatresie gefunden haben. Wahrscheinlich hat 
die Resorption der nicht eingeheilten Ovarıen den Umsatz der wirts- 
eigenen Ovarien gesteigert, die Fertilität erhöht. Es würde zuweit, 
führen, an dieser Stelle auch noch die übrigen zwingenden Analogiebe- 
weise anzuführen, die an anderen Orten ausführlich dargelegt sind}). 

Haberlandt führt das Ergebnis seines Versuches auf eine Inkre- 
tion der implantierten Ovarien zurück und von dieser, unseres Er- 


2) Gefährdung der Konstitution durch temporäre Sterilisierung des geschlechts- 
reifen Weibes. Zeitschr. f. d. ges. Anatomie Il. Zeitschr. f. Konstitutionslehre, 
Bd. X/3. 1924. 


Arehiv für Frauenkunde. Bd. X. H.3. 21 


312 Wissenschaftliche Rundschau. [4 


achtens durchaus irrigen und unphysiologischen Annahme ausgehend 
wandte Haberlandt in der Fortführung seiner Versuche statt des 
Implantationsverfahrens die Injektion von Extrakten an. Die Extrakte 
aus gelben Körpern nicht trächtiger Kühe ergaben keine befriedigenden 
Resultate. Erst als die Firma Merck sich herbeiliess, die Eierstöcke 
trächtiger Kühe aufzusammeln und den bekannten z. T. unkontrollier- 
baren Zertrümmerungs-, Macerations-, Digestions- und Extraktverfahren 
zu unterziehen, mit welchen von demselben Rohmaterial Präparate von 
diametral verschiedener Wirkung hergestellt werden können — so dass 
das einzig Spezifische die Fabrik ist, aus der sie stammen (Zondek, 
Gley) — gelang die temporäre Sterilisierung — unter Verwendung ganz 
exorbitant hoher Dosen. Nach dem Arndt-Schulzschen Gesetze reizen 
alle Agentien, auch Gifte in kleinen Dosen, fördern in mittleren, hemmen, 
lähmen in grossen und zerstören in maximalen, das physiologische 
Mass weitaus übersteigenden Mengen einverleibt. Während Martin 
und Puppel durch vorteilhafte Dosierung von Plazentaroptonen bei 
Infantilen die Ausbildung des Uterus und die Menstruation fördern, 
auch die Wehentätigkeit helfend und heilend beeinflussen konnten, 
brachte Haberlandt es fertig, dass die Weibchen mit eingezogenen, 
fest angezogenen Beinen in der Käfigecke sassen, allen hartnäckigen 
Annäherungsversuchen der Männchen widerstrebten oder schreiende 
Laute ausstiessen. Um dieses Resultat der temporären angeblich hor- 
monalen, in Wirklichkeit aber intoxikatorischen Sterilisierung zu er- 
reichen waren z B. in 25 Tagen 100, in 15 Tagen 60, in 13 Tagen 80 
Ampullen Luteinextrakt, oder in 15 Tagen 100 Ampullen subkutan 
und 71 Ampullen enteral, innerhalb 30 Tagen 188 Ampullen subkutan und 
10 Ampullen enteral des Placentaroptons nötig (Rockefellerstiftung). 
Nach dem Abklingen dieser offensichtlichen Vergiftungserscheinungen 
waren die Tiere wieder belegungsfähig, warfen aber weniger (und z.T. 
kümmerliche) Junge als die unter den artgemässen physiologischen 
Bedingungen belassenen Stalltiere. 


Ich habe die Anwendung dieses Verfahrens auf das menschliche 
Weib in den beiden von Haberlandt einer abfälligen Kritik unter- 
zogenen Abhandlungen als ein Verbrechen gegen keimungsfähiges Leben 
bezeichnet und Gesetze gegen solche das ärztliche Prestige nicht minder 
als die Probandin schädigenden Eingriffe verlangt, die bereits dem 
grossen Publikum vorgeschlagen wurden. Es ist infolge der dadurch 
ermöglichten Skrupellosigkeit des Kongresses nicht abzusehen, dass 
von den vollzählig vorhandenen Oozyten einzelne nicht ganz abgetötete, 
in ihrer so gewaltigen und vielseitigen Konzentrationsarbeit bei der 
Eimast beeinträchtigt und geschädigt ausgepellt und befruchtet werden. 
Unterbergers Mahnruf wird durch keinerlei Beschwichtigungsversuche 
zu entkräften sein. Ich stehe nicht an, die Anwendung der ovariellen 
temporären Sterilisierung durch Einverleibung toxisch wirkender Mengen 
von Lutein- und Plazentarpräparaten als gänzlich unstatthaft zu be- 
zeichnen. 


') Luteinreaktion und Menstruation. Archiv für Gynäkologie, Bd. 121. 


5] Wissenschaftliche Rundschau. 313 


Stimmen des Auslandes zur Abort- und Bevölkerungs- 
frage. In Nr. 1 des Zentralblattes für Gynäkologie, 1924 hat 
v. Jaschke den Vorschlag gemacht, zur Einschränkung des kriminellen 
Abortes das Strafgesetz dahin abzuändern, dass die Frau, welche die 
Abtreibung an sich vornehmen lässt, straffrei bleibt, die abtreibende 
Person aber schwer bestraft werden soll. Der Vorschlag hat zum 
Teil freudigen Widerhall gefunden, denn jeder wird eine Einschränkung 
der Abtreibung wünschen. Ein anderer Vorschlag wurde von 
Reifferscheid (Zentralbl. f. Gynäkol. 1924, Nr. 9) gemacht, man solle 
die Verhandlungen wegen Fruchtabtreibung den Geschworenen entziehen 
und den Strafkammern überweisen. Gegen den Vorschlag v. Jaschkes 
hat Lönne-Gelsenkirchen (Zentralbl. f. Gynäkol. 1924, Nr. 25) einge- 
wendet, der Vorschlag würde zu einer Vermehrung der Selbstabtreibungen 
führen, da die Selbstabtreibung dann straflos sei. L. geht auf die 
Methoden der Selbstabtreibung ein, führt ziemlich überzeugend aus, 
dass die Fälle der Selbstabtreibung schon jetzt sehr zahlreich seien 
und dann ungeheuer zunehmen müssten. Die Selbstabtreibung sei 
aber noch gesundheitsgefährlicher für die Mutter als die durch meist 
sachkundigere Personen, die als Lohnabtreiber fungieren, das Leben 
der Mutter stelle besonders in kinderreichen Familien aber einen 
wesentlich grösseren sozialen Wert dar als das Leben des einzelnen 
Kindes. Die Abtreibungen würden aber ferner in der überwiegenden 
Mehrzahl von Mehrgebärenden vorgenommen. Daher sei der Vorschlag 
v. Jaschkes unzweckmässig. Der Vorschlag wurde dann nochmals 
vonDreyer und Eberhard unterstützt, von Max Hirsch (Zentralbl. 
f. Gynäkol. 1924, Nr. 9) dagegen als unzweckmässig bezeichnet. Es 
müsse gleiches Recht für alle gelten, von diesem fundamentalen Rechts- 
grundsatz könne der Gesetzgeber nicht abgehen. Er empfiehlt unter 
Hinweis auf seine beiden Monographien über die Fruchtabtreibung eine 
Gesetzesbestimmung ähnlich der österreichischen und schweizerischen, 
wonach derjenige, welcher eine von ihm geschwängerte Person der 
Not und Hilfslosigkeit preisgibt, mit Gefängnis bestraft wird. Dadurch 
würden wohl dıe durch Not veranlassten Abtreibungen verringert, nicht 
allerdings diejenigen, welche zur Vermeidung von gesellschaftlicher 
Achtung und Schande geschehen. 


Auch mm den Vereinigten Staaten ist die Abortfrage zu einem 
Problem geworden. Auch dort nimmt man an, dass 80—85°/, der 
Aborte auf Verheiratete kommen. In der Sitzung der Geburtshilflichen 
Gesellschaft von Philadelphia v. 12. Okt. 1923 führte nun Schumann 
(Am. J. of Obst. and Gyn. 1924, Aprilheft) aus, dass, da die gesetz- 
lichen, religiösen, erzieherischen und hygienischen Mittel bis jetzt 
nichts gegen den kriminellen Abort vermocht hätten, man der Allge- 
meinheit in gewissem Masse die Benutzung der antikonzeptionellen 
Mittel erleichtern solle. Norris wendete dagegen ein, dass kein Ge- 
setz der Welt dieser Regulierung gewachsen sei. Niemand könne 
sagen, wie gross die Familie sein solle, wann die Antikonzeption 
einsetzen solle. Er glaubt, je weniger die Arzte mit dem Problem 
zu tun hätten, desto besser sei es. John G. Clark, der berühmte 
Radiotherapeut der Cleveland Clinic, stimmt zu, dass es äusserst 
schwierig sei, die kriminellen Aborte einzuschränken. Dr. Goodell 


21* 


314 Wissenschaftliche Rundschau. 16 


habe gesagt, es gäbe zwei Dinge, wofür eine Frau durch die Hölle 
gehe, das eine, ein Kind zu bekommen, wenn sie steril sei, das andere, 
der Frucht ledig zu werden, wenn sie die Folgen fürchte. Auf der 
einen Seite bedeute die Belastung mit wiederholten Kindbetten für 
einzelne Frauen eine Grausamkeit, auf der andern sei Antikonzeption 
ein Menschenmord. Eine Verbreiterung der antikonzeptionellen Mittel, 
die doch in den breiteren Volksschichten nicht zur Anwendung kommen 
könnten, sei deshalb bedeutungslos und in den besser situierten 
Schichten, deren Fortpflanzung für die Allgemeinheit besonders erwünscht 
sei, sei deren Kenntnis doch vorhanden. Er fürchte, dass heute, wo 
Gespräche über sexuelle Dinge fast zum Tischgespräch geworden seien, 
die antikonzeptionellen Mittel das unmoralische Leben junger Leute 
fördern würden. Das Übel des kriminellen Abortes habe durch alle 
Zeiten existiert und werde weiter existieren, es könne nur durch 
gesetzgeberische Massnahmen eingeschränkt werden. 

Brooke M. Anspach weist darauf hin, dass besonders in den 
oberen Gesellschaftsschichten die Geburtenzahl nieder sei. Die Geburten- 
zahl bei den eingeborenen Amerikanern sei sehr viel niederer als bei 
den Zugewanderten. Es sei Pflicht der Intelligenten, sich zu vermehren, 
die Gesetzgebung aber sei machtlos. Im Schlusswort bedauert Schu- 
mann, dass die Diskussion zu keinem Ergebnis geführt habe. 

Diese Diskussion, welche mit bemerkenswerter Objektivität geführt 
wurde, ist auch für uns in Deutschland nicht ohne Interesse, sie 
beweist, wie vorsichtig man mit gesetzgeberischen Massnahmen sein 
muss und sie beweist auch, dass selbst in dem wirtschaftlich so hoch- 
stehenden Amerika das Problem sehr aktuell ist. 

März 1923 hielt Geo. W. Kosmak, der Schriftleiter des Am. 
Journ. of Obst and Gyn. in der New Yorker Geburtshilflichen Gesell- 
schaft einen Vortrag, wonach beschlossen wurde, die Frage der Geburten- 
kontrolle (Birth control) in das Programm unter die soziologischen 
Fragen aufzunehmen. Es wurde ein Fragebogen an alle Mitglieder 
der Gesellschaft verschickt, der 22 Fragen enthielt. Davon war Frage I: 
Soll die Frage der „birth control“ von der New Yorker Geburts- 
hilflichen Gesellschaft wissenschaftlich ventiliert werden, und zwar 
mit Rücksicht auf den allgemeinen Wunsch nach einem Ausspruch 
der autoritativen medizinischen Gesellschaften darüber? Die Frage 
wurde von 25 mit Ja, von 15 mit Nein und von 13 gar nicht beant- 
wortet. Auf die weiteren Fragen, ob die Gesellschaft selbst solche 
Studien unternehmen soll, ob die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft 
ihren Patienten nötigenfalls Anweisungen bezüglich Konzeptionsregu- 
lierung geben, welche Methoden sie hierbei empfehlen usw., sei 
hier, da es zu weit führen würde, nicht näher eingegangen. Jeden- 
falls waren es im ganzen 68°/, der Mitglieder der New Yorker Geburts- 
hilflichen Gesellschaft, welche sich für ein Studium der Fragen durch 
die Gesellschaft aussprachen. In der Diskussion sagte Dickinson, der 
für 1924 zum Präsidenten aller Vereinigungen der Geburtshilflich-gynä- 
kologischen Gesellschaften gewählt ist, dass er sich als Vorsitzender 
der ärztlichen Gruppe des Komitees für mütterliche Wohlfahrt von 
New York mit der Frage beschäftigt habe. Dieses Komitee habe 
Schritte getan, um zu veranlassen, dass in geeigneten Fällen durch 





7) Wissenschaftliche Rundschau. 315 


die grossen Kliniken Brooklyn Hospital, Long Island Coll. Hosp., 
Sloane Hosp. usw. antikonzeptionelle Mittel abgegeben werden. Es 
sollte jedesmal der Name des verordnenden Arztes dabei angegeben 
werden. Er empfiehlt weiter, wissenschaftliches Material zu sammeln, 
sich von Propaganda aber fern zu halten. Das Komitee, das unter seiner 
Leitung steht, studiert 1. Fruchtbarkeits- und Sterilitätsfragen, ins- 
besondere die Frage der Verhütung der Konzeption; 2. es sammelt Fälle 
dieser Art, um die Frage praktisch zu prüfen, es unterhält ein Bureau 
zur Bearbeitung der Fragen, aber nicht, um Anweisungen zu geben. 
Auf der einen Seite bestehe bei vielen hervorragenden Männern und 
Frauen die Ansicht, dass die Frage für wissenschaftliche Beurteilung 
noch nicht reif sei, auf der andern Seite sei die Empfindung allge- 
mein, dass „etwas geschehen müsse“, was im Einklang mit den sozialen 
sowie den Interessen der Familien sei. Dickinson führt dann noch 
aus, dass in Holland vielfach eine weiche Gummikappe für die Vagina 
angewandt werde, in England werde die Zervixkappe empfohlen. Er 
meint, dass weder Holland noch England die Mittel für Nachunter- 
suchungen hätten, und dass es daher die Aufgabe der Amerikaner 
sei, die Frage zu studieren. 

Die sozialpolitisch und medizinisch gleich interessanten Verhand- 
lungen sollten im vorstehenden wiedergegeben werden, ohne dass 
Stellung dazu genommen wurde. Die Verhandlungen zeigen, dass die 
angesehensten Körperschaften und Korporationsvorstände der Ver- 
einigten Staaten mit anerkennenswertem Freimut an die geheime 
Wunde rühren, welche in vielen Familien an deren Mark frisst und 
vor der auch der Arzt das Auge schliesst. 


Robert Kuhn-Karlsruhe. 


Biologie, Physiologie, Pathologie. Klarheit der Begriffe 
“ und Einigkeit in ihrer Anwendung sind Vorbedingung wissenschaftlichen 
Denkens und Meinungsaustausches. Begriffsbestimmung ist erstens 
Aufgabe der Erkenntniskritik. Begriffsbestimmung beruht zweitens 
auf Übereinkunft. Es muss aber verlangt werden, dass diese den 
Gesetzen der Logik und der Sprachbildung gerecht wird. 


Erkenntniskritische Auseinandersetzungen sind nicht jedermanns 
Sache, werden meist nicht gelesen und daher wenig beachtet. Sie 
sind Vorbedingung jeder Begrifisbestimmung, können aber hinter den 
Kulissen der literarischen Bühne erledigt werden. 


Mit dem Worte „Biologie“ wird Missbrauch getrieben und 
Verwirrung gestiftet. Biologie ist die Lehre von den Lebens- 
erscheinungen im allgemeinen. Die Biologie beschreibt, analysiert 
und erklärt. Sie bedient sich der physikalischen, chemischen und 
psychologischen Betrachtungsweisen und Arbeitsmittel. Mit Hilfe 
des Versuches setzt sie Bedingungen und beobachtet und erklärt 
Ablauf und Ergebnis. Sie stellt auch Versuchsbedingungen, welche 
von den normalen abweichen, und beobachtet und erklärt ihre 
Wirkungen. Sie umfasst also auch die Pathologie. Biologie begreift 
demnach die Gesamtheit aller Lebenserscheinungen, der Formen 


316 Wissenschaftliche Rundschau. [8 


und Funktionen des Organischen. Es ist mithin falsch, von „bio- 
logischen und seelischen Ursachen“, von „Lebens- und Krankheits- 
problemen“, von „Biologie und Pathologie“ usw. zu sprechen. 


Physiologie ist die Lehre von den Verrichtungen der Organismen, 
ihrer Organe und Gewebe, ihren Beziehungen zueinander und zum 
gesamten Körper und ihren Veränderungen aus inneren zum Gesamt- 
betriebe notwendig gehörenden Ursachen. 


Pathologie ist die Lehre von den krankhaften Veränderungen 
der Organismen, ihrer Formen und Verrichtungen, aus äusseren nicht 
notwendig zum Betriebe gehörenden Ursachen. 

Physiologie und Pathologie sind also Teile der Biologie. Es ist 
demnach, um ein Beispiel für viele zu nennen, falsch von „Biologie 
und Pathologie des Weibes“ zu reden. Es muss entweder heissen: 
„Biologie des Weibes“ oder „Physiologie und Pathologie des Weibes“. 

Die medizinische Ausdrucksweise muss zur Genauigkeit Virchow- 
scher Begriffs- und Wortbildung zurückkehren. 

| Max Hirsch-Berlin. 


— ——— — 1 





II. Kritiken. 


Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an 
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden. 


Halban und Seitz: Biologie und Pathologie des Weibes. 5. u. 6. Lieferung. 
Verlag von, Urban und Schwarzenberg, Berlin-Wien 1924. 


Guthmann gibt auf fast 200 Seiten ein Lehrbuch der physikalischen Heil- 
methoden. Er bespricht, und fast stets ab ovo, die Mechanotherapie (Massage, 
ihre Technik, Wirkung, Indikation und Gegenindikation; die Belastungstherapie 
inklusive Metreuryse; die Stauung und Saugbehandlung; Gymnastik nach Wir- 
kungsweise, Technik und Anwendung, Pessarbehandlung); ferner die Elektro- 
therapie, wobei den physikalischen, chemischen und biologisch-physiologischen 
Grundlagen eine lange Auseinandersetzung gewidmet ist. Es folgt ein Kapitel 
über Thermotherapie mit Technik, Indikationen und Gegenindikationen. Eine 
80 Seiten lange Abhandlung über Lichttberapie beschliesst die Arbeit, bei deren 
Lektüre man jeden Augenblick die Hand des sachverständigen Phyeikers fühlte, 
die aber in ihrer bebaglichen Breite und Ausführlichkeit das überschreitet, was 
man sonst in einem Handbuch eines Spezialfaches zu finden pflegt. 

Inhaltlich ausgezeichnet und trotzdem von angenehmer Kürze ist die Arbeit 
von Laqueur: Bäder und Wasserbehandlung in der Gynäkologie. 
Sie gibt eine vorzügliche Einführung in die Hydrotherapie und Balneologie. Auch 
sie gibt einen guten Überblick über die physiologischen Grundlagen und die Technik 
der Anwendung. 

Den Höhepunkt dieser Lieferung bezeichnet aber die Walthardsche Arbeit 
über Psychotherapie, „Historisches“, die Ätiologie der psychisch bedingten Neu- 
rosen im weiblichen Genitale, die Psychotherapie der psychisch bedingten Neu- 
rosen im weiblichen Genitale, Psychodiagnostik psychoneurotischer Störungen im 
weiblichen Genitale und ihrer psychischen Ursachen, die Behandlung der psychisch 
bedingten Organneurosen von der psychischen Seite her (kausale Psychotherapie) 
sind die Kapitelüberschriften. Besonders der erste Abschnitt ist in seiner gedrängten 
Kürze klassisch zu nennen. Das Kapitel Atiologie krönt der Satz: Egozen- 
trismus neben konstitutionellen Ursachen ist „die wesentliche Ursache der psychisch 
bedingten Neurosen. Diese Erkenntnis ist um so wichtiger, weil Egonzentrismus 
psychisch-therapeutisch greifbar ist“. Die Arbeit schliesst mit dem Gedanken: 
Die letzte und vornehmste Aufgabe des Psychotherpeuten ist die Prophylaxe 
psychisch bedingter Organneurosen im Sinne der Loslösung vom Egonzentrismus. 
Walthards Beitrag ist hervorragend gelungen und gewährt eine Fülle von 
Anregungen. 

Die 6. Lieferung bringt an erster Stelle das gross angelegte Werk Aschners: 
Beziehungen der Drüsen mit innerer Sekretion zum weiblichen 
Genitale. Gerade das Aufblüben der Konstitutionslehre musste der Lehre von 
der inneren Sekretion neue Impulse geben. Aschners Arbeit ist eine Fundgrube, in 
der man alles findet, was die letzten Jahre auf diesem Gebiet neues gebracht haben; 


318 Kritiken. [2 


dass Aschner an dieser Forschung selbst sehr beteiligt war, gibt seiner Arbeit 
das Gepräge. Einem physiologischen Teil folgt ein pathologischer. „Allgemeines 
über die Therapie der Blutdrüsenerkrankungen* bildet den Schluss. Aschner 
vertritt überall den Standpunkt, dass die lokalisierte Krankheitsbetrachtung ein 
überwundener Fehler sei; so kommt er z. B. zu dem in seiner Allgemeinheit 
übertriebenen Satz: „Operative und radiotherapeutische Kastration, aber auch 
eine zum Ausbleiben der Menstruation führende Uterusextirpation bei Myom oder 
Metropatbia haemorrhagica, bezw. ovariellen Blutungen, darf nicht mehr gemacht 
werden“. Wenn er dann zum Schluss schreibt: „Ich verfüge über eine grosse 
Anzahl von Beobachtungen, wo einzig und allein die Regelung der Verdauung die 
unregelmässigen Uterusblutungen beseitigt hat, so wird diese Erfahrung wohl kaum 
von vielen Seiten geteilt werden. Ist es doch ein Unterschied, ob man durch 
Regelung des Stoffwechsels einem Leiden vorbeugt, oder ob man ein bestebendes 
heilen will; glaubt er wirklich durch Aderlass oder Purgieren die Blutungen 
beseitigen zu können, die durch ein submuköses Myom bedingt sind? 

Trotz dieser Einseitigkeiten in der Darstellung liest sich Aschners Arbeit 
sehr gut und ist ein vollwertiger Beitrag des hervorragend schönen Werkes von 
Halban und Seitz. 

Kellers vergleichende Physiologie der weiblichen Sexual- 
organe bei den Säugetieren beschreibt ein Grenzgebiet, das dem dafür 
Interessierten vielerlei Lesenswertes gibt, aber doch nur sehr bedingt notwendig 
ist für ein Handbuch der Pathologie und Biologie des menschlichen Weibes. 

Um so freudiger ist es zu begrüssen, dass ein Forscher wie Lenz einen 
Beitrag: Erblichkeitslehre und Rassenhygiene (Eugenik) beigesteuert 
hat. Er erörtert zuerst die allgemeinsten Gesetze der Erblichkeit. Kapitel II ist 
der Bestimmung des Geschlechts und dem Geschlechtsverhältnis gewidmet. Wenn 
Lenz dabei zu Ratschlägen über das Verhalten bei der Kohabitation zum Zweck 
einer Kuabengeburt kommt, so haftet diesen Vorschlägen reichlich viel Theoretisches 
an. Praktisch erprobt scheint seine Methode noch nicht zu sein. „Erbänderung 
und Auslese“ ist des III. Kapitels Überschrift, „Die Bedeutung der Erbanlagen für 
Krankheit und Sterblichkeit“ (soweit sie für den Frauenarzt von besonderer Bedeu- 
tung sind) die des IV. Hier bespricht Lenz auch die erbliche Bedingtheit der 
Konstitution. Dies Kapitel ist im übrigen sehr reichhaltig; es berührt die Frage 
der Geburt, der Stillschwäche, Krebs und vieles andere. „Die Ursachen der Ent- 
artung* ist der Inbalt des V. Abschnittes, „Fragen der Rassenhygiene (Eugenik)“ 
bilden den Schlussteil. Dieser Abschnitt scheint mir im Vergleich zu den ersten 
Kapiteln etwas zu kurz gekommen. Fragen wichtigster Art, Eheberatung, Ver. 
wandtenehe, künstliche Verhütung der Befruchtung, künstliche Fehlgeburt: jede 
einzelne Frage wert, ein Buch zu füllen, werden auf einigen kurzen Seiten abge- 
handelt. Trotz dieser Einschränkung liest sich Lenz’ Beitrag sehr gut, er gibt 
grade dem Frauenarzt, für den viele der genauer erörterten Fragen Neuland, 
sind, eine gute Übersicht über die die Erblichkeitslehre erfüllenden Probleme. 

Baisch’ „Hygiene und Diätetik des Weibes in und ausserhalb 
der Schwangerschaft“ bringt dem Erfahrenen nichts Neues. Das mag z. T. 
an dem Thema liegen, z. T. liegt es aber auch an der Darstellung, der die persön- 
licbe Note fehlt. Das tritt besonders in den ersten Abschnitten hervor, die die 
Kindheit bebandeln. Hier hätte ein erfahrener Kinderarzt (man denke an Czernys 
Schriften) zur Bearbeitung herangezogen werden sollen. 

Ganz anders wirkt der Beitrag von Max Hirsch, „Frauenarbeit und 
Frauenkrankheiten‘“. Hirsch betont, dass hier zum ersten Male in einem 
Handbuch der Frauenkrankheiten ein Kapitel Sozialgynäkologie erscheint. 
Er dehnt seine Arbeit aber weiter aus; so wird es zu einer „Frauenkunde" in 
bewusstem Gegensatz gegen das Organspezislistentum, das genitale Symptome 
behandelt und darüber andere Organe, konstitutionelle und psychische Grundleiden 
und soziale Faktoren vernachlässigt. Sollten, so will es dem Referenten erscheinen 
nicht beide Richtungen ihre Berechtigung haben? 


3] Kritiken. 319 


Frauenarbeit mindert mehr noch als die Fortpflanzungsfähigkeit den Fort. 
pflanzungs willen, besonders die ausserhäusliche Arbeit der Frau. 

Hirsch teilt seinen Beitrag in 2 grosse Teile: Allgemeine und spezielle 
Pathologie. Er geht den Ursachen der weiblichen Berufskrankheiten nach. Nicht 
die Arbeit an sich schädigt, sondern der Arbeitsort, die Arbeitszeit, die Intensität 
der Arbeit und die Einförmigkeit der Arbeitsverrichtung. Dazu treten chemische 
und toxische Einwirkung gewerblicher Gifte und Betriebsunfälle. Schwere Folgen 
hat das anhaltende Stehen bei der Arbeit. Anschauliche Kurven von Mortalität 
und Morbidität geben ein Bild dieser Schädlichkeiten. 

Besondere Bedeutung hat die Berufstätigkeit der Kinder und Jugendlichen. 
Sie führt zu Entwicklungshemmungen lokaler und allgemeiner Art. Berufsarbeit 
erzeugt oft die durch bestimmte Konstitutionen bedingte Krankheitsbereit- 
schaft, besonders bei den sog. Asthenischen. Das wirksamste Mittel hier- 
gegen ist das Verbot jeglicher Berufsarbeit von Kindern und Jugendlichen bis 
zum 18. oder 20. Jahre, Ausschliessung aller weiblichen Arbeiterinnen aus Betrieben 
mit gewerblichen Giften, Arbeitsverbot für schwangere und nährende Frauen. Die 
Konstitutionspathologie verspricht für die Erkenntnis und Behandlung der Ent- 
wicklungshemmungen mancherlei Fortschritte. Ähnliches wie für die körperliche 
Überanstrengung gilt auch für die geistige, der besonders Schülerinnen und Stu- 
dentinnen ausgesetzt sind. Interessant ist Hirsch’ Behauptung, dass unter allen 
Frauenberufen keine Beschäftigung der Frauengesundheit so wenig Gefahren bringt 
wie Hochschulstudium und akademischer Beruf. 

Der Einfluss der Berufsarbeit auf Beckenbildung und Allgemeinerkrankung 
wird genauer besprochen und die Resultate statistisch belegt; der Einfluss der 
Fabrik- und Heimarbeit miteinander verglichen. Aus allem geht hervor, dass die 
Lohnarbeit der Fran nur ein Notbehelf ist, der aufgegeben wird, sobald sich 
Gelegenheit zur Heirat findet. So kommt die Heimarbeit einem Volk und Staat 
erhaltenden Interesse entgegen. Heimarbeit kann aber nur unter der Voraussetzung 
ihrer gründlichen Sanierung gelten gelassen werden; denn der Einfluss auf die 
Fortpflanzungsleistung ist ein sehr grosser; dabei spielen gewerbliche Gifte eine 
grosse Rolle. 

Die spezielle Pathologie weist auf die Schädigungen der einzelnen Organe 
hin (Senkungen, Endometritis, Kolitis bedingt durch jahrelanges Arbeiten im Sitzen) 
und behandelt zuletzt die gewerblichen Vergiftungen (Arsen, Quecksilber, Schwefel- 
kohlenstoff, Benzol usw.) 

Aus diesem kurzen Referat der bedeutungsvollen Arbeit sieht man, wieviel 
die Sozialgynäkologie schon geleistet hat und wie berechtigt die Aufnahme dieses 
Arbeitszweiges in ein Handbuch der Biologie des Weibes ist. 

E. Sachs, Berlin-Lankwitz. 


Garre, Küttner, Lexer: Handbuch der praktischen Chirurgie. 5. um- 
gearbeitete Auflage. 6 Bände. Dritter Band: Chirurgie des Bauches. Mit 166 
teils farbigen Abbildungen. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart 1923. 


Dieses Handbuch stellt nun schon lange das notwendige Rüstzeug des Chirurgen 
dar. Die neue Auflage hat alles Wesentliche den neuen Forschungen und Erfahrungen 
entnommen. Die Chirurgie der Bauchdecken ist von Steinthal, die des Peritoneums 
von Körte bearbeitet. Dieser hat auch das Allgemeine über Bauchoperationen 
sowie die Chirurgie des Pankreas geschrieben. Die Chirurgie des Magen und 
Darms, welche in der ersten Auflage von Mikulicz bearbeitet war,ist von Kausch 
übernommen und weitergeführt worden. Garre hat die Klinik des Ileus und die 
Leber, Capelle den Wurmfortsatz und die Gallenwege, Graser die Hernien, 
Heinecke die Milz, A. Borchard Mastdarm und After abgehandelt. 

Diese kurze Angabe gibt ein Bild vom Inhalt, die Namen der Autoren spannen 
die Erwartungen hoch, sie werden ganz erfüllt. Das Bildmaterial hätte vielfach 
reicher und anschaulicher sein können. Manche Abbildungen, insbesondere von 
Instrumenten, sind überflüssig. Max Hirsch, Berlin. 


320 Kritiken. [4 


L.R.Grote: Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Dritter Band. 

Verlag von Felix Meiner, Leipzig 1924. 

Dieser neue Band greift über die Grenzen Deutschlands hinüber nach Amerika, 
Holland, Schweden und Ungarn. Hemmeter, Tendeloo, Petren und Koranyi 
stellen ihr Leben und Wirken dar. Ausser ihnen treten von deutschen Forschern 
Lorenz, Payr und Rehn auf den Plan. Was Grundsätzliches über diese neuartige 
Geschichtsschreibung zu sagen ist, kann nicht mit jedem neuen Bande widerholt 
werden. Meine Stellung dazu ist unverändert wie Bd. 9 S. 104 des Archivs dar- 
getan. Dagegen darf ich mit Befriedigung sagen, dass meine Freude an dem 
Unternehmen gefestigt und gewachsen ist. Wir gewinnen eine medizinische Welt 
voll warmen Lebens. Nicht historische Tatsachen werden aufgereiht. Die Werk- 
stätten menschlichen Geisteslebens erschliessen sich, wir sehen die Gedanken 
wissenschaftlicher Forschung in Ursprung, Entwicklung und Auswirkung. Ver- 
gangenheit, (iegenwart und Zukunft fluten ineinander. So erleben wir Geschichte 
der Medizin. Max Hirsch, Berlin. 


Arnold Huber: Theodor Billroth in Zürich 1860—1867, Züricher Medizin- 
geschichtliche Abhandlungen. Band I, herausgegeben von G. A. Wehrli und 
und N.G.Sigerist. Verlag Seldwyla, Zürich 1924. 


Mit diesem Bande tritt eine neue medizingeschichtliche Reihe in die Literatur, 
deren Rahmen über Volksmedizin, lokale und Kulturgeschichte und allgemeine 
Medizingeschichte weit ausgespannt ist. Dieser erste Band gibt einen Einblick 
in die von den Herausgebern erfolgte Methodik geschichtlicher Forschung und 
Darstellung. Sie ist nicht historische Aufreihung, sondern stoffliche Gliederung 
und dokumentarische Darbietung bringen das Gegenständliche dem Leser un- 
mittelbar nahe, versetzen ihn fühlbar und teilnehmend in die Lebensverhältnisse 
des Gelehrten, dem die Darstellung gilt, und geben so einen Eindruck auch 
von seiner Menschlichkeit. Wie wertvoll, ja unerlässlich das ist, dafür gibt es 
keinen eindringlicheren Beweis als das Leben und Wirken Billroths. Dieser 
Stern erster Ordnung am Himmel der Chirurgie war in seinen menschlichen Eigen- 
schaften ebenso preis- wie liebenswert. Die meisten seiner Fakultätsgenossen 
turmhoch überragend, war er weit entfernt von jeder autoritären Abschliessung 
und Überheblichkeit, von jeder kleingeistigen und engherzigen Fakultätszünftelei. 
In freimütiger Anerkennung dessen, was ausserhalb der Universitäten an wissen- 
schaftlichen Leistungen vollbracht wird, hat er sogar für ordentliche Lehrstühle 
Forscher vorgeschlagen, die nicht seine Assistenten, nicht Dozenten und nicht 
Professoren waren. Gerechtigkeitsgefühl, Ebrlichkeit und Mut der Überzeugung 
waren die Grundzüge seines Wesens. So ist er vorbildlich als Arzt, Lehrer und 
Vertreter seines Faches im Lehrkörper der Universität. 


Max Hirsch, Berlin. 


Alexander Elster: Sozialbiologie. Bevölkerungswissenschaft und Ge- 
sellschaftshygiene.e Achter Band des Handbuchs der Wirtschafte- und 
Sozialwissenschaften. Herausgegeben von Adolf Günther und Gerhard 
Kessler. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig 1923. 


In diesem Werke wird zum ersten Male von sozialwissenschaftlicher Seite 
der Versuch gemacht, Sozialwissenschaft und Biologie zu vereinigen. Dass dieser 
Versuch nur von einem Autor unternommen werden kann, welcher auf beiden 
Gebieten über ein erhebliches Mass von Wissen und Verständnis verfügt, ver- 
steht sich von selbst. Und man muss Elster zugestehen, dass er diese Vor- 
aussetzung in hohem Masse erfüllt. Fussend auf der Rechts- und Staatswissen- 
schaft, ist er mehr als ein Jahrzehnt beflissen, die Forschungswege der sozialen 
Hygiene mitzugeben und über die Ergebnisse in sozialpolitischen und Zeitschriften 
der öffentlichen Hygiene zusammenfassend und kritisch zu berichten. Erfüllt er 
somit auch die obengenannte Forderung nach Wissen und Verständnis, so darf 


5] Kritiken. 321 


doch nicht versäumt werden zu sagen, dass Wissen und Verständnis, durch 
Literaturstudium erworben, für die Darstellung biologischer Probleme nicht 
genügen. Die Biologie ist eine Wissenschaft, die durch Lektüre nicht gelernt 
werden kann. Wer sich darauf beschränkt, oder wie der Verfasser durch seinen 


Bildungsgang darauf beschränkt worden ist, der bleibt der Biologie gegenüber ' 


immer Laie, sei seine Belesenheit und sein Wissen noch so bedeutend. Die 
Biologie muss Gegenstand eigenen Studiums sein, sie kann nur an den Quellen 
der Forschung gelernt ‘werden, sie muss erfabren und erlebt sein. So wird der 
geisteswissenschaftliche Soziologe wohl imstande sein, die biologischen Tatsachen, 
soweit sie erhärteter Bestand der Lebenslehre sind, an die Sozialwissenschaft 
heranzubringen. Dagegen wird es ihm nicht gelingen, die umstrittenen Probleme 
der Biologie in ihrer Tiefe zu erfassen und in warmer Anschaulichkeit dar- 
zustellen. So vortrefflich Elster das erstere gelungen ist, so sehr leidet seine 
Darstellung an der zu zweit gerügten Schwäche. 

Als das Kernstück der Verständigung zwischen Sozialökonomen und Biologen 
bezeichnet Elster die qualitative Bevölkerungspolitik, deren theoretische Grund- 
legung er im zweiten Teile seines Werkes zu geben sich bemüht. An dieser Stelle 
wird jener oben gekennzeichnete Zwiespalt offenbar. Die sozialwissenschaftlichen 
Darbietungen sind vortrefflich, die naturwissenschaftlichen allzu blutleer und zu 
sehr mit dem Werkzeug des Philosophen durchgearbeitet. Das bedeutet für das 
Gesamtwerk wie gesagt einen Mangel. Gleichwohl aber wird der nur natur- 
wissenschaftlich eingestellte Biologe aus diesen sozialbiologischen Auseinander- 
setzungen mit Gewinn hervorgehen. Besonders empfohlen seien ihm die Ab- 
schnitte über Eugenese, Eutanasie und Eubiotik, über Körperkonstitution und 
Klassenbildung, über Familie, Rasse und Nation, über die sozial betonte Krankheit. 

Wenn heute die qualitative Bevölkerungspolitik als einzig mögliche und 
selbstverständliche zur Erörterung steht, so darf der Gegensatz zu der vor dem 
Kriege von den meisten und sogenannten massgeblichen Stellen betriebenen 
quantitativen Revölkerungspolitik nicht vergessen werden. Sie erhielt ihre 
amtliche Beglaubigung durch den Gesetzentwurf vom Jahre 1919, welcher die 
Quantität der Bevölkerung in die erste Reihe rückte und mit Polizeivorschriften 
und Strafgesetzen die Fortpflanzung der Menschen überwachen und den Zeugungs- 
willen lenken zu können glaubte. Aber es ist ein Irrtum anzunehmen, dass 
erst die politischen Ereignisse des letzten Dezenniums der Eugenetik den Weg 
geebnet hätten. Dieser Weg wäre auch obne die trüben Erfahrungen der letzten 
Jahre gegangen worden, weil er in der geraden Linie der wissenschaftlichen und 
kulturellen Entwicklung der Vorkriegszeit liegt. Die von Max Hirsch im 
Jahre 1913 in die Frauenheilkunde eingeführte eugenetische Indikation 
(Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, Band 38) betraf nicht nur, 
wie man es irrtümlich so oft sagen hört, die Unterbrechung der Schwangerschaft. 
Diese spielte im Gegenteil in Hirschs erster grundlegender Publikation eine 
ganz untergeordnete Rolle und wurde erst später von ihm unter eugenetischen 
Gesichtepunkten eingehender behandelt. Die erste Publikation von Hirsch 
behandelte alle Teile des gsburtshilflich-gynäkologischen Denkens und Handelns 
unter eugenetischen Gesichtspunkten — die Tubargravidität, Myomoperationen, 
Strahlenbehandlung, Kaiserschnitt, Sterilisierung, fakultative Sterilität —, fügte 
der gesamten Indikationsstellung die eugenetische Komponente ein und gab so 
den ersten Anstoss dazu, dass die Eugenese in das medizinische Denken Eingang 
fand. Heute steht, wie Elster mit Recht sagt, die gesamte Bevölkerungs- 
politik unter eugenetisch-sozialbygienischer Problem-Einstellung. 

Lobenswert ist das Bestreben Elsters, Sozialbiologie und Sozialhygiene 
nicht zu einseitig körperlich aufzufassen und eine Vernachlässigung der geistigen 
Kräfte der menschlichen Persönlichkeit zu meiden. Deswegen besonders er- 
scheint mir Elsters sozialwissenschaftliche Betrachtung auch für den Biologen, 
welcher Bevölkerungswissenschaft und Gesellschaftshygiene treibt, beachtens- 
und lesenswert. Max Hirsch-Berlin. 


- 


322 Kritiken. [6 


Robert Rössle: Wachstum und Altern. Zur 'Pbysiologie und Pathologie 
der postfötalen Entwicklung. Verlag von J. F. Bergmann, München 1923. 


Es ist Verlag und Autor Dank zu wissen, dass die beiden schon 1917 in 
den Ergebnissen der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie er- 
' schienenen Teile, nämlich die Pbysiologie und Pathologie des Wachstums und 
des Alterns, in eine Monographie zusammengefasst worden sind. Mit diesem 
Werke ist ein tiefer Einblick in die inneren Entwicklungsbedingungen des 
Organismus gegeben. Das natürliche Wachstum und seine krankhaften Störungen, 
die Physiologie und Pathologie des Alterns, werden so eingehend betrachtet, dass der 
Arzt wie der Sozialhygieniker den wissenschaftlichen Boden erhält, auf dem sie in 
Gemeinschaft mit dem Vererbungsforscher, dem Pädiater und Pädagogen die mensch- 
liche Aufzuchtlehre begründen können. Max Hirsch-Berlin. 


v. Krafft-Ebing, „Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichti- 
gung der konträren Sexualempfindung“. 16. und 17. vollständig um. 
gearbeitete Auflage von Albert Moll, Stuttgart. Ferdinand Enke, 1924. 


Wer das Werden und Wachsen der Sexualwissenschaft bis zum gegenwärtigen 
Wissensniveau nur einigermassen kennt, steht voll staunender Bewunderung vor 
der genialen Intuition, mit der einst Krafft-Elbing in kühnem Wurf ein neues 
Wissensgebiet mit einem Schlage aufrollte, in scharf umrissene Sondergruppen 
gliederte und Grundbegriffe von so unerhörter Prägnanz hämmerte, dass noch heute 
jeder Versuch, sie durch andere, angeblich treffendere zu ersetzen, scheitert. An dieser 
Einschätzung der wissenschaftlichen Tat schmälert es nichts, dass inzwischen 
manch neuer Baustein hinzukam und manche l,ehrmeinung sich von Grund aus 
änderte. Solch in des Wortes eigenster Bedeutung klassisch gewordenes Werk 
auch nach dem Tode des Verfassers lebensfähig zu erhalten, ist eine dankenswerte, 
wenn auch ungemein schwierige Aufgabe. Die Pietät gegen den Autor gebietet 
dem Herausgeber möglichste Wahruug des Gegebenen, die Wissensfortschritte 
der Zwischenzeit zwingen zur Umformung und Neuschaffung. Mit bewunderns- 
werter Anpassungsfähigkeit ist Moll dieser Aufgabe gerecht geworden, wie schwer 
ihm auch manchmal die Arbeit geworden sein mag. Trotz pietätvoller Wahrung 
der Grundanlage ist das Werk zu doppeltem Umfang gewachsen. Fast unauffällig 
schmiegt sich das ungewöhnliche Erfabrungsgewissen Molls dem Grundwerk ein, 
ergänzt eine neue prägnante Kasuistik wirksam das vorhandeue Lehrmaterial, 
verschmilzt eine kritische Beherrschung der neuzeitlichen Wandlungen im Wissen 
und Verstehen mit dem Grundstoff. Daneben aber zeigen völlig neue Kapitel, 
wo Moll es für nötighielt, veraltete, unbrauchbar gewordene Anschauungen von 
Grund auf zu ändern. (Erweiterung des Grundstoffs von 6 auf 22 Kapitel). 

Bei der pietätvollen Wahrung der Grundanordnung mussten unvermeidbar 
mannigfache Schwierigkeiten in der Verteilung des Stoffes entstehen. Recht oft 
sieht Moll sich gezwungen, Tatsachen an einer Stelle nur andeutend zu erwähnen 
und für deren Begründung auf andere Buchstellen zu verweisen, ein Verfabren, 
das, durch die etwas unmodern gewordene Grundanordnung erzwungen, die 
Schwierigkeiten zeigt und mitunter störend wirkt. Sehr erfreulich berührt die 
überaus vorsichtige Stellungnahme des Herausgebers zu der neuzeitlichen Lehre 
von der inneren Sekretion und hier besonders von dem Wesen und dem Einfluss 
der „Pubertätsdrüse*. Hier hätte ein Hinweis auf die bedeutungsschweren 
Untersuchungen Stieves, Tiedjes, Bendas, Berblingers die Zweifel an 
Steinachs Ausdeutungen gezeigt und den Enthusiasmus über diese Lehren ge- 
dämpft. Es ist eben noch immer strittig, ob die Zwischenzellen wirklich die 
haben, Funktion dieihnen Steinach zuweist, weiter strittig, wieweit die Keimzellen 
allein zur Erzeugung sekundärer Geschlechtscharaktere genügen, endlich strittig, ob 
nicht die innersekretorische Tätigkeit der Keimdrüsen fast während des ganzen 
intra- und extrauterinen Lebens stattfindet, wie Referent in seinem Lehrbuch 
„Das Geschlechtsleben des Menschen“ nachdrücklichst betont. 


7) Kritiken. 323 


Nicht klar ist Referent die Stellung des Herausgebers zur geltenden Lehre 
von der Anaethesia und Hypaesthesia sexualis geworden. Moll urteilt hier nur 
nach dem Fehlen des Kontrektationstriebes, wo jede Neigung zum Weibe fehlt, 
und nach dem Fehlen des Detumeszenztriebes, wo jeder Antrieb zu einem Ge- 
schlechtsakt trots Neigung zu einem Weibe fehlt. Von diesen Anästhesieformen 
will er „die sogenannte sexuelle Anästhesie (Dyspareunie)" der Frau trennen, 
und diese, um Verwechselungen vorzubeugen, als „genitale Anästhesie“ bezeichnen. 
Wie Moll nun das Fehlen des Wollustgefühls und seiner Endsteigerung, des 
Orgasmus, bezeichnen will, geht aus der Darstellung nicht klar hervor. Hier 
scheint es mir aber bei dem bestehenden Wirrwarr der Nomenklatur doch besser 
und der Lebenserfahrung entsprechender, wenn man sich stets vor Augen hält, 
dass Geschlechtstrieb, Wollustgefühl, Orgasmus zeitlich und örtlich getrennte 
Empfindungsphasen sind, von denen jede allein fehlen kann. Schon ein Ausfall 
wirkt bedenklich auf die Geschlechtskraft und noch stärker, wenn gleichzeitig 
eine zweite Phase ausfällt. Gewiss ist es beachtenswert, dass Moll das vollständige 
Fehlen des Geschlechtstriebes (Anerotismus), also den an sich schon höchst zweifel- 
haften, während des ganzen Lebens und bei normal entwickelten Genitalien 
bestehenden Defekt gar nicht erwähnt, es wäre aber instruktiver geworden, wenn 
er die Vieldeutigkeit der „geschlechtlichen Unempfindlichkeit“ oder „Frigidität“ 
klar aufgezeigt hätte. Diese Bezeichnungen sind eben ohne erklärendes Beiwort 
nicht zu gebrauchen, und es soll doch verhütet werden, dass jeder sich darunter 
etwas anderes denkt. Soll eg Feblen jedes Triebes zu geschlechtlicher Betäti- 
gung bedeuten? Soll es Ausbleiben des Orgasmus bei bestehender Lusterregung 
bedeuten? Soll es Ausbleiben jeder Lusterregung bei richtig ausgeführtem Ge- 
schlechtsakte bedeuten? Soll es Fehlen jeder Erregbarkeit der Klitoris und der 
Vaginalschleimhäute bedeuten? Selbst wenn all die einzelnen Reizmöglichkeiten 
wirklich ausbleiben, kann die Libido nicht in voller, selbst übermässiger Stärke 
bestehen? Wenn aber die Libido fehlt, muss dann auch das Wollustgefühl 
fehlen? Ist es aber, wenn die Libido unbezweifelbar ist, wohl angebracht, auch 
von geschlechtlicher Unempfindlichkeit zu sprechen, wenn ein Mann die Wollust 
nicht zu erwecken vermochte und der Gegenbeweis, dass sie nicht durch einen 
anderen erweckbar ist, nicht geführt werden kann? Kann endlich nicht Libido 
und Wollust bestehen und nur aus irgendwelchen Gründen der Orgasmus aus- 
bleiben? Endlich, wenn Dyspareunie mangelhaftss oder gar fehlendes Wollust- 
gefühl ist, wie nennt man ausbleibenden Orgasmus bei vorhaudenem Wollust- 
gefühl? Deshalb sollte der Mangel jeglichen Geschlechtstriebes mit Anaesthesia 
totalis, der schwächere Grad der Anästhesie mit Frigiditas sexualis, das mangelnde 
Wollustgefühl mit Dyspareunie bezeichnet werden. 

Sehr beachtenswert ist es, dass Moll die „kontiäre Sexualempfindung“ von 
der Homosexualität trennt, wozu die erstschöpferische Darstellung des Begriffes 
durch Westphal zwingt. Erst in der Folgezeit ist der Begriff mit Homosexualität 
verwischt worden, und Referent bekennt freimütig, in seinem Lehrbuch das 
gleiche getan zu haben. Moll bat sich demnach durch die historische Richtig- 
stellung ein besonderes Verdienst erworben. Der erste Fall war ein hetero- 
sexuell fühlender und handelnder, der von dem Verkleidungszwang beherrscht 
wurde Hirschfelds spätere Prägung des „Transvestiten ist daher nach- 
empfunden. Moll unterscheidetjetztfür den Verkleidungstrieb fünf Möglichkeiten 
a) reine Zwangshandlung; b) Symptom der Homosexualität; c) ein Teil des kon- 
trärsexuellen Seelenlebens bei Heterosexualität; d) nur ein ausgesprochen hetero- 
sexuelles Kinfühlungs- und Nachahmungssymptom; e) Verkleidung aus anderen 
Gründen, 

Sehr beachtenswert ist das Kapitel „Homosexualität“. Im Gegensatz zu 
Hirschfelderklärt Moll, dass die psychische Züchtung der Triebrichtung eine 
Hauptrolle spiele und „fast niemals ganz ausgeschlossen werden‘ könne, eine 
Ansicht, die er auch in seiner „Assoziationstherapie‘‘ praktisch nutzbar macht 
und, wie ausdrücklich betont sei, mit oft überraschendem Erfolg. Wenn man die 


324 Kritiken. [8 


Periode des indifferenzierten Geschlechtstriebes berücksichtigt, so ergibt sich, dass 
das primäre Auftreten nichts mit dem Eingeborensein zu tun hat; „denn ebenso 
wie bei normalen Heterosexuellen in dieser Periode homosexuelle Triebe auf-, 
tauchen können, haben in ihr typische Homosexuelle heterosexuelle Empfindungen. 
In dieser Periode ist homosexuelle Empfindung nicht immer abnorm, krankhaft. 
Entscheidend ist erst der Durchbruch im Laufe der Pubertät. Recht peinlich 
werden es die Psychoanalytiker empfinden, dass Moll ihnen freimütig nachsagt, 
sie brächten erst durch ihre Fragen nach homosexuellen Empfindungen und 
Handlungen es schliesslich dazu, dass solche zu Unrecht angegeben werden. Sie 
gingen überhaupt zu weit und könnten die Patienten schädigen. Die von Freuds 
Schülern psychoanalytisch behandelten Fälle konnten Moll nicht von der Wirk- 
samkeit dieser Methode überzeugen, ebensowenig deren Veröffentlichungen über 
die Homosexualität. Moll findet, dass die Psychoanalytiker bei ihrem Handeln 
den wichtigsten Suggestionsfaktor unterschätzen, gar nicht bedenken, dass die 
Psychoanalyse oft nur der Träger der Suggestion und der Persönlichkeits- 
wirkung ist. 

Sehr dankenswert ist es, dass Moll die „auf glänzender Beobachtung“ 
beruhende Einteilung Krafft-Ebings beibehält. Sie ist tatsächlich noch immer 
diebeste. Mit Krafft-Ebing hältauch Moll die Umwandlung der „psychosexuellen 
Hermaphrodisie‘‘ durchaus für möglich. Durch Willenskraft, Selbstzucht, mora- 
lische und hypnotische Behandlung, Besserung der Konstitution, Beseitigung von 
Neurosen, vor allem Fernhaltung von perverser, psychischer und 
physikalischer Masturbation sind die Empfindungen für das andere Ge- 
schlecht zu stärken. Die charakterologische Zeichnung, dıe Hirschfeld von den 
Homosexuellen entwirft, nennt Moll sehr schönfärberisch, denn unter den Homo- 
sexuellen finden sich wohl prachtvolle Menschen, doch ebensooft Hallunken. 
Wie günstig die Heilmöglichkeit werden kann, lehrt Fall 425, der überzeugt war, 
ausschliesslich homosexuell zu sein, niemals eine heterosexuelle Neigung hatte. 
Trotzdem verliebte er sich in eine durchaus normale Dame, die Liebe wird 
erwidert und er heiratet sie. Die Ehe wurde glücklich. Der Fall beweist, dass 
man „kaum jemals berechtigt ist, bei einem Homosexuellen zu sagen, dass er 
ausschliesslich homosexuell séi“. Nachdrücklich betont Moll auch die Neigung 
männlicher Homosexueller zu unreifen Knaben, hier sogar oft mit Sadismus 
verbunden. Es ist eine recht. erstaunliche Zahl derartiger Vorkommnisse, die 
Moll zum Beweise beliebig aus seiner Sammlung herausgreift. Er vergisst auch 
nicht die Tatsache zu erwähnen, dass, je jünger die Kinder als Lustobjekte sind, 
um so leichter ihr Geschlechtscharakter bei der Auswahl sich vermischt. Die 
weibliche Homosexualität findet Moll „durch Verführung erheblich vermehrt“ 
Reine Homosexualität findet er eine Seltenheit. Die meisten empfinden gar 
nicht konträr-sexuell, denn ihre Neigung ist nicht wie beim normalen Weibe. 
Dieses neigt nicht zu unreifen oder heranreifenden Knaben. 

Diese Stellung Molls zu dem Homosexualitätsproblem — und hier äussert 
sich einer der kenntnisreichsten und erfahrungsreichsten Sexualforscher — muss 
nachdrücklichst beachtet werden, denn sie kontrastiert diametral mit der An- 
schauung Hirschfelds. Die Mollsche Anschauung muss um so mehr beachtet 
werden, da die Nutzanwendung aus beiden Einstellungen grundverschieden ist. 
Für Hirschfeld ist die Homosexualität eine Varietät, eingeboren bestimmt und 
deshalb unabänderlich, und diese Auffassung ist bestimmend für den agitatorischen 
Kampf um die Gleichberechtigung, die Verfechtung der Unabänderlichkeit des 
Triebes schon in der frühesten Jugend, des weiteren auch um das Recht des 
engeren Zusammenschlusses der homosexuellen Kreise. Im Gegensatz dazu 
resultiert aus Molls Lehre zunächst für den Arzt, dass er nachdrücklichst jede 
Züchtigungsmöglichkeit des Triebes verhüte, dass er das Triebleben in dem 
undifferenzierten Stadium der Jugend besonders schütze, die Jugend vor jedem 
Kontakt mit homosexuellen Kreisen bewahre und endlich die bestehende homo- 
sexuelle Artung therapeutisch zu beeinflussen suche. Es klingt durchaus 


9] Kritiken. 325 


einleuchtend, dass psychische Einflüsse, wie sie auf die Magensekretion, 
auf die Speicheldrüsen sichtbar einwirken, auch auf die Keimdrüsen einwirken 
können. Deshalb erscheint Molls Behandlungsverfahren durchaus zielbewusst, 
nämlich Darbieten normaler, Unterdrückung perverser Reize; Erzeugung 
normaler, Unterdrückung perverser Phantasien (S. 699 ff). Hatte Referent nach 
der ersten Veröffentlichung Molls an anderer Stelle sich in seinem Lehrbuch 
noch zurückhaltend geäussert, so muss er jetzt, nach der eingehenden und über- 
zeugenden Darstellung des Behandlungsregimes sich schon vielgeneigter äussern, 
vor allem zur Nachprüfung unter Wahrung der Mollschen Direktivon auffordern. 

Ein ungemein instruktives Kapitel hat Moll mit der Neubearbeitung des 
forensischen Teils geliefert. Klar, anschaulich zeigt er die Stellung des ärztlichen 
Sachverständigen vor Gericht, zögert aber auch nicht, bedenkliche Sachverstäudigen- 
Leistungen als das zu bezeichnen, was sie sind, nämlich als Diskreditierung des 
Arztes in foro. Das tut er nicht nur kritisch, sondern unter Anführung beweis- 
kräftigsten Erfahrungs- und wissenschaftlichen Materials (S. 777 ff). 


Zum Schlusse möchte Referent nicht unterlassen, auf einige Schönheitsfehler 
aufmerksam zu machen, die in zukünftigen Auflagen vermieden werden köunten, 
So berührt es verschiedentlich seltsam, dass von neueren Literaturerscheinungen 
gesprochen wird, die in Wirklichkeit jetzt 60 und 70 Jahre zurückliegen. Auch 
manche Druckfehler, so S. 676 „Pseudosexualität“ oder 678 „Edelmanier“ sollten 
ausgemerzt werden. Endlich sei noch der folgende Satz als bedenkliche Sinn- 
entstellung zitiert: „Wer wie ich wiederholt gesehen hat, welche Trauer in die 
Familie des Opfers — z. B. eines Zopffetischisten (?) — kommt und wie einem 
solchen Mädchen selbst die Heiratsmöglichkeit abgeschnitten wird‘. 


Noch einmal sei anerkennend die Neuschöpfung des klassischen Werkes 
gerühmt. Die Psychopathia sexualis rediviva wird Ärzten und Juristen in ihrer 
neuen Form eine unerschöpfliche Lehrquelle werden. Placzek, Berlin. 


Maria v. Ebner-Eschenbach: Letzte Worte. Aus dem Nachlass heraus- 
gegeben von Helene Bucher. Rikola-Verlag, Wien 1923. 


Aus der Durchsicht der Schätze des Ebner-Eschenbach Archivs ist diese Nach- 
lese entstanden. Sie zeigt die grosse Erzählerin des 19. Jahrhunderts in ihrer 
ganzen Freundlichkeit, Tiefsicht und Darstellungskunst, wie sie schon in einem 
ihrer ersten Werke, den „Schloss- und Dorfgeschichten“ hervorgetreten waren. 
Mit giühender Begeisterung hatte sie in früher Jugend gelobt, „dass ihre Werke 
von der Bühne in Funken sprühen sollten“; ja sie hielt es für möglich, „der 
Shakespeare des 19. Jahrhunderts zu werden. Aber ihren dramatischen Versuchen 
blieb der Erfolg versagt. Wieder ein wichtiger Beitrag zu der Erkenntnis, dass 
das weibliche Geschlecht zur dramatischen Kunst keine schöpferische Fähigkeit 
besitzt. Max Hirsch, Berlin. 


Karl Abraham: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf 
Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen. Internat. psychoanalyt. 
Verlag, Leipzig-Wien- Zürich. 

„Uns Erwachsenen ist diese ursprüngliche Gleichsetzung von Beseitigung 
und Verlieren mit Defäkation entfremdet, ja so weit entfremdet, dass die Psycho- 
analyse in mühevoller Arbeit jene Spuren des primitiven Denkens aufdecken 
muss und dann noch bei den Menschen ein ungläubiges Kopfschütteln erregt.“ 
Nicht nur dieser groteske Vergleich mit der Defäkation weckt ein ungläubiges 
Kopfschütteln, sondern der gesamte Gedankengang, den hier ein Psychiater zur 
Erklärung der manisch-depressiven Zustände aufrollt, Und dann wundert sich 
noch der Verfasser, dass die klinische Psychiatrie sich um diese Ausdeutungs- 
versuche nicht kümmert, spricht er von den auffallenden Einseitigkeiten der 
klinischen Psychiatrie. Sie tut gut daran, wenn sie solche Ideen unbeachtet 


326 Kritiken. 


lässt. Oder soll sie kritisch prüfen, dass „der Melancholiker‘“ zur tieferen der 
beiden Stufen der anal-sadistischen Phase regrediert, auf ihr aber nicht stehen 
bleibt, sondern seine Libido einer noch primtiveren, der kannibalischen Stufe, 
zustrebt, auf welcher die Einverleibung des Objektes zum Ziel des Triebes wird? 
„Das aufgegebene, verlorene Liebesobjekt wird vom Unbewussten mit dem wichtig 
sten körperlichen Ausstossungsprodukt — Kot — gleichgesetzt und durch den 
ale Introjektion bezeichneten Vorgang dem Ich wieder einverleibt.*“ Soll man 
kritisch das Entwenden von Geld als Kastrationsform prüfen, sympolistisch das 
„Vermögen? Soll man kritisch prüfen, dass „die abundante Tränenproduktion 
dem unbewussten Wunsch entsprach, in männlicher Weise zu urinieren“? Soll 
man wirklich als neue Offenbarung nehmen, dass „in der Paranola der „Ver- 
folger“ sich zurückführen lässt auf die unbewusste Vorstellung von einem Szybalum 
im Darm des Kranken, welches von seinem Unbewussten mit dem Penis des 
Verfolgers, d. h. des ursprünglich geliebten Wesens gleichen Geschlechts iden- 
tifiziert wird?“ Da werden gewisse Fälle von Homosexualität darauf zurück- 
geführt, „dass das Individuum sich den gegengeschlechtlichen Elternteil intro- 
Jiziert hat“. Er hat also die Mutter in sich aufgenommen und muss nur in 
- ihrer Art auf männliche Personen reagieren. Da wird die starke Nachwirkung 


des Erlebnisses, dass ein Mann seine sterbende Mutter in seinen Armen hielt, 


dahin gedeutet, dass hier die „unvergessene Situation vollkommen umgekehrt 
wird, in welcher der Patient als kleines Kind in den Armen und an der Brust 
der Mutter gelegen hatte“. Und zum Schluss die als Erkenntnis gepriesene Idee 
Groddecks vom Introjektionsvorgange. Ein Patient ergraut im Anschluss an den 
Tod des Vaters. Wie das kam? Weil er unbewusst sich dem greisen Vater 
anzuähneln suchte, ihn dadurch gleichsam in sich aufnehmen und nun seinen Platz 
bei der Mutter gewinnen wollte. 

Wer nach dieser kleinen Blütenlese von Seltsamkeiten sich zum Studium 
dieses Buches entschliessen will, mag es tun. Bereichert wird sein psychiatrisches 
Wissen dadurch nicht werden. Placzek, Berlin. 


S. Jessner: Körperliche und seelische Liebe. 3. und 4. Lieferung. Curt 
Kabitzsch, Leipzig. 

Auch die neuen Lieferungen des Jessnerschen Werkes zeigen die didaktische 
Fähigkeit des Autors, dem Laien ein gewichtiges und schwieriges Wissensgebiet 
klar und nachhaltig wirksam vor Augen zu führen, Muss auch Verfasser aus 
äusseren (Gründen manch Kapitel nur in groben Strichen skizzieren, das er gern 
eingehender behandelte, so gelingt ihm trotzdem eine anschauliche, in die Tiefe 
dringende Darstellung, die überall den wissensreichen, lebenserfahrenen Sexual- 
forscher zeigt. Mit dem Schluss des grossen Kapitels „Erbsyphilis — Syphilia- 
behandlung — Geschlechtsneurosen‘“ kommen wertvolle neue Kapitel über „Sexual- 
ethik“, „das Schamgefühl“, „die sexuelle Abstinenz“, „liheschliessungsfehler‘‘ 
u.a.m. Wohl liesse sich in manchen Einzelheiten mit dem Verfasser rechten, mit- 
unter sogar über .die subjektive, in Sexualfragen besonders leicht irreführende 
ethische Wertung, doch wäre das unangebracht angesichts des Hauptzieles, das 
Verfasser vorschwebt, nämlich zunächst auf ein Laienpublikum belehrend zu 
wirken. Doch wegen dieses Endzieles ist es bedauerlich, dass oft sinnentstellende 
Druckfehler sich finden, die richtig zu stellen der Laie nicht immer geeignet sein 
dürfte. Ich nenne zur Probe: „. . . durch Paarung bei der Tierzüchtung 
erzielte Ergebnisse“ S. 360 oder „ungeheure, endlose Gebiete liegen noch brach, 
menschenleer und noch 8o befruchtungsfähig“ (!!), Schönheitsfehler, die bei einer 
hoffentlich bald möglichen Neuausgabe ausgemerzt werden sollten. Dann könnte 
aber auch die Frage der Illustrationen ventiliert werden. So vollendet sie sind 
und so ausgezeichnet ihre Wiedergabe, sie wollen mir nicht recht zum Ganzen 
passen. Placzek, Berlin. 





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Carl Posner zum 70. Geburtstag. 


Wir haben heute die Freude, Geheimrat Posner zu seinem 
10. Geburtstage zu beglückwünschen. Wir tun das mit aller 
Hochachtung, welche die Lebensarbeit des Mannes fordert, mit aller 
Verehrung, welche seines Wesens Art in uns erregt, mit aller Herz- 
lichkeit, welche sich in den Jahren fruchtbarer Zusammenarbeit in 
uns gesammelt hat. | Ä 

Posners wissenschaftlicher Lebensweg begann bei der Zoologie 
und vergleichenden Anatomie. Mit einer Arbeit über den Bau der 
Najadenkiemen erwarb er sich 1875 den Doktor der Philosophie. 
Max Schultze, Leuckhardt, Max Wunderlich und 


Wagner sind seine Lehrer gewesen. Seine ‚Publikationsstätte ist 


das Archiv für mikroskopische Anatomie. Gleichzeitig findet die 
Schwenkung zur pathologischen Anatomie statt. Er wird Assistent 
bei Perls. 1877 wird das medizinische Staatsexamen beendigt, 
1886 der medizinische Doktortitel erworben — von einer besonderen 
Dissertation sah die Fakultät in Anbetracht früherer Arbeiten ab. 
1887 erfolgt die Niederlassung in Berlin, wo auch schon der Vater 
wirkte, der Begründer der Berliner klinischen ‚Wochenschrift und 
Verfasser einer bekannten Arzneimittellehre, deren weitere Ausgaben 
Ewald besorgte. In den folgenden Jahren gehen wissenschaftliche 
und praktische Tätigkeit nebeneinander her. Reisen werden zu Stu- 
dien verwendet. 1889 erfolgt die Habilitierung für innere Medizin 
an der Berliner Universität. Die Vorlesungen gelten den Krankheiten 
der Harnorgane, wozu bei Dittel in Wien die Grundlagen gelegt 
worden sind. 1902 wird Posner zum beamteten Extraordinarius 
ernannt, ohne dass ein Lehrauftrag damit verbunden ist. 

Als literarisches Erbe übernahm Posner die Berliner klinische 
Wochenschrift von seinem Vater Ludwig, und führte sie anfangs 
mit Ewald, später allein weiter. Sie war ihm ein willkommener 
Resonanzboden. Viel bemerkt und gern gelesen waren seine Kongress- 
berichte und Redaktionsmitteilungen. Auch die Virchow-Hirsch’schen 
Jahresberichte hat er eine Zeitlang redigiert. 

Archiv für Frauenkunde Bd. X. H. 4. 22 


328 Carl Posner zum 70. Geburtstag. [2 


Als ständiger Sekretär des deutschen Reichskomitees für die 
internationalen Kongresse kam er nach Rom, Paris, Madrid, Lissabon, 
London, Petersburg und Moskau. Seine Bemühungen und Verdienste 
um die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Völker waren gross. 
Der Zusammenbruch der Kongresse durch den Krieg brachte ihm 
nicht nur den Schmerz über die Zerstörung dieses Werkes, sondern 
auch die Trauer um die Lösung vieler persönlicher Beziehungen. 
Aber starkes Vaterlandsgefühl drängten diese Verstimmung bald 
zurück. Überhaupt liegt Verbitterung seinem Charakter fern. Davor 
kewahrt ihn der Reichtum seines Wesens und eine an den Grossen 
des Schrifttums genährte Welt- und Lebensauffassung. 

Von seinen urologischen Arbeiten sind am bemerkenswertesten 
der Nachweis des konstanten Vorkommens von Eiweiss im Urin. 
Die Koliinfektion der Nieren vom Darm, die Beobachtung von 
Spermien und Zylindern im Dunkelfeld. Der klinischen Auswertung 
dieser Untersuchungsmethode galt sein eifrigstes Bemühen. Weit 
verbreitet waren seine beiden Werke, die Diagnostik der Harnkrank- 
heiten und die Therapie der Harnkrankheiten, deren jedes drei Auf- 
lagen erlebte. Seine „Vorlesungen über Harnkrankheiten“ — eine Zu- 
sammenfassung der Diagnostik und Therapie — erschienen nur 
in einer Auflage. Seine wissenschaftliche Führung in der Urologie 
findet offensichtlichen Ausdruck durch seine Stellung als Vorsitzender 
der Berliner urologischen Gesellschaft und als Ehrenmitglied der 
deutschen urologischen Gesellschaft. Die 6. Tagung dieser Gesell- 
schaft leitete er als Vorsitzender. Enge Freundschaft verband und 
verbindet ihn mit Nitze, Hans Goldschmidt und Hans 
Virchow. 

Im Jahre 1920 übernahm Posner den Vorsitz der ärztlichen 
(Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenetik. Seitdem ist es 
lem Schreiber dieser Zeilen vergonnt, anfangs als Schriftführer, 
später als Nachfolger Posners im Vorsitz, in enger und schöner 
Zusammenarbeit mit ihm zu leben. In diese Zeit fällt das Aufblühen 
und Heraustreten der Gesellschaft und der. Sexualwissenschaft aus 
ihrem versteckten Dasein in die Öffentlichkeit fachwissenschaftlicher 
Auseinandersetzung. Grosse programmatisch aufgebaute und abge- 
wickelte Vortragsfolgen unter Beteiligung des In- und Auslandes 
erweckten allgemeine Aufmerksamkeit. Den Höhepunkt bildeten die 
Kongresse mit den Vortragsthemen: Innere Sekretion und Sexualität. 
bemerkenswert durch das letzte Auftreten von Waldeyer als 
Referenten, und der gemeinsam mit der forensisch-medizinischen 
Vereinigung veranstaltete Kongress, welcher die Frage: Soll der 
Staat ärztliche Heiratszeugnisse fordern ? von allen Seiten beleuchtete. 


3] Carl Posner zum 70. Geburtstag. 329 


An der Erweiterung der Gesellschaft durch Verbindung mit den 
Konstitutionsforschern, welche unter meinem Vorsitz geschah, ist 
Posner in persönlichen Vorbesprechungen und Verhandlungen 
in hervorragendem Masse beteiligt gewesen. Es darf als glückliche 
Fügung betrachtet werden, dass er nun in seinem Jubiläumsjahr an 
der Spitze der Gesellschaft steht, der seine Arbeit der letzten Jahre 
gewidmet war. 

Diese vier Jahre, in denen es mir vergönnt gewesen ist, mit 
Posner zusammen zu arbeiten, sind für mich nicht nur wertvoll 
gewesen durch das, was ich von ihm sah und lernte, sondern auch 
durch den nie getrübten Zusammenklang in Ziel und Streben und 
durch den stets und schnell gewonnenen Ausgleich verschiedener 
Meinung. 

Ich habe mich nie mit der Graphologie befasst. Aber beim 
Anblick der Schriftzüge Posners unter seinem Bilde drängt sich 
mir der Eindruck auf, und ich kann ihn nicht abwehren: So wie der 
Namenszug des Siebzigjährigen, wie jeder Buchstabe, gerade so 
exakt, korrekt und vornehm ist der ganze Mensch. 

So freue ich mich an dieser Stelle, welche auch mehrfach das 
Sprachorgan des Jubilars gewesen ist, mit den Glückwünschen der 
Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Konstitutions- 
forschung meinen persönlichen Dank und meine persönlichen 
Wünsche vereinigen zu können. 


Max Hirsch, Berlin. 


22* 





Aus dem gerichtlich- medizinischen Institute der lettländischen 
Universität in Riga. 


Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin'). 


Von 


F. v. Neureiter. 


Das Thema: ‚„Gerichtliche Medizin und Konstitutionslehre‘, das 
mir zur Berichterstattung aufgetragen, kann in doppeltem Sinne auf- 
gefasst werden. Einerseits kann damit eine Überschau über jene Er- 
gebnisse der Konstitutionsforschung gefordert sein, welche für die 
Lösung gerichtlich-medizinischer Fragestellungen belangreich ge- 
worden sind, andererseits lässt es aber auch die Deutung zu, dass 
eine Besprechung derjenigen gerichtlich-medizinischen Probleme er- 
wartet wird, bei denen wir zur vollen Klärung der Sachlage von dem 
bei der gerichtsärztlichen Untersuchung erhobenen Befund auf die 
Konstitution des zu begutachtenden Individuums zurückgreifen 
müssen, auf die Konstitution, welche die besondere vom Durchschnitt 
abweichende Art der Reaktion auf Reize bestimmt. Mein Referat 
will sich bemühen, beiden Auffassungen vom Thema Rechnung zu 
tragen, indem wohl von den gerichtlich-medizinischen Problemen, die 
in Beziehung zur Konstitution und Konstitutionslehre stehen, aus- 
gegangen, dabei aber immer auch der Förderung, welche die gericht- 
liche Medizin durch die Konstitutionsforschung erfahren hat, ge- 
dacht werde. 


Bevor wir jedoch auf unser Thema näher eingehen, ist es notwendig. 
über den Begriff der Konstitution Klarheit zu gewinnen und seinen Umfang 
möglichst scharf zu umgrenzen. Leider sind die Autoren, die sich mit dieser 
Begriffsbestimmung befassten, zu einer Einigung noch nicht gelangt, so dass 
der Anschluss an eine der vielen bisher vorgeschlagenen Definitionen gleich- 
zeitig auch eine Parteinahme beinhaltet. Allein so schwierig, wie’ sie bei der 


1) Nach einem auf der 88. Versammlung Deutscher Naturforscher und 
Ärzte in Innsbruck gehaltenem Vortrage. 


332 F. v. Neureiter. (2 


ersten Durchsicht der vorgetragenen Meinungen erscheint. ist diese Entschliessung 
nicht. Denn abgesehen von kleinen unwesentlichen Differenzen in den einzelnen 
Difinitionen dreht sich der ganze Meinungsstreit im Wesen um zwei Auffassungen, 
die dabei um ihre Anerkennung ringen. Die eine, welche unter Konstitution 
nur das ‚gesamte Erbgut, die durch die jeweilige Kombination der Erbfaktoren 
bestimmte Entwicklung und ‚Reaktionsweise des Organismus‘ !) verstanden 
wissen will, während die zweite den augenblicklichen Zustand des Organismus, 
seine augenblickliche Körperverfassung als seine Konstitution bezeichnet. Die 
beiden Auffassungen unterscheiden sich zunächst: ihrem Umfange nach von- 
einander, indem die erste nur das Ererbte und Vererbbare umgreift, während 
bei der zweiten neben der Erbmasse auch „alle durch die Einwirkung der Um- 
welt und den Einfluss funktioneller Anpassung entstandenen Abänderungen und 
Abweichungen von dem anlagemässigen Entwicklungsablaufe und der anlage- 
mässigen morphologischen und funktionellen ‚Beschaffenheit des Organismus“ ?) 
unter dem Begriff der Konstitution subsummiert werden. Damit ist aber auch 
gesagt, dass für den Vertreter der ersten Meinung die Konstitution ein unab- 
änderlich Gegebenes ist, während der Anhänger der zweiten Auffassung von 
einer veränderlichen und veränderbaren Konstitution sprechen kann. Nun 
erhebt sich die wichtige Frage, welcher Definition wir gerichtliche Mediziner 
uns anschliessen sollen. Ist es bei der Lösung der uns in der Praxis vorliegenden 
Probleme möglich und notwendig, bei jeder Eigenschaft in der Organisation 
eines Individuums, der wir einen hemmenden oder fördernden Einfluss auf 
den Ablauf einer bestimmten Reizwirkung zubilligen, entscheiden zu wollen, 
ob sie in der Erbrinasse verankert oder erst durch Umweltseinflüsse erworben 
ist? Ich glaube, dass diese Fragestellung, die natürlich für den Pathologen 
von der grössten Bedeutung ist, in unserer Spezialdisziplin so gut wie keinen 
Wert hat; für uns genügt es vollkommen, wenn wir das gegenseitige Kräfte- 
verhältnis, in dem Körperverfassung und eine diese treffende Noxe stehen, 
abschätzen und bestimmen lernen, das heisst wir können die Begriffe Körper- 
verfassung und Konstitution gleich setzen, ‘obwohl wir uns im klaren sind, dass 
die Körperverfassung keine letzte Einheit ist, sondern ein Gemisch, ein Amalgam 
(Rössle) aus anlagenmässig gegebenen und erst später im Laufe des T,ebens 
hinzu getretenen Elementen vorstellt. 


Haben wir so den Begriff der Konstitution, wie er für unser Fach 
brauchbar, umschrieben, so können wir nun beginnen jene Fälle 
anzuführen und näher zu beleuchten, bei deren Begutachtung auf die 
Körperverfassung des Individuums eingegangen werden muss, um eine 
den Bedürfnissen des Rechtslebens entsprechende Klärung des Falles 
zu vermitteln. Es wären dies ganz allgemein gesagt jene Geschehnisse, 
bei denen das exogen auf den Körper zur Einwirkung gelangte Agens 
unserer Erfahrung nach ungeeignet, zu schwach oder zu geringfügig 
war, um eine bestimmte im speziellen Fall eingetretene Folge zu 





l) Siehe Hart, C.: Konstitution und Disposition, Ergebnisse der all- 
gemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie. : 20. Jahrg. S. 109. München 
und Wiesbaden. 1922. n ~d 


2) Bauer, J.: Die konstitutionelle Disposition zu inneren Krankheiten. 
3. Aufl. Berlin. 1924. S. 4. 


3] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 333 


zeitigen, also jene Fälle, die uns erst verständlich oder verständlicher 
werden, wenn wir die körperliche Verfassung des Organismus, der 
von dem Ereignis betroffen, in den Kreis unserer Betrachtung ein- 
beziehen und hier nun die Ursachen für die uns sonst unerklärliche 
Wirkung suchen. Es sind die inneren Krankheitsursachen, als deren 
Träger uns die Konstitution erscheint, die hiebei ausgeforscht werden 
müssen und die ob den äusseren nicht vergessen werden dürfen, soll 
es nicht zu einem Fehlurteile mit seinen für die Rechtspflege zu 
schwer wiegenden Folgen kommen. Tatsächlich spielen die endogen 
gegebenen Bedingungen für das Kranksein auch bei den Objekten 
unserer Untersuchungen die grösste Rolle, wiewohl meistens eine 
äussere Einwirkung auf den menschlichen Körper den Anlass für 
unsere Arbeit bei Gericht abgibt. Gerade die moderne Rechtsentwick- 
lung und Rechtsübung, die im Strafverfahren von der Erfolgshaftung 
immer mehr zur reinen Schuldhaftung hinneigt, nötigt uns in jedem 
einzelnen Falle genau abzuwägen, wieviel von dem, was im Organis- 
mus durch ein äusseres Ereignis bewirkt wurde, auf Rechnung dieses 
bzw. auf die im Körper selbst gelegenen Krankheitsbedingungen 
gesetzt werden kaun, eine Überlegung, die um so leichter, sicherer 
und bestimmter vonstatten gehen wird, je weiter die Konstitutions- 
forschung mit ihren Ergebnissen gelangt ist. Insoferne wird unsere 
Arbeit bei Gericht durch die Beschäftigung mit der Konstitutions- 
lehre gefördert, insoweit ist es notwendig, dass sich der Gerichtsarzt 
mit ihren Resultaten vertraut mache. 


Damit haben wir den Standpunkt gewonnen, von dem aus wir 
die uns in der Praxis zufliessenden Fälle in ihrer Beziehung zur 
Konstitutionslehre durchmustern wollen. Den Anfang bilde dabei 
die Besprechung jener Todesfälle, bei denen wir im Verlaufe der 
Ermittlung der Todesursache genötigt sind, auf die Körperverfassung 
des Individums einzugehen, um die den Tod bewirkenden Umstände 
in ihrer Gesamtheit erheben und zu einander in ein richtiges Ver- 
hältnis setzen zu können. Handelt es sich z. B. um einen Schädelbruch 
infolge Herabstürzens aus grosser Höhe, liegt ein Ertrinkungstod 
vor, so genügt es zur Diagnose der Todesursache vollkommen, wenn 
wir die Spuren dieser Traumen an der Leiche nachgewiesen haben, 
eine Berücksichtigung der Körperverfassung des getöteten Indi- 
viduums ist zur Feststellung der Todesursache allein nicht weiter 
notwendig. Anders liegen aber die Dinge, wenn der Tod eines Indi- 
viduums nach einem Trauma eingetreten ist, obwohl die äussere 
Noxe in ihrer Intensität gering war, obwohl uns die Erfahrung sagt, 
dass der Mensch im allgemeinen derartige Schädigungen ohne wesent- 
liche Beeinträchtigung seines Gesundheitszustandes ertragen kann. 


334 F. v. Neureiter. [4 


Ich habe hiebei vor allen die Fälle eines unerwartet plötzlichen 
Todeseintrittes bei einem anscheinend gesunden Individuum nach 
einer geringfügigen psychischen Erregung, nach einer.leichten Züchti- 
gung, im Beginn einer Narkose, bei kleinen operativen Eingriffen, 
bei einer therapeutischen Anwendung des elektrischen Stromes u. dgl. 
im ‘Auge. Zu ihrer Aufklärung heisst es, die Leiche bei der anatomi- 
schen Untersuchung genauest nach Zeichen abzusuchen, die als der 
Ausdruck einer verminderten Widerstandskraft oder als die Repräsen- 
tanten einer Körperverfassung erachtet werden dürfen, die zum Auf- 
treten abnormer Reaktionen die Veranlassung geben kann. 

Nun hat uns die Konstitutionslehre tatsächlich solche Anomalien 
aufgezeigt, so dass unsere Aufgaben in der Praxis eigentlich nicht 
allzu schwierig wäre. Wir hätten an der Leiche nur nach den 
Manifestationen solcher Konstitutionstypen zu forschen, und könnten 
dann, wenn wir sie für gegeben finden, die in der Literatur nieder- 
gelegten Erfahrungen über ihren ungünstigen Einfluss auf den 
Lebensablauf des Trägers zur Erklärung der im vorliegenden Falle 
eingetretenen fatalen Reaktion heranziehen. Leider führt aber dieser 
Vorgang nicht immer zum gewünschten Ziele und schafft dem Ob- 
duzenten nicht jene Befriedigung, wie sie die restlose Aufklärung 
eines Falles gewährt. Denn abgesehen davon, dass die Mehrzahl der 
Mitteilungen, die über den Zusammenhang einer bestimmten Körper- 
verfassung mit gewissen Krankheitszuständen handeln, den kritisch 
veranlagten Leser in ihren Grundlagen und Schlussfolgerungen nicht 
zufrieden stellen können, kommt noch hinzu, dass die hier in Betracht 
zu ziehenden Körperverfassungen an der Leiche recht schwierig exakt 
zu diagnostizieren sind. Der Subjektivität des Beobachters ist dabei 
ein grosser Spielraum gelassen. Am besten ist dies bei jener Kon- 
stitutionsanomalie zu sehen, die erfahrungsgemäss bei den obzitierten 
Todesfällen am häufigsten zur Erklärung herangezogen wird, nämlich 
beim Status thymico-Jymphaticus. Nun kann es gewiss nicht meine 
Aufgabe sein, die Lehre vom Status thymico-Iymphaticus in ihrer 
ganzen Komplexheit darstellen zu wollen, dafür ist heute bereits ein 
lerufenerer Vertreter gewonnen und gehört worden !). Allein einige 
wenige Worte der Stellungnahme, wie sie sich dem Gerichtsarzt bei 
der Bearbeitung eines Materiales ergibt, glaube ich nicht unterlassen 
zu dürfen. Dass es einen echten Status thymico-Iymphaticus als 
Konstitutionsanomalie gibt, meine ich nicht bezweifeln zu dürfen, wie 
auch, dass es uns mit Hilfe der Lehre von den Drüsen mit innerer 
Sekretion einmal gelingen wird und gelingen muss, in das Wesen 
und die Bedeutung dieser Körperverfassung näher einzudringen. 


1) Prof. S chridde- Dortmund. 





5] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 335 


Heute sind wir allerdings von einer solchen Einsicht noch recht 
weit entfernt, ja viel weiter, als man seinerzeit zu sein glaubte. Trotz- 
dem kann mit dieser Konstitutionstype, soferne sie sich vom Nor- 
malen abgrenzen lässt, operiert werden, sind wir doch im wissen- 
schaftlichen Leben des öftern genötigt, mit Zuständen und Er- 
scheinungen zu rechnen, von deren Wesen uns eine Erkenntnis 
mangelt. Aber gerade die Abgrenzung dieser Konstitutionstype von 
normalen, in den Bereich des Physiologischen fallenden Zuständen 
an Thymus und Lymphapparat, macht in der Praxis die grössten 
Schwierigkeiten und mindert darum den Wert des Befundes eines 
Status -thymico-Iymphaticus, da die Gewissheit mit dieser Diagnose 
wirklich pathologische Verhältnisse erfasst zu haben, wenn überhaupt, 
zu mindest recht schwierig zu erlangen ist. So dass für uns Gerichts- 
ärzte besonders die Frage, wie ein Status thymico-Iymphaticus an 
der Leiche zu diagnostizieren ist, dringlich erscheint, da ja die ge- 
sicherte Diagnose die Voraussetzung für alle Schlussfolgerungen 
bildet. Leider ist da zu sagen, dass uns bisher keine exakten Hilfs- 
mittel an die Hand gegeben wurden, die es uns erlaubten, eine echte 
Hyperplasie von Thymus und Lymphapparat mit Bestimmtheit als 
solche zu erkennen. Denn wir wissen nichts genaues über die normale 
Verteilung des Iymphatischen Gewebes im menschl’chen Körper, wie 
auch die Gewichtsbesimmung der Thymusdrüse nicht als jene Mass- 
methode anerkannt werden kann, die uns die Hyperfunktion des Or- 
ganes, auf die es allein ankommt, verlässlich offenbart, gar nicht zu 
reden davon, dass die von einzelnen Forschern ermittelten Normal- 
gewichte recht erheblich voneinander abweichen. Bei diesen 
Schwierigkeiten in der Erkennung eines Status thymico-Iymphaticus 
kann es uns weiter helfen, wenn wir uns die Bartelsche Lehre !\ 
„unutze machen, die den Status thymico-Iymphaticus nur als ein 
Teilsymptom einer weit umfassenderen Konstitutionsanomalie näm- 
lich des Status hypoplasticus ansieht und ihm daher noch andere 
Merkmale in die Organisation zuordnet, Merkmale, welche allerdings 
keineswegs alle unter sich gleicher Natur sind, indem ihnen nicht 
nur Hypoplasien, sondern auch reine Missbildungen und Infantilismen, 
ja sogar Hyperplasien zugezählt werden, Merkmale, die aber alle 
die biologische Minderwertigkeit ihres Trägers dartun sollen. 
Wenn jetzt eine kurze Übersicht über einzelne Symptome der 
hypoplastischen Konstitution gegeben wird, so geschieht es, weil 
manchen von ihnen ein besonderer Einfluss auf die Reaktionsweise 
des Individuums zugemutet wird, ja sie sogar für den Todeseintritt 


t) Bartel: Status thymico-Iymphaticus und Status hypoplasticus. Wien. 
1912. 


336 F. v. Neureiter. 6 


verantwortlich gemacht werden. Natürlich bezieht sich das nicht 
auf die für die Leistungsfähigkeit des Individuums belanglosen, nur 
als Symptome einer allgemeinen Abwegigkeit zu wertenden Eigen- 
schaften wie z. B. die Omegaform des Kehldeckels oder der Spitz- 
bogengaumen, die Milz mit gekerbtem vorderen Rande, die Spuren 
embryonaler Lappung aufweisende Niere, das Meckelsche Diver- 
tikel usw., sondern auf Zustände, wie sie in einer Hypoplasie des 
Gefässsystemes oder einer Hirnhypertrophie oder einer vorzeitigen 
Verknöcherung der Schädelnähte gegeben sind. 

Besonders die Hypoplasie des Gefässsystems — in ihrer dispo- 
sitionellen Bedeutung allerdings neuerlich wieder umstritten — wurde 
schon seit langem der Erscheinungsform eines Status thymico- 
Iymphaticus zugezählt und zur Erklärung für den Todeseintritt in 
gewissen Fällen herangezogen, bildet sie doch, durch eine abnorme 
Enge der Aorta verbunden mit Kleinheit des Herzens und dünnen 
zarten, selır elastischen peripheren Gefässen charakterisiert, des öftern, 
wie schon Kolisko1) bemerkt, den einzigen pathologischen Befund. 
den uns die Obduktion erheben lässt. Natürlich ist es notwendig, 
um die Diagnose Hypoplasie des Gefässsystems stellen zu dürfen, 
dass die Masszahlen des Aortenumfanges wirklich hinter den von 
Kaufmann?) an grossem Materiale errechneten Durclschnitts- 
werten zurückbleiben, eine Forderung, die in mancher Publikation, 
die von einer Augustie der Aorta berichtet, nicht erfüllt ist. Sind 
aber die Werte wirklich unternormal, handelt es sich also tatsächlich 
um eine abnorme Enge des Gefässsystems, dann kann dieser Zustand 
wohl zur Erklärung eines unerwartet plötzlichen Todeseintrittes heran- 
gezogen werden. wobei man allerdings genötigt ist, eine dem (refäss- 
system koordinierte anlagemässige Minderwertigkeit des Herzmuskels 
zu supponieren, wie sie uns aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen 
nicht unwahrscheinlich dünkt. Diese Annahme wird man machen 
müssen, seit die Wieselsche ‘Hypothese, die sich auf eine mit 
der Gefässhypoplasie verbundene Unterentwieklung des chromaffinen 
Systems stützt, durch die Beobachtung von plötzlichen Todesfällen 
bei Gefässhypoplasten, deren Adrenalsystem gut entwickelt war. in 
ihrer Allgemeingültigkeit erschüttert wurde. 

Ähnlich wie mit der Gefässhypoplasie verhält es sich mit der 
Hirnhypertrophie, die entweder kombiniert mit einem Status thymico- 
Iymphaticus oder allein vorhanden, zu einem plötzlichen Todesein- 
tritte nach einer geringfügigen Schädigung in ätiologische Beziehung 


ben 


1) Kolisko: Der plötzliche Tod aus natürlicher Ursache. Dittrichs 
Handb. d. ärztl. Sachverständigentätigkeit. Bd. 2. S. 729. Wien. 1913. 
°) Kaufmann: Zur Frage der Aorta augusta. Inaug.-Diss. Jena. 1919. 


7] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 337 


gebracht wird. Und zwar sind es hier die mechanischen Verhältnisse 
— das durch das grosse Gehirn bedingte Missverhältnis zwischen 
Schädelinhalt und Schädelhohlraum —, die mechanischen Verhält- 
nisse, welche das Auftreten irreparabler Störungen veranlassen 
können, inden: bereits kleine Volumsschwankungen des Gehirns, 
wie sie erfahrungsgemäss zahlreiche Reize auslösen, zu Hirndruck- 
symptomen führen. Hiezu kommt noch, dass man solchen hyper- 
trophischeu Gehirnen eine Disposition zu Hirnschwellungen zu- 
schreibt. wodurch natürlich die Gefährlichkeit dieses Zustandes für 
seinen Träger wesentlich erhöht wird. 

İst bei der Hirnhypertrophie die Beschaffenheit des Gehirnes 
für die Entwicklung eines Missverhältnisses zwischen Schädelkapsel 
und Hirnvolumen verantwortlich zu machen, so ist es bei der vor- 
zeitigen Schädelnahtverknöcherung, die gleichfalls unter den Sym- 
ptomen eines Status hypoplasticus aufgezählt wird, das knöcherne 
Gehäuse, welches durch die ihm innewohnende anormale Entwick- 
lungstendenz auf das Gehirn raumbeengend wirkt und damit wieder 
jenen bedrohlichen Zustand mit allen seinen Folgen schaffen kann, 
wie er oben für die Hirnhypertrophie angedeutet wurde. Die prä- 
mature Nahtsynostose ist bei unerwartet plötzlich Verstorbenen kein 
allzu seltener Befund, ein Tod durch Hirndruck kann durch sie ver- 
ursacht werden. 

Damit haben wir einige Konstitutionsanomalien aufgezeigt, wie 
sie die Konstitutionslehre ermittelt hat, die zu einem plötzlichen 
Tode in kausalen Zusammenhang gebracht werden, indem in diesen 
Zuständen die Ursache des Todes erblickt werden kann, während dem 
äusseren Ereignisse, welches den Anstoss zum Ablauf der Reaktion 
gegeben hat, nur die Rolle einer Gelegenheitsursache zuzubilligen 
ist, die auch durch ein anderes Geschehnis hätte ersetzt werden 
können. So dass wir bei der Begutachtung solcher Fälle berechtigt 
sind, die im Organismus selbst verankerten Krankheitsbedingungen 
in den Vordergrund zu stellen und ihnen, und nicht der äusseren Noxe, 
die Schuld am Tode zuzuschreiben, eine Einstellung, die, von der 
Auffassung ausgehend, dass jegliches Krankheitsgeschehen eine 
Funktion von äusseren und inneren Krankheitsbedingungen ist, ihren 
formelmässigen Ausdruck darin finden mag, dass bei den in Rede 
stehendeu Todesfällen die inneren Krankheitsursachen ihr Maximum 
erreichten, dem nur ein Minimum der äusseren entgegen steht. Also 
gerade das umgekehrte Verhältnis von dem, wie es bei dem früher 
zitierten Beispiele eines Schädelbruches nach Sturz aus grosser Höhe 
gegeben war. Hier war der Tod den äusseren Bedingungen zuzu- 
schreiben. während die inneren Ursachen vernachlässigt werden 


338 | F. v. Neureiter, [8 


konnten. Damit haben wir die beiden Endpunkte einer -Reihe fixiert. 
in die sich sämtliche zur Beobachtung gelangenden Todesfälle ein- 
ordnen lassen; ich sagte eine Reihe, da doch das Verhältnis von 
äusserer und innerer Krankheitsursache nicht immer so einfach ist, 
dass dem Maximum der einen ein Minimum. der anderen gegenüber- 
tritt. Die beiden Grössen verhalten sich vielmehr von Fall zu Fall 
je nach der Këorperverfassung und der äusseren Noxe ganz verschieden, 
so dass ihre Relation immer bestimmt werden sollte. Allerdings 
sind wir von der Möglichkeit, diese Forderung stets zu erfüllen, 
noch weit entfernt: doch ist zu hoffen, dass es mit dem Fortschritte 
der Konstitutionslehre gelingen wird, in jedem einzelnen Falle das 
gegenseitige Verhältnis dieser beiden Krankheitsursachen genau zu 
ermitteln. Auf diese Weise wäre dann dem Richter zur Beurteilung 
des Schuldausmasses eine exakte Unterlage gegeben und, die Beachtung 
der durch das schuldhafte Handeln heraufbeschworenen Folgen 
könnte wesentlich eingeschränkt werden. 

Für einzelne Todesarten ist uns die früher geschilderte, durch 
die Konst:tutionsforschung geförderte funktionelle Betrachtungsweise 
recht geläufig und ist auch bereits reichlich Material für ihre An- 
wendung zusammengetragen worden, wie vor allem die Lehre von: 
elektrischen Tode und von der Kohlenoxydgasvergiftung zeigt. Hier 
lenkte aber auch die Erfahrung besonders eindringlich das Augen- 
merk auf die im Inneren des Organismus verankerten Krankheits- 
bedingungen ; wie könnte man sich denn das in der Praxis so häufig 
zu beobachtende verschiedene Verhalten zweier Personen, die unter 
gleichen äusseren Bedingungen verunglückten, erklären, wenn nicht 
auf die individuelle Körperverfassung eingegangen würde. Dabei 
kommen in diesen Fällen nicht nur jene Konstitutionsanomalien 
in Betracht, die den Tod für sich allein verantworten können, sondern 
auch andere Krankheitszustände wie z. B. ein Herzklappenfehler, eine 
(sefäss-Sklerose, eine Nierenentzündung, Zustände, welche die Wider- 
standskraft des Individuums wohl herabmindern, sie jedoch nicht 
gänzlich aufheben. 

Die bisher in aller Kürze aufgeführten Konstitutionsanomalien 
erweisen sich für ihren Träger als ungünstig, indem sie seine An- 
passungsbreite gegenüber schädlichen Reizen stark einengen. Ihr 
Befund soll jedoch noch vielmehr dokumentieren können, denn sie 
werden auch bei Selbstmördern recht häufig gefunden. So dass es den 
Anschein hat, als ob mit diesen Zuständen nicht nur im Körperlichen 
sondern auch im Seelischen eine verminderte Resistenzfähigkeit gegen- 
über den Anforderungen des Lebens verbunden wäre, dass sie also 
als das pathologisch-anatomische Substrat einer sich im Körper und 


9] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 339 


in der Psyche äussernden degenerativen Veranlagung, welche eine 
biologische Minderwertigkeit bedingt, aufgefasst werden können. Aller- 
dings ist hiebei einschränkend zu bemerken, dass diese Feststellungen 
an Selbstmördern vornehmlich zu einer Zeit gemacht wurden, als 
man mit der Diagnose eines Status thymico-Iymphaticus oder einer 
Gefässhypoplasie viel weniger zurückhaltend war, als jetzt, zu einer 
Zeit, da man Befunde am Thymus, Lymphapparat und Gefässsystem 
schon als pathologisch wertete, die wir heute noch als normal an- 
erkennen müssen. Trotzdem ist es nicht zu bezweifeln, dass der 
Behauptung von der dispositionellen Bedeutung eines Status hypo- 
plasticus zum Selbstmord eine Berechtigung innewohnt, denn die 
Häufung seiner verschiedenen Stigmata, wie man sie an den Leichen 
von Selbstmördern immer wieder beobachtet, ist recht auffallend. 
Personen, die in ihrem körperlichen Baue viele Abweichungen von 
der Norm: aufweisen, sind eben auch psychisch abwegig beschaffen 
und weichen darum in ihren seelischen Reaktionen vom Typus leicht 
ab, dem das Streben nach Erhaltung des Daseins eingeboren ist. 

Bei der Besprechung der Anatomie der Selbstmörder ist es an 
der Zeit, darauf hinzuweisen, dass nicht nur mehr oder weniger 
beständige anlagemässig gegebene Zustände, welche die Körperver- 
fassung bilden, zu einem Selbstmorde in kausale Beziehung gesetzt 
werden dürfen. Diese fördernde oder eine Hemmung beseitigende 
Rolle muss auch vorübergehenden physiologischen Zuständen, die 
ja nach unserer Definition gleichfalls der Konstitution beizuzählen 
sind, zugesprochen werden. Mit der Erwähnung des Zustandes der 
Menstruation, der Schwangerschaft, der Pubertät, des Klimateriums, 
des Seniums mag es dabei sein Bewenden haben, ist doch ihre Bedeu- 
tung für das Entstehen einer den Selbstmord veranlassenden Ver- 
stimmung allbekannt. Dieser Hinweis legt uns die Frage nahe, ob 
nicht auch bei den Todesfällen, die wir früher im Auge hatten, der- 
artige passagäre Zustände in der Körperverfassung an der Bewirkung 
des Endergebnisses entscheidend teilnehmen können. Die Antwort 
darauf lautet, dass ‘dem wirklich so ist, man denke nur ap den Zu- 
stand der Verdauung, welcher für ein schwaches oder geschwächtes 
Herz zu einer Erhaltungsgefährdung wird, wenn reflektorisch durch 
die Vasomotoren oder durch die geänderte Zwerchfelltätigkeit in- 
folge der Füllung des Magens das Herz über Gebühr beansprucht 
wird. Mit der beispielsweisen Aufführung dieses physiologischen 
Zustandes iw seiner Einflussnahme auf den Todeseintritt soll erklärt 
werden, dass derartige geringfügige Verschiebungen in der Dauer- 
verfassung des Individuums gleichfalls berücksichtigt und in Rech- 
nung gestellt werden müssen, wenn es gilt. äussere und innere 


340 F. v. Neureiter. [10 


Krankheitsbedingungen in ihrer gegenseitigen Wertigkeit bei der 
Gutaehtenerstattung abzuschätzen. Natürlich sind hiebei die Schwierig- 
keiten, zu einem richtigen Urteil zu gelangen, viel grösser, als z. B. 
bei einem geplatzten Ulkus oder Aneurysma nach einem Trauma. 
Fälle, die gleichfalls im Rahmen unseres Themas Erwähnung finden 
müssen. u | 

Damit wollen wir das Gebiet der Thanatologie verlassen und an 
die Besprechung jener Zustände am Lebenden herantreten, die bei 
ihrer Begutachtung ein Eingehen auf die Konstitution des Indi- 
viduums erfordern. Zunächst seien da die Körperbeschädigungen 
durch ein Trauma erwähnt. Bei ihnen ist es eigentlich selbstverständ- 
lich, dass die Körperverfassung des von dem Trauma betroffenen 
Individuums immer mit berücksichtigt werden muss, denn die Objekte 
unserer Untersuchungen sind ja nicht Verletzungen, sondern verletzte 
Individuen, ganz abgesehen davon, dass es zur Beurteilung des Schuld- 
masses hier eben so notwendig ist, wie bei Todesfällen, die im Körper 
selbst verankerten Krankheitsbedingungen zu kennen, um sie den 
äusseren gegenüberstellen zu können. So ist z. B. ein Knochenbruchh 
infolge des schuldhaften Verhaltens eines Dritten bei einem gesunden 
Individuum und bei einem Tabetiker nicht gleich zu beurteilen, die 
verschiedene Stellungnahme ergibt sich aber erst, wenn die schon 
vor dem Unfall bestandene Körperverfassung der beiden verletzten 
Personen in Rechnung gezogen wird. Das Auftreten nervöser Stö- 
rungen, die Entwicklung einer Rentenhysterie nach einem Trauma 
nötigt uns auf die Konstitution des Verunfallten, in welcher die Dis- 
position zu derartig abnormen Reaktionen gegeben sein muss, einzu- 
gehen, denn dem Trauma kommt in solchen Fällen nur die Rolle 
eines auslösenden, nicht die eines verursachenden Faktors zu, wie 
heute allgemein angenommen wird. Schliesslich sei noch des un- 
günstigen Einflusses eines Diabetes auf die Heilungstendenz einer 
Wunde oder der Gefahren einer blutigen Verletzung für einen 
Hämophilen gedacht, um zwei weitere Beispiele für die Notwendigkeit 
einer konstitutionellen Betrachtungswe'se bei der Begutachtung von 
Körperbeschädigungen zu bieten. Allein nicht nur bei Körperver- 
letzungen durch mechanische Mittel sondern auch bei solchen durch 
(Gifte muss des öftern auf die einer abnormen Reaktion zugrunde 
liegende besondere Körperverfassung des Organismus zurückgegriffen 
werden. Das Phänomen der Idiosynkrasie, mit dem der Gerichtsarzt 
nicht allzu selten zu operieren hat, ist ja nichts anderes als der Aus- 
druck einer konstitutionellen Eigentümlichkeit, die sich in einem von 
der Mehrzahl der Menschen abweichenden Verhalten auf die Einver- 
leibung eines Giftstoffes kundtut. Die entweder in qualitativer oder 


11] Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. 341 


nur in quantitativer Beziehung ungewohnte Reaktionsweise eines 
Individuums beweist eine Überempfindlichkeit des Organismus, die 
ihren Grund nur in der Konstitution des Vergifteten haben kann. 
Übrigens sind wir auch bei den physikalischen Krankheitsursachen 
berechtigt von Idiosynkrasien einzelner Personen zu sprechen, wie 
dies erst unlängst für die Wirkung der Röntgenstrahlen ermittelt 
wurde, eine Feststellung, die bei der Begutachtung von Röntgen- 
schädigungen nicht ausser acht zu lassen ist. 

Bisher galt unsere Darstellung der Beziehungen zwischen Konsti- 
tutionslehre und gerichtlicher Medizin durchwegs Problemen, die uns 
die Arbeit bei den Strafgerichten zur Lösung aufgibt und bei denen 
es auf eine scharfe Scheidung zwischen äusseren und inneren Krank- 
heitsursachen ankommt. Natürlich werden ähnliche Fragestellungen 
auch auf anderen Gebieten des Rechtlebens auftauchen und dann vom 
Arzte gleichfalls unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Konsti; 
tutionslehre zu beantworten sein. Allerdings ist die Einstellung auf 
das endogene Moment beim Krankheitsgeschehen bei der Begutachtung 
von Rechtsfällen nirgends so wichtig wie im Strafverfahren; am 
wenigsten Bedeutung scheint sie mir für die Fälle; die nach den Nor- 
men des Versicherungsrechtes beurteilt werden, zu besitzen. Denn 
bei letzteren handelt es sich um die Zuerkennung eines Ersatzes für 
verloren gegangene oder verminderte Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit ; 
für sie genügt die Feststellung einer die: Arbeitskraft beschränkenden 
oder aufhebenden Beschädigung und ihres Bedingtseins durch einen 
Unfall. Die Trennung, wieviel der eingetretenen Folgen auf Rechnung 
der Körperverfassung zu setzen und wieviel dem Unfallereignisse 
selbst zuzuschreiben ist, erscheint dabei ganz unwesentlich, da die 
Höhe des zu leistenden Ersatzes nicht nach dem Ausmasse des Ver- 
schuldens eines Dritten, sondern ausschliesslich nach den Folgen, 
die der Tinfall heraufbeschworen hat, bestimmt wird. 

Dafür gibt: es im bürgerlicken Rechte noch einzelne spezielle 
Fragen, deren Lösung uns die Konstitutionsforschung wesentlich 
erleichtert. Ich meine damit die Beurteilung der Zeugungsfähigkeit 
heim Manne und beim Weibe. Nicht dass wir uns jetzt nach Kenntnis- 
nahme der Ergebnisse der Konstitutionslehre die Anwendung der 
Untersuchungsmethoden, wie sie sonst bei der Entscheidung dieser 
Fälle üblich waren, ersparen könnten, aber so mancher am Genital- 
apparat zu erhebende Befund wird uns verständlich, wenn wir an 
dem untersuchten Individuum die Zeichen eines Infantilismus, einer 
hypogenitalen oder eunuchoiden Konstitution erheben, so manche von 
dem Untersuchten vorgebrachte Behauptung über den abnormen Ab- 
lauf seines (teschlechtslebens erscheint uns glanbwürdig, wenn am 


342 F. v. Neureiter, Konstitutionslehre und Gerichtliche Medizin. [12 


Körper die Symptome einer der soeben aufgezählten Konstitutions- 
anomalien zu finden sind. So dass unsere Tätigkeit auch in diesen 
Belangen durch die Konstitutionslehre eine wesentliche Förderung er- 
fahren hat. Schliesslich soll noch erwähnt sein, dass die Bemühungen 
um eine individuelle Blutdiagnostik letzten Endes gleichfalls in der 
Konstitutionsforschung fussen, denn alles was sich mit der Beschrei- 
bung und der Erklärung von biologischen Erscheinungen am Indi- 
viduum und nicht am Typus beschäftigt, gehört zum Aufgabenkreise 
der Konstitutionslehre. 


Damit finde unsere Darstellung, die den Berührungspunkten 
zwischen gerichtlicher Medizin und Konstitutionslehre gewidmet war, 
ihren Abschluss. Des Nutzens, den der gerichtliche Mediziner bei 
der Erfüllung seiner Berufspflicht aus der Kenntnis der Lehre von der 
individuellen Körperverfassung ziehen kann, ist dabei stets gedacht 
worden. Allein so fruchtbringend sich für uns der konstitutionelle 
Gedanke als Arbeitshypothese erwiesen hat, er kann auch schweren 
Schaden stiften, wenn seiner Anwendung eine kritische Überlegung 
mangelt. Und leider verfällt auch die Konstitutionsforschung, die 
wie jede junge Lehre zu vorschnellen Verallgemeinerungen neigt. 
leicht und des öfteren in den Fehler, Erscheinungen und Reaktionen 
des Organismus auf die Konstitution beziehen zu wollen, bevor noch 
andere Deutungsmöglichkeiten berücksichtigt und gewertet wurden ; 
so dass die Mahnung, sich bei der Nutzniessung der Ergebnisse der 
Konstitutionsforschung einer kritischen Zurückhaltung zu befleissigen. 
nicht unberechtigt erscheint, zumal hier noch alles im Flusse ist 
und daher manches, was heute als gesicherter Besitz gilt, schon 
morgen abgetan sein kann. 


Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 


Von 
Franz Prange, Berlın. 


Die wachsende Einsicht in den Mechanismus und die Physiologie 
der normalen Geschlechtsbestimmung und Geschlechtsdifferenzierung 
durch Beobachtung und Experiment gestattet uns heute, auch aus der 
auf den ersten Blick so verwirrenden Fülle hermaphroditischer Miss- 
bildungen im Tierreich bestimmte Typen von Zwittern genauer abzu- 
grenzen, die als genetisch einheitliche Gruppen anzusehen sind. Die 
Erblichkeitsforschung einerseits hat wahrscheinlich gemacht, dass die 
Vererbung des Geschlechts einen einfachen Fall einer Mendelschen 
Rückkreuzung darstellt, derart, dass das eine Geschlecht heterozygo- 
tisch, das andere homozygotisch für einen Geschlechtsfaktor ist. Auf 
der anderen Seite haben die Studien über die Wirkungsweisen der 
innersekretorischen Drüsen, spez. der Keimdrüsen, die grosse Bedeu- 
tung derselben für die definitive Ausgestaltung der sekundären Ge- 
schlechtscharaktere erwiesen. 

Gerade die Ergebnisse der Keimdrüsentransplantation, die von 
Harms und Steinach inauguriert einen tiefen Einblick in die ge- 
schlechtsspezifische Wirkungsweise der Gonaden verschafft haben, und 
vor allem die gelungene Ausbildung von männlichen und weiblichen 
Sexualcharakteren in einem Individuum durch einen künstlichen Ova- 
riotestis legten den Gedanken nahe, die Ursache der spontan auf- 
tretenden teratologischen Zwitterbildungen von den ausgesprochenen 
Formen des somatischen Hermaphroditismus bis zu den rein psycho- 
sexuellen Inversionen der Homosexualität in einer zwittrigen Keim- 
drüse zu suchen. Diese Annahme einer unbedingten Abhängigkeit 
der sekundären Geschlechtscharaktere von der Hormonproduktion der 
entsprechenden Keimdrüse hat aber schon innerhalb der Säugetier- 
klasse keine volle Gültigkeit, da sehr ott Fälle beobachtet werden, 
bei denen Keimdrüse und sekundäre Geschlechtscharaktere sich nicht 

Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 1. 23 


344 Franz Prange. [2 


entsprechen, worauf schon Neugebauer auf Grund seiner ausge- 
dehnten Studien an menschlichen Zwittern hingewiesen hat. 

Bei den Vögeln ist der geschlechtsspezifische Einfluss der Keimdrüse 
nur sehr bedingt vorhanden, indem schon das Fehlen des Eierstockhormons 
die Ausbildung der männlichen Geschlechtsattribute im kastrierten 
weiblichen Tier auslösen kann, während bei den Amphibien bei 
kastrierten Froschmännchen der für das männliche Geschlecht charak- 
teristische Klammerreflex auch durch Injektion von Ovarialextrakt aus- 
gelöst zu werden vermag. Bei den Wirbellosen darf eine innere Sekretion 
der Keimdrüsen überhaupt geleugnet werden, wie diesbezügliche Ver- 
suche an Schmetterlingen und Grillen ergeben haben. Es sind bei den 
niederen Tieren die Somazellen auf Grund des ihnen durch den Ge- 
schlechtschromosomenmechanismus immanenten Sexualcharakters im- 
stande, von sich aus die homologe Geschlechtlichkeit hervorzubringen. 
Erst im Verlauf der Phylogenese scheint dann eine immer grösser 
werdende Abhängigkeit der somatischen Zellkomplexe von dem pro- 
tektiven Reize einer geschlechtsspezifischen Hormonquelle sich heraus- 
zubilden, die sich in der Keimdrüse lokalisiert hat. Diese Anschauung, 
die besonders durch grundlegende Arbeiten Goldschmidts an 
Schmetterlingen, Pezards, Godales u. a. an Vögeln sehr an Wahr- 
scheinlichkeit gewonnen hat, gestattet, zunächst zwei grosse, genetisch 
scharf voneinander getrennte Gruppen von Zwitterbildungen heraus- 
zuheben, auf die Goldschmidt zuerst aufmerksam gemacht hat, 
nämlich die der Gynandromorphen und Intersexe. 

Bei den Gynandromorphen haben wir die Ursache in einer Störung 
des X-Chromosomenmechanismus zu sehen, derart, dass wir Zellen 
mit und ohne X-Chromosom erhalten. Die so in ihrem Chromosomen- 
bestande verschiedenen Zellkomplexe, die daraus resultieren, werden 
daher auch einen verschiedenen sexuellen Charakter haben, so dass 
das Individuum aus männlichen und weiblichen Mosaikteilen zusammen- 
gesetzt erscheint. Das bekannteste Beispiel sind die Eugsterschen 
Zwitterbienen, die aus der Kreuzung zweier unterschiedlicher Rassen 
hervorgegangen männliche und weibliche Merkmale in zahlreichen 
Variationen bei demselben Individuum aufwiesen, wobei alle männ- 
lichen Teile den Charakter der mütterlichen Rasse zeigten. Ähnlich 
dürften die Verhältnisse bei den sexuellen Mosaikformen der Vögel 
liegen, bei denen besonders die Halbseitenzwitter bekannt geworden 
sind, nur wird hier das Endergebnis etwas kompliziert durch das 
Hinzukommen der geschlechtsspezifischen Keimdrüsensekretion, was 
ja bei den sexuell autonomen Zellen der Arthropoden nicht der Fall 
ist. Hat eine Zelle ihren Chromosomenbestand erhalten, so ist auch 
der definitive Sexualcharakter aller aus ihr hervorgehenden Organe 





3] l Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 345 


für das ganze Individualleben bestimmt. Das Wesentliche wäre 
demnach beim Gynandromorphismus eine Störung des Verteilungs- 
modus der Geschlechtschromosomen, die bereits auf dem Zwei- 
blastomerenstadium erfolgen kann — es entständen so die bilateralen 
Zwitter —, aber auch nocb bedeutend später, so dass etwa nur 
ein Fuss, ein Flügelstück oder eine Antenne sich heterosexuell ent- 
wickeln würde. | 

Anders bei dem Phänomen der Intersexualität. Hier ist nicht 
der Verteilungsmechanismus der Geschlechtschromosomen ge- 
stört, sondern diese sind in ihrer physiologischen Wertigkeit 
disharmonisch gegeneinander abgestimmt, so dass die durch den Ver- 
teilungsmechanismus bestimmte genetische Geschlechtspersönlichkeit 
noch ın einem relativ späten Stadium der Ontogenese eine Umkehrung 
ins entgegengesetzte Geschlecht erfährt. Diese von Goldschmidt 
an Kreuzungen verschiedener Schwammspinnerrassen studierten Inter- 
sexe haben in ihrer larvalen Entwicklung einen „Drehpunkt“, dessen 
zeitliches Erscheinen von der rassenmässig bestimmten Valenz der 
miteinander rivalisierenden Geschlechtsenzyme abhängt. Alle dies- 
seits des Drehpunktes schon differenzierten Sexualcharaktere ent- 
wickeln sich im Sinne des durch den Chromosomenbestand gegebenen 
genetischen Geschlechts, aber die beim Eintritt des Drehpunktes noch 
plastischen, nicht ausdifferenzierten Geschlechtsattribute beenden ihre 
Entwicklung im Sinne des anderen Geschlechts. So kann der Dreh- 
punkt so früh einsetzen, dass zwar die Gonaden dem genetischen 
Geschlecht, alle sekundären Charaktere jedoch dem entgegengesetzten 
entsprechen. Oder bei späterem Drehpunkt werden auch noch Flügel- 
färbung und Antennenbildung mehr oder minder den genetischen 
Charakter tragen, während der Sexualinstinkt invertiert wird. Während 
also beim gynandromorphen Individuum beide Arten von Geschlechts- 
charakteren sich zeitlich nebeneinander entwickeln, geht ein 
durch den Drehpunkt bezeichneter scharfer Schnitt durch die Onto- 
genese des Intersexes; dieser entwickelt sich bis zu einem gewissen 
Zeitpunkt als genetisches Weibchen (resp. Männchen), und vollendet 
nach Eintritt des Drehpunktes seine Entwicklung als Männchen (resp. 
Weibchen), soweit die sexualspezifischen Organsysteme noch plastisch 
sind und die entsprechende Differenzierung zulassen. 

Dieser Typus einer Genese zygotischer Intersexualität ist bisher 
nur bei Arthropoden studiert worden, es erscheint nun aber auch 
möglich, aus den Zwittererscheinungen bei Säugern Typen heraus 
zu schälen, deren Genese nach Analogie der Schwammspinnerintersexe 
einer Erklärung zugänglich ist, wenngleich das relativ klare Geschehen 
bei letzteren durch das Hinzutreten der Keimdrüsensekretion bei den 


23* 


346 Franz Prange. [4 


Wirbeltieren undurchsichtiger gemacht wird. Im Folgenden soll nun 
der Versuch gemacht werden, an der Hand von vier Fällen zwittriger 
Ziegen, die schon bei oberflächlicher Betrachtung auf Grund ihrer 
ähnlichen anatomischen Verhältnisse die gleiche Gesetzmässigkeit ihrer 
Entstehung vermuten lassen, die aus den Studien über Physiologie 
und Mechanik der Geschlechtsbestimmung gewonnenen Ergebnisse auf 
teratologische Formen der Wirbeltiere auszudehnen. 


Es handelt sich um etwa neun Monate alte Tiere, die sich im äusseren 
Habitus von gleichaltrigen weiblichen Artgenossen durch eine hypertrophische 
Klitoris, männlichen Geschlechtstrieb, etwas gedrungenen Knochenbau, unter- 
entwickelte Milchdrüsen, und männliche Behaarung unterscheiden, -wie sie am 
Kopfe in Form von rückwärtsgebogenen Stirnlocken für das männliche Geschlecht 
typisch ist. Die sodann vorgenommene Sektion ergab beim ersten Falle folgenden 
makroskopischen Befund: Jederseits ein normalgebildeter 4x 2'iz cm langer 
Hoden und Nebenhoden in der Inguinalgegend; durch das Fehlen des Skrotums, 
dessen Bildungsmaterial zum Bau der Labia maiora verwandt war, ist daher 
trotz des normalen Descensus testiculorum die typische Lokalisation der Hoden 
unmöglich gemacht. Neben dem Ductus deferens läuft ein solider Strang kranial- 
wärts, der sich als obliterierte Tube erweist, die in einen relativ zu den weib- 
lichen Verhältnissen sehr kleinen Uterus duplex (5,5 cm Länge) — normalerweise 
findet sich ein Uterus bicornis — übergeht. Der Uterus setzt sich ohne besondere 
Andeutung einer Portio vaginalis uteri in eine qualitativ und quantitativ eben- 
falls bypoplastische, jedoch durch Anwesenheit der typischen Faltenbildung als 
solche deutlich charakterisierte Vagina fort; diese mündet etwas unterhalb der 
beiden Mündungen der Samenleiter als enger, mit stricknadelstarker Sonde eben 
passierbarer Kanal in die Urethra, um dann mit dieser einen 3,5 cm langen, 
engen und undehnbaren Sinus urogenitalis zu bilden, dessen Orificiam externum 
topographisch den normalen weiblichen Verhältnissen entspricht. Die Samenleiter 
folgen in ihrem Verlaufe der lateralen Wand des weiblichen Genitaltraktus, um 
dann an der erwähnten Stelle auf einer als Colliculus seminalis zu deutenden 
Schleimhautfalte der Urethra auszumünden. Der in der uterinen Zone befindliche 
Teil liegt innerhalb des Ligamentum latum, während der vaginale Teil in der 
Muscularis der Vagina liegt; er zeigt hier eine deutliche ampullenartige, mit 
Gallert erfüllte Erweiterung, die als Ampulla vasis deferentis aufzufassen ist. 
Lateral sitzt in dieser Region jederseits eine etwa walnussgrosse höckerige 
Drüse, die Vesicula seminalis, dem Samenleiter auf, in den sie distal von der 
Ampulle mit einem sondierbaren Ductus excretorius endet. 


Von den äusseren Genitalorganen erweist sich das als hypertrophische 
Klitoris imponierende Gebilde als primär weiblich angelegt, was besonders durch 
den für die Kavikornier typischen, etwa 1,5 mm langen Hautzapfen unterhalb der 
Glans clıtoridis wahrscheinlich gemacht wird; die Glans entspricht einer ver- 
kleinerten männlichen, und ist dorsal von einem Präputium umgeben, das sich 
beiderseits in die Labia minora fortsetzt, die zwischen sich das enge Orificium 
des Sinus urogenitalıs einschliessen. Die Corpora cavernosa lassen sich als etwa 
kleinfingerdicker, fibröser Strang, der den männlichen Dimensionen kaum nach- 
steht, bıs zu Jen unteren Schambeinästen verfolgen und zeigen auf diesem Wege 
starke Windungen in lateraler und dorsoventraler Richtung, ein für das weibliche 
Geschlecht typisches Verhalten. Die Urethra sensu strictiore besitzt eine Länge 


— — — — 


5] Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 347 


von 3 cm, womit sie etwa die Mitte zwischen männlichen und weiblichen Ver- 
hältnissen innehält. Ein Musculus cavernosus urethrae ist nicht vorhanden. 
Überhaupt ist die Strecke, die den Sinus urogenitalis umfasst, in der vorliegenden 
definitiven Bildung ausserordentlich verzerrt und bietet einer retrospektiven 
Analyse gewisse Schwierigkeiten. Die Milchdrüsen zeigen nur minimales Drüsen- 
gewebe. Die übrigen inkretorischen Drüsen zeigen sämtlich normale Befunde. 
Am Skelett ist noch keine Verknöcherung der Epiphysenfugen erfolgt, eine im 
Hinblick auf das Alter des Tieres nicht pathologische Erscheinung. Da es sich 
um ein Exemplar der hornlosen Saanenziegenrasse handelt, die bei beiden Ge- 
schlechtern nur einen etwa 1,5 cm hoben Knochenzapfen auf dem Os frontale 
anstatt der bekannten Ziegenhörner trägt, findet sich dieses akzidentelle Ge- 
schlechtsmerkmal auch nur in diesem Entwicklungsgrade vor. Interessant da- 
gegen ist der Befund am Becken, dessen absteigende Schambeinäste an der 
Symphyse einen Angulus pubis von etwa 85° bilden, während beim weiblichen 
Geschlecht ein ausgesprochener Arcus pubis vorhanden ist. Wie Vergleiche mit 
weiblichen und männlichen Becken zeigten, ist auch hier wieder ein intermediäres 
Verhalten zu konstatieren, wie es auch von Stieve und Waldeyer bei 
menschlichen Scheinzwittern beschrieben wurde’), Das Skelett in seiner Ge- 
samtheit jedoch nähert 'sich in seiner groben Modellierung mehr dem männlichen 
Geschlecht. 

Abweichend ist bei Fall 2 das Verhalten der Hoden, deren Deszensus 
vollständig unterblieben ist, sodass sie den Situs der Ovarien einnehmen. Hier- 
durch ist eine wesentliche Verkürzung des Vas deferens, sowie des kranialen 
Teiles der Uterushörner, die innerhalb des Ligamentum latum neben dem Kopf 
des Nebenhodens blind enden, bedingt. Der Hoden selbst ist von weicherer 
Konsistenz, mit 3 x 2 cm noch kleiner und gelblich blässer als der des vorigen 
Falles, zeigt jedoch trotz der für einen Hoden ungewöhnlichen Lage die typische 
Gefässversorgung, die besonders in dem charakteristischen Bilde des Plexus 
pampiniformis zum Ausdruck kommt. Dem Hoden aufgelagert ist der Neben- 
hoden, dessen Körper auffallend weich ist; dies Organ ist nicht mehr so scharf 
herausmodelliert wie im vorigen Falle, die Dystopie hat Knickungen und 
Windungen veranlasst, wodurch er etwas verändert erscheint. Trotzdem sind 
Kaput, Korpus und Kauda voneinander zu unterscheiden. Die Ductus deferentes 
laufen wieder an der lateralen Wand der Uterushörner resp. der Vagina kaudal- 
wärts, um rechts und links neben letzterer in die Urethra zu münden. In der 
Höhe des unteren Scheidendrittels bilden sie wieder ampullenartige Erweiterungen, 
wenn auch nicht so lang und breit wie im Falle 1. Unterhalb der Ampullen 
münden die Ductus excretorii der bier ebenfalls kleineren, etwa haselnussgrossen 
Samenblasen in die Samenleiter ein. Uterus und Vagina sind wesentlich weiter 
entwickelt, ersterer misst von dem blindgeschlossenen Horn bis zur Portio 12 cm, 
letztere 11 cm. Die Uteruswand besitzt deutliche wulstförmige Erhebungen der 
Mucosa, und die Vagina zeigt die typischen Rugae in ausgeprägtester Weise. 
Die sich bis zu den Nebenhoden jederseits fortsetzenden Uterushörner zeigen 
durchweg Uteruscharakter; eine Tube, auch im obliterierten Zustande, ıst nicht 
vorhanden. Der Situs des weiblichen Genitaltraktus und seine Befestigungs- 
mittel entsprechen der normalen weiblichen Topographie dieser Organe. Im 
Übrigen decken sich die Befunde mit denen des vorigen Falles. 


ı) Ein ähnliches intermediäres Verhalten des Skelettsystems hat Weil 
durch ausgedehnte Messungen bei normalen und in ihrer Tıiebrichtung invertierten 
Menschen festgestellt. 


348 Franz Prange. [6 


Fall 3 und 4 sind Zwillinge, die völlig identisch sind; ein Vergleich mit 
Fall 2 zeigt nur noch eine weitere Entwicklung des Uterus im quantitativen 
Sinne (14 cm), während Ampullen und Samenblasen im gleichen Sinne ver- 
kleinert sind. Die histologischen Befunde entsprechen wieder durchaus denen 
des vorigen Falles. 


Besonderes Gewicht wurde auf die Untersuchung der Keimdrüsen gelegt, 
denen ein besonderer Einfluss auf die Zwitterbildungen zugeschrieben wird, der 
aus der Zwittrigkeit der inkretorischen Anteile der Keimdrüse resultieren soll. 


Die als Keimdrüse erscheinenden Gebilde lassen sich schon makroskopisch 
eindeutig als Hoden erkennen, wenn auch ihre Grösse erheblich hinter derjenigen 
bei normalen Tieren zurückbleibt. Die Hodengrösse des normalen geschlechts- 
reifen Ziegenbockes beträgt etwa 10,5 x 6 cm, während die Hoden der Zwitter 
im Maximum nur eine Grösse von 4,5 x 2,5 cm aufweisen. Trotzdem ist die 
anatomische Struktur im Prinzip durchaus normal; im Querschnitt lässt sich ein 
deutliches, etwas exzentrisch gelegenes Mediastinum testis nachweisen, eine 
Anzahl Vasa efferentia geht in den Kopf des Nebenhodens über. Die Tunica 
albuginea ist von normaler Beschaffenheit und bildet mit dem Ligamentum latum 
die einzige bindegewebige Umhüllung, ausgenommen im Falle 1, wo die Passage 
durch den Anulus inguinalis auch zur Bildung einer Tunica vaginalis geführt 
hat. Das braungelbe, ziemlich weiche Hodenparenchym ist in allen Teilen 
durchaus homogen, von ovariellen Einsprengseln ist nichts zu bemerken. 


Der maskuline makroskopische Habitus des Hodens wird durch das histo- 
logische Bild bestätigt. Die Samenkanälchen bieten das typische Verhalten des 
kryptorchen oder transplantierten Hodens. .Stets ist das Epithel einschichtig, 
wenngleich man hier eine Differenzierung der indifferenten Spermiogonien in 
echte Spermiogonien und Sertolische Zellen konstatieren kann. Das Plasma 
ist nach dem Lumen zu scharf abgegrenzt. Es zeigt eine wabige Struktur, die 
von Vakuolen herrührt, die sich an Gefrierschnitten mit Sudan lebhaft tingieren. 
Nach dem Mediastinum zu flacht sich das Keimepithel ab, und die Zellen nehmen 
den Charakter der platten Epithelzellen an. Das Zwischengewebe zeigt eine 
‚grosse Ausdehnung, erscheint gegenüber dem normalen Hoden relativ vermehrt, 
bleibt absolut jedoch hinter dessen Zwischengewebsmasse zurück, da die Ge- 
samtgrösse des Zwitterhodens kaum ein Viertel der normalen beträgt. Auch 
die Leydig-Zellen scheinen relativ vermehrt; während sie normalerweise nur 
sehr sporadisch angetroffen werden, sind sie hier zu kleinen Gruppen bis zu 5 
und mehr vereinigt. Sie sind übereinstimmend mit solchen aus normalen Hoden 
gebaut, auch ist ihre Grösse ziemlich gleichartig, sodass das für den F-Zellen- 
charakter (Steinach) nötige Kriterium der Grösse hier ausscheidet. Da sie 
sich äusserst schwach mit Sudan tingieren, sind ihre trophischen Fähigkeiten 
offenbar sehr mangelhaft entwickelt. Diese Annahme entspricht durchaus dem 
Gesamtbefunde, nach dem eine männliche Keimdrüse vorliegt, die zwar noch in 
abgeschwächter Form die typischen Reaktionen (Vermehrung der Leydig- 
Zellen zwecks Regeneration des generativen Gewebes), jedoch weibliche Elemente 
in keiner Form auch nur andeutungsweise erkennen lässt. 


Die weiblichen Atribute unserer Fälle bestanden in einem Uterus 
nebst Vagina, der dreimal die Verhältnisse einer solchen der prä- 
menstruellen Ziege bot, also eines Tieres, dessen Keimdrüse ihre 
protektire Wirkung noch nicht begonnen hatte, während im ersten 


7) Neuere Anschauungen über Hermaphroditisinus. 349 


Falle der weibliche Genitaltraktus einen Zustand hochgradiger Hypo- 
plasie aufwies, der keine Parallele mehr zu irgend einem normalen 
Stadium besass. 

Das äussere Genitale war als nur primär weiblich bezeichnet 
worden, die stärkere Ausbildung der Corpora cavernosa und der Glans 
clitoridis sprach für eine spätere Maskulierung, deren Wirkung hier 
die gleiche ist, die Lipschütz an dem weiblichen Genitale des im 
jugendlichen Alter experimentell maskulierten Meerschweinweibchens 
und Romeis kürzlich an einer maskulierten Hündin beobachtet 
haben. Die genannten Organteile erfahren ihre definitive Fixierung 
erst in der Pubertät und repräsentieren beim Weibchen eine Durch- 
gangsform (Poll); eine präpuberale Maskulierung bedeutet hier die 
Steigerung der letzteren in die männliche Endform als Fall ein- 
sinnig gerichteter Versibilität. Es bleiben als weibliche Merkmale 
nur Uterus und Vagina, und auch diese nur in einem Zustande, der 
bestenfalls dem infantilen des normalen Weibchens gleicht und bloss 
auf Grund der seinem Soma immanenten weiblichen Tendenz jenen 
vorliegenden Entwicklungsgrad erreicht hat, der ausserdem noch unter 
dem hemmenden Einflusse des Hodeninkretes stand. Im Gegensatz 
hierzu zeigen die männlichen Geschlechtsmerkmale, soweit sie vor- 
handen sind, von dem Fehlen der Spermatozoen in Hoden und Samen- 
blasen abgesehen, durchweg den Grad der für das geschlechtsreife 
Tier typischen Ausbildung, wie er physiologisch (Sekretion der Samen- 
blasen, Libido sexualis, Behaarung) zum Ausdruck kommt. 

Bemerkenswert ist das Fehlen des typisch männlichen Drüsen- 
komplexes der Prostata. Dieser Drüsenkomplex entsteht embryonal 
zu einer Zeit, wo die Samenblasen schon als lange röhrenförmige, 
kraniolateral gerichtete Drüsen vorhanden sind. Dieses Faktum ist 
von besonderer Bedeutung für das Verständnis des Nichtvorhanden- 
seins der Prostata und der absoluten Kleinheit der Samenblasen. 
Schon Pick macht bei Beschreibung seiner Schweinehermaphroditen 
darauf aufmerksam, dass sie „als eine in den Verlauf des Vas deferens 
eingeschaltete, gleichsam ampulläre Formation vollkommen aus dem 
physiologischen Rahmen des Tieres heraustreten“, während sie nor- 
malerweise zusammen mit den Samenleitern auf dem Colliculus seminalis 
ausmünden, aus welchem Grunde er sie als „Pseudosamenblasen“ 
bezeichnet. Sie zeigen denselben kranialwärts verschobenen Situs 
wie bei den Ziegenzwittern. Auch hier sind die Samenblasen in den 
Verlauf des Samenleiters eingeschaltet, ihr Ductus excretorius mündet 
in den letzteren weit oberhalb des Colliculus seminalis. Es liegt hier 
eine Persistenz des embryonalen Zustandes vor, auf dem die Samen- 
blasen ziemlich weit kranialwärts in die W olfschen Gänge einmünden, 


350 Franz Prange. [8 


weshalb im normalen Entwicklungsverlauf eine fortgesetzte Abschnü- 
rung der Ductus ejaculatorii stattfindet, die bei den Zwittern aus- 
geblieben ist, wodurch sich die Dystopie der „Pseudosamenblasen‘“ 
erklärt. Wie Pallin weiter am normalen männlichen Rinderfötus 
beobachtete, ist in dieser Zeit der kaudale verschmolzene Teil der 
Müllerschen Gänge stark angeschwollen, der kraniale Teil eine mit 
Zylinderepithel ausgekleidete schmale Röhre. Der männliche Fötus 
von 10 cm Länge erscheint in die eingeschlechtliche Richtung noch 
nicht sehr verschoben, da auf diesem Stadium zwar schon der W olf- 
sche Gang Samenblasen, die allerdings noch nach Art der definitiven 
Pseudosamenblasen bei Zwittern lokalisiert sind, erhalten hat, anderer- 
seits aber noch ein Uterus masculinus nebst Vagina in die Pars 
prostatica einmündet. Bemerkenswert ist, dass die kranialen Partien 
der Müllerschen Gänge bereits obliteriert sind, eine Entwicklung 
der Tuben und der distalen Partien der Cornua uteri daher nicht 
mehr möglich ist. Was nun die äusseren Genitalien angeht, so ist 
beim 3,2 cm langen Schafembryo (Fleischmann) der sexuelle Di- 
morphismus äusserlich nur durch die etwas grössere Dammlänge des 
Männchens sichtbar, innerlich auch durch den englumigen Urogenital- 
kanal der späteren Pars cavernosa urethrae. Der Phallus ist noch 
völlig indifferent. 

Was würde nun die Folge sein, wenn in diesem Stadium die bis 
dahin in männliche Richtung orientierte sexuelle Tendenz in die 
entgegengesetzte umschlagen würde? Die schon ziemlich weit ent- 
wickelten männlichen Charaktere wie Hoden, Nebenhoden und Wolf- 
sche Gänge mit ihren Samenblasen würden zwar nicht mehr obliterieren, 
aber in ihrer Weiterentwicklung gehemmt, während nun die Derivate 
der Müllerschen Gänge, soweit sie noch vorhanden und plastisch 
genug sind, auf die ihnen adäquaten Impulse mit Wachstum reagieren. 
Der Sinus urogenitalis, der bereits maskulinen Einflüssen ausgesetzt 
war, die die erwähnte Englumigkeit bewirken und sehr frühzeitig 
die Gegend des Colliculus seminalis modellieren, würde nun nicht 
mehr jene maskuline Ausdehnung bis in die Regio umbilicalis er- 
fahren, sondern die dem indifferenten und weiblichen Typus gemein- 
same Kürze beibehalten. Der noch indifferente Phallus würde sich 
in weiblicher Richtung entwickeln, ohne Spuren der ersten männlichen 
Vergangenheit zu tragen. Tatsächlich entsprechen die Ziegenzwitter 
diesem inversen Typus. Sie wären also sekundäre Weibchen resp. 
intersexuelle Männchen (Goldschmidt, 1919). Der feminine Um- 
schlag hat nicht bei allen zu gleicher Zeit stattgefunden, am spätesten 
im Falle 1, dessen weibliche Merkmale infolge der schon gesunkenen 
plastischen Kraft auch die geringste Entwicklung erfahren haben, 


9] Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 351 


während vice versa die männlichen Merkmale (teilweiser Deszensus, 
grössere Samenblasen und Ampullen) besser zur Ausbildung gekommen 
sind. In den anderen 3 Fällen ist das Verhalten der genannten 
Merkmale bedeutend weiter nach der weiblichen Richtung verschoben, 
da hier die weibliche Tendenz die entgegengesetzte früher überwunden 
hat. Dass die in männlicher Richtung formenden Faktoren tatsäch- 
lich ausgeschaltet waren, kommt in dem Fehlen der Prostata zum 
Ausdruck, deren Entstehungszeit gerade in die kritische Periode der 
sexuellen Version fällt. Ferner in der der embryonalen Topographie 
zur Zeit des Umschlages entsprechenden Persistenz der kranialwärts 
verschobenen Samenblasen. Auch die auffallend geringe Grösse der 
Hoden, deren hauptsächlichstes Wachstum in die spätere Lebenszeit 
fällt, spricht für ein Fehlen der maskulinen Impulse von diesem Zeit- 
punkt ab. 

Die Analyse der Ziegenzwitter hat ergeben, dass die Entwicklung 
ın allen vier Fällen in männlicher Richtung begonnen hatte und erst 
zu einer Zeit, in der das für die weiblichen Organe nötige Bildungs- 
material schon teilweise wieder eingeschmolzen war (Fehlen der Tuben 
und der kranialen Uteruspartien), der Drehpunkt aufgetreten und die 
Entwicklung in weiblicher Richtung fortgesetzt war. 

Ein Moment bedarf nur noch der Klärung, ohne die die Ana- 
logie mit den intersexuellen Schwammspinnern falsch erscheinen könnte. 
Auf dieses Moment, welches die sexuelle Natur des Säugerzwitters 
verschleiert und infolge einseitiger Überschätzung der Wirkung der 
inneren Sekretion bisher viele Analysen auf Irrwege geführt hat, sei 
besonders aufmerksam gemacht. Wenn man von dem aktuellen Zu- 
stand der Ziegenzwitter, d. h. zur Zeit der Sektion, ausgehend die 
sexualspezifische Qualität der einzelnen Merkmale untersucht, so kommt 
man zu der obiger Auffassung scheinbar widersprechenden Entdeckung, 
dass die Erotisierung der Tiere durchaus maskulin ist. Der Ge- 
schlechtstrieb, die Milchdrüsen, die Behaarung sind ausgesprochen 
männlich; die Samenblasen sezernieren, das weibliche Genitale, dessen 
Corpora fibrosa und Glans clitoridis bis zur Pubertät ihre Plastizität 
bewahren, zeigt jene maskuline Hypertrophie, die Lipschütz am 
maskulierten Meerschweinweibchen demonstriert hat. Das Skelett- 
system, dessen wesentliches Wachstum ebenfalls in das präpuberale 
Stadium fällt, zeigt einen, wenn auch nicht ausgesprochenen, so doch 
überwiegend männlichen Habitus. Man sieht, es handelt sich durch- 
weg um Merkmale, deren definitive Ausbildung für die männliche 
Pubertät typisch und für die der protektive Einfluss der Keim- 
drüse verantwortlich zu machen ist. Hier liegt nun jenes Moment, 
dass die Analogie der Lymantria- und Capra-Zwitter äusserlich 


352 | Franz Prange. [10 


verwischt; während die intersexuellen Lymantria-Männchen alle 
vom Drehpunkt ab entwickelten akzidentellen Geschlechtsmerkmale 
in rein weiblicher Ausbildung zeigen, besitzen die intersexuellen Capra- 
Männchen männliche sekundäre Sexualcharaktere. Dieser Widerspruch 
löst sich einfach dadurch, dass eine Abhängigkeit der akzidentellen 
Geschlechtsmerkmale von den Gonaden bei den Insekten nicht besteht, 
wie ja die diesbezüglichen Untersuchungen unzweideutig ergeben haben, 
während bei den Wirbeltieren der Grad der Ausbildung von dem Keim- 
drüseninkret in hohem Masse abhängig ist. Eine männliche Keim- 
drüse ist nun bei den intersexuellen Männchen beider Tierarten 
vorhanden, ihre tatsächliche Existenz wird durch die Wendung am 
Drehpunkt nicht beseitigt, wenn sie auch qualitativ und quantitativ 
bei beiden Tierformen in der Entwicklung zurückbleiben muss. Ihre 
Anwesenheit bei den Schmetterlingen macht sich nicht bemerkbar, 
bei den Ziegen jedoch muss sie nach einiger Zeit, wenn auch in 
abgeschwächtem Grade, die Wirkung ihres geschlechtsspezifischen 
Inkretes an den Erfolgsorganen in der geschilderten Weise zum Aus- 
druck bringen, wodurch die sekundäre Weiblichkeit verwischt er- 
scheint. Aus der Analyse geht ferner hervor, dass die auch von 
mir hier akzeptierte Ansicht der rein protektiven Wirkung der Keim- 
drüsen prinzipiell verschieden ist von der formativen des Enzyms 
der x-Chromosomen und des zugehörigen Antagonisten. Das Fehlen 
der Prostata in unseren Fällen spricht hierfür. Obgleich ein Organ, 
das erst in der Pubertät seine maximale Ausbildung erfährt, ist es 
trotz maskuliner Erotisierung nicht vorhanden, da z. Zt. seiner 
embryonalen Bildung die enzymatische Wirkung sich bereits nach 
der weiblichen Seite hin verschoben hatte. 

Die Annahme, dass die Ziegenzwitter als sekundäre Weibchen 
aber mit Hoden und den von diesen abhängigen Erfolgsorganen 
aufzufassen sind, bietet anatomisch-physiologisch durchaus keine 
Schwierigkeiten, denn sie stehen ja unter den gleichen Bedingungen 
wie die von Steinach kastrierten und nachfolgend durch Hoden- 
implantation maskulierten Weibchen. 

Dass die Vererbung in der Genese der Zwitterbildungen eine 
grosse Rolle spielt, dafür sprechen auch die in dieser Richtung an- 
gestellten Forschungen Hirschfelds, der bei 21 menschlichen 
Zwittern 7mal feststellte, dass die Eltern derselben Vetter und 
Base waren. 


Zusammenfassung. 


1. Die untersuchten vier Ziegenzwitter haben weibliche äussere 
Genitalien, dagegen sind die Milchdrüsen unentwickelt, Geschlechts- 


11] Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. 353 


trieb und Behaarung männlich. Die innere Anatomie zeigt einen 
weiblichen Genitaltraktus mit männlichen und weiblichen Merkmalen: 
die Keimdrüse ist ein Hoden obne Descensus von nicht normaler 
Grösse, ohne Spermatozoen, mit rudimentären Samenkanälchen und 
etwas vermehrter Zwischensubstanz. 


2. Es sind keine Anhaltspunkte für einen teilweise weiblichen 
Charakter der Zwischensubstanz aufzufinden, die die weiblichen 
Merkmale der Tiere nach der Steinachschen Zwitterdeutung be- 
dingt haben könnten. 


3. Die Tatsache, dass bei zunehmendem Alter von Ziegen- 
zwittern männliche Sexualcharaktere (Clitorishypertrophie, männlicher 
Geschlechtstrieb) stärker hervorzutreten pflegen, weist vielmehr auf 
eine normal männliche Inkretion des Hodens hin, wobei wir dahin- 
gestellt sein lassen, ob dieselbe von dem reduzierten generativen Anteil 
oder von den Zwischenzellen im Sinne Steinachs ausgeht. 


4. Unsere Ziegenzwitter können nicht nach Analogie der Zwitter 
bei Kälbern durch sekretorische Geschlechtsumstimmung infolge ver- 
einigten Plazentarkreislaufes mit einem männlichen Zwillingsbruder 
erklärt werden. Dagegen spricht, dass zwar Zwitter 1 neben einem 
normalen Bock geworfen wurde, Zwitter 2 hingegen von derselben 
Mutter eine normale Wurfschwester hatte. Dazu kommt, dass Zwitter 
3 und 4 Wurfgeschwister von einer anderen Mutter waren. 


5. Der Umstand, dass der Vater von Zwitter 3 und 4 bereits 
mit anderen Müttern Zwitter gezeugt hatte (z. B. einen Zwitter 
neben zwei Böcken), ebenso die Mutter von 1 und 2 mit verschie- 
denen Böcken Zwitter warf, weist darauf hin, dass die Ursache der 
Zwitterbildung bereits in den Keimzellen lag, dass es sich um zygo- 
tische Intersexualität handelt. Nehmen wir ähnlich wie Gold- 
schmidt zur konkreten Erklärung eine verschiedene Valenz der 
Geschlechtschromosomen bei den Eltern an, so wäre für Zwitter 3 
und 4 die einfachste Annahme, dass dem zwitterproduzierenden Bock 
ein abnorm schwaches x, der Mutter aber zwei normale XX zu- 
kämen. Die männlichen Nachkommen wären dann X, die weiblichen 
Xx, erstere könnten wegen der relativ grossen X-Menge Intersexe 
sein. Bei Fall 1 und 2 würde man den vorliegenden Verhältnissen 
am nächsten kommen, wenn man annimmt, dass der Bock ein nor- 
males x aufwies, die Mutter heterozygot war und neben einem nor- 
malen ein besonders starkwertiges X besass. Die Nachkommen 
würden dann sein: x und X Männchen, von denen letztere weibliche 
Einschläge haben könnten. Ferner Xx- und xx-Weibchen, von denen 


354 Franz Pıange, Neuere Anschauungen über Hermaphroditismus. [12 


letztere intersexuell sein könnten. In der Tat hatten die Zwitter 1 
und 2 männliche und weibliche Geschwister. 


6. Keimdrüsenanlage einerseits und äussere Geschlechtsorgane 
andererseits müssten auf eine intermediäre X-Masse verschieden 
reagiert haben, so zwar, dass etwa für die Keimdrüse schon zu wenig 
vorhanden war, um ein Ovar zu werden, sodass sie männlich wurde, 
während die intermediäre X-Masse noch genügte, um die oben- 
genannten Organe weiblich zu beeinflussen. 


7. Die einmal männlich gewordene Keimdrüse bewirkt nach- 
träglich durch ihre geschlechtsspezifische innere Sekretion eine mas- 
kuline Beeinflussung der Klitoris, der Milchdrüsen, der Behaarung 
und der Sexualinstinkte. 








NaturwissenschaftlicheGrundlagen der klinischen 
Konstitutionsforschung. 


Von 


d 


Alfred Greil, Innsbruck. 


Konstitution ist ein ausgeprägt, ursprünglich chemischer Begriff, 
denn die Chemie behandelt die spezifischen, konstitutiven, bei Ortsver- 
änderung unveränderlichen Eigenschaften der Körper. Zur Fest- 
stellung dieser Beziehungen zu anderen Körpern und unseren Sinnes- 
organen werden die Stoffe entweder unter unveränderten äusseren 
Bedingungen erhalten (Zustandsanalyse), oder es werden die Daseins- 
bedingungen in bestimmter, bekannter Weise systematisch abgeändert, 
um de Reaktionen gegen dermassen aufgezwungene Zustandsände- 
rungen zu ermitteln. Ist die Beschaffenheit der einzelnen Stoffe, sind 
deren Unterscheidungsmerkmale, die grösseren Gruppen von Stoffen, 
den einzelnen Zustandsarten zukommenden Eigenschaften ermittelt, 
dann werden die allgemeinen Gesetzmässigkeiten abgeleitet. Das 
letzte Ziel des Chemikeıs ist die Ergründung der genetischen Syste- 
matik der Stoffe. Die Chemie ist so schon durch ihre Methodik 
die Lehrmeisterin der allgemeinen und klinischen Biologie. Die Er- 
gründung der genetischen Systematik der Einzelier wie der Viel- 
zelligen, des gesamten Tier- und Pflanzenreiches, die Ermittlung der 
Stellung des Menschen in der Organismenwelt, in deren konstitutionellen 
Wechselbeziehungen sowie die genetische Systematik der Krankheits- 
zustände ist das Ziel des Naturforschers im Ärzte Ohne Kenntnis 
der Entstehung zellenstaatlicher Konstitution, der allgemeinen Gesetz- 
mässigkeiten des stammes-, keimes- und kulturgeschichtlichen Werde- 
ganges der Konstitution ist die Aufdeckung der Ursache angeborener 
Leiden und krankhafter Zustände der Kulturmenschheit unmöglich. 
So muss also der Arzt beim Chemiker in die Schule gehen, um die 
Prinzipien der Konstitutionsforschung zu erfassen. 


gg — — 


356 Alfred Greil. [2 


Isomere, aus denselben Stoffen bestehende Körper können eine 
sehr verschiedene Konstitution haben, denn Konstitution bedeutet 
nicht stoffliche Zusammensetzung, sondern die Grösse und Art der 
Arbeitsfähigkeit eines Energiesystemes, also Arbeitsgrösse, Energie- 
inhalt, die individualspezifische Art des Zusammenwirkens der Teile 
eines geschlossenen Systemes. Die konstitutionellen Unterschiede sind 
viel mannigfaltiger als jene der Zusammensetzung. Es ist die dornigste 
Aufgabe der Chemiker, die konstitutiven Unterschiede isomerer Körper 
zu ermitteln und dasselbe gilt mutatis mutandis für den Arzt. Niemals 
lassen sich konstitutionelle Verschiedenheiten kompliziert zusammen- 
gesetzter Körper schematisieren; in gewissen Fällen bestehen zwar 
einigermassen hervorstechende konstitutionelle Besonderheiten. Je 
grösser die Energieabgabe (-wandlung) einer Verbindung ist, um so er- 
heblicher wird deren Konstitution verändert. Unter möglichst gleich- 
mässigen, durchschnittlichen Aussenbedingungen treten die konstitu- 
tiven Eigenschaften bzw. Verschiedenheiten der Stoffe weniger hervor, 
so dass z. B. alle Gase dem Boyleschen Gesetze zu gehorchen scheinen. 
Unter extremen Verhältnissen jedoch, bei niederer Temperatur und 
hohem Drucke, je näher ein Gas seinem Verflüssigungspunkte gebracht 
wird, werden die spezifischen, individuellen Eigenschaften um so 
prägnanter. So muss auch der Mensch unter mannigfach abgeänderte, 
ganz extreme, widrige Verhältnisse gebracht werden, um seine Konsti- 
tution vollends zu offenbaren. Die Zustandsprobe, das Habitusbild, 
muss systematisch durch die Reaktions (Funktions)probe ergänzt werden. 

Der Chemiker schreitet systematisch von einfacheren zu kompli- 
zierteren Verhältnissen fort, wenn er zuerst die Eigenschaften der ver- 
schiedenen Zustandsarten, der Gase (konstitutive Grösse des in- 
kompressiblen Volumens usw.), der Flüssigkeiten (Kompressibilität, 
Wärmeausdehnung, spezifische Wärme, Oberflächenspannung, Lösungs- 
eigenschaften), der festen Körper (Elastizität, optisches Verhalten, 
innere Richtungsverschiedenheiten, Umwandlungsbedingungen und -er- 
scheinungen polymorpher Körper) durch Zustandsprüfungen und die 
dynamische Methode der Energiezufuhr ermittelt, sich dabei stets im ` 
physiko-chemischen Grenzgebiete bewegt. Die Konstitutions- 
erforschung der einzelnen Stoffe setzt mit der qualitativen Analyse 
ein. Darauf folgt die Ausscheidung der Elementarstoffe in wägbaren, 
leichter analysierbaren einfacheren (bereits bekannten) Verbindungen, 
oder in ihrer ursprünglichen Zustandsform (die quantitative Analyse). 
Verbinden sich zwei Elemente mit einander, so entstehen in gewissen 
Fällen unter besonderen Umständen mehrere, nur qualitativ gleich 
zusammengesetzte Stoffe von verschiedener Konstitution (Gesetz der 
multiplen Proportionen) im Gegensatze zu isomeren, konstitutionell 


3) Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 357 


verschiedenen Körpern, die aus qualitativ und quantitativ gleichen 
Bausteinen bestehen. Solche Analogien sind für das biologische Kon- 
stitutionsproblem von besonderer, prinzipieller Bedeutung. In metho- 
discher Hinsicht für die klinische Konstitutionsforschung — diese 
angewandte chemisch-physikalische Konstitutionserforschung unbelebter 
Stoffe — vorbildlich ist der Chemiker bestrebt, aus den Folgen gegen- 
seitiger chemischer Beeinflussung, aus der Entstehungsweise von Reak- 
tionsprodukten die Konstitution, die (konstitutionellen) Verbindungs- 
gewichte zu ermitteln. 

Den ideellen Abschluss bildet die Darstellung der räumlichen 
Anordnung der zusammenwirkenden Teile der Einzelmoleküle, die 
Ermittlung der Konstitutionsformeln, der Bindungs- und Abhängig- 
keits-, der Valenzverhältnisse der verbundenen (zusammenwirkenden) 
Atome und deren Bestandteile, — der Anordnung der Bausteine (Raum- 
erfüllung) von Stoffen gleicher Molargrösse und Zusammensetzung. Alle 
diese Probleme, insbesondere das Problem der chemischen Verwandt- 
schaft erheischen stete gegenseitige Anpassung und Ergänzung der 
chemischen und physikalischen Methoden und Begriffe, um auf diesem 
schwierigen Felde die Führung nicht zu verlieren. 

Das gemeinsame Ziel aller chemischen und biologischen Konsti- 
tutionsforschung ist die Feststellung der Energieverhältnisse, denn 
diese sind die einzigen Tatsachen, welche wir von der Aussenwelt 
wissen (W. Ostwald). Jeder chemische Vorgang ist definiert, wenn 
die dabei beteiligten Energien nach Mass und Art bestimmt sind. 
Der Zustand eines Körpers ist gleichbedeutend mit der Art und dem 
Masse seiner Energie. Die Energetik findet in allen Naturwissen- 
schaften ihre Anwendung, sie stellt den Zusammenhang zwischen den 
einzelnen Wissenschaften her, denn Wissenschaft ist ein zusammen- 
hängendes Ganzes. — Ruhende Energie kann keine Arbeit leisten; es 
müssen Gleichgewichtsstörungen eintreten. Die Dynamik ist die Lehre 
von den bewegenden Kräften, von den Bedingungen, unter denen 
Gleichgewichtslagen verändert werden, Energiesysteme Arbeit leisten 
können, denn Energiesysteme sind nur dann arbeitsfähig (II. Haupt- 
satz), wenn Intensitätsdifferenzen entstehen nnd nur so lange arbeits- 
fähig, als sich beim immanenten Ausgleichsbestreben Gelegenheiten 
zum Entstehen neuer Konzentrationsgefälle ergeben. So ist das Mass 
umwandelbarer Wärmeenergie in mechanische Arbeit eine Funktion 
der Temperaturdifferenzen. Je weiter ein Energiesystem von der 
statischen Ruhelage entfernt ist, oder durch Gleichgewichtsstörungen 
gehalten wird, um so grösser ist seine konstitutionelle Arbeitsfähigkeit. 
Belebte Körper haben die Fähigkeit ein solches bewegliches, dynami- 
sches, arbeitsfähiges Gleichgewicht dauernd aufrecht zu erhalten. So 


358 Alfred Greil. H 


verknüpft also der Biologe damit den Begriff der Bestandfähigkeit 
individualspezifisch gewordener Arbeitsgrösse. Reversible Zustands- 
änderungen, etwa während der mensuellen Zyklik, der Schwanger- 
schaft oder interkurrenter Erkrankungen werden als Konditionsände- 
rungen bezeichnet. Dispositionen sind Teilerscheinungen der Konstitution, 
des gesamten Stoff- und Energiewechsels, des Zusammenwirkens aller 
Organe; diese Sonderung ist durch die Komplexität des Gesamt- 
systems nötig geworden. Stets ist die Reaktion gegen zwangsweise 
Abänderung der Daseinsbedingungen das wichtigste Mittel zur Er- 
probung der Konstitution. Konstitutionslehre und Dynamik ergänzen 
einander. Die Anwendung der Energiegesetze auf den entstehenden 
gesunden und kranken Menschen, den Wiedererwerb einer artgemässen 
Konstitution, den Neuerwerb einer neuartigen und pathologischen 
Konstitution: die Dynamik der normalen und pathologischen Ent- 
wicklung, Evolution und Involution, des Zusammenwirkens der Zellen 
und Zellarten untereinander und mit anderen belebten und unbe- 
lebten Körpern, die Erfüllung der Forderungen, welche Helmholtz 
auf der 43. Versammlung deutscher Naturforscher (Innsbruck 1869) 
und Wilhelm Ostwald gestellt haben, ist das letzte Ziel der klini- 
schen Biologie. Damit fallen alle Schranken, welche der grübelnde 
Menschengeist zwischen der belebten und unbelebten Natur, zwischen 
Geist und Körper, Seele und Leib errichtet hat. Indem wir so auf 
den von den Physikochemikern geschaffenen Grundlagen weiterbauen, 
mit ihren Methoden und Begriffen weiterarbeiten, wird es uns möglich 
werden auch den Zweck aller Wissenschaft: die Beherrschung der 
Naturvorgänge, des keimenden Lebens zu erreichen und damit auch 
unser letztes Ziel: die Verhütung des Neuerwerbes endogener Leiden 
insbesondere der endogenen Geistesstörungen. 

Nelımen wir an, es hätte sich eine Versammlung deutscher Natur- 
forscher und Ärzte als allgemeines Verhandlungsthema das Wesen 
und die Entstehung der menschlichen Konstitution und deren Stö- 
rungen gesetzt, die Verhütung der angeborenen Leiden der Kultur- 
menschheit, dieses Zentralproblem ärztlichen Denkens und Handelns, 
diese ärztliche Prestigefrage, deren Lösung nur dem Naturforscher 
im Arzte möglich ist. Wie müsste der Areopag der Referenten zu- 
sammengesetzt sein, um dieser höchsten konstitutionellen Leistung 
der Kulturmenschheit, des Zusammenwirkens der Naturforscher und 
Ärzte zu entsprechen” In diesen Verhandlungen sollen Naturforscher 
aller Kategorien in die Tragweite und Anwendbarkeit ihrer funda- 
mentalen Erkenntnisse, in solche Möglichkeit der Vereinheitlichung 
schier unabsehbarer, kumplexester Mannigfaltigkeit Einblick gewinnen. 
andererseits die Ärzte im Vertrauen auf die Gesetzmässigkeit und 


5] Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 359 


physiko-chemische Begreifbarkeit aller Vorgänge des keimenden und 
postnatalen Lebens bestärkt, sich der ungeahnten Macht und Ver- 
antwortung bewusst werden, welche sie der Schwangeren, dem Keim- 
ling, den mütterlichen und entstehenden fötalen Keimstätten gegen- 
über besitzen. Es sollen die Traditionen der Begründer und der 
Vertreter der Glanzperioden der Versammlungen, Lorenz Oken, 
Alexander von Humboldt, Hermann von Helmholtz, Ernst 


Haeckel und Rudolf Virchow gewahrt werden. 

Das erste Wort hat der Physikochemiker zur Veranschaulichung der Elementar- 
konstitution der letzten dynamischen Einheiten, des Atombaues. Wie die Wander- 
sterne um ihre Sonnen, so kreisen die unter sich gleichen, negativ geladenen 
Elektronen in planetenartigen Bahnen — bei den einzelnen Elementen in ver- 
schiedener, spezifischer Zahl und Eutfernung (Quanten) — um den positiv geladenen 
Atomkern, dessen Ladung der Elektronenzahl entspricht. Die konstitutionellen 
Verschiedenheiten der Elemente sind sonach die periodische Funktion der ver- 
schiedenen Kernladungszahblen, ihrer Atomkerne und der entsprechenden Elektronen- 
zahlen und -bahnen. Alles ist ın steter Bewegung. Durch Atomzerfall entstehen 
Umwandlungen der Elemente, deren Beschleunigung und Verzögerung bisher noch 
nicht gelungen ist. Durch Bombardement mit a-Strahlen grösster Geschwindigkeit 
konnten vom Stickstoff Wasserstoff- und Heliumatome abgespalten werden. Springen 
Elektronen (infolge von Stössen der Nachbaratome) aus einer Bahn ın die andere 
so findet keine gleichmässige, sondern eine quantenhafte, sprunghafte Energie- 
wandlung statt, indem elektromagnetische Schwingungen in bestimmten Quanten 
abgexeben werden. Darin besteht das Zusammenwirken der Teile der Atom- 
konstitution, sowie der gleichartigen und verschiedenen Atome iu raumerfüllenden 
Systemen (Gemengen). Die konstitutionellen Verschiedenheiten der lonen (Elektrizi- 
tätsträger) bestehen vor allem in deren verschiedener Wanderungsgeschwindigkeit 
und elektrischen Aufladung. — Sodann wird die genetische Systematik der Elemente, 
das Wesen und die Entstehung der verwandtschaftlichen Beziehungen (Periodik), 
des (konstitutionellen) Verbindungsbestrebens erörtert. Atomgruppen (Radıkale) 
offenbaren ihre konstitutionelle, stöchiometrisch-dynamische Verschiedenheit in 
ihrer verschiedenen Affinitätsb-anspruchung. Die Konstitution der Moleküle be- 
steht in der Gesamtheit der zusammenwirkenden, ihre Affınitäten absättigenden, 
darch ihre Sättigungskapazität verschiedenen Atome, ihrer Bındungs- und Ab- 
hängigkeitsverhältnisse. Stets bedeutet sonach Konstitution eine Arbeitsgrüsse, 
einen Energieinhalt. Dynamik ist die Lehre von der Arbeitsfähigkeit, den Ursachen 
der Veränderung, der Entstehung und Wandlung beweglicher, veränderlicher, 
arbeitsfähiger (dynamischer) Gleichgewichte. Als Beispiele werden die elektro- 
Iytischen Gleichgewichtsverschiebungen im Lösungsbereiche, sowie die Berechnung 
der Phasengleichgewichte angeführt. Zum Schlusse werden die Prinzipien der 
chemischen Dynamik (Reaktionskinetik), die Aufstellung der Reaktionsgleichungen, 
die Gesetzmässigkeiten des Zusammenwirkens verschiedener Stoffe, der Offen- 
barung der Konstitution bei der Stoffwandlung, der Entstehung neuer Verbin- 
dungen, höherer konstitutioneller Einheiten erörtert, welche so fundamentale 
Analogien mit der Entstehung zellenstaatlicher, vielzelliger Energie-Reaktions- 
systeme und Reaktionsprodukte — Konstitutionen — darbieten. 

Das zweite Referat bebandelt das Wesen und den Ursprung der Konstitution 
belebter Körper, dieser Auslese aus einer Unzahl komplexer Verbindungen, welche 
nicht imstande waren, ein dynamisches Gleichgewicht selbsttätig aufrecht zu 


Archiv für Frauenkuude Bd. X. H. 4. 24 


360 Alfred Greil. [6 


erhalten — denn Energiesysteme können nur dann Arbeit leisten, wenn unauf- 
hörlich Intensitätsdifferenzen entstehen, während die alten ausgeglichen werden. 
Die Fortschritte der Biochemie, Biopbysik und Kolloidchemie ergeben, dass belebte 
Körper nur Spezialfälle, eine besunders komplexe Art des Zusammentretens und 
Zusammenwirkens ion-, molekular-, kolloiddisperser und kolloidstrukturierter Teile 
eines geschlossenen abgrenzbaren Ganzen mit enormer innerer Oberflächenentwick- 
lung, Quellbarkeit, der Wegschaffung aller störenden, den Reaktionengang hemmen- 
den Reaktionsprodukte sind. Durch diese immense innere Oberflächenentwicklang 
kolloıdaler Systeme wird das Ineinandergreifen, diese zeitliche und räumliche 
Verknüpfung physikalischer und chemischer Prozesse, der koordinierten Gruppen- 
und der Krttenreaktionen des unaufhörlichen Stoff- und Energiewecbsels mit dem 
Schmiermittel verschiedenartiger, selbst kolloidaler Fermente ermöglicht. Die 
genetische Systematik dieser thermodynamischen, heterogenen, mehrphasigen, 
vorwiegend emulsoiden, belebten Reaktions-Energiesysteme kann nur durch synthe- 
tische Deduktion konstruiert werden. Aber die analoge Konstruktion der geneti- 
schen Systematik der unbelebten Körper von den Uratomen (H') bis zu den 
komplexest konstituierten Kristallen und Gesteinen, den Produkten der Humus- 
bildung — andererseits die genetische Systematik der schleichenden und sprunghaften 
Übergänge von den primitivsten Mikrobien zu den höchsten Säugetieren, von 
indifferenten Deckepithelzellen der Urniere zum vollerwachsenen höchstdifferen- 
zierten Kulturmenschon lässt es vollkommen ausgeschlossen erscheinen, dass die 
Entstehung belebter Energiesysteme aus diesen Reihen herausfalle, der Vitalismus 
irgendwelche Berechtigung habe. Und dieses felsenfeste Vertrauen auf die physiko- 
chemische Begreifbarkeit alles Naturgeschehens, auch der komplexesten Vorgänge 
im gesunden und kranken Menschen ist die Grundlage alles ärztlichen Denkens 
und Wollens, Handelns und Hoffens. 


Das dritte Referat betrifft die Entstehung der Variabilität der Konstitution, 
die genetische Systematik der Protisten. Der Zellulardynamık, dieser kombinierten 
Chemo-, Elektro-, Osmo-, Oberflächen-, Quellungs- und Thermodynamik lebender 
Energiesysteme ist es versagt, die Entstehung solch’ konstitutionellen Zusammen- 
wirkens aus unbelebten Zuständen zu verfulgen; jede Zelle, jedes Zellurganell, 
jeder Kern, jedes Zentriol, jedes Chromatophor leitet sich von seinesgleichen ab. 
Es kann nur durch den Vergleich der unabsehbaren Mannigfaltigkeit der zellu- 
lären Strukturen, Funktionen und Korrelationen von den wenige u grossen, wahr- 
scheinlich wirklich kernlosen Mikıokokken bis zu der 5 mm grossen Radiolarien, 
deren Kern tausend Chromomeren ausbildet, durch die Zurückführung der total 
verschiedenen Stoffwechsel zeigenden Protozoen und Protophyten auf indifferente 
Urflagellaten das genetische System der beiden Lebensreiche, der Tier- und Pflanzen- 
welt und der Erwerb ihrer konstitutionellen Wechselbeziehungen und -wirkungen 
rekonstruiert werden. Der Hauptfaktor solcher Variabilität und Artbildung ist 
analog der Komplikation der genetischen Systematik chemischer Individuen — 
als deren Fortsetzung — die enorme Variabilität kolloider Systeme, deren gegen- 
seitige Beeinflussung namentlich auch deren Zusammenwirken mit Ionen. Schon 
die Grössenzunahme verschärft die Schichtenpotentiale, schafft Stoffwechselunter- 
schiede (Membran, Hyalo-, Exo-, Endoplasma, perinukleäre Schale, Kern, intra- 
nukleare Sphärenzentren). Der zweite Faktor ist veränderte Lebenslage durch 
die Verbreitung oder hereingebruchene Umweltsänderungen; Zell- und Blut- 
schmarotzer weisen Extreme solcher Konstitutionsänderungen auf. Der dritte 
Faktor sind gleichfalls durch diesen zweiten Faktor geförderte regionäre, namentlich 
den komplexen Zelleib betreffende Potentiale, lokale Struktur- und Leistungs 





7] Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 361 


unterschiede, welche im Einheitsbaue belanglos sind, durch die Zellteilung aber 
fixiert werden, Konstitutionsunterschiede zwischen den Tochterzellen schaffen. 
Auf solche Weise wurden nicht nur die sexuellen — bei Schmarotzern besonders 
ausgeprägten — Unterschiede gezüchtet, sondern auch direkt Artunterschiede. 
Der vıerte Faktor sind Ungleichheiten und Ungleichartigkeiten, welche erst 
während der verjüngenden, reaktiven inneren Umwälzungen der Zellteilungen zu- 
standekommen, so dass Tochterzellen von einander und der Mutterzelle ver- 
schieden werden. Durcb Konibination dieser beiden Faktoren können erhebliche 
asymmetrische, heteropolare, heterometrische Mitosen, alle Übergänge von quanti- 
tativen zu qualitativen Verschiedenheiten der Konstitution entstehen, alle Grade 
von der fluktuierenden Variabilität zu tiefgreifenden mutativen Ahänderungen. 
Der fünfte Faktor, die wahllose Befruchtung (Amphimixis) kommt nur bei höheren 
Protisten in Betracht. Bei kolonienbildenden Protisten mit Unterschieden zwischen 
den zusammenwirkenden Einzelgliedern ist der endogene Faktor der Variabilität 
evident, doch stets auch von exogenen Faktoren abhängig. 


Das vierte Referat gilt der Entstehung der zellenstaatlichen Konstitution, 
dem Erwerbe des Zusammenwirkens, der Leistungsverschiedenheiten, ungleichen 
Wachstums, ungleicher Struktur- und Funktionsdifferenzierung der sich in ge- 
schlossenem Veıbande vermehrenden Abkömmlinge der Keimzelle. Organisation ist die 
Hervorbildung ungleich gestalteter, verschieden strukturierter, verschieden wirken- 
der untergeordneter Teile aus einem einheitlich gestalteten und einheitlich wirken- 
den Ganzen. Aus dem Zustande absoluter Indifferenz, wirklicher Gleichartigkeit 
wird weitestgebende Ungleichartigkeit wieder oder neu erworben, gezüchtet, 
schöpferisch geschaffen. So wird ganz neue zellenstaatliche Mannigfaltigkeit des 
Zusammenwirkens aus dem Zustande absoluter Einzelligkeit also zellenstaatliches 
Leben neu geschaffen und in diesem Sinne ist die Keimesentwicklung wahrhafte 
Biogenesis. Die sich innerhalb der beengenden Eihüllen vermehrenden gleich- 
artigen Zellen geraten unter mannigfaltigst verschiedene Lebenslagen und schlagen 
daher eine gänzlich verschiedene Lebensweise ein. Wie bei chemischen Analysen 
wird durch Veränderung der Umweltsbedingungen und dag Zusammen-, Aufein- 
anderwirken der Teile die Konstitution, die Reaktionsfähigkeit erprobt und ganz 
analog den Vorgängen im Freileben, an ausgebildeten, unter andere Daseins- 
bedingungen geratenen Individuen neue Mannigfaltigkeit gezüchtet. Die unlös- 
liche Korrelationsirias : Milieu-Struktur-Funrktion beherrscht auch all den Erwerb 
solcher umschriebener Leistungssteizerungen und -abänderungen. Genau dasselbe 
Prinzip beherrschte die gesamte stammesgeschichtliche Differenzierung der rezenten, 
sowie der nicht bestandfähigen, total ausgestorbenen Formen der Tier- und Pflanzen- 
welt, sowie die gesamte Kulturentwicklung der Menschheit, deren Ab-, Aus- und 
Entartungen, deren Wechselwirkungen mit der Keimesab- und -entartung das 
Zentralproblem der klinischen Biologie bilden. 


Das fünfte Referat bringt die Anwendung der entwicklungsdynamischen 
Erkenntnisse auf die Vererbungsdynamik. Sämtliche zellenstaatlichen Sonderunger, 
alle Primitiv-, Dauerorgane und Adnexe, sämtliche Gewebe und Zellarten und 
interzellulären Differenzierungen, also auch die Keimstätten und Geschlechtszellen 
entstehen nach denselben Prinzipien umstandsbedingter Züchtung von Ungleich- 
artigkeit aus dem Zustande absoluter Indifferenz, wirklicher Gleichartigkeit. Keim- 
stätten erstehen in der gesamten Organismenwelt an denjenigen Stellen des werden- 
den Zellenstaates, welche die günstigsten Stoffwechselbedinzungen darbieten. Bei 
den Säugetieren ist das Deckepithel der Urniere ein solches Gebiet, denn die 
Urnierenglomeruli werden durch die Plazenta von harnfähigen und harnpflichtigen 

24* 


362 Alfred Greil. [8 


Schlacken entlastet und scheiden ein hochwertiges Nährlösungsgemisch in die 
Kapselräume ab. Diese Energieanreicherung, die Etablierung eines solchen Kon- 
zentrationsgefälles bedeutet für das indifferente kubische Deckepithel eine basale. 
zustandseigene Nutzstoffzufuhr, wodurch eine enorme Umsatz-, Leistungsteigerung, 
die Entstehung des Kemepithels — einem Dungeffekte vergleichbar — hervor- 
gerufen wird. Im rubenden Deckepithel, vor Beginn der Urnierensekretion ist 
es noch keineswegs vorherbestimmt, ob Genitalsarkome, Karzinome, dysplastische 
mannskopfgrosse Gewächse, vollwertige oder unterwertige, abiotrophische, funk- 
tionsunfähige, sich bald erschöpfende Keimstätten entstehen werden. Dies hängt 
ganz von der Nutzstoffzufubr, der Lebenslage ab, in welche das indıfferente Deck- 
epithel geraten wird. So ist auch die gesamte weitere Differenzierung der Keim- 
stätten wie das Wachstum, die Mästung und Reifung jeder einzelnen Geschlechts- 
zelle ganz und gar von der Blutbeschaffenheit abhängig. Keiue Zellart wird aber 
von erworbenen Konstitutionsänderungen, von quantitativen und qualitativen Ab- 
änderungen des Stoff- und Energiewechsels in so tiefgreifendem Masse betroffen, 
wie die Eizellen bei ihrer enormen Konzentrationsarbeit, die Samenzellen bei ihrer 
enormen Vermehrung. Am Elternindividuum gar nicht sinnenfällige Abänderungen 
anderer Zellarten, Gewebe und Organe können in der Filialentwicklung in ganz 
neuen zellenstaatlichen Reaktionen geoffenbart werden. In der Sprache der 
Energetik bedeutet Vererbung die Übertragung von Energieinhalten und deren 
Intensitätsdifferenzen. Als solche haben die sexuellen Differentiale zwischen den 
diametral verschieden gestalteten wirkenden und befähigten Geschlechtszellen und 
das während der Eimast erworbene Potential des polaren und geschichteten Ei- 
baues zu gelten, denn bei solcher Mast auf 10 facher Leberzelldurchmesser konnte 
die Oocyte nicht homaxon bleiben. So hat also: die Keimzelle eine durchaus 
zelluläre Erbkonstitution. Kein einziges Glied dieses Consensus partiam kann als 
Lebens- oder Erbträger bezeichnet werden : jedes einzelne Teilgebilde hat seine speziifi- 
schen zellulären, ausschliesslich zelluläre Verrichtungen betreffenden Erbfunktionen, 
deren Gesamtheit die Erbkonstitution ausmacht. Es ist vollkommen ausgeschlossen, 
dass irgend eine zellenstaatliche Formation, Funktion oder Korrelation irgendwo 
und irgendwie in der Keimzelle lokalisierbar unabänderlich determiniert ist. Weder 
Chemo- noch Entwicklungsdynamiker sprechen von „Determinations- und Beali- 
sationsfaktoren*, sondern lediglich von Reaktionsfaktoren. — Die enorme 
Einschränkung der Eimast — bei Menschen auf 0,25— 0,85 mm ist durch die Etablie- 
rung des maternfötalen Reaktionssystemes möglich geworden, dessen Wirksam- 
keit den umstandsbedingten epigenetischen Wiedererwerb sämtlicher zellstaat- 
lichen Formationen und Korrelationen entscheidend mitbestimmt. Am Neonaten 
ist es fast unmöglich, das bei der elterlichen Keimstättenbildung, bei der Ei-, 
Samen- und Fruchtbildung KErworbene im Gesannterbe, der gesamten Erbkonstitu- 
tion voneinander zu sondern. Das maternfötale Reaktionsystem ist wie die 
Ovarien eierlegender Formen als eine höhere konstitutionelle Einheit zu betrachten, 
deren Wechselwirkungen für beide Teile ebenso förderlich wie verhängnisvoli 
werden können. 


Das Thema des sechsten Referates ist die Entstehung der Mannigfaltigkeit 
der Vielzelligen: das Problem der Artbildung. Als Hauptfaktoren werden erörtert: 
1. Die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Anordnung der Keimstätten, dieser 
höchsten Potentialerwerbungen der entstehenden Zellenstaaten. 2. Die Mannig- 
faltigkeit der Kibildung sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht; der 
regionäre Potentialerwerb während der Eimast. Wie isomere Körper eine gänz- 
lich verschiedene Konstitution haben können, so hätten Eizellen von gleicher 


9] Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 363 


stofflicher Zusammensetzung, aber verschiedener Stoffverteilung ihrer Reaktions- 
produkte, der Dottermitgift, eine gänzlich verschiedene Entwicklungsfähigkeit. 
Die Chromosomen sind in dieser fundamentalen Hinsicht ganz belanglos. 3. Die 
verschiedene Beschaffenheit der von der Eizelle, Keimzelle, dem Follikelepithel 
sowie den Geschlechtswegen abgeschiedenen Eihüllen. Dieselbe Keimzelle würde 
sich in Eihüllen von anderen Permeabilitäts- und Kohärenzverhältnissen ganz 
anders entwickeln. Arbeit wird immer nur gegen Widerstände geleistet, welche 
daher zu den Integralbedingungen des Geschehens gehören. 4. Die Mannigfaltig- 
keit der maternfötalen Wechselbeziehungen, welche von den primitivsten indezi- 
dualen zu den komplexesten dezidualen, hämochorialen Verhältnissen alle erdenk- 
lichen Komplikationen aufweisen und gleichfalls zu den Integralfaktoren des 
Erwerbes zellenstaatlicher Konstitution gehören. 5. Die Abänderung postnataler 
Stoffwechselverhältnisse in ihren Rückwirkungen auf die Ei-, Samen- und Frucht- 
bildung; die durch Veränderung der Lebenslage hervorgerufene Abänderung der 
Lebensweise, 'des gesamten Stoff- und Energiewechsels wie jenes aller Einzel- 
zellen. 6. Varianten der Teilungen der Ur- und Vorgeschlechtszellen, wie solche 
umstandsbedingt auch bei anderen Zellarten vorkommen, asymmetrische, hetero- 
polare, heterometrische Mitosen, bei denen ungleiche Chromosomenteilungen und 
-austeilungen die allerletzte Rolle spielen. Der Granularapparat, des Protoplasmas 
(regionäre Verschiedenheiten), das Zentriol bietet reiche Gelegenheit zu ungleicher 
Austeilung von unabsehbarer keimesgeschichtlicher Auswirkung dar. 7. Die 
Amphimixis, die wahllose Befruchtung darf in ihrer Bedeutung für die Variabilität 
gleichfalls nicht überschätzt werden, denn die Befruchtung ist in erster Linie 
ein sexueller Differentialausgleich, eine verjüngende, lebengrettende Vereinigung 
diametral verschieden gebauter und befähigter zusammenwirkender, auf- und mit- 
einander reagierender Geschlechtszellen zu einer Gesamtkonstitution, eine gegen- 
seitige Reaktions-Konstitutionsprobe, bei welcher keines der zusammenwirkenden 
Teile unterschätzt werden darf. Jede Lokalisation widerspricht den konstitu- 
tionellen Gesichtspunkten. 

Im siebten Referat veranschaulicht der Gynäkologe die klinischen und patho- 
logisch-anatomischen Befunde bei stoffwechselgestörten Schwangeren, die kern- 
gesund, in bestem Wohlbefinden bestkonstituierten Samen aufgenommen hatten. 
Diese (zumeist Erstgeschwängerte) sind Töchter vollkommen gesunder Eltern, 
Schwestern vollwertiger Geschwister. In der ganzen Aszendenz bestanden keinerlei 
endogene Leiden. Es werden die Quellungseffekte und Stoffwechselstörungen an 
den verschiedenen Organen und Zellarten, die Wirkungen der Kolloidödeme, der 
Kapillarschädigungen, der Überreizung der Plasmadrüsen insbesondere der Neben- 
nieren, Leber, Hypophyse und Schilddrüse, die Folgen hämorrhagischer und anämi- 
scher Infarzierungen, der diffusen Dekomposition lebenswichtiger Organe erörtert; 
kurzum das nach Intensität, Kombination und zeitlichem Eintritte stets wechselnde 
Krankbeitsbild einer urämischen, cholämischen, diabetischen, azidotischen, Entero- 
intoxikation, der Folgen der Inanition, der Autointoxikation durch Zerfallsprodukte 
der Leber, Niere, Nebennieren, Mamma, Hypophyse und Plazenta, des (sehirnes 
und Herzmuskels, die schwere Kachexie. Jede dieser vergifteten Schwangeren 
oder Wöchnerinnen ist ein Unikum. Die Eklampsie ist nur die alarmierendste, 
aber nicht gefährlichste Abart oder Komponente. Nach der Schilderung dieses 
Milieus menschlicher Entwicklung werden klassische Fälle missbildeter Keimblasen 
und Fruchtsäcke, Embryonen und Föten aller Entwicklungsstufen vorgeführt, die 
übereinstimmenden Sektionsbefunde bei Mutter und Kind erörtert. 

Das achte Referat ist ein Sammelreferat der Pädiater, Internisten, Gynäko- 
logen, Chirurgen, Psychiater-Neurologen, Ophthalmologen, Otiater, Dermatologen 


364 Alfred Greil. [10 


und Dentisten über die Komponenten und Auswirkungen der nicht lokalisierbaren 
Grund- und Allgemeinleiden, der Konstitutionsstörungen und krankhaften Zustände, 
der Erschöpfungszustände, der abnormen Mehr- und Minderleistungen, der Dys- 
plasien und Dysfanktionen an den verschiedenen Organen, eine Analyse des gestörten, 
stets die Gesamtheit betreffenden Consensus partium. Alle diese Kranken und 
Krankhaften haben ein keimendes Leben unter abnormem Bedingungswechsel, in 
krankhaften Lebenslagen durchgemacht. In den meisten Fällen ist nicht einmal 
der postnatale Lebensgang.zu überblicken, geschweigedenn das pränatale Geschehen, 
dessen Auswirkungen durch postnatale irreversible Zustandsänderungen kompliziert 
werden können. Die Kliniker haben in ibrem Consensus partium die immense 
Variabilität des Kulturmenschen — ganz analog dem Vorgehen der Chemiker, 
Protistenforscher, Zoologen und Botaniker bei der provisorischen, orientierenden, 
deskriptiven Einordnung der Elemente und Verbindungen, der primitiven Lebe- 
wesen am Divergenzpunkte des Tier- und Pflanzenreiches, sowie der Mannig- 
faltigkeit der letzteren — zunächst nach pathologischen Konstitutionstypen und 
-krankheiten geordnet, wobei viele Fälle solcher Schematisierung widerstrebten. 
Das Ignoramus bezieht sich auf die pränatale Entstehung der abnormen Konsti- 
tution, nicht streng lokalisierbarer Grundleiden und krankhafter Zustände. 


Das neunte Referat bringt die Theorie der Entstehung der Schwangerschafts- 
störungen, des pathologischen konstitutionellen Zusammenwirkens zwischen Matter 
und Keimling, und der genetischen Systematik der Konstitutionsstörungen des 
Kindes. Der Naturforscher im Arzte hat das Wort. Unter Hinweis auf das 
dritte Referat wird eine progame oder amphimiktische Entstehung der Schwanger- 
schaftsstörungen bei negativer Familienanamnese abgelehnt, Vollwertigkeit der 
Geschlechtszellen postuliert. Es wird die herrschende Anschauung, dass die 
Menstruation den Zweck haba, „Empfangsvorbereitungen“ für den Keimling zu 
treffen, dass die Einbettung in eine brünstige, hochgeschwollene, enorm hyper- 
ämische, von Kali, Arsen, Jod, Eisen, Phosphor, Glykogen, Gliykoproteiden, Edelfetten, 
Neutralfetten, Eiweiss geradezu strotzende Schleimhaut artkemäss sei, widerlegt 
und darauf hingewiesen, dass bei keinem Säuger, keinem Menschenaffen solche 
Naturwidrigkeit möglich sei. Nach artgemässer postmensueller Befruchtung hat 
die Keimblase eine frisch regenerierte, im Ruhestoffwechsel befindliche Intervall- 
schleimhaut durch ihre hoben Ansprüche exbaustiv zu destruieren. Dieser tief- 
greifende Wechsel der Lebenslage bewirkt die Wucherung und gewebliche reaktive 
Differenzierung der indifferenten kubischen einschichtigen Epithels der Keimblase 
(des Trophoblast), die Züchtung der Plazenta — einem Dungeffekte vergleichbar. 
Diese Keimblasenwand scheidet wie ein Plasmadrüsenfollikel ins Innere ein zäh- 
flüssiges, hochwertiges Nährlösungsgemisch (das Trophoplasma) ab. Alle nicht 
vaskularisierten, soliden und verzweigten Teile des reaktiv wucheruden Gerüst- 
und Zotten-, Busch- und Wurzelwerkes, das Langhans- wie das Plasmodiuingespinst 
scheiden aber dasselbe zähflüssige Lösungsgemisch einschleichend stetig zunehmend 
ins mütterliche Gewebe, die mütterliche Blutbahn ab. Dadurch wird die deziduale 
Wuchermast, die Hypertrophie und Quellung der Geschlechtswege und eine all- 
mählich um sich greifende, den gesamten hämopoetischen Apparat erfassende 
Umsatzsteigerung bewirkt, so dass die werdende Mutter den wachsenden An- 
sprüchen des Keimlinges geradezu zuvorkommt. Wenn aber nun diese gesamte 
Produktion der Keimblasenwand aus einem Zustande absoluter Indifferenz durch 
den Wechsel der Lebenslage hervorgerufen wird, dann muss auch die Intensität, 
Geschwindigkeit und Art der so entfachten Reaktıon ganz vom Zustande des 
Endometriums, vom Nutzstoffangebote abhängig sein. — Eine quantitativ und quali- 


LU Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 365 


tativ überwertige Trophoplasmaeinmischung kann der mütterliche Fermentapparat, 
der retıkuloendotheliale Apparat nicht artgemäss bewältigen. Nach anfänglicher 
übermässixer Aktivierung kommt es zu Störungen des Zellstoffwechsele, vor- 
nehmlich durch abnorme Permeabilitätssteigerungen der Zellmembranen. So wird 
aus dem Agens ein Virus, ein Antigen, aus der physiologischen Gewächsträgerin 
eine Gewächskranke, wenn die Einbettung in eine brünstige Schleimhaut erfolgt 
oder allzureichliche Samenresorption, za häufige geschlechtliche Erregungen, 
irrationelle Lebensweise das maternfötale Zusammenwirken abändern. — Es ist 
nun die Aufgabe des Entwicklungsdynamikers, die Auswirkungen der Gestations- 
toxonosen beim Wiedererwerbe der gesamten zellenstaatlichen Konstitution bei 
der epigenetischen, umstandsbedingten Entstehung, der Züchtung aller zellen- 
staatlichen Formationen, Funktionen und Korrelationen durch synthetische De- 
duktion zu konstruieren und so die genetische Systematik der Konstitutions- 
anomalienkrankheiten und krankhaften Zustände zu begründen, die gesamten 
Wechselwirkungen der Kultur- und Keimesentwicklung, ab-, aus- und entartung 
aufzudecken. Kein Organsystem reagiert auf dieses artwidrige Milieu so intensiv 
und nachhaltig, wie die mütterlichen und die entstehenden fötalen Keimstätten. 
Daraus ergeben sich die Komplikationen bei folgenden Schwangerschaften für 
Mutter und Kind, andererseits Komplikationen der Schwangerschaften der Töchter 
und Schwiegertöchter. Die väterlichen Zellorganellen der Keimblasenwand haben 
auf das Wachstum und die Produktion des Trophoblast und daher auf den mütter- 
lichen Organismus einen unabsehbaren Einfluss. In dıesem Sinne ist jede Schwanger- 
schaft eine Konstitutionsprobe der Mutter wie der Spermie, welche durch art- 
widrige Fortpflanzungsverhältnisse kompliziert werden kann oder diese kompliziert. 
Das ist an der vollzogenen Tatsache nicht mehr zu entscheiden. Nur in diesem 
Sinne kommt der Amphimixis bei der Entstehung komplizierter Vergiftungen 
gewisse Bedeutung zu. i 


Das letzte Referat hält der Hygieniker. Die Verhütung ‘der Schwanger- 
schaftsstörungen und der dadurch bedingten endogenen Leiden und krankbaften 
Zustände bei Mutter und Kind ist die vornehmste Pflicht des Arztes. Alle Vor- 
kehrungen zur Bekämpfung der Infektionen und Intoxikationen sind so lange 
halbe Arbeit, als nur der exogene Reaktionsfaktor und nicht auch die in vielen 
Fällen zweifellos intrauterin erworbene Disposition, die Anfälligkeit, die Veran- 
lagung zu besonderer Schwere des Verlaufes verhütet wird. Die kombinierte 
Schwangeren-, Keimes- und Keimlingsfürsorge hat mit einer systematischen Auf. 
klärung der Kulturmenschheit über die normalen und artwidrigen Fortpflanzungs- 
bedingungen, die Gefahren der durch unsere Überzivilisation möglich gewordenen, 
in etwa 20°/o der Fälle erfolgende Durchbrechung der fundamentalen zeitlichen 
Folge: Brunstende — Ovulation — Befruchtung — Entwicklungsbeginn aufmerk- 
sam zu machen. 


Wenn weitausgebreitete Völker der Menarche zuvorkommen, die sie einem 
Kiodsmord gleich erachten, wenn die Hebräer die Kohabitation zwischen dem 
ersten und 12. Tage der Zyklik verbieten, ganze Völker aus rituellen Gründen 
vegetarisch leben, dann haben auch die Ärzte das Recht, auf Grund biolo- 
gischer Erkenntnisse die Konzeption zwischen dem 12. und 24. Tage nach 
Beginn der Menstruation zu verbieten. Die Niddahvorschriften bewegen sich hart’ 
an der Gefahrenzone der Überrumpelung eines noch nicht vaskularisierten Keimes 
durch die erste mensuelle Welle der Junggeschwängerten und zweifellos haben 
die Juden gewisse konstitutionelle Eigentümlichkeiten diesem späten Konzeptions- 
terınine zu danken. Ferner ist der bei Tieren im Freileben ausgeschlossene post- 


366 Alfred Greil. [12 


konzeptionelle Kongressus namentlich in den beiden ersten Monaten einzuschränken 
und fir eine rationelle Lebensweise zu sorgen, damit die Entstehung des Rem. 
linges, welche ganz im Sinne der Lamarck-Darwinschen Erkenntnisse in 
allen Belangen, in jedem einzelnen Detail wie beim Gesamterwerbe der Konstitution 
eine Iteaktionenfolge auf einen unaufhörlichen äusseren und inneren Bedingungs- 
wechsel ist, in einem artgemässen Milieu erfolge. Da sich aber unzählige Töchter 
und Söhne latent oder offenkundig stoffwechselgestörter oder vergifteter Mütter 
paaren und bei der Schwangerschaft wie bei keiner anderen Gelegenheit solche 
Konstitutionsanomalien geoffenbart werden, so muss eine obligatorische, während 
der Zessionen vorzunehmende Schwangerenuntersuchung eingeführt werden, bei 
welcher alle Erfahrungen, welche die Gynäkologen bei der Beobachtung und Be- 
handlung der Gestafionstoxonosen gemacht haben, propbylaktisch zu verwerten 
sind. Diese Untersuchungsstationen können mit Ehe-, Mutter- und Berufsberatungs- 
stellen, Jugendfürsorge und Geschlechtskrankenberatungsstellen mit Untersuchungs- 
stationen für Konstitutions- und Gewächskranke zusammengelegt werden, denn 
es muss darnach gestrebt werden, schon im prägraviden Zustande das Konstitu- 
tionsblatt aufnehmen zu können. So schliesst also der Hygieniker mit dem 
bedeutsamen: Ceterum autem censeo, gravidam esse observandam. 


Das Schlusswort hat der Philosoph — aber nicht einer unserer 
Kathederphilosophen, die ohne alle naturwissenschaftliche Vorbildung 
über das Verhältnis von Gott und Welt, Seele und Körper langatmige, 
inhaltsleere Vorlesungen abhalten, sondern ein exaktkausal denkender 
Naturphilosoph vom Schlage eines Helmholtz, Haeckel oder 
Wilhelm Ostwald. Ist die Philosophie als Wissenschaft aller 
inneren Erfahrung, als Inbegriff aller Erkenntnis, als kritische induktive 
Metaphysik als System der Wissenschaften, als Ideenlehre die Königin 
der Wissenschaften, indem sie die Einzelwissenschaften zusammen- 
fasst, verknüpft, ergänzt, kontrolliert, zu einem geschlossenen, konsti- 
tutionellen Ganzen vereinigt, ihre Voraussetzungen, Methodik und 
Ergebnisse prüft, neue Entwicklungsrichtungen weist, Lücken auf- 
deckt und vorausahnend ausfüllt, den Widerstreit der Meinungen ent- 
scheidet — dann ist der die letzten Ziele absteckende, die letzten 
Abschlüsse und Verknüpfungen leistende Arzt als Helfer und Förderer 
ethisch sozialen Strebens, als Ratgeber zu natur-, art-, vernunit-, pflicht- 
und berufsmässiger Lebensführung und Fortpflanzung, durch Regelung 
des keimenden Lebens der König der Philosophen. Das letzte Ziel 
aller Philosophie, aller Wissenschaft ist die Abwendung von Schädi- 
gungen, die Herbeiführung erwünschter Verhältnisse, die vorteilhafte 
Beherrschung der Natur. Aller Erkenntnisdrang wurzelt im Selbst- 
erhaltungstriebe, im Streben sich zu behaupten, die Natur auszunützen, 
Kommendes vorauszusehen, Unheil abzuwehren. Dieses Ziel kann 
nur im Vertrauen auf die physikochemische Gesetzmässigkeit alles 
Naturgeschehens erreicht werden, welches nur eine wahrhafte, von 
allem scholastischen Dogmatismus befreite, auf breiter Erfahrungs- 
basis fussende Metaphysik zu gewähren vermag. Wie oft ist das, 


13] Naturwissenschaftliche Grundlagen der klinischen Konstitutionsforschung. 367 


was ursprünglich metaphysischen Ursprunges war, auf Grund induktiv 
gewonnener Analogien Erschlossene und Vorausgeahnte, Vorausgesetzte, 
Vermutete und Vorweggenommene später als Hypothese, Theorie durch 
die hierdurch begründete Einzelwissenschaft bestätigt worden! Wie 
ın der Atomdynamik so entzieht sich auch in der Dynamik der 
pathologischen Keimesentwicklung so Vieles dem unmittelbaren Nach- 
weise, kann nur durch Analogieschlüsse erkannt werden. Hauptsache 
ist, dass sie zu praktisch verwertbaren Ergebnissen führen. — Der 
Philosoph hat also die Fäden der Einzelwissenschaften dort aufzugreifen 
und weiterzuspinnen, wo sie diese fallen lassen müssen. Dem konstitu- 
tionellen Werdegange der gesamten Wissenschaft, dieses zentralen 
Ausschnittes unserer gesamten Kulturdifferenzierung und sozialen 
Organisation entsprechend können sich die Einzelwissenschaften nicht 
vereinheitlichen; nach den auch unsere ındividuelle Organisation 
beherrschenden Prinzipien sind sie als unselbständige, untergeordnete 
Teile eines geschlossenen, einheitlich gebauten und primitiv einheitlich 
arbeitenden Ganzen entstanden, verlieren nur zu leicht den Überblick 
über die grossen möglichen Aufgaben und bedürfen stets philosophi- 
scher Leitung. Die Metaphysik hat innerhalb der Einzelwissenschaften 
allgemeine philosophische Fragen zur Geltung zu bringen, die Wechsel- 
wirkungen der Einzelwissenschaften zu fördern und aus den konkreten 
Darstellungen den abstrakt philosophischen Zuwachs einzuordnen, 
damit wir zu einer einheitlichen, allumfassenden, widerspruchslosen, 
praktisch verwertbaren Weltanschauung gelangen, welche auch auf 
den gesunden und kranken Menschen, diese komplexesten Spezial- 
fälle des Werdeganges Anwendung finden muss. Genau so wie die 
Philosophie zu sämtlichen Einzelwissenschaften, verhält sich die 
Konstitutionslehre zu sämtlichen medizinischen Sondergebieten. Alle 
Konstitutionsforschung ist Korrelationsforschung, denn alles Isolierte, 
Beziehungslose widerstrebt unserem Erkenntnisdrange. Das Zusammen- 
wirken der Teile, die Abhängigkeitsbeziehungen systematisch im Natur- 
ganzen bis zu den letzten dynamischen Einheiten aufzudecken, ist 
das Ziel aller Philosophie und implizite auch der Konstitutionsforschung. 
Der Beitrag, welchen der Arzt bestätigend und erweiternd leistet, 
vollendet das Gesamtsystem. Welch’ gewaltige, sich immer mehr ver- 
zweigende Kette beginnt mit dem normalen oder krankhaften Zu- 
sammenwirken zwischen der Urniere und ihrem Deckepithel, woselbst 
jegliche Analyse der Dynamik des keimenden Lebens ihren Ausgang 
zu nehmen hat! Diese einheitliche Anwendung der Alles beherrschen- 
den Prinzipien der Energetik, Dynamik und Reaktionskinetik auf das 
Zusammenwirken gleichartiger und ungleichartiger Teile in primitivsten 
wie komplexesten Ennergie- und Reaktionssystemen ist die Grundlage 


368 Alfred Greil, Naturwissenschaftliche Grundlagen usw. [14 


und der Erfolg naturphilosophischer Schulung. Zwei Ärzte, Robert 
Julius Mayer und Hermann von Helmholtz haben den Natur- 
wissenschaften das Erhaltungsgesetz geschenkt. Die systematische 
Anwendung des zweiten Energiesatzes gestattet ungeahnte Verein- 
heitlichung einer unabsehbaren Mannigfaltigkeit von Vorgängen der 
unbelebten und belebten Natur, beim entstehenden gesunden und 
kranken Menschen. Dies sind die letzten Verknüpfungen. Über- 
wältigt von solcher Vereinheitlichung erinnern wir uns der Worte, 
welche der grösste Naturphilosoph, W. Goethe zu Eckermann 
sprach: „Inder Natur ist Alles viel einfacher, als wir es denken können, 
aber verschränkter, als zu begreifen ist. Die Welt könnte nicht 
bestehen, wenn sie nicht so einfach wäre.“ Fügt sich die klinische 
Konstitutionsforschung in den Rahmen der allgemeinen, naturphilo- 
sophischen Konstitutionsforschung, welche sämtliche Einzelwissen- 
schaften umfasst und prüft, dann ist auch das höchste Ziel alles 
philosophischen Strebens: die Sicherung der artgemässen Fortpflanzung 
des Menschens, die Verhütung der endogenen Leiden und krankhaften 
Zustände, der Einblick in den keimesgeschichtlichen Wiedererwerb 
unserer geistigen Funktionen und die Verhütung endogener keimes- 
geschichtlicher Geistesstörungen zu erreichen. Solche Bestätigung der 
Allgemeingültigkeit einiger weniger, allumfassender Naturgesetze am 
komplexesten Reaktions- und Energiesysteme des Weltalls begründet 
und festigt unsere wahrhaft monistische Weltanschauung und ist das 
Geheimnis aller ärztlichen Erfolge, die Ursache der inneren Freudig- 
keit und vollen Zuversicht des Arztes. 


Vgl.: Keimesfürsorge, Entstebung und Verhütung der Schwangerschaftsstörungen. 
Leipzig. C. Kabitzsch 1923. 

Entwicklungsdynamische Grundlagen des Konstitutions- und Vererbungspathologie. 
Veıhandl. d. 33. Anatom.-Vers. Halle. 1924. 

Dynamik des maternfötalen Reaktionssystemes. Verhandl. d. 17. Gynäkologen- 
tagung. Arch. f. Gynäkol. Bd. 117. 1922. 

Neue Aufgaben und Ziele des anatomischen Unterrichtes. Anatom. Anz. Bd. 57. 1924. 

Ab- und Entartung der Konstitution durch Gestationstoxonosen. Zeitschr. f. Kon- 
stitutionslehre. Bd. 8. 

Entstehung angeborener Erkrankungen und krankhafter Zustände des Sehorgans. 
Ebenda Bd. 9. 

Entstehung krankhafter Zwittrigk.it und anderer Störungen der geschlechtlichen 
Beziehungen. Ebenda Bd. 10. 

Entwicklungsdynamische Theorie der Onkogenie. Zeitschr. f. Krebsforschung. 
Bd. 20. 


Aus der Universitäts-Frauenklinik zu Breslau. 
(Direktor: Prof. Dr. L. Fraenkel.) 


Die Entstehungsursachen und die eugenetische 
Bedeutung der Mehrlingsgeburt. 


Zugleich ein kasuistisches Sammelreferat über 
Fünflingsgeburten. 


Von e 


Dr. med. Fritz Kiffner, Breslau. 


Es soll die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, vor allem 
die Ursachen der Entstehung von Mehrlingsschwangerschaften über- 
haupt —- in allen ihren Konsequenzen — und ihre Wichtigkeit 
letzten Endes auch in sozialer Hinsicht zu erwägen; daneben werden 
sich auch einige klinisch interessante Dinge herausstellen. -— Um 
sie vorweg zu nehmen: 


]. Welche Beobachtungen sind hinsichtlich der Geburtspausen 
vemacht worden 

Uthmöller berichtet von einem Falle von Drillingsgeburt, bei der 
eine (seburtspause von vier Tagen acht Stunden eintrat, was um so erstaun- 
licher war, als bei Drillingen die bis dahin beobachtete längste Pause ein halber 
Tag war. Bei Zwillingen freilich beobachtete Karson eine Pause von 44 Tagen! 
Uthmöllers Behauptung, dass sein Fall der :erste nit derart langer Pause 
sei, muss jedoch revidiert werden; denn Nijhoff und Blecourt zitieren 
in ihrer Arbeit einen Fall von Fünflingsgeburt im. August 1873, bei der 
Dr. Michel (v. Chaumont) persönlich anwesend war, wo 


das erste Kind Montag früh 


zwete  ... Donnerstag abend 
dritte „ Sonntag früh 

vierte ~ Montag abend 
fünfte .. nach sechs Wochen 


geboren wurde. 


Das fünfte Kind war im Uterus gestorben und zwar, nach den Veränderungen 
an der Haut zu schliessen. wahrscheinlich zur Zeit der ersten Geburten. 


370 Fritz Kiffner. E 


Diese langen Geburtspausen sind beachtlich für die Frage der 
Superfötation und Superfökundation, die uns auch noch zu be- 
schäftigen haben wird. Zuvor aber noch einiges klinisch Interessante: 

ll. Welche Frauen disponieren zu Mehrlingsgeburten ? 

Nach Strassmanns Erfahrungen und der Beckmann- 
schen Arbeit sind es Frauen mit doppelten Uterusformen. 

Ill. Wie steht es ferner mit den Gefahren während und nach der 
Geburt von Mehrlingen ? 

Strassmann nennt den Abort die häufigste Gefalır bei Mehr- 
lingen, da ein Kindesteil tiefer drängt und die Geburt in dem über- 
füllten Fruchthalter anregt; sodann Blutungen post partum aus 
der Plazenta; ferner durch Grösse und Expansionsbedürfnis des 
Mutterkuchens bedingte Placenta praevia-Bildung und die Eklampsie- 
gefahr durch Überlastung und Belastung des Körpers; sie soll vier- 
mal stärker als bei Einlingsmüttern sein, und die Sterblichkeit da- 
durch siebenmal grösser. Schliesslich ist noch erwähnenswert, dass 
bereits überstandene Mehrlingsgeburt zu Placenta praevia disponiert. 

Nach Jaschke sind „am harmlosesten bei der Mehrlings- 
seburt die Anomalien von seiten des Geburtsweges“. Bedeut- 
samer schon wie häufiger zu beobachten sind Störungen von seiten 
der Geburtskräfte. Am bedeutsamsten sind -- das liegt in der 
Natur der Sache -- Störungen im Geburtsverlaufe, die vom Geburts- 
objekt ausgehen. Der (Geburtsmechanismus ist bei Mehrlingen 
einfach, da die Früchte ja in der Regel kleiner sind als der Einling, 
so dass selbst Querlagen und andere Lageanomalien nicht so ver- 
hängnisvoll sind wie beim voll ausgetragenen Kinde ja so oft. 

IV. Beachtung verdient weiterhin die Frage der Lebensfähigkeit 
und -erhaltung der Mehrlinge. 

Die ausgezeichnete Arbeit von Nijhoff zitiert 27 Fälle, unter 
denen ein Kind (Fall Ravara-Pereira da Cruz) von den Fünflingen 
50 Tage lebte und zufällig einem intermittierenden Fieber erlag. 
Von einem auderen Fünflingsfall (Gartshore) heisst es: „alle lebend 
und getauft und dem Anschein nach lebensfähig“. 

Ja sogar bei den Sechslingen einer Negerfrau in Christiansberg 
macht der Baseler Missionsarzt Dr. Vortisch, der ganz unmittelbar 
nach der Geburt erschien, die Bemerkung: „die Säuglinge starben 
mangels Pflege einer nach dem anderen in der nächsten Zeit“, woraus 
also geschlossen werden kann, dass die Kinder lebensfähig er- 
schienen. 

Bei allen anderen Fällen freilich kamen die Kinder alle oder 
zum Teil tot oder, wenn sie lebten, dann nur für Stunden oder 
höchstens 14 Tage (ein Fall). 


3] Mehrlingsgeburt usw. 371 


Liest man die Literatur über Mehrlingsgeburten, so wird eigent- 
lich immer nur der Fall als solcher registriert und in dem oder 
jenem Punkte als besonders interessant befunden, niemals aber findet 
man auch nur eine Andeutung von Bemühung um die Lebenserhal- 
tung dieser Kinder. 

Stolte sieht unter den familiär frühzeitig sterbenden Kindern 
hauptsächlich drei Typen vertreten: einmal Lueskinder, wo eine 
sachgemässe antisyphilitische Behandlung der Eltern die beste 
Therapie bedeutet; dann die Kinder mit Neigung zu Infektionskrank- 
heiten, bei denen eine rationelle Ernährungsweise eine wirksamere 
Prophylaxe darstellt als der alleinige Versuch, die Infektion zu 
verhindern; schliesslich noch die Kinder, deren frühzeitiges Sterben 
eine Degenerationsfolge ist, so dass jede Therapie machtlos ist. 

Aber gerade diese Gruppe ist damit den Fünflingskindern so 
verwandt. Ich meine, die letzte Ursache liegt da eben in den Genen, 
die wir durch Sanierung des Phaenotyps kaum beeinflussen dürften. 
Man kann wohl nur das eine sagen: wie hohes Lebensalter der 
Eltern die beste Garantie für Langlebigkeit der Nachkommen ist, 
so auch für die Lebens fähigkeit derselben überhaupt. 

Nur mit Zurückhaltung möchte ich an die Möglichkeit des 
Inzuchtschadens denken analog den neuesten Beobachtungen Prof. 
Demolls an Mäusen — bei diesen erwies sich eine Arsentherapie 
als helfend — mit Zurückhaltung deshalb, weil noch in keiner 
Weise erforscht ist, in wieviel Fällen frühzeitigen Sterbens der 
Kinder auch einwandfrei gleichzeitig Inzucht vorliegt. 

Mit der Erwähnung der Sechslingsgeburt der Negerfrau er- 
scheint erneut die Frage der Superfoetatio bzw. = Fökundatio, 
auf die wir bereits bei der Besprechung der Geburtspausen gestossen 
sind; damit also die Frage nach der Entstehung der Mehrlings- 
geburten überhaupt. Jetzt freilich in einer anderen Betrachtungs- 
weise. Nämlich: wenn die Kinder länger gelebt hätten, könnte man 
aus evtl. sich zeigenden Merkmalen von Rassendifferenz — die 
Hautfarbe freilich würde uns zunächst im Stiche lassen, da auch 
Negerkinder bei-und noch kurze Zeit nach der Geburt rosig aussehen 
und die Pigmentierung erst später kommt — ersehen, ob die Bei- 
wohnung auch noch eines anders-rassigen z. B. weissen Vaters un- 
mittelbar vor oder nach der des Negervaters stattgefunden hat. 
Damit möchte ich in die Erörterung dieser Frage eintreten, die 
namentlich Nürnberger einer näheren Untersuchung unterzog. 
Er führt aus: 


„Die Befruchtungsvorgänge beim gleichzeitigen Reifen und Platzen mehrerer 
Foltikel gestalten sich relativ einfach und durchsichtig: Befruchtung hier gleich- 


372 Fritz Kiffoer. [4 


zeitig Oder kurz nacheinander. Trotzdem treten speziell auch bei zweieiigen 
Zwillingen zuweilen Umstände ein, die eine gleichzeitige oder kurz nacheinander 
erfolgte Befruchtung der beiden Eier unmöglich erscheinen lassen. 
Diese Momente sind: 
1. Häufige auffallende Differenz in den Grössenverhältnissen der beiden 
Früchte; 
2. Bisweilen grosse Differenz ihrer Geburtstermine. 


In einer historischen Übersicht zeigt sich, dass schon von H i ppokrates 
Zeiten her Interesse und Aufmerksamkeit 'auf unsere Frage gelenkt waren. Dieser 
grosse Meister erörtert sie in einer Schrift „peri epikyäseos“. Plinius erwähnt 
Herkules und seinen Bruder Iphikles in diesem Zusammenhange; ferner jene 
Frau, deren Zwillinge teils dem Manne, teils dem Ehebrecher ähnlich waren, und 
die Magd, die von einer doppelten Beiwohnung an einem Tage ein ihrem Herrn 
und ein dessen Verwalter ähnliches Kind gebar, sowie eine Frau, die, nachdem 
sie ein Siebenmonatskind geboren hatte, in einem der folgenden Monate mit 
Zwillingen niederkam. Plinius und Hippokrates nennen also Super- 
foetatio die Befruchtung zweier Eier in Utero. Diese kann entweder gleichzeitig 
erfolgen, wie bei der erwähnten Magd, oder einige Monate auseinander liegen. 
wie im letzten Beispiel. Sie machen also ebenso wie auch neuere Gynäkologen 
keinen Unterschied hinsichtlich der Länge der Zeit, die zwischen der ersten 
Empfängnis und dem zweiten fruchtbaren Beischlafe, der die Superfoetation 
bewirkte, verflossen ist. Erst Gruner tat ‘dies (in der vierten Ausgabe von 
Metzgers ‚System der gerichtlichen Medizin“ $& 500). 

Superfoekundation ist mit Sicherheit durch Erfahrungen aus der Tierwelt 
erwiesen, z. B. bei Pferden, Hunden, Katzen, Kaninchen und ‘Schafen. Analoges 
wäre durchaus möglich beim menschlichen Weibe. Die Geburt rassedifferenter 
Zwillinge imponiert da eben besonders als stützendes Argument dieser Möglich- 
keit, namentlich Berichte aus dem ehemals klassischen Lande der Mischehen 
differenter Rassen: Amerika. Doch sind diese Berichte alle mit Vorsicht zu 
verwerten, da zuwenig genaue Ängaben gemacht werden, und sich viele Unklar- 
heiten darin finden. 

Anders steht es mit der Frage der Superfoetation: oft weitgehende 
Differgenz in der somatischen Differenzierung der Zwillinge und die zeitliche 
Variationsbreite ihrer Ausstossung wurden als Beweis dafür angesehen, aber 
durch Schatzs Entdeckung des dritten Kreislaufes besonders widerlegt. 
Selbst Zwischenräume von Tagen und — freilich extrem selten — Monaten, lassen 
sich dadurch erklären, dass hei Tier und Mensch Früchte zugrundegehen und 
ausgestossen werden können. ohne «dass fie Weiterentwicklung Ader anderen in 
utero eine Störung erfährt. 

Dazu kommen sehr ernste physiologische Bedenken: 1. Verschmelzen Re- 
flexa und Vera um die 12. Woche und bringen dadurch das cavum uteri zum 
Verschwinden, so dass Ei und Spermatozoen inicht mehr zusammen können. 
2. sistiert ja die Ovulation während der Gravidität.' 


Ich selbst bin geneigt, selbst eine Superfoetation für möglich 
zu halten, nämlich in dem Falle, dass bei der Wanderung der reifen 
Kier eins oder mehrere aus irgendeinem Grunde eine Verzögerung 
ihres „descensus“ erfahren haben und erst im cavum uteri erscheinen, 
selbst wenn sehon eine Nidation eines anderen befruchteten Eies 


5] Mehrlingsgeburt usw. 373 


stattgefunden hat; denn eine erneute Ovulation ist ja dann gar 
nicht nötig und selbst die bis jetzt als am längsten beobachtete 
Geburtspause von 44 Tagen würde meine Annahme nicht wider- 
legen, da in diesem Zeitintervalle noch hinreichend Platz zwischen 
der Decidua reflexa und Vera war, um die Konzeption zu ermöglichen. 


Bei der eben gemachten Betrachtung gingen wir von einer 
Voraussetzung aus: dem gleichzeitigen Reifen und Platzen mehrerer 
eineiiger Follikel. Ist das die einzige Möglichkeit, wie Mehrlinge 
entstehen können? Nein, es liegen noch folgende Möglichkeiten der 
Entstehung vor: 


1. Reifen und Platzen eines oder mehrerer mehreiiger Follikel. 

2. Trennung bzw. Auseinanderfallen der befruchteten Eizelle 
im 2—6 (7) = Zellenstadium. 

3. Ausbildung mehrerer Fruchthöfe aus einer Keimblase. 

4. Befruchtung eines mehrkernigen Keimbläschens. 


5. Befruchtung eines einkernigen Keimbläschens von mehreren 
Spermatozoen. 


Unterziehen wir diese sechs Möglichkeiten nunmehr einer 
genaueren Betrachtung: zunächst das Reifen und gleichzeitige Platzen 
mehrerer eineiiger bzw. eines oder mehrerer mehreiiger Follikel. 
Sind beim Menschen überhaupt mehreiige Follikel gefunden worden’? 


Hellin bearbeitete ganz speziell diese Frage und kam 
auf Grund eingehender vergleichend-anat:mischer uni histologischer 
Untersuchungen zusammenfassend zu folgendem Ergebnis: „Im Bau 
ddes Ovars als Ganzem liegt die Ursache der mehrfachen Schwanger- 
schaft und die mehreüge mehrfache Schwangerschaft der Uniparen 
ist eine atavistische Erscheinung.“ 


Das bisher Gesagte betrifft nur die mehreiigen mehrfachen 
Schwangerschaften. Gehen wir jetzt an eine andere Möglichkeit 
der Entstehung der mehrfachen Schwaneersehaft, nämlieh die aus 
einem Bi. 


Das Haupteharakteristikum des eineiigen Mehrlings ist, «dass er immer 
nur ein Chorium und eine Plazenta hat; das gemeinsame Chorium ist also primär 
angelegt, nicht etwa durch eine Atrophie der zwischen den beiden  Amnien gce- 
legenen Chorien entstanden! Strassmann teilt die monochoriaten Zwillinge 
noch in diamniote und monamniote. letztere wieder in unifuniculare und bifuni- 
eulare und nennt die beiden Letzteren zusammen ‚‚difötale“ Zwillingsbildungen. 
Tritt eine Verschmelzung der beiden ein, so kommt es zunr Bigeminus monofötalis. 
Aber damit betreten wir das trebiet der Missbildungen, die hier nicht zur Bede 
stehen. Hingedeutet sei nur noch auf die Embryombildung, die letzten Endes 
mit in diese Reihe gehört, da das Embryom „sieh aus der Entwicklung einer 
gesonderten oder sich verspätet teilenden Blastomere bidet. Uns interessiert 


374 Fritz Kiffper. [6 


vor allem die Frage: zu welcher Zeit begann die Teilung im Ei ın mehrere 
Teile — 2--4 oder mehr —? Schon Aristoteles kannte die Entstehung 
von zwei Embryonen aus dem Hühnerei mit zwei Dottern. Dareste, Mor. 
ridia und Koch beobachteten Drillinge in einem Hühnerei, ja Condorelli 
beschrieb sogar vier eindotterige Embryonen. 


Ich halte es bei den dotterreichen Vogeleiern für durchaus 
möglich, dass sich die 2—4 Embryonen durch direkten Zerfall 
der Morula im 2-—4 Zellenstadium des animalen Poles bildeten. 
Denn bei dem Dotterreichtum der Eier ist die Ernährung des Eies 
schon von Anbeginn eine intensive, die wohl imstande ist, 2---4 Em- 
bryonen auf einmal zu erhalten, während das menschliche Ei erst 
durch seine Nidation und deren weiteres Umsichgreifen in den Genuss 
einer solchen wirklichen, vollwertigen Ernährung, die dem Dotter 
dort entspricht, kommt; also lange, nachdem die Furchung bereits 
stattgefunden hat. Für Zwillinge wäre eine Teilung der Keimblase 
im Furchungsstadium mit anschliessender gemeinsamer Nidıt:on noch 
denkbar, 3—6 Teilungsprodukte indes müssten sich wohl doch so- 
weit erschöpfen, dass sie Mühe hätten, durch ein genügend aggressives 
Trophoblast die Plazentabildung vorzubereiten. Aber dann wären 
es ja gar nicht mehr eineiige Mehrlinge im strengen Sinne des Wortes 

selbst wenn die eben geschilderten Vorgänge der Nidation der 
einzelnen Teilungsprodukte in utero in Analogie zu den sogenannten 
„Schütteleiern“ doch möglich wären --, denn es müssten ja getrennte 
C'horien und Plazenten entstehen! 


Lie Analogie des menschlichen Eies mit den eben genannten 
„Schütteleiern“ wäre doch wohl eine zu vage Hypothese -— das 
Milieu, in dem sich die reifen Eier im lebenden mütterlichen 
Organismus bewegen, ist ja ganz anders aufgebaut als das jener 
hier, div noch dazu recht groben mechanischen Insulten ausgesetzt 
werden ex sei «denn, dass unbekannte chemische Einflüsse die 
gleichen Wirkungen herbeiführen können wie dort. Und schliesslich 
gehören die Schütteleier als Bier von Reptilien und Amphibien 
Tieren an, die eine ausserordentliche Regenerationsdentenz in sich 


tragen; und diese Tendenz - von anderer Seite als „Totipotenz‘ 
bezeichnet - ist eben schon in der Keimzelle gelegen. Heiden- 


haın äussert sich: „ein ausserordentlicher Kreis von Tatsachen 
deutet mut aller Bestimmtheit darauf hin, dass jene Totipotenz 
wenigstens in den niederen Formenkreisen ein charakter indelebilis der 
kernhaltigen Plasmamasse ist“. Für das menschliche Ei dagegen lässt 
auch diese Erklärungsmögliehkeit im Stiche, denn beim Menschen 
bringt: es die von Driesceh sogenannte „ÖOmnipotenz“, d. h. die 
Fähigkeit der einzelnen Zelle, überhaupt alle im Bereiche eines 


7) Mehrlingsgeburt usw. 375 


Keiimblattes liegenden entwicklungsgeschichtlichen Produktionen be- 
sorgen zu können“, die Heidenhain als „einen Rest der ursprüng- 
lichen Totipotenz‘ bezeichnet, höchstens zur Bildung von Geschwulst- 
metastasenzellen (Heidenhain). 

Von den von Döderlein, v. Franqué, Stoeckel, 
v. Schuhmacher, Schwarz und anderen beobachteten mehr- 
kernigen Eizellen, durch die man die Frage nach der Entstehung ein- 
eiiger Mehrlinge um ein Bedeutendes gefördert zu sehen meinte, 
möchte ich annehmen, dass sich vielmehr aus ihnen, falls sie be- 
fruchtet sind, als grösster Prozentsatz die Embryome reķrutieren, 
wenn überhaupt eine Furchung in diesem Falle angeregt wird. Dazu 
würde Stoeckels Ansicht sehr gut passen, der zur Deutung eine 
amitotische Zell- und Kernteilung annimmt, ein Vorgang, der ja 
— etwas auffallend chaotisches in sich tragend — in der Geschwulst- 
pathologie überhaupt eine so schwerwiegende Rolle spielt. Ich er 
blicke, wenn dies zutrifft, — in Fortführung des oben bereits von 
der Embryomentstehung Gesagten -- dann darin die letzte Ursache 
zur Teratombildung überhaupt. 

Mit der Annahme der Befruchtungsmöglichkeit zweikerniger 
Eier als Grundlage eineiiger Zwillingsschwangerschaften kommen wir 
also auch nicht weiter; für die eineiigen Mehrlinge, die uns be- 
hesonders interessieren, erst recht nicht. 

Denn „selbst angenommen, dass die Befruchtung eines solchen 
Gebildes möglich sei, so müssten hier an zwei Stellen Richtungs- 
körperchen ausgestossen werden, zwei Spermatozoen müssten ein- 
dringen und zwei Furchungskugeln müssten sich bilden. Wenn dann 
aber daraus zwei Keimblasen entstehen, dann müssen sich auch zwei 
Chorien bilden, und diese müssten verschwinden, um das Bild der 
eineiigen Zwillinge herzustellen“. Das mutet fast so an, als ob 
uns die Natur nun immer den Gefallen tut, diese zwei Chorien 
zu einem zu reduzieren, bloss damit es zum Bilde des eineiigen 
Zwillings passt! 

Eine andere Erklärungsmöglichkeit der Entstehung eineiiger 
Zwillinge: 

„Polyspermie“ (die Ursache läge also heim männlichen Teile). 
Aber auch damit ist es nichts, denn wenn auch eine Entwicklung 
durch mehrere Spermien angeregt wird (Boveri’s Versuche‘, so 
wird doch niemals „ein über das Blastulastadium hinausgehender 
normaler Organismus‘ daraus. Und auch beim zweikernigen Ei ist 
selbst beim Seeigel die Befruchtung mit zwei Spermien nicht ge- 
lungen; die Analogie für den Menschen ist also erst recht abzu- 
lehnen, abgesehen von den bereits ausgeführten Erwägungen. 

Archiv für Frauen kunde, Bä. E. H. A 25 


376 Fritz Kiffner. [8 


Zudem, wie kann man mit diesen Annahmen die Gleichgeschlecht- 
lichkeit der eineiigen Mehrlinge erklären ? Dieses Kriterium scheint 
mir gleichzeitig der Hauptwiderlegungsgrund der Ansichten 
Höfers, Bromanns und Kästners zu sein, die Sobotta 
noch durch andere schwerwiegende (Gegengründe widerlegt. 
Höfer meint, dass durch die Befruchtung zweikerniger Eier durch 
Spermien mit zwei Köpfen oder zwei Kernen in einem scheinbar 
einheitlichen Kopfe eineiige Zwillinge entstehen könnten, Bromann 
glaubt dasselbe von den zweischwänzigen Spermatozoen, Käst- 
ner denkt sich „auf Grund seiner sehr eingehenden Betrachtungen 
auf dem Gebiete der Erforschung der Doppelbildungen der Vögel“, 
dass unter anderem auch aus einer Eizelle und ihrem abnorm 
grossen und nicht abgetrennten ersten Richtungskörperchen Doppel- 
biidungen sich entwickeln können. Nach Sobotta aber ist es in 
keiner Weise erwiesen, dass aus zweikernigen Eiern überhaupt Doppel- 
bildungen entstehen können. 

Bleibt noch eine letzte Möglichkeit: die Ausbildung zweier 
oder mehrerer Fruchthöfe auf einer Keimblase. Assheton sah 
auf der sehr langgestreckten Keimblase eines Schafes zwei völlig 
und weit voneinander getrennte areä embryonales, aus denen sich 
also zwei Embryomen bilden müssen. Je nachdem: die beiden areä 
embryonales dicht beieinander liegen, entstehen mehr oder weniger 
verwachsene Doppelbildungen oder völlig isolierte Individuen. ,, Dies 
sind in der Tat die ersten anatomischen Grundlagen für die Ent- 
stehung eineiiger Zwillinge“. 

Wir sind seitdem um einen ganz ausserordentlich wichtigen 
Beitrag zur Klärung unserer Frage bereichert worden: durch die 
Entdeckung von M. Fernandez, dass die sämtlichen 10 bis 12 
Embryonen eines Wurfes bei einem südamerikanischen Gürteltiere 
aus einem Ei entstehen und gleichgeschlechtlich sind. Dann unter- 
suchten Newman und Patterson die nordamerikanische Form 
Tatusia novemcinctum genauestens, welche ‚normalerweise und 
absolut regelmässig 4 Junge gleichen Geschlechts wirft, die gemein- 
same Chorien, aber getrennte Amnien haben und aus einer einzigen 
Keimblase also auch einem einzigen befruchteten Ei entstehen, d. h. 
in Wahrheit eineiige Vierlinge sind“. 

Grassl sagt zwar, mit viel Berechtigung wie ich meine, mit 
Analogie könne man alles beweisen, jedoch in vorliegendem Falle 
sind die Vergleichsmomente, wie wir sehen werden, so überein- 
stimmend, dass ein absoluter Analogieschluss durchaus am Platze ist. 
Schon rein anatomisch zeigt der Uterus den gleichen Bau wie beim 
Menschen: er ist einkammerig und auch die Adnexe liegen in der 


9 Mehrlingsgebort usw. 377. 


gleíchen Anordnung; nur die Tuben treten etwas distaler an den 
Uterus heran. Sodann kommt immer nur ein grosses Corpus luteum 
in den Ovarien eines graviden Tieres vor. In ihrer Zusammenfassung 
äussern sich Newman und Patterson dahin, dass „die Keim- 
blattinversion eine Bedingung darstelle, welche nicht erreicht werden 
könnte durch die Vereinigung von mehreren Eiern, um eine einzige 
Blase zu bilden.“ Dies sei „das stärkste Beweisstück für die spe- 
zifische Polyembryonie, welches bisher zutage getreten ist‘ und nach 
ihrer Meinung entscheidend ; ferner, dass das Vorkommen von teilweisen 
oder rudimentären Embryonen ein Beweis gegen die Vorstellung sei, 
dass die Mehrlinge sich von getrennten Eiern ableiten; denn es sei 
schwer, sich vorzustellen, warum einige sich völlig entwickeln sollen, 
während andere unter den gleichen Milieueinflüssen zurückbleiben. 

Patterson behauptet weiter, dass die Vierlinge der Gürtel- 
tiere durch eine „physiologische Isolation“ der 4 ersten Blastomeren 
entstünden. Äusserlich wirklich bemerkbar freilich ist die Verteilung 
der Embryonalanlage erst nach Auftreten der Keimblastinversion. 
Aber ‚nach allem, was wir über den kausalen Zusammenhang der 
Entwicklungsvorgänge wissen, müssen die Ursachen dazu viel früher 
liegen“ (Sobotta). Derselbe Autor knüpft auch an den Begriff 
„physiologische Isolation“ an und bezeichnet ihn als undenkbar. 
Um zu verstehen warum, müssen wir erst einige Eigentümlichkeiten 
kurz erörtern, die das Säugetierei in seiner Entwicklung gegenüber 
(lem Ei der anderen Säugetiere hat. Bei der Maus z. B. sind die ersten 
beiden Blastomeren von verschiedener Grösse; die grössere teilt 
sich früher als die andere: ein 3-Zellen-Stadium entsteht, das aus 
der Furchung anderer Wirbeltiereier nicht bekannt ist. Nun „holt 
die aus der ersten Furchungsphase ungeteilt übriggebliebene grosse 
Blastomere die Teilung nach, bevor die kleinen beiden Furchungs- 
kugeln sich von neuem teilen und es kommt zum Vierzellenstadium“. 
Aber auch da eine bei den Säugetieren (Maus, Kaninchen, Affe) fast 
allenthalben in Erscheinung tretende Abweichung von den sonstigen, 
Wirbeltiereiern: eine Zelle liegt in einer anderen Ebene als die 
drei anderen. Danach ist nicht ersichtlich, warum es beim Menschen 
anders sein sollte. | 

Nun stellt Sobotta folgende Überlegung an: „geht man von 
dem 4-Zellenstadium aus und nimmt man an, dass in diesem Stadium 
eine Trennung des embryonalen und ausserembryonalen Materials 
der späteren Keim- und Fruchtblase zustandekommt, derart, dass 
das anfangs weit schwächere erstere aus der .isoliert - - besser: in 
eigener Ebene -- liegenden einzelnen Blastomere hervorgeht, das 
letztere, seinen Massenverhältnissen entsprechend aus den drei 


25* 


378 Fritz Kiffner. 10 


anderen, so kann man sich das Zustandekoınmen des polyembryoni- 
schen Verhaltens von Tatusia so denken, dass die „Embryonal“- 
Blastomere (eben jene gesonderte) nach zweimaliger Teilung in vier 
Blastomeren zerfällt und dann durch irgendeine, natürlich noch 
ganz unbekannte Ursache, der innerliche Zusammenhang dieser vier 
Zellen so gestört wird, dass jede von ihnen zur Ganzbildung fähig 
wird. Dagegen findet für die drei „Extra-Embryonalen‘‘ Blastomeren 
eine solche Störung des Zusammenhanges nicht statt, so dass sie 
einheitliche Fruchtblase und Eihäute bilden. Andererseits bleibt natür- 
lich der ‚„Embryonal-Blastomeren“-Bezirk und der der ausserem- 
bryonalen Blastomeren in ständigem Zusammenhange. Auf dem eben 
gekennzeichneten Wege muss nach allem, was wir über die Resultate 
der experimentellen Embryologie wissen, eine Vierlingsbildung bei 
gemeinsamem Chorium usw. entstehen. Beim eineiigen Zwilling ist 
die isolierende Ursache im Stadium der Zweiteilung der Embryonal- 
blastomeren eintretend zu denken. Dass das Amnion mit dem Embryo 
sich vervierfacht, geht aus der Bildungsweise des Amnions bei Keim- 
blattinversion hervor.‘ Nunmehr dürfte verständlich werden, warum 
eine „physiologische Isolation“ im Vierzellenstadium undenkbar ist: 
„es würde sich erstens auf diese Weise das ja namentlich in der ersten 
Entwicklung des Menschen so auffällige Missverhältnis zwischen 
embryonalem und ausserembryonalem Gebiete der Keimblase nicht 
erklären, zweitens bliebe Jdas eigenartige lagerungsverhältnis der vier 
ersten Blastomeren unverständlich“. 

Zu diesen Darlegungen würde übrigens meine Ansicht über die 
Möglichkeit einer Entstehung von 2--4 Embryonen durch direkten 
Zerfall des animalen Poles der Morula des Vogeleies im 2—4-Zellen- 
stadium recht gut. im Vergleich zu stellen sein. Nämlich so: was das 
Vogelei schon von Anfang an „als Mitgift‘ von der Natur mitbekommt 

- eben den Nahrungsdotter —, der Mangel daran wird beim holo- 
blastischen Säugerei dadurch ausgeglichen, dass die „ausserembryo- 
nale“ Blastomere durch ihr voraneilendes Wachstum auf ihre Weise 
der „Embryonal“-Blastomere überhaupt erst eine Existenzbasis schafft. 
Ferner wird durch Sobottas Hypothese auch die Asshetonsche 
Beobachtung der Schafkeimanlage mit zwei Areae embryonales ver- 
ständlich, die Strassmann mit Recht ‚die ersten anatomischen 
Grundlagen für die Entstehung eineiiger Zwillinge nennt“. Nur darin 
hat er nicht recht, wenn er fortfährt: „die Zwillinge in einfachem 
Amnion beweisen nun weiter, dass auch nach der Bildung der Amnion- 
falten noch eine Duplizität entstehen kann“. Denn beim Säugetier 
entsteht das Amnion nicht durch Faltenerhebung, sondern durch 
Höhlenbildung! Und so muss auch seine Einteilung der monochoriaten 


DI Mehrlingegeburt usw. 379 


Zwillinge in di- und monamniote dahin revidiert werden, dass man 
sagen muss, die Sonderung in monamniote entspricht mehr einem 
klinischen Einteilungsbedürfnis — bei genauerem Zusehen liegt sicher 
fast stets nur eine scheinbare monamniotische Bildung vor —, als 
dass sie entwicklungsgeschichtlich begründet ist. 

Dagegen hat Weinberg recht, wenn er zu dem Ergebnis 
gelangt: „unter den Zwillingen in einem Amnion spielen die Doppel- 
misshildungen eine so hervorragende Rolle, dass Ahlfelds Ansicht 
von der nachträglichen Verschmelzung zweier Amnien bei getrennten 
Zwillingen in scheinbar einfacher Amnionhöhle einer gewissen Be- 
rechtigung nicht entbehrt“. In einem anderen Punkte freilich irrt sich 
Weinberg; nämlich wenn er behauptet: „das angeblich häufigere 
Vorkommen in Gestalt und Lebensäusserungen besonders ähnlicher 
Zwillinge bei den eineiigen ist bis jetzt nur eine theoretische For; 
derung ohne positive Grundlage“. Denn was sollte sonst identischere 
Merkmale haben, wenn nicht Organismen, die ein und demselben 
Substrate entstammen? Dadurch wird auch eine ganz gleiche Verteilung 
der Erbmasse ermöglicht. „Es ist folglich eine Forderung der Logik, 
dass alle Unterschiede, welche eineiige Zwillinge darbieten, para- 
typischer Natur sind. Ungleiche Teilung und nachträgliche Änderung 
der Erbanlagen des einen Zwillines (Idiokinese) sind denkbar, aber 
eine verschwindende Ausnahme (Siemens). Der Fall Nettle- 
ship, in dem von eineiigen Zwillingen der eine rotgrünblind war, 
während der andere normalen Farbensinn gehabt haben soll, könnte 
allerdings als Stütze der Weinberg’schen Auffassung imponieren, 
aber „man muss nach Ansicht von C. v. Hess damit rechnen, dass 
die Diagnose der Rotgrünblindheit bzw. ihres Fehlens auf einem 
Irrtum beruhte, da die Methoden zur Messung des Farbensinnes zu 
der Zeit der Nettleship’schen Veröffentlichung noch ziemlich 
unvollkommen waren. Es scheint der Verdacht begründet, dass es 
sich um eine Störung der Manifestation bei dem einen Zwilling, und 
nicht um Verschiedenheit der Erbanlagen handelt“ (Siemens). New- 
man und Patterson widmen der Identitätsfrage einen besonderen 
Abschnitt und machen für ihre Gürteltiere die Beobachtung, dass 
selbst in einem so lächerlichen Merkmale wie in einem minimalen 
Abweichen in der Zahl der Schuppen ihres Körpers die Tiere eines 
Wurfes sich völlig gleichen. D. h. z. B., wenn ein Tier 5 Schuppen 
weniger hat als ein anderes, so haben eben alle seine Nachkommen 
diese geringe Zahl. Ja an einer anderen Stelle sagt Siemens: 
„die Eineiigkeit wurde nur ausnahmsweise aus dem Eihautbefunde 
diagnostiziert, in der Regel aus dem Vorhandensein einer für gewöhn- 
liche Geschwister ganz unwahrscheinlichen Ähnlichkeit.“ Tch bin 


380 Fritz Kiffner. 12 


überzeugt, dass die Pubertätszeit, die ja von einer so einschnei- 
denden Bedeutung für die körperliche und geistige Entwicklung 
des Menschen ist und bei Geschwistern aus verschiedenen Geburten 
sicher die augenfälligsten Unterschiede herauszumodellieren im- 
stande ist, bei Mehrlingen aus einer Geburt wohl immer die 
gleichen Wirkungen hinterlassen wird. Ich kann mir nicht vor- 
stellen, dass beim eineiigen Zwilling z. B. der eine Akromegalie 
bekommt, der andere nicht. Kurz, um mit Poll zu sprechen: „die 
eineiigen Mehrlinge sind in der Tat die einzigen isozygotischen 
Individuen d. h. Menschen mit identischem Erbgute. Die einzige 
Möglichkeit ergibt sich daraus, unmittelbar analytisch verwertbare 
Aufschlüsse über den Erbgang bestimmter Merkmale zu erhalten, 
eine Methode, die, sonst eben beim zweckdienlich geleiteten und plan- 
mässig geordneten Zuchtversuche anwendbar, der menschl'chen Erb 
forschung verschlossen bleibt. Ist diese Vorstellung richtig, dann 
muss die planmässige und kritische Durchforschung eines jeden erb- 
verdächtigen Merkmales auf sein Abändern bei eineiigen Mehrlingen 
hin allen Erbuntersuchungen menschl:cher Charak:ere als unentbehr- 
liche Grundlage voraufgehen“. Damit wenden wir jetzt unseren Blick, 
den wir durch Erkenntnisse gewissermassen aus der Vergangenheit 
geschult haben, in die Zukunft. „R. Meyer hat bei der Besprechung 
einer Doppelmissbildung auf die Verwertbarkeit dieser Vorkomm- 
nisse für die Erkenntnis des Erbganges von Anomalien und Varietäten 
hingewiesen.“ Polls Arbeit, die ich hier zitiere, ist vor allem der 
Betrachtung des Erbganges der Linienmuster der Fingerbeeren ge- 
widmet und enthält auf einer besonderen Tabelle noch eine Reihe 
anderer erbverdächtiger Eigenschaften. Auf solche Weise ergeben 
sich weittragende Konsequenzen für die Kriminalanthropologie, ge- 
richtliche Medizin und Biochemie; nach Todd lassen sich Individuen 
auf hämolytischem Wege unterscheiden. „Dann also müssten wirk- 
lich gleicherbige Zwillinge - - also eineiige — sich auch mit Hilfe 
dieser Methode als individualplasmatisch ähnliche Menschen erkennen 
lassen.“ In der Mehrlingsforschung liegen also „Möglichkeiten ver- 
erbungspathologischer Arbei:, we!che versprechen, unsere Kenntnisse 
von der idiotypischen Bedingtheit menschlicher Krankheiten ent- 
scheidend zu fördern, ja auf eine neue und breitere Basis zu stellen“. 
(Siemens). Wenn Strassmann die anthropologische Bedeutung 
der Mehrlinge zum Teil mit auf der Basis Hellinscher Anschau- 
ungen dahin zusammenfasst, «lass er sagt, sie stellten eine „seltener 
werdende. rückständige Art der Fortpflanzung dar, die erhöhten Ge- 
fahren für die Mehrlingsmütter und -früchte führten so - auf 
sicherer zahlenmässiger Grundlage - eine weitere Einschränkung der 


13] _ Mehrlingsgeburt usw. 381 


Multiparität und den Übergang zu Uniparität herbei, und aus den 
beigebrachten Beweisen (seine eigenen, bereits am Anfang erwähnten 
und die Hellins) sähen wir, wie ‚mit langsamem aber chernem 
Schritte die Entwicklung des Menschen fortschreitet‘“, so hat das 
für den, der streng auf dem Boden der Entwicklungslehre steht, etwas 
zweifellos Bestrickendes. 

Anders wird und muss diese Dinge der eugenetisch Interessierte 
bewerten: ihm werden die gewonnenen Erkenntnisse dazu dienen, 
nun erst recht besonders die Ärztewelt, vornehmlich den Geburts- 
helfer, aber auch den Laien auf die ganz ausserordentliche Bedeutung 
der Mehrlingsgeburt hinzuweisen; denn durch die hier dargetanen 
Erwägungen dürfte verständlich erscheinen, dass z. B. — nur um 
eines herauszugreifen — das so schwer wiegende, stets aktuelle Thema 
„Krankheiten und Ehe‘ ausserordentlich befruchtet wird, und dass 
es höchst begrüssenswert wäre, wenn die leider fast ganz in Ver- 
gessenheit geratene Institution des Hausarztes wieder zu ihrem vollen 
Recht käme, ist doch der Hausarzt als der Vertraute der Familie 
der berufenste Mann, in solchen Familien gerade mit Mehrlings- 
geburten hinsichtlich ‘des Erbganges gewisser Erscheinungen und des 
Verhaltens der Mehrlinge überhaupt ununterbrochen werivollste Be- 
obachtungen zu machen; sodann können diese Erwägungen in ihren 
letzten Konsequenzen wesentlich dazu beitragen, der eugenetischen Indi- 
kation in Prophylaxe und Therapie, die Max Hirsch schon 1913 in 
die gynäkologische Praxis eingeführt sehen wollte, ebenso zu weitester 
Anerkennung zu verhelfen wie der dringenden Forderung desselben 
Autors, dass „die Lehre von der Fortpflanzung, d. h. die Physiologie, 
Pathologie, Therapie und Soziologie der Fortpflanzung in Zukunft 
eine geschlossene Darstellung im Rahmen des geburtshilflich-gynäko- 
logischen Unterrichts erfährt“. 

Wir haben damit das Thema der Vererbung angeregt und 
wollen noch kurz sehen, was wir bis jetzt darüber wissen, soweit 
es die Mehrlingsgeburten angeht: 


Strassmann erwähnt, dass in einzelnen fürstlicken Familien Jahrhun- 
derte hindurch Vererbung von Zwilingen feststellban ist. Insbesondere ist die Ver- 
erbung auffallend für Drillinge. Diese und mehr noch Vierlinge stammen häufig 
von Eltern, die selbst Mehrlingsgeschwister sind., Man findet daher in der Aszen- 
denz von Drillingen und Vierlingen häufig Zwillinge und in der Deszendenz von 
Zwillingen nicht selten Drillinge. Es ist somit verständlich, dass auch bei einer 
Frau Mehrlingsgeburten habituell sind. Mehrlinge sind nicht nur in weiblicher, 
sondern auch in männlicher Linie erblich und zwar, wie man aus der Beob- 
achtung einer Ärztin an. ihrer eigener Familie entnehmen kann, durch drei Genera. 
tionen ersichtlich. Hellin weist an 148 Fällen die Heridität nach und be- 
richtet weiter. daag man in der Tierzüchterei diesen Faktor benützt hat, um 
bei Tieren solche Spezies zu erhalten, die zwei Junge statt einem produzieren, 


382 Fritz Kiffner. [14 


z. B. bei Schafen. Günstige Ernährungsbedingungen seien noch dazu von be: 
sonders gutem Einflusse: so konnte z. B. ein Farmer schon im Herbst aus der 
Qualität der Wiese, der Art des Wetters und Graswachstums vorhersagen, ol» 
seine Schafe das nächste Frühjahr zwei, ‚eins oder keine Jungen haben würden. 
Auch bei so gut wie allen anderen Fällen der Literatur war die Heridität zur 
Mehrlingsgeburt fastzustellen. Zwei Fälle aus der Literatur möchte ich noch be- 
sonders herausheben: es ist erstens die Fünflingsgeburt von Satteldorf am 
9. 2. 1840; da hatte die ältere Schwester der Fünflingsmutter unter sieben 
Geburten, zwei Töchter dieser Schwester unter drei und neun Geburten je 
einmal Zwillinge. Das Referat schliesst mit den Worten: „diese Angaben 
stammen aus den Familienregistern von Satteldorf und Umgegend‘“. Wir sehen 
daraus, dass die Schallmayersche Forderung der Aufstellung erbbio- 
graphischer Personalbögen (amtlich und obligatorisch) durchaus praktisch durch- 
führbar wäre. „Die Chinesen gehen uns darin ‚mit bestem Beispiele voran. 
gehören doch dort Familienstammbäume, die sich über mehr als dreitausend 
Jahre erstrecken, nicht zu den Seltenheiten! Freilich sind sie nicht gerade 
erbbiographischer Art, zeugen aber von einem bewunderungs- und nachahmens- 
werten Familienkult. Auch bei den Sanıoanern soll jede Familie endlose Stamm- 
tafeln ‘besitzen, auf die grosser Wert gelegt wird‘. 


Als zweiter ‚Fall, den ich in diesem Zusammenhange bösonders hervorheben 
zu müssen glaube, ist mir die Sechslingsgeburt von Castagnola bei Lugano vor 
allem interessant. Der Referent des Falles Herr Dr. Vassalli berichtet u. a.: 
„die Fruchtbarkeit in der Familie speziell und in jener Landschaft überhaupt 
scheint ziemlich gross zu sein: fünf Vettern-Brüder waren Zwillingsväter, die 
Schwester der Mutter der Sechslinge hat auch Zwillinge geboren. In der Ge- 
meinde Castagnola mit 585 Einwohnern sind vom 1. 1. 1876 bis 10. 5. 1888 
(also in 12 Jahren) 217 Geburten gemeldet! Davon 228 Einlinge, 5 Zwillinge, 
1 Drilling, 1 Sechsling.‘‘ Dies ist um so erstaunlicher, als sonst auf 892 Ge- 
burten eine Drillings-, und auf 895 eine Sechslingsgravidität kommt. Erinnern 
wir uns daran, dass Rasse, Klima und sonstige Milieueinflüsse keinen absoluten 
Kinfluss auf die Geburt von Mehrlingen ıhaben, so liegt der Gedanke nahe. 
Inzest für möglich zu halten. ‘Ich bin um so mehr geneigt ihn anzunehmen, 
als es sich hier um eine ausgesprochene Gebirgsgegend handelt; und in solchen 
Gegenden ist heiraten untereinander ausserordentlich häufig, da eben geographisch 
direkt bedingt. Infolgedessen erhalten sich auch anthropologische Merkmale 
ın Gebirgsgegenden am reinsten — ich denke an die Sektierer in Kleinasien. 
Leder erhielt ich trotz wiederholter Anfrage keine Antwort, die mir Gewissheit 
über diese Fragen geben könnte. 


Bevor ich meine Darlegungen schliesse, möchte ich noch eine mehr stati- 
stische Arbeit über das Vorkommen von Mehrlingsgeburten rein quantitativ 
und seine Gründe erwähnen: es ist die von Grass] über die Mehrlings- 
geburten in Bayern. Grassl kommt zu dem Ergebnis, dass Städtebildung 
und Industrie die Anlage zu Mehrlingsgeburten eines Volkes drückt. In 
Franken nehmen die Mehrlingsgeburten bei den oberen Klassen ab, bei den 
unteren zu, weil nach Grassis Ansicht „nicht entweder Varietätenbildung 
oder Atavismus, sondern lediglich Abundanz, ein Exzess in der natürlichen 
Fruchtfähigkeit, die Ursache der Mehrlingsgeburten ist, eben da ja Frauen 
mit Mehrlingen überhaupt reiche Geburten haben. Grass] denkt dabei 
an eine Analogie mit den Haselnüssen, bei denen er die Beobachtung macht, 


15] Mehrlingsgeburt usw. 383 


class immer, wenn es viele Haselnüsse gibt, dann auch die Doppelbildung des 
Kernes häufiger ist; ebenso ist es nuch mt der Löwenzahnblütendoppel- 
bildung. „Das Zusammenfallen von der Zahl und der Stärke der Entwicklung 
mit der Zahl. der Doppelbildung ist entschieden auffallend.“ Mit diesen Er, 
wägungen ist natürlich nichts in seinen Ursachen begründet, sondern lediglich 
Jaut Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Tatsache bewiesen. Grassl schliesst 
mit den Worten: „durch das Spezialstudium der Mehrlingsgeburten kommen wir 
zur Lösung der vielumstrittenen Frage, ob die Abnahme der Geburtenziffer 
bei den höchststehenden Kulturvölkern lediglich der Ausdruck moralischer 
Insuffizienz ist, oder ob auch somäatische Verhältnisse mitspielen‘. 


Aum Schlusse bringe ich, einer Anregung Herrn Prof. 
Fraenkels (Breslau) folgend eine .zusammenfassende Uber- 
sicht über die Fünflingsliteratur und beginne mit der ausgezeichı- 
neten Monographie einer Fünflingsgeburt, die von Dr. Nijhoff und 
Blecoeurt geschrieben ist, weil die genannten Autoren in einer 
analytischen Übersicht zusammenfassen, was sich aus ihrem Fall und 
dem Bericht von 28 anderen Fällen von Fünflingsgeburten ergibt, 
so dass ich mir wohl eine ermüdende Einzelaufzählung der .Fälle 
ersparen kann. 


I. Andere Geburten und Familienantezedenzen: 


Alle Frauen waren Mehrgebärende, ausgenommen ein Fall, und 
meist auch ausserdem noch selber Zwillinge, oder aber es kamen 
solche im der Familie sonst vor. 


IL Zeitpunkt der Entbindung: 


Die Fehlgeburten waren so entwickelt wie die Einlingsfehl- 
geburten, nur die ausgetragenen Kinder standen, wenigstens hin- 
sichtlich des Gewichtes, hinter der Norm zurück. 


Hi. Dauer und Verlauf der Geburt: 


Mit Ausnahme von 3 Fällen nur kurze Entbindungszeit. Nicht 
gewöhnlicher Verlauf - d. h. spontane, bald aufeinanderfolgende 
Geburt der Kinder, spontane Austreibung der Plazenta -- in 9 Fällen. 


IV. Die Nachgeburt: 


Plazenta in 4 Fällen 
8 


Angaben fehlen oft. 


GZ Lë cs 


37 


39 > 2 37 


Or 


Aus den Mitteilungen darf man schliessen, dass bis jetzt kein 
Fall von eineiigen Fünflingen beschrieben ist. Aus der Schil- 


384 Fritz Kiffner. IL 


derung der Eihäute ist zu entnehmen, dass alle Kombinationen ven - 
eineiigen mit mehreiigen Früchten vertreten waren: 
fünfeiig waren 2 (?) Fälle 
dreieig . 3 
zweieig . 2 e 
viereig war wahrscheinlich keiner mit Sicherheit. 


V. Zustand der Kinder und Lebensdauer: 


Die meisten zwar lebend geboren, doch bald tot. Ein Kind lebte 
DO Tage, sonst bis höchstens 14 Tage. 


VI. Über das Geschlecht der Kinder gibt folgende Tabelle einen 
guten Überblick: 
Soweit notiert, waren geboren: 





so 4x = l 20; 

I; +4,2x= 2, u, — 

2.+3.2x= A S u. 6 ,, 

re ES 5 x eg RE u. 10 „ 

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EE 6x = 30 , 

23x 67% 48 9 


Zusammen also 23 Fälle mit 67 Kuaben und 48 Mädchen. 


Zu diesen 29 Fällen (der Fall N. — Bl. + 28 Fälle aus der Literatur 
kämen noch drei Fälle von Bernheim 1904; ein Fall von Martini 1907; ein 
Fall von Hehir 1922; ein Fall von Forster and Carson; ein Fall aus Genthin: 
da er meines Wissens nach noch nirgends veröffentlicht ist, möchte ich' an 
dieser Stelle die Korrespondenz zitieren, die ich dem freundlichen Entgegenkommen 
des Herrn Kreisarztes in Genthin, dem bei der Entbindung anwesend gewesenen 
Herrn Dr. Wernicke und Herrn Prof. Dr. Ricker, Magdeburg, verdanke. 
Herr Dr. Wernicke schreibt: „die Fünflingsgeburt war am 7. März 1924. 
Frau etwa 29 Jahre alt, fünf Jahre verheiratet, bisher .kein Kind. In der Ver- 
wandtschaft keine Mehrlingsgeburten. Geburt: drei Jungen, zwei Mädchen. 
Grösster 185 g, Kleinster 145 g.. alle zusammen 905 g.'Plazenta 440 g, fünf Frucht- 
säcke. Häute an den berührenden Stellen verschmolzen, leicht ın zwei Blätter 
zerlegbar. Nabelschnüre inserieren stark exzentrisch. In einem Fruchtsack eine 
Insertio velamentosa. Die Plazenta im Kotyledonenteil nicht ganz einheitlich. 
Acht Tage vor der Geburt Blutungen, die bis zur Geburt anhalten. Ein Kind 
wurde spontan geboren, die Kinder wurden mit der Hand einzeln geholt. Nach- 
geburt kam spontan.“ Herr Prof. Ricker fand nichts Neues daneben und 
verwies auf die Städtische Frauenklinik in Magdeburg (Direktor: Herr Prof. 
Bauereisen), welche das Präparat der Nachgeburt besitzt sowie die Mit- 
teilung des Herrn Dr. Wernicke. -— Ferner «in Fall aus Satteldorf (9. 2. 1840). 
der Nijhoff und Blecourt nicht bekannt gewesen zu sein scheint, ein Fall 
aus der polnischen Literatur referiert im Zentralbl. f. Gyn. 191& S. 1116, — 
der übrigens gleichzeitig Nijhoffs Angabe, dass in der gesamten polnischen 
Literatur kein einziger Fall von Fünflingsschwangerschaft erwähnt ist. nach- 


17] Mehrlingsgeburt usw. 385 


träglich korrigiert. Leider geht aus dem Referat nichts: über das Geschlecht 
der Kinder hervor; es heisst nur: eine Plazenta und fünf Nabelschnuren. — Im 
ganzen also 38 Fälle, die bekannt sind. 

Überblicken wir das Gesagte, so sehen wir, wie Fünflinge in 
allen Kombinationen von ein- mit mehreiigen Früchten entstehen 
können. Wir haben die Ursachen dieser Entstehung‘ erörtert und 
dabeı erwähnt, welche Möglichkeiten fortfallen, welche am wahr- 
scheinlichsten sind; wir haben ferner einen vergleichend - anatomi- 
schen und entwicklungsgeschichtlichen Rückblick getan und mit 
einem Ausblick dahin geschlossen, dass wir die Wichtigkeit der 
Mehrlingsgeburten für Vererbungsfragen betonten. 

Freilich bei der Erörterung der Entstehungsmöglichkeiten waren 
wir. letzten Endes auf Analogieschlüsse aus der Säugetierwelt an- 
gewiesen, die, mögen sie noch so bestechend sein, eben doch nicht 
restlos das wahre Bild der Eientwicklung des Menschen in seinen 
allerersten Stadien ersetzen können — bei den jüngsten bisher ge- 
fundenen Eiern, denen von Peters und Bryce-Teacher, ist 
die Entwicklung ja schon bis zur Area embryonalis vorgeschritten. 

Erst wenn es gelungen sein wird, die Stadien vorher zu studieren, 
können wir die Hypothese verlassen. | 

Am Ende meiner Darlegungen angelangt, gebe ich mich der 
Hoffnung hin, die Bedeutung der Mehrlingsgeburt für die eugene- 
tischen Probleme und besonders für die Familienforschung ge- 
nügend gewürdigt zu haben, so dass „direkte Ablehnung jeder Be- 
dachtnahme auf die späteren Generationen“ (Schallmayer) nicht 
mehr dem Stande der wissenschaftlichen Heilkunde entspricht. 


Literatur. 
1. Beckmann, L: .„Zwillingsschwangerschalt und ÜUterusverdoppelung.“ 
Dissertation. Breslau. 1923. 
2. Broman, II: „Normale und abnorme Entwicklung des Menschen.“ 


J. F. Bergmann. Wiesbaden. 1911. 

3. Bulletin de Gynécologie de Paris: 1923. Nr. 3. Dn cas de grossesse 
quadruple.“ 

4. Demoll, R.: „Der Inzuchtschaden, sein Wesen und seine Beseitigung.“ 
Zool. Jahrb. Physiol. 394. S. 443—458. 

5. Forster andi Carson: „A case of quintuble pregnancy." 

6. Fraenkel, L.: „Normale und pathologische Sexualphysiologie des 
Weibes.“ F. C. W. Vogel. 1914. 

7. Grassl, 1.: „Die Mehrlingsgeburten, insbesondere in Bayern." Fried. 
reichs Blätter für gerichtliche Medizin. 1908. 


386 


9 g 


10. 


Fritz Kiffner, Mehrlingsgeburt usw. [18 


Hannes, W.: „Kompendium der Geburtshilfe.“ Breslau. 1921. 
Hauser, H.: „Vierlinge und Vierlingsmütter.‘‘ Münch. med. Wochenschr. 


1913. S. 812. 


Heidenhain, M.: „Formen und Kräfte in der lebendigen Natur.‘ 
Heft XXXIL der Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der 
Organismen (herausg. v. W. Poux). Verlag Jul. Springer. Berlin. 1923. 


11,Hellin,D.: ‚Die Ursache der Multiparität ausw.‘ Seitz u. Schauer. München. 


12. 
13. 


14. 
15. 
16. 


19. 
20. 
21. 


22. 
23. 


24. 
25. 


29. 
30. 


1895. 

Hertwig, 0.: „Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte.' Fischer. Jena. 1915. 
Hirsch, M.: a) „Die rassenhygienische Indikation ın der gynäkologi- 
schen Praxis.“ Monatsschr. f. Geburtsh. u. Gynäk. 1913. H. 5. b) „Fort- 
pflanzungstherapie beim Weibe.“ Monographien zur Frauenkd. u. Eugenetik 
1923. H. 4. 

Lichtgarn: ,„Fünflinge." (Referiert im Zentralbl. L Gen 1914. S. LL16.) 
v. Duschan: ‚Völker, Rassen, Sprachen.“ Weltverl. Berlin. 
Newman und Patterson: The Development of the nine-banded 
Armadillo ... .“ Journ. of Morphol. Vol. 2. Philadelphia. 1910. 

Nijhoff und Bl&court: „Fünflingsgeburten‘ mit Tafeln. Wolters 
Groningen. 1904. 

Nürnberger, L.: „Naohempfängnis und Vererbungsfragen ... .* Arch. 
f. Gyn. 1914. S. 40. 

Ohlshausen-Veit: „Lehrbuch der Geburtshilfe.‘ Bonn. 1902. 
Pearce, I. F.: „Geburt von Fünflingen. Zentralbl. f. Gyn. 1877. S. 24. 
Poll, H.: ‚Über Zwillingsforschung als Hilfsmittel der menschlichen Erb- 
kunde.“ Zeitschr. f. Anthropol., Ethnol. u. Urgesch. H. 1. 1914. 

Rumpe: ‚Über einige Unterschiede zwischen ein- und zweieiigen Zwil- 
lingen.‘‘ Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gyn. Bd. 22. 

Schallmayer, W.: „Vererbung und Auslese. Fischer. Jena. 1918. 
Siemens, H. W.: „Die Zwillingspathologie.‘‘ Jul. Spiinger. Bert oa 1924 
Sobotta, J.: a) „Über eineiige Zwillinge des Menschen und die Poly- 
embryonic bei den Gürteltieren.‘‘ Würzburg. 1913. — b) „Eineiige Zwillinge 
und Doppelmissbildungen des Menschen im Lichte neuerer Forschungs- 
ergebnisse der Säugetierembryologie.‘‘ G. Fischer. 1914. ! 

Stolte, K»: „Über das frühzeitige Sterben !zahlreicher Kinder einer Fa- 
milie. Jahrb. d. Kinderheilk. Bd. 73. 

Strassmann, P.: a) „Die mehrfache Schwangerschaft‘ in von Winkels 
Handb. d. Geburtsh. Bd. 1. S. 2. 1904. — b) „Die antlıropologische 
Bedeutung der Mehrlinge.““ Zeitschr. f. Anthropol., Ethnol. u. Urgesch. 
Bd. 40. H. 3. 1908. 


. Uthmöller iOsnabrück\: „Eine Drillingsgeburt mit einer Geburispausc 


von 4 Tagen 8 Stunden.‘ Zentralbl. f. Gyn. 1923. S. 859. 
Volkmann: „Eime Fünflingsgeburt.“ Zentralbl. f. Gyn. 1879. S. 461. 
Weinberg, W.: a) „Die Schmotzerin von Bönningheim ... . Deutsch. 
med. Wochenschr. 1909. Nr. 13. — b) „Beiträge zur Physiologie und 
Pathologie der Mehrlingsgeburt beim Menschen.‘ Arch. f. d. ges. Phys. 
1901, S. 88. — vi „Zur Kasuistik ger Fünflingsgeburt.‘‘“ Deutsch. med. 
Wochenschr. 1899. Nr. 24. 


Kritiken. 


Es wird gebeten Bücher und Sonderabdrücke möglichst bald nach Erscheinen an 
die Redaktion des Archivs zwecks schneller Berichterstattung zu senden. 


Bernhard Aschner: Die Konstitution der Frau und ihre Beziehungen 
zur Geburtshilfe und Gynäkologie. I. Band. Allgemeiner Teil. Verlag 
von J. F. Bergmann, München 1924. 


In diesem Werke macht Aschner den Versuch, der Frauenheilkunde und 
Geburtshilfe das Fundament einer Humoralpathologie in modernem Gewande zu 
geben. Es ist vorauszusehen, dass dieses Unternehmen die Ablehnung aller derer 
erfahren wird, deren wissenschaftlichee Denken noch unlösbar mit lokalistischen 
und organizistischen Anschauungen verknüpft ist, und deren ärztliches Handeln 
sich in Technizismen erschöpft. Aber die Entwicklung der Wissenschaft drängt 
mit Macht aus diesen Grenzen heraus. 

Wenn man es nur wahr haben will, so muss man zugeben, dass wir schon 
seit mehr als 10 Jahren, seitdem die Auswüchse der Bakteriologie überwunden 
sind, in einer neuen Lehre von den Körpersäften stecken. Einer Lehre, welche 
— ehrlich betrachtet — das ärztliche, wie das volks-medizinische Denken von 
alters her beherrscht, und welcher die antike und die mittelalterliche Medizin ihre 
therapeutischen Massnahmen entnommen hat. Und da kommt nun einer und hat 
den Mut, auf seinem Fachgebiet die Folgerungen moderner Entwicklung zu ziehen, 
und das ganze geburtshilfliche und gynäkologische Denken und Wissen seiner 
Zeit auf einer Lehre von den Körpersäften aufzubauen. 

Es versteht sich bei der Qualität des Autors von selbst, dass er diesen 
Versuch durchaus im Rahmen der Erkenntnisse der modernen Biologie durchführt, 
welche durch die Begriffe Zelle, Blutdrüse, Konstitution zu kennzeichnen sind. 
Darum ist es falsch, von einem Rückfall in alte Irrtümer zu sprechen. Und man 
braucht nur an Göthes Vergleich der Kulturentwicklung der Menschheit mit einer 
aufwärtsstrebenden Spirale zu erinnern, um zu erkennen, dass Aschner mit 
seiner Humoralpatbologie zwar einen alten Gedanken erneuert, aber dabei doch 
auf einer höheren Ebene steht. Er sieht in der Anknüpfung der modernen Medizin 
an historisch gewordene Begriffe und Anschauungen eine Renaissance und ordnet 
sie ein in den allgemeinen Zug der Zeit in allen Wissenschaften und Künsten, 
welcher die Tradition vergangener Zeiten aufsucht. Darin hat er zweifellos recht. 
Wer zum Beispiel mit der Literaturwissenschaft vertraut ist, wird erkennen, dass 
eine neue Romantik aufzublühen beginnt. 

Als grundlegende Eigentümlichkeiten der weiblichen Konstitution bezeichnet 
Aschner die grössere Schlaffheit der Faser, die grössere Ähnlichkeit mit dem 
kindlichen Organismus, die grössere Reizbarkeit und Empfindlichkeit des Nerven- 
systems, die schnellere Reproduktionsfähigkeit des Blutes, die grössere Produk- 
tivität der festen Gewebe (Neoplasmen), dıe Neigung zu besonderen Krankheiten. 
Das sind bekannte und wohl kaum bestrittene Dinge. 


388 Kritiken. [2 


Wertvoll ist die Betonung dessen, was er als Komplexion bezeichnet. Woher 
er den Ausdruck nimmt, weiss ich nicht. In der alten Medizin bezeichnet Kom- 
plexion die dem Anblıck zugängliche Zusammenfassung von Gesichtsausdruck und 
Körperform als Bild des gesamten Gesundheitszustandes. 

Aschner aber versteht darunter die Farbe von Haut, Haar und Augen 
und Besonderheiten des Haarkleides. Seine Bezeichnung ist missverständlich und 
ich rate sie zu ersetzen durch „Pigmentation“ oder einfach „Farbe“. Ihre Be- 
deutung für die Konstitution ist richtig erfasst. Allerdings darf nicht vergessen 
werden — und der Autor tut das auch nicht —, dass die Farbe im wesentlichen 
eine Anpassungserscheinung an die Umwelt, insbesondere an das Klima ist. 

Aschner beklagt mit Recht, dass die Farbe als Unterscheidungsmerkmal 
der Konstitutionen in den neueren Werken hinter der Dimension zurücktritt. Er 
betrachtet die Haut- und Haarfarbe als einen Ausdruck des Chemismus im Körper- 
haushalt. Er betont ihre Abhängigkeit von exogenen Faktoren und ihre erbliche 
Fixierung im Laufe von Generationen. Aber es entspricht nicht den Gesetzen der 
Vererbungslehre, wenn er diesen Vorgang als Vererbung erworbener Eigenschaften 
hinstellt. Er stellt eine Modifikation dar, welche nur so lange dauert, wie die 
äusseren Umstände einwirken. Beachtenswert erscheint mir auch die Beobachtung, 
dass Pigmentdisharmonien Konstitutionsanomalien darstellen. 

Ein Eckstein in seinem humoralpathalogischen Gebäude ist naturgemäss die 
Lehre von den Temperamenten und von den Beziehungen von Temperament und 
Konstitution. Da finden sich viele Berührungs- und Schnittpunkte mit den 
psychiatrischen Publikationen der letzten Zeit über Temperament und Charakter. 
Aschner gebt insofern weiter, als er nicht nur der Dimension, sondern auch 
der Pigmentation, dem Tonus und dem Geschlecht bei Aufstellung der Konstitu- 
tionstypen eine grössere Bedeutung zuschreibt. Nicht ganz kommt auch in diesem 
Abschnitt die erbliche Bedingtheit der Temperamente und psychischen Abnormi- 
täten zu ihrem Recht. 

Die Beziehungen zwischen Pigmentierung, Haarwuchs und Sexualität sind 
so eng, dass der Verfasser daraus das erotische Temperament ableitet. Was 
Aschner darüber sagt, verrät die tiefe Beobachtung des frauenärztlichen 
Praktikers. SES | 

So geht die Gedankenführung weiter über die Lehre von dem Tonus, von 
den Körperdimensionen, von der Alterskonstitution zur eigent ichen Konstitutions- 
pathologie. Die Dyskrasielehre des Autors kommt in allen diesen Teilen zam Ausdruck, 
wird aber begreiflicherweise besonders eingehend behandelt in den Abschnitten, 
welche die Krankheiten des hämatopoetischen und Iymphatischen Apparates, die 
Stoffwechselstörungen und die Neoplasmen betreffen. Man muss freilich sagen, 
ohne es an dieser Stelle im einzelnen begründen zu können, dass in manchen 
Beziehungen mit der humoralen Lehre der modernen Biologie und Pathologie 
Gewalt angetan wird. 

So wenn er — um nur einige Beispiele für viele zu nennen — den Alt- 
weiberbart im Klimakterium nicht nur als eins endokrine Erscheinung, sondern 
zugleich als eine Fulge des Mangels an menstraeller Reinigung bezeichnet, 
oder wenn Form, Dichte und Farbe der Haare durchaus immer mit der Kon- 
zentration des Blutes und der Säfte in Beziehung gebracht werden und der 
Aderlass als ein Heilmittel dagegen empfohlen wird. Wenn jede Schwangere 
als ein plethorisches oder dyskrasisches Individuum zu betrachten sein soll, während 
das doch nur für die allerdings sehr häufigen Schwangerschaftstoxikosen aller 
Grade gilt. Das sind Einseitigkeiten und Übertreibungen, die der guten Sache 
schaden. i 

Aschner ist bemüht, in Übereinstimmung mit Beneke und im Gegensatz 
zu Mariius und späteren Forschern neben der Verschiedenheit der Individuen 
die typische, gruppenweise wiederkehrende Ähnlichkeit hervorzuheben. Ich glaube 
auch, dass das der richtige Weg für Forschung und Denken ist, und bin ihn 
selber bei der Untersuchung des Dvsmenorrhoeproblems gegangen. Die Syste- 


3] Kritiken. 389 


matisierung ist hergebrachtes und unentbehrliches Rüstzeug der Wissenschaft. 
Man darf freilich nicht vergessen, dass Systeme und Typen keine Wirklichkeit 
sind, sondern Kunstgriffe des Denkens. Deswegen sehe ich auch keinen realen 
Gegensatz zwischen Beneke und Martius, sondern nur einen Unterschied in 
der Denkmethode. Die Intuition eines Hippokrates wird auch mit den Mitteln 
moderner Forschung nicht überholt werden können, mögen wir nun bei der 
Systematisierung nach Beneke, Stiller, Brugsch oder Kretschmer ver- 
fahren. 

Ich stimme mit Aschner vollkommen überein, wenn er der Synthese zu- 
strebt. Er tut das auf induktivem Wege über zahlreiche sorgfältige und tiefe Be- 
obachtungen. Und auch darin stimme ich mit ihm überein, dass das synthetische 
Prinzip kein rein dimensionales sein darf, sondern auch Farbe, Temperament und 
Funktionen berücksichtigen muss. Aber wie man die so gewonnenen Erkenntnisse 
zu übergeordneten Vorstellungen vereinigen kann, wird letzten Endes wieder 
Sache der Intuition sein. 

Was die Therapie anbelangt, so ist besonders bemerkenswert, dass Aschner 
jede operative und radiotherapeutische Kastration verwirft, so lange überhaupt 
noch eine Menstruation bei der Frau besteht. Als Ausnahmen lässt er nur die 
vitalen Indikationen bei Karzinom und Tuberkulose gelten. Ich stimme mit 
diesem Standpunkt seit langem überein. Mir scheint freilich, dass Aschner 
zuviel Gewicht auf die menstruelle Blutreinigung legt, während doch der Ausfall 
der inkretorischen Tätigkeit der Keimdrüsen das Entscheidende ist. Immerhin 
müsste man ihm beistimmen für den Fall, dass es zuverlässige Methoden der 
Behandlung gibt, welche beide Leistungen, Menstruation und Inkretion ungestört. 
lassen. Die organische Substitutionstherapie wird von ihm sehr kritisch betrachtet. 
Auch das erscheint mir nach ihren vielen Versagern vollkommen berechtigt. Der 
Grund der Misserfolge liegt darin, dass eben doch die Organextrakte keine kau- 
aalen Heilmittel im wahren Sinne sind, sondern nar unserer in zellular- und 
organpathologischer Schule erwachsenen Auffassung so erscheinen. Es entspricht 
dem humoralen Leitgedanken von Aschners Konstitutionsbiologie, dass er in 
der Therapie konsequent den Weg der indirekten entgiftenden Methode geht. Die 
endokrinen Störungen sind eben Allgemeinstörungen, und die im Vordergrunde 
stehende Erkrankung einer Einzeldrüse ist nur Teilsymptom der allgemeinen 
Dyskrasie. Diese Auffassung gibt unserem endokrinologischen Denken und Handeln 
eine viel breitere Grundlage und verdient die sorgfältigste klinische Nachprüfung. 

Ausserordentlich viel wäre im einzelnen noch zu dem Werke von Aschner 
zu sagen. Es ist voll von eigenen Gedanken und Anregungen zu neuen Beob- 
achtungen. Störend wirkt die breite Darstellung und die häufigen Wiederholungen. 
Das Ganze hätte schärfer zusammengefasst werden müssen. 

Aber über diesen Mangel hilft der grosse Vorzug hinweg, dass der Autor 
ein selbständiger Denker und sein Werk nicht eines von vielen ist. 


Max Hirsch, Berlin. 


Hans Apfelbach: „Der Aufbau des Charakters‘, Elemente einer rationalen 
Charakterologie des Menschen mit einem Anhang über die Gesetze der 
erotischen Attraktion. Wilhelm Braumüller Wien, Leipzig 1924. 


Allzulange hat die Psychologie und Psychopathologie die Charakterologie 
des Menschen unbeachtet gelassen. Um so erfreulicher ist es, dass nunmehr die 
Lösung des Charakterproblems von den verschiedensten Seiten angestrebt wird. 
Ob die neuzeitlichen Ergebnisse eine wirklich entscheidende oder vorläufige 
Lösungbringen,obWeiningers Ausdeutungsversuch ausder Geschlechtlichkeit oder 
Adlers psychoanalytisches Mühen oder Kretschmers biologisch-peychiatrischer 
Versuch den restlosen Erfolg bringt, ist zunächst gleichgültig. Bedeutungsvolles 
Stützmaterial bringt die vielgestaltige Denkarbeit in jedem Falle, auf dem weiter 
gebaut: werden kann. und solch wertvolle Aufbauarbeit hat Apfelbach im vor- 


380 Kritiken. [4 


liegenden Werk unter Heranziehung des ganzen Rüstzeuges der modernen Seelen- 
kunde geleistet. In klarer Erkenntnis, dass die immer noch bestehende, bedauer- 
liche Trennung von Psychologie und Psychopathologie nur Schaden bringt, hat 
er die Erkenntnisse beider Wissensgebiete verschmolzen, ja selbst die psycho- 
analytischen Forschungsergebnisse berücksichtigt, allerdings mit der gebotenen 
Vorsicht, wie er selbst sagt. Einem solchen Werke in dem notgedrungen engen 
Rahmen einer Kritik gerecht zu werden, ist nicht möglich. Nur in groben 
Strichen kann sein Gedankengang aufgezeigt werden, um zu zeigen, was ein 
eindringendes Studium des Originalwerkes verheisst. 

Aus 6 fundamentalen Dimensionen baut sich dem Verfasser der Charakter 
1. aus der (seschlechtlichkeit, 2. aus der Psychomodalität, 3. aus der Emotionalität, 
4. aus der Moralität, 5. aus der Intellektualität, 6. aus akzessorischen Charakter- 
elementen. Bei der Wertung der Geschlechtlichkeit geht Verfasser von dem 
Weinigerschen Leitsatz aus, dass jedes menschliche Wesen beurteilt werden 
müsse nach seinem Gehalt an M und W, d. h. an männlichen und weibiichen 
Elementen. Verfasser nimmt diesen Leitsatz ale Tatsache, obwohl nichts weiter 
feststeht, als dass aus der anatomisch einheitlichen Entwicklung des Geschlechts- 
apparates nach der Ausdifferenzierung noch Reste des anderen Geschlechts rudi- 
mentär erhalten bleiben. Sonst lehrt nur die Erfahrung, dass der reine Typus 
des Mannes oder Weibes nicht selten vermisst wird, indem männliche sekundäre 
Geschlechtscharaktere beim Weibe und umgekehrt weibliche beim Manne stellver- 
tretend vorkommen. Damit ist aber noch keineswegs erwiesen, dass niemand 
reiner Mann oder reines Weib sei. Wenn die Bisexualität wirklich Tatsche sein 
sollte, so muss es zahlreiche Übergänge zwischen rein männlichen und rein 
weiblichen Ckarakteren geben, eine Mannigfaltigkeit, die vornehmlich in den 
tertiären Geschlechtscharakteren, schon weniger häufig in den sekundären nnd 
am seltensten in den primären Geschlechtscharakteren sich zeigt. Je maskuliner 
ein Mensch, um so schärfer sein Denkprozess. Deshalb ist das Weib, das ge- 
fühlsmässig denkt, so suggestibel und wenig objektiv, Eigenschaften, die sich 
natürlich proportional bei feminin veranlagten Männern finden müssen. Eine 
analoge Verschiedenheit zwischen Mann und Weib zeigt sich im Wollen und 
Handeln. Hier ist die Macht des suggestiven Einflusses besonders stark in der 
Abhängigkeit vom Milieu, von der Mode, in der Fähigkeit zur Einfüblung. 
Durchaus falsch ist der dogmatische Leitsatz, den Apfelbach aus dieser 
Lebre für die Begabung und Fähigkeit des Schauspielers zieht (S. 20). 

UnterPsychomodalität willApfelbach psychischen Sadismus und psychi- 
schen Masochismus verstanden wissen. Hiermit will er also die Herren- und Sklaven- 
naturen bezeichnet wissen, nicht aber irgendwelchesexuelle Perversion. 
Auf der einen Seite energische, willensstarke, mutige, unternehmende Menschen, 
auf der anderen Seite energielose, willensschwache, scheue, furchtsame. Dürfte 
es schon schwer sein, diese Unterscheidung von der Sonderung maskaulin- 
feminin scharf zu trennen, 80 dürfte es direkt verhängnisvoli sein, Begriffe wie 
Sadismus und Masochismus in von Grund aus geänderter Bedeutung einzuführen. 
Wie bisher alle Versuche, diese Begriffe auszumerzen oder durch andere Bezeich- 
nungen zu ersetzen, scheiterten, so muss auch dieser Versuch scheitern, der diese 
Begriffe von jeder sexuellen Abartung loszelöst wissen will. Verfasser glaubt, 
trotz reiflichen Nachdenkens keine geeigneteren Worte gefunden zu haben. Das 
ist bedauerlich, duch keineswegs ein Grund, sie in der veränderten Bedeutung zu 
bringen. Sicherlich wird sich jeder als Sadist oder Masochist Bezeichnete, der 
sich von jeder damıt vermuteten sexuellen Ab»artung frei weiss, solche Tituletur 
nachdrücklichst verbitten. So werden Charakterisierungen, wie z. B. Goethe als 
maskulin: masochistisch, Schiller als feminin sadistisch geradezu grotesk. Ebenso 
die Trennung von sadistischen und masochistischen Charakterelementen in den 
Musikstüvken und die Beurteilung der Instrumente. Das Klavier „in erster Lianie 
für den Ausdruck sadistischen Empfindens geeignet‘, die Geige mehr für maskulin- 
masochistische Eigenart, bei den Cellisten willApfelhach „bereitsan ihrem Äusseren 


5] Kritiken. 391 


soviel Schwermut und Masochismus* gefunden haben. Referent kann ihm aus 
bester Kenntnis dieses Instrumentes und seiner Spieler verraten, dass er fast 
durchweg lebensfrohe, heitere Menschen unter ihnen fand, sogar bei einem 
Meister des Instrumentes auch einen Meister des Witzes. Hier hat also Ver- 
Insser mit der Anwendung einer eingebürgerten und nur eindeutig verständlichen 
Nomenklatur auf besondere Charaktereigenart einen schweren Fehlgriff getan, 
Höchst zweifelbaft ist es auch, dass zwischen den Charakterelenıenten der Geschlecht- 
lichkeit und der Psychomodalität kein originär bedingter funktioneller Zusammen- 
hang besteht. | 

Ungemein wertvoll ist das Kapitel über die Emotionalität. In überzeugender, 
gedankenreicher Form zeigt Verfasser die Gradstufen und ihre Ausprägung in 
den verschiedenen Temperamenten. Erst durch die Emotionalität erhalten die 
Tendenzen des Charakters ihre Intensität, erst dadurch wird die Stärke der Töne 
bestimmt. Der Grad der Emotionalität ist wesentlich bereits ab ovo bestimmt, 
eine konstante, schon hereditär festgelegte Grösse. So kann es nicht wunder- 
nehmen, dass die Hyperemotionaliät, die hohe psychische Ansprechbarkeit, sich 
schon im Säugling verrät, dort durch grössere Lebhaftigkeit, häufigeren Stimmungs- 
wechsel und durch die Stärke der Gemütsbewegungen auffällt. Für Verfasser ist die 
Embotionalität eine Energiemasse, die sich am günstigsten in der Richtung der Lust 
abträgt. Wird das irgendwie gehemmt, so muss sich die Energie einen anderen Weg zur 
Entladung suchen, entweder in der traurigen Verstimmung oder in der expansiven 
psychischen Erregung (cholerisches Temperament). Bei dem phlegmatischen 
Temperament ist originäreine geringe psychische Energiemasse vorhanden. Vor- 
bedingung dieser ganzen, äusserlich bestehenden Auffassung ist die Grundlehre, 
dass die Energiemasse gegeben, verändert, ja „sublimiert* werden kann, so dass 
z. B. die künstlerische Betätigung als Sicherheitsventil für grosse Affektınassen 
dienen kann. Der Realist ist zur idealen Steigerung seiner Lust nicht fähig. 


Die Moral ist für Verfasser eine selbständige, vom Geschlecht des Menschen 
unabhängige charakterologische Konstante, nicht mehr ein Produkt der intellek- 
tuellen Entwicklung, wie allzulange auch von psychiatrischer Seite angenommen 
wurde. Es kann sogar sehr gut moralische Defektuosität uud intellektuelle 
Vollwertigkeit neben einander bestehen. Endlich schildert er als Intellektualität 
das Ensemble jener geistigen Qualitäten, durch welche Verstand, Urteilskraft, 
Kombinationsfähigkeit, Auffassungsvermögen und Gedächtnis ihre spezielle Prä- 
gung erhalten. Hierrunter überragt an Wert die Kombinationsfähigkeit, die dem 
Grade der emotionellen Anlage proportional ist. Ein ungewöhnlich lehrreicher 
Anhang „Die Gesetze der erotischen Attraktion“ beschliesst das tiefgründige, 
&edankerreiche Werk, das jedem zu ernster Menschenbeobachtung Neigenden 
dringlichst empfohlen werden kann. Placzek, Berlin. 


M. von Arx, Olten: Körperbau und Menschwerdung. Konstruktionspläne. 
Nach der Ballontbeorie und dem Prinzip der statischen Gleichgewichte. 
Enthüllt durch eine Kausalanalyse der menschlichen Beckenform. Mit 110 
Lehr und Beweissätzen, 130 Abbildungen im Text und 21 teils farbigen Tafeln. 
Verlag Ernst Bircher, Leipzig 1922. 


Das vorliegende Buch ist hervorgegangen aus Erwägungen und gynäkolo- 
gischen Reflexionen über die mechanischen Vorgänge bei der Entstehung und 
Ausbildung der Uterusprolapsee und ist dann auf das Gebiet der Statik der 
ganzen Körperform ausgedehnt worden. Der erste Teil des Werkes enthält 
ähnlich wie in einem mathematischen Lehrbuch Lehrsatz an Lehrsatz gereiht 
das Beweismaterial nebst mathematischer Analyse und Synthese einer männlichen 
und einer weiblichen Beckenform unter Benutzung auch physikalischer Experi- 
mente. Der zweite Teil verwertet die Resultate des ersten Teils und legt die 
Beziehungen zwischen der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklungs- 
reihe dar, indem er speziell die mechanischen äusseren Faktoren berücksichtigt, 


Archiv für Frauenkunde. Bd. X. H. 4. 26 


392 Kritiken. [6 


die für die „innere“ Organisation und Entwicklung der organischen Artsubstanz 
in beiden Reihen mass- und ausschlaggebend sind. Die Kausalanalyse der 
Beckenform gründet sich auf Beobachtungen normaler, nicht pathologischer 
Vorgänge. 

Das Neue ist zweifelsohne die Einführung der darstellenden Geometrie in 
die Biologie, die eine exakte Vermessung der Körperform nach allen drei Raum- 
dimensionen hin ermöglicht. Die trigonometrische Berechnung der Form gibt uns 
vollkommenere Bilder über die wirklichen Grössenverhältnisse untereinander. 
Dabei wird die statische Gleichgewichtslage der ganzen Form in Betracht gezogen. 
So ist es dem Verfasser gelungen, auch die klomplexeste Form nicht nur kausal- 
analytisch zu zerlegen, sondern auch synthetisch aufzubauen. Er hat eine 
entwicklungsmechanische Morphologie im weitesten Sinne des Wortes unter 
Zugrundelegung physikalischer und statischer Experimente geschaffen und dem 
Begriff der Spezifität des Artprotoplasmas das Gesetz der Selbstregelung in Form- 
und Kraftwechsel nach rein mathematischen Gesetzen hinzugefügt. Nicht das 
spezifische Wachstum, sondern die differenzierten Widerstände bedingen die Form. 
Wie sich der Aufbau eınes jeden einzelnen Knochens von selber genau ‚nach 
den Gesetzen technischer Berechnung des Widerstandes der Stoffe gegen Zug-, 
\Druck- und Dehnungsbeanspruchung vollzieht, so ist auch der Rumpf- und 
Körperbau in seiner Gesamtheit das funktionelle Ergebnis aus der inneren Festig- 
keit und Elastizität einerseits und ihrer äusseren, tellurischen Belastung in 
weitestem Sinne anderseits. 


Der menschliche Organismus erscheint in dieser Bewertung als Ballon 
halbstarren Systems: die Rumpfwand ist in elastische und versteifte Quergurten- 
segmente auflösbar, die die nötigen punkte trägt, die als Ansatz für die 
kontraktil-elastischen Wandstücke dienen. „Jede L--bensfunktion sowie die Ver- 
kettung von solchen, das „Leben“ überhaupt ıst nichts anderes als das Pendeln 
der hochkonstituierten und selbstorganisierten Substanz umeine 
chemisch-mechanische Gleichgewichtslage herum“. Das Buch birtet 
eine unendliche Fülle von scharfsinnigen Beobachtungen, Kenntnissen, besonders 
auch auf dem Gebiete der Mathematik, und Anregungen, die ihren Kinfluss auf 
die verschiedensten Gebiete der Naturwissenschaften nicht verfehlen werden. 


Max Berliner, Charlottenburg. 


J. Jadassohn: Die Salvarsanbehandlunz der Syphilis. Versuch einer 
gemeinverständlichen Darstellung. Vortrag gehalten in der Ortsgruppe Breslau 
der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geszhlechtskrankheiten. 
Verlag von Julius Springer, Berlin 1923. 


Das kurze Büchlein (20 Seiten) verdankt seine Entstehung den Angriffen 
gegen die Salvarsanbehandlung der Syphilis in der Tagespresse. So kurz und 
vereinfacht, wie es für das Verstäuduıs von Laien möglich ist, werden die 
Grundlagen der Parasitologie und Chemotherapie berühıt, wobei Ehrlichs Selbet- 
versuch nıit dem Salvaısan zur Prüfung von dessen Unschädlichkeit gebührend be- 
tont und sodann der historische Werdegnng der modernen Syphilistherapie geschildert 
wird. Die moderne Syphilistherapie leistet mehr als jede andere frühere Metbode 
und treibt nicht, wie die Tagespresse behauptet, das Gift von 
aussen nach innen, „Die frischen Fälle werden mit höchster Wahrscheinlich- 
keit schon mit einer Kur geheilt“. „Die ansteckungsgefährlichen Fälle werden ihrer 
Ansteckungsgefährlichkeit sehr schnell entkleidet und die Zahl der ansteckenden 
Rückfälle wird durch gründliche Salvarsanbehandlung ausserordentlich einge- 
schränkt. Dadurch muss eine sehr starke Verminderung der Ansteckungen er- 
folgen“. Der Mehrzahl der Ärzte dürfte dieses Büchlein, das ausdrücklich nur 
für Laien geschrieben ist, nichts Neues bringen. 


Max Berliner, Charlottenburg. 


7] Kritiken. 393 


Robert Köhler: Die Therapie des Wochenbettfiebers. II. Auflage, 176 S. 
Franz Deutike, Wien 1924. 

Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein so spezielles Werk wie das vorliegende 
in verhältnismässig kurzer Zeit eine zweite Auflage erlebt. Sein Hauptwert liegt 
nicht in der Verwertung eines grossen Krankenmateriale, sondern in der grossen 
Kritik, mit der dies geschieht. Nach einem kurzen einleitenden Kapitel über die 
‘ Prophylaxe folgt eine Besprechung der Allgemeinbehandlung, der Lokalbehandlung, 
der chirurgischen Therapie und diesem als zweiter Hauptteil die medıkamentöse 
Behandlung, eingeteilt in Antiseptika, Kolloidmetalle, Chemotherapie, Leukosti- 
mulantien, Eiweisstherapie uud Serotberapie. Fast siets spricht der Autor aus 
eigenen Erfahrungen. Wie jedem erfahrenen 'Therapeuten sind auch ihm neben 
Erfolgen schwere Rückschläge nicht erspart geblieben, und so endet das kritisch 
geschriebene Büchlein mit dem Satz, dass wirklich überzeugende Erfolge sich bis- 
her auf keine Weise erzielen liessen. Die Chemotherapie gibt noch die besten 
Ausblicke in die Zukunft. : 

Ein sehr ausführliches Literaturverzeichnis beschliesst das Werk, an dem 
der speziell interessierte Arzt nicht wird vorübergehen können. Köhler vertritt 
als Halbanscher Assistent dessen Standpunkt, der in fast allem genau so zurück- 
haltend bei der Therapie des Kindbettfiebers ist wie der seinerzeit von Winter 
auf dem Strassburger Kongress vorgetragene. Besonders interessant waren dem 
Referenten die hintereinander ahgebildeten Kurven, in denen bei anscheinend 
gleich gelegenen Fällen mit demselben Mittel bald gar nichts, bald ein prompter 
Erfolg erzielt werden konnte. Zu schliessen ist daraus, dass das post hoc noch 
lange kein propter hoc ist. Trotzdem spricht aus dem Köhlerschen Buch keine 
Resignation, sondern der Wille die Schwierigkeiten zu überwinden; möge eine 
weitere Auflage über sicherere Mittel dazu berichten können. 

E. Sachs, Berlin-Lankwitz. 


Hermann Wintz, Erlangen: Die Röntgenbebandlung des Mamma- 
karzinoms. Geb. 27 G.-M. Georg Thieme, Leipzig 1924. 

Wintz gibt in diesem Werke, 'das neben 52 Textseiten etwa 90 photo- 
graphische ganzseitige Abbildungen bringt, Grundlegendes zur Röntgenbehandiung 
des Mammakarzınoms. Er geht von den physikalischen Grundlagen der Röntgen- 
tiefentherapie des Brustkrebses aus, dessen erfolgreiche Bestrahlung eine viel 
schwierigere Aufgabe darstellt als die Bestralilung des tiefliegenden Uterus- 
tumors. Die biologische Forderung der Karzinomdosis auf das ganze Ausbreitungs- 
gebiet des Karzinoms zu bringen, verlangt die Ausdehnung auf die ganze Axilla 
und den Hals. Um eine exakte Dosierung zu erıeichen, muss die Streuung und 
die Streustrahlungszusatzdosis berechnet werden, die vom Fokushautabstand und 
der Grösse des Einfalifeldes abhängig ist. Ale physikalischen Fragen, die ın 
Betracht kommen, werden besprochen; und, das sieht man an diesem Werke so 
recht, es kommen viel mehr Fragen in Betracht, als man vor einigen Jahren 
noch glaubte. Wintz bespricht im weiteren auch die Verteilung der Strahlen in 
den Lungen, die Beeinflussung der Haut durch die rückwärtige Streustrahlung, 
die Zusatzdosis, die Dosımetrie und ganz besonders genau dıe Einstelltechnik. 
Ein 3. Kapitel dient der Besprechung der Ausschaltung der Ovarien durch Kastra- 
tionsbestrahlung, die Wintz in jedem Falle für unerlässlich hält, um alle men- 
struellen und Graviditätsreize auf die Mamma auszuschalten. „Schädigungen im 
Anschluss an die Röntgenbestrahlung des Mammakurzinoms“, wozu die Lungen- 
indu:ation, dıe Blutschädigung, die Indoxikation durch Röntgenstrahlen und die 
Kombinationsschäden gehören, werden im 4. Kapitel besprochen. Besonders die 
Lungeninduration ist ein bisher unbekanntes, klinisch sehr wichtiges Krankheits- 
bild, das beim Hinzutreten einer Infektion (Grippe) zu sehr schweren Störungen 
führen kann. Feuchte Umschläge, Diathermie, Expektorantien sind hierbei schäd- 


lich. Die Induration heilt meist nach 1—1!'s Jahren aus, wenn sie vor jeder 
Noxe bewahrt bleibt. | 


26* 


394 Kritiken. [8 


Besprechung der Vor- und Nachbehandlung machen den Schluss des Text: 
teiles, dem vorzügliche Abbildungen folgen. 

Aus dem Werke spricht die Erfahrung eines Mannes, des bis ins einzelne 
mit allen in Betracht kommenden Fragen vertraut ist. Man sieht daraus aber 
auch, wie vielerlei beobachtet werden muss, um nicht zu schaden statt zu nutzen. 

Schliesslich geht aus dem Werke von Wintz aber auch bervor, dass wir 
noch lange nicht in allem klar zu sehen gelernt haben, d. h. dass die Frage der 
Behandlung des Mammakarzinoms mit Röntgenstrahlen noch längst nicht im 
positiven Sinne entschieden ist. Wintz’s Werk gehört jedenfalls zu denen, die 
jeder studiert haben muss, der an die Strahlenbehandlung eines Brustkrebses 
berangeht. E. Sachs, Berlin-Lank witz. 


Wintz: Die Röntgenbehandlung des Uteruskarzinoms. Mit 50 Lichtdruck- 
tafeln. Verlag von Georg Thieme, Leipzig 1924. 


Das vornehm ausgestattete Büchlein will ein Hilfsmittel bei den Unter- 
weisungen in der Röntgentiefentherapie, wie sie an der Erlanger Frauenklinik 
gelehrt wird, sein. Vornehmlich behandelt es die dort gelehrte Einstelltechnik. 
Insbesondere ist zu begrüssen, dass immer wieder betont wird, dass es bei der 
Strahlenbehandlung nicht lediglich auf die Apparatur, sondern vor allem auf das 
rein ärztliche Denken und Handeln bei Anwendung der Röntgenstrablen und 
Behandlung des Kranken ankommt. Gerade dieser Umstand wird von Laien und 
auch von Ärzten vielfach übersehen. Die Verworrenheit der Begriffe über die 
Wirkung der vielerlei Strahlen, die therapeutisch jetzt verwendet werden, der 
Umstand, dass keine äusserliche Wunde bei der Bestrahlung gesetzt wird und 
Schmerzen nicht während der Bestrahlung gefühlt werden, lässt vielfach ganz 
vergessen, dass wir es bei der Bestrahlung insbesondere von Geschwülsten um 
‘eine Operation zu tun haben, die höchstes technisches Können und theoretische 
Überlegung in jedem Einzelfalle voll und ganz erfordert. Mit Recht sind darum 
2 Kapitel der Vorbehandlung und Nachhehandlung gewidmet, die dem Lernenden 
zum Bewusstsein bringen, dass wir es nicht nur mit der Zerstörung der Geschwulst, 
sondern mit der Aufgabe, den Gesamtorganismus eines schwerkranken Menschen 
der Gesundung entgegenzuführen, zu tun haben. 


Wertvolle Winke werden dem Strahlentherapeuten aus der Fülle der an der 
Wintzschen Klinik gesammelten Erfahrungen gegeben. Die Einstelltechnik wird 
durch eine Reihe vorzüglicher Abbildungen (Dud 30 ist allerdings nicht ohne 
weiteres klar) genau erläutert und gibt, trotzdem sie lediglich auf die Erlanger 
Verhältnisse zugeschnitten ist und meist schon Bekanntes bringt, auch den mit 
anderen Apparaten und Mitteln arbeitenden Röntgentherapeuten mancherlei An- 
regungen. Heinsius, Berlin-Schöneberg. 


Marie Carmichael Stopes: Weisheit in der Fortpflanzung. Aut. 
Übersetzung von F. Feilbogen. Institut Orell Füssli, Zürich. 


Was Verfasserin zur Einschränkung der Fortpflanzung zu sagen weiss, ist 
hierzulande sattsaın bekannt. Von Interesse ist nur, dass sie auch die immer 
noch strıtiige, soziale und eugenetische Indikation verteidigt. Auch die Schonzeit 
der Mutter nach einer Entbindung ist begründet. Weniger begreiflich, zum 
ınindesten anfechtbar ist der Ratschlag, eine Schwangerschaft in der ersten Zeit 
der Ehe zu verhüten. Gewiss geschieht das oft in junger Ehe und sogar Jahre 
hindurch, doch richtig ist es nicht aus verschiedenen, hıer nicht näher erörter- 
baren Gründen. Recht bedenklich ist aber die einschränkungslose Empfehlung 
des Pessarium occlusivum, denn dieses ist kein absoluter Schutz und bedingt auch 
im Einzelfalle Nebenschädigungen. Dass ein Deutscher, Mensinga, der Er- 
finder war, hätte erwähnt werden können. Mit diesen Einschränkungen kann 
das Buch empfohlen werden. Placzek, Berlin. 


9] Kritiken. 395 


S. Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie. Internat. psychoanalyt. Verlag. 
Leipeig- Wien-Zürich. 

Um den Hypothesen des Verfassers gerecht zu werden, muss man als Tat- 
sache hinnehmen, dass er die Grundgedanken psychoanalytischer Denkweise über 
die Sexualität als sichere, unverrückbare Basis nimmt und auf ibr anfbaut. So 
begreift er zunächst unter dem Namen „Amphimixis der Erotismen oder der 
Partialtriebe‘ die Überwindung der anfänglich beherrschenden Autoerotismen und 
ihre Ablösung durch das Prinat der Genitalzone, in der sie nur noch als Vorlust- 
mechanismen Geltung behalten. Beim normalen Ejakulationsvorgang sollen ure- 
thrale und anale Innervationen zweckmässig ineinander greifen, soll ein unab- 
lässiger Kampf zwischen der Entleerungs- und der Behaltungsabsicht stattfinden, 
wobei schliesslich die Urethralität siegt. Schon in der Reibungsarbeit des Penis 
sieht Verfasser die beiden Triebkräfte wirksam, im Eindringen dıe Ejakulations- 
tendenz, in der Rückbewegung die Hemmungstendenz. Welch gekünstelte Deutung 
des einfachen Friktionsmechanismus! Erst ‚aus einer Verschiebung der kon- 
kurrierenden Grundkräfte, indem bald übermächtig der urethrale, bald der anale 
Mechanismus wirksam wird, soll die Ejaculatio praecox bzw. die Ejac. retardata 
zustande kommen. Die an der ersten Abart leidenden Kranken behandeln „ihren 
Samen mit der gleichen Sorglosigkeit, als wäre er Harn, also als wertloses Aus- 
scheidungsprodukt“. Andere Menschen „geizen mit ihrem Samen, wobei bewusst 
oder unbewusst der Same dem Kote gleichgestellt wird“. Natürlich fehlt zur 
Ausgestaltung der Ausdeutung nicht der Leitsatz, dass schon das Kind von der 
Entleerung des Harns und der Zurückhaltung des Kotes einen Lustnebengewinn 
erzielt, auf den wenigstens teilweise zu verzichten es nur dadurch lernt, dass 
die Blase „vom Mastdarm etwas Zurückhaltung, der Mastdarm von der Blase 
etwas Freigiebigkeit lernt“, ein Mischungsverbältnis, das auch entscheidend für 
die Charakterbildung wird. Wo die Aufgaben von Blase und Darm vertauscht 
scheinen — nervöse Diarıhö und Obstipation —, entdeckte Verfasser als Ursache 
eine „verkappte Äusserung des Trotzes“. Als Zweck der ganzen Entwicklung 
vom Ludeln des Neugeborenen über die Selbstliebe bis zum heterosexuellen 
Begattungsakte glaubt Verfasser „einen anfangs ungeschickt tappenden, später 
immer zielbewussteren und schliesslich zum Teil gelungenen Versuch zur Wieder- 
kehr des Ich ın den Mutterleib“ zu erkennen. Der ganze Organismus erreiche 
das nur halluzinatorısch, ähnlich wie etwa im Schlaf; dem Penis gelinge das 
bereits partiell oder symbolisch, und nur das Genitalsekret habe das Vorrecht, 
in Vertretung des Ich und seines narzistischen Doppelgängers, des Genitales, 
auch real die Mutterleibssituation zu erreichen. Welche Bedeutung für den Ver- 
fasser und seine Theorien der unaufhörliche, von Geburt an bestehende, regressive 
Zug nach der Wiederherstelluug der Mutterleibssituation hat, lehrt seine Ansicht, 
dass der Wirklichkeitssinn erst erreicht ist, wenn auf diese Regression endgültig 
verzichtet wird und die Realität Ersatz bietet. Das erreicht man aber nur mit 
einem Teil seiner Persönlichkeit. Schlaf- und Traumleben, sexuelles und Phantasie- 
leben bleiben in der Sehnsucht nach Erfüllung jener Wünsche hängen. Schade 
nur, dass Verfasser nicht erklärt, wie dieser alles beherrschende Drang zur Rück- 
kehr in den Mutterleib mit dem weiblichen Streben nach dem Begattungsakte 
vereinbar ist. Wenn das Dasein im Mutterleibe wirklich so nachhaltige Erinne- 
rungsspuren in der Pryche des reifenden Kindes hinterlässt, dass es dauernd die 
späteren Triebregungen lenkt, so bliebe es zum mindesten unverständlich, wie 
dasselbe Mutterleibsdasein das weibliche Kind so gleichgültig lassen soll. Auch 
dem weiblichen Kinde sorgen doch zunächst Pflegepersonen für die Illusion der 
„Mutterleibslage, für die Wärme, die Dunkelheit, das Ungestörtsein‘. Warum 
sollte das alles hier ohne Nacheffekt bleiben? Verfasser schreckt nun vor keiner 
noch so kühnen Hypothese zurück. „Die Frau überlässt das Vorrecht, wirklich 
in den Mutterleib einzudringen, dem Manne, begnügt sich mit phantasiemässigen 
Ersatzprodukten und insbesondere mit dem Beherbergen des Kindes, dessen Glück 
sie mitgeniesst.“ 


396 Kritiken. 110 


Es würde zu weit führen, wollte ich der weiteren Ausgestaltung der Theorien 
nachgehen. Selbst einen „thalassalen Regressionszug“, ein Streben nach Wieder- 
herstellung einer verlorenen Lebensform in einem feuchten Milieu, das zugleich 
Nährstoffe enthält, kennt Verfasser. Die Mutter als Symbol oder partieller Ersatz 
des Meeres! Die Chorionzotten reproduzieren die Kiemenatmungsorgane der 
Wassertiere! 

Wie immer man die Hypothesen Ferenczis betrachten mag, selbst wenn 
man sie nur als phantastische Exzentrizitäten eines eingeitig eingestellten Psycho- 
analytikers würdigt, sie verdienen das Interesse des Lesers schon durch das Streben, 
die rein biologische Auffassung der Genitalität durch Vermischung mit psychoana- 
lytischem Denken auszudeuten. Für Ferenczi sind libidinöse Energien besonders 
bedentsam bei der normalen wie pathologischen Organbetätigung, deshalb eine 
lustbiologische Ergänzung notwendig. Er versteigt sich sogar zu Gedankengängen 
wonach die meisten Symptome organischer Erkrankung auf eine neuartige Ver- 
teilung der „Organlibido‘“ zurückführbar sind. Der Kern seiner Theorie bleibt 
die Mutterleibsregression, und zwar nicht allein für die Genitaltheorie, sondern für 
die Biologie überhaupt. Placzek, Berlin. 


Karl Joël: Nietzsche und die Romantik. Il. Auflage. 246 Seiten. Preis 
br. 7 M., geb. 9 M. Diederichs, Jena 1923. 


Dass Nietzsche Romantiker war, wird manchen verblüffen. Denn war seine 
wesentliche Eigenschaft, die Kritik, der Romantik so wesentlich, obgleich sie 
ironisch die Wirklichkeit vielfach verneinte? Hat Nietzsche trotz seiner Sitten- 
reinheit für Frömmigkeit und Christentum geschwärmt? Hatte er je einen Anflug 
von romantischer Liebe, von der nicht schmeichelhaft aber zutreffend Schopen- 
hauer spricht, indem er der romantischen Poesie Motive der abgeschmackten und 
lächerlichen christlich- germanischen Weiberverehrung zuspricht und die der 
faselnden und mondsüchtigen hypherphysischen Verliebtheit? Die Romantiker 
liebten ferner fast alle Ideale, Nietzsche hatte viel Neigung, sie zu bekämpfen. 
Aber davon abgesehen, dass Nietzsche nicht sowohl über die Früh- als die Spät- 
romantik richtete, hatte er nach Karl Joöl einen gewaltigen Stimmungsumschlag 
erlebt, dessen nur eine romantische Seele fähig sei, die uns der Verfasser (S. 69) 
definiert, die z. B. auch aus einem Extrem sich ins andere stürzt. Ich glaube, 
dass der Verfasser Nietzsche richtig klassifiziert; übrigens gibt er sich auch für 
Schopenhauer diese Mühe (156—203). Zwischen Nietzsche nun und den Roman- 
tikern, besonders Friedrich Schlegel, weist der Verfasser überraschend viel Par- 
alellen nach. Aber auch Jakob Böhmes Denken wird zur Erläuterung berbei- 
gezogen. Im Gegensatz zu den Philosophen, die sich meist schlecht vertragen, 
sind die Mystiker wie mit ähnlichem Nervensystem ausgestattet — Wolfgang 
Schultz macht in seiner interessanten altjonischen Mystik darauf aufmerksam 
(Wien und Leipzig, 1907) — und die Romantiker haben das gleiche Naturell, 
wenn sie auch zeitlich und räumlich getrennt sind und sich unterscheiden wie 
z. B. Novalis und Nietzsche, der die „gärenden* Augen trotzdem gegen den 
Himmel erhebt. Noch behandelt Karl Joël Nietzsches Verhältnis zur Antike 
(214—263). Auch hier war Nietzsche turbulent, wie man wohl am kürzesten 
sagen kann. Er war nach dem Verfasser „der grösste, vielleicht der einzige, 
wahre Bacchant der Weltgeschichte“. Der Verfasser ist, scheint mir, oft etwas 
zu gründlich. Damit dem Lector benevolus eine Bemerkung des Verlages ja nicht 
ungenutzt bleibe, sei vom Umschlag zitiert . . . dass Joël mit seiner Betrachtung 
Nietzeschen Geistes die feinste Psychologie unserer Zeit gibt. 

K. Bruchmann. 





Namenverzeichnis. 


— — 





A. | E. | Heinsius 394. 
Abraham, Karl 325. Eberhard 313. — 300. en 
Adler, Otto 210. v. Ebner-Eschenbach, Marıa Herder 98 — 
Alsberg, Max 211. 825. - Gei — 60 
— Paul 196. Eisler, M. Josef 200. Her n, ke Ki t 91 
Anspach, Brooke M. 814. | — Rud. 100. | Hina k a id 81. 82 
Apfelbach, Hans 389. Ellis, Havelock 72, 73. LM ? au op 96 97. 98 
v. Arx, M. 391. Elster, Alexander 320. 102. 104 190, 191. 192° 
Aschner, Bernhard 317,387. | Eulenberg, Herberi. 98. | 205, 207, 316, 318, 319, 
B p | 820, 321, 322, 325, 329, 
e eis ` S 9. 
Baisch 318. | Fechner,GustavTheodo: 91. | Hirschfeld, Magnus 203. 
Baerwald, Richard 91. Feilbogen, F. 394. Höffding, Harald 191. 
Bauer, Max 198. Ferenczi, S. 202. Holmes 190. 
Baum, Vicki 97. Ferrero, Guiglielmo 95, 96. Horney, Karen 75. 
Benjamin, Harry 77. Finke, Heinrich 95. Huber, Arnold 320. 
- Berliuer, Kurt 208. Flatau, Georg 81. Hüssy 189. 
— Max 117, 392. Forel, August 81. 
BI — 95. Förster - Nietzsche, Klisa- J. 
= Bornétein 195. beth 99. Jadassohn, J. 392. 
l Frank, Fritz 93. v. Jaschke 318 
Braun, Lily 96. y . 
Freund, H. 94 Jessner, S. 201, 326 
Brausewetter, G. 97. E 8 i 
Frey, Walter 188. 
Brockhaus 191. Friedjung, Josef K. 77. K. 
Brod, Max 205. Fröbes. J. 88. i 
Bruchmann, K. 84, 86, 87, i Karwath, Juliane 97. 

88, 89, 91, 98, 99, 100, G Kaupe 195. 

101, 197, 198, 199, 205. Garré 319 ` Keller, A. 76, 818. 
Brugsch, Th. 1, 102, 104. | Farre 819. ı Kessler, Gerhard 320. 
Bucher, Helene 325 Gerster, Matthäus 97. i Keyserling, Hermann 191. 
Buchn ai Eberhard 94 v. Gleichen - Russwurm, Kiffner, Fritz 369. 
Bukofzer, E. 52, Alexander 199. Klages, Ludwig 82. 
Bumke, Oswald 88. Goodell 313. Kleist, H. v. 98. 

Greil, Alfred 309, 355. Koch, Rich. 71. 
C. — ar 13. Köhler, Robert 393. 
Caspary, Anna 99. Grotjahn 187. — Ce a 83. 
Chamberlain, Anna 99. Günther, Adolf 320. Kosmak, Geo. W. 314. 
— Houston Stewart 99. |— Hans F. K. 197. v. Krafft-Ebing 39, 
Clark, John G. 313. Gutberlet, Constantin 191. Kronfeld 76, 91, 92. 102 
Cohn, Georg 83. Guthmann 317. 189, 194. 207. ` i 
Croce, Benedetto 191. Kuhn, Robert 815. 
Czerny, Ad. 76. H. Küster 195. 
D Haberlandt, L. v. 309. | Küttner 319. 
: Halban 185, 317. L 
Dickinson 314. Haring 95. ` 
Diepgen 192. Harnik, J. 199. Lahm, W. 18. 
Dreyer 813. Hart 70. Laqueur 317. 


Driesch, H. 89. Haustein, Hans 188. Lehmann, Gerh. 89. 


398 


Lenz, Fritz 70, 318. 


Levy, Fritz 71, 77. 78, 103. 


Lexer 319. 

Lindemann, Walter 94. 
Lönne 313. 

Lorenz 320. 


M. 


Mamlock, G. 94. 
Marcuse, Max 75. 
Marquardt, Marta 205. 
Mayreder, Rosa 82. 
Messer, August 98. 
Moll, Albert 322. 
Moszkowski, Ad. 100. 
— Alexander 203. 
Mulert, Hermann 205. 
Müller-Lyer, F. 100. 


N. 


Neureiter, F. v. 331. 
Norris 313. 
Novalis 98. 


O. 
Ostwald, Wilhelm 191. 


P. 


Payr 820. 

Peritz 103. 

Petren 320. 

Placzek 72, 73, 75, 200, 201, 
202, 203, 325, 326, 391, 


894. 
Posner, Carl 105, 206, 208, 


327. 
Prange, Franz 343. 


Namenverzeichnis. 


R. 


Rank, Otto 202. 
Ratzka, Clara 97. 
Rehn 320. 
Keifferscheid 313. 

v. Reitzenstein 190. 
Rosenberger, Karl 94. 
Rössle, Robert 322. 
Rutgers, J. 81. 


S. 


Sachs, E. 94, 187, 189, 319, 


393, 394 
Scheidt 70. 
Scheuer, O. F. 205, 280. 
Schittenhelm, A. 188. 
Schlegel, Dorothea 95. 
— Friedrich 9. 
Schleiermacher 205. 
v. Schlözer, Dorothea 96. 
— Leopold % 
Schmidt 191. 
Schmorl, GG. 192. 
Schopen, Edmund 93. 
Schultz, Jul 86. 
Schumann 313. 
Schuster, Julius 206. 
Schwalbe, J. 191. 
Rn L. 94, 95. 185, 192, 


17. 
Sellheim, Hugo 215. 
v. Seuffert, E. 192. 
Sigerist, N. G. 320. 
Spehlmann, Felix 136. 
Stabel 104. 
Stanley, J. L. 77. 
Stöckel, W. 188. 
SEN Marie Carmichael 


| Strassmann, F. 208. 
: Strohmayer, Wilhelm 194. 


T. 


Tendeloo 8320. 
Theilhaber, Felix A. 263. 
Thoreck, Max 77. 
Tolstoj, Leo N. 89. 
Tugendreich, G. 76, 77. 


U. 
Unger, Rud. 98. 


V. 


Vaerting, M. 92, 192. 
Vierkandt, Alfred 84. 
Vogelstein, Julie 96. 

ı Vorberg, Gaston 194. 


W. 
Waibel 192. 
| Walthard 317. 
Walther 192. 
Wehrli, G. A. 320. 
Weil, Arthur 23. 
Westenhöfer, M. 93, 192, 
193, 194, 239. 
Wiener, Adele 193. 
Wée Tae 393, ?94 
Witkop, ilipp 98. 
Wolf, Walter 204. 
Wolff, Kuıt 156. 


Z. 


Zanders, Marie 99. 
Zawudowsky, M. 78. 
Ziegler, Leopold 191. 
Ziehen, Theodor 191. 
Ziehmann, H. 194. 
Zondek, Hermann 189. 


Sachverzeichnis. 


` 


A. 


Abderhaldensche Blutuntersuchung 229. 

Abortfrage, Stimmen des Auslandes 313. 

Altern, Einfluss der endokrinen Hor- 
mone 13l. 

— und Wachstum 322. 

Anatomie und Physiologie (Bibliographie) 
280. 

Anthropologie (Bibliographie) 299. 

Arzt, Berechtigung zur temporären ovari- 
ellen Sterilisierung 309. 

— und Kurpfuscher Y4. 

Attraktion, erotische 389. 

Aufbiss 249. 

Auslese und Rassenbygiene 70. 

Auswärts-Klinodontie :44. 


B. 


Basalplatte 246. 

Basalpyramide 252. 

Basaltetraeder 252. 

Bauch, Chirurgie desselben 319. 

Becken, Einblick 234. 

Beckenform, Kausalanalyse 391. 

Berlin, Geburtenauflösungsprozess 263. 

Bevölkerungsfrage der farbıgen Rassen 
94. 


— Stimmen des Auslandes 313. 

Bevölkerungswissenschaft und Gesell- 
schaftshygiene 320. 

Bibliographie 280. 

SE Theodor, in Zürich (1860—1867) 
320. 

Biogenetisches Grundgesetz 255. 

Biologie, Physiologie, Pathologie, Be- 
griffsbestimmung 315. 

Braun, Lily 96. 

Briefwechsel von Friedrich und Dorothea 
Schlegel 95. 

— Schleiermachers 205. 

Brunst, periodische 14. 

Brustdrüsen, Aplasie 222. 


C. 
Cäsaren, Frauen derselben 96. 


Chamberlain, Houston Stewart, Erinne. 
rungen seiner Gattin 99. 


| 
| 


Charakter, Aufbau desselben 339. 
Charakterologie, rationale 389. 
Chirurgie, praktische 319. 
Chrysophrys, Kiefer 245. 
Crocodilus niloticus 243. 


D. 
Denken, ärztliches 71. 
— und Wissen 89. 
Diagnostische Technik für die ärztliche 
Praxis 191. 
Dichter, Frauen im Leben deutscher 98. 
Dorsch, Kiefer desselben 241. 
Dıüsen, Krankheiten der endokrinen 189. 
Dystrophia adiposugenitalis 130. 


E. 
Ehe, Hygiene 94. ` 
— Reform 93. 
—- und Liebe, moderne Gedanken 72. 


‚ Ehrlich, Paul, als Mensch und Arbeiter 


ne ee a en — — — — 


205. 
Eierstocksstöruneen 217. 
Ererstockstransplantation 232. 
Eifersuchtswahn 205. 
Einwärts-Klinodontie 244. 
Entartung und Kultur 88. 
Epithelkörperchen, Ausfall 128. 
Erbkunde, moderne und Geschlechts- 
bestimmung 156. 
Ernährung des Kindes 76. 
Eros, kosmogonischer 82. 
Es, psychoanalytische Briefe 73. 
Ethik und Soziologie 83, 
Ethnologie (Bibliographie) 299. 
Eugenetik (Bibliographie) 285. 
Eunuchoiden, Lebensschicksale 212. 
-— Merkmale 29. 
Europäer, Schädei 249. 


F. 
Familienanthropologie 70. 
Familienforschung, Bedeutung der ein- 

eiigen Mehrlinge 369. 
Familıenkunde, naturwissenschaftliche, 
Einführung 70. 


Familienuntersuchungen nach der Wein- 


bergschen Methode 173. 


400 


Fettsucht im Klimakterium 133. 

Fettwuchs, eunuchoider 212. 

Fortpflanzung, Weisheit in derselben 394. 

Frauen der Cäsaren 96. 

— geschlecht-kalte 210. 

— Konstitution und ıbre Beziehungen 
zur Geburtshilfe und Gynäkologie 387. 

— im Leben deutscher Dichter 98. 

— sexuelle Träume (Pullutionen) 60. 

Frauenberufe (Bibliographie) 303. 

Frauenbewegung (Bibliographie) 303. 


Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Hand- 


buch 185. 

Frauenstaat, männliche Eigenart darin 
92. 

Fünflingsgeburten, Sammelreferat 369. 


6. 


Gadus morrbua 241. 

Gebundenheit, psychophysische 1. 

Geburtenauflösungsprozess in Berlin 263. 

Geburtshilfe, Leitfaden der praktischen 
192. 

Gehirn und Seele 81. 

Gehirntier 259. 

Genitalien eınes Hermaphroditen 130. 

— eines Kastratoiden 223. 

Gerichtliche Medizin unu Konstitutions- 
lehre 331. 

Geschichte der Medizin 192. 

Geschiecht und Entwicklung der Ge- 
schlechtsmerkmale 78. 

— und Kultur 8. 

— und Persönlichkeit 1. 

Ge.chlechterpsycholugie, Wahrheit und 
Irrtum 192. 

Geschlechtsbestimmung, moderne Auf- 
fassung 177. 

— und moderne Erbkunde 156. 

Geschlecht»bildung und Nebennieren- 
rinde 136. 

Geschlechtsmerkmale, Entwicklung der- 
sılben 78. 

Geschlechtsverkehr, ärztlich wichtige 
Rechtsbeziehungen des ehelichen 203. 

Gesellschaft, für Sexualwissenschaft und 
Konstitutionsforschung 102, 206. 

Gesellschaftshygiene 320. 

Geselischaftslelhre 84. 

Gorilla, Unterkiefer 244. 


H. 


Hai, Kiefer desselben 241. 

nen Leitfaden für die Prüfungen 

Hebridologie, Thesen 80. 

Hermaphrodit. Genitalien 130. 

Hermaphroditismus, neuere 
ungen 348. 

Herz und Schwangerschaft 18“. 

Hochwuchs, eunuchoider 213. 

Hoden, Zwischenzellen 13. 


Anschau- 


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Sachverzeichnis. 


Hodensubstanzimplantationen 77. 

Hodentransplantation. neue Methode 77. 

Homoiotransplantation bei Hypovaris- 
mus 233. 

Homosexualität, angeborene 23. 

— heredofamiliäres Vorkommen 168. 

— Jahrbuch 208. 

— Vererbung 173. 

Hormone, endokrine, Einfluss auf die 
Konstitution in den verschiedenen 
Lebensaltern 117. 

Hüftbreite bei Homo- und Heterosexu- 
ellen 34, 85, 37, 38. 

Hydrotherapie 317. 

Hygiene der Ehe 94. 

— soziale 187. 

Hymenvirgines, sexuelle Träume 62. 

Hypophyse, Ausfall 129. 


1. 


Ich, Weg dazu 91. 

Indikation, eugenetische 321. 

Inseln der Weisheit 100. 

Intersex 102. 

Intersexualität und moderne Auffassung 
der !seschlechtsbestimmung 177. 

— männliche 161. 

— weibliche 160. 

— Ursprung beim Menschen 156. 


J. 


EE für sexuelle Zwischenstufen 


Jungfrauen, Pollutionen 61. 
K. 

Kastratentypus des Skeletts 226, 227. 

Kastratiouskomplex, Genese des weih 
lichen 75. 

Kastratoid, echter weiblicher 215. 

— Röntgenbild der Hand 216. 

Kind, Ernährung, Ernährungsstörun:en 
und Ernährungstherapie 76. 

— und Mutter, Ratgebar 195. 

— Bedeutung seiner Sexualität für Eı 
ziehung und ärztliche l'raxis 77. 

Kindesalter, Psychopathologie 194. 

Kinn, Entstehung und antbropologische 
Bedeutung 239, 240, 250. 

Kinndreieck 251. 

Kınnknöchelchen 251. 

Kinntetraeder 251. 

Klimakterium, Fettsucht 133. 

Konstitution, Einfluss der endokrinen 
Hormone 117. 

Konstitutionsforschung, klinische, na- 
turwissenschaftlıche Grundlagen 355. 

Konstıtutionslehre und gerichtliche Me 
dizin 331. 

Konstitutionspathologie 70. 

Konversationslexikon, Brockhaus’ 191. 

Körperbau und Menschwerdung 391. 


Sachverzeichnis. 


Krankenhausschwester 94. 

Krankenpflege, Leitfaden 9. 

Krankenpfleger 94. 

Krankheiten der endokrinen Drüsen 189. 

— soziale Beziehungen 187. 

Krankheitsbereitschaft 319. 

Kritiken 70, 185, 317, 387. 

Krokodil, Unterkiefer 243. 

Kryptorchismus 14. 

Kultur und Entartung 88. 

— und Geschlecht 82. 

— und Natur, Entstehung und Wesen 
133. 

Kulturgeschichte (Bibliographie) 304. 

Kunst (Bibliographie) 304. 

Kurpfuscher und Arzte 94. 


L. 


Leben und Liebe, neue Horizonte 73. 

— nach dem Tode 91. 

Lebensalter, Einfluss der endokrinen 
Hormone auf die Konstitution 117. 

Lebensbilder s. Braun, Lily und Doro- 
thea von Schlözer. 

Lebensenergie und Sexualleben 81. 

Leib und Seele 87. 

Le Moustier-Mensch 257. 

Libido,Entwicklungsgeschichte aufGrund 
der Psychoanalyse seelischer Stö- 
rungen 325. 

Liebe, körperliche und seelische 201, 326. 

— Kritik der verliebten 199. 

— und Ehe, moderne Gedanken 72. 

— und Leben, neue Horizonte 73. 

Liebesleben in deutscher Vergangenheit 
198. 

Literatur [in iegrapbie) 304. 

— eugenetische, Bibliograpbie 190. 


M. 


Macacus, Unterkiefer 244. 

an Röutgenbehandlung 
393. 

Männerstaat, weibliche Eigenart darin 92. 

Medızin der Gegenwart in Selbstdar- 
stellungen 320. 

— Geschichte derselben 192. 

— philosophische Grundlagen 71. 

Medizinalstatıstik (Bibliographie) 285. 

Melhrlinge, eineiige, Bedeutung für die 
Familienforschung 369. 

Mehrlingsgebaurt, 
369 


Menschheitsrätsel 196. 

Menschwerdung und Körperbau 391. 

Mitteilungen 212. 

Morphogenese, Thesen 80. 

Mülier-Lyer, als Soziolog und Kultur- 
philosoph 100. 

Mutter und Kind, Ratgeber 195. 


Ee Herz und Handskelett | 
123. 


Entstehungsursachen | 


401 


N 


Narzissmus bei Mann und Weib 199. 

Natur und Kultur, Entstehung und 
Wesen’ 193. 

Naturphilosophie, Grundprobleme 89. 

— als Vorläufer der Konstitutions- und 
Sexualforschung 105. 

Naturvölker, Das Weib bei ihnen 190. 

Neanderthal-Rasse 257. 

Nebennirre, Hypofunktion 131. 

Nebennierenrinde und Geschlechtsbil- 
duug 136. 

Neger, Schädel 248. 

Neosex 18 

Neugeborene, Grundsätzliches 93. 

Neurastheuie, sexuelle 8I. 

Nietzsche, der einsame 99. 

— als Student 205. 

— Zarathustra. Erläuterungen 98. 

Novotestal 18. 


O 


Oberlänge und Unterlänge bei Homo- 
und Heterosexuellen 36, 37, 39. 
Okkultismus und Strafrechtapflege 201. 
Operationssaal, chirurgischer 95. 

Orgasmus 66. 
Orthodontie 247. 


P. 
Pädagogik (Bibliographie) 296. 


Pagrus-Pagrus, Kıefer 245. 
Pakuü, Kiefer 248. 


` Pathologie (Bibliographie) 288. 


— — — — — — 


— soziale 187. 

Persönlichkeit und Geschlecht 1. 

Philo-ophie (Bibliographie) 296. 

— er Gegenwart in Selbstdarstellungen 
1 


— am Scheidewege &6. 
Physiologie (Bibliographie) 280. 
Piaractus brachypomus 248. 
Pithekoide 257. 

Pollutionen bei Frauen 60. 
Posner, Zum 70. Gehurtstag 327. 
Prionodon oxyrhynchus 241. 
Progerie 134. 

Progonismus 260. 

Psychiatrie (Bibliographie) 292. 


‚ Psychoanalyse 73. 





` 
i 
1 
l 


— Entwickiungszıele 202. 
— seelischer Störungen 325. 
Psychologie (Bibliographie) 292. 


, — experimentelle 88. 


Psychomodalität 390. 

Psychopatbia sexualis 322. 
Psychopathologie des Kindesalters 194. 
Psychotherapie 317. 

Python reticulatus 242. 


R. 
— Bevölkerungsfrage der farbigen 
194, 


402 Sachverzeichnis. 


Rassenhygiene und menechliche Aus- 
lese 70. 

Rassenkunde des deutschen Volkes 197. 

Reform der Ehe 93. 

Riese mit mässigem Hypotonus 125. 

Riesenschlangen, Gebisse 242. 

Riesen wuchs mit Zirbeldrüsenerkrankung 
126. 

Riesin mit akromegalem Typ 125. 

Romane 97, 98, 205. 

Rundschau, wissenschaftliche 309. 


S 


Sargus Capensis, Gebiss 245. 

Scheide eines Kastratoiden 224. 
Scherenbiss 249. 

Schimpansenkınd 251. 
Schleiermacher, ausgewählte Briefe 205. 
Schlözer, Dorothea von 96. 


Schulterbreite bei Homo- und Hetero- | 


sexuellen 33, 35, 37, 38. 
Schutzengel oder Würgengel 93. 


Schwangerschaft, biologische Probleme | 


189. 
— und Herz 188. 
Schwestern-Lebrbuch 94. 
Seele und Gehirn 81. 
— und Leib 87. 
Seelenleben, weibliches 91. 
Sexualempfindung, konträre 16, 322. 
Sexualität, kindliche, ihre Bedeutung für 
Erziehung und ärztliche Praxis 77. 
— morphologische Grundlagen nach tier- 
experimentellen Untersuchungen 13. 
— und Suggestion 52. 


Sexualleben, als Hauptfaktor der Lebens- Ä 


energie 81. 
Sexualpsychologie 52. 
Sexualwissenschaft, Handwörterbuch 75. 
Skelettbau einer normalen Frau 226. 
-~  Kastratentypus 226. 
Sozialbiologie 320. 
Sozialhygiene (Bibliographie) 285. 
Soziologie (Bibliographie) 301. 
— und Ethik 83. 
Spermatogenese, Vernichtung 15. 
Standlänge beiHomo-undHeterosexuellen 
35, 36, 39, 44. 
Stationsschwester 94. 
Statistik (Bibliographie) 301. 
Status thymico-lymphaticus 70. 
Steinach Operation 77. 
Steinachscher Versuch 18. 
Sterilisierung, temporäre ovarielle, Be- 
rechtigung des Arztes 309. 
Strafrechtspflege und Okkultismus 201. 
Suggestion und Sexualıtät 52. 
Syphilis, Salvarsanbehandlung 392, 
— Ursprung derselben 194. 


T. 


Tagebuch Tolstojs 89. 
Theroide 257. 

Theromorpbe 257. 

Thymus, Hyperfunktion 128. 


‘Tiere, Analyse der Formenbildung 78 


— periodisch brünstige 14. 


' 'Yod, Leben danach 91. 


Todesproblem ım Denken und Dichten 
von Sturmund Drangzur Romantik 9%, 

Transitologie als Wissenschaft der Über- 
gänge 193. 

Träume, sexuelle bei 
tionen) 60. 


Frauen (Pollu- 


U. 


Untergang der antiken Zivilisation 95. 
Untersuchungsmethoden, pathologisch- 
bistologische 192. 

Uterus, hysterische Erscheinungen 200. 
— Karzinom, Röntgenbehandlung 3%. 
A, 

Vaginismus 210. 

Venus von Bassompiere 261. 

Venuspark 203. 

Vererbungslebre (Bibliographie) 282. 

Verhandlungen der ärztlichen Gesell. 
schaft für Sexualwissenschaft und 
SE EE in Berlin 1u2, 
206. | 

Volkskunde (Bibliographie) 299 

Vorgeschichte (Bibliographie) 299. 


W. 


Wachstum und Altern 322, 

Wassersäugetiere 260. 

Weib, Biologie und Pathologie 185, 317. 

— bei den Naturvölkern 190. 

Weibtum, Führer zu wahrem 97. 

Wieland - Roman (der galante Stadt- 
schreiber) 97. 

Wissen und Denken 89. 

Wissenschaft der Übergänge 193. 

Wissenschaftliche Rundschau 809. 

Wochenbettfieber, Therapie 393. 

Würgengel oder Schutzengel 93. 


Z. 


Zanders, Maria, das Leben einer bergi- 
schen Frau 99. 

Zirbeldrüse 132. 

Zivilisation, Untergang der antiken 95. 

Züricher Medizingescbichtlicbe Ab- 
handlungen 320. 

Zwischenstufen, Jahrbuch für sexuelle 
203. 


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jeder. ‚Art: endokriner Mendtrunkiunastdrungen,; klirank“ — dr es 
terischen Beschwerden, Friaidität und Steriität, E 
Heine vorübergehende Besserung, sondern Dauerwirkung. —— 
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Dr. Georg Hennig, Berlin W35, ‚Kurtürstenstruße wm. Sé 
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indikationen; Dysmenprrkos: Menorrhägie, Metrorrhagie, 0. 


.. Blatungen post partun), postaborfum, während. des Ent- 772 — 
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Sien katarrhälische und infekliöse Vaginalerkrankungen: SE 
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Ändibiere bei Chlorose und Houterkranktungen, D 
Beete Bere Ädspanst gë nnd A ppetiimangel 


Leeintabletten — 
Eisen: Eiweiss-Phosphat. nit Zusatz von Kain -Eiweiss, 
Zur ‚Auflutscheg, wuch me kleinere Kinder geeignet 


‚Arsen-Lecintabletten. Jod- Lecintabletten. | 


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Gegen Stockung. der. Menses, klimakterielle Fetsch 
und our — der Beschwerden der tie 


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Kolloides Kal K-Eiweiss-Phosphat ` 


Zur Bsiksnreich erung, Züe Verhörung der Rhachitis, Sovis: 
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