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Princeton University Library
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32101 063551822
Library of
Princeton Üniversity.
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Gesellschaft fur
Religionspsychologie.
I.
Dem unaufhaltsamen Vordringen der empirischen Forschung
in allen Zweigen der Wissenschaft verdankt die Religionspsycho-
logie ihr Dasein. Sie ist eine junge, aufstrebende Wissen-
schaft, deren Entwicklungsmöglichkeiten sich noch gar
nicht völlig absehen lassen. Die verschiedensten Zweige der
Wissenschaft und der Praxis haben mit ihrer Betrachtungsweise
engste Beziehungen und an ihren Resultaten ein reges Interesse;
die empirische Religionspsychologie sieht vor sich ein weites Feld
ungelöster Aufgaben, Fragen, zu deren Erforschung ebenso sehr
wissenschaftlicher Erkenntnistrieb wie das Interesse an der Religion
verpflichtet. Von führenden Persönlichkeiten und Organen aller
Richtungen und Konfessionen wird die Forderung vermehrter
religionspsychologischer Arbeit erhoben; die Zahl ihrer Freunde
wird weiter wachsen in dem Maß, als sie allen Dilettantismus und
jede Tendenz, die ihrem wissenschaftlichen Charakter fremd ist,
von sich ferne hält.
Wenn die Arbeit der Religionspsychologie in ihrem
ganzen Umfang getrieben werden soll, dann müssen die dazu
berufenen Forscher für ihre Arbeit das Maß von Interesse und
Förderung finden, dessen sie bedürfen. Aus dieser Erwägung
heraus hat sich eine
Gesellschaft für Religionspsychologie
gebildet, welche nicht nur die religionspsychologischen Forscher,
sondern überhaupt alle diejenigen zusammenschließen will, die an
religionspsychologischer Forschung interessiert sind.
nn %
Wer soll sich für Religionspsychologie interessieren ?
Der Kreis ist weit und umfassend. Er umschließt ebenso den
Psychologen wie den Theologen, den Exegeten, den Kirchen-
historiker, den Forscher auf dem Gebiet der Religion, der Kultur
und der Kunst, wie auf dem Gebiet der Praxis den Arzt, den
Seelsorger, den Religionslehrer und Erzieher, kurz jeden, der sich
theoretisch oder praktisch mit der Religion beschäftigt.
Der Vorstand und die Mitglieder der Gesellschaft für Reli-
gionspsychologie treten daher mit der Einladung zum Anschluß
an alle diejenigen heran, bei denen sie ein Interesse für die er-
sprießliche Weiterentwicklung der Religionspsychologie voraus-
setzen dürfen. Außer Einzelpersonen sind auch Vereine, Insti-
tute und Bibliotheken als Mitglieder willkommen.
Der Vorstand:
Professor Dr. A. Dyroff-Bonn, Vorsitzender.
Pfarrer Dr. W. Stählin-Egloffstein (Oberfranken),
stellvertretender Vorsitzender.
Repetent Lic. H. Faber-Tübingen, Schriftführer und
Kassier.
Professor Dr. O. Külpe-München.
Professor D. Dr. G. Wunderle-Eichstätt i. B.
Privatdozent Dr. A. Fischer-München.
§ 2.
§ 3.
§ 5.
§ 6.
Pr- nn -
Aus der Satzung
der „Gesellschaft für Religionspsychologie“.
. Die Gesellschaft für Religionspsychologie setzt sich zur Aufgabe die ideelle
und finanzielle Förderung wissenschaftlicher Arbeit auf dem Gebiet der Reli-
gionspsychologie, Sie versteht die Religionspsychologie als reine Tatsachen-
wissenschaft, welche der Erforschung der Religion als psychischer Wirklich-
keit dient; zu ihrem Arbeitsgebiet gehört daher weder die Beurteilung des
Wertes noch die Behandlung der Frage nach der Wahrheit bestimmter
religiöser Formen. Da die Gesellschaft rein wissenschaftlichen Zwecken
dient, so schließt sie alle polemischen Auseinandersetzungen zwischen reli-
giösen und kirchlichen Richtungen sowie zwischen verschiedenen Konfessionen
aus. Vermieden werden soll alles, was die religiösen Gefühle Anders-
denkender mit Recht verletzen könnte.
Organ der Gesellschaft ist das »Archiv für Religionspsychologie«, das im
Sinn der im vorigen § niedergelegten Grundsätze geleitet wird.
Im einzelnen sucht die Gesellschaft ihren Zweck zu erreichen zunächst durch
Weckung des Interesses für Religionspsychologie in den weitesten Kreisen,
durch Unterstützung des »Archivs für Religionspsychologiec, durch Anregung
und Förderung wissenschattiicher Arbeit auf ıhrem Gebiete, durch Veran-
staltung von Versammlungen, Vorträgen u. i.
“ . . . a 2
. Der jährliche Mitgliedsbeitrag beträgt o M. Durch einmalige Zahlung von
909-M;-wird lebenslAngliche Mitgliedschaft erworben. Höhere Jahresbeiträge
und sonstige Zuwendungen sind zur Förderung der Zwecke der Gesellschaft
dringend erwünscht.
Die Mitglieder der Gesellschaft für Religionspsychologie erhalten von der
Gesellschaft unberechnet und portofrei ein ungebundenes Exemplar des
»Archivs für Religionspsychologie«, solange dieses erscheint. Gebundene
Exemplare werden auf Wunsch gegen entsprechende Mehrzahlung geliefert.
Neu eintretende Mitglieder können die bis dahin erschienenen Bände gegen
entsprechende Beitragsleistung durch die Gesellschaft erhalten. Etwaige
weitere Veröffentlichungen der Gesellschaft liefert diese den Mitgliedern zu
ermäßigten Preisen.
Der Sitz der Gesellschaft ist Nürnberg.
Pe me BE r
— = bm
Archiv
für
Religionspsychologie
Prof. D. A. Dyrorr (Bonn) — Prof. Dr. Tu. Flournoy (Genf) —
Prof. Dr. K. Gircensonn (Greifswald) — Prof. Dr. H. Hérrpinc
(Kopenhagen) — Prof. Dr. O. Körre + (München) — Prof. Dr.
A. Messer (Gießen) — Pfarrer Lic. Dr. Fr. RırteLnever (Berlin) ---
Prof. Dr. E. TrörTtscH (Berlin)
herausgegeben von
Dr. W. Stählin
Pfarrer in Nürnberg.
Organ der Gesellschaft für Religionspsychologie.
Zweiter und dritter Band.
Tübingen
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
1921.
Copyright 1921 by J.C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen.
Alle Rechte, einschließlich des Uebersetzungsrechts vorbehalten.
Druck von H. Laup p jr Tübingen
Inhaltsverzeichnis.
` Vorbemerkung
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I. Abhandlungen.
Chr. Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung
G. Wunderle, Zur Psychologie der Reue
C. Clemen, Wesen und Ursprung der Magte
W. Stahlin, Die Wahrheitsfrage in der Relisionspaveholosie
S. Behn, Von methodischer ae in der Re-
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II. Materialien und Diskussionen.
Vom religiösen Leben der Kinder (E. Roloff)
Eine religiöse Jugendentwicklung (K. Needon) .
G.Wobbermin, run Arbeit und svete.
matische Theologie . Bae 2 .
HI. Berichte und Besprechungen.
Eine Religionspsychologische Schule (G. Berguer).
Abelson, J. Jewish Mysticism (A. Schlesinger)
Maier, H., Psychologie des emotionalen Denkens (W. Stählin)
Fröbes, J., Lehrbuch der experimentellen Psychologie T
Band (W. Stählin) i
Elsenhans, Th., Lehrbuch der Peycholögie (Ko f f k a)
Preuß, K. Th., Die Nayarit-Expedition (Koffka)
Vaihinger, H., Die Philosophie des Als Ob (Koffka)
Mandel, H., Die Erkenntnis des Uebersinnlichen I. (H. Ostertag)
Dorner, A., Die Metaphysik des Christentums (H. Ostertag)
Elert, W., Die voluntaristische ARS ia ob Böhmes
(H. Ostertag)
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I
Seite
197
207
219
222
232
234
236
242
245
254
257
gen
IV Inhaltsverzeichnis
Pariser,E., Einführung indieReligionspsychologie(H.Ostertag)
Weingärtner, G. Das Unterbewußtsein (H. Ostertag)
Wartensleben, G., Die christliche Persönlichkeit im Ideal-
bild (G. Wunderle)
Hoinka, G., Versuch einer eayenoloc sehen Grundlegung ae
Moraltheologie I. (G. Wunderle) . un
Mayer, H., Kinderideale (G. Wunderle)
Söderblom, V., Natürliche Theologie und Men: Re-
ligionsgeschichte (K. Schröder)
Kerler, D.H., Jenseits von u und NE
(R. Paulus). l
Marie, A., Der Mystiviamus in seinen Beziehungen zur
Geistesstörung (Fr. Hacker) . .
Ollendorf, C., Andacht in der Malerei (W. s tä hlin)
Reitzenstein, R., Die hellenistischen Mysterienreligionen
nach ihren Grundeedanken und Wirkungen (Chr. Geyer)
Beckh, H., Buddhismus I/II. (Chr. Geyer)
Mauthner, F., Der Atheismus und seine Geschichte: im
_ Abendlande L/M. (W. Stahlin) .
IV. Kleine Anzeigen
V. Eingelaufene Bücher
VI. Zeitschriftenschau.
Seite
258
Vorbemerkung.
Der zweite Band des Archivs für Religionspsychologie erscheint
unter außerordentlichen Schwierigkeiten. Der größere Teil der hier
veröffentlichten Arbeiten war im Sommer 1914 teils fertig gedruckt,
teils inhaltlich abgeschlossen; ein erster Halbband sollte im Herbst
1914 erscheinen. Der Krieg zwang den Verlag, die Herausgabe des
Bandes Jahr um Jahr hinauszuschieben, dann hinderte mich viel-
seitige Inanspruchnahme durch neue berufliche Verpflichtungen, die
Drucklegung zum Abschluß zu bringen. So stammen die größeren
Aufsätze dieses Bandes fast durchweg aus der Vorkriegszeit; sie heute
zu veröffentlichen ist für Verfasser und Herausgeber eine mißliche
Sache, auch soweit die hier verhandelten Fragen von der Verän-
derung unserer geistigen Gesamtlage unberührt sind.
Der Raum war, wenn nicht der Preis allzu hoch werden sollte,
aufs äußerste beschränkt; größere neue Arbeiten aufzunehmen, er-
wies sich als unmöglich. Das bedaure ich aus verschiedenen Grün-
den. Die in diesem Archiv vertretene Auffassung der Religionspsycho-
logie berührt sich aufs engste mit der phänomenologischen Forschung ;
ich bekenne kaum irgendwo so wertvolle Belehrung über die »psycho-
logisches Seite der Religion empfangen zu haben, als aus der phäno-
menologischen Literatur, soweit sie mir bekannt geworden ist.. Eine
umfassende und eindringende Untersuchung über die Bedeutung der
phänomenologischen Philosophie für die Religionswissenschaft ist ein
vordringliches Bedürfnis, das noch nicht zu befriedigen ein wesent-
licher Mangel dieses Bandes ist. Auch sonst wird es ein Leichtes sein,
in der Berichterstattung erhebliche Lücken aufzuzeigen und Werke
namhaft zu machen, die nicht unerwähnt hätten bleiben dürfen; ich
kann demgegenüber nur darum um Nachsicht bitten, weil über den
knappen Raum schon im voraus fast ganz verfügt und der Herausgeber
dadurch in peinlicher Weise gebunden war. Insbesondere mußte die
Berichterstattung über ausländische Werke im wesentlichen auf spä-
ter verschoben werden.
Archiv für Religionspsychologie II/LII. I
2 l Vorbemerkung.
Der Band trägt meinen Namen allein. Herr Professor Dr. Kurt
Koffka in Gießen, der für den I. Band als psychologischer Mitheraus-
geber verantwortlich war, ist, nachdem wir uns in einer wesentlichen
Frage hinsichtlich der Aufnahme eines Beitrags nicht eimgen konn-
ten, von der Mitwirkung in der Schriftleitung zurückgetreten; ich
bedaure lebhaft, daß dieser Band darum ohne die Mitwirkung eines
psychologischen Fachmanns zusammengestellt werden mußte, und
danke auch an dieser Stelle Herrn Professor Koffka für seine wert-
volle Beratung bei der Begründung und Einführung dieser Zeitschrift.
Einen nicht genug zu beklagenden Verlust hat auch die religions-
psychologische Forschung durch den frühen Tod von Professor
Oswald K til pe erlitten. Er, dessen ganze Arbeit auch in der ge-
wissenhaften Kleinarbeit des Laboratoriums stets letzten Zielen
diente, ist für viele die Brücke von der experimentellen Psychologie
zur Erforschung der »höheren« Seelenvorgänge geworden. Die oft
gehörte Behauptung, daß die gegenwärtig betriebene Psychologie für
die Erforschung des religiösen Lebens kein Interesse und keine Be-
deutung hätte, war für jeden widerlegt, der Einblick in die Külpesche
Arbeit hatte. Dies an Einzelheiten zu zeigen, fehlt hier der Raum;
dem Kundigen sagen die Worte Denkpsychologie, Gestaltauffassung,
Realisierung genug; für einen weiteren Kreis aber muß doch einmal
über die Bedeutung der modernen experimentellen Psychologie für die
Religionspsychologie geschrieben werden. Mit großem Dank für viele
entscheidende Anregung und Förderung darf ich hier auch ausspre-
chen, daß ich ohne Külpes entscheidende Beratung und Ermutigung
kaum gewagt hätte, die Herausgabe dieses Archivs zu übernehmen.
Mit dem warmen und herzlichen Interesse, das er, der Meister, für
alle wissenschaftlichen und persönlichen Angelegenheiten seiner
Schüler hatte, begleitete und förderte Külpe auch dieses Archiv.
Sein Rat wird unserer Arbeit schmerzlich fehlen; der Zusammenhang
mit ihm und seiner Arbeit wird immer daran erinnern, daß es die Auf-
gabe der Religionspsychologie ist, in unermüdlicher gewissenhafter
Kleinarbeit seelische Tatsachen und Zusammenhänge zu erforschen,
statt sich in psychologistischen Theorien zu ergehen oder gar sich von
der systematischen Theologie ihre Aufgabe vorschreiben zu lassen.
Unter den Opfern, die der Krieg auch aus der Reihe religions-
psychologischer Forscher gefordert hat, nenne ich vor allem zwei
Schüler Külpes: Dr. med. et phil. Fr. Hacker, der in seiner Verbin-
dung religionsphilosophischer und psychiatrischer Ausbildung ein be-
sonders geschätzter Mitarbeiter dieses Archivs gewesen ist, und
Dr. phil. Konrad Schröder. In engster Freundschaft mit mir
Vorbemerkung. 3
verbunden, hat Schröder die Entstehung dieses Archivs in allen Ein-
zelheiten miterlebt und mit seinem gründlichen und unbestechlichen
Rat begleitet. Ebenso theologisch wie philosophisch und psycho-
logisch durchgebildet, trug er in sich eine seltene Vereinigung viel-
seitiger Kenntnisse und Begabungen. Seine große Bescheidenheit
hinderte ihn, mit seinem Namen hervorzutreten ;.übergroße Gewissen-
haftigkeit ließ ihn an seinem großen — von Külpe sehr hoch einge-
schätzten — Werk über »Das Psychologische in Kants Religionsphilo-
sophie«!) so lange feilen, bis der Krieg und schon 4 Wochen später
der Tod ihm die Feder aus der Hand nahm; leider erlaubt es der
Zustand seiner Aufzeichnungen nicht, das in den Grundzügen durch-
gereifte Werk zu veröffentlichen. Um so mehr treibt mich Freund-
schaft und Dank, das Gedächtnis seines Namens hier zu bewahren.
Auch der frühe Tod von Rektor Lic. Joachim Schlüter in
Schwerin i. M. ist eine der schweren Schickungen, die der Krieg und
die daraus erwachsene seelische Not uns auferlegt hat. Schlüters
fein empfindende Seele, die unter der Gegenwart mehr als viele an-
dere gelitten, war in so besonderem Maß befähigt, den Verästelungen
seelischer Besonderheit in religiösen Persönlichkeiten nachzuspüren.
Darum hatte er auch mit Liebe und Eifer die weitausschauende Arbeit
an der religionspsychologischen Durchforschung von Biographien
und Autobiographien übernommen; die Arbeit ist nun in den An-
fängen stecken geblieben und wartet auf den, der dies große Werk
differentieller Psychologie wieder aufgreift und weiterführt.
Im Sommer 1914 war eine Gesellschaft für Religionspsychologie
gegründet worden, deren Vorsitz Herr Professor A. Dyroff in Bonn
übernommen hat. Die Satzungen der Gesellschaft liegen diesem
Band bei. Das Archiv für Religionspsychologie erscheint fortan als
Organ dieser Gesellschaft, deren Mitglieder das Archiv gegen einen
festen Jahresbeitrag unberechnet erhalten. Die ungeheuer gestiege-
nen Bücherpreise zwingen dazu, den vorliegenden Band als Doppel-
band zu zählen und zu berechnen. Ob und in welcher Weise das
Archiv für Religionspsychologie über den vorliegenden Doppelband
hinaus fortgeführt werden kann, darüber läßt sich leider heute eine
bestimmte Ankündigung ncch nicht machen.
Nürnberg, August 1920.
Der Herausgeber.
. 1) Ein kurzer Teil davon erschien als Bonner Doktor-Dissertation 1913.
ı *
1 Abhandlungen.
Zur Psychologie der Predigtvorbereitung.
Von
Hauptprediger D. Dr. Christian Geyer, Nürnberg.
Für die Theorie und Praxis der Predigt ist es von Interesse zu
erfahren, wie sich dieser und jener Prediger für sein Auftreten vor
der Gemeinde vorbereitet. Je umfangreicher das Tatsachenmaterial
wäre, auf einer desto sicherern Grundlage würden die in der Homi-
letik zu gebenden Regeln und Normen stehen. Merkwürdigerweise
haben sich indes die Verfasser homiletischer Kompendien bisher,
so viel ich weiß, nicht sehr viel um die Wirklichkeit gekümmert,
von der doch eine brauchbare Theorie ausgehen müßte. So erwächst
der Psychologie eine Arbeit, zu der im folgenden ein kleiner erster
Beitrag dargeboten werden soll. Manche werden freilich ein gegen
die Religionspsychologie oft gehegtes Bedenken auch dem Versuch,
die Entstehungsgeschichte einer wirklich gehaltenen Predigt zu
schreiben, entgegenhalten, als ob er nämlich eine Profanierung,
wenn nicht gar eine Art geistiger oder geistlicher Selbstentkleidung
darstelle. Allein so wahr es ist, daß die ungeschminkte Darstellung
der seelischen Vorgänge bei der Predigtvorbereitung ein gewisses
"Opfer kostet, so nachdrücklich möchte ich betonen, daß die der Pre-
digtproduktion parallel gehende Selbstbeobachtung jener nicht nur
nicht schadet, sie auch nicht hemmt, sondern — wenigstens bei dem
Verfasser ist es so — in verschiedener Hinsicht sogar eine Hilfe und
Aufmunterung zu gesteigerter Konzentration bedeuten kann. Ueb-
rigens ist die Frage des Anfängers an den erfahrenen Prediger, wie
er es mache und wie man es nach seiner Meinung machen müsse,
längst geläufig, und wenn irgendwie die Hoffnung besteht, daß durch
deren Beantwortung eine wenn auch vielleicht kleine Hilfe geleistet
werden könne, ist das dem Prediger ohnehin selbstverständliche
Opfer seines Innenlebens im Dienst seiner Gemeinde kaum vergebens
dargebracht.
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung, l 5
Es gibt Prediger, bei denen sich die Predigtvorbereitung nach
einem allwöchentlich wiederkehrenden Schema abspielt. Sie sehen
— vielleicht erst gegen Ende der Woche — nach, welcher Text auf
den kommenden Sonntag trifft, holen sich Belehrung aus einem
Kommentar, ziehen wohl auch einige praktische Hilfsbücher zu Rate
und arbeiten dann ihre Predigt aus, wie man etwa einen Aufsatz
schreibt, indem sie sich vor allem eine »Disposition« machen, ein
»Thema mit drei Teilen« aufstellen. Ich besitze aus meiner Anfänger-
zeit sehr umfangreiche Schriftstücke dieser Art. Ich entwarf oft
zehn und mehr »Dispositionen«, aus denen ich dann die gelungenste
auswählte und ausführte.
Ganz anders geht es natürlich bei der Predigtvorbereitung zu,
wenn der Prediger nicht nur einen Text »auslegen und anwendens
will, sondern seiner Gemeinde etwas zu sagen hat, was ihn stark
innerlich beschäftigt. Dann wird das Predigtziel wichtiger als das
Thema und die Rede ein Mittel, um seine Stimmungen, Gefühle,
Ueberzeugungen, Wahrheitserkenntnisse, Lebenserfahrungen an-
deren zugänglich zu machen. Hatte der Prediger der alten Schule
immer einen Text, zu dem er dann eine Predigt schrieb, so haben
wir sehr oft eine Predigtaufgabe, ja sogar eine nur noch nicht ent-
faltete Predigt bereit, zu der wir uns erst noch einen Text oder die
Anknüpfung an einen solchen suchen. Es geht uns bei den gewöhn-
lichen Predigten so, wie es dem. Prediger der alten Schule nur bei
Kasualreden ging oder auch bei Festpredigten. Erst’damit kann von
einer Psychologie der Predigtvorbereitung die Rede sein.
Ich habe früher schon einmal die psychologische Entstehung
einer einzelnen Predigt geschildert und zwar einer solchen, die ganz
aus dem gegebenen Text herausgewachsen war (Evangelische Freiheit,
herausgegeben. von Baumgarten 1912, S. 225 f.). Ich möchte jetzt
eingehender die Entstehung zweier Predigten schildern. Ich kann
das in diesem Fall mit der Treue von Tagebuchaufzeichnungen tun,
die sich beidemale annähernd durch eine Woche erstrecken. Viel-
leicht darf ich darauf aufmerksam machen, daß diese lange Zeit-
dauer nichts Außergewöhnliches ist. Meist beginne ich gleich noch
an dem Sonntag, an dem ich eben gepredigt habe, mit der Vorbe-
reitung auf die nächste Predigt. Nur wenn ich mit anderen Arbeiten
stark beschäftigtbin, setzt die Predigtarbeit ein wenigspatereinals sonst.
I.
I. Dienstag Nachmittag 3. Juni 1913. Auf mei-
nem Schreibtisch liegt der Kirchenzettel für den nächsten Sonntag.
6 I. Abhandlungen,
Ich soll den Text einschreiben, über den gepredigt wird, und das Lied,
das im Gottesdienst gesungen werden soll. Ich weiß vorerst nur
ein einziges Wort, das mir die Richtung zeigt, in der sich die künftige
Predigt bewegen wird: »Wozu?« Ich hatte vor etwa Io Tagen einen
Brief von einem mir persönlich nicht bekannten Gemeindeglied
erhalten, den ich wiederholt gelesen und soeben beantwortet habe.
Ein Mensch, der von Haus aus anders ist, als die Leute seiner Um-
gebung, ist durch Predigten, die er von mir gehört hat, in dem Stre-
ben nach Lebensvertiefung bestärkt worden. Er teilt mir das mit
und wundert sich zugleich darüber, daß er sich gleichwohl nicht
glücklich fühle. In dem Briefe kommt mehrmals die Frage vor : »Wozu ?«
Ich habe ihm in meiner Antwort in Aussicht gestellt, einmal über
dieses »Wozu ?« zu predigen. Jetzt verfolgt mich dieses Wort und
ich merke ganz deutlich, daß ich wohl schon an diesem Sonntag
werde über das Wort »Wozu ?« sprechen wollen und müssen.
Ich sehe den Text an, der nach der Perikopenreihe vorgeschrie-
ben ist. Es ist Apostelg. 4, 1—12 mit dem Wort »Es ist in keinem
Andern Heil«. Ich hätte zunächst Lust, einen andern zu nehmen,
suche aber im I. Johannisbrief, im Evangelium Johannis und in der
Konkordanz ohne Erfolg. Dann kommt es mir, daß ich den vorge-
schriebenen Text ganz gut zu meinen — noch ungeklärten — Zwecken
werde brauchen können. Ich schreibe in den Kirchenzettel ein:
Text Apostelg. 4, 1—12, Lied 249 »Du, meine Seele, singe« (zugleich _
sorge ich dafür, daß Vers 9, an dem einmal ein Gemeindeglied stark
Anstoß genommen hat, nicht gesungen werde, sondern zum Schluß
V. 8 und V. 10) und füge nach meiner Gewohnheit eine Notiz über das
Thema der Predigt bei: Hauptpr. Dr. Geyer predigt über das Thema:
»Wozu ist der Mensch auf der Welt ?« Ich wollte zuerst nur schreiben:
»Wozu ?« allein das klang mir gemacht; ich fürchtete, es könnte sen-
sationell wirken, so formulierte ich das Thema, wie angegeben.
Als der Kirchenzettel eben geschrieben war, kam eine I8jährige
Schülerin zu mir und fragte, ob ich am kommenden Sonntag predige.
Ich sagte: ich wolle über das Thema sprechen, wozu wohl der Mensch
auf der Welt sei. Sie meinte, der Mensch sei nicht dazu da, glücklich
zu sein, auch nicht nur um zu arbeiten, sondern um Mensch zu sein; so
habe sie mich im Pädagogikunterricht verstanden und so ähnlich habe
sich auch Dr. Johannes Müller in einem Vortrag ausgesprochen. In die-
sem Augenblick kam mir zum Bewußtsein, daß ich es doch noch anders
meine, mehr sozial und mit stärkerer Betonung der Hingabe an Gott.
2. Dienstag Abend. Nach dem Abendessen war ich
allein im Garten und ließ meine Gedanken sich ganz von'selbst klären.
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 7
Ob ich eigentlich selbst dazu da sei, anderen Menschen zu helfen ?
Ich dachte an eine Broschüre, die ich eben geschrieben und an den
Verleger geschickt hatte. Ich wußte, daß sie mir manche harte Stunde
. bereiten werde, aber ich wollte mich keinesfalls bestimmen lassen
von Rücksichten auf meine Bequemlichkeit, mein Fortkommen und
dergl. Gewiß, ich wollte auch die Menschen vorwärts bringen. Aber
das war es doch nicht eigentlich, was mich innerlich erhob. Viel
mehr das Bewußtsein oder der Wunsch, Gottes Willen zu erfüllen
und sein Handlanger zu sein. Ich möchte auf der Welt sein, um
Gottes Werk zu fördern und mich nicht hindern lassen durch egoi-
stische Rücksichten. Daß ich so weit bin, das rechne ich zu meinem
Anteil am »Heil«. — Plötzlich tauchte das Jesuswort auf: »Wer
sein Leben verliert — der gewinnt es«. Ich möchte das Leben ver-
lieren können. Es ist möglich, daß ich wegen meiner religiös-theolo-
gischen Stellung abgesetzt werde. Diese Absetzung wünsche ich in
diesem Augenblick, um Gott einmal ein wirkliches Opfer zu bringen,
aber doch so, daß ich mich zugleich auch davor ein wenig fürchte.
Jesus steht vor meinem Auge als der durchaus Selbstlose, nicht
nur den Brüdern, sondern vor allem Gott Hingegebene. Das macht
es aus, daß in ihm das »Heil« ist.
Solange ich etwas sein will, glücklich, oder nützlich oder voll-
kommen, steht mir selbst das »Ich« im Wege. Deutlich sehe ich und
machtvoll fühle ich mich ergriffen von dem Ideal, mich selbst ganz
zu vergessen über dem Dienst, zu dem mich Gott braucht. Dabei
fällt mir das Wort »aufgehoben« im dreifachen Hegelschen Sinn ein.
Ich möchte »aufgehoben« werden, indem mein Ich durchstrichen,
in Gottes Willen aufgenommen und dadurch zugleich erhöht wird.
Ich erinnere mich an einen Wandspruch in meinem Zimmer in Adel-
boden. Er enthielt die beiden Worte »Ich« und »Er« Das Ich war
durchstrichen. Der Gedanke gefällt mir; aber die Form seines Aus-
drucks erregt mir ästhetisches Unbehagen.
Es ist ganz still um mich geworden. Indem ich mich von
selbst der Stille um mich überlasse, fühle ich mich tief innerlich be-
ruhigt. Ich fühle, daß es zum Frieden gehört, sich selbst zu ver-
gessen und in etwas anderem aufzugehen. Ich möchte nichts für
mich mehr wünschen, keine Auszeichnung, keinen Titel und der-
gleichen Nichtigkeiten. Dadurch stellen wir das Ich in den Mittel-
punkt und werden ruhelos. Ruhe gibt es nur für den, der selbst-
los wird und sich hingibt an etwas Objektives. Die Menschen ver-
derben sich das Leben, indem sie sich vom Strom des Lebens iso-
lieren, statt sich in ihn hineinzuwerfen, d. h. in Gott und seinen Willen.
8 I. Abhandlungen,
Ich sehe, weshalb in keinem Andern das Heil ist. Es hat wohl
nur sehr wenige ganz Selbst-lose gegeben. Schleiermachers Rede
von den Religiösen, diekeinen Mittler brauchen, geht mir durch den
Sinn. Ich halte sie für unrichtig. Ich brauche einen Mittler, andere
ganz gewiß auch.
Fernes Wetterleuchten hinter den Häusern, die meinen Garten
umgeben. Ich freue mich des Lichtscheins und fühle zugleich etwas
Erhabenes, Ehrfurchtgebietendes im Blitzen. Das Heil »labt und
schreckt« zugleich. Ich wundere mich, daß mir gerade die Worte
»labt« und »schreckt« einfallen.
»Labt und schreckt«. So war es in den großen Zeiten, in denen
die Menschen sich selbst vergaBen, 1813. 1870. Kindheitserinnerun-
gen tauchen auf an 1870. Das Große war doch, daß die Menschen
sich selbst damals über den großen Ereignissen vergessen konnten.
Hodlers machtvolles Bild der Erhebung von 1813 aus der Uni-
versität Jena tritt in greifbarer Lebendigkeit vor mein inneres Auge.
Die Studenten marschieren, bewegen sich. Das ist der Marsch der
Selbstlosigkeit.
Bei allen diesen Stimmungen und inneren Anschauungen fühle
ich deutlich, daß hier etwas von dem erscheint, was in Jesus ver-
körpert ist.
Es ist dunkel um mich. Von den nächsten Gartenbäumen sehe
ich nur die Stämme, die Kronen verlieren sich im Dunkel. So geht
es mit. dem »Wohin ?« und »Wozu ?«
Ich sage mir: das alles kannst du predigen. Da mußt du aber
deine Eindrücke festhalten. Also hinauf in das Haus, damit du sie
zu Papier bringst.
Ein Licht im Nachbarhaus, das durch ein geöffnetes Fenster fiel,
hatte fast wie ein Stern ausgesehen. Nun wurde es ausgeblasen.
Es durchschauert mich, daß wir Lichter für Sterne halten können,
und der Gedanke: »es ist in keinem Andern Heil« berührt mich leb-
haft. Jesus ist ein Stern, kein verlöschendes Licht.
Im Hause gehe ich an einem Tischchen vorbei, auf den eines
meiner Kinder Salzmanns »Krebsbüchlein« gelegt hat. Wozu sind
viele Menschen auf der Welt? Nur um Krebsbüchlein zu schreiben!
Es ist spät geworden. Ich gehe daher zu Bett und schreibe lie-
gend nieder, was mich bewegt:
»Wozu ?!« (Wozu sind die Menschen auf der Welt?) Um Krebs-
büchlein zu schreiben! Vor Gegenbeispielen sehen wir kaum die paar
Beispiele des »Heils«.
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 9
Manche geben sich als Sterne — und sind Lichter, die ausgeblasen
werden.
Ist nicht auch unser Leben eine Sammlung von Gegenbeispielen ?
Wozu sind die Menschen auf der Welt? Wenn sie mit Sätzen antworten,
die sich um das Wort »Ich« drehen, sind sie auf dem Irrweg. Das »Ich«
stört Glück und Vollkommenheit. Man kann auch nicht sagen: wir sind
auf der Welt, um andere glücklich oder vollkommen zu machen. Denn
es ist möglich, daß wir sie zu Leuten machen, die ihrerseits »Ich« sagen.
Das Ich verschwebt im großen Ruhegefühl. Das Heil beginnt, wo
ich nicht an »mich« denke und wo mein Ich nicht der Mittelpunkt der
Welt ist, um den sich alles drehen soll.
Das Ich darf nicht isoliert, nicht losgelöst werden. Es muß in den
Strom des Gotteswillens hinein. Gottes Ackerwerk muß geschehen.
Davon haben wir 1813, 1870 etwas erlebt. Hodlers Bild in Jena
predigt das. l
Das »Wozu ?« leuchtet wie ein Blitz immer wieder auf, oft erscheint
es plötzlich. Es soll aufhellen, nicht schrecken. Wir fürchten halb, halb
wünschen wir unser Ziel!
Jesus hat auf die Frage »Wozu ?« im Vaterunser EE Dein
Name! Dein Reich! Dein Wille!
Dieser Jesus ist Mittler. Manchmal Freund (Kamerad), manchmal
Offizier, der uns mit fortreißt.
Nicht jeder sieht das Ende und Ziel. So sehen wir vom Baum in der
Nacht nur den Stamm, aber er bürgt dafür, daß auch die Krone da ist.
Wozu?! Wir sind zu etwas sehr Großem bestimmt. Wir sind ahnungs-
lose Königskinder. Wie das auf uns wirkt, wenn wir unser Geschlecht
und unsre Zugehörigkeit zu Gott entdecken! Unsre Bestimmung weist
uns über uns hinaus: das natürliche Ich wird aufgehoben (negiert), das
wahre Ich wird aufgehoben (bewahrt), um in anderem Sinn aufgehoben
(erhöht) zu werden.«
3. Mittwoch. An diesem Tag gehen mir nur die Gedanken
von gestern durch den Sinn, ohne jedoch an Kraft und Anschaulich-
keit zu gewinnen. Ich habe viel in der Schule zu tun. Es beschäftigt
mich mehrmals der Gedanke, daß wir nur dann richtig an unserer
Persönlichkeit arbeiten, wenn wir uns selbst vergessen über der Ar-
beit, die wir zu tun haben.
Am Abend ist »Besprechungsabend«, den Rittelmeyer leitet.
Es wird ausführlich die Frage behandelt, wie wir zu richtiger Selbst-
erkenntnis kommen und uns vor innerer Unwahrhaftigkeit bewah-
ren können. Es freut mich, daß von mehreren Anwesenden die
Beschäftigung mit unserem Ich für gefährlich angesehen wird. Die
Arbeit sei der Spiegel, in dem wir uns selbst sehen können. Ich
stimme dem lebhaft zu und gebrauche das Bild von dem Kinde,
10 I. Abhandlungen.
das ein Pflänzchen eingesetzt hat und das Wachstum unmöglich macht,
weil es immer wieder nachgräbt und sehen will, ob es denn richtig
eingewurzelt sei.
4. Donnerstag. Da ich eben eine Aufforderung erhalte,
für das Archiv für Religionspsychologie einen Beitrag zu liefern,
benutze ich die wenigen freien Stunden dieses Tages, um das Vor-
stehende, solange es noch ganz frisch und zuverlässig in meiner Er-
innerung lebt, niederzuschreiben. Ich wundere mich darüber, daß
die Reflexion über das vorgestern und gestern innerlich Erlebte die
Freude an der Predigtarbeit nicht stört. Es ist eben etwas Abge-
schlossenes und wird durch die Aufzeichnung nicht verändert. Wasich
zu sagen habe, steht ziemlich deutlich vor meinem Geiste. Ich be-
daure, heute Abend verhindert zu sein, einige Gedanken gleich red-
nerisch auszuführen. Ich freue mich auf den Sonntag und hoffe, es wird
bei der Predigt »etwas herauskommen« für den Fragesteller, an den
ich immer denke, für andere und für mich selbst.
Am Abend zwischen 6 und 7 Uhr finde ich noch Zeit, die Ein-
leitung der Predigt ausführlicher zu skizzieren (bis zu den Worten:
»einen Anstoß sollte geben können.).
5. Freitag. An diesem Tage war ich wie an den vorange-
gangenen Tagen viel in der Schule beschäftigt, weil eben Visitation
war. Am späten Abend läßt mir meine Predigt keine Ruhe mehr.
Ich schreibe sie in lebhafter Erregung in etwas mehr als zwei Stun-
den (834—11 Uhr) nieder, genau so, wie sie hier abgedruckt wird.
Eine ganz kurze Hemmung trat nur ein zwischen den Worten » Jesus
Christus« und dem Anfang des neuen Abschnittes »Als ich unlängst
in stiller Nacht«. Zwischen 714 und 8 Uhr hatte ich auf einem kurzen
Spaziergang die Burg sich wundervoll vom goldgelben Abendhimmel
abheben sehen.
6. Samstag Vormittag. Ich lese die gestern Abend
geschriebene Predigt durch. Ich kann durchaus nicht sagen, daß ich
mit ihr zufrieden bin. ‘Ich mache die Beobachtung, daß ich zum
langsamen Lesen gerade 20 Miunten gebraucht habe. Würde ich sie
halten, wie ich sie geschrieben habe, dann würde sie auch zu kurz
ausfallen. Sie noch einmal zu schreiben, kann ich mich indes nicht
entschließen, weil ich die innere Erregung von gestern sicher nicht
mehr erreichen würde, aber ich hoffe bei dem mündlichen Vortrag
praktischer, verständlicher und packender das herauszubringen,
was ich sagen will. Ganz im Stillen tröste ich mich damit, daß schon
oft die Predigten etwas ausrichteten, die mir nicht gefielen, und daß
umgekehrt solche, an denen ich mich am meisten gefreut habe, ohne
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. II
Echo aus der Gemeinde geblieben waren. Ich wende mich einer ganz
anderen Arbeit zu und schreibe einige Erinnerungen an den Historiker
Hegel, dessen Ioo. Geburtstag heute ist, nieder, um die ich gebeten
worden bin. Ich habe das deutliche Gefühl, daß zunächst ein ge-
wisser Abstand zwischen mir und meiner Predigt eintreten muß,
ehe sie ganz mein Eigentum werden kann. So etwa muß es einem
Maler zumute sein, der ein Bild fertig vor sich sieht und darüber
erschrickt, daß er nur einen Teil von dem, was er innerlich gesehen
hat, auf die Leinwand hat bringen können.
7. Samstag Abend. Vor dem Zubettegehen lese ich die
Predigt noch zweimal durch und vergegenwärtige mir dadurch ihren
Gedankengang. Ein eigentliches Memorieren ist, wie mir das bei
Predigten, die ich in einem Zuge niedergeschrieben habe, öfter be-
gegnet, nicht notwendig. — Ich schreibe eine Postkarte an einen be-
freundeten Kaufmann, der meistens meine Predigten nachsteno-
graphiert, ich wäre ihm dankbar, wenn er ein en genaues
Stenogramm aufnehmen könnte.
8. Sonntag Vormittag. Zwischen acht und neun Uhr
überdenke ich noch einmal die Predigt. Ich gehe im Garten auf und
ab, das Konzept in der Hand. An einigen Stellen werde ich bei der
mündlichen Ausführung wahrscheinlich etwas einschalten. Ich
schreibe mir die oben als Anmerkungen wiedergegebenen No-
tizen mit Bleistift in das Konzept ein!). Einige Stellen spreche ich
unwillkürlich laut aus. Gegen 410 Uhr begebe ich mich in die
Sakristei. Während des Gesangs des Eingangsliedes vergegenwär-
tige ich mir zum letztenmal ganz kurz den Gang der ganzen Predigt.
Die Predigt.
Apostelgeschichte 4, 1—12.
A.Konzept. B. Stenogramm.
Die Frage: »Wozu ist| Liebe Gemeinde! Die Frage: »Wozu ist der
der Mensch auf der Welt ?«| Mensch auf der Welt?« die ich für diese
will ich heute zu beant- | Predigt angekündigt habe, wird eigentlich von
worten suchen. einem jeden Menschen beantwortet, er mag
Die Antworten, die uns|es wissen oder nicht, denn nicht so sehr die
die Menschen unsrer Um- | Worte, die als Antwort ausgesprochen werden,
gebung nicht mit Worten, | als vielmehr das Leben, das ein jeder Mensch
sondern mit der Tat auf führt, ist eine Antwort auf die Frage »Wozu ist
die Frage geben, sind oft | der Mensch auf der Welt?« Freilich, wenn wir
1) Diese Anmerkungen sind in Klammern in den Druck A eingefügt.
12
recht unbefriedigend. Wir
haben den peinlichen Ein-
druck, daß viele Menschen
nur zu leben scheinen, um
zu zeigen, wie man es nicht
machen darf. In der päda-
gogischen Literatur gibt es
ein außerordentlich reiz-
voll geschriebenes Büch-
lein, das für wenige Pfen-
nige in jeder Buchhand-
lung zu haben ist. Ich
meine das von Salzmann
verfaßte »Krebsbüchlein«.
Sein Verfasser hat sich die
Menschen genau daraufhin
angesehen, wie sie ihre Kin-
der erziehen, und gefunden,
daß sie uns vortrefflich
zeigen — wie manes nicht
machen soll. Manche ver-
stehen es ausgezeichnet,
ihre Kinder zur Unwahr-
haftigkeit, zur Mißachtung
von Natur und Menschen
und zu zahllosen anderen
Untugenden zu erziehen.
Sie liefern uns nicht Bei-
spiele, wie man es machen
soll, sondern nur Gegen-
beispiele, wie man es nicht
machen darf. Ganz ähn-
lich geht es mir, wenn ich
aus dem Leben der Men-
schen um uns her etwa
die Antwort entnehmen
sollte auf unsere Frage:
Wozu ist der Mensch auf
der Welt?
Ich habe den Eindruck,
daß uns viel öfter gezeigt
wird, wozu der Mensch
I. Abhandlungen.
uns diese lebendigen Antworten anschauen,
die auf die Frage gegeben werden, wozu wir
denn eigentlich da sind, dann begegnet uns
mancher etwas peinliche Eindruck; denn wenn
wir so die Menschen unserer Umgebung be-
trachten, wie sie leben, können wir uns der
Wahrnehmung nicht erwehren, als ob uns eigent-
lich sehr viele’ Menschen weniger zeigen, wie
man leben soll, als daß sie uns vielmehr kund-
tun, wie man nicht leben soll. Sie geben uns
nicht Beispiele des Lebens, sondern Gegenbei-
spiele. In der pädagogischen Literatur gibt
es ein außerordentlich reizvoll geschriebenes
Büchlein, das in jeder Buchhandlung für wenige
Pfennige zu haben ist, das ist das Krebsbüch-
lein von Salzmann. Der Verfasser hat sich
die Leute in seiner Umgebung genau darauf-
hin angesehen, wie sie ihre Kinder erziehen, und.
gefunden, daß die Leute es ganz vortrefflich
machen, wenn man nämlich die Kinder zu
allerlei Untugenden, zu Lügenhaftigkeit, zur
Unmäßigkeit usw. erziehen will. Also der hat
gesagt: Seht nur einmal die Menschen an,
wie sie ihre Kinder wirklich erziehen, da könnt
ihr sehr viel lernen, nur nicht, wie man es
machen soll, sondern wie man es nicht
machen darf. Und so geht es uns auch,
wenn wir die Menschen unserer Umgebung be-
trachten: wie antworten sie auf die Frage
»Wozu ist der Mensch auf der Welt ?«
Wir haben die Meinung, daß die Menschen
gerade dazu nicht auf der Welt sind, wozu die
meisten anzunehmen scheinen, auf dieser Welt
nicht auf der Welt ist, als ! zu sein. Da haben wir noch gar nicht von denen
wozu er da ist. Dabei will | geredet, die in die größte Verlegenheit kommen,
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung.
13
ich noch gar nicht davon |wenn man die Frage wirklich an sie stellt:
reden, daB manche Men-
schen in große Verlegens
heit kämen, wenn sie plötz-
lich sagen sollten, wozu sie
eigentlich selbst dazusein
glauben. Sie wissen es
nicht, sondern leben eben
so darauf los, wie sie es von
andern auch sehen. Ich
rechne auf eure allgemeine
Zustimmung, wenn ich sa-
ge: So geht es unmöglich.
Werblindlings durch den
Wald geht, und in jeden
Weg einbiegt, der ihm be-
treten und darum gang-
bar erscheint, muß sich
notwendig verirren. Ja
er wird irgendwohin kom-
men, aber zuletzt beken-
nen: ich Tor, warum bin
ichso blindlings zugeschrit-
ten. Nun finde ich mich
an einem Ort, an den ich
doch gar nicht kommen
wollte. Es ist aber unend-
lich traurig, wenn ein
Mensch, wohl gar zu spat,
vielleicht erst am Rand
des Grabes zu der Erkennt-
nis kommt, daB sein Leben
ein sinnloses, weil zielloses
Wandern gewesen ist.
Ihr meint, das kommt
nicht vor? O, das begeg-
net uns öfter, als man
glauben sollte. Es ist da-
rum gewiß gut, wenn wir
heute darüber nachdenken,
wozu wir da sind. Selbst
wenn ihr mit der Antwort,
die ich geben kann, gar
nicht einverstanden wäret,
er En a nn nn
»Weißt du, wozu du auf der Welt bist?« und
die antworten: »Darüber habe ich wirklich noch
nicht nachgedacht. Ich lebe eben so darauf zu,
so wie meine Vorfahren gelebt haben; und wie
die andern Leute leben, so lebe eben auch ich
darauf zu; es ist mir noch gar nicht in den
Sinn gekommen, mich selbst zu fragen, wozu
ich auf der Welt bin, ich habe diese Frage
überhaupt ganz undgar für unnötig, fürdurchaus
überflüssig angesehen.« Aber, liebe Freunde,
sagt es doch selbst, ob es auf diese Art gehen
kann, daß man einfach so darauf loslebt!
Es kann sein, daß jemand durch den Wald
gehen will und weiß nicht recht, welchen Weger
einschlagen muß; aber seht, da betritt er den
einen Weg, dann mündet dort einer herein, der
scheint auch ganz gut zu gehen zu sein, er führt
durch schattige Partien, dann biegt ein neuer
Weg herein. Wenn er so weiter geht, muß
einmal der Augenblick kommen, wo er sich
sagt: Ich Tor, wo bin ich hingekommen, woran
habe ich gedacht, was habe ich eigentlich ge-
wollt; ich bin durch den Wald gegangen und
jetzt bin ich an einem Ort, von dem ich nichts
wußte und an den ich nicht dachte. Das, liebe
Freunde, kommt dabei heraus, wenn die Men-
schen so recht darauf losleben und fragen nicht
nach Bestimmung und Ziel ihres Lebens. Irgend
einmal finden sie sich an einem Punkt, irgend
einmal, vielleicht am Rande des Grabes, kommt
es ihnen zum Bewußtsein: Mein ganzes Leben
ist ja töricht, unvernünftig, sinnlos gewesen,
es war ein Wandern ohne Zweck und Ziel. —
Vielleicht meint der eine oder andere unter
euch: So schlimm kann es nicht sein, irgend
etwas will jeder Mensch, irgend etwas leitet ihn
doch. Aber ich versichere euch, es gibt außer-
ordentlich viel Menschen, die wirklich gar keinen
Sinn in ihr Leben hineinbringen, die wirklich
einfach sinnlos, vernunftlos, planlos, ziellos da-
rauflos leben. Und wenn wir auch nach unserer
Ueberzeugung weit von dieser Art zu leben ent-
fernt sind, ist es für keinen unter uns über-
14
hätte ich vielleicht doch
nicht ganz umsonst gepre-
digt. Denn wenn ihr eine
bessere findet, als ich sie
geben kann, dann werdet
ihr mich jedenfalls nicht
schelten wollen, wenn ich
euch wenigstens zum Su-
chen und Selber-Entdek-
ken einen Anstoß sollte
gegeben haben.
Ich kann und will euch
natürlich nicht verschwei-
gen, daß die Frage schon
oft gestellt und beantwor-
tet wurde. Wir tun gut,
_ die schon vorliegenden Ant-
worten zunächst einmal
zu betrachten.
In der sogen. Aufklär-
ungszeit haben die meisten
Menschen gedacht, sie
seien recht eigentlich dazu
da, um glücklich zu sein.
Aber sagt doch selbst, ob
ihr euch getrauen würdet
vor allen denen, die als
Unglückliche in unserer
Erinnerung fortleben, zu
behaupten, daß sie die
Bestimmung ihres Lebens
oder religiös geredet ihr
»Heil« verfehlt haben.
Nein, das ist ja viel-
mehr gerade ein Zeichen
I. Abhandlungen.
flüssig, einmalüber die Frage gründlicher nach-
zudenken, wozu wir eigentlich auf der Welt
sind. Natürlich kann ich euch auf diese Frage
keine andere Antwort geben, als die, welche
ich mir auch allmählich angeeignet habe auf
Grund dessen, was ich bis jetzt erlebt habe.
Es kann sehr gut sein, daß der eine oder andere
unter euch ist, der mit meiner Antwort gar
nicht zufrieden ist. Ich grolle ihm ganz und
gar nicht und hoffe vielmehr, er wird mir nicht
zürnen, wenn er vielleicht eine bessere Ant-
wort geben kann auf die Frage, wozu der
Mensch auf der Welt ist, und er wird viel-
leicht auch diese Predigt nicht für ganz vergeb-
lich gehalten ansehen, wenn sie ihm nur wieder
{eine neue Anregung oder einen neuen Anstoß
gegeben hat, sich selbst darüber klar zu werden,
was das Ziel und was die Bestimmung seines
Lebens sein soll.
Davon kann ich natürlich nicht schweigen,
daß die Frage »Wozu ist der Mensch auf der
Welt ?« schon sehr oft gestellt und sehr oft be-
antwortet worden ist. Es ist recht nützlich,
wenn man dazwischen einmal diesen gegebenen,
sozusagen geprägten und gemünzten Antworten
einige Augenblicke Aufmerksamkeit schenkt.
In der Zeit der Aufklärung oder des Ratio-
nalismus hat man auf die Frage: Wozu ist der
Mensch auf der Welt?« am liebsten geantwor-
tet: Ach, wir sind auf der Welt, um glücklich
zu sein. Seht, so klingt es noch durch Beetho-
vens Fidelio hindurch: Wir werden glücklich
werden! Diese Antwort befriedigt euch nicht.
Wir wollen einmal die Probe darauf machen.
Sollten wir wirklich annehmen, daß all die
Menschen, die unglücklich gewesen sind, die
als unglücklich in unserer Erinnerung fort-
leben, sollten wir annehmen, daß all die Men-
schen, die jetzt leben und von denen wir
überzeugt sind, daß sie unglücklich sind, für
alle Zeiten ihre Bestimmung oder, religiös
ausgedrückt, ihr Heil versäumt haben sollten ?
überragender Größe, daß | Nein, eher das Gegenteil scheint wahr zu sein.
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 9
ein Mensch auf das, was|Ich habe den Eindruck sehr oft erhalten, als
man so schlechthin Glück |ob der Mensch dann erst richtig den Pfad des
nennt, verzichtet. Heils betreten habe, wenn er imstande ist, auf
das, was man so das äußere Glück nennt, zu
verzichten, wenn er fähig ist, dieses äußere
Glück willig auf den Opferaltar zu legen. —
Die Größe eines Mannes wie Bismarck ist
vielleicht manchem unter unserst indem Augen-
blick so recht sichtbar und greifbar geworden,
alser von seinem tief empfundenen Wort be-
rührt wurde, daß der Mensch nicht auf der
Welt sei, um glücklich zu sein, sondern um
seine Pflicht zu tun. Und seht, da berührt
sich Bismarck gerade mit der Meinung, die
dem glückshungrigen Jünger des Aufklärungs-
zeitalters von dem großen Königsberger Philo-
sophen entgegengehalten worden ist, der auch
meinte, wir seien durchaus nicht auf der Welt,
um glücklich zu sein, sondern um vollkommen
zu werden. — |
“ Die Lebenshöhe, die ein
Mann wie Bismarck ein-
genommen hat, ist wohl
manchem unter uns erst
zum Bewußtsein gekom-
men, als wir sein tapferes
Wort hörten, der Mensch
sei nicht auf der Welt, um
glücklich zu sein, sondern
um seine Plicht zu tun.
Wir fühlen da stark den
inneren Zusammenklang
seines Geistes mit dem
des großen Königsbergers
Immanuel Kant, der sei-
nen glückshungrigen Zeit-
genossen zurief, nicht
glücklich solle der Mensch
sein, sondern vollkom-
men.
Das ist eine Wahrheit,
die wir heute oft genvg
in die Worte gekleidet an-
tıeffen, der Mensch sei da-
Diese Antwort ist uns nur in einer etwas
anderen Form in der Gegenwart recht ge-
läufig. Wir geben vielleicht am häufigsten auf
die Frage »wozu ist der Mensch auf der Welt ?«
zu da, ein wirklicher die Antwort: Ja er ist auf der Welt, um wirk-
Mensch zu sein oder, wie, lich Mensch zu sein, er ist auf der Welt, um
man ja wohl auch sagt, eine Persönlichkeit zu sein — und wir geben
eine Persönlichkeit. Diese | diese Antwort umsomehr, oder wir geben diese
Rede mögen wir uns um | Antwort um so lieber, weil wir einen ganz
so freudiger aneignen, weil! sicheren Instinkt dafür haben, daß wir eben,
wir deutlich genug sehen, |indem wir nichts anderes sein wollen, als eine
daß wir eben damit auf | Persönlichkeit oder ein wirklicher Mensch,
den Weg zum höchsten |ja gerade wieder den Weg zum Glück oder
Glücke treten, also auf zum Heil betreten, auf den wir vorher so groß-
eben den Weg, den wir | mütig oder so heroisch schienen Verzicht ge-
vorher so heroisch schie- |leistet zu haben. In der Tat, es ist etwas
nen verlassen zu haben. | durchaus Wahres daran, daß der Mensch sich
Es ist ja wirklich so, daß i immer selbst um sein Glück betrügt, wenn
a mm m un rn
RS
16
das Glück oder das Gefühl
tiefer innerer Befriedigung
gerade den flieht, der es
zu erhaschen sucht, und
dafür in dessen Fenster
hereinguckt, der zunächst
gar nicht nach ihm ge-
fragt hat.
Allein ich nehme an, daß
wir so weit seien, nicht
glücklich, sondern voll-
kommen sein zu wollen
oder, was auf das näm-
liche hinauskommt, daß
wir nicht das äußere Glück
sondern die tiefinnerliche
Befriedigung unsres We-
sens ersehnen, wenn das
auch nicht immer, sondern
nur in den ernsteren und
erhabeneren Stunden un-
seres Lebens uns zu Be-
wußtsein kommt.
Bestimmung im Reinen?
Ich denke an einen Men-
schen, der das Glück durch-
aus nicht auf den viel
begangenen Wegen suchte,
sondern das wagte, wozu
ich
Mut zu machen suchte,
nämlich anders zu sein
als die große Menge. Und
eben dieser edle Mensch
klagte zugleich, daß sich
nun doch das Gefühl in-
Befriedigung und
Beruhigungnichteinstellen
wolle. Wer kann aber solch
nerer
ein Ergehen mit ansehen,
ohne zu fragen: ja wozu
ich denn auf das
soll
Sind
wir denn nun damit end-
gültig mit uns und unsrer
so manchmal euch
I. Abhandlungen.
er es um jeden Preis haben will, da das Gliick
gerade den flieht, der ihm nachjagt.
Also, liebe Freunde, so scheint es zu
stehen, daß wir doch eigentlich eine runde,
klare, einfache Antwort geben können auf die
Frage: »Wozu ist der Mensch auf der Erde ?«
Er ist dazu da, um ein richtiger Mensch zu
sein, er ist dazu da, um an seiner Voll-
kommenheit zu arbeiten, er ist dazu da, um
eine rechte Persönlichkeit zu werden, und
dabei wird er die Erfahrung machen, daß sich
sein Glück ganz von selbst einstellt. Ja liebe
Freunde, wenn es nur wirklich so wäre! Aber
es kann auch ganz anders sein.
Ich weiß von einem Menschen, der sich,
angeregt durch unsere Predigten, auf allerlei
Weise mit sich selbst beschäftigt hat und hat
gearbeitet an der Vertiefung seines Lebens.
Dieser Mensch hat Ernst gemacht, eine Auf-
gabe zu verwirklichen, die wir hier manchmal
ausgesprochen haben, indem wir etwa sagten:
Der Mensch muß anders sein als seine Um-
gebung, oder er muß wenigstens anders sein
'können. Er war wirklich anders als seine Um-
gebung: er hat sich ganz und gar Verzicht
auferlegt auf solche Dinge, die in seiner Um-
gebung gang und gäbe sind, er war in der
Tat anders als die Leute um ihn her. Er lebte
gediegener, innerlicher, und doch, das was er
nun als etwas ganz Selbstverständliches er-
wartet hatte, das Gefühl innerer Beruhigung
und tiefer Beseligung ist nicht gekommen, und
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung.
äußere Glück verzichten
und wozu soll ich anders
sein als die Menge, wenn
ich doch nichts davon
habe! Wozu?
Wozu? Ihr versteht es
vielleicht, wenn ich sage,
daß ich dieses »Wozu ?«
bis in die Seele hinein
gehört habe, daß es mich
verfolgt hat und michrecht
eigentlich genötigt hat,
heute über dieses einzige
Wörtchen zu predigen:
»Wozu ?« » Wozu ?«—
Es ist mir recht klar
und deutlich geworden,
daß in allen Antworten,
die wir auf die Frage:
»Wozu ist der Mensch auf
der Welt ?« gehört haben,
noch ein Fehler steckt.
Solange wir darauf ant-
worten, ich möchte voll-
kommen sein, ich möchte
eine Persönlichkeit sein,
ich möchte glücklich sein,
nehmen wir für uns eine
Stellung in der Welt ein,
17
da hat sich ihm nun die Frage aufgedrängt:
wozu plage ich mich denn, wozu verzichte ich
auf alles Mögliche, was die anderen Leute
ruhig genießen, wozu arbeite ich an mir selbst ?
Wozu, wozu, wenn eigentlich doch nichts
Richtiges dabei herauskommt, wenn ich ge-
rade auf diese Weise auch nicht glücklicher
werde, wenn ich auf diese Weise die tiefe
glückliche Befriedigung nicht finden kann,
jetzt weniger wie vorher. —
Seht, dieses »Wozu?« hat hineingehallt in
meine innerste Seele, dieses eine Wört-
chen hat mich verfolgt und nicht losgelassen,
und als ich mich im Anfang dieser Woche besin-
nen wollte, ja worüber willich nächsten Sonntag
zu meiner Gemeinde sprechen, wußte ich eines:
ich muß reden über dieses eine Wortlein:
Wozu? — wozu ist der Mensch auf der
Welt ?
Denn es kam mir jetzt ganz deutlich zum
BewuBtsein, daB all diese Antworten, die wir
gehört haben: der Mehsch ist auf der Welt um
glücklich zu sein, oder der Mensch ist auf der
Welt um seine Pflicht zu tun, oder der Mensch
ist auf der Welt, um vollkommen zu sein, um
eine Persönlichkeit zu sein, alle miteinander
noch Fehler haben müssen, denn hier ist ein
Mensch, der hat wirklich alles versucht, der
hat sich die größte Mühe gegeben, und sagt
‚nun: ja auf diese Weise bin ich doch nicht
zum Frieden und zu innerer Beruhigung ge-
kommen. Wo steckt da der Fehler? Ich’glaube
diesen Fehler ganz deutlich zu spüren: Wir
kommen unter gar keinen Umständen an das
Ziel unserer Bestimmung, solange wir auf die
Frage »Wozu ist der Mensch auf der Erde ?«
eine Antwort geben, in der das Wörtlein »ich«
vorkommt. Solange wir sagen: ich möchte
glücklich sein, ich möchte vollkommen sein,
ich möchte Mensch werden, ic h möchte eine
Persönlichkeit werden, versündigen wir uns
gegen die ewige Gesetzgebung Gottes. In
dem Augenblick, wo ich in meine Ant-
Archiv für Religionspsychologie II/III. 2
18
die uns nicht zukommt,
die wider das göttliche
Naturgesetz des Lebens
und wider die Ordnung des
Heils ist. Wir stellen näm-
lich dabei unsere eigene
Person oder, was aus ihr
werden soll, unsere eigene
Persönlichkeit in den Mit-
telpunkt der Welt. Und
dasrächt sich. Der Fehler
liegt einzig und allein an
dem Wörtlein »Ich«. Dieses
Ich hindert gerade das, was
wir begehren, gleichviel ob
der Gegenstand unsres Ver-
langens Glück oder Voll-
I. Abhandlungen. =
wort das Wörtlein sichs aufnehme, verstoBe
ich gegen die ewige Ordnung Gottes; denn der
hat die Welt so eingerichtet, daß nicht wir mit
unserem Wörtlein »ich« den Mittelpunkt bilden
können. Und in dem Augenblick, wo wir es
doch versuchen, wo wir meinen, wir sind
dazu da, daß wir glücklich werden, daß wir
vollkommen werden, daß wir rechte Menschen
oder rechte Persönlichkeiten werden, in dem
Augenblick machen wir die Erfahrung, daß es
so nicht geht. Denn die ewige Gesetzgebung
richtet sich nicht nach unseren Wünschen,
sondern wir müssen uns mit unseren Wünschen
einrichten nach den ewigen Ordnungen unseres
Gottes. Da ist mir etwas ganz klar und deut-
lich geworden: nur dann werden wir zu innerer
Befriedigung kommen, nur dann wird uns
kommenheit genannt wird. |das ersehnte Heil aufleuchten, wenn wir es
Und damit tritt eine ganz
neue, uns zunächst wahr-
scheinlich sehr befrem-
dende Aufgabe an uns her-
an, dieses Wörtlein »Ich«
auszustreichen.
Laßt mich davon recht
anschaulich und praktisch
reden. Denn das fühlen
wir wohl alle, mit Theorien
ıst hier nichts zu erreichen,
sondern nur mit wirklichen
Erfahrungen und Versu-
chen.
Da erinnere ich mich
etwa an die Zeit des gro-
Ben Krieges. Wie merk-
würdig waren doch da-
mals die Menschen in
wagen, Ernst zu machen mit der Austilgung
oder mit der Ausstreichung dieses unserem
Glück und unserer Vollkommenheit im Wege
stehenden Wörtleins »ich«. Und so gebe ich
eine ganz neue Antwort auf die Frage: wozu
ist der Mensch auf der Welt? Ich gebe die
Antwort: wir sind zweifellos nur dazu auf
der Welt, daß wir unser Ich durchstreichen,
daß wir unser Selbst zurückdämmen, daß wir
von unserem Ich loskommen, daß wir selbst-
los werden und in letztem Grunde uns hin-
geben können in den Willen unseres Gottes.
Doch ich habe sehr stark den Eindruck, daß
ich mit dieser meiner Antwort: wir sind auf der
Welt um selbstlos zu werden, um unser Ich
auszustreichen, euch etwas viel zugemutet habe.
Ich fühle selbst ganz deutlich, daß ich von die-
sen Dingen ganz anschaulich und ganz einfach
und ganz praktisch reden muß, denn in Wirk-
lichkeit sind das auch ganz einfache und ganz
anschauliche und ganz praktische Dinge.
Seht, dadenke ich etwa an eine solch große
Zeit wie die des Krieges im Jahre 1870. Diesen
Krieg erlebte ich mit als Kind in einem Dorf.
Nun, viele unter euch wissen es ja, wie es in
einem Dorfe zugeht. Wenn man von einem
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung.
19
unserem Dorf. Vorher wa-|schönen Hügel hinabsieht in solch ein fried-
ren sie hingenommen ge-,
wesen von den kleinen
Dingen, die sie zu treiben
hatten und es gab wie
überall so auch da Feind-
schaften zwischen Nach-
barn, Parteiungen in der
Gemeinde, Unzufrieden-
heit und Klatscherei (enger
Horizont!).
Als aber hier ein Sohn
und dort ein Bruder und
aus einem dritten Haus so-
gar der jung verheiratete
Mann ins Feld gezogen war,
kam über alle Menschen ein
größerer Zug, es kam ein
edlerer Stil ins Leben und
man fühlte einen höheren
Schwung (Schuhmacher!).
Damals habe ich es als
Kind für mein ganzes Le-
ben gelernt, was es doch
bedeutet, wenn ein Mensch
nicht mehr an sich denkt,
sondern an andere, und
nicht nur an sein Wohl
und Wehe, sondern an das
liches Dorf, da meint man, da müßte lauter
Glück und Wohlergehen sein, aber wenn wir
darin wohnen, merkt man, es ist ganz anders.
Seht; diese Leute in einem solchen Dorf sind
beschäftigt mit kleinen Anliegen. Sie haben
einen engen Horizont und in diesem engen
Horizont verengen und verkleinern sich auch
die Menschen sehr leicht. In unserem Dorf
war es nicht schlechter als in irgend einem
anderen. Aber es war ganz selbstverständ-
lich, daß die Menschen kleinlich waren, daß
jeder nur auf seinen Nutzen und seinen Vor-
teil aus war, daß die Nachbarn sich nicht
recht miteinander vertrugen, daß es allerlei
Klatsch gab und Parteistreitigkeiten in solch
einem Dorfe. Ja das ist nun eben einmal so
— und seht, in dieses enge und kleinliche
Leben hinein platzt nun auf einmal die Nach-
richt: Es gibt Krieg mit Frankreich!
Es dauerte gar nicht lange, da hieß es:
Da muß der Sohn mit ins Feld ziehen und
dort müssen die Brüder mit ins Feld und
dort muß gar ein junger eben verheirateter
Mann auch ins Feld rücken. Da geschah
nun etwas Merkwiirdiges in diesem Au-
genblick: da änderten sich auf einmal unsere
einfachen Bauern, es kam etwas wie innerliche
Verklärung über sie, es kam ein Stil in dieses
kleinliche Leben hinein, ein großer Zug, etwas
wie heroischer Schwung.
Ich war damals ein. Kind und doch ist
mir das ewig unvergeBlich, wie diese einfachen
Worte, daß es Krieg gibt, daß das Vaterland
in Gefahr ist, diese Menschen durch und durch
veränderten. Leute, die Jahrzehnte miteinander
verfeindet waren, schlossen jetzt ganz selbst-
verständlich Frieden. Da war auf einmal ein
Schwung und ein Zug in den Menschen; diese
Schicksal des Vaterlandes. Menschen waren jetzt einmal genötigt, sich
Daß wir uns an eine gro- | selbst und ihre kleinen Dinge zu vergessen,
Be Sache hingeben, so ihr Blick war mit Gewalt gerichtet auf eine
hingeben, daß wir uns dar- große gemeinschaftliche Begebenheit, auf das
über selber vergessen, das: Vaterland, und dadurch wurden sie auf ein-
2*
20
I, Abhandlungen.
macht uns erst zu et-|mal groß. Ja das ist so, liebe Freunde, Men-
was.
Wenn in der Gegenwart
so viel die Rede ist von
dem großen Befreiungs-
kampf vorhundert Jahren,
dann tritt manchmal ein
Bild vor meine Seele, das
ich, zuerst etwas kopf-
schüttelnd, im Universi-
tätsgebäude von Jena ge-
sehen habe.
zer Maler Hodler hat den
Aufbruch der Studenten,
die ins Feld rücken, dar-
gestellt. Wie diese jungen
Menschen marschieren! Die
haben ihr Herz in der Frem-
de und Ferne, da wo die
groBen Schlachten sollen
schen werden erst andere Menschen, wenn sie
einmal nicht ansich denken, sondern von sich
selbst loskommen, wenn sie selbstlos werden
und imstande sind, etwas zu wagen und hin-
zugeben, was in der Tat auch viel größer und
wichtiger ist als das eigene Ich. Ach da denke
ich an eine Familie, da mußte der Mann mit
in den Krieg; er war Schuhmacher, seine junge
Frau blieb daheim, führte das Geschäft
weiter mit dem Lehrling, so gut es eben ging.
Ach die Leute waren nachsichtig, haben eben
einmal ein wenig schlechtere Arbeit mitge-
nommen. Diese Frau habe ich manchmal
aufgesucht. Diese Frau hat einen heroischen
Zug gehabt, so einfach und schlicht und un-
bedeutend sie war. Wenn man sie fragte:
»Haben Sie Nachricht von Ihrem Mann ?« war
sie getrost und sagte: »Da kann man nicht viel
Federlesens machen in so einer Zeit; heutzu-
tage gehören die Männer hinaus in den Krieg.«
Denkt euch, was das bedeutete, wenn der
Mensch einmal dazu käme, seinen Blick ab-
zulenken von sich selbst, dann erst hat er den
ersten Schritt getan auf dem Wege zu seiner
Größe und zu seiner Bestimmung.
Was bedeutet es denn, daß wir jetzt die
Erinnerung feiern an das Jahr 1813? Das
mag eine groBe Bedeutung für uns haben, wenn
wir uns einmal beriihren lassen von diesem
Geist der Selbstlosigkeit, wo die Menschen
nicht mehr fragten, ob sie ein wenig mehr
oder weniger besäßen, ob sie ein wenig ge-
siinder seien oder kranker, oder ob sie ein wenig
länger oder kürzer lebten; all diese ego-
Der Schwei- |istischen Fragen traten zurück, alles war nur
Herz und Sinn fürs Vaterland. Wenn ich das
Jahr 1813 nennen höre, dann tritt ganz von
selbst vor meine Seele hin ein Bild, das ich
gesehen habe, ein Bild, das ich zuerst, wie
ich gestehen muß, etwas kopfschüttelnd be-
trachtet habe, das wunderbare Bild, das der
Schweizer Maler Hodler für die Universität in
Jena gemalt hat. Hier wird dargestellt, wie
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung.
geschlagen werden.
denkt keiner an sich, son-
dern nuran Schmach und
Befreiung des Vaterlandes,
und indem sie das Ich aus-
schalten und nur mehr Ge-
danke und Liebe zum
Vaterland sind, werden sie
groß und bewunderungs-
würdig. Wer sein Leben
verliert, hat Jesus gesagt,
der gewinnt es!
Ja, sagt jemand, in so
großen Zeiten, da wird
wohl der Mensch leicht
auch groß. Aber was hilft
die Erinnerung und Phan-
tasie ?
Nun ıch meine schon
21
Da | Jenenser Studenten ausziehen zum Krieg. Im
Vordergrund sehen wir noch mehrere mit
ihren Tornistern beschäftigt, andere mit ihren
Pferden; im Hintergrund etwas erhöht, auf
der Straße, da marschieren sie hin, Mann an
Mann, man spürt ganz die Bewegung. Das sind
lauter Leute, die sind selbstlos, ganz und gar
hingegeben einer großen Aufgabe, die über sie
gekommen ist. Diese Leute ziehen alle in eine
Ferne, in eine Ferne, wo die großen Schlachten:
gekämpft werden, und ihr Herz ist berührt
von einem einzigen Gedanken, der Schmach und
Befreiung des Vaterlandes. So ist es, liebe
Freunde; ich kann dieses Bild kaum ansehen,
ohne daß mir ein Wort Jesu dabei einfällt:
»Wer sein Leben verliert, der gewinnt es.« Das
heißt: Wer von seinem Ich loskommt, wer
selbstlos wird und gibt sich ganz und gar Gott
hin, der ist unterwegs zu seiner Bestimmung
undaus dem allein kann etwas Rechtes werden.
Nun liegt freilich ein Einwand nahe. Es sagt
jemand: „Du kannst wohl recht haben, im
Jahre 1870/71 da ging ein großer Zug durch
das Leben hindurch; im Jahre 1813 ist das
vielleicht noch viel mehr der Fall gewesen,
aber wir leben eben nicht in solch einer
großen Zeit; das kann wohl sein, daß eine
solch große Zeit große Persönlichkeiten her-
vorbringt, aber wir müssen uns eben behelfen
und müssen nun auf diesen Stil des Lebens
und Schwung des Lebens verzichten.« Dem
‚kann ich nicht zustimmen.
| Ich sehe das doch manchmal, wie ein Mensch |
|
i
manchmal gesehen zu ha-'sich hingibt der Aufgabe, die er als Wille der
ben, wie ein Mann, der | Vorsehung erkannt hat; ich sehe ihn sich hin-
sich selbst vergaß über geben der Aufgabe, die er als Befehl seines
seiner Aufgabe, und eine eigenen inneren Lebens vernommen hat; indem.
Mutter, die ganz Auf-|er sich hingibt, wird er groß. Ichsehe das nicht
opferung war für ihre nur bei Männern, ich sehe das heutzutage noch
Kinder, von innen her- | viel mehr bei Frauen. Habt ihr das nicht auch
‚schon erlebt? Was doch aus einer Frau wird,
wenn sie nichts anderes will, als, wiees Lange-
wiesche einmal ausgedrückt hat, »dem Mann
dienen und der Armut das Brot geben«, indem
aus verklärt wurde.
22
Ja schon darin, daß wir
unsbeim Anblick eines gro-
Ben Kunstwerkes oder bei
der Betrachtung eines
Stückes Natur, es sei der
goldene Abendhimmel oder
unsre aus den Morgen-
nebelnsicherhebendeBurg,
es sei ein stilles Waldtal
oder über unsrem Haupte
hinfliehende Gewitterwol-
ken, selbst betrachtend
ganz vergessen und mit
dem, was unsre Sinne
füllt, ganz eins machen,
deutet sich das große gött-
I. Abhandlungen.
sie ganz und gar Hingebung wird, Hingebung
an ihren Mann, und Hingebung vor allem an
die Kinder und Enkelkinder ? Nein, das sehen
wir, wenn wir nur ein Auge dafür haben,
rings um uns ‚her immer aufs neue, daß gerade
die Selbstlosigkeit, das Sich-selbst-vergessen-
können, die Menschen innerlich verklärt, daß
gerade das, daß wir von uns loskommen, der
Weg ist zu unserer Größe.
Ja ich möchte euch einmalbei dieser Gelegen-
heit aufmerksam machen auf eine Erfahrung,
die ihr jederzeit, jeden Tag, machen könnt,
wenn ihr hinausgeht in die Natur, wenn ihr
euch einmal dem Natureindruck ganz hingebt.
Wenn ihr etwa euch ganz und gar versetzt in
den Anblick des goldenen Abendhimmels, wenn
ihr etwa seht, wie sich wunderbar von diesem
goldenen Abendhimmel unsere Kaiserburg ab-
hebt, oder wenn ihr in die Stille des Waldes
eure Seele hineintragt, oder wenn ihr euch ganz
dem Eindruck überlaßt, den über euer Haupt
hinwegjagende Gewitterwolken hervorrufen.
Ueberall da, wo wir uns ganz und gar der Natur
hingeben und nicht mehr an uns denken, überall
da kommt über uns ein Gefühl der Liebe, der
liche Gesetz an, daß wir, Dankbarkeit und unter Umständen auch ein
etwas Rechtes nur werden, | Gefühl wie feierliche Stille und Erhabenheit;
wenn wir uns selbst ver-|ja das ist das Gesetz unseres Gottes, das ist
lieren.
Und nun öffnet sich uns
ein ganz neuer Blick für
die Größe Jesu. Daß er
sich ganz verzehrte im
Eifer für die Königsherr-
schaft Gottes, daß er sich
ganz vergaß über den ar-
men Brüdern und Schwe-
stern, denen er helfen muß-
seine Bestimmung, daß wir zur Ruhe, daß wir
zu unserem Frieden, zu unserem Heil nur kom-
men, wenn wir einmal unser eigenes Ich aus-
schalten, wenn wir es ausstreichen, uns selbst
vergessen und uns widmen einer anderen,
höheren Aufgabe, unsere Seele Gott überlassen
und seinem Willen.
Und da müssen wir nun einen ganz neuen
Blick tun auf den Herrn Jesus. Nun kommt
es mir erst recht wieder zum Bewußtsein, was
denn an dem Herrn Jesus das Große und Hin-
reißende ist; nicht das ist es, daß er etwa sein
Ich in den Mittelpunkt stellt, das braucht er
ja gar nicht, sondern daß er ganz und gar auf-
geht in dem Wunsch, das Gottesreich auf dieser
Welt aufzurichten, daß dieser Herr Jesus nicht
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung.
te, daß er gar nichts wollte
für sich, sondern nur an
des Vaters Name und
Reich und Wille dachte,
das ist das enthüllte Ge-
heimnis seiner unser Herz
ergreifenden Hoheit und
Schönheit (Seine Gottheit,
Phil. 2!).
So wurde er der Offen-
barer und Verkündiger
unsres Heils. In ihm und
in keinem andern ist das
Heil. Nur wer von seiner
Selbstlosigkeit ergriffen
23
loskommt von den armen und notleidenden
Brüdern und Schwestern und sich verzehrt in
der Sehnsucht, denen zu helfen, die von sich
selbst und von ihrem Jammer nicht loskommen,
daß dieser Herr Jesus das Wörtlein »Ich«
immer zurückhält und dafür das Wörtlein
»Dein« setzt, auch dann, wenn er mit seinen
Jüngern betet, ja gerade dann am meisten:
dein Reich komme« »dein Wille ge-
schehe«, »dein Name, o Vater im Himmel,
soll verklärt werden«.
| Der Apostel Paulus hat den Herrn Jesus
: vortrefflich verstanden:
Darin, sagt er im
Philipperbrief im 2. Kapitel, besteht nicht das
Göttliche des Herrn Jesus, daß er etwa wie ein
ea alles an sich gerafft hätte; nein,
darin erkennen wir seine göttliche Art, daß
!
und angesteckt wird, nur | Christus sich entäußerte und hat Knechtsgestalt
wer durch ihn von sei-|angenommen, daß er gehorsam gewesen ist
ner Selbstsucht und Mittel- | bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze.
punktsleidenschaft befreit — Selbstlosigkeit ist der Weg zu unserer Be-
wird oder wenigstens die |stimmung, Selbstlosigkeit ist der Pfad zu un-
Sehnsucht nach seinerFrei- |serem Glück.
heit in seiner Seele aufstei-
gen fühlt, kann dieses
Wort verstehen: Es ist in
keinem Andern Heil, ist
auch kein anderer Name
den Menschen gegeben, da-
durch sie könnten gerettet
werden, als der Name der
Selbstlosigkeit und unbe-
dingten Hingabe an Gott:
Jesus Christus.
Als ich unlängst in stiller
Nacht ferne Blitze leuch-
ten sah, da mußte ich an
Jesus denken, der uns
durch seine leuchtende
Größe zugleich den Weg
zeigt und uns zugleich er-
schreckt, denn wir wagen
es nicht so leicht daran zu
glauben, daß wir seiner
Ich habe kürzlich in der Ferne zuckende
Blitze gesehen; da war auf einmal die ganze
Umgebung erhellt. Solche Beleuchtung hat
immer etwas Erhabenes, beinahe etwasSchreck-
haftes. Da habe ich an Jesus denken müssen;
so geht es uns auch mit Jesus. Dieser Jesus
enthüllt uns eigentlich unsere Bestimmung;
dieser Jesus enthüllt uns die ganze uns von
Gott zugedachte Größe und eben damit zu-
gleich erschreckt er uns. Wenn wir sagen: » Sind
24
I. Abhandlungen.
Bahn werden folgen kön- | wir denn dazu fähig, ist es denn irgendwie mög-
nen. Aber er glaubt an
uns, wo es uns schwer fällt
an ihn zu glauben, und er
hat unser Gewissen und
tiefstes Gefühl für unsre
Bestimmung zu seinen
Bundesgenossen, wenn er
uns sagt: Ich bin dein
Heil!
Wohl haben sich vor ihm
und nach ihm viele andere
der Menschheit als Führer
dargeboten. Aber sie ver-
loschen wie Lichter, die in
der Dunkelheit hell ge-
leuchtet hatten und dann
nicht mehr gesehen wur-
den. Jesus dagegen ist ein
Stern, über den wohl ein-
mal eine Wolke verdun-
kelnd hinzieht, der aber
immer wieder neu aufgeht
und hoffnungspendend
leuchtet: Siehe ich künde
dir, wozu du da bist; sei
nur ganz so wie ich der
Sonne zugewendet und ih-
ren Strahlen geöffnet, sei
ganz dem Lichte hingege-
ben, dann leuchtest du
auf. Tersteegen hat diese
große Wahrheit in seiner
Weise und mit einem an-
dern Bilde ausgesprochen:
»Wie die zarten Blumen
willig sich entfalten und
der Sonne stille halten:
lich, teilzuhaben an diesem Jesusleben der
Selbstlosigkeit, an dieser göttlichen Größe Je-
su ?« und wenn wir nun ein wenig schüchtern
oder ängstlich werden, dann erfahren wir es,
wie dieser Jesus selbst den Glauben an uns
nicht aufgibt, sondern immer aufs neue tritt
er wieder vor uns hin und sagt: Glaube es doch,
ich bin das Heil; in mir und keinem andern
kannst du das Heil finden. In der Tat ist es
so, wie wir in unserem Text gehört haben: In
keinem andern ist das Heil und ist auch kein
anderer Name den Menschen gegeben, durch
den sie könnten gerettet werden, als der Name
der Hingebung, der Opferfreudigkeit und der
Selbstlosigkeit, als der Name Jesus Christus.
In keinem andern finden wir das. Es gibt
nicht nur Sterne, die am Himmel leuchten, wir
sehen auch manchmal Lichter, die uns entgegen-
winken, und sie sind vielleicht für Augenblicke
heller als die Sterne am Himmel; aber warten
wir nur ein wenig, dieses Licht brennt eine
Zeitlang, dann löscht es aus. Die Sterne bleiben
am Himmel stehen, und wenn sie eine Zeitlang
untergegangen sind, so kommen sie immer wie-
der in die Höhe und leuchten durch Jahrtau-
sende und Jahrmillionen hindurch. Es hat viele’
Lichter gegeben auf der Welt, Lichter, die einen
großen Wert gehabt haben, die vielen Menschen
geleuchtet haben, aber einmal sind sie dann
doch wieder erloschen. Dieser Jesus, das sehen
wir auf einmal ganz deutlich, ist nicht solch
ein irgend einmal erlöschendes Licht, sondern
solch ein ewiger Stern, der immer wieder auf-
geht, undein Stern, der uns das Geheimnis seines
Wesens zeitweise verhüllt, ein Stern, ganz hin-
gegeben an die Sonne, darum leuchtet er auch
in prächtigem Glanz, oder wie das einmal Ger-
hard Tersteegen in seinem Lied, nur in einem
anderen Bild ausgesprochen hat: »Wie die zar-
ten Blumen willig sich entfalten und der Sonne
stille halten, laß mich so, still und froh, deine
Strahlen fassen und dich wirken lassen.«
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung.
laß mich so, still und froh,
deine Strahlen fassen und
dich wirken lassen !«
Wozu bin ich auf der
Erde? Nicht damit ich es
nur immer mit mir selber
zu tun habe. Alles Grübeln
und Sinnieren, Selbster-
forschen und Sichselbst-
kennenlernenwollen führt
zu nicht viel Gutem. Wer
sich nur mit sich selbst und
seinem Innenleben abgibt,
handelt wie das Kind, das
alle paar Tage wieder bei
einem Pflänzchen nach-
grub um zu sehen, ob es
angewurzelt sei, und eben
dadurch das Wachstum
hinderte. Wenn wir aber
über dem Gotteswillen,
den wir ausrichten sollen
und wollen, uns selbst ver-
gessen, wenn wir dem
Stern gleichen, der der
Sonne zugewendet ist, und
der Blume, die sich ihren
Strahlen entfaltet, dann
leuchten wir, ohne es zu
wissen und wissen zu wol-
len, dann wachsen wir,
ohne viel daran zu denken
und uns groß darum zu
sorgen.
Und dann breitet sich
das Glück ganz von selbst
über uns aus und schlägt
seine Wohnung auf in
unsrem innersten Herzen.
25
Selbstlos müssen wir werden und uns hin-
geben an Gott, das ist unsere Bestimmung,
dazu sind wir Menschen auf dieser Erde. Viele
meinen freilich, gerade in dem Augenblick, wo
sie Ernst machen mit ihrer eigenen Seele, wo
sie anfangen, sich um ihr Heil zu kümmern,
glichen sie großen Sternen oder Lichtern. Sie
beschäftigen sich nämlich mit ihrem Innen-
leben, sie fangen vielleicht an, ein Tagebuch zu
führen über ihren inneren Fortschritt; kurz und
gut, sie beschäftigen sich mit ihrer Seele, ja
immer wieder blicken sie in ihr Inneres. Und
da möchte ich euch unumwunden sagen: Ich
halte davon nicht sehr viel, ich glaube, es
kommt dabei nicht gar viel heraus. Die Men-
schen, die sich mit sich selbst so abplagen,
kommen mir vor wie jenes Kind, das ein Pflänz-
lein groß ziehen wollte und immer aufs neue
wieder das Erdreich wegkratzte, um nachzu-
sehen, ob denn die Wurzeln noch alle in Ord-
nung sind, ob das Pflänzlein recht Boden ge-
faßt hat; dadurch hat es das Wachstum nicht
gefördert, sondern gehemmt oder ganz unmög-
lich gemacht. Ich glaube, wir sind gar nicht
auf der Welt, daß wir uns soviel mit uns selbst
beschäftigen, wir haben etwas viel Größeres
und Wichtigeres zu tun. Von den Sternen und
von den Blumen haben wir zu lernen, wozu wir
auf der Welt sind. Der Stern ist Stern im
Lichte der Sonne, da erglänzt er herrlich, und
die Blume, ist sie ganz.dem Lichte hingegeben,
so kommt sie zu einem rechten Wachstum. —
Und wenn ich nun das alles zusammenfassen
soll, wozu wir Menschen auf der Welt sind, so
möchte ich, damit es recht behältlich wird und
damit ihr gereizt werdet, diese Predigt selb-
ständig weiterzudenken und ihr nachzuleben,
das nämliche Wörtlein in dreifach verschie-
denem Sinn gebrauchen, und möchte sagen:
Wir sind eigentlich nur dazu auf der Welt, daß
wir aufgehoben werden. Zuerst muß
26
Aufgehoben muß dein
Ich werden und entfernt
aus dem Mittelpunkt dei-
ner Welt, dann erst wird
es aufgehoben und gebor-
gen in Gott und aufgeho-
ben und erhöht zu seiner
ihm von Gott zugewiese-
nen Bestimmung. Dann
fragst du nicht mehr: wo-
zu bin ich auf der Welt?
sondern bist geborgen in
der Liebe deines Gottes,
I. Abhandlungen.
unser Ich aufgehoben werden, d. h.
beseitigt werden, es muß ausgeschaltet wer-
den, durchstrichen werden. Dann wird die-
ses unser Ich aufgehoben, d.h.es wird
aufbewahrt in der Liebe, in der Gnade Gottes,
und wenn das einmal geschehen ist, dann wird
unser Ich aufgehoben noch in einem
dritten Sinn, über uns selbst hinaufgehoben,
emporgehoben zu unserem Gott; und dann
fragen wir nicht mehr: »Wozu sind wir auf der
Welt ?«, sondern dann sind wir ganz und gar
davon durchdrungen, daß wir geborgen sind
in der Liebe und in der Gnade unseres Gottes
oder, wie Paulus einmal ge- | oder wie der Apostel Paulus einmal sagt, wir
sagt hat, dein Leben ist
mit Christus verborgen in
wissen es, daß unser Leben mit Christus ver-
borgen ist in Gott.
Gott.
II.
I. AmSonntag, 29. Juni 1913 abends vor Tisch zwischen
sechs und sieben Uhr sah ich mir den Text für die nächste Sonntags-
predigt an: Apostelgesch. 16, 24—33. Bei dem ersten Durchlesen
drängt sich nur der Wunsch auf, über den Glauben an Christus zu
predigen. An Christus glauben heißt doch wohl an Gottes Liebe
glauben und zugleich an unsere in Christus vorgebildete Bestimmung.
Wenn die alte Dogmatik Christus als den Gott-Menschen bezeichnet,
hat sie das Ineinander von Gottesglauben und Menschheitsglauben
im Glauben an Christus in ihrer Weise ausgesprochen. Als Thema
schwebt mir vor: »Was ist Glaube?« Nicht ein Fürwahrhalten,
sondern etwas Leidenschaftliches und innerlich Notwendiges.
Ich lese den Text noch einmal langsam für mich, um ihn ganz
ruhig auf mein Gemüt wirken zu lassen. Was ich vorher mehr ge-
dacht hatte, sehe ich jetzt in Paulus und Silas verkörpert: die Füße
im Stock loben sie Gott — und, befreit, suchen sie den Men-
schen zu ihrer Bestimmung (Rettung) zu helfen. Wie sie dazu die
nächste sich darbietende Gelegenheit benützen! Also auch hier
die zwei Seiten des Christusglaubens: Glaube an Gott und den Men-
schen. Ich überlasse mich den von selbst aufsteigenden Assoziationen.
Mein Glaube ist etwas Passives, ein Ergriffenwerden von Gott,
das ich am ehesten mit sehr starken künstlerischen Eindrücken
vergleichen kann. Glaube ist ein Geschenk Gottes und erst damit
im Zusammenhang etwas Aktives. So hat Schleiermacher in der
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 27
zweiten Rede das Anschauen und Fühlen, das ihm die Grund-
lage der Religion ist, offenbar auch als etwas Passives erlebt.
Warum glaube ich? Einfach, weil ich muß, aus innerer Nöti-
gung. Ein Glaube ohne solche innere Nötigung erscheint mir ebenso
als Heuchelei, wie wenn jemand Beethovens neunte Symphonie als
Kunstwerk preist, ohne doch von ihr persönlich ergriffen zu sein.
Sagt nichtSchleiermacher in der zweiten Rede etwas ganz Aehnliches ?
Ich denke daran, daß ich an die Naturgesetze glaube; denn
obwohl ich ihre Gültigkeit nicht beweisen kann, vielmehr theoretisch
zu ihnen eine skeptische Stellung einnehme, handle ich doch prak-
tisch nach ihnen. Vaihingers Titel: »Die Philosophie des Als-obe
fällt mir ein.
Mein Glaube ist eine Art »Witterung« für das Uebersinnliche.
Mir ist, als ob sich Johannes Müller im »Wegweiser« ähnlich ausge-
drückt hätte. Ich blättere flüchtig in dem Buch und stoße zufällig
auf den Ausdruck (S. 45).
Habe ich nicht Witterung für das Uebersinnliche in der Kunst ?
Ich nehme mir vor, mich einmal eine halbe Stunde in die Sebaldus-
kirche zu setzen. Ich müßte dann wohl so etwas wie eine Symphonie
innerlich vernehmen.
Bei meinem Glauben ist »Offensein« für das Uebersinnliche
alles. Tersteegens Strophe vor den »zarten Blumen«, die »willig sich
entfalten und der Sonne stille halten«. Kinder sind gläubig und
naive Naturen, wie Franz von Assisi und Luther. Richtig, Luther
hat ja immer die Passivität des Glaubens betont: Gott wirkt den
Glauben.
Ich sehe zum Fenster meines Studierzimmers hinaus auf das
gegenüberliegende Fembohaus. Ich glaube nicht an seine Realität.
Dagegen glaube ich an die Realität des Ligusterstrauchs in meinem
Vorgärtchen, der sich eben im Winde bewegt. Ich glaube an das in
ihm sich offenbarende Leben. Glaube an Gott ist mir das Ergriffen-
werden von dem Lebensgrund, von dem, durch den, zu dem alle
Dinge sind. Ich lese die Stelle Röm. 11, 36 nach.
Ob ich an den Teufel glaube? Lebhaft trıtt vor meine Seele
eine Szene im Schmähinger Pfarrhaus. Der vortreffliche alte Pfarrer
Steinlein las mir, dem Nördlinger Vikar, vor mehr als 25 Jahren
aus einem Predigtbuch vor. Da wurden die bedauert, die nicht an
den Teufel glaubten, weil sie ebensowenig an Gott glauben könnten.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Nördlinger Schulmann,
der sich über das bayerische Sonntagsblatt entrüstet hatte, weil es
den Glauben an den Teufel gefordert hatte. Man muß aus inner-
28 I. Abhandlungen.
licher Nötigung an Gott glauben. aber eine ähnliche Nötigung, an
den Teufel zu glauben, kenne ich nicht aus persönlicher Erfahrung.
Ich denke an einen mir nahe stehenden Kranken. Glaube ich
an seine Genesung ? Ich glaube ganz gewiß, daß Gottes Wille mit
ihm gut ist.
Glaube ich an Menschen ? An einige ganz fest. Ich zähle mir
die Namen von Freunden, Angehörigen und Schülerinnen auf, denen
ich rückhaltlos vertraue. Bei anderen hoffe ich, daß sie besser sind,
als es mir jetzt scheint.
Ob ich an mich selbst glaube? Ich traue mir selber nicht recht.
Es hätte mir wohl gehen können wie einigen unglücklichen Freunden.
Aber ich glaube, daß Gott auch meinen Fall zum Segen wenden
würde. Stillings oder vielmehr seines Vettern Wort kommt mir
in den Sinn: Sei getrost, wenn Trübsale kommen; da nimmt dich
Gott auf seine Universität und will etwas Rechtes-aus dir machen.
Ich habe am Nachmittag einen Aufsatz über den Vogelgesang
gelesen. Der Glaube macht Entdeckungen, sieht verborgene Schön-
heiten. Columbus, Blücher, Bismarck erscheinen mir als Glaubens-
helden.
Der Glaube an Genesung kann gesund machen. Furcht ist
Unglaube: man läßt sich durch den trügerischen Schein schrecken.
Ich schlage einige früher gelesene und angestrichene Worte
über den Glauben nach. Wenn Goethe meint, der Glaube sei nicht
Anfang, sondern Ende des Wissens, dann muß ich ihm opponieren.
Ich kenne kein Wissen ohneGlauben, z. B. Glauben an die Denkgesetze,
deren Richtigkeit durchaus unbeweisbar ist.
Es gibt keine fides qua creditur ohne fides quae creditur. Der
Glaube entzündet sich an etwas — er kann sich an allem und jedem
entzünden. Entweder glaube ich, »weil« . . . oder »obwohl«.. .
Nur was ich selber glaube, glauben mir meine Schülerinnen:
Ich glaube sehr vieles, was anderen lächerlich ist, und glaube sehr
vieles nicht, was anderen ganz selbstverständlich ist, z. B. die Realität
der Außenwelt; auch Materie, Kraft, Atome usw. sind mir sehr zwei-
felhafte Dinge.
Konstantin Wieland, dessen Buch Was ist Gott«? ich eben
gelesen habe, sucht Gott zu beweisen. Aber ich glaube als sein Grund-
erlebnis ein mir sehr wohl bekanntes tiefes Staunen darüber zu er-
kennen, daß überhaupt etwas ist. Glaube ist Staunen, Sichwundern
über etwas und alles.
2. Montag. Einigemale durchzuckt mich das Gefühl, daß jeder
Glaube Glaube an Christus sein müsse, ganz gleichviel ob man sich
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 29
dessen bewußt sei oder nicht. Abrahams Glaube war Glaube an
Christus. Ich habe andere Arbeiten zu tun und beschäftige mich
nicht mit der Predigt. |
3. Dienstag. Ich muß um 91% in der Schule sein. Vorher
gehe ich in die Stadt und dann in einem weiten Bogen um mehrere
Gräben zur Schule. Das Glaubensproblem beschäftigt mich sehr
lebhaft. Am Rathaus will eine alte Frau gerade in einen heran-
fahrenden Straßenbahnwagen hineintappen. Der Führer läutet sehr
laut. Es ist schön, daß man an einen solchen Führer glauben kann.
— Ich gehe an der Sebalduskirche vorbei und denke an meinen
Vorsatz, mich eine halbe Stunde hineinzusetzen. Aber nein, jetzt
will ich die Menschen daraufhin betrachten, wie schön sie in ihrem
Glauben sind. Sogleich fällt mir auf, daß mir eigentlich lauter sym-
pathische Menschen begegnen. Es ist, wie wenn der Morgen ein
Sonnenaufgang der Seele wäre. Eine unbeschreiblich schöne Szene
beobachte ich an der Fleischbrücke. Eine Mutter, die selbst noch
wie ein großes Kind aussieht — eine »jungfräuliche Mutter« nenne
ich sie in Gedanken — macht ihrem etwa dreijährigen Töchterchen
und sich selbst die Freude, aus einer mit frischem Gemüse (Peter-
silie scheint es zu sein) gefüllten Tasche einen an einen Marktwagen
gespannten Esel wiederholt zu füttern. Ein gläubiges Kind, eine
gläubige Mutter, sogar das Tier ist voll Vertrauen zu diesen Menschen!
— Am Schulhaus in der Karthäusergasse fallen mir einige zur Schule
gehende Kinder auf. Ihr ganzes Tun scheint mir aus dem Glauben
zu entspringen, obwohl sie gar nichts Besonderes machen. Aber
daß sie zur Schule gehen und miteinander gehen, hat etwas wirklich
Rührendes. Sie sind einer großen Weltordnung eingegliedert, der sie
unbedingt traten. — Am Graben begegnen mir viele Menschen, jeder
findet seinen Weg und hat sein Ziel: welch ein Glaube! — Die Ring-
linie der Trambahn kommt mir wie eine Planetenbahn vor, die
dazwischen hineinfahrenden und die Bahn kreuzenden Automobile
wie Kometen. Welch ein Durcheinander und welche Sicherheit des
großen Verkehrs: es will mich schier überwältigen, welchen großen
Glauben an das Leben und seine Ordnungen alle diese Menschen
haben. Ich fühle den Gott, der alles dirigiert und finde die Gesetz-
mäßigkeit in dieser Mannigfaltigkeit staunenerregender als die viel
einfachere und mechanischere Statik und Dynamik der Sternenwelt.
Abends vor Tisch ordne ich meine Notizen zur Predigt. Das
Thema soll heißen: »Das Wagnis des Glaubens.« Als Lieder für den
kommenden Sonntag wähle ich »Die güldne Sonne« — denn ich
glaube, daß es schönes Wetter werden muß — und »Ist Gott für mich«
30 I. Abhandlungen,
von Paulus Gerhardt. Nach Tisch schreibe ich das Vorstehende
nieder. Darüber ist es 10'4 geworden und ich will mich nun einer
anderen Arbeit zuwenden. Ja, da fällt mir noch ein, daß ich dieses-
mal eine recht »textgemäße« Predigt halten wollte. Allein der Predi-
ger kann gar nicht, wie er swill«, sondern er untersteht den Nötigungen
des Lebens. Die Bejahung dieser Notigungen ist selbst ein Stiick
Glauben. Also: es wird schon werden!
4. Mittwoch abend 147 Uhr lese ich den Text wieder durch.
Es steigen mir kritische Bedenken auf, ob nicht an der Erzählung
einige Retouchierungen angebracht seien. Das Verhalten des Kerker-
meisters ist wohl nur so psychologisch verständlich, daß er im Erd-
beben etwas von dem Gericht zu erleben meint, von dem er als
einem Stück der Paulinischen Verkündigung mochte gehört haben.
Allein es liegt ja nicht viel daran, was objektiv geschehen ist, alle
Begebenheiten verwandeln sich in dem Augenblick in Wunder, wo
wir in ihnen mit der Ueberwelt in Berührung zu kommen uns be-
wußt werden. Ich überlege mir, ob ich die Gelegenheit zu einigen
Ausführungen über das Wunder benützen soll, bin aber nicht sehr
dazu geneigt, da sich Anlässe hiezu sonst sehr oft darbieten.
Unmittelbar nachher schreibe ich nieder, wie sich mir das Ganze
innerlich gestalten will. Es entstehen unmittelbar nacheinander
folgende vier Skizzen:
A.
Einleitung: Die zauberische Anziehungskraft, die auf mich das Wort
ausübte: »Glaube an den Herrn Jesum Christum« Thema: Das Wagnis
des Glaubens.
Die Meinung, als ob es eine scharfe Trennung zwischen »Gläubigen«
und »Ungläubigen« gebe, darf nicht übertrieben werden. Vielleicht gibt
es unglaubige »Gläubige« und gläubige »Ungläubige«.
Glaube ist Witterung für das Göttliche und für das wahrhaft
Menschliche, in seiner Ganzheit ein Berührt- und Angezogenwerden
vom Gott-Menschlichen, vom Gott-Menschen.
Der Glaube hat Stufen, je nachdem wir das Hintersinnliche erfühlen
in der Natur (Vogelgesang und Liguster), im Schicksal (die Füße im Block
und doch Gott loben), in der Geschichte (Es geht vorwärts), in der Men-
schenbestimmung. In Jesus ergreifen wir Gottes Liebe und unsre mensch-
liche Bestimmung zusammen und zugleich.
Aller Glaube ist ehrfurchtgebietend. Glaube an Menschen (Esel-
szene. Alte Frau an der Straßenbahn) und Glaube an die göttliche Re-
gierung und Führung (der Straßenverkehr. Straßenbahn und Automobile).
Der Sinn des menschlichen Lebens und der göttlichen Führung enthüllt
sich in Jesus.
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 31
Glaube ist vorhanden, wo Menschen vertrauen. Ohne Glauben ist
das Leben unmöglich. Die gläubigen »Kindere. Macht des Glaubens in
providentiellen Persönlichkeiten wie Blücher, Bismarck, Luther.
Paulus und Silas als Typus des Gottes- und Menschenglaubens. Die
Zusammenfassung ihres Glaubens in Jesus.
Ich kann anderen zum Glauben helfen. Was ich wittere, kann ein
anderer auch spüren, wenn er sich durch mich zum Glauben ermutigen läßt.
Es muß versucht und gewagt werden. Nur wer Versuche gewagt
hat, ist in Glaubensangelegenheiten sachverständig.
Wovon das Wagnis des Glaubens rettet: Furcht, Schicksalsverneinung,
Menschenverachtung. Türen des Gefängnisses öffnen sich, Ketten fallen ab.
B.
Das Wort »Glaube an den Herrn Jesum Christum« und das von Paulus
und Silas gegebene Exempel dazu.
I. Das Wagnis an Menschen zu glauben.
Kind und Mutter (Eselszene), Frau und Straßenbahn, mein Eindruck
von sympathischen Menschen auf der Straße. Des Paulus Glaube an die
Bestimmung des Menschen.
Hilfsmittel gegen Menschenverachtung und gegen Zweifel an der
kommenden Kultur der Seelen.
Il. Das Wagnis an Gott zu glauben.
Unbewußter Gottesglaube (Naturgesetze. Denkgesetze. Mein Wider-
spruch gegen Goethes Wort, daß der Glaube nicht Anfang, sondern Ende
des Wissens sei. — Das Leben der Großstadt in seiner wunderbaren Har-
monie. Die Sterne). Bewußter Glaube an den Sinn des Lebens, an gött-
liche Erziehung, wird als Gottes Gabe erlebt.
III. Zusammenfassung von I und II im Christusglauben. In Christus
ergreifen wir Gott und den Menschen.
Schluß: Wage es und wage es wieder! — wage es in steigenden Ver-
suchen. Glaubend kommen wir von den Dingen los und verbinden uns
mit Gott.
C.
Aller Glaube ist Gottes Gabe. _ -
a) Natur, b) Menschen, c) Christus führen zu Gott. Nur der Glaube
sieht die Wirklichkeit in und hinter allen dreien.
D.
Mit dem Wort »Glaube an Christus« können viele Menschen heute
nichts Rechtes anfangen. Darum verwandeln sie das »Glauben an« in das
»Glauben, daß«. Die ersten Schritte des Glaubens will ich zeigen.
Liguster, Eselszene, Schulkinder, Straßenverkehr und ähnliche ordi-
näre Erlebnisse überführen uns, daß wir an Menschen und an Gott glauben,
ohne daß wir es wissen. Niemand kann ohne Glauben existieren.
32 I. Abhandlungen.
An Gott und Menschen glauben, heißt an Christus glauben. Die
Folgen. Es muß gewagt (versucht) werden. Versuchend und wagend
machen wir Fortschritte.
[Das alles schreibe ich in starker Erregung in etwa einer guten
Viertelstunde nieder].
5. Donnerstag um4 Uhr führe ich mein Vorhaben aus, die
Kirche zu besuchen. Ich lasse mich an vier Plätzen nieder. Am
stärksten wird der Eindruck, als ich von einer Seitennische aus
in die Kirche schaue und deren Größe mehr ahne als wahrnehme.
Es sind hauptsächlich zwei Eindrücke sehr stark: wie sehr die Bau-
meister an die Gesetze der Statik glaubten, die sie kaum formulieren
konnten, und wie sich dieser natürliche Glaube zusammenschloß mit
ihrem Gottes- und Ewigkeitsglauben, der aus dem vollendeten Bau-
werk spricht. Ich bleibe %4 Stunden in der Kirche. Die Zeit verfliegt
unglaublich schnell. Zuletzt fühle ich eine starke religiöse Erhebung,
wie wenn mein Glaube mit dem der Baumeister zusammen nach oben
flösse. Ich bedauere, die Kirche verlassen zu müssen.
Abends gegen sechs Uhr besuche ich mit zwei Schülerinnen
den Jugendgarten. Starke Eindrücke von dem gegenseitigen Ver-
trauen zwischen Kindern und Erwachsenen. Der Leiter des Jugend-
gartens teilt mir seine Verlobung mit einer lieben früheren Schülerin
mit. Es ist wunderbar, wie sich Mann und Weib gegenseitig erfühlen,
wenn sie füreinander bestimmt sind und zueinander passen. Auch
das ist Glaube.
6. Freitag morgens vor der Schule lese ich den Brief einer
Frau, die mir ergreifend schildert, wie sie angesichts des Lebens
der Deutschen im Ausland den Glauben an Gott verloren hat und
durch ein Lessing-Wort vom langsamen, aber doch vorhandenen
Fortschritt des Weltgeschehens neuen Mut zum Gottesglauben be-
kommt. Ich fühle sehr stark, daß der Glaube ein Wagnis ist und
möchte meine Predigt so einrichten, daß sie der Zweiflerin hilft,
der ich sie schicken werde.
Ich lese am Abend die oben mitgeteilten Skizzen durch und will
morgen früh an die zweite anknüpfen, da mir der Zusammenhang
des Glaubens an Menschen mit dem Gottesglauben nun erst recht
wichtig geworden ist. Ist nicht der Schmerz über die Menschen, die
nicht sind, wie sie sein sollen, eine Aeußerung des Glaubens an ihre
wahre Bestimmung und an Gott, der ihnen dieselbe zugeteilt hat?
Eine edle Seele klagt, daß sie nicht an Gott glauben könne, und ihre
Klage ist selbst ein ergreifendes Glaubensbekenntnis.
b
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 33
Ich habe nun sechs Tage lang das Problem des Glaubens mit
mir herumgetragen. Allmählich ist es mir immer selbstverständlicher
geworden, daß der Mensch glaubt, und es erhebt sich die Frage,
ob es wirklich ungläubige Menschen gibt. Vielleicht sind alle
Ungläubigen nur unbewußt Gläubige. Es ist mir das sehr
wahrscheinlich.
7. Am Samstag beginne ich etwa um 1,9 Uhr in starker
Erregung und viel an die ferne Briefschreiberin denkend die Predigt
zu Papier zu bringen. Um 1412 Uhr bin ich damit zu Ende gekommen.
Es tritt eine Entspannung ein und ich lasse die Predigt ruhen bis
abends nach 6 Uhr. Da lese ich mein Konzept zum erstenmal im
Zusammenhang durch. Ich brauche dazu gerade eine Viertelstunde.
Die Predigt gefällt mir ganz gut. Nach einer kurzen Pause durch-
fliege ich das Konzept noch einmal und bringe einige unbedeutende
stilistische Verbesserungen an.
Ich darf es mir und dem Leser ersparen, auch diese Predigt nach Konzept
und Stenogramm mitzuteilen, zumal da der Unterschied zwischen beiden nicht größer
- gewesen sein dürfte als im ersten Falle. Nachstehend abgedruckt ist das noch am
Sonntag von mir zum Druck zugerichtete Konzept.
x
Die Predigt.
Apostelgeschichte 16 24—33.
Als ich für mich selbst die Geschichte des Kerkermeisters in Philippi
las und wieder las in der Absicht, sie euch auszulegen und auf die Bedürf-
nisse unserer Gegenwart anzuwenden, ging es mir ähnlich wie beim Be-
such der Dresdener Gemäldegalerie. Dort sieht sich der Kunstfreund
alle die vielen berühmten’ Gemälde an, die in den großen Sälen aufge-
hängt sind, oder er sucht in den kleinen Kabinetten seine alten Lieb-
linge auf, wie man einen lange nicht gesehenen Freund besucht, aber da-
zwischen fühlt er einen unwiderstehlichen Zug zu der Sixtinischen Madonna
zurückzukehren und sie immer wieder zu betrachten. — Wie viele schöne
und ergreifende Züge begegnen uns doch in solch einer einzigen Geschichte!
Man hätte Lust, über die Einwirkungen äußerer Ereignisse auf unser
Innenleben, über das Gott-Loben in großer Drangsal, über das Abwaschen
der Striemen, über die Freude in einem Christenhause und noch manches
andere nachzudenken, allein es leidet uns nicht bei allen diesen schönen
Bildern, wir müssen immer wieder zurückkehren zu dem großen Wort
Archiv für Religionspsychologie IIjILI. g 3
34 I. Abhandlungen.
vom Glauben: »Glaube an den Herrn Jesum Christum, so wirst du und
dein Haus gerettet!« Nicht ohne Grund steht dieser Spruch in unsern
Bibeln dicker gedruckt als andere. Offenbar haben schon viele die An-
ziehungskraft dieses Magneten erfahren.
Und doch, als ich mir darüber ganz im klaren war, daß ich heute zu
euch über den Glauben an Christus sprechen müsse, fiel es mir zugleich
auf die Seele, daß in der Gegenwart viele Menschen mit einem solchen
Wort nichts Rechtes anzufangen wissen. Dies zeigt sich schon darin,
daß sie statt: »ich glaube an« lieber sagen: »ich glaube, daß«; denn sie mei-
nen, an Christus glauben, heiße, allerlei Lehren zustimmen, die im Laufe
der Zeit formuliert worden sind; und alsbald scheiden sich die Menschen
in »Gläubige« und »Ungläubige«, nämlich in Leute, denen es sehr leicht
ankommt, solch eine Lehre sich anzueignen, und in andere, die nicht
so schnell mit den Zweifeln fertig werden, die in ihnen aufsteigen, und
schließlich sagen: es ist mir nicht oder nicht mehr möglich, alles das zu
glauben, was ich im Katechismus gelernt habe. Allein der Glaube, zu
dem uns Paulus, den man mit Recht den Apostel des Glaubens genannt
hat, auffordert und Mut macht, ist offenbar nicht nur die Zustimmung
zu allerlei Lehren, sondern die Einstellung unsres Herzens, die Richtung
unseres Gemüts auf einen geheimnisvollen Punkt, am ehesten vergleich-
bar dem Zittern der Nadel des Kompasses, die in ihrem Pol zur Ruhe
kommen will und muß.
Gewiß gibt es kaum einen Menschen, der nicht auf irgend eine Weise
von der Frage bewegt wird, was er tun solle um selig zu werden. Wer
ein feines Gehör hat, vernimmt aus den in unserer Zeit so oft gehörten
Fragen: wie werde ich glücklich ? wie werde ich energisch ? wie nähere ich
mich der Vollkommenheit ? und unzähligen anderen ähnlichen die alte
Frage des Kerkermeisters heraus. Aber wenn wir darauf einfach ant-
worten: »Glaube an Christus, so wirst du befreit, beglückt, errettet!«
dann erwidert man uns: Ja, was heißt denn »glauben« und wie soll ich
es denn anfangen, um in diesen Glauben hineinzukommen ? Nach meinen
Erfahrungen macht eben das Glauben den Menschen die größten Schwie-
rigkeiten, und was in unsrer Geschichte die Lösung ist, bedeutet für die
meisten unter uns das eigentliche Problem. Wie oft sagen uns edle, feine,
gotthungrige Menschen: Ich möchte ja so herzlich gerne glauben, aber
ich kann es nicht. Zeigt uns den Weg, oder wie sich einmal ein Gemeinde-
glied eindrucksvoll geäußert hat: »Zeigt uns die ersten Schritte zur
Religion !«
“Nun ich will euch heute nicht nur die ersten Schritte zur Religion
im allgemeinen — denn die gibt es wohl gar nicht — sondern die ersten
Schritte zum Glauben an Christus zeigen. Da nun aber Schritte nur
denen gezeigt werden können, die willig sind, sie mitzumachen, bitte ich
euch im voraus um eines: hört nicht nur geduldig an, was ich euch sagen
darf, sagt auch nicht nur nach dem Gottesdienst: es war eine ganz leid-
liche Predigt, sondern versucht, was nur dem Versuche gelingt, wagt,
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 35
was ohne Wagnis ganz unmöglich zu erlangen ist, nämlich die ersten
Schritte auf dem Wege des Glaubens.
Es ist in der Welt so eingerichtet, daß der Mensch mit seiner Geburt
in eine wundervolle Gemeinschaft des Glaubens eintritt. Denn ehe ein
Kind lallt, ehe es seine Augen auf die Welt einstellt und ehe es auch nur
einen einzigen Ton vernimmt, glaubt es an seine Mutter und die Mutter
glaubt an ihr Kind. Als ich kürzlich, mit allerlei Gedanken an meine
Predigt beschäftigt, am Morgen durch die Stadt ging, sah ich eine junge
Mutter mit ihrem etwa dreijährigen Kind vom Markte heimgehen, die
Tasche mit allerlei Grünem gefüllt. Sieh, da stand hart am Weg ein Esels-
fuhrwerk. Mutter und Kind machten sich zusammen die Freude, das
Tier mit einigen für ihren Tisch bestimmten Leckerbissen zu füttern.
Das Kind war anfangs etwas scheu, aber man sah ihm die Freude und
den langsam wachsenden Mut an. Wenn sich die Mutter nicht vor dem
Tier fürchtet, dann hat es das Kind doch auch nicht nötig. Es war mir
in diesem Augenblick ganz eigen zumute. Du willst den Menschen zum
Glauben helfen, sagte ich zu mir selbst. Du brauchst deine Augen nur
aufzutun, dann siehst du Glauben genug und es ist vielleicht nur nötig,
den Menschen zu sagen, wie gläubig unsere als »ungläubig« im Lande an-
gesehenen Großstädter sind. Es ist doch ein reines und hohes Wunder,
daß Kinder an ihre Mütter und Mütter an ihre Kinder glauben.
Richtig, jetzt fiel mir erst ein, daß ich es eben mit angesehen hatte,
wie eine alte Frau beinahe von einem Straßenbahnwagen erfaßt worden
wäre. Aber der Führer hatte gut aufgepaßt. Er läutete gellend mit seiner
Warnungsglocke und die Frau zog sich gerade noch rechtzeitig auf den
Gehsteig zurück. Habt ihr euch das schon einmal klar gemacht, welches
Maß von Glauben wir den Menschen entgegenbringen, denen wir uns,
in der Eisenbahn etwa, anvertrauen, oder denen wir am Postschalter unser
gutes Geld überlassen, damit es an den Sohn beim Militär oder an ein Ge-
schäft in Berlin oder sonstwo geschickt werde? Unser ganzes Zusammen-
leben ruht auf der Grundlage eines großen gegenseitigen Glaubens, und
wenn wir auch dazwischen einmal an einen Schelm geraten, der uns be-
trügt, so beweisen wir gerade durch unsern Abscheu vor seiner Unredlich-
keit, wie natürlich uns das Vertrauen ist. Versucht es doch nur einmal,
die Menschen, die euch begegnen — vergeBt dabei aber ja nicht, ganz
besonders auf die Kinder zu merken! — mit dem Gedanken anzusehen,
ob sie nicht vom Vertrauen auf andere leben und in vielen, sehr vielen
Dingen Vertrauen verdienen, dann werdet ihr euch wundern, von wie
vielen sympathischen Menschen ihr umgeben seid. Wenn die Nacht zur
Neige geht, dann steigt nicht nur immer wieder »die güldne Sonne voll
Freud und Wonne« herauf, sondern wir erleben auch immer wieder den
Sonnenaufgang eines allumfassenden gegenseitigen Vertrauens. Wir dürfen
uns nur nicht gleich durch einen üblen Schein abschrecken lassen. Wen
ergreift nicht die Seelengröße eines Paulus, der imstande ist, eben den
3*
36 I. Abhandlungen.
Mann, der ihm die Füße in den Stock gelegt hatte, als einen solchen anzu-
sehen, der gleich ihm zum Heile berufen ist, und wer freut sich nicht darüber,
daß sein Glaube in diesem Falle so glänzend belohnt wurde! Gewiß, es
kommt vor, daß wir auch oft in unserm Vertrauen enttäuscht werden,
geradeso wie es vorkommt, daß wir selber nicht in allen Stücken das
Vertrauen verdienen, das uns entgegengebracht wird. Allein die Aus-
nahmen bestätigen die Regel. Und selbst wenn ich allen Glauben an die
Menschen der Gegenwart verlieren könnte, würde ich nur um so sehn-
süchtiger nach der Zukunft ausschauen und auf einen neuen Himmel
und eine neue Erde warten, in denen Gerechtigkeit und damit Treue und
Glaube herrschen werden. Allein wir sind durchaus nicht nur auf die Zu-
kunft angewiesen. Solange es auf der Welt doch auch solche Menschen
gibt, wie Paulus, Silas und der Kerkermeister gewesen sind, doch nein,
solange es nur Mütter und Kinder, Freunde und gute Kameraden, solide
Geschäftsleute und zuverlässige B:amte gibt, werden wir getrost auf den
Pfad des Glaubens treten und es immer wieder wagen, an den Menschen
im Menschen zu glauben.
Wagen wir es nun einen zweiten Schritt zu tun: vom Glauben an
die Menschen zum Glauben an Gott! Denn dies ist der uns gewiesene
Weg. Johannes redet einmal davon, daß es leichter sei, den Bruder, den
wir sehen, zu lieben, als Gott, den wir nicht sehen. So möchte ich auch
sagen: es ist natürlicher, daß wir zuerst an Menschen glauben, die wir
sehen, und uns dann erst zum Glauben an den unsichtbaren Gott erheben.
Allein, wie soll ich es versuchen, euch zu diesem zweiten Schritt auf dem
Glaubensweg zu ermutigen ? Sollich euch in Gedanken an einem schönen
Abend auf die Burg führen, damit wir miteinander die Sterne betrach-
ten? »O«, sagt da der nüchterne Großstädter, »das ist nichts Besonderes.
Das geht alles höchst natürlich zu. Da herrscht ein einziges Gesetz, das
Gesetz des Fallens, daraus erklären sich alle Bewegungen der Sterne ganz
einfach; im letzten Volkshochschulkurs habe ich es gehört, daß es nicht
einmal jene Zentripetal- und Zentrifugalkraft gibt, mit denen ich in meiner
Jugend geplagt wurde; alles geht nach dem Fallgesetz.« Ich halte das
auch für richtig. Aber einfach und natürlich kommt es mir darum doch
nicht vor, sondern höchst wunderbar. Mich wundert, daß es eben jenes
Fallgesetz gibt, ja indem ich das Wort »Gesetz« auch nur ausspreche, tritt
hinter das in nüchterne mathematische Formeln gebannte Naturgesetz
der geheimnisvolle Gesetzgeber und es durchschauert mich die Ahnung —
ach, es liegt ja nichts am Namen, aber mir kommt kein anderer auf die
Lippen als der Gottes. Goethe hat in seinen Maximen und Reflexionen
gesagt, der Glaube sei nicht der Anfang, sondern das Ende alles Wissens.
Das stimmt bei mir durchaus nicht. Denn mein Wissen ruht auf dem
Fundament eines staunenden und selbst staunenswerten Glaubens, des
Glaubens an die Naturgesetze und die Denkgesetze. Doch ich will nicht
philosophisch werden. Aber vielleicht macht ihr irgend einmal auf der
Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung. 37
Straße im lebhaften Verkehr eine halbe Minute Halt und denkt darüber
nach, was ihr erlebt. Da kreist die Ringlinie um die innere Stadt wie ein
Planet um die Sonne. Dazwischen hinein und hindurch eilen die Automo-
bile wie Kometen, deren Bahn ganz unregelmäßig zu sein scheint. Aber
nun kommen noch die Radfahrer, die Fuhrwerke, die Fußgänger hinzu.
Und alle diese in endloser Mannigfaltigkeit sich kreuzenden Bahnen haben
einen von uns allen als ganz selbstverständlich angenommenen Sinn.
Nennt diese mysteriöse Zweckmäßigkeit, wie ihr wollt, Gesetz, Notwendig-
keit oder Freiheit, aber daß dieser Riesenverkehr möglich ist, daß jedes
Schulkind und jeder Schreiber, daß alle die zahllosen Menschen ihren
Weg und ihr Ziel haben, das könnte mich aus aller Fassung bringen, so
zauberisch ist es. O liebe Freunde, in diesen alltäglichen Dingen schlum-
mern die tiefstenGeheimnisse, und wenn wir sie selbstverständlich finden,
dann sagen wir damit nur, daß uns der Glaube an Sinn, Geist, Welt-
ordnung und Menschenerziehung etwas ganz Natürliches ist. Wahrhaftig,
es ist der Herr an diesem Orte, — und wir wußten es nicht! Nun, das
möchte ich noch miterleben, daß den Menschen die Augen wieder auf-
gehen für die Wunderwelt, für die von Geist und Gotteskräften durch-
pulste Welt. Es muß einmal dahin kommen, daß man an dem gesunden
Geist eines Menschen zweifelt, der in dieser Wunderwelt steht und sagt:
es gibt kein Wunder oder: es gibt keinen Gott. Und wenn dann gar die
Menschen den Blick von außen nach innen, in die Wunderwelt der Seele
richten, und aus der Weite in die Tiefe — ja, dann wird man von uns —
um ein Bild Maeterlinks zu brauchen — reden als von den Toren, die im
Turme blind herumtappten um den Bau zu suchen, in dessen Innerem
sie doch waren. Gottsucher nennen wir uns? — In Gott leben, weben
und sind wir! Wer das mit Händen greifen muß, wer die Witterung für
Gott hat, wer ihn überall schmeckt und fühlt, dem kann ja gar nichts
gewisser sein als Gott. |
Habt ihr Lust, noch den letzten Schritt zu wagen und mit mir vom
Menschenglauben und Gottesglauben zum Christusglauben durchzu-
dringen ? Werft wenigstens einen Blick in die Welt, die das Wort durch-
zittert: »Glaube an Jesum Christum, so wirst du und dein Haus gerettet !«
Ich hoffe, sie wird euch jetzt nicht mehr als eine Fremde erscheinen, son-
dern als die Heimat, die Heimat, deren verklungene Lieder in der Erinne-
rung aufwachen, die Heimat, deren Lichter nicht erschrecken sondern
nur trösten. Es gibt keinen menschlicheren Menschen als Jesus; so durch-
aus menschlich ist er, daß uns alles, was seinem Wesen fremd ist, als un-
menschlich vorkommt. Und nirgends leuchtet die ewige Gottheit wärmer
und kräftigender in unsere Seele herein, als wo die Strahlen der unend-
lichen Liebe sich gesammelt haben in seinem Herzen und von ihm aus
unser Herz entzünden. |
Menschenglaube und Gottesglaube fassen sich zusammen, mischen
sich, klingen als ein einziger unbeschreiblich süßer Ton in dem Namen
38 I. Abhandlungen. Geyer, Zur Psychologie der Predigtvorbereitung.
Jesus Christus. Glaube mit Jesus an die Menschen und an den
Vater im Himmel, versuch es, die Menschen zu sehen mit seinem Blick,
und wage es, Gott zu fassen mit seiner Glaubenskraft oder, will ich lieber
sagen, wage es, dich von Gott erfassen zu lassen, dann wirst du ganz von
selbst an Christus glauben. Und indem etwas von seinem Leben
herüberfließt in dein Inneres, wirst du etwas Aehnliches erleben, wie
Paulus: Die Tore deines Gefängnisses öffnen sich und deine Ketten zer-
springen. |
39
Zur Psychologie der Reue.
Ergebnisse einer Umfrage ').
Von
Professor D. Dr. Georg Wunderle in Würzburg.
I. Einleitung.
Es ist eine Seltenheit, wenn das sittliche und religiöse Leben
eines Menschen in stets gerader Linie zum Ideal aufsteigt; mögen
im einzelnen auch die günstigsten Umstände zusammenwirken, um
das Streben wenigstens im großen und ganzen auf das richtige Ge-
leise zu lenken und in ihm zu erhalten, es werden sich von außen
und von innen stets wieder Hemmnisse einschieben, über die selbst
der Starke strauchelt. Je zielbewußter er voranschreitet, desto
bitterer wird er jeden Fall bedauern, desto energischer wieder sich
aufraffen. Schuld, Reue, Bekehrung bilden so — man möchte fast
sagen — notwendige Stationen auf der Bahn des sittlichen und re-
ligiösen Lebens. Ethik und Theologie haben sich wahrlich ein-
dringlich mit diesen wichtigen praktischen Problemen beschäftigt;
jedes System, jede Religion hat ihnen eine andere Deutung gegeben.
Heute kann es auch der aufblühenden Religionspsychologie nicht
verwehrt sein, ihre Untersuchungen darauf zu erstrecken. Darf
sie hoffen, in der Beschreibung und Erklärung der jedem prak-
tisch doch so wohlbekannten Tatbestände eine Uebereinstimmung
zu erzielen ?
Nach unserer Meinung nur innerhalb sehr enger Grenzen. Diese
Grenzen sind zunächst von dem praktischen Erleben
selbst gezogen. Unter den Menschen, die wir in erster Linie als
»Versuchspersonen« heranziehen können, gibt es nicht allzu viele,
die nicht mindestens irgendeinmal einen begangenen Fehler nach
Vorschrift oder Anleitung bestimmter religiöser Leh-
ren auszuheilen versucht hätten. Das gilt nicht bloß von den einer
christlichen Konfession angehörigen, sondern auch von freireligiösen
1) Der Artikel war zum größten Teile bereits im Juli 1914 gesetzt; auf neuere
Literatur konnten daher nur spärliche Einfügungen Rücksicht nehmen. Der Haupt-
zweck der Arbeit wurde dadurch indes nicht berührt.
40 I. Abhandlungen.
Persönlichkeiten. Absolut gesprochen läßt sich ja eine Reue den-
ken, die auf Gott, auf religiöse Momente nicht ausdrücklich Bezug
nimmt, die derartige Motive vielleicht absichtlich ausschließt. Aber
eine solche Reue ist doch zu allermeist das Produkt besonderer Er-
ziehung und Gewöhnung; der Betreffende will nicht so auf eine
Schuld reagieren, wie es ein religiöser Mensch tut und wie er es
wohl früber selbst getan hat. Kann er aber alle religiösen Mo-
mente, die entweder aus seinem eigenen Vorleben oder doch aus
dem ihn umgebenden Kulturkreise in seine gegenwärtige Bewußt-
seinslage einfließen, ohne weiteres ausschalten oder unwirksam
machen? Wir wollen keineswegs behaupten, daß es innerhalb unse-
rer Kultursphäre niemanden geben könne, der sich in dieser Hinsicht
vollkommen frei von allen bestimmten religiösen Einflüs-
sen zu halten vermöchte; wir sind aber überzeugt, daß man in con-
creto solche Menschen selten antrifft. Uns scheinen demnach Er-
lebnisse wie Reue, Bekehrung fast immer irgendwelche, wenn auch
noch so schwer faßbare religiöse Bestandteile zu enthalten. Dar-
nach variieren Reue und Bekehrung auch in ihrem Erlebnischarakter,
also gerade insoferne sie Otjekte der Psychologie sind. Ganz klar
tritt das hervor, wenn wir die Reueerlebnisse zweier durch kon-
fessionelle Anschauungen getrennter Persönlichkeiten vergleichen.
Die verschiedenen theologischen Lehren müssen sich auch in der
praktischen Verwirklichung der dogmatischen Sätze, im »Leben
nach dem Glauben« kundgeben. Dem muß die Religionspsychologie
Rechnung tragen, indem sie bei der Erforschung bestimmter reli-
giöser Betätigungen die Rücksicht auf die religiöse Lehre oder das
religiöse Bekenntnis, aus dem die Betätigungen herauswachsen, nicht
außer acht läßt.
Das praktische religiöse Leben vollzieht sich aber auch auf dem
Boden gemeinsamer religiöser Ueberzeugungen nicht schlechthin
einheitlich; alle religiösen Lehren lassen der Entfaltung des per-
sönlich eigenartigen Wesens mehr oder weniger
Spielraum. Und wie sehr drückt auch die intellektuelle und emo-
tionale Begabung des einzelnen, die Erziehung, die Erfahrung dem
religiösen Akt ihren Stempel auf! Es ist noch eine Aufgabe der
Zukunft, hier gewisse typische Vorgänge und Verhaltungsweisen
zusammenzuordnen, und zu erforschen, ob diese typischen Erschei-
nungen auf dem Gebiete des religiösen Erlebens irgendwelche Selb-
ständigkeit besitzen oder ob sie nur besondere Gestalten von son-
stigen Veranlagungen des Seelenlebens bilden. Die differentielle
Psychologie hat hier ein weites Feld vor sich.
W underle, Zur Psychologie der Reue. 41
Die aus der religionspsychologischen Forschung gewonnenen
Resultate erscheinen manchem — im Vergleich mit denen der all-
gemeinen Psychologie — zu inhaltsleer, zu wenig tief. Dem wollen
wir nicht widerstreiten. Nur das bemerken wir, daß es eben auf
dem Gebiete der Religionspsychologie nur selten gelingen wird und
gelingen kann, den Dingen auf den Grund zu schauen. Die religiös-
sittlichen Erlebnisse des Menschen sind nach ihren Entstehungs-
bedingungen, nach ihrer Gesamtbewußtseinsform, nach ihrem Ver-
lauf, nach ihrer Wirkung auf die übrige Seelenlage derart verwickelt,
daß sie wohl auch der schärfsten Selbstbeobachtung nie völlig durch-
sichtig werden. Die Fremdbeobachtung hat naturgemäß ebenfalls
einen schweren Stand, weil sie zumeist auf die richtige Auffassung
und Deutung der ihr von der Versuchsperson dargebotenen Selbst-
zeugnisse und anderer Aeußerungen religiösen Lebens angewiesen
ist. Und welch mangelhafte Selbstzeugnisse erhält sie oft bei all
ihrem Bemühen! Die innerlichsten Vorgänge sind dem Erlebenden
selbst nur mühsam erkennbar; sie können durch Sprache, Gebär-
den usw. nur unvollkommen ausgedrückt werden; sie sind durch-
wegs so sehr mit den tiefsten und verborgensten Wurzeln deı Persön-
lichkeit verflochten, daß sie nur mit Widerstreben preisgegeben
werden. Also wahrlich genug Hindernisse und Schwierigkeiten 4),
die den ehrlichen Forscher vor allzu großem Vertrauen auf seine
Ergebnisse bewahren.
Die nachfolgende Studie hat sich die Aufgabe gesetzt, einen
Beitrag zur Psychologie der Reue zu liefern.
Sie will damit zunächst bloß religionspsychologischen Zwecken die-
nen, also den Versuch wagen, die Phänomenologie des Reueerleb-
nisses zu einem kleinen Teil aufzuhellen. Der Verfasser sieht in
den psychologischen Resultaten seiner Arbeit noch keine genügend
feste und sichere Grundlage für praktisch-theologische und reli-
gionspädagogische Folgerungen. Vielleicht erlaubt die beabsich-
1) Ueber diese Hindernisse und Schwierigkeiten hat sich der Verfasser ausführ-
licher verbreitet in seinem Aufsatz: Exakte Moralpsychologie, Randbemerkungen
zu modernen Vorschlägen und Arbeiten (Zeitschrift für christliche Erziehungswissen-
schaft, VI (1912/13) S. 457 ff. und S. 521 ff.); ferner in einem (später [Eichstätt
1915] zu einer selbständigen Schrift erweiterten) Vortrag über Aufgaben und
Methoden der modernen Religionspsychologie (Philosophisches Jahrbuch der
Gorresgesellschaft, XXVII (1914) S. 129 ff.); schließlich in seiner Schrift: Experi-
mentelle Pädagogik, ein Beitrag zur Orientierung (Eichstätt, Ph. Brönner, 1914)
S. 11 ff.
42 I. Abhandlungen.
tigte Vervollkommnung und Erweiterung der beobachtenden Ana-
lyse später derartige Aufstellungen }).
II. Zur Methode der Untersuchung.
Will man die Methode, d. h. den Weg zur Erkenntnis irgend
eines Gegenstandes näher erläutern, so wird man dabei in erster
Linie auf das zu erreichende Ziel, also auf den Zweck der Unter-
suchung zu achten haben.
Der Zweck unserer Studie ist ganz allge-
mein, das konkrete Phänomen der Reue psy-
chologisch zu beschreiben und zu erklären.
Die theologische Darstellung der Reuelehre
liegt der ganzenErörterung vollständig fern;
sie fiele auch aus dem Rahmen einer religionspsychologischen Arbeit.
Freilich kann eine konkrete psychologische Erforschung des Reue-
erlebnisses keinesfalls darauf verzichten, einen klaren theo-
logischen Begriff der Reue vorauszusetzen,
und zwar wenigstens insoferne, als sie sich an Persönlichkeiten wen-
det, die diesen Begriff nicht bloß kennen, sondern auch in ihrem
Leben verwirklichen wollen. Bei religiösen Vorgängen, die als be-
wußte Erfüllung von genau umschriebenen theologischen Begriffen
oder Normen in Erscheinung treten, ergeben sich, wie schon in der
Einleitung bemerkt wurde, ganz naturgemäß von vorneherein be-
stimmte Unterschiede. Innerhalb der katholischen Rechtfertigungs-
lehre besagt die Reue beispielsweise etwas anderes wie innerhalb der
protestantischen. Darum sind Reueerlebnisse, die — ob ausdrück-
lich bewußt oder gewohnheitsmäßig — aus der einen oder aus der
anderen Ueberzeugung entspringen, auch für den Psychologen
zweierlei verschieden qualifizierte Tatsachen. Dieser Punkt dürfte
nicht bloß für die Untersuchung der Reue, sondern auch für viele
andere religiöse Bewußtseinserlebnisse von größter Wichtigkeit sein.
| Wir befassen uns nur mit der Reue, wie sie das katho-
lische Bekenntnis fordert. Die Reue ist nach der katho-
1) G. Deuchler erachtet es im Interesse einer psychologischen Umgestaltung der
Religionspädagogik unter anderem auch für notwendig, die religiösen Bestandteile
in den ethischen Affekten, z. B. in Schuld, Reue und Hoffnung, sowie im sittlichen
Verhalten überhaupt aufzudecken. Deuchler hält diese Probleme für schwierig; viel-
leicht sind sie hinsichtlich von Kindern und Jugendlichen, an die er vorerst aus-
schließlich zu denken scheint, überhaupt nicht lösbar, ehe nicht die entsprechenden
Affekte der Erwachsenen psychologisch einigermaßen aufgeklärt sind. — Deuchlers
Programm ist skizziert in Meumann-Scheibners Zeitschrift für pädagogische Psycho-
logie und experimentelle Pädagogik, XV (1914) S. 54 í.
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 43
lischen Rechtfertigungslehre das entscheidende Moment der Vor-
bereitung zum Bußsakramente; sie wird vom Konzil von Trient
(14. Sitzung, 4. Kapitel) definiert als »animi dolor ac detestatio de
peccato commisso cum proposito non peccandi de cetero« (d. h.
als ein Schmerz der Seele und ein Abscheu über die begangene
Sünde mit dem Vorsatz, in Zukunft nicht mehr zu sündigen). Mit
dem »Schmerz der Seele« ist offenbar zunächst eine gefühlsmäßig
affektive Aeußerung gemeint, während der »Abscheu« eine Willens-
abwendung von der begangenen Sünde bezeichnet. In der bewuß-
ten freiwilligen Abkehr von der bereits vorhandenen Sünde liegt
nach katholischer Auffassung die Hauptsache des Reuevorganges.
Die darin sich bekundende Willenstat ist der Kern der Bekehrung.
Die Reue bezieht sich also auf die Vergangenheit, sie ist — wenn
von den rein übernatürlichen Einflüssen abgesehen wird — eine aus
dem Affekt seelischen Schmerzes geborene Absage des Willens an
die begangene Sünde. Zur vollen »Bekehrung« allerdings rechnet
man nicht bloß die rückschauende Reue, sondern auch den damit
zu verbindenden vorschauenden Willen oder Vorsatz, in Zukunft
das zu meiden, was man zu bereuen hatte.. Der Vorsatz ist als ein
eigener Akt zu betrachten, der die ganze seelische Bewegung be-
endigt; mit ihm ist die conversio, die »BBekehrung«!) innerlich
zum vollkommenen Abschluß gebracht.
Nach Ansicht der katholischen Theologie ist die ganze Bekeh-
rung ein mit übernatürlicher Gnadenhilfe begonnener und von ihr
begleiteter seelischer Prozeß, dessen wichtigstes Stadium die be-
wußte freiwillige Abkehr von der bisherigen Sünde bildet. Psycho
logisch muß nun ermittelt werden, wie sich diese normative Be-
stimmung im konkreten Seelenleben des einzelnen abspiegelt. Da die
übernatürlichen, zur Wertung des ganzen Vorganges notwendigen
Einflüsse psychologisch nicht ohne weiteres konstatierbar sind, han-
delt es sich demnach darum, die Phänomenologie der reuevollen
Abwendung des Willens von der Sünde zu beschreiben, dann die
Beziehung dieses Zentralaktes der Bekehrung zu den ihn einleiten-
den Gefühlen und Affekten sowie zu dem in der Regel unmittel-
1) Ueber diesen schwierigen religionspsychologischen Begriff sucht man in
Starbuck-Betas Religionspsychologie (Leipzig 1909), in der doch die sconversion«
eine zentrale Bedeutung hat, vergeblich nach gründlicher Aufklärung. Psycho-
logisch ungenügend ist auch die Erörterung über die Bezeichnungen sconverti« und
sconversion« in Th. Mainage’s Introduction & la Psychologie des Convertis (Paris
1913), pag. 10 ff. Vielleicht bringt der letztgenannte Autor in seiner angekündig-
ten Psychologie de la Conversion eine umfassendere Darstellung.
44 I. Abhandlungen,
bar folgenden Willensentschluß der künftigen Besserung heraus-
zustellen. Das psychologische Bild der Reue wird dann noch da-
durch zu ergänzen sein, daß die Wirkung des Reuevorganges anf
das übrige seelische Leben und auf das körperliche Befinden be-
obachtet wird.
In dem vorliegenden ersten Versuch zu einer Psychologie der
Reue haben wir eine Reihe an und für sich gewiß nicht neben-
sächlicher Fragen absichtlich ausgeschaltet oder doch nicht in dem
Grade berücksichtigt, wie man es aus theologischen Gründen
vielleicht wünschen möchte; wir nennen beispielsweise den psycho-
logischen Unterschied der sogenannten vollkommenen und unvoll-
kommenen Reue. Wir halten dieses spezielle Problem für zu schwie-
rig, als daß es schon in einer vorbereitenden Studie über die Phä-
nomenologie des Reueerlebnisses im allgemeinen ausführlich be-
sprochen werden könnte. Dagegen ist es uns zur genauen psycho-
logischen Charakteristik der eigentlichen, d. h. freiwillig und be-
wußt hervorgerufenen (religiösen) Reue als unerläßlich erschienen,
die Versuchspersonen um eingehenden Aufschluß über jene Er-
lebnisse zu bitten, die einerseits in der populären Redeweise oft als
Reue bezeichnet, anderseits auch tatsächlich mit dem eigentlichen
Reuevorgang Aehnlichkeit und Zusammenhang aufweisen; wir mei-
nen die unwillkürliche Reue oder Gewissensregung und die
Stimmung oder Gesinnung der Reue. Diese bei-
den machen also mit der eigentlichen Reue den gesamten
Gegenstand unserer Untersuchung aus. Wir haben ihnen deswegen
solche Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie — insbesondere die
Gewissensregung oder der Gewissensvorwurf — im Gegensatz zu
der eigentlichen, theologisch normierten Reue gewissermaßen schon
als natürliche Reaktionen auf einen begangenen Fehl-
tritt sich einstellen, alsc von Hause aus weder überhaupt religiös
noch viel weniger konfessionell gefärbt sein müssen. Sie werden aller-
dings in concreto bei einem religiösen Menschen verhältnis-
mäßig selten als bloß natürlich-sittliche Aeußerungen anzutreffen sein;
aber die wenigen Fälle sind vielleicht geeignet, die besondere Art
des religiösen Gewissens und der religiösen Reue gegenüber der
natürlich-sittlichen Reaktion schärfer zu beleuchten.
Auf welchem Wege nun gelangen wir zur Psychologie der Ge-
wissensregung, der eigentlichen Reue, der Reuegesinnung ?
Es ist klar, daß die Selbstbeobachtung dabei die
Hauptrolle spielt. Das ist um so mehr der Fall, als gerade bei den
verwickelten Seelenvorgängen die einigermaßen zuverlässige Deutung
ee msn —— a
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 45
fremder psychischer Erscheinungen nur möglich ist auf Grund sorg-
fältiger Beobachtung und richtiger Erfassung des eigenen Bewußt-
seins. Der Versuchsleiter muß das in Frage kommende Erlebnis
nicht bloß an sich erfahren, sondern auch zum besonderen Gegen-
stande seiner Selbstwahrnehmung gemacht haben; er wird zum
Verständnis der religiösen Erlebnisse anderer zudem die Art
des religiösen Vorganges, so wie er etwa in einer bestimmten reli-
giösen Umgebung zu erscheinen pflegt, aus eigener Ue bung kennen
müssen. Nur so werden ihm nach und nach jene
Punkte deutlich werden, die er selbst als
charakteristische festzuhalten und von an-
deren zu erfragen hat.
Wenn man nach möglichster Klärung seiner eigenen Erlebnisse
daran geht, diejenigen anderer zu beobachten, kann es natürlich
nicht in erster Linie Zweck dieser Beobachtung sein, bei anderen
eine Bestätigung eigener Erfahrungen zu suchen. Der Versuchsleiter
darf vielmehr die Ergebnisse seiner eigenen Selbstbeobachtung nur
als Bedingung, als Hilfsmittel benützen, um die Bekundungen ande-
rer richtig zu verstehen und zu deuten. Er muß sich dabei stets
gegenwärtig halten, daß seine eigene Kenntnis unter Umständen
auch eine große Gefahr für die getreue Erfassung und Auslegung
fremder Zeugnisse bildet. Er wird solcher Gefahr am besten ent-
gehen können, wenn er von seinen Versuchspersonen möglichst
genaue und spezialisierte Aussagen erzielt und den Vergleich der-
selben miteinander mit sorgsamster Objektivität durchführt.
Die Kundgebungen der Versuchspersonen müssen auf eindring-
licher Selbstwahrnehmung beruhen. Die Selbstwahrnehmung wird
nur dann wissenschaftlichen Wert haben, wenn sie nicht aufs Ge-
ratewohl unternommen, sondern nach bestimmten Gesichtspunkten,
also methodisch angestellt wird. Zur Darbietung solch ordnender
Richtlinien dürfte sich ein Fragebogen am besten empfehlen.
Die mündliche Unterredung und Befragung braucht deswegen nicht
völlig ausgeschaltet zu werden; wir versprechen uns aber bezüglich
der tiefsten religiösen und sittlichen Regungen davon nicht mehr,
als eine gewisse Verdeutlichung und Ergänzung der bereits schrift-
lich gegebenen Antworten. Sie scheint uns also erst nach Abschluß
der schriftlichen Kundgebung nützlich zu sein. Von Anfang an
bloß mündlich mit einer Versuchsperson zu verhandeln, hätte be-
sonders in unserem Falle, wo so viel Beschämendes und Nieder-
drückendes hereinspielt, den großen Nachteil, daß manche Versuchs-
personen ihre Aussage als eine förmliche Beichte auffassen würden;
46 _ I. Abhandlungen,
die Gegenwart des Ausfragenden wäre dann häufig eine Beengung
für sie, die nur durch ein sehr hohes Maß von persönlichem Vertrauen
zu dem Versuchsleiter überwunden werden könnte. Wo dies nicht
vorhanden wäre, müßte eine wohl begreifliche Zurückhaltung die
Vollständigkeit der Antwort stark beeinträchtigen. Wenn da-
_ gegen der Fragebogen jeder Versuchsperson ganz für sich allein
zur Ausfüllung eingehändigt wird, entschließt sie sich viel leichter
zu einer genauen Aeußerung über die betreffenden Vorgänge und
fühlt sicherlich weniger inneren Widerstand, die Resultate ihrer
Selbstbesinnung wahrheitsgetreu und erschöpfend — soweit eben
das überhaupt möglich ist — niederzuschreiben.
Welcher Art wird nun die Selbstbesinnung und Selbstbeobach-
tung sein müssen, die der gefragten Versuchsperson den Stoff zu
ihren Antworten liefert? Suchen wir diese Frage gleich mit kon-
kreter Bezugnahme auf das Reueerlebnis zu lösen. |
Ich kann einen Reuevorgang oder einen Gewissensvorwurf aus
der bloßen Erinnerung beobachten, ich kann ihn direkt oder in-
direkt erzeugen und während seines Ablaufes verfolgen, ich kann
unmittelbar nach seiner Vollendung auf ihn zurückschauen. Da-
nach unterscheiden wir für unseren Zweck dreierlei Arten von Selbst-
beobachtung, die bloß aus der Erinnerung schöp-
fende, die begleitende, dienachträgliche.
Die aus bloßer Erinnerung schöpfende Selbst-
beobachtung ist, wie fast auf allen Gebieten der Psychologie,
so auch bei unserem Problem, recht unzuverlässig. Zum Zwecke
der Beobachtung muß ein früherer Reuevorgang ins Gedächtnis ge-
rufen, d. h. etwa nach Art einer Vorstellung reproduziert werden.
Selten gelingt das in der Weise, daß man mit Sicherheit annehmen
kann, die jetzige Reproduktion decke sich mit dem früheren ur-
sprünglichen Erlebnis. Die Reue ist an und für sich schon ein ver-
wickelt zusammengesetzter Akt, sie wird zudem sowohl intensiv
wie nach dem Grade ihrer emotionalen Auswirkung von augenblick-
lichen inneren Zuständen usw. beeinflußt, so daß ihre ehemalige
konkrete Beschaffenheit wohl nie wieder hergestellt werden kann.
Sichere Merkmale für die Ausscheidung von vermutlichen Erinne-
rungstäuschungen dürften bei der Kompliziertheit der ganzen Er-
scheinung nicht leicht aufzufinden und auseinanderzuhalten sein.
Die bloße Erinnerung verbürgt also kaum jemals unanfechtbare
Resultate; sie kann schwerlich anders wie aushilfs- und ergänzungs-
weise herangezogen werden.
\
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 47
Die begleitende Selbstwahrnehmung erfordert
gerade auf dem Gebiete der religiösen!) Erlebnisse eine eigene Be-
handlung. Wir übergehen die Schwierigkeiten, die von allgemei-
nen psychologischen Gesichtspunkten aus dagegen geltend gemacht
werden, insbesondere die Tatsache, daß die Verteilung der Aufmerk-
samkeit auf den Vorgang des Beobachtens und auf die beobach-
tete psychische Erscheinung die letztere der Möglichkeit voller
und naturgemäßer Entwicklung berauben kann; wir heben nur
Bedenken hervor, die aus der Eigenart der religiösen Erlebnisse
als solcher entspringen. Die religiösen Erlebnisse werden als psy-
chische Komplexe getragen von einer bestimmten Absicht, d. h. sie
sind als Gefühls-, Willensäußerungen usw. auf Gott, auf den Dienst
Gottes oder sonst auf ein religiöses Motiv bezcgen. Ob diese Be-
ziehung aus einer allgemeinen Gesinnung erwächst oder ob sie durch
einen eigenen Akt gesetzt ist, bedeutet für unseren Zweck
keinen wesentlichen Unterschied. Jedenfalls ist soviel sicher, daß
Gefühle, Willensvorgänge usw., wenn sie »religiös« gewertet sein
wollen, anders »gemeint« sein müssen, wie etwa innerhalb des übrigen
seelischen Geschehens. Gewiß ist auch, daß dieses »Anders (d. h.
religiös) gemeint sein« zweifellos durch irgendwelches besondere
psychologische Charakteristikum sich bekunden muß, sei es als eine
Art »determinierender Tendenz« oder als eine Art »Einstellung« oder
sonst auf irgendeine Weise; das zu entscheiden ist hier nicht der
Ort. Auf alle Fälle verträgt sich die religiöse Absicht einer psy-
chischen Tätigkeit nicht zu gleicher Zeit mit der (wissenschaftlichen)
Absicht, eben diese religiös gemeinte Tätigkeit zu beobachten. Es
ist eine unbestreitbare Eigenschaft gerade des Religiösen, mit dem
Anspruch absoluter Geltung aufzutreten. Ein religiöser Vorgang,
also beispielsweise ein Reueerlebnis, kann demnach nicht gleichzeitig
religiös gemeint und absichtlich als Gegenstand wissenschaftlicher
Beobachtung gewählt sein. Beide Absichten schließen sich aus;
die Absicht der Beobachtung nimmt dem religiösen Vorgang nicht
bloß seinen (religiösen) Wert, sondern verändert auch die psycho-
Icgische Beschaffenheit, die er als religiös gemeinter Akt hatte.
Daher ist die begleitende oder gleichzeitige Selbstbeobachtung schon
psychologisch ungeeignet zur Erforschung religiöser Erlebnisse.
Vom Standpunkt der religiösen Wertung aus muß sie erst recht
abgelehnt werden, weil sie gegen die Würde der Religion verstößt;
sie drückt die religiösen Handlungen zu Scheinhandlungen herab
1) Wir können für unseren Zweck hier die sreligiösen« und >sittlichen« Er-
lebnisse auf eine Linie stellen.
48 I. Abhandlungen.
und setzt an die Stelle des überzeugten religiösen Erlebens eine Re-
ligion des »Als ob«, eine probierende Vorspiegelung. Dies ist be-
sonders dann der Fall, wenn die Absicht der Beobachtung der einzige
Beweggrund für die vermeintliche religiöse Betätigung ist, wenn
man also eine religiöse Handlung deswegen hervorruft, um sie psy-
chologisch erforschen zu können. Jeder Versuch, die sittlich-reli-
giöse Bekehrung, das Reueerlebnis so zu mißbrauchen, müßte
ernsten Menschen abstoßend und widerwärtig erscheinen.
Gegen die nachträgliche Selbstbeobachtung
bestehen die zuletzt erwähnten Einwände nicht. Eben vergangene,
in unmittelbarster Erinnerung haftende religiöse Bewußtseinsvor-
gänge wissenschaftlich zu betrachten, verändert weder ihre eigen-
tümliche Art noch verletzt sie die Würde des religiösen Erlebens.
Die Geschichte der Mystik bestätigt, daß dieses Verfahren nicht
selten von hervorragenden religiösen Persönlichkeiten geübt worden
ist. A. Poulain S. J. nimmt auf diese Tatsache ausdrücklich Bezug;
er verteidigt die wissenschaftliche Untersuchung des Gebetslebens
unter anderem gegen folgenden Einwand: »Pour rendre compte de
ses états d’oraison, il faudra s’examiner, se replier beaucoup sur
soi-même; ce qui a des inconvénients.« Seine Erwiderung lautet:
»D’abord, si le directeur a étudié la mystique, il peut questionner
sans qu’on ait besoin du moindre examen avant sa visite. Ensuite,
ce qui serait facheux, ce serait de s’interroger pendant l’oraison,
méme s’il s’agit de l’oraison ordinaire. Ce serait se distraire. Mais,
après coup, il ya un examen modéré qui est permis, sans quoi Ste.
Therese et tant d’autres n'auraient pu écrire leurs beaux ouvrages«!).
Man darf sich dabei freilich nicht verhehlen, daß ein solch nach-
trägliches »examen modéré« nicht den Vorgang selbst, sondern bloß
ein Erinnerungsbild zum Gegenstand hat; das Erinnerungsbild ist
aber frisch, meist sogar noch von eben abklingendenBewuBtseinselemen-
ten erfüllt, so daß bei konzentrierter Aufmerksamkeit dem einiger-
maßen Geübten wohl das Auffälligste des Vorganges klar wird.
Von Personen, die nicht die Gewohnheit haben, sich über seelische
Vorgänge im allgemeinen und über religiöse Erlebnisse im beson-
deren Rechenschaft zu geben, ist freilich nicht sehr viel zu hoffen.
Bei der Umfrage wird also die Auswahl der zu Befragenden vor-
nehmlich nach diesem Gesichtspunkte zu treffen sein. Der Ver-
suchsleiter wird gar bald auch an solchen, deren Geübtheit ihm durch
persönliche Erfahrung bekannt ist, bemerken, daß ihre Angaben
1) A. Poulain S. J., Des Graces d’Oraison, Traité de Théologie Mystique (Paris
* 1909) pag. 577.
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 49
nicht zu häufig über das Augenfälligste hinausgehen, wenigstens
soweit das Gebiet der eigentlich erlebten Tatsachen reicht.
Die Kundgabe von wirklich erlebten psychischen Vorgängen ist aber
beim ganzen Versuch die Hauptsache. Je schwerer solch innere Er-
eignisse zu fassen sind, desto leichter kommt die gefragte Versuchs-
person dazu, statt ihrer Erlebnisse ihre Reflexionen oder Werturteile
niederzuschreiben. Auch ziemlich Geübte sind nicht frei von derarti-
gen Neigungen. Dazu kommt, daß bei der Reue zweifellos unterbe-
wußte Elemente mitwirken; sie bleiben deı Selbstbeobachtung über-
haupt unzugänglich. Hierin liegt — von den rein übernatürlichen
Faktoren abgesehen — wohl die unüberwindlichste Grenze der ganzen
Untersuchungsmethode. Wir gehören nicht zu denjenigen, die
im UnterbewuBtsein schlechtweg die Quelle aller religiösen
Erscheinungen suchen; diese Ansicht scheint uns wirklich ein
asylum ignorantiae zu sein*). Aber das halten wir für unbestreit-
bar, daß dem Unterbewußtsein auch bei den religiösen Erleb-
nissen eine große Bedeutung eignet. Schon von dieser Erkenntnis
aus kann man für die Bearbeitung der Antwortprotokolle die
Regel gar nicht genug betonen: Was in der Aussage nicht enthalten
ist, darf nicht ohne weiteres als nicht vorhanden gelten. Unter-
bewußt wirkende Elemente gelangen nicht ins Bewußtsein, obwohl
sie in ihrer Art das betreffende seelische Geschehen vielleicht stark be-
einflussen. Von den bewußt psychischen Teilprozessen gibt es sicher-
lich solche, die im Augenblick der Selbstbeobachtung nicht mehr
aktuell gegenwärtig, d. h. also schon kurz nach ihrem Ablauf »ver-
gessen« sind und solche, die überhaupt keine aufmerksame Beach-
tung gefunden haben. In beiden Fällen konnte aber das in der
nachträglichen Selbstwahrnehmung nicht erfaßte und somit auch
in dem Protokoll nicht aufgeführte Teilerlebnis ein wichtiger Teil des
Gesamtvorgangs gewesen sein. Rechnet man zu all diesen der Unter-
suchung nicht günstigen Momenten noch die unvermeidliche Sug-
gestion, welche durch die notwendige Bestimmtheit der Fragen
ausgeübt wird, so hat man wahrlich Gründe genug, um die Objekti-
vität der Antworten nicht zu überschätzen. Die Deutung der Aus-
sagen wird nicht weniger durch die sachliche Kompliziertheit als
durch die Mangelhaftigkeit des sprachlichen Ausdruckes erschwert.
1) Zur Frage des Unbewußten im religiösen Erleben vgl. G. Weingärtner, Das
Unterbewußtsein, Untersuchung über die Verwendbarkeit dieses Begriffes in der
Religionspsychologie (Mainz 1911). J. Pacheu, L’expérience Mystique et l’Activite
Subconsciente (Paris 1911). A. Gemelli, L'origine subcosciente dei fatti mistici
(Firenze, #1913).
Archiv für Religionspsychologie IL/III. 4
50 I. Abhandlungen.
Zum Schlusse unserer kurzen methodologischen Erörterungen
fügen wir noch eigens bei, daß wir unsere Studie ausdrücklich nicht
als »vexperimentelle« bezeichnen. Wir verstehen unter
»Experiment« eine erprobende oder probierende Beobach-
tung; in der Religionspsychologie halten wir ein solches Verfahren
für- verfehlt. Unsere Untersuchung hat den Zweck, einige Ergeb-
nisse einer konstatierenden Beobachtung darzu-
bieten; sie kann und will also auch nicht als Darstellungs-
experiment im modernen Sinne gelten }).
III. Die Umfrage.
Unsere Umfrage entspricht in ihrer gesamten Durchführung
den im vorstehenden entwickelten methodischen Grundsätzen. So-
weit die Kenntnis dieser Grundsätze zum Verständnis des Unter-
suchungszweckes notwendig war, haben wir sie mit in die Versuchs-
instruktion aufgenommen. Sie wurde allen Versuchspersonen auf
einem vom Fragebogen gesonderten Blatt mit dem Titel »V or-
bemerkungen« eingehandigt. Wir geben diese »Vorbemer-
kungen« im Wortlaut:
1. Bei der vorliegenden Umfrage handelt es sich darum, über den
Vorgang der Reue näheren Aufschluß zu gewinnen. Es soll ermittelt
werden
a) in welch verschiedenen Formen sich die Reue im Bewußtsein fin-
det; b) wie sich die Hauptformen der Reue, d. h. die von selbst auftre-
tende Reue (,Gewissensbi8"), die absichtlich erweckte Reue
(z. B. vor der Beichte) und die Stimmung der Reue (,‚Bußgesinnung‘')
psychologisch von einander unterscheiden; c) es soll ferner festgestellt
werden, in welcher Weise Gefühl und Wille an der Reue beteiligt sind,
und d) welche Wirkungen die Reue auf das Gesamtbewußtsein und auf
das körperliche Befinden ausübt.
2. Zur Beantwortung der einzelnen Fragen ist es notwendig, auf-
merksam auf ein eben erst vergangenes Reueerlebnis, oder, falls das nicht
möglich ist, auf frühere, aber noch klar erinnerliche Reueerlebnisse zurück-
zublicken. Unter keinen Umständen soll ein Reueakt erweckt werden
ausschließlich zum Zwecke der Selbstbeobachtung. Durch die vorher-
gehende Absicht der Beobachtung würde das Erlebnis in seiner Echtheit
geschädigt werden.
3. Vor der Beantwortung ist der ganze Fragebogen aufmerksam zu
lesen.
4. Die Fragen dürfen weder vor noch nach der Beantwortung mit
anderen Personen besprochen werden.
1) Unser Verfahren erfüllt im wesentlichen die Forderungen, die R. Barwald
für die »Methode der vereinigten Selbstwahrnehmung« aufgestellt hat; vgl. Ebbing-
haus’ Zeitschrift für Psychologie XLVI, 3, S. 174 ff. — Zur gınzen Frage vergleiche
W. Baades Artikel über psychologische Darstellungsexperimente (Wirth‘s Archiv
für die gesamte Psychologie XXXV (1916), S. ıff.) und J. Lindvorskys Schrift:
Der Wille (Leipzig 1919) S. 1 ff.
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 51
5. Solche Fragen, zu deren Beantwortung die Selbstbeobachtung
. keinen Stoff liefert, wolle man unberücksichtigt lassen; auf keinen Fall
wolle man irgendwelche Angaben machen, die nicht genau mit der
Selbstbeobachtung übereinstimmen. Für die Untersuchung sind eben
nur tatsächliche Bewußtseinsvorgänge von Belang. Also lieber
keine Antwort als eine solche, die nur Vermutungen oder Deutungen
enthält.
6. Solche Fragen, die man zwar beantworten könnte, aber aus irgend
einem persönlichen Grunde nicht beantworten will, mögen mit einem
durchstrichenen Fragezeichen (?) versehen werden.
7. Die Antworten. wollen mit Ueberlegung gegeben und in verständ-
licher, einfacher Sprache abgefaßt werden. Es empfiehlt sich, dieselben
je auf einem besonderen Blatt, das mit der Nummer der Frage versehen
ist, niederzuschreiben. Diese einzelnen Antwortblätter sollen keinen
Namen aufweisen. Der Name des Beantworters möge auf einem eigenen
kleinen Zettel beigeschlossen werden. Der Fragebogen ist mit abzulie-
fern. Das Ganze bitte ich in spätestens 8 Tagen an meine Adresse zu
übermitteln.
8. Die eingehenden Antworten, für die ich den freundlichen »Versuchs-
personen« zu aufrichtigstem Danke verbunden. bin, sollen zur Lösung
eines wissenschaftlichen Problems dienen; sie werden selbstverständlich
mit der allergrößten Diskretion — auch bei etwaiger wissenschaftlicher
Veröffentlichung — behandelt; es ist ausgeschlossen, daß die Versuchs-
personen gegenseitig von ihren Aussagen etwas erfahren; noch weniger
wird der Name einzelner Versuchspersonen sonstwie preisgegeben.
Der Fragebogen selbst wurde den Versuchspersonen in
einem Zeitpunkte zugestellt; da sie eben auf eine vor der Beichte
erweckte Reue zurückschauen konnten. Die Fragen lauteten fol-
gendermaßen:
A.
1. Haben Sie Gewissensvorwürfe oder »Gewissens-
bisse« bei jedem Fehltritt oder nur bei ernsteren, besonders bei
ganz freiwilligen Verfehlungen? Drängen sich die Gewissensbisse
sofort oder erst später auf?
2. Haben Sie sich in dem Fall, wo die Gewissensbisse sofort nach dem
Fehltritt auftraten, ein klares Urteil über die Verwerflichkeit der
fehlerhaften Tat gebildet? Oder haben Sie sich ohne weitere Be-
ee gesagt: »Das hätte ich nicht tun dürfen«? Oder haben
ie überhaupt nur eine plötzliche Unruhe, Furcht oder Aehnliches
verspürt ? |
3. Bemerken Sie bei Gewissensvorwürfen bestimmte Gefühle 1)? Etwa.
Unlust, Ekel, Beschämung, Furcht, Schrecken, Unzufriedenheit,
Abscheu oder andere Gefühle? Haben Sie Unlust oder Ekel oder
Beschämung usw. gehabt gegen das, was Sie getan haben, oder gegen
sich selbst ?
4. Bemerken Sie bei Gewissensvorwürfen neben den Gefühlen der Un-
lust, des Ekels, der Beschämung usw. noch eine deutliche Wegwen-
dung Ihres Willens von der eben geschehenen Tat? Machen Sie jedes-
mal oder oft einen eigenen Vorsatz, so etwas nicht mehr zu tun?
1) Der Ausdruck „Gefühle‘‘ mußte zugleich als Bezeichnung für die Affekte
dienen.
4*
52
IO.
I2.
I3.
I4.
15.
16.
17.
18.
I. Abhandlungen.
Wird der Gewissensvorwurf bei Ihnen zur wirklichen Unruhe oder zur
Niedergeschlagenheit? Wie lange dauert diese Stimmung? Tritt
von selbst wieder Ruhe ein oder bedarf es eines besonderen Mittels,
um diese Ruhe herzustellen? Welches Mittel wenden Sie an?
. Wird Ihr körperliches Befinden durch einen Gewissensvorwurf ver-
ändert oder nicht? Fühlen Sie sich beklommen oder nervös erregt?
Wie bekundet sich das? (Herzklopfen oder Aehnliches.)
. Taucht die Erinnerung an den Fehltritt und an den mit ihm verbun-
denen Gewissensvorwurf später jemals wieder kräftig auf? Ist die
Gewissensregung dann auch annähernd so stark wie das erstemal
gleich nach der begangenen Tat ?
. Haben Sie den Fall erlebt, daß Sie gleich nach einem Fehltritt zwar
keinen Gewissensbiß spürten, wohl aber nach einiger Zeit, wenn
Ihnen die damals begangene Tat ins Gedächtnis kam (etwa bei einer
Predigt, bei geistlicher Lesung usw.). Ist ein solcher Gewissensvor-
wurf stärker oder schwächer wie beispielsweise jene Gewissensbisse,
die Sie sonst unmittelbar nach einem Fehltritt empfinden ?
. Ist Ihnen außer den erfragten Angaben noch etwas über die Gewis-
sensvorwürfe bewußt ?
B.
Sind Sie vor der Beichte gewohnt, die Reue frei und auswendig zu
machen oder aus einem Gebetbuche zu nehmen ?
. Worauf kommt es Ihnen bei der Erweckung der Reue
hauptsächlich an? Haben Sie für sich selbst ein besonderes Kenn-
zeichen herausgebildet, aus dem Sie schließen, daß Sie eine wahre
und gute Reue gehabt haben?
Setzen Sie sich jedesmal schon von vornherein einen bestimmten
Beweggrund fest, aus dem Sie Ihre Sünden bereuen, oder kommt
Ihnen ein bestimmter Beweggrund erst während der Reue zum Be-
wußtsein? Haben Sie für bestimmte Beweggründe eine Vorliebe?
Welche sind das? Warum bevorzugen Sie dieselben? Etwa des-
wegen, weil Sie sich von ihnen einen besonderen seelischen Eindruck
versprechen ? Oder aus einem andern rein religiösen Grund ?
Denken Sie bei der Reue an bestimmte einzelne Fehltritte oder an
alle oder bloß allgemein an Ihre Sündhaftigkeit? In welchem Falle
erwecken Sie die Reue leichter ?
Haben Sie bei der Reue bestimmte, deutliche Gefühle der Unlust,
des Ekels, der Beschämung, der Furcht, des Schreckens, der Unzu-
friedenheit, des Abscheus? Wodurch werden diese oder andere Ge-
fühle verursacht ? Erregt der Gedanke an das bevorstehende Beich-
ten in Ihnen besondere Gefühle? Welches von all diesen Gefühlen
ist bei Ihnen in der Regel am stärksten? Haben Sie je eigentlich `
Schmerz empfunden? Haben Sie je Neigung zum besonderen ä u B e-
ren Ausdruck der Reue gefühlt, etwa zum Weinen ?
Kommt Ihnen außer den Gefühlen noch eigens eine Abwendung Ihres
Willens von den begangenen Fehltritten zum Bewußtsein? Oder
sprechen Sie diese Abwendung des Willens erst in dem »guten Vor-
satz« aus?
In welcher Stimmung sind Sie unmittelbar nach der Reue? Wie
lange dauert diese Stimmung an? |
Fühlen Sie sich durch die Reue körperlich angestrengt ?
Können Sie außer den erfragten Angaben noch etwas über das Reue-
erlebnis aussagen ?
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 53
C.
19. Haben Sie, abgesehen von einzelnen Gewissensvorwürfen und abge-
sehen von der Reue vor der Beichte dann und wann eine allge-
meine Stimmung der Reue oder eine »Bußgesin-
nung«?
20. Ist diese Stimmung oder Gesinnung nur die Folge der Gewissens-
regungen und des Bußsakramentes, oder wird sie auch durch andere
Ursachen veranlaBt? Knüpft sie sich dann an besondere religiöse
Handlungen (Gottesdienst, Predigt, geistliche Lesung usw.) oder ist
sie schon mit anderen religiösen Stimmungen (z. B. mit der Andacht)
gegeben, oder stellt sie sich dann besonders leicht ein, wenn Sie kör-
perlich unpäßlich oder seelisch niedergeschlagen sind ?
2I. Was erscheint Ihnen am deutlichsten und stärksten in dieser Stim-
mung der Bußfertigkeit: Die Erkenntnis Ihrer Sündhaftigkeit oder
die Gefühle der Unlust, des Ekels, der Beschämung usw. oder die
Wegwendung Ihres Willens von der Sünde ?
22. Wie wirkt diese Stimmung auf Ihr sonstiges religiöses Leben ?
23. an Sie diese Stimmung zu erhalten oder zu beseitigen? Wo-
urch :
24. Bemerken Sie an dieser Reuestimmung noch etwas, was in den vor-
stehenden Fragen nicht zum Ausdruck gekommen ist ?
IV. Die Antworten.
Die Fragebogen wurden an insgesamt 31 Personen katholischer
Konfession hinausgegeben. Eine Versuchsperson!) konnte sich
zur Beantwortung nicht entschließen. Es beteiligten sich also im
ganzen 30 Personen. Versuchsperson I hielt sich in ihrem Protokoll
nicht an die Gliederung des Fragebogens, sondern berichtete in freier
Kundgabe über ihre Erlebnisse bei reuigen Gewissensregungen; sie
nahm dabei mit Absicht von einer Schilderung der Reue vor der
Beichte Umgang. Das Protokoll ist nichtsdestoweniger sehr be-
merkenswert. Die übrigen Beantworter wurden den Fragen nicht
alle in gleicher Weise gerecht. Zum Teil sagten sie zu viel über die
bei ihnen an die Reue und Beichte sich anschließenden sonstigen
seelischen Vorgänge und ließen das eigentlich Psychologische, das
doch in Frage stand, nicht voll zur Geltung kommen. Manche
Antworten enthielten ethische Reflexionen und Werturteile, die
wiederum für die gegenwärtige Untersuchung keinen Ertrag ab-
werfen konnten. Trotz allem fand das rein Psychologische ge-
nügend-Beachtung. Bei der unten folgenden Wiedergabe der Ant-
wortprotokolle wurde auf das rein Psychologische naturgemäß das
Hauptgewicht gelegt; die anderen Angaben der Versuchspersonen
wurden meist gänzlich ausgemerzt; nur solche blieben stehen, die
zur psychologischen Charakteristik notwendig oder dienlich schienen.
1) Der Ausdruck gefällt uns zwar nicht sonderlich, wir behalten ihn aber bei, da
er nun einmal üblich ist. Im folgenden wird er mit Vp. abgekürzt.
54 I. Abhandlungen,
Sämtliche Versuchspersonen waren dem Verfasser als ernste,
über ihr religiöses Leben nachdenkende Menschen bekannt. Die
Versuchspersonen ı mit 13 waren Herren; darunter
die Versuchspersonen I und 2 Laien, Versuchspersonen 3 mit 9 Theo-
logiekandidaten und Weltgeistliche, Versuchspersonen Io mit 13 An-
gehörige einer religiösen Genossenschaft. Laien waren schwer für
die Beantwortung zu gewinnen; darum erscheint auch ihre Zahl
verhältnismäßig zu klein. Es wäre eine Arbeit für sich, das Reue-
erlebnis der männlichen Laienwelt, insbesondere der sog. Gebilde-
ten, zu studieren. Von den weiblichen Versuchsperso-
nen (14 mit 30) waren die Versuchspersonen 14 mit 19 Damen
verschiedener Laienberufe, die Versuchspersonen 20 mit 30 An-
gehörige von drei religiösen Genossenschaften.
Die einzelnen Antwortprotokolle lauten:
Vp. I.
In jenen Fallen, da ich Unrechtes getan oder das Rechte zu tun unterlassen habe,
stellt sich bei mir — fast immer sofort — der Selbstvorwurf ein: Das hatte nicht sein
sollen! Einer gewissen nervösen Unruhe folgt dann eine Ueberlegung, bei der die
Versuche der Selbstentschuldigung (Anlage des Charakters, des Temperaments, Schuld
der Umwelt, Zufälligkeiten) zunächst keine eben geringe Rolle spielen. Doch hält
das nicht lange an und der gemachte Fehler wird dann alsbald, wie mir scheinen
will, ziemlich klar erkannt. — Was aber nun bei der Selbstbetrachtung folgt, kann ich
weniger »Reue« nennen als »Veberlegung und Vorsatze Ich suche mir klar zu ma-
chen, wie ich denn zu dem Fehltritt kam und wie er in Zukunft zu vermeiden ist.
Vor allem: Wie kam es zu der Sache und wann, wo, wie können wieder ähnliche
Umstände eintreten und wie muß ich denen begegnen ? Daran knüpft sich der Vor-
satz, gut zu machen, soweit das möglich ist, und durch Betätigung reiner Nächsten-
liebe irgendwie das Begangene zu sühnen. Die Ruhe der Seele stellt sich am rasche-
sten ein, wenn ich bald nach solchen Selbstbetrachtungen Gelegenheit zu ganz selbst-
losen Taten finde. — Ertappe ich mich auf Wiederholungen eines bestimmten Fehl-
tritts, so nehme ich mir vor, die in Frage stehende Sache täglich einmal in einer stil-
len Stunde recht zu überdenken und meine seelische Widerstandskraft gegen Wieder-
kehr des Fehltritts nach Möglichkeit zu wappnen. Diese Gewohnheit hatte nicht
selten guten Erfolg. — Noch eins: Zu rechter Reue bringe ich es auch deshalb selten,
weil ich deutlich zu sehen glaube, daß gewisse Verfehlungen ihren Urgrund in einer
angeborenen , nie ganz wegzubringenden Seelenanlage haben. Da bin ich denn schon
zufrieden, wenn ich sehe, daß es mir gelingt, die hieraus entspringenden Fehltritte
auf ein möglichstes Minimum zu reduzieren. In der Hauptsache suchte ich mich stets
an Jean Pauls Wort zu halten: »Verzage nicht, wenn du einmal fehlest, und deine
Reuc sci cine schönere Tat!«
Vp. 2.
1. Auch bei leichteren Fehltritten, insbesondere dann, wenn ich mir die Ver-
meidung des Fehlers besonders vorgenommen hatte. Die Vorwürfe treten meist so-
fort auf. Bei leichteren Fehlern dann, sobald mir die Fehlerhaftigkeit zum Bewußt-
sein kam. — 2. Bei solchen Verfehlungen blieb es nicht bei der plötzlichen Unruhe.
Es kam immer das Bewußtsein dazu »Das hätte ich nicht tun dürfen«, nur manchmal
auch noch die Begründung dieses Bewußtseins der Verwerflichkeit. — 3. Unbehagen,
Unzufriedenheit mit mir selbst, dagegen selten Ekel, Furcht, weniger Abscheu vor
der Handlung selbst. — 4. Eine solche Wegwendung des Willens ist fast immer mit
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 55
den Gewissensvorwürfen verbunden. Fast immer schloß sich an die Gewissensvor-
würfe ein förmlicher Entschluß, nicht mehr so zu handeln. — 5. Zur wirklichen Un-
ruhe kommt es sehr selten, meist äußert sich der Gewissensvorwurf in Niedergeschlagen-
heit. Diese hält jedoch nur bei schweren Verfehlungen an. Nach Ablauf von 2—3
Tagen tritt hier von selbst Ruhe ein, jedoch kehrt der Gedanke daran auch später
öfter wieder. Gewisse Erleichterung vermag mir das Gebet zu verschaffen und die
Erwartung, in Zukunft anders zu handeln. — 6. Das körperliche Befinden wird wenig
beeinflußt. Höchstens macht sich eine nur ganz vorübergehende Appetitlosigkeit
geltend. — 7. Ja. Jedoch ist die Regung bedeutend schwächer. — 8. Ja. In einem
solchen Falle ist der Vorwurf viel heftiger und auch viel anhaltender. — 9. Nein.
10. Früher entnahm ich sie immer dem Gebetbuch, jetzt vermag ich die Reue
nur mehr ohne Benützung dieses Hilfsmittels eingehend zu erwecken. — ıı. Es
kommt mir darauf an, in mir den Wunsch zu erwecken: »Hätte ich doch niemals so
gehandelt! Könnte ich meine Handlungsweise wieder rückgängig machen!« Doch
fällt mir die Erweckung dieses Wunsches besonders bei kleineren Verfehlungen oft
sehr schwer. Sobald ich in mir diesen Wunsch wenigstens bezüglich der ernsteren Ver-
fehlungen verbunden mit dem Gefühle der Unlust über die Gott zugefügte Zurück-
setzung und Kränkung und über den Undank gegen seine Güte empfinde, glaube ich
eine wahre Reue erweckt zu haben. — 12. Die unter ıı angeführten Beweggründe
habe ich jedesmal von vornherein bei Erweckung im Auge, sie kommen mir nicht
von selbst. Ich bemühe mich vielmehr von Anfang an, gerade diese Beweg-
gründe wachzurufen, weil gerade sie mich in die mir erwünschte Stimmung versetzen,
Daneben stelle ich mir auch die mehr egoistischen Gründe vor (Verlust des Himmels,
Strafe in der Ewigkeit). — 13. Ich denke zunächst allgemein an meine Sündhaftigkeit
und dann gerade an die Sünden, die zu bereuen mir schwer fällt. So erwecke ich die
Reue am leichtesten. — 14. Ja. Meist Gefühle der Unlust, Unzufriedenheit und Be-
schämung. Sie werden verursacht durch die lebhafte Vorstellung der erwähnten
' Beweggründe. Der Gedanke an das bevorstehende Beichten hat für mich immer etwas
sehr Unangenehmes. Doch ist dieses Gefühl des Unbehagens gegenüber früheren
Jahren ganz erheblich abgeschwächt. Absicht der Besserung und Umkehr ist meist
damit verbunden. Schmerz empfinde ich eigentlich jedesmal, wenigstens eine starke
seelische Rührung, die sich manchmal auch in Weinen äußert, was ich jedoch zu
verbergen suche. — 15. Die Wegwendung ist immer zugleich mit der Reue ver-
bunden. Doch erwecke ich außerdem noch ausdrücklich den guten Vorsatz. — 16. Ich
bemerke nach der Reue ein Gefühl der Ruhe, der Aussöhnung mit Gott. Dieses Ge-
fühl der inneren Ruhe, das durch Beichte und Kommunion noch verstärkt wird,
dauert während des Aufenthalts in der Kirche an; ich bemühe mich, diese Stimmung
auch nachher zu erhalten. — 17. Nein. — 18. Nein.
19. Ja. Ab und zu. — 20. Diese Stimmung tritt meist auf während des Gebetes;
sie ist unabhängig von einer Gewissensregung und von der Beichte. Körperliche Un-
päßlichkeit ist ohne Einfluß auf diese Stimmung, dagegen äußert sich diese Stim-
mung manchmal bei seelischer Niedergeschlagenheit. Besonders bei einzelnen Ge-
beten (z. B. De profundis, Dies irae) kehrt diese Stimmung leicht wieder. Auch bei
Beerdigungen glaube ich, diese Stimmung schon in mir erlebt zu haben. — 21. Die
Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit. Von Gefühlen der Unlust und von einer Weg-
wendung des Willens glaube ich überhaupt nichts bemerkt zu haben. — 22. Sie bewahrt
mich vor zu großem Selbstvertrauen. Ich sehe darin immer eine Anregung, vcr
Fehltritten auf der Hut zu sein. — 23. Diese Stimmung ist mir ganz erwünscht. Doch
kann ich mich nicht erinnern, sie eigens festgehalten zu haben. Es handelt sich hier
meist um Stimmungen ganz vorübergehender Natur. — 24. Nein.
Vp. 3.
1. Bei leichteren und ernsten Verfehlungen treten Gewissensvorwürfe auf. Bei
leichteren in der Regel nicht sofort, bei ernsten sogleich. — 2. Bei sofortigen Gewissens-
56 I. Abhandlungen.
vorwirfen nach der Tat konzentriert sich das Urteil in die Worte: »Wenn ich es nur
nicht getan hätte.« In den meisten Fällen bin ich mir über die Verwerflichkeit der
Sünde vollkommen klar. — 3. Die genannten Gefühle, namentlich Ekel und Un-
zufriedenheit stellen sich immer ein. Ekel und Abscheu richtet sich dabei in erster
Linie gegen die Tat, Unzufriedenheit und Zorn gegen mich selbst. — 4. Die Weg-
wendung des Willens ist entschieden und deutlich; ein eigener Vorsatz ist nicht
immer, aber meist vorhanden. — 5. Wenn nicht äußere Mittel hemmend dazwischen
treten (z. B. interessantes Studium) dauert eine gewisse Niedergeschlagenheit an.
Ein sicher wirkendes Mittel dagegen ist nur die Beichte; ein anderes aber kein sicheres
und nachhaltiges die Betrachtung heroischer Züge aus dem Leben der Heiligen oder
anderer großer Männer. — 6. Es zeigt sich momentan ein gesteigerter Arbeitsdrang,
dem bald Erschlaffung folgt. — 7. und 8. Sowohl die Erinnerung an den Fehltritt
wie an die damit verbundenen Gewissensvorwürfe tauchen wieder auf: bei der Be-
trachtung, bei Versuchungen derselben Art. Bei der Betrachtung sind sie oft stär-
ker als unmittelbar nach der Tat. — 9. Der Fehltritt selbst wird, wenn er wieder
in das Bewußtsein kommt, sofort fallen gelassen und einzig dann die Erinnerung
an die mit dem Fehler verknüpften Vorwürfe festgehalten.
10. Ich nehme nie ein Buch zu Hilfe. — 11. Früher kam es mir darauf an, die
Gefühle zu erwärmen. Wenn es mir dann, wie man so sagt, ums Herz warm wurde
und eine gewisse Bangigkeit sich zeigte, glaubte ich Reue zu haben. Jetzt dränge
ich jedes Gefühl absichtlich zurück zugunsten des Willens. — ı2. Ohne mır einen
bestimmten Beweggrund vorzunehmen, stellt sich mir immer die Oelbergszene vor
die Seele, nur deswegen, weil ich daraus immer neue Motive und Anregungen ge-
winne. — 13. Ich greife immer einzelne Verfehlungen heraus. — 14. Am besten drücke
ich meinen Zustand aus, wenn ich sage: Mich kribbelt es in allen Fingern. Wie wenn
mir die Kleider zu enge wären, möchte ich mich strecken und auseinanderzerren und
-reißen. Als Ursache dieses Gefühles werde ich mir nur des Gedankes bewußt:
Jetzt hast du deinen Vorsatz wieder nicht gehalten. Früher zeigte sich vor der Beichte
oft eine gewisse Unbehaglichkeit, fast ein Unwohlsein, das ich gern für einen Ausdruck
der Reue nahm. Das Gefühl eines gewissen Zornes ist am stärksten. Weinen und
ähnliche Ausbrüche zeigen sich ganz selten vor der Beichte, leichter im Beichtstuhl
und nach der Beichte. — 15. Reue und Vorsatz gehen ständig ineinander über. —
16. Nach der Reue oder eigentlich nach der Beichte fühle ich mich sehr frisch und ar-
beitsfähig. Die Stimmung dauert, bis wieder eine größere Verfehlung vorkommt.
— 17. Nein. — 18, —.
19. Reuestimmung ziemlich oft. — 20. Diese Gesinnung ist nie eine Folge des
Bußsakramentes, ganz selten eine solche der Gewissensregung allein. Betrach-
tung, Studium, der Anblick eines anderen, der mir als Muster erscheint, läßt in der
Regel das Gewissen vernehmlich werden. Andachten wecken im allgemeinen solche
Gesinnungen nicht, der feierliche Gottesdienst ausgenommen. Ich kann mich nicht
erinnern, daß bei Unpäßlichkeit oder Niedergeschlagenheit sich Reuestimmungen
einstellten. — 21. Am stärksten erscheinen mir die Gefühle der Unlust und des Wider-
willens gegen mich selbst, — 22. Solange diese Gesinnung dauert, wird jede Re-
gung des Stolzes niedergehalten. Ich bemühe mich dann gerade, die kleinen Uebungen
und Abtötungen zu vollbringen. — 23. Ich suche diese Stimmung zu erhalten durch
Betrachtung namentlich des Todes, durch Studium, durch die Lesung der augu-
stinischen Confessiones, durch Betrachtung des strengen Lebens der Aszeten.
Vp. 4.
1. Auf jeden Fall kann ich bei allen ernsteren Verfehlungen Gewissensvorwürfe,
die sofort eintraten, konstatieren. Ob ich bei jedem geringeren Fehltritt Gewissens-
bisse hatte, ist mir aus der Erinnerung nicht gegenwärtig. Auf jeden Fall aber stel-
len sich auf manchen Gebieten Gewissensvorwürfe sofort ein, selbst wenn die Ver-
fehlung teilweise oder überhaupt fraglich freiwillig ist. Dafür, daß sich mir Ge-
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 57
wissensbisse erst später aufgedrängt haben, ist mir kein Fall bewußt. — 2. Mir ist kein
Fall bewußt, in dem ich mir nicht auch sogleich ein Urteil über die Verwerflichkeit
der Tat zu bilden bestrebt gewesen wäre, Für nähere Angaben fehlt mir die bewußte
Erfahrung. — 3. Manchmal Unzufriedenheit, manchmal Beschämung. — 4. In we-
nigen einzelnen Fällen kann ich mich bestimmt erinnern, einen eigenen Vorsatz, so
etwas nicht mehr zu tun, gemacht zu haben. — 5. Daß ein Gewissensvorwurf zur
wirklichen Unruhe wird, ist ein seltener Ausnahmefall. Ruhe tritt in der Regel
schon nach einigen Minuten ein durch Beschäftigung des Geistes mit anderen Dingen.
— 6. Finde nichts Auffallendes. — 7. Aus der früheren Jugendzeit tauchen mir manch-
mal Fehltritte wieder auf, besonders bei Gelegenheit einer ernsteren Erforschung.
Diese können mich dann eventuell sehr beunruhigen. Diese Unruhe ist dann sicher
stärker als unmittelbar nach der begangenen Tat. Es sind wohl meist skrupelähn-
liche Aengstlichkeiten. — 8. Ganz sicher kann ich keinen solchen Fall konstatieren.
Doch ist es mir erst kürzlich vorgekommen, daß ich gelegentlich des Studiums Ge-
wissensvorwürfe empfunden habe über Verfehlungen, bei denen ich nach der Tat
wohl kaum solche wahrgenommen habe. Und doch war mir die Art dieser Verfeh-
lungen bei der Tat nicht unbekannt. — 9. —.
10. Ich mache meine Reue vor der Beichte immer auswendig, bete aber dabei
jedesmal auch die Reueformel, wie sie der Katechismus enthält. — 11. Bei der Reue
kommt es mir hauptsächlich darauf an, daß ich dessen, was ich zu ihrer Erweckung
bete, auch bewußt werde und ihm zustimme. Ist die Zustimmung eine lebhafte
und vielleicht mit Gefühlen begleitet, so ist mir das recht. Ich gehe aber nicht dar-
auf aus. — 12. Von vorne herein setze ich mir keinen bestimmten Beweggrund fest.
Doch habe ich meist bestimmte Beweggründe, die sich aus den jeweils vorliegenden
Verfehlungen ergeben. Am liebsten komme ich zum Schlusse zu einem Akt der
Liebe zu Gott, speziell der Liebe zu Christus, der uns so liebte, daB er für uns starb.
Komme ich dazu, diesen Wahrheiten meine Sünden einzeln gegenüberzustellen (viel-
fach mache ich meine Reue nicht so eingehend), so bin ich am meisten von meiner
Reue befriedigt. — 13. Ich denke bei meiner Reue fast immer an die einzelnen Fehltritte
und erwecke sie so auch leichter. Sehr selten erwecke ich sie allgemein. — 14. Deut-
licher Gefühle bei der Reue kann ich mich nicht entsinnen. Was ich vielfach empfinde,
könnte ich am ehesten als »gelinden Schmerz« bezeichnen. Einen besonders äußeren
Ausdruck der Reue (Neigung zum Weinen, Beklommenheit bei der Anklage) habe
ich ein paarmal bei außerordentlichen Gelegenheiten gefühlt. Ein Fall, in dem ich
vor der bevorstehenden Beichte Furcht empfand, ist mir bekannt. Ich wollte
eine mir peinliche Frage an den Beichtvater richten. — 15. Die Abwendung des
Willens von der Sünde kommt mir meist bei der Reue selbst, so daß ich manchmal
einen »guten Vorsatz« gar nicht mehr formell erwecke. — 16. Im allgemeinen ver-
spüre ich noch den bereits erwähnten sgelinden Schmerze, der mir aber angenehm
ist und mich zur Andacht stimmt. Dieser ist aber für gewöhnlich, wie ich meine,
beherrscht von dem Gefühl der Zufriedenheit oder auch von Liebe zu Gott. Ich
möchte diese Stimmung vergleichen mit jener, die ich als Knabe hatte, wenn ich
den Beichtstuhl verließ, nur daß da auch noch Freude hinzukam. Manchmal fühle
ich auch (immer oder doch meist, wenn die Reue nicht so intensiv ist) eine gewisse
Unlust, von der ich aber nicht sicher behaupten kann, ob sie von der Reue herrührt
oder von der Anstrengung, die Reue gut zu machen. War die Reuestimmung einiger-
maßen lebhaft, so dauert sie in der Regel einige Stunden. — 17. —. 18. —.
19. Ich habe auch außerhalb der Beichte manchmal eine allgemeine Bußgesin-
nung. — 20. Selten ist diese allgemeine Bußstimmung Folge von Gewissensregungen,
Meist setzt mich die Kreuzwegandacht oder der Psalm »Miserere« in solche BuB-
stimmung, manchmal verspüre ich sie auch bei entsprechender privater geistlicher
Lesung. Manchmal fühle ich sie auch verbunden mit Andachtsstimmung über-
haupt. — 21. Bei dieser Bußstimmung erscheint mir, wenn ich die in der Frage
angegebenen drei Möglichkeiten betrachte, am deutlichsten die Wegwendung des
58 I. Abhandlungen.
Willens von der Sünde. — 22. Diese Stimmung treibt mich im religiösen Leben zu
besonderer Gewissenhaftigkeit an. — 23. Ich tue weder etwas, um diese Stimmung
zu erhalten, noch um sie zu beseitigen. — 24. —.
Vp. 5.
1. Gewissensvorwirfe drangen sich mir wohl bei jedem Fehltritte und sofort
auf. — 2. Bei ‚größeren Fehltritten (etwa): »Jetzt hast du deinen Gott beleidigt,
dich unschön gegen ihn benommen«; bei kleineren Fehlern: »Das hättest du
nicht tun dürfen.e — 3. Ich empfinde vor allem Beschämung; auch Ekel, Unzu-
friedenheit, Abscheu. Ich erscheine mir selbst wie ein Wortbrüchiger, doch
fehlt der UeberdruB und Ekel am Bösen selbst auch nicht. — 4. Ja! ich möchte sagen
mein Wille desavouiert sich selbst, nachdem das Böse geschehen; den erfragten Vor-
satz mache ich oft. — 5. Habe ich schon erlebt; diese Niedergeschlagenheit wird er-
leichtert durch einen Reueakt, vollbeseitigt erst durch die Beichte. — 6. Ich beobach-
tete manchmal eine gewisse Beklommenheit auf der Brust. — 7. Ja, auf beide Fragen.
— 8. Ja, aber ohne Dazwischenkunft einer äußeren Anregung; der Gewissensvorwurf
war dann zum wenigsten eben? stark, wie er unmittelbar nach der Tat hätte sein
können. — 9. Nein.
10. Ich mache die Reue frei, doch nicht ohne Hilfsmittel We etwa Kruzifix,
Ecce homo — wenigstens in der Phantasie). — 11. Es kommt mir besonders darauf an,
einzugestehen: »Pater peccavi coram Tee, und mir klar zu machen: »jam non sum
dignus, vocari filius tuus«; das erste möchte ich abbitten, zurücknehmen, annullie-
ren; das andere mir zu tiefst in die Seele prägen. — Ein jederzeit zuverlässiges Kenn-
zeichen habe ich nicht anzugeben; gute Dienste leistet mir zur Beruhigung ein Spe-
zialvorsatz. — 12. Ich setze mir keinen Beweggrund fest, d. h. von vorneherein; doch
habe ich Vorliebe für dieMotive aus dem Leiden und der Liebe Jesu. Nicht bloß das
Verlangen nach tiefen seclischen Eindrücken läßt mich solche Motive vorziehen, son-
dern auch jenes nach Erkenntnis des Wesens der Sünde überhaupt. — 14. Meistens
denke ich an bestimmte Einzelverfehlungen; an meine Sündhaftigkeit im allgemeinen
denke ich meistens bei religiösen Uebungen. Leichter wird mir die Reue bei Einzel-
erwägungen sündhafter Taten oder Unterlassungen. Beschämung, Ekel, Unzufrieden-
heit, auch Abscheu herrschen vor; diese Gefühle verursacht die Erkenntnis besonders
der Untreue, der Wortbrüchigkeit, der Unehrenhaftigkeit. Der Gedanke ans Beich-
ten erregt ein gewisses Mißbehagen und doch auch eine Art von Verlangen; stärker
jedoch ist die Unlust. — Auf die beiden SchluBfragen: Ja. — 15. Bereuen und nicht
wieder tun wollen, ist ein und dasselbe. — 16. Kleinlaut; einsilbig; friedlich, solange
ich mich in der Sammlung erhalten kann. — 17. Ja, fast immer mehr oder we-
niger ermüdet, — 18. Nein.
19. Ja. — 20. Diese Bußgesinnung klingt vielfach bei der Stimmung der An-
dacht mit; körperliche oder scelische »Störungen« stehen bei mir mit dieser allge-
meinen Reuestimmung wohl in keinem (direkten) Zusammenhang. — 21. Erkennt-
nis meiner Sündhaftigkeit. — 22. Sie belebt den guten Eifer. Ich sehne den Augen-
blick herbei, wo ich Gott nicht mehr beleidigen kann. — 23. Ich suche sie zu erhal-
ten durch kleine Gebete. — 24. Diese Reuestimmung beunruhiget nicht; sie be-
gütigt eher.
Vp. 6.
1, Gewissensvorwürfe habe ich in der Regel bei jedem Fehltritt, je nach dem
Grade der Verfehlung stärker oder schwächer. Sie drängen sich sofort auf. — 2. Gleich-
zeitig mit dem Gewissensvorwurf habe ich ein klares Urteil über die Verwerflich-
keit der fehlerhaften Handlung, ohne daß ich eigens reflektiere. Ebenso gleich-
zeitig drängt sich die Folgerung auf: »Das hätte ich nicht tun dirfene. Da bei mei-
nen Handlungen eine gewisse angeborene »Uebereilung« mitspielt, folgt diesen Akten
sofort das Nachdenken über den Grad der Freiwilligkeit, Zurechenbarkeit in Form
Wunderle, Zur Psychologie der Reue, 59
eines ängstlichen »Haschense. — 3. Selten und in geringem Grade merke ich das
Gefühl der Beschämung oder des Abscheus, das sich, wenn auch nicht ausschließ-
lich, auf die Tat selbst bezieht. Ganz ausgeprägt ist bei ernsterer Verfehlung das
Gefühl der Trauer, des »Unglücklichseins. — 4. Bei Gewissensvorwürfen merke
ich gewöhnlich mehr oder weniger deutlich auch die Abwendung des Willens von der
eben geschehenen Tat. Ich bin gewohnt, diese Abwendung des Willens durch
einen eigenen Vorsatz zu verstärken. — 5. Wie bereits in Nr. 3 angedeutet ist, stei-
gert sich der Gewissensvorwurf bei ernsterer Verfehlung zur wirklichen Unruhe und
zur Niedergeschlagenheit, welche Stimmung trotz der sofort absichtlich erweckten
Reue einige Zeit andauert. Nach und nach nimmt diese Stimmung an Stärke ab
und macht einer gewissen Ruhe Platz. Völlige Ruhe tritt erst durch die Beichte ein.
— 6. Das körperliche Befinden wird durch einen stärkeren Gewissensvorwurf ver-
ändert. Es zeigt sich Beklommenheit und nervöse Erregung, deren Folgen (Appetit-
mangel, vorzeitiges Aufwachen, zeitweise Schlaflosigkeit) sich aber auch bei anderen
das Gewissen nicht berührenden Anliegen (z. B. Sorgen) bemerkbar machen, —
7. Die Erinnerung an den Fehltritt taucht dann und wann später wieder auf, aber
die Gewissensregung ist bei weitem nicht so stark wie das erstemal; wohl deshalb,
weil durch die Beichte entsprechende Beruhigung eingetreten ist. — 8. Der betr. Fall
wurde nie erlebt. — 9. Als sehr wichtig erscheint mir folgende Feststellung: Ich
bin »I:udämonist«e und gewohnt, im Glück (im weitesten Sinne genommen) eine
Belohnung der guten Beziehung zu Gott zu sehen: für mich sind Ungnade Gottes
und Glücksgefühl unvereinbare Gegensätze, während hingegen das Bewußtsein
des Gnadenstandes mir alles »vergoldete Selbst das Leiden erscheint mir unter
dieser Voraussetzung nicht nur erträglich, sondern als »süßes Joche Damit er-
klärt sich der stereotype Vorwurf bei ernsterer Verfehlung: du hast dich um dein
»Glück+ gebracht, so kannst du nicht leben, keinen Tag — also so schnell es sein
kann, Gott wieder gewinnen!
10, Ich mache die Reue in der Regel frei und auswendig. — 11. Bei der Reue
kommt es mir hauptsächlich darauf an, daß ich Leid (Bedauern) empfinde über die
Sünde und mir bewußt werde, daß der Wille sich von dem sündhaften Objekte weg-
gewendet habe. Bin ich über das Vorhandensein dieser zwei Momente gewiß, dann
weiß ich, daß ich eine gute Reue hatte. Ein anderes Kennzeichen habe ich mir
nicht gebildet. — 12. Der Beweggrund zur Reue kommt mir erst während der Reue
zum Bewußtsein. Eine Vorliebe habe ich für das unter 9 angedeutete Motiv, weil
dieses auf mich den kräftigsten Eindruck macht. — 13. Bei der Reue denke ich an
einen Oder einzelne bestimmte Fehltritte. In diesem Falle erwecke ich die Reue
leichter. — 14. Die unter Nr. 4 erwähnten Gefühle habe ich bei der absichtlich er-
weckten Reue nicht. Der Gedanke an die bevorstehende Beichte erregt in mir
das Gefühl der freudigen Hoffnung, mag mit demselben auch bei ernsterer Verfeh-
lung eine gewisse Bangigkeit wegen des in der Beichte aufzunehmenden Opfers
verbunden sein, das Gefühl der Freude überwiegt. — Ob ich je eigentlich Schmerz
empfunden habe ? Wenn, woran ich nicht zweifle, das schmerzliche Bedauern (die
tristitia animae) »Schmerz« genannt werden kann, ja. Auch habe ich einige Male
Neigung zum besonderen äußeren Ausdruck der Reue, zum Weinen, gefühlt und ihr
auch nachgegeben. — 15. Ich merke die Abwendung des Willens von dem begangenen
Fehltritt bereits beim Reueakte, wenn ich auch diese Abwendung eigens und aus-
drücklich noch im guten Vorsatze ausspreche. — 16. Die Stimmung (wenn auch nicht
unmittelbar, so doch bald) nach der Reue möchte ich mit hoffnungsvoll und
tröstlich bezeichnen. Sie ist andauernd, bis sie übergeht in das Bewußtsein des
sicher wiedererlangten Gottesglückes. — 17. Ich fühle mich durch die Reue körper-
lich nicht angestrengt. — 18. Hier kann ich nur auf die Bemerkung zu Nr. 9 hin-
weisen.
19. Die Bußgesinnung ist bei mir nichts Seltenes. — 20. Die Bußgesinnung ist
bei mir weniger die Folge des Bußsakramentes, noch weniger die Folge der Gewissens-
— ee E
60 I. Abhandlungen.
regungen, sondern wird in der Regel durch andere Ursachen hervorgerufen. Sie
knüpft sich gern an gewisse religiöse Handlungen, z. B. geistliche Lesung; sie stellt
sich auch gerne bei körperlichem oder seelischem Unwohlsein ein. — 21. In dieser
Stimmung der Bußfertigkeit erscheint mir am deutlichsten und stärksten die Er-
kenntnis meiner Sündhaftigkeit und meines Unwertes. Die Gefühle der Unlust
usw. sind nie vorhanden, auch die Abwendung des Willens von der Sünde tritt nicht
eigentlich und deutlich hervor. — 22. Diese Bußgesinnung wirkt äußerst vorteilhaft
auf mein sonstiges, besonders mein religiöses Leben (Vertiefung, Eifer.) — 23. Des-
halb suche ich sie (die Bußgesinnung) zu erhalten durch die Erinnerung an die be-
gangenen Sünden, Erwägung der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes u. dgl.
— 24. Auch in dieser Reuestimmung kommt meine egoistische, eudämonistische
Richtung zur Geltung. Trifft mich »Ungliicke, dann drängt sich sofort die Reue-
stimmung auf, und versüßt mir das Unglück. Erlebe ich »Angenehmese, dann sage
ich in der gleichen Stimmung: »Das hast du nicht verdient.e Die Wirkung ist
dann »berechtigter« und erhöhter Genuß des Angenehmen.
Vp. 7.
I. Einen leisen Vorwurf macht mir das Gewissen regelmäßig auch bei kleine-
ren Verfehlungen; bei größeren Verfehlungen regt sich das Gewissen sofort, sonst
oft erst, wenn die innere Ruhe wiederhergestellt war. Bei ganz geringen Gewohn-
heitsfehlern schweigt das Gewissen oft, aber nicht immer, — 2. Es ist weniger ein
klares, zuverlässiges Urteil über die Fehlerhaftigkeit des Aktes als vielmehr eine
starke Unzufriedenheit, eine Unruhe und eine gewisse GerciztMeit gegen das eigene
Ich wegen der zutage getretenen Schwäche. — 3. Bei größeren Fehlern haben die
Gewissensbisse eine merkliche Niedergeschlagenheit im Gefolge, die oft stunden-
lang andauert; überhaupt sind die Gefühle der Unlust, auch der Beschämung sehr
rasch zur Stelle, weniger das Gefühl der Furcht und des Schreckens. — 4. Bei größe-
ren Verfehlungen mache ich oft, aber nicht immer einen bestimmten Vorsatz. —
5. Die Unruhe oder Niedergeschlagenheit dauert manchmal halbe Tage lang; in
diesen Fällen suche ich gerne auf einsamen Wegen die Ruhe wieder und finde sie
auch. Dicse Unruhe möchte ich nicht mit dem Gewissensbisse identifizieren, son-
dern vielmehr als eine Folge desselben bezeichnen. — 6. Die schlechte Laune bei
dieser Unruhe wird wohl in einem körperlichen Zustande begründet sein; eigentliche
körperliche UnpaBlichkeit habe ich nie verspürt. — 7. Die Erinnerung taucht manch-
mal kräftig wieder auf; gewöhnlich in schwächerer Form. — 8. Nein. — 9. Nein.
10. Seit Jahren mache ich die Reue auswendig. — 11, Die Stärkung des Willens
gegen den Rückfall betone ich am meisten; mit mir selbst zufrieden bin ich nur dann,
wenn die Motive der Reue mit einer gewissen Lebendigkeit erkannt sind und die
Gefühle der Furcht usw. bis zu einem gewissen Grade betont sind. — 12. An der Hand
des gewöhnlichen Reuegebetes erwäge ich kurz die allgemeinen Motive der Furcht-
und Liebesreue. Im allgemeinen glaube ich bemerkt zu haben, daß die Motive
der Furchtreue stärker auf die Seele wirken. — 13. Gewöhnlich herrscht der Gedanke
an die Sündhaftigkeit im allgemeinen vor; doch pflege ich auf die Lieblingsfehler
eine spezielle Aufmerksamkeit zu lenken; der allgemeine Gedanke des Schuldig-
seins ist wirksamer zur Erweckung des Reuegefühles als der Vorhalt eines speziellen
Fehlers. — 14. Es ist das Gefühl der Unlust und der Unzufriedenheit, auch der Ver-
zagtheit und Beschämung vorherrschend; daß gerade diese Gefühle vorherrschen,
möchte ich aus der ganzen Naturanlage, aus einer stark sich geltend machenden
Gemütsdepression, erklären. Im allgemeinen habe ich ein gewisses Verlangen nach
der Beichte. Angst nie, selten eine gewisse Scham. Bei der Beichte habe ich nie einen
besonderen Drang zur Aeußerung der Rcue empfunden, wohl aber gelegentlich bei
Erweckung der Reue außer der Beicht, bei einer Betrachtung usw. — 15. Gewohn-
heitsmaBig betätigt sich der Wille speziell in einem Vorsatz. — 16. Die mit der Reue
verbundenen Gefühle dauern gewöhnlich auch bei der Beicht fort, doch klingt das
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 61
Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit alsbald nach Erweckung der Reue mehr und
mehr durch. — 17. In früheren Zeiten sehr stark (in einer jahrelang zurückliegen-
den Periode der Skrupeln), jetzt nicht mehr. — 18, —.
19. Sehr häufig. — 20. Bei der Betrachtung stellt sich die Reuestimmung mit
Vorliebe ein, auch ohne daß sie als spezielle Frucht der Betrachtung gesucht wird.
Bei Gemütsdepression ist kein religiöses Gefühl so häufig wie das Reuegefühl.
— 21. Es herrschen die Gefühle der Unlust vor, aber ich betone dabei regelmäßig
auch die Wegwendung des Willens von der Sünde durch eigene Vorsätze, wenigstens
allgemeine. — 22. Diese Stimmung herrscht im religiösen Leben immer vor und
veranlaßt nicht selten zu eigenen Akten der Reue (Psalmen Miserere, De profundis).
23. Diese Stimmung ist mir nicht unlieb und ich suche dieselbe gerne durch inten-
sivere Akte zu nähren. — 24. Nein.
Vp. 8.
1. Ich habe Gewissensvorwürfe bei jedem Fehltritt und zwar in der Regel so-
fort. — 2. Der Gewissensvorwurf kommt mir zum Bewußtsein in der Form von
Unruhe, Furcht, Angst, Druck. Ich bin zur Aengstlichkeit geneigt. Die Aengstlich-
keit ist vornehmlich Ursache an dem sofortigen Eintreten der Reaktion des Ge-
wissens, des Gemüts nach Vorangang eines irgendwie bewußt werdenden wirklichen
oder vermeintlichen Fehltritts, Es ist weniger Verstand und klares Urteil, als viel-
mehr eine plötzliche Unruhe und Furcht, es könnte ein Fehltritt sein. Die Aengst-
lichkeit drängt Jen Verstand zur Kenntnisnahme und zum Urteil. — 3. Ich bemerke
verschiedene bestimmte Gefühle bei Gewissensvorwürfen; zum Teil gegen mich
selbst: Unzufriedenheit (schr oft) in Verbindung mit Traurigkeit, Mangel an Zu-
versicht, Mutlosigkeit; zum Teil gegen das, was ich getan bzw. unterlassen:
Furcht; sie tritt auch gern in höherem Grad auf, als Schrecken und Angst; auch Be-
schämung (oft) beim Gedanken und Vergleich mit Vorsätzen, mit meiner Aufgabe,
— 4. Eine deutliche Wegwendung des Willens von der eben geschehenen Tat erfolgte
oft. Oft geschah die Wegwendung nicht sofort und ganz, es war nur etwas Halbes,
halb noch dem Gegenstand und der Tat zugewandt, zum Teil der Prüfung und Re-
flexion wegen. Oft wurde der bezeichnete Vorsatz gemacht. — 5. Der Gewissens-
vorwurf wird bei größeren Fehltritten zur wirklichen Unruhe; bei jenen Fehltritten,
welche ich als sicher nicht groß erkenne, tritt die Niedergeschlagenheit ein. Die
wirkliche Unruhe geht aus in Niedergeschlagenheit, tritt aber gelegentlich wieder
als wirkliche Unruhe auf, namentlich bei äußeren Anlässen: Geistliche Lesung usw.
Die wirkliche Unruhe dauert solange, bis die Natur müde wird, oder bis durch ein äuße-
res Mittel eine Stimmung herbeigeführt wird, welche wenigstens gleichmächtig ist;
die Unruhe vertreibt auch die Nachtpause. Zur baldigen Wiederherstellung ist
ein besonderes Mittel nötig; ich wende verschiedene an: eine ruhige energische
Ueberlegung über die Ursache der Unruhe, eine Hinwendung zu Gott in Reue
und Vorsatz, ein energisches Bemühen, von diesem Augenblick ab mich doppelt
zusammenzunehmen. Wirksam ist immer die Beichte. Die Beichte gibt das Bewußtsein:
jetzt ist alles wieder weg, mag es gewesen sein, wie immer und was immer. Dieses
Bewußtsein mit seiner Erleichterung und Zuversicht ist im Geist (Verstand) immer
vorhanden, meist auch im Gemüt (in der Form der Ruhe und des Friedens). — 6. Der
Gewissensvorwurf wirkt über auf den Körper und sein Befinden und Tätigsein. Es
ist bei der wirklichen Unruhe wie ein Zurückweichen des Blutes, wie ein Erbleichen
und inneres Erzittern, es wird ein Beklommensein, im ersten Moment fast wie ein
Stich, wie ein Schlag aufs Herz. Es ist eine Erschütterung, ein Erschrecken des
ganzen Organismus, es zeigt sich auch im Gesicht, im Erbleichen, im traurigen weh-
mütigen Blick und Gesichtszug. Herzklopfen habe ich nicht, nur eine große Be-
klemmung. Es stockt alles, ich werde einsilbig, zerstreut, Phantasie und Gedächt-
. nis sind wie gelähmt, schwerfällig, ich bin gedankenarm, für die Unterhaltung invalid
und was nachher geschieht, das ist nur möglich auf Grund eines außerordentlichen
62 I. Abhandlungen.
Aufwandes an Willen. — 7. Die Erinnerung an Fehltritt und Vorwurf kommt wieder,
wenn eine siegreiche Beschwichtigung durch die angewendeten Mittel nicht gelungen
ist. Nach der Beichte kommt die Erinnerung nicht leicht, oder ganz ohne die Wir-
kung der Unruhe und Niedergeschlagenheit. Die (vor der Beichte) eintretende Er-
innerung an den einzelnen Fehltritt und Vorwurf wäre für sich allein nicht so stark
in der Wirkung der Unruhe und Niedergeschlagenheit, wenn nicht das deprimierende
Bewußtsein von dem Gesamtzustand hinzukäme; es wirkt gewöhnlich nicht so stark
wie beim erstmaligen Auftritt gleich nach dem Vorfall, aber manchmal doch auch
ebenso stark oder gar noch stärker, wenn äußere Umstände es greller beleuchten
oder mächtiger, schreckender ins Gewissen reden, oder wenn unangenehme, trübe
Vorkommnisse ein Versagen oder eine Enttäuschung, eine Depression herbeiführen;
es wird das Unangenehme leicht in ursächlichen Zusammenhang gebracht, als eine
Fügung, als gerechte Strafe usw. — 8. Es ist mir öfters vorgekommen, daß ein
Fehltritt geschah, daß aber Vorwürfe und Unruhe nicht gleich sich einstellten. Die
Eigenart der Umstände, der Verhältnisse, gab nicht Zeit und Gelegenheit zur Re-
flexion, manchmal auch eine Art Trägheit, Stumpfheit und Müdigkeit des Geistes
und BewuBtseins. Nach einiger Zeit gelegentlich einer Predigt, geistlichen Lesung,
Unterhaltung kam die Tat in Erinnerung, jetzt trat das ein, was sonst gleich nach
dem Vorfall einzutreten pflegt: Vorwurf, Unruhe usw; falls nicht bereits eine Beichte
dazwischen lag. Denn was vor einer Beicht liegt, das bedrückt mich nicht. Früher
zur Zeit meiner enormen Skrupulosität gab die dazwischenliegende Beichte nicht
diesen Schutz.
10. Während der Zeit meiner enormen Skrupulosität habe ich nach Anweisung
die Reueformel des Katechismus einmal gebetet. Später (auch jetzt noch) habe ich
andere Erwägungen und Reueformeln aus dem Gebetbuch bedächtig, betrachtend
-gebetet. Bei psychischer Indisposition benütze ich jetzt noch die Reueformel des
Katechismus und bete sie mündlich, etwas bei den einzelnen Punkten verweilend,
oder mache sonst selbständige Erwägungen. — 11. Bei der Reue erstrebe ich eine
»Abwendung vom Geschöpf« und eine »Hinwendung zu Gott«; ich bemühe mich nur
um Verstand und Willen. Ich trachte: daß ich wieder praktisch überzeugt erkenne
die Tatsache der Abirrung von Gott und ihre Bedeutung und Folge, daß ich wieder
die Hinwendung zu Gott, ihre Notwendigkeit, Nützlichkeit, überzeugt erkenne und
ehrlich will. — 12. Einen bestimmten Beweggrund setze ich mir nicht von vorn-
herein fest. Es kommt von selbst zu einem bestimmten, »zufälligen« eben unter
dem Einfluß der Betrachtung des Tages, der geistlichen Lesung, irgendeines Er-
lebnisses, einer eindrucksvollen Erfahrung. Wirksam sind solche Motive, die mein
Interesse, den Selbsterhaltungstrieb, das Streben nach Vollkommenheit betreffen
oder für den Beruf wirken. — 13. Ich denke gewöhnlich auch an bestimmte Fehl-
tritte und bringe sie in Beziehung mit den Reuemotiven. Die Fehltritte sind oft
bestimmend für die Wahl der Reuemotive. Wenn Fehltritte vorliegen mit tieferer
Einwirkung aufs Gemüt und Rückwirkung (Unruhe) oder wenn Veranlassung oder
der Zeitpunkt zu einer größeren Rückschau und neuem Aufschwung ist oder zu-
fällige besondere Umstände dahin wirken, wenn ein mächtigeres Interesse für eine
Art Fehltritt, eine größere Ergriffenheit und Empfindsamkeit geweckt ist, dann ist
die Reue, welche einzelne bestimmte Fehltritte ins Auge faßt, leichter und auch
recht wirksam. Es verbindet sich aber gerade damit immer sehr leicht eine Er-
weiterung zu einer Reue über die allgemeine Sündhaftigkeit. — 14, Bestimmte deut-
liche Gefühle habe ich oft. Wenn die Reue den ganzen Menschen ergreift — das
ist aber in der geringeren Zahl der Fälle — dann ist das entsprechende Gefühl: Un-
zufriedenheit, Beschämung, Abscheu, Schrecken usw. Vorbedingung ist a) das
Fernsein einer ungünstigen Gemütsdisposition; b) eine gewisse religiöse Ergriffenheit
infolge Lektüre, eines Erlebnisses usw; c) eine mehr als gewöhnliche Intensität und
Bemühung bei der Reue. Das bevorstehende Beichten erregt je nach Umständen
verschiedene Gefühle: Falls immer wieder dasselbe zu sagen ist und ganz offenbar
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 63
po | |
ein schuldbares Gleichbleiben, Nichtbesserwerden, Nachlässigkeit zu bekennen ist,
kommt das Gefühl des Peinlichen, der Beschämung usw. Schmerz ist bei der Reue
nicht beteiligt, Schmerz nur bei den Gewissensvorwürfen. Je besser die Reue, desto
mehr Erleichterung und Aufschwung. Neigung zum äußeren Ausdruck in der Form
des Kniens in pietätvoller Körperhaltung. Neigung zum Weinen u. dgl.: Nein,
— 15. Bei intensiver Reue und religiöser Ergriffenheit, da kommt mir oft die Ab-
wendung des Willens zum Bewußtsein. Immer und namentlich in den anderen
Fällen spreche ich die Abwendung des Willens im Vorsatz aus. — 16. Wenn
die Reue überhaupt eine positive Stimmung im Gefolge hat —ist nur der Fall bei reli-
giöser Ergriffenheit — so ist es im allgemeinen Antrieb und Zug zum Guten, zu
Gott. Diese Stimmung dauert bei Pflege und eifriger Konzentration im sittlichen
Leben und Streben und eifriger sittlicher Betätigung (namentlich durch Selbst-
überwindung und Selbstbeherrschung) länger an. — 17. Die Reue, wenn längere
Bemühung nötig ist und auch aufgeboten wird, strengt körperlich an: Kopfnerven,
Phantasie, Gedächtnis ermüden, die Zerstreuung beginnt. — 18. Mehr oder weniger
gilt das von der Reue vor der Beichte Gesagte auch von der Reue, die sonst gelegent-
lich erweckt wird,
19. Oefter auch eine allgemeine Stimmung der Reue, Bußgesinnung. — 20. Sie
wird veranlaßt durch besondere religiöse Handlungen, Uebungen (geistliche Lesung,
Predigt, Betrachtung), durch Wahrnehmung fremden Beispiels in der Form des
Vorbilds oder des Zerrbilds, durch Wahrnehmung von Bildern, durch Eindruck
des Gotteshauses, des Gottesackers, auch durch manche Bilder vom Weltleben und
Weltgetriebe, durch Orgelspiel, Gesang (Volksgesang), durch andere Zeremonien;
bei besonderen Verlegenheiten des Lebens, bei Mißerfolgen — weil da gleich der Ge-
danke der inneren Unwürdigkeit kommt mit Rücksicht auf die Fehltritte im Leben —,
bei körperlichen Störungen (Unpäßlichkeiten und Gefahren), bei Nacht infolge von
Einbildungen, beim Gedanken an den Tod und an das zu fürchtende Gericht. —
21. Am deutlichsten die Erkenntnis der Sündhaftigkeit (Untreue, Unzuverlassigkeit,
Mangel an Opfersinn, Liebe, Ausdauer usw.). Damit verbindet sich natürlich mäch-
tig das Gefühl der Beschämung, der Unzufriedenheit, der Wunsch nach Befreiung
aus diesem Zustande, nach Erneuerung. — 22. Wie bereits unter 21 kurz angedeu-
tet, bewirkt diese Stimmung auch Entschlüsse, Anregungen, Vorsätze für das re-
Jigiöse Leben, Wiederaufnahme mancher Uebungen usw. — 23. Soweit diese Stim-
mung ein Effekt einer abnormen, krankhaften Einbildung und Angst ist, suche ich
sie durch Ignorieren und durch Ablenkung zu beseitigen oder auszunützen, wie eine
Veranlassung zu einer segensreichen Uebung. Soweit diese Stimmung Effekt einer
zulässigen oder begrüßenswerten Veranlassung ist, wird sie grundsätzlich ausgenützt
durch Sammlung, durch Vorsätze und Uebungen.
Vp. 9.
1. Gewissensvorwirfe stellen sich bei mir nach jedem Fehler, den ich für groB
halte, sofort ein, besonders nach Fehlern einer bestimmten Art. Kleine Fehler und
bloBe Nachlassigkeiten hinterlassen meist keine Spur in meinem BewuBtsein, auBer
zu Zeiten, wo mein religiöser Eifer besonders groß ist; z. B. nach einer guten Beichte.
Das Auftreten von Gewissensvorwürfen hat bei mir — nach meiner bisherigen Er-
fahrung — nichts mit der Frage zu tun, ob die vorausgehenden Fehler »ganz frei-
willig« waren oder nicht. Auch da, wo ich im Kampf mit Anfechtungen nach dem
Urteil meiner Vernunft sicher nicht »ganz freiwillige zurückgewichen bin, kommen
oft schwere Beunruhigungen, wenn ich nur überhaupt gestehen muß, daß ich in einer
wichtigen Sache nicht ganz und gar im Kampfe oben geblieben bin. Eine egoistische
Aengstlichkeit mag daran mitschuldig sein. — 2. Von einem klaren Urteil bin ich
häufig weit entfernt. Wenn ich nur meine, es könnte etwas nicht in Ordnung ge-
wesen sein, und erst recht, wenn es mir einmal ganz klar vor Augen steht, daß ich
' gesiindigt habe, dann begnüge ich mich nicht mit dem Gedanken: »das hätte ich nicht
64 I. Abhandlungen.
tun sollen«, sondern ich werde sofort von Unruhe geplagt. Esläßtmichnicht
mehrlos, bisich wieder bereut und gebeichtet habe. Der ganze Vor-
gang beschäftigt mich lange. — 3. Außer der schon berichteten Unruhe empfinde ich
in der Regel große Unlust und Unzufriedenheit, manchmal wohl auch Ekel und Be-
schämung. Ob über meine Schwäche oder über die Häßlichkeit meiner wirklichen
bzw. vermeintlichen Sünde, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich neige zur Annahme,
meistens sei es Enttäuschung über mich selbst, über meine sittliche Schwäche, aus
der all diese Gefühle hervorgehen. Von Zeiten großen Ernstes freilich weiß ich ge-
wisse Fälle, in denen die wirkliche Betriibnis über die Abscheulichkeit der Handlung
als solche die Hauptrolle spielte, ohne daß dabei der andere, egoistische Gesichtspunkt
ganz ausgeblieben wäre. — 4. und 5. In den ersten Augenblicken nach der Tat herr-
schen die Gefühle der Unlust, der Unruhe, der Unzufriedenheit usw. deutlich vor.
Dann bemühe ich mich, oft mit Aufwand aller Kıaft, meinen von der Leidenschaft
halb oder ganz gefangenen Willen wegzuwenden. Es bedarf oft einer großen Mühe,
bis ich glaube, von der eben begangenen Sünde ganz losgekommen zu sein. Ich sehe
es darauf ab, mit der ganzen Sammlung meiner seelischen Energie, mit aller nur
möglichen Aufmerksamkeit mein Denken auf die geschehene Tat zu richten, diese
als Frevel gegen den Heiland am Kreuze zu erkennen (dabei schwebt mir in vollster
Klarheit ein bestimmtes Kreuzbild vor Augen) und dann die begangene Sünde gleich-
sam von mir zu stoßen. Darin finde ich erst den sAbscheue vor der sündhaften Tat.
‘Oft erlebe ich es, daß zu Anfang dieser Bemühung mein Abscheu mir noch nicht
tief und secht« genug erscheint. Erst wenn ich nach und nach — auch ohne daß mir
eigentliche Gefühle deutlich ins Bewußtsein träten — ganz von dieser mühevollen
»Wegwendung« meines Willens erfüllt und durchdrungen bin, daß sich sogar starke
- Antriebe zu »abwendendens Körperbewegungen einstellen und unwillkürlich die
laut oder leise (je nachdem ich allein bin oder nicht) gesprochenen Worte von meinen
Lippen kommen: »Fort mit der Sünde«! (oder ähnliche Formulierungen), erst dann
glaube ich, sechte«e Reue zu haben; erst dann ergibt sich (deutlich getrennt von der
bisherigen Verabscheuung der vergangenen Sünde) der gute Vorsatz, auch zukünftig
diese und jede andere Sünde zu meiden. Der gute Vorsatz bezieht sich ganz klar bloß
auf die Zukunft; freilich scheint auch er mir nur dann sccht« zu sein, wenn ich eine
vorgestellte zukünftig mögliche Sünde ähnlich zu verabscheuen vermag wie
eine eben getane. Ge fühle sind — mit Ausnahme des Anfanges der gesamten
Reuenentwicklung — meines Erachtens nicht oder nur kaum merklich betciligt. Ich
glaube ja für meine Person, daß ich ohne diese einleitende Gefühlserregung die reue-
volle Willenswegwendung nicht fertig brächte, und manchmal will es mir (bei spä-
terem Nachdenken) in den Sinn, als ob ich keine rechte Reue gehabt hätte, wenn
ich nicht die anfänglichen Gefühle noch lange nachklingen hörte. Doch werde ich
über diesen Zweifel leicht Herr, indem ich mich an die tiefe Ergriffenheit erinnere,
in der ich die oben geschilderte Willenswegwendung vollzog. Sie ist mir das Kenn-
zeichen einer echten Reue und dabei beruhige ich mich dann wenigstens vorläufig;
den endgültigen Frieden bringt mir stets erst eine gute Beichte. — 6. Der Gewissens-
vorwurf selbst macht mich unruhig, nervös; manchmal schlägt er mich förmlich
seelisch nieder. Fast stets verursacht er Herzklopfen. Das, was nachher kommt,
nämlich die reuevolle Wegwendung meines Willens und der gute Vorsatz strengen
mich leiblich und seelisch stark an. — 7. Diese Erinnerung taucht später manchmal
von selbst wieder auf samt der Erinnerung an die daran angeschlossene Reue. Der
ganze seclische Prozeß verläuft dann kurz, ruhig, ohne Anstrengung; er wirkt tröstend.
8. An diesen Fall erinnere ich mich ein paar Male während geistlicher Uebungen; doch
war die Gewissensregung viel weniger stark und nachhaltig. Längstvergangenes tritt
mir da und dort zwar lebendig ins Bewußtsein, aber ich werde doch leichter in der Reue
damit fertig wie mit Gegenwärtigem. — 9. — i
10. Ich mache seit vielen Jahren die Reue frei, allerdings zumeist unter Anlehnung
an das in der Schule eingeprägte Reuegebet. Zum Abschluß aller meiner Reue-
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 6 5
bemühungen vor der Beichte spreche ich gerne mit voller seelischer Anteilnahme
und Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Wort genau die in den Kinderjahren gelernte
Reueformel. — 11. Ein anderes Kennzeichen wie die schon oben (Nr. 4 und 5) ge-
schilderte Ergriffenheit habe ich nicht. — 12. Ich setze mir bei der Beichtreue in der
Regel von vorneherein einen oder ein paar bestimmte Beweggründe fest; in der Regel
bevorzuge ich die Betrachtung des gekreuzigten Heilandes, wobei mir eine bildliche
Darstellung mit greifbarer Lebendigkeit vorschwebt. Ich glaube dabei stets mehr
oder weniger deutlich die Absicht gehabt zu haben: diese Betrachtung mit all ihren
verschiedenen Beweggründen (schweres Leiden des Heilandes, meine Grausamkeit
gegen ihn u. a.) packt mich und ergreift mich am tiefsten. BloBes Mittel zum
Zweck sehe ich darin freilich auch nicht; das überzeugte, emste Eindringen in den
Inhalt der Kreuzigung soll mich eben innerlich erregen. — 13. Ich denke vor der
Beicht und bei der Beichtreue eigentlich weniger an meine allgemeine Sündhaftigkeit;
denn die Gewissenserforschung breitet im einzelnen meine Sünden aus. Am besten
(und für mich selbstverständlichsten) komme ich zur Reue, wenn ich an eine be-
stimmte einzelne Sünde (allenfalls noch an eine Kategorie gleichartiger Sünden)
denke. Die Vorstellung derselben muß aber immer plastisch, konkret sein. Von da
aus drängt sich mir dann von selbst ein allgemeiner und weniger das Konkrete be-
ziclender Blick auf alle meine übrigen Sünden auf. — 14. und 15. In die Absicht, gut
zu beichten, ist bei mir in der Regelausdrücklich die Absicht eingeschlossen,
eine gute Reue zu erwecken. Wenn ich nun nach der Gewissenserforschung zur Reue
selbst übergehe und mir in der oben (Nr. 13) mitgeteilten Weise zunächst eine Sünde
lebendig vorstelle, so wirkt das fast ganz gleich, wie wenn diese Sünde eben begangen
worden wäre. Die Reue vor der Beichte verläuft also bei mir im allgemeinen genau
so wie die Reue, die mit einem Gewissensvorwurf verbunden ist. Darüber habe ich
mich oben (in Nr. 4 und 5) schon genau ausgesprochen. Ich will noch beifügen, daß
ich einen »Schmerz der Seele« (d. h. das, was ich darunter verstehen zu müssen glaube)
sehr selten empfunden habe; denn die anfängliche Unlust ist nur in ganz wenig Fällen
so gesteigert aufgetreten, daß sie mir, als sschmerzlich« zum Bewußtsein kam. In dem
Mittelpunkte des Reueprozesses, der Willenswegwendung, habe ich (wie ich meine)
nie einen »Schmerz der Seele« gespürt. Ueber den äußeren Ausdruck meiner Reue
habe ich ebenfalls oben (Nr. 4 und 5) schon gesprochen; eine Neigung zum Weinen
habe ich äußerst selten in meinem Leben gehabt. — 16. und 17. Ueber die Stim-
mung nach der Beichtreue gilt ungefähr das gleiche wie über die nach dem Gewissens-
vorwurf und der damit verbundenen Reue (siehe Ni. 4 und 5). Die Reue strengt mich
körperlich und geistig sehr an, beruhigt mich aber einstweilen. Ohne die abschlie-
Bende gute Beichte würde ich indes nicht vollständig ruhig werden. — 18. Ich möchte
bloß noch sagen, daß sich das Erleben ungefähr ebenso abspielt, wenn ich (was oft
geschieht) auch außerhalb der Beicht eine Reue erwecke. Alles, was ich mitgeteilt
habe, gilt von der »vollkommenen« Reue; eine bloß unvollkommene will ich nie machen.
19. Die Bußgesinnung tritt ziemlich häufig auf. — zo. Nach einem durch Reue
beschwichtigten Gewissensvorwurf und nach einer guten Beicht wird die Bußgesin-
nung (die schon vorhanden ist) übertönt durch das Gefühl des Beruhigtseins, und.
dieses Gefühl wird bei mir hervorgerufen durch das Bewußtsein, daß »in mir nun
alles wieder in Ordnung iste. Eigentliche Bußgesinnung für sich allein entsteht bei
mir meist während der geistlichen Lesung und Betrachtung, bei der Beschauung von
religiösen Bildern, manchmal auch bei der Predigt. BloBe Andachtsstimmungen oder
körperliche und seelische Leiden lassen meines Wissens für sich allein die Bußgesin-
nung nicht aufkommen. Erst der ausdrückliche Gedanke, daß ich Leiden für meine
Sünden verdient habe, erregt sie. — 21. Die Bußgesinnung als solche erschöpft sich
bei mir in einer Stimmung der Niedergeschlagenheit; ich pflege für mich zu sagen:
»Wäre ich doch besser!e Dieser Zustand hält nicht lange an; ich suche, wenns nicht
von selbst so kommt, sogar rasch nach einem Ende, indem ich mir eine bestimmte
Sünde lebhaft vorstelle. Dann wickelt sich wieder alles ab, wie ichs schon bei Ge-
Archiv für Religionspsychologie 1/11]. 5
66 I. Abhandlungen.
wissensvorwurf und Beicht (Nr. 4 und 5, 14 und 15) beschrieben habe. — 22. Die
Bußstimmung macht mich demütig und stärkt meine kindliche Liebe zu Gott. —
23. Siehe Nr. 21.—24. —
Vp. 10. È
I. Die Gewissensvorwürfe stellen sich bei jedem Fehltritt ein, natürlich graduell
verschieden bei ernsteren, freiwilligen Verfehlungen. Dabei stellen sich die Ge-
wissensbisse sofort ein. — 2. Es bildete sich auch sofort nach dem Fehltritt ein klares
Urteil über die Verwerflichkeit der Tat. Die Klarheit des Urteils war in den einzel-
nen Fällen insofern beeinträchtigt, als ich manchmal nicht sofort die Tat als Fehltritt
und unerlaubt gestehen wollte. Ein nicht weiter begründetes Urteil: »Das hätte
ich nicht tun dürfen, oder besser: sollen« stellte sich nur da ein, wo es sich um keine
moralischen Fehltritte oder höchstens ganz unbedeutende handelte, oder um Takt-
losigkeiten, Ungeschicklichkeiten usw. Plötzliche Unruhe und Furcht stellte sich
nur ein bei Aengstlichkeiten und Skrupeln. — 3. Bei Gewissensbissen stellten sich
ein die Gefühle des Abscheus, Schreckens, der Furcht, Unzufriedenheit und Beschä-
mung, seltener des Ekels und der Unlust, Gefühle, die sich richteten gegen die Tat
mit Ausnahme von Furcht und Unzufriedenheit, — 4. Für gewöhnlich wendete sich
der Wille gegen das Geschehene, um so deutlicher, je klarer die Erkenntnis des Feh-
lers und je größer die Verfehlung war. Auch machte ich fast jedesmal einen eigenen
Vorsatz. — 5. Der Gewissensvorwurf wird zur Unruhe, die aber nur momentan ist,
da sie sogleich behoben wird durch inneres Eingeständnis und Aussöhnung mit Gott
durch Reue, während Niedergeschlagenheit bei größeren Fehlern noch länger nach-
wirkt, sich aber allmählich verliert. — 6. Das körperliche Befinden wird vielfach
alteriert durch nervöse Erregung. — 7. Mit der Erinnerung an einen (bereits wieder
gesühnten) Fehltritt taucht ein eigentlicher Gewissensvorwurf nicht wieder auf. —
8. Es kam vor, daß Fehltritte keinen oder doch nur geringen Gewissensbiß verursachten,
später aber infolge Belehrung oder Lektüre, Gewissensvorwurf bereiteten, dessen
Stärke zunahm mit der größeren Schuld beim Fehlen, sicher aber nie stärker war
als unmittelbar nach der Tat. Daß der Gewissensbiß nicht sofort eintrat, hat seinen
Grund in der mangelnden Kenntnis bzw. Aufmerksamkeit. — 9. —.
to. Ich mache die Reue ohne Gebetbuch, wenn ich auch das Gebetbuch mit-
unter der Sicherheit halber nachträglich benütze. — 11. Bei Erweckung der Reue
kommt es mir hauptsächlich darauf an, die Sünde zu verabscheuen als Beleidigung
Gottes und sie in Zukunft wirklich nicht wieder begehen zu wollen, wei Punkte,
die mir das Zeichen wahrer und guter Reue sind. — ı2. Der Beweggrund der Reue
steht mir von vorneherein fest. Der liebste ist mir das Leiden (die Liebe) Christi, weil
mir das am meisten dazu hilft, die Sünde als solche immer mehr zu erkennen und wirk-
sam zu verabscheuen. — 13. Bei der Reue denke ich an jene bestimmte Sünden, die
ich beichte. Dieser Umstand macht mir die Reue jedenfalls sicherer und wirksamer.
— 14. Bei der Reue empfinde ich keine bestimmten deutlichen Gefühle, sondern
‘mehr unbestimmte Gefühle des Abscheus, — Der Gedanke an die bevorstehende
Beichte erweckt in mir starke Gefühle der Angst, des Schreckens und der Furcht,
besonders das der Angst. Eigentlichen Schmerz empfinde ich nicht, desgleichen
keine Neigung zu einem besonderen äußeren Ausdruck der Reue. — 15. Die Tätig-
keit des Willens kommt bei mir zum Ausdruck im Vorsatz. — 16. Die Reue löst in
mir das Gefühl der Ruhe aus, welches andauert bis zu einer Störung des Gewissens,
Natürlich sind diese Gefühle sofort nach der Reue stärker als in der darauffolgenden
Zeit. — 17. Körperliche Anstrengung empfinde ich nicht. — 18. Ich möchte nur
bemerken, daß diese Angaben über die Reue genommen sind von der Reue, welche
der Beichte vorausgeht, nicht aber von jener, die unmittelbar dem Fehltritte nach-
folgt. Dadurch würden sich einzelne Aenderungen ergeben.
19. Ich habe auch zuweilen eine allgemeine Stimmung der Reue. — 20, Dieselbe
ist nicht bloß die Folge der Gewissensregungen und des Bußsakramentes, sondern
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 67
ist veranlaßt durch Belehrung, Lektüre, Erlebnisse. Sie stellt sich auch besonders gerne
ein bei Verdemütigungen, seelischer Niedergeschlagenheit. — 2ı. Bei dieser Stim-
mung tritt im ersteren Fall (bei Belehrung, Lektüre, Erlebnissen) die Abwendung
des Willens von der Sünde, im letzteren Fall (Niedergeschlagenheit, Verdemütigung)
die Erkenntnis der Sündhaftigkeit in den Vordergrund. — 22. Auf das religiöse Le-
ben wirkt diese Stimmung nur gut, wenn auch die lebhafte Erkenntnis der Sünd-
haftigkeit mitunter der Freudigkeit beraubt. — 23. Diese Stimmung suche ich nicht
zu beseitigen, wende aber auch keine besondere Mittel an, sie zu erhalten, benütze
aber Gelegenheiten (Betrachtung, allgemeine Reue über die Sünden), sie wieder
aufzufrischen. — 24. —.
Vp. rr.
I. Bei ernsteren und ganz freiwilligen Verfehlungen drängen sie sich sofort
auf, bei den unbedeutenderen erst später (gelegentlich einer Predigt, geistlicher
Lesung, auch der Beichte). Doch machen jene, wenn auch objektiv noch so unbe-
deutenden Verfehlungen eine Ausnahme, denen ich in der besonderen Gewissens-
erforschung oder auf Grund einer bestimmten Willensrichtung (Vorsatz, aszetisches
Programm) besonders nachgehe. Hier drängen sich Gewissensvorwürfe auch bei
unbedeutenden Verfehlungen, selbst bei fast unfreiwilligen, auf. — 2. Wo Ge-
wissensbisse sofort auftraten, lag meist ohne weiteres der Gedanke zugrunde: das
hätte ich nicht tun sollen. Bei gewissen Verfehlungen (die aus Charakterfehlern
hervorgingen) trat auch plötzliche Unruhe, innere Erregung auf, die aber bei dem
festen Willensentschluß der Besserung stets schwanden. — 3. Begleitende Gefühle
waren fast nur Beschämung und Unzufriedenheit; letzteres öfters, da es aus dem
bewußten Nichteinhalten eines Vorsatzes, also aus Willensschwäche hervorging. Be-
schämung über den Fehltritt, Unzufriedenheit mit mir selbst. — 4. Deutliche
Wegwendung des Willens von der Tat, wenn bewußte Untreue gegen den Vor-
satz vorlag. Bei den Fehltritten, die ich in Nr. ı als Ausnahme betont habe
(die sich als Charakterfehler kennzeichnen lassen und gegen die sich mein Wille
dauernd richtet) erscheint fast immer diese deutliche Wegwendung des Willens,
In diesen Fällen wurde jedesmal erneuter Vorsatz gemacht, in allen übrigen Fällen
je nach der Häufigkeit oder der speziellen Willensrichtung in der vorausgegangenen
besonderen Gewissenserforschung. — 5. Meist Niedergeschlagenheit; dauert sel-
ten einen halben Tag lang. Meist führen Gedanken der Reue, des Besserungs-
vorsatzes, besonders religiöse Gedanken und zwar oft ziemlich rasch die Ruhe wie-
der herbei (mein gewöhnliches Mittel). Ein besonderes Mittel bei schwierigeren
Seelenangelegenheiten ist Gebet und Beratung mit dem Beichtvater. Ganz beson-
dere Fälle, die seltener vorkommen, spare ich mir auf bis zur geistlichen Betrach-
tung, wo Zeit und Gelegenheit gegeben ist, die Seele zur Ruhe kommen zu lassen. Die-
ses Mittel als letzte Instanz für den Fall, daß alle vorausgehenden versagt hatten,
hat immer gewirkt. Für die besonderen Fehler (Charakter- oder Lieblingsfeb-
ler) habe ich mit bestem Erfolg angewandt: sofortige oder baldige Betätigung
der entgegengesetzten Tugend, ev. Auferlegung eines kleinen Opfers. — 6. Eine
Klasse von Fehltritten hat bei mir immer nervöse Erregung mit Herzklopfen und
Depression (Verstimmung) hervorgerufen. Bei den übrigen Fehltritten konnte ich
dergleichen nicht beobachten. — 7. Die Erinnerung an den Fehltritt von größe-
rer Bedeutung taucht seltener auf; doch kann dies lebhaft und deutlich mit allen
Einzelheiten reproduziert werden, aber es geschieht ohne alle Erregung. Ich
kann mich nicht an ein so bedeutungsvolles Seelenereignis (im schlimmen Sinne) er-
innern, das bei der auftauchenden Erinnerung eine gleich starke Gewissens-
regung zur Folge hätte, wie es nach der Tat selbst der Fall war. — 8. Ja, aber die
Gewissensvorwürfe waren bedeutend schwächer als jene unmittelbar nach der Tat.
9. Nein. F |
10. Von Jugend auf frei, meist in Anlehnung an ein in der Volksschule erlern-
tes Reuegebet. Ich pflege vor der Beichte die Seele das langsam nachsprechen
5*
68 I. Abhandlungen.
zu lassen, was das Gedächtnis durch dieses Gebet mir vorspricht. Bei einzelnen
Stellen halte ich je nachdem inne und lasse Affekte der Liebe, des Vorsatzes usw.
einfließen. — 11. Bei Erweckung der Reue kam es mir hauptsächlich an auf die Be-
trachtung des mysterium amoris (Gott das liebenswürdigste Gut) und mysterium
iniquitatis (die Sünde das größte Uebel). Als besonderes Kennzeichen habe ich
mir ausgebildet, daß die entschiedene Wegwendung des Willens von der Sünde rück-
wirkte auf den entschiedenen Vorsatz: diese Gesinnung (der Reue) durch ge-
steigerte Liebe gegen Gott zu bekunden, besonders durch diese Beicht in der
Liebe Gottes zu wachsen. Bei besonderer Gelegenheit (günstigen Seelenstimmungen,
Exerzitien usw.) erkenne ich dies auch dadurch, daß ich bereit wäre, für die Sünden
alles zu dulden, um sie wieder gutzumachen. — ı2. Von vornherein setze ich mir
keinen bestimmten Beweggrund fest. Bei günstiger Seclenverfassung ergeben sich
leicht Beweggründe, während die Seele das in Nr. 10 erwähnte Gebet spricht. — Bei
Trockenheit der Seele suche ich die Beweggründe aus dem Verhältnis Gottes als
Vater zu uns als Kinder oder aus den Wohltaten Gottes. Vorliebe für Beweggründe
aus dem Leiden des Herrn, weil sie mich am meisten anregen zur Reue; auch des-
halb, weil ich mir einen besonderen seelischen Eindruck verspreche (der aber nicht
immer merkbar erzielt wird). — 13. Wenn besondere Fehltritte aus dem BewuBt-
sein heraustreten und vom Verstand als besonders sschulderfüllt« qualifiziert wer-
den, sind sie der Gegenstand der Reue; alles andere wird dann eingeschlossen.
Bei allen übrigen pflichtgemäßen Andachtsbeichten ist die Sündhaftigkeit im
allgemeinen (sämtliche Sünden des ganzen Lebens) Gegenstand der Reue. In
diesem Fall bietet dann der Gedanke an die Treulosigkeit noch ein eigenes Motiv
der Reue. — 14. Bei der Reue nach einem Fehltritt sind Gefühle der Beschämung
oder Unzufriedenheit vorhanden; bei der Reue vor der Beichte fehlen Gefühle
meist ganz und gar und es arbeitet nur der Wille. Gefühle treten meist nur dann bei
mir auf, wenn besondere (wenn auch objektiv nicht schwere) Fehltritte zu beichten
sind, aber auch das hängt von der Stimmung ab. Bei einigen Beichtgelegenheiten
war auch eigentlich Reueschmerz mit Drang nach Aeußerung vorhanden (Weinen).
Voraussetzung ist innere Disposition und Stimmung. Am stärksten war ausgeprägt
in diesen Fällen der Affekt der Liebe Gottes und alle anderen traten gänzlich zurück.
Zu bemerken ist noch, daß in den angeführten durchschnittlich 5 Fällen vielleicht
3 mal der Drang nach Aeußerung erst nach der Beichte bei Rekapitulation der Reue
auftrat. — 15. Die Abwendung des Willens von den begangenen Fehltritten war
meist nur einschlußweise vorhanden, während die Abwendung des Willens für die
Zukunft im guten Vorsatz immer deutlich und ausdrücklich heraustrat. — 16. Un-
mittelbar nach der Reue bin ich in jener Stimmung, die ich durch den Psalm »Mi-
serere« kennzeichnen möchte (obwohl ich ihn bei dieser Gelegenheit nicht bete):
das zur tiefen Verdemütigung vor Gott führende Bewußtsein der Sündhaftigkeit.
Ist sofort Beichtgelegenheit, so dauert dieser Zustand meist einen halben Tag,
zuweilen auch länger. Er hat das eigentümliche, daß sich obengenanntes Bewußt-
sein derart mit dem Willen verbindet, daß während dieser Zeit Fehltritte wohl aus-
geschlossen sind. — 17. Wenn der Zustand der Reue nicht über die regelmäßige Zeit
hinausgeht, fühle ich mich nie körperlich angestrengt. — 18, Nein.
19. Ja. So oft besondere Fehltritte vorkommen, die mir sofort bewußt werden.
Die Stimmung der Reue kann dann einen halben oder einen ganzen Tag dauern.
— 20. Diese Stimmung oder Gesinnung ist nur die Folge der Gewissensregungen
und des Bußsakramentes, doch tritt bei mir eine damit verwandte Gesinnung
oder Stimmung auf und zwar bei allen möglichen Gelegenheiten: eine ihrer Na-
tur nach mehr frohe, freudige Bereitwilligkeit dem Willen Gottes gegenüber. —
21. Am deutlichsten und ausgeprägtesten ist bei der Stimmung der Bußfertigkeit
die Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit und der großen Liebe Gottes gegen uns. Da-
mit ist — meine ich — stets (wenigstens einschlußweise) die Wegwendung des Wil-
lens von der Sünde gegeben. — 22. Bei der eigentlichen Bußgesinnung muß ich vor
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 69
allem das negative Moment als Wirkung auf das sonstige religiöse Leben hervorhe-
ben: (ausdrückliche) Wegwendung von der Sünde und Disposition zum Guten.
— 23. Da ich die positive Modifikation der Reuegesinnung als so fördernd erkannt
habe, suche ich diese stest zu erhalten und vielleicht dauernd zu festigen: durch Be-
nützung der geistlichen Hilfsmittel. — 24. Nein. — Vorstehende Fragen fand ich als
vollständig ausreichend,
Vp. 12.
1. Gewissensbisse treten nur bei freiwiligen Fehlern auf, aber dann auch sofort,
so daß sie meist eine länger dauernde Handlung schon begleiten. — 2. Seltene Fälle
ausgenommen war es bei solchen Gewissensbissen bei dem einfachen Vorwurf ge-
blieben: »Das hätte ich nicht tun sollen!« War auch Unruhe manchmal dabei, so ,
war doch auch dieses Urteil meist mit eingeschlossen. — 3. Unlust und mehr noch
Unzufriedenheit waren die vorherrschenden Gefühle bei solchen Gewissensregungen,
wobei letztere besonders betont war und sich vielmehr auf die eigene Person als auf
die Tat erstreckte. — 4. Bei dem Vorherrschen der Gefühle machte sich die Weg-
wendung des Willens viel weniger geltend. Die Unzufriedenheit war eben mehr durch
das Fehlen als durch den Fehler veranlaßt. Es bedurfte einige Zeit, bis über dem
Gedanken an die Verkehrtheit der Handlungsweise das Bewußtsein einer künftig
notwendigen Vorkehr hervortrat und den Vorsatz herbeiführte, — 5. Es greift eine
Niedergeschlagenheit Platz, die, wenn auch nur von geringen, aber freiwilligen Rück-
fälligkeiten veranlaßt, tagelang anhalten kann. Diese Mißstimmung wird, wenn
stärker auftretend, erst durch Zerstreuung und Verkehr mit anderen Personen unter-
brochen, ev. beseitigt. — In selteneren Fällen hilft nur, aber dann auch gründ-
lich, der Gedanke an die Unvernünftigkeit eines solchen Nachhängens, zumal wenn
recht geringe Gründe dafür vorhanden waren. — 6. Regelmäßig stellt sich bei Ge-
wissensvorwürfen über freiwillige Fehler Beklommenheit und auch Herzklopfen
ein, welch letzteres infolge eines organischen Herzfehlers um so leichter eintritt. —
Bei nichtfreiwilligen Fehlern ist solche Erscheinung nicht erinnerlich. — 7. Wenn
auch die Erinnerung an einen Fehltritt und den Vorwurf manchmal später auftrat,
so ist die Gewissensregung doch nicht so stark als bei der Tat selbst; stark und deut-
lich ist nur die Erinnerung (als Vorgang in der Erkenntnis) als solche. — 8. Der hier
vorausgesetzte Fall ist entweder nicht vorgekommen oder wahrscheinlicher bei mir
nicht deutlich genug in Erinnerung. Da die Gewissensregung sofort sich geltend
macht, ist er auch nicht leicht möglich. —
10. Ich bin gewohnt, den Reueakt vor der Beichte auswendig zu machen. —
11. Zur leichteren Erweckung des Reueaktes vor der Beichte, vorzüglich aber zur
Prüfung der Echtheit dieser Reue pflege ich mir die Frage vorzulegen, ob ich ent-
schlossen wäre, bei gegebener Gelegenheit diesen oder jenen Fehler zu meiden. Kann
ich einigermaßen sicher diese wenn auch meist ohne deutliche Formulierung ge-
stellte Frage bejahen, so fühle ich mich auch beruhigt über die Echtheit der Reue. —
12. Der Beweggrund zur Reue kommt erst in der Reue selbst und es ergibt sich fast
immer derselbe als ausschlaggebend. Es ist der Gedanke an die Lieblosigkeit, Be-
leidigung und Undankbarkeit, die in dem Fehltritt liegen, und dieser Beweggrund _
zur Reue liegt deswegen mir so nahe, weil ich dadurch am ehesten ein Reuegefühl und
eine Aneiferung zur Besserung hervorrufen kann, — 13. Die Reue erstreckt sich ge-
wöhnlich nur auf die Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit und dieser Gedanke an die
allgemeine Schwäche ist mir besonders förderlich zur Erweckung der Reue. — 14. Vor-
herrschend ist bei der Reue das Gefühl der Unzufriedenheit über mein Betragen,
aber auch der Unlust, welches oft sehr hinderlich ist für eine tatkräftige Ausführung
des Vorsatzes. Die Unzufriedenheit ergibt sich aus dem Bewußtsein der Rückfällig-
keit trotz der besten Vorsätze, sowie aus dem Gedanken an das Versäumte. Das
Unzufriedenheitsgefühl wird gesteigert durch Erinnerung an bekannte Personen,
die durch ihre Verdienste voraus zu sein scheinen. Der Gedanke an das bevorstehende
70 I. Abhandlungen,
Beichten erregt Unruhe und Bangigkeit. Sehr oft stellte sich auch Drang zum Wei-
nen ein, so daß ich manchmal diesem Drang nicht widerstehen konnte, — 15. Eine
entschiedene Abkehr des Willens erfolgt nicht schon beim Reueakt, sondern muß
erst in dem Vorsatze eigens ausgedrückt werden — vielleicht ein Beweis für das
zu starke Vorherrschen des Gefühles bei der Reue. — 16. Nach der Reue macht sich
das Gefühl der Erleichterung sowie des Eifers zur Ausführung der gefaßten Vor-
sätze geltend. — Die Dauer dieser Stimmung ist verschieden, gewöhnlich nur einige
Stunden, jedenfalls nicht über eine Nacht hinüber. — 17. Abgesehen von selteneren
Fällen fühle ich gewöhnlich eine wenn auch geringe Beklemmung in der Brust mit
darauffolgender Ermüdung nach einiger Zeit und infolgedessen nachher eine ge-
wisse Erleichterung (Aufatmen).
19. Hie und da stellt sich auch eine allgemeine Stimmung der Reue ein. — 20, Diese
Reuestimmung wird vor allem geweckt beim Erblicken oder Betrachten von reli-
giösen Gegenständen (nur Bilder oder Statuen, Kreuz usw.) und beim Gottesdienst.
Häufig stellt sie sich ein bei innerer Niedergeschlagenheit, was dann natürlich
nur eine Steigerung zur Folge hat, — 21. Am meisten drängt sich bei dieser Stim-
mung vor die Erkenntnis der Sündhaftigkeit, viel weniger eine Willenswegwendung
— 22. Das Bewußtsein des eigenen Mißverdienstes erzeugt das Gefühl der Dankbar-
keit und des bereitwilligen Eifers. Dadurch ist diese Stimmung sehr förderlich für
religiöses Leben. — 23. Diese Stimmung suche ich wegen ihrer guten Folgen fest-
zuhalten und zwar durch aufmerksames Festhalten der angeregten Gedanken.
Vp. 13.
1. Die Gewissensvorwürfe kommen für gewöhnlich sofort nach ernsteren und
nach freiwilligen kleineren Fehltritten. — 2. Es ist mehr eine allgemeine plötzliche
Unruhe. — 3. Es macht sich gleich eine Unzufriedenheit gegen mich selber geltend.
Bei bestimmten ernsteren Dingen auch ein Abscheu gegen das Vergehen. — 4. In
der Regel drängt sich sofort der Vorsatz auf: das will ich in Zukunft nicht mehr tun.
Einen eigenen Vorsatz brauche ich darum für gewöhnlich auch nicht zu erwecken.
Letzteres kommt nur höchst selten, bei besonders wichtigen Dingen vor. — 5. —.
6. Das körperliche Befinden erleidet dadurch in keiner Weise eine Veränderung. —
7. Die Erinnerung und der Gewissensvorwurf taucht erst vor der Beicht wieder auf,
aber nur in ruhiger, nüchterner Form, — 8 —. 9. —.
10. Ich bete immer langsam das in der Schule gelernte Reuegebet. — rr. Mir
kommt es hauptsächlich darauf an, mich mit dem Gedanken zu durchdringen, daß
Gott gegen mich so gut ist, und ich habe ihn trotzdem durch meine Sünden beleidigt.
Von einem Kennzeichen ist mir nichts bekannt. — 12. —. — 13. Ich denke allge-
mein an meine Sünden. — 14. Bei der Reue habe ich keine bestimmten Gefühle.
Der Gedanke an die Beichte ist mir unangenehm und lästig, wenn ich nur laBliche
Sünden habe, wenn ich hingegen schwerere Dinge zu beichten hatte, so war mir der
Gedanke an die Beichte ein Trost. Von einem eigentlichen Schmerz oder einer AeuBe-
rung desselben weiß ich nichts. — 15. — 16, — 17. — 18. —.
Ig. Eine allgemeine Reuestimmung oder Bußgesinnung kommt mir nur dann,
wenn ich sie durch ein Reuegebet hervorrufe. — 20. — 21. Am deutlichsten zeigt
sich immer der Gegensatz zwischen Gottes Güte und meiner Undankbarkeit. —
22. — 23. — 24. —.
Vp. 14.
1, Gewissensvorwürfe habe ich nur bei ernsteren, freiwilligen Verfehlungen;
dieselben drängen sich sofort auf. — 2. Wo die Gewissensbisse sofort auftraten,
habe ich mir auch ein klares Urteil der Verwerflichkeit der Tat gebildet. — 3. Bei
Gewissensvorwürfen habe ich Unzufriedenheit, Beschämung, manchmal auch Ekel
gehabt gegen das was ich getan und gegen mich selbst. — 4. Ich bemerke auch eine
deutliche Wegwendung des Willens, machte auch jedesmal einen eigenen Vorsatz,
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 71
so etwas nicht mehr zu tun. — 5. Der Gewissensvorwurf wurde manchmal
zur wirklichen Unruhe, doch nicht lange; durch Ablenkung tritt wieder Ruhe ein.
— 6, Nein. — 7. Ja. — 8. Ich habe einmal den Fall erlebt; der Gewissensvorwurf
war fast stärker wie gewöhnlich. — 9. Nein.
1o. Bin gewohnt, die Reue vor der Beichte frei und auswendig zu machen. —
11, Durch ein starkes Gefühl der allgemeinen Zerknirschung glaube ich eine gute
Reue gehabt zu haben. — 12. Darüber bin ich mir nicht ganz klar. — 13. Ich denke
bei der Erweckung der Reue an bestimmte einzelne Fehltritte, da mir so der Reue-
akt leichter wird. — 14. Bei der Reue machen sich die Gefühle der Beschämung, der
Unzufriedenheit (zuweilen auch des Ekels) bemerkbar, weil ich wieder so schwach
war, so wenig widerstandsfähig, mache mir Vorwürfe wegen meiner Undankbarkeit
gegen Gott und unschönen Handlung meinem Nächsten gegenüber. — Nur wenn
mir ein Fehltritt besonders peinlich zum Bekennen, verursacht die Beichte ein un-
behagliches Gefühl. Ich habe nie physischen Schmerz, auch nicht Neigung zu
einem besonderen äußeren Ausdruck der Reue. — 15. Es kommt mir eigens eine
Abwendung meines Willens von dem begangenen Fehltritt zum Bewußtsein, —
16..Im Gefühl der tiefsten Zerknirschung. — 17, Nein. — 18. Nein.
19. Ja. — 20. Sie ist nicht nur die Folge von Gewissensregungen, sondern auch
von besonderen Anlässen: Predigt, geistliche Lesung; stellt sich auch besonders
leicht ein bei seelischer Niedergeschlagenheit. — 21. Die Gefühle der Beschämung
und Wegwendung des Willens von der Sünde. — 22. In günstiger Weise, indem ich
versuche, achtsamer zu werden. — 23. Leider lasse ich mich bald wieder ablenken. —
24. Daß ich manchmal bei Erweckung der Reue mit widerstrebenden Gefühlen zu
kämpfen habe, die mir den Reueakt sehr erschweren.
Vp. 15.
I. »Gewissensbisse« habe ich bei jedem Fehltritt, auch den leichteren, und sie
drängen sich sofort auf. — 2. Ich habe mir gesagt: »das hätte ich nicht tun dürfen.«
— 3. Meine Gefühle bei Gewissensvorwürfen sind hauptsächlich Beschämung über
meine Unvollkommenheit, Unzufriedenheit mit mir selbst. — 4. Gewöhnlich mache
ich sofort den Vorsatz, den Fehltritt nicht mehr zu begehen. — 5. Die Beunruhigung
und der Schmerz gehen in der Regel leider sehr bald vorüber. — 6. Beklommen oder
nervös erregt fühle ich mich eigentlich erst, wenn ich den Fehltritt in der Beichte be-
kennen muß. — 7. Ja, die Gewissensregung ist aber nicht so stark wie das erste
Mal. — 8. Nein. — 9. Nein.
10. Den Reueakt vor der Beichte mache ich gewöhnlich auswendig und frei. —
11. Daß ich es fertig bringe, mit ganzer innerlicher Sammlung aufrichtig und ernst-
lich zu bedauern, Gott beleidigt zu haben. — 12. Meine Sünden reuen mich insbe-
sondere, weil ich gegen Gott, der mir so unendlich viele Gnaden verleiht und ganz
spezielle Wohltaten erweist, undankbar gewesen bin. Da ich für Undank selbst sehr
empfindlich bin, verspreche ich mir von diesem Beweggrund einen besonderen see-
lischen Eindruck. — 13. Ich denke an bestimmte, einzelne Fehltritte, die Erweckung
der Reue fällt mir so leichter. — 14. Der Gedanke an die bevorstehende Beichte be-
unruhigt mich hauptsächlich deshalb, weil ich fürchte, mich nicht gründlich genug
erforscht zu haben, eine Sünde beim Bekenntnis zu vergessen. Eigentlichen Schmerz
empfunden zu haben, kann ich mich nicht erinnern. Ich erinnere mich nur ein-
mal, als 12- oder 13 jähriges Kind aus Reue geweint zu haben, — 15. Erst in dem
guten Vorsatz; doch treten Reuegefühle und guter Vorsatz meist gleichzeitig auf.
— 16. Niedergeschlagen und beschämt; diese Stimmung hält nie lange an. — 17. Nein.
— 18. Nein.
1g. Nur sehr selten. — 20. Manchmal infolge der Predigt und geistlichen Le-
sung; doch besteht die Wirkung eigentlich mehr in guten Vorsätzen als in eigent-
lichem Reuegefühl. Körperliches Befinden hat keinen Einfluß darauf. — 21. Das
Gefühl der Beschämung. — 22. Nur sehr vorübergehend; ich nehme mir dann ge-
72 I. Abhandlungen.
wöhnlich einige Werke der Abtötung vor. — 23. Ich suche sie schon deswegen nicht
zu erhalten oder zu vertiefen, weil ich aus früheren Zeiten weiß, wie leicht ich in
Mutlosigkeit, die alle Tatkraft lähmt, verfalle; übrigens denke ich gewöhnlich unter
Tags nicht mehr daran, weil ich da zu wenig dazu komme, mich innerlich zu sammeln
und zu konzentrieren. — 24. Nein.
Vp. 16.
I. Bei jedem ernsteren Fehltritt ob freiwillig oder unfreiwillig und zwar sofort;
bei kleineren Vergehen sehr oft. — 2. Manchmal spüre ich ein Unbehagen, eine innere
Störung, die mich etwas nervös macht, ohne im ersten Augenblick zu wissen, in was
mein Unrecht bestanden hat. Bei sofortigem Erkennen sagte ich mir tatsächlich
manchmal: Das hätte ich nicht tun sollen. Das kam impulsiv heraus. — 3. Ich weiß
nicht, was vorherrschend ist. Ich erinnere mich nur, daß ich bei verschiedener Art
der Fehltritte auch verschieden empfunden habe. — 4. In ganz seltenen Fällen habe
ich gleich einen vollständig ausgedachten Vorsatz. — 5. Ich bin öfters depri-
miert und habe kein Selbstvertrauen. Die Dauer ist verschieden. Ich sage mir dann
selbst: ich kann, Gott verlangt nichts Unmögliches; ich überdenke mir etwa kom-
mende Fälle und bete. — 6. Ja, nervös, es liegt mir oft in allen Gliedern. — 7. Die
Erinnerung kommt schon manchmal; aber ich suche sie mir gleich im Anfang aus-
zuschlagen. — 8. Wenn ich später durch Predigt oder sonstiges aufmerksam werde,
dann erschrecke ich erst, daß ich das übersehen habe und mache mir Vorwürfe, daß
ichs nicht gespürt habe damals; auch ängstigt es mich, wieviel noch da ist, das ich
nicht weiß, dann aber tut es mir genau so leid, als ob es gerade erst geschehen wäre.
— 9. —.
10. Ich mache die Reue aus mir selbst. Nur wenn ich zu sehr zerstreut oder müde,
auch zu ängstlich bin — manchmal läßt sich mein Wille nicht zwingen —, dann
nehme ich das Buch oder sage aufmerksam das Reuegebet, um mein Gewissen mit
der Tatsache zu beruhigen, daß ich die Reue wenigstens gesprochen oder gelesen
habe. — 11. Ich will, daß mir meine Sünden von ganzem Herzen leid tun, weil ich
Gott, die große Liebe, beleidigt usf. Der Gedanke an Fegfeuer und Hölle schreckt
mich nicht. Es ist dann ein großer Druck von mir genommen und die Folgen müssen
es zeigen. — 12. Ich weiß nicht, wie ich dies beantworten soll. — 13. Ich denke sehr
oft anfangs nur an eine bestimmte Sünde, die mich besonders beschäftigt, dann
erst an die allgemeine Sündhaftigkeit, oder vielmehr die anderen Sünden. Im ersten
Fall fällt mir die Reue leichter. — 14. Manchmal wirklich seelischer Schmerz, Be-
schämung vor mir selbst, vor Gott und dem Beichtvater, und Angst, auch einen gan-
zen Abscheu. Der Gedanke allein schon, daß ich ein Sakrament empfangen,
regt mich auf oder vielmehr ängstigt mich; dazu dann noch die Sorge, ob ich sorg-
fältig genug war bei den einzelnen Stücken. Tiefen inneren Schmerz ja, an einen
äußeren Ausdruck erinnere ich mich nicht; ich suchte auch keinen. — 15. Reue und
Vorsatz sind so ineinander, daß ich öfters, nur um der Form zu genügen, noch eigens
den Vorsatz nochmal überdenke. — 16, Ich komme mir vor wie ein Kind, dem man
sein Unrecht verziehen hat, das aber noch ganz scheu und ängstlich ist, aber doch
befreit von einem großen Druck. — 17. Ich weiß nicht, ist es die Anstrengung, die
ich anwende, um die Reue richtig zu erwecken, oder ist es die Reue selbst, mich
strengt es sehr an. — 18, Nein.
19. Ja, das gibt es schon. — 20, Nein. Manchmal ist es ein Wort in einer Pre-
digt oder eine Lesung, manchmal auch das Erfahren eines recht großen Unrechtes
oder einer Sünde; dann tut es mir doppelt leid, daß ich auch noch mithelfe an alldem
großen Unrecht, mit dem Gott beleidigt wird. Wenn ich mich angegriffen fühle,
dann bin ich besonders empfänglich dafür. — 21. Der Abscheu, direkt oft Ekel, und
der doppelt feste gute Vorsatz. — 22. Größte Sorgfalt und Treue. — 23. Das ver-
stehe ich nicht. — 24. —.
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 73
Vp. 17.
ı. Gewissensvorwürfe oder Gewissensbisse habe ich nur bei ernsteren, besonders
bei ganz freiwilligen Verfehlungen; bei kleinen Verfehlungen tritt nur eine kleine
Unruhe ein. Die Gewissensbisse drängen sich sofort auf. — 2. Ich habe mir ein voll-
ständig klares Urteil über die Verwerflichkeit der fehlerhaften Tat gebildet. — 3. Bei
Gewissensvorwürfen bemerke ich Unlust, Beschämung, Furcht und Schrecken und
habe Unlust gegen das, was ich getan und Unzufriedenheit und Beschämung gegen
mich selbst. — 4. Bei Gewissensvorwürfen bemerke ich neben den Gefühlen der Un-
lust, Beschämung, Furcht, Schrecken und Unzufriedenheit eine deutliche Weg-
wendung meines Willens von der geschehenen Tat. Ich machte jedesmal einen eige-
nen Vorsatz, so etwas nicht mehr zu tun. — 5. Der Gewissensvorwurf wird zur wirk-
lichen Unruhe und vollständigen Niedergeschlagenheit. Diese Stimmung dauert
Tage und Wochen und es tritt niemals von selbst wieder Ruhe ein, sondern es be-
darf einer gründlichen Aussprache bzw. einer Beichte, um wieder das Gleichgewicht
der Seele herzustellen. — 6. Durch einen Gewissensvorwurf wird mein körperliches
Befinden verändert. Durch die große Niedergeschlagenheit wird der Körper voll-
ständig ermattet, ich fühle mich beklommen und nervös erregt. — 7. Die Erinnerung
an den Fehltritt und an den mit ihm verbundenen Gewissensvorwurf taucht auch
später verschiedentlich wieder kräftig auf, doch ist die Gewissensregung dann nicht
annähernd so stark wie das erstemal, gleich nach der begangenen Tat. — 8. Den Fall,
gleich nach einem Fehltritt keinen Gewissensbiß zu spüren, habe ich nur einigemale
erlebt; ein später auftretender Gewissensvorwurf ist viel schwächer, wie jener un-
mittelbar nach dem Fehltritt. — 9. Gewissensvorwürfe können einen Menschen
in tiefster Seele erschittern. Sie können einen Menschen in tiefste Trostlosigkeit
versetzen,
10, Vor der Beichte bin ich gewohnt, die Reue frei und auswendig, aus meinem
Innersten kommend, zu machen, da mir die Reue aus einem Gebetbuch nicht den
tiefen, nachhaltenden Eindruck hinterläßt. — 11. Bei Erweckung der Reue ist es
mir in tiefster Seele leid, diesen Fehler begangen zu haben und es ist mir hauptsäch-
lich darum zu tun, den festen Vorsatz zu fassen, nie wieder einen größeren Fehltritt
zu begehen. Ich habe mir immer ein ganz besonderes Kennzeichen herausgebildet,
von dem ich schließen mußte, daß es eine wahre und gute Reue war. — 12. Ich setze
mir jedesmal schon vornherein einen bestimmten Beweggrund fest, aus dem ich
meine Sünden bereue, weil ich mir von ihm einen besonderen seelischen Eindruck
verspreche und auch aus rein religiösen Gründen. — 13. Bei der Reue denke ich
hauptsächlich an bestimmte einzelne Fehltritte ganz besonders und erwecke auch
in diesem Falle die Reue leichter. — 14. Bei der Reue habe ich das ganz bestimmte
Gefühl der Beschämung, der Furcht und der Unzufriedenheit; diese Gefühle werden
durch die seelische Gedrücktheit und Niedergeschlagenheit verursacht. Der Ge-
danke an das bevorstehende Beichten ermattet mich seelisch und körperlich und ich
habe durch die große seelische Gedrücktheit gegen bestimmte Fehltritte sogar Nei-
gung zum Weinen. — 15. Es kommt mir außer den Gefühlen noch eigens eine Ab-
wendung meines Willens von den begangenen Fehltritten zum Bewußtsein. — 16. Un-
mittelbar nach der Reue fühle ich mich seelisch noch sehr gedrückt. Erst allmäh-
lich bemächtigt sich meiner eine gehobene Stimmung, welche, je nachdem, kürzere
oder längere Zeit dauert. — 17. Durch eine tiefe Reue fühle ich mich körperlich er-
: schöpft, wie nach schwerer Krankheit. — 18. Durch die Reue kann ein Mensch in
seinem innersten Wesen vollständig umgewandelt werden; eine gute Reue wirkt
veredelnd auf den Menschen.
19. Abgesehen von einzelnen Gewissensvorwürfen und von der Reue vor der
Beicht habe ich auch sehr oft eine allgemeine Stimmung der Reue. — 20. Diese Stim-
mung ist meistens die Folge der Gewissensregungen und stellt sich besonders leicht
nach körperlicher Unpäßlichkeit und nach seelischer Niedergeschlagenheit ein. —
21. Am deutlichsten und stärksten in dieser Stimmung der Bußfertigkeit erscheint
74 I. Abhandlungen.
mir die Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit und die Wegwendung meines Willens von
der Sünde. — 22. Diese Stimmung: beeinflußt sehr stark mein sonstiges, religiöses
Leben, indem ich viel inniger und herzlicher beten kann und den festen Willen habe,
ein gottgefälliges Leben zu führen und meinem Nebenmenschen Gutes zu tun. —
23. Diese Stimmung suche ich zu erhalten, indem ich mich befleiße, einen größeren
Fehltritt ferne zu halten. — 24. —.
Vp. 18.
I. Nur bei ernsteren. Erst später. — 2. Das hätte ich nicht tun dürfen. —
3. Unzufriedenheit. — 4. Oefter einen eigenen Vorsatz, dieses nicht mehr zu tun. —
5. Niedergeschlagen. Höchstens einen Tag. Es verliert sich von selbst. Die Arbeit.
— 6. Ich werde nervös. In einer ziemlichen Ungeduld. — 7. Ja. Nein. — 8. Ja.
Weniger bei einer Gelegenheit, das kommt von selbst. Schwächer. — 9. Nein.
10. Frei und auswendig. — 11. Wenn ich innerlich so weit bin und mir sagen
kann, jetzt will ich es sicher nicht mehr tun, dieser Vorsatz fest gefaßt, hilft mir zur
Reue; ich habe dann das Gefühl einer guten Beichte und fühle mich sehr erleichtert.
— 12. Nein. Nein. Nein. — 13. An einen bestimmten einzelnen Fehltritt, In dem
einzelnen Fall. — 14. Das Gefühl der Unzufriedenheit und Niedergedrücktseins,
hervorgerufen durch den Gedanken: Was hilft alles? Das nächste Mal komme
ich trotzdem wieder mit dem Gleichen. Nein. — 15. Erst in dem guten Vorsatz.
— 16. In einer zufriedenen Stimmung. Einen Tag, manches Mal nicht so lang. —
17. Nein. — 18. Nein.
19. Der Reue ja, der Bußgesinnung ja. — 20. Nein. Nein. Es kommt, wann
ich seelisch niedergedrückt bin. — 21. Die Erkenntnis meiner Willensschwache, —
22. Ich hole mir Beruhigung durch ein ganz kurzes Gebet. — 23. Ja. — 24. Ich bin
zu etwas Gutem aufgelegt.
Vp. 19.
I. Gewissensvorwürfe habe ich bei jedem Fehltritt. Sie richten sich in ihrer
Stärke nach der Größe des Fehlers und drängen sich auf, sobald mir zum Bewußt-
sein kommt, daß ich fehle oder gefehlt habe. Dieses Bewußtsein stellt sich aber
meistens schon während des Fehltrittes ein, bei Gedankensünden erst, wenn ich zu
mir komme und das Fehlerhafte erkenne, d. i. manchmal nach wenigen Sekunden,
öfter nach Minuten. — 2. Nur bei gewissen Fehltritten verbindet sich mit dem Ge-
wissensvorwurf ohne weiteres der Gedanke von der Verwerflichkeit der fehlerhaften
Tat. — 3. Jeder Gewissensvorwurf ist begleitet von den Gefühlen der Unzufrie-
denheit mit mir selbst und namentlich dem Gefühl der Beschämung. — 4. Gleich-
zeitig mit den Gefühlen der Unzufriedenheit und Beschämung wendet sich der Wille
von der eben geschehenen Tat weg und nicht jedesmal, aber stets bei größeren Ver-
gehen, mache ich dazu den eigenen Vorsatz, so etwas nicht mehr zu tun. —
5. Bei größeren Fehlern wird der Gewissensvorwurf zur wirklichen Unruhe und Nieder-
geschlagenheit. Diese Stimmung dauert so lange, bis ich mich durch einen Reueakt
wieder mit Gott versöhnt oder den Entschluß gefaßt habe, die Sache gut zu machen.
Gerät dieser Entschluß ins Wanken, so stellt sich die Unruhe von neuem ein und
verschwindet erst nach dem wirklichen Vollzug des Entschlusses. Die völlige
Ruhe wird meist nur in der Beicht gewonnen. — 6. Mein körperliches Befinden
wird fast durch jeden Gewissensvorwurf beeinflußt und zwar um so mehr, je weniger
gut es steht, Ich fühle mich innerlich sehr beklommen, verspüre Herzklopfen und
beim bloßen Gedanken an den Fehler heftiges Erröten. — 7. Die Erinnerung an
den Fehler taucht wieder auf, wenn ich etwas Aehnliches sehe oder höre oder lese
oder die frühere Situation überdenke. Ich schäme mich dann dieses Fehlers aber-
mals, fühle mich jedoch beruhigt bei dem Gedanken, ihn an richtiger Stelle einge-
standen zu haben. — 8. Einen erst lange nach der Tat erfolgenden Gewissensvorwurf
erlebte ich noch nicht.
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 75
10. Die Reue vor der Beichte mache ich stets zuerst frei, schlieBe daran immer
das Reuegebet, wie ich es in der Schule lernte, und manchmal noch dasjenige eines
Gebetbuches. — 11. Bei der Erweckung der Reue kommt es mir hauptsächlich darauf
an, daß ich meine Sünden bereuen will. Ob ich eine wahre und gute Reue ge-
habt, getraue ich mir nie zu sagen. Diesbezügliche aufsteigende Zweifel bekämpfe
ich mit öfterer Wiederholung des Reuegebetes. — 12. Bei Erweckung der Reue vor
der Beichte versetze ich mich jedesmal im Geiste unter das Kreuz und über-
denke, wie der Heiland für mich in den Tod ging und wie ich ihm diese Liebe durch
Undank vergolten habe. Andere Beweggründe, wie Hoffnung auf Belohnung oder
Furcht vor Strafe, verfehlen ihre gute Wirkung auf meine Seele. Abgesehen davon,
daß mir beide nicht edel genug erscheinen, läßt mich erstere mehr oder weniger gleich-
gültig, während mich letztere niederdrückt. — 13. Gewöhnlich bereue ich eine
Sünde nach der anderen. Erscheinen mir die begangenen Fehler nicht zu bedenk-
lich, so suche ich durch Erinnerung an frühere eine reuige Gesinnung in mir herzu-
stellen. Der Gedanke an meine Sündhaftigkeit ganz allgemein würde mir die Reue
sehr erschweren. — 14. Besondere Gefühle kann ich bei meiner Reue sehr oft
nicht konstatieren. Am ehesten fühle ich mich beschämt, wenn ich der Liebe des
Heilandes meinen Undank gegenüberstelle; doch ist dieses Gefühl nicht immer gleich
stark. Die Unzufriedenheit mit mir selbst stellt sich nicht nur bei der Reue ein,
sondern bildet überhaupt einen Grundzug meines Seelenlebens. Der Gedanke an
das bevorstehende Beichten erregt in mir meist Angst und Gefühle der Beschämung,
wenn ich mir etwas Besonderes vorzuwerfen habe; manchmal bietet mir die Gewiß-
heit, meine Seele durch die Beichte von einem Drucke befreien zu können, Erleich-
terung. Neigung zum äußeren Ausdruck der Reue, d. h. zum Weinen, bemerke ich
nur in Zeiten großer seelischer Depressionen, einen eigentlichen Schmerz empfand
ich jedoch nie. — 15. Mit dem Gefühle der Beschämung verbindet sich bei mir stets
eine Abwendung des Willens von den begangenen Fehltritten. Darauf folgt meist
noch ein besonderer Vorsatz. — 16. Unmittelbar nach der Reue bin ich ernstlich
bestrebt, mich zu bessern. Verliere ich jedoch durch tribe Erfahrungen usw. mein
seelisches Gleichgewicht, so macht dieses Streben einer gewissen Gleichgültigkeit
Platz. — 17. Will ich eine gute Reue erwecken, so bedarf ich dazu einer besonderen
Anstrengung meiner Kopfnerven, wovon die Folge eine Ermüdung ist.
20. Eine allgemeine Stimmung der Reue habe ich nur ab und zu bei einer geist-
lichen Lesung und zwar stellt sie sich bei seelischer Niedergeschlagenheit besonders
leicht ein. — 21. Bei allgemeiner Reuestimmung (in Zeiten seelischer Niedergeschlagen-
heit) erscheint mir am stärksten die Erkenntnis der eigenen Schwäche und das Be-
dürfnis nach Hilfe. — 22. Die Stimmung der Bußfertigkeit nimmt ab, wenn die Mo-
tive an Lebendigkeit verlieren, und verschwindet manchmal bei heftigen, unangeneh-
men seelischen Erlebnissen, wie Enttäuschungen u. a. Der gute Wille zum Weiter-
streben stellt sich erst dann wieder ein, wenn ich sehe, daß noch jemand Sorge für
mein Seelenheil zeigt und mir Vertrauen entgegenbringt.
"e
Vp. 20.
I. Gewissensvorwürfe habe ich bei jedem Fehltritt. Bei ernsteren sind sie in-
tensiver. Bei freiwilligen Fehlern stellen sie sich gleich ein, bei leichteren erst bei
der abendlichen Gewissenserforschung. — 2. Bei Fehlern ernster Natur, also bei
solchen, die ich mit Wissen und Willen begehe, bildet sich gleich nach der Tat ein
klares Urteil. Dieses ist ja schon vor der Tat fertig. Nur erfolgt darnach der Vor-
wurf. Bei halb freiwilligen Fehlern sage ich mir: Das hätte ich nicht tun sollen. —
3. Beschämung und Unzufriedenheit mit mir selbst und Abscheu gegen die Tat. —
4. Die Wegwendung des Willens ist unbedingt mit dem Abscheu vor der Tat ver-
bunden. Bei ernsteren Fehlern erfolgt der Vorsatz gleich nach der Tat, bei leich-
teren meist bei der abendlichen Gewissenserforschung. Des öfteren machte ich
keinen Vorsatz, weil ich mir sage: Bei sich bietender Gelegenheit falle ich wieder.
76 I. Abhandlungen,
Ist ein solcher Fehler Gegenstand besonderer Gewissenserforschung, so ist bei dieser
Uebung jedesmal eigne Wegwendung des Willens von der verwerflichen Tat und ent-
sprechender Vorsatz verbunden. — 5. Bei sich wiederholenden ernsteren Fehlern
wird die Seele unruhig. Die Seele wird niedergeschlagen und diese Stimmung dauert
fort, bis der Fehler bei der nächsten Beichte getilgt ist. — 6. Die Folge heftiger Vor-
würfe ist Beklommenheit, die bei der Erinnerung daran auftritt bis zum Bekennt-
nis, — 7. Die Erinnerungen an Fehltritte aus den Kinderjahren erwecken jetzt in-
tensivere Vorwürfe, obwohl ich mir sagen muß, in der Jugend fehlte die nähere Kennt-
nis. Diese wiederholen sich bei bestimmten Anlässen immer wieder. — 8. Es kam
schon vor, daß die Gewissensvorwürfe gleich nach der Tat weniger sich geltend
machten, aber durch Exerzitienvorträge oder einen entsprechenden Betrachtungs-
stoff gesteigert wurden. — 9. Ich war noch nie unruhig über die Reue bei meinen
Beichten.
10, Die Reue mache ich fast ausnahmslos frei. Nur in Fällen außerordentlicher
Zerstreuung bediene ich mich der Reueformel, wodurch ich mehr Sammlung be-
zwecke und dann die Reue frei besser bete. — 11. Soviel ich beurteilen kann, ist
meine Reue immer eine Liebesreue. Aus der Güte des Vorsatzes beurteile ich die
Güte der Reue. — ı2. Die Beweggründe, die mich zur Liebesreue bestimmen, sind
‘das reiche Gnadenmaß, das ich schon genossen und täglich genieße und meine Un-
dankbarkeit hiefür. Immer führe ich mir sie nicht, doch gewöhnlich bei Erweckung
der Reue vor der Beichte zu Gemüte, Ich bevorzuge sie, weil sie mich am sichersten
zur vollkommenen Reue veranlassen. — 13. Sind Schwankungen seit der letzten
Beichte vorgekommen, so werden diese in erster Linie bereut, dann auch die übrigen
Fehler. Die Reue bei ersteren Anlässen ist leichter zu erwecken und intensiver,
Vor der Anklage über die gewöhnlichen Fehler erfolgt eine allgemeine Reue, Aus-
nahmen sind, wenn ich jeden Fehler eigens bereue. — 14. Die gewöhnlichen Gefühle
beim Reueakt sind Beschämung und Unzufriedenheit, Abscheu vor dem Fehler.
Diese Gefühle werden verursacht beim Gedanken an die fortdauernde Undankbar-
keit und den fortgesetzten Mißbrauch der Gnaden. Der Empfang des Bußsakramentes
ist mir nie gleichgültig. Sind Fehler schwererer Art zu bekennen, so erweckt der
Gedanke an das Bekenntnis Angst und Beschämung, das Andenken an Gott ruft
Unzufriedenheit mit mir und Abscheu vor der Sünde hervor. Seelenschmerz ist
die Reue ja immer, Beklommenheit und Herzklopfen äußert sich bei seltenen ernste-
ren Fehlern. — ı5. Mit den Gefühlen der Unzufriedenheit und des Abscheues ist
immer die Abwendung des Willens verbunden. Reue, von der hier die Rede, ist
immer ein gemischtes Gefühl: Abscheu und Hoffnung. — 16. Nach einer intensiven
Reue fühlt sich das Herz erleichtert. — 17. Nein. — 18. Je älter ich werde, desto ab-
gestumpfter wird die Seele für die Eindrücke religiöser Wahrheiten. In den ersten
Jahren meines geistlichen Lebens genügte die Vorführung gewöhnlicher ernster
Wahrheiten zur Erzeugung von Reuestimmung. Jetzt dürfen schon Schlager kom-
- men, um diese Stimmung hervorzurufen,
19. Allgemeine Stimmung der Reue erfolgt vielfach beim Anblick eines Kreuz-
bildes, nach vielen, ja den meisten geistlichen Betrachtungen. — 20, Bei körperlichen
Unpäßlichkeiten tritt das Gefühl des Schmerzes leichter auf als im normalen Zu-
stande. — 21. Die Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit tritt am stärksten bei der Reue
hervor. — 22. Diese Bußstimmung bezweckt meist mehr Eifer, hie und da Klein-
mut, — 23. Dieser Kleinmut wird meist beseitigt durch die Beichte. — 24. —.
Vp. 21.
I. Gewöhnlich nach jedem Fehltritt. — 2. Der Vorwurf ist stärker, wenn ich
mir ein klares Urteil der fehlerhaften Tat gebildet habe. Sonst äußert er sich in einer
plötzlichen Unruhe oder Angst oder auch in dem allgemeinen Urteil: »Das hätte
ich nicht tun sollen«. Das letztere ist häufiger. — 3. Ich bemerke hauptsächlich das
Gefühl der Beschämung über das, was ich getan und der Unzufriedenheit gegen
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 77
mich selbst. — 4. Ich mache jedesmal einen eigenen Vorsatz, so etwas nicht mehr
zu tun. — 5. Die Unruhe dauert solange, bis ich mir Klarheit über meine Tat ver-
schafft habe; dann bereue ich sie und suche den Fehler gut zu machen. So tritt von
selbst wieder Ruhe ein. — 6. Bei einem stärkeren Vorwurf bekundet sich die nervöse
Erregung in Herzklopfen. — 8. Diesen Fall habe ich schon erlebt, doch ist er mir
nicht mehr klar in der Erinnerung.
10. Vor der Beichte mache ich die Reue seit Jahren immer frei und auswendig.
— 11. Bei Erweckung der Reue sehe ich hauptsächlich auf den EntschluB, die be-
reuten Fehler oder Sünden nicht mehr oder nicht mehr so oft zu begehen. An diesem
Entschluß bewerte ich die Güte meiner Reue. — ı2. Der bestimmte Beweggrund zur
Reue kommt mir meist erst während der Reue zum Bewußtsein, selten nur stelle
ich ihn von vornherein fest. Am wirksamsten sind für mich die Gedanken an die
Wohltaten und Gnaden Gottes und an das Leiden des Heilandes als Beweggründe
der Reue, weshalb ich diese bevorzuge. — 13, Wenn die Fehltritte bzw. Sünden größer
sind, so erwecke ich die Reue leichter beim Gedanken an die einzelnen, sonst tue
ich mich leichter bei dem Gedanken an meine Sündhaftigkeit. — 14. Die bei meiner
Reue hervortretendsten Gefühle sind die der Beschämung, der Unzufriedenheit
mit mir selbst, hauptsächlich verursacht durch den Gedanken, was ich hätte tun
sollen im Verhältnis zu den Gnaden, die mir Gott gibt. Vor der Beichte habe ich be-
sonders, wenn es sich um eine größere Beichte, z.B. bei Exerzitien handelt, ein Ge-
fühl der Beängstigung, daß ich gewiß alles so sage, wie es recht ist. In solchen Zeiten
hatte ich früher auch mehr fühlbaren Schmerz bei der Reue, der sich zuweilen in
Tränen äußerte. — 15. Mit der Reue ist die Abwendung des Willens von den begange-
nen Sünden mir bewußt, die ich aber auch immer im guten Vorsatz eigens noch aus-
spreche. — 16. In einer ruhigen Stimmung, die andauert bis zum nächsten Fehltritt;
ich schlage nämlich jeden .ängstlichen Gedanken nach der Reue aus, wenn ich den
redlichen Willen hatte, die Reue gut zu machen. — 17. Gewöhnlich nicht.
19. Zu Zeiten besonderer Einkehr in mich selbst. — 20. Diese Stimmung ist
mit der religiösen Stimmung der betr. Zeit gegeben, auch hervorgerufen durch Pre-
digt oder geistliche Lesung. — 21. Die Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit und die
Pflicht und Notwendigkeit der Buße. — 22. und 23. Sie fördert mein religiöses Le-
ben, namentlich das Gebetsleben, wenn ich sie zu erhalten suche, sei es durch äußere
oder innere Akte der Abtötung.
Vp. 22.
ı. Für gewöhnlich stellen sich »Gewissensvorwirfee sowohl nach Uebereilungs-
als auch nach freiwilligen Fehlern sogleich ein, selbst bei starker innerer Erregung
oder Leidenschaftlichkeit. Nur wenn der Geist durch viele äußere Geschäfte sehr
in Anspruch genommen ist, kommen die Gewissensvorwürfe erst nach eingetretener
Ruhe. — 2. Fast durchwegs ist sofort ein ganz klares Urteil über die Verwerflichkeit
des Fehlers vorhanden; es sei denn, daß auf der Seele, ich möchte sagen, eine Art
Betäubung lastet. Dann ist das Urteil getrübter und überwiegt das Gefühl der Un-
ruhe. — 3. Gefühle der Furcht und des Schreckens stellen sich selten ein; um so mehr
aber solche des Abscheus und des Ekels, sowie einer sehr großen Unzufriedenheit
mit mir selbst. — 4. Bei den mit den Gewissensvorwürfen sich einstellenden Gefühlen
wendet sich der Wille jedesmal von der Tat weg; jedoch zu einem bestimmten Vor-
satz kommt es nicht immer. — 5. Die eintretenden Gewissensvorwürfe werden meist
zur Niedergeschlagenheit, die erst nach der Beichte, oder nach sonstiger Aus-
sprache schwindet, oder wenn ich mich längere Zeiternstlich der Besserung befleiße. Ist
aber der Geist durch Arbeit viel beschäftigt, so tritt auch ohne obige Mittel zeit-
weilige Beruhigung ein. — 6. Als körperliche Begleiterscheinung der Gefühle beob-
achte ich Beklommenheit, aber auch Ermüdung. — 7. Die Erinnerung an den Fehl-
tritt ruft je nach der momentanen Disposition der Seele verschiedene Eindrücke
hervor; nicht selten gleicht sie in ihrer Lebhaftigkeit der ersten Gewissensregung. —
78 I. Abhandlungen,
8. Es kam mir vor, daß Fehler, deren Unrecht ich erst später erkannte, sei es durch
Lektüre oder irgendwelche Belehrung, in mir größere Unruhe hervorriefen als so-
gleich erkannte. 9. —.
10. Ich mache die Reue vor der Beichte immer ohne äußere Hilfsmittel, —
II. Als Prüfstein einer guten Reue gilt mir der Wunsch: »O hätte ich das nicht ge-
tan!« und der damit verbundene ernste Vorsatz. — 12. Die am meisten wirkenden
Motive bei der Reue sind für mich der Hinblick auf das Kreuz und der Gedanke
an die Güte Gottes, zwei Momente, welche auf mein Gemüt den lebhaftesten Ein-'
druck machen. — 13. Am innigsten wird bei mir die Reue bei der Erinnerung an
bestimmte Fehltritte. — 14. Am vorwiegendsten ist bei der Reue das Gefühl des
Schmerzes, des Abscheues und der Unzufriedenheit, Vor dem Beichten stellt sich
leicht Beklemmung und Widerwillen ein. — 15. Mit den Reuegefühlen ist meistens
ein entschiedenes Wegwenden des Willens von den begangenen Fehltritten verbunden.
— 16, Nach der Beichte tritt meist ein Gefühl der Erleichterung ein, Doch zeigt
sich auch manchmal Niedergeschlagenheit, welche länger anhält. — 17. Das nach
der Beichte eintretende Gefühl der Erleichterung wirkt fördernd auf das körperliche
Wohlbefinden, während das der Niedergeschlagenheit erschlaffend wirkt. — 18, —
19. Das Gefühl der Reue und der Bußgesinnung tritt sehr leicht ein. — 20. Eben
genannte Erscheinungen zeigen sich nicht bloß bei religiösen Uebungen, sondern
auch während der Berufstätigkeit; besonders stark im Zustand der Ermüdung. —
2I. Es waltet bei der Stimmung der BuBfertigkeit das Gefühl der Armseligkeit und
Schwäche vor. — 22. Diese Stimmung spornt mich an, alle Beschwerden und De-
mütigungen des Lebens ruhiger hinzunehmen und innig um Gottes Gnade zu flehen.
— 23. Ich suche die Stimmung der Bußfertigkeit zu erhalten und erwecke häufig
Akte der Bußgesinnung. — 24. —.
Vp. 23.
1, Sobald ein Fehltritt mir zum Bewußtsein kommt, empfinde ich Gewissens-
bisse, zuerst oft nurschwach, später sich verstärkend. — 2. Folgten Gewissensbisse auf
Fehltritte, die ich schon öfters begangen, so hatte ich bei den Gewissensbissen ein
ziemlich klares Urteil. Wenn diesclben aber auf Fehler folgten, wozu ich noch keine
Gelegenheit gehabt, empfand ich die Gewissensvorwürfe als plötzliche Unruhe mit
der unbestimmten Mahnung: »Das hätte ich nicht tun sollen.e — 3. Gewissensvor-
würfe erwecken in mir Gefühle der Beschämung, Unzufriedenheit, des Mißmutes
gegen mich selbst. — 4. Bei Gewissensvorwürfen bemerke ich neben den Gefühlen der
Beschämung, der Unlust, des Mißmutes nicht immer eine Wegwendung meines Wil-
lens von der eben geschehenen Tat. Es bedarf oft des Kampfes, um meinen Willen
zu zwingen, sich abzuwenden und sich zu einem Vorsatz zu entschließen. — 5. Die
Gewissensvorwürfe bewirken Unruhe, auch Niedergeschlagenheit. Diese Stimmung
dauert an, bis ich mich zu einem bestimmten Vorsatz entschlieBe. — 6. Gewissens-
vorwürfe beeinflussen mein körperliches Befinden. Ich sehe schlecht aus, magere
ab und fühle mich innerlich sehr reizbar. — 7. Die Erinnerung an den Fehltritt und
Gewissensvorwurf taucht auf, doch die Befriedigung, daß alles in der Vergangenheit
liegt und ich aus dem Fehltritt Nutzen für meine Seele schöpfte, läßt keine weiteren
Gewissenserregungen aufkommen. — 8, Ich erlebte den Fall, daß ich zwar gleich
nach dem Fehltritt keine oder wenigstens sehr schwache Gewissensbisse empfand,
wohl aber nach einiger Zeit. Diese Gewissensbissé schienen anders zu sein, als jene
gleich nach dem Fehltritt. Die Gewissensbisse unmittelbar nach dem Fehltritt schie-
nen heftiger, bestimmter. Jene, die erst später kamen, mehr in der Form des Zwei-
fels und drängten immer zum Nachdenken, bis ich. den Fehltritt erkannte und be-
kannte. — 9. Ich machte die Erfahrung, daß ich zuweilen Gewissensbisse erlitt, bei
Dingen, die keine Fehler in sich schlossen. Von diesen wurde ich durch Gebet be-
freit, von den andern aber nicht.
m m EEE a a gr
Wunderle, Zur Psychologie der Reue, 79
10. Vor der Beichte bin ich gewohnt, die Reue frei, auswendig, ohne Gebetbuch
zu machen. — 11. Bei der Erweckung der Reue kommt es mir darauf an, meinen
Willen dem Guten zuzuwenden. Mein Vorsatz gilt mir als Kennzeichen für meine
Reue. — 12. Früher war vorherrschend der Beweggrund meiner Reue, daß ich mich
durch die Sünde von Gott entfernt, der Gnaden verlustig gemacht habe. Jetzt stelle
ich mir den Heiland am Kreuze vor, bekenne ihm meine Sünden. Wenn die Sünden-
schulden mir auch nicht klar zum Bewußtsein kommen, so beunruhigt mich dies
“nicht, denn ich möchte alles bereuen. — 13. Ich denke bei Erweckung der Reue zuerst
an bestimmte, einzelne Fehltritte, und lasse dann den Gedanken an meine Sünd-
haftigkeit im allgemeinen auf mich wirken, — 14. Ich empfinde bei der Reue Gefühle
der Beschämung, Unzufriedenheit, Niedergeschlagenheit — doch nicht immer, —
zuweilen auch Angst. — Sie werden verursacht durch den Gedanken, diese Fehler
hätten vermieden werden können, oder durch eine Empfindung der Ohnmacht,
mich zu bessern, oder auch durch den Gedanken an Gottes Liebe, der meine Seele
‘nicht entspricht. — 15. Ja, ich suche meinen Willen von den Fehltritten zuerst ab-
zuwenden, bevor ich den Vorsatz mache. — 16. Nach der Reue fühle ich mich ernst
gestimmt und gekräftigt. — 17. Wenn die seelische Vertiefung in Gott vorher größer
war, fühle ich mich nach der Reue körperlich angestrengt.
19. Ja, ich empfinde öfters eine allgemeine Bußgesinnung. — 20. Ein Blick auf
mein ganzes Leben im allgemeinen, selbst der Anblick des Schönen erweckt in mir
zuweilen Bußstimmung. — 21. Am stärksten erscheint mir in der Stimmung der BuB-
gesinnung die Wegwendung meines Willens von der Sünde. — 22. Diese Stimmung
wirkt hebend auf mein religiöses Leben. — 23. Durch Lesen, und Betrachten suche
ich diese Stimmung zu erhalten.
Vp. 24.
ı. Fast nach jedem Fehltritt pflegen sich bei mir Gewissensvorwürfe einzu-
stellen. In der Regel treten sie sofort auf. — 2. In den meisten Fällen bin ich mir
der Verwerflichkeit der fehlerhaften Tat klar bewußt. Doch überkommt mich unter
Umständen bisweilen plötzliche Unruhe, Angst und Zweifel, .ob und namentlich
inwieweit ich mich verfehlt habe. — 3. Sehr häufig bemerke ich bei Gewissensvor-
würfen Gefühle von Unlust, Ueberdruß, Beschämung, Schrecken, Abscheu gegen
das, was ich getan habe und eine große Unzufriedenheit mit mir selbst. — 4. Die
Wegwendung des Willens von der fehlerhaften Tat ist bei mir in vielen Fällen nicht
sehr deutlich wahrnehmbar. Vielmehr erscheint es mir, als sei mein Wille gelähmt,
in den Bannkreis des Fehlerhaften gezogen und müsse erst durch religiöse Motive
‚wieder in die richtige Bahn gelenkt werden. Ist letzteres geschehen, dann ergibt
sich der Vorsatz, so etwas nicht mehr zu tun, von selbst. — 5. Die Gewissensvorwürfe
werden bei mir sehr häufig zur Unruhe und Niedergeschlagenheit. Bei Beschäftigung-
gen, die weniger ablenken, kann diese Stimmung stundenlang, unter Umständen
tagelang andauern. Oft tritt die Ruhe erst nach Empfang der Beichte ein. Bei ge-
ringeren Beunruhigungen tritt gewöhnlich von selbst wieder Ruhe ein, z. B. nach
erquickendem Schlafe oder auch durch anstrengende geistige Arbeit, die zum Grü-
beln nicht Zeit läßt. — 6. Mein körperliches Befinden wird durch Gewissensvorwürfe
sehr verändert. Nervöse Erregung, Kurzatmigkeit, auffallende Blässe, Unlust am
Essen u. dgl. sind Begleiterscheinungen ernster Gewissensvorwürfe. Es ist wie eine
Art Lähmung der physischen und psychischen Kräfte. — 7. Die Erinnerung an längst
begangene Fehltritte taucht bei mir sehr häufig auf. Die Gewissensvorwürfe sind
in diesem Falle unter Umständen viel stärker als das erstemal nach dem begangenen
Fehler. — 8. Darüber bin ich mir nicht klar genug. — 9. Nein.
10. In der Regel tue ich beides. Wenn mir gerade kein Gebetbuch zuhanden
ist, dann begnüge ich mich, die Reue frei zu machen, bete aber zum Schlusse noch
gewisse Reueformeln. Wenn ich mich besonders »trocken« fühle, dann bete ich aus
dem Gebetbuche verschiedene, mir zusagende Reuegebete. — 11. Die Sorge und
80 I. Abhandlungen.
Angst, keine »wahre und gute« Reue gehabt zu haben, quält mich sehr häufig. Um
dieser folternden Angst einigermaßen zuvorzukommen, pflege ich sehr oft, nament-
lich an Beichttagen um eine gute Reue zu beten. Wenn ich mir dann sagen kann,
ich wollte Reue haben, ich bedauere, daß ich so geringe Reue habe, so dient das zu
meiner Beruhigung. — ı2. Im allgemeinen strebe ich nach Reue aus dem Beweg-
grunde der Liebe zu Gott. Dabei leistet mir der Gedanke an das Leiden Christi gute
Dienste, Handelt es sich um unvollkommene Reue, so ist namentlich die Erwägung
der Ewigkeit der Höllenstrafen ein wirksamer Beweggrund der Reue für mich. Diese
Beweggründe sctze ich nicht von vernherein fest; sie ergeben sich, während ich die
Reue zu erwecken suche. — 13. Wenn größere Fehltritte vorkamen, so denke ich bei
Erweckung der Reue hauptsächlich an diese. Ist nichts besonderes vorgefallen, so
halte ich mir im allgemeinen meine Sündhaftigkeit vor Augen. In beiden Fällen
geht es mir ziemlich gleich. — 14. In bestimmten Fällen pflegen sich bei Erweckung
der Reue die genannten Gefühle der Unlust, der Beschämung usw. mehr oder weniger
deutlich einzustellen. Der Gedanke an das bevorstehende Beichten erregt in mir
nur manchmal Gefühle der Beschämung, des Widerwillens gegen ein offenes Bekennt-
nis und namentlich der Furcht, mich nicht so klar und bestimmt als notwendig aus-
drücken zu können, Letzteres Gefühl dürfte bei mir wohl am stärksten sein. In
Beichten über größere Zeitabschnitte (etwa bei Exerzitien) stellen sich bei der deut-
lichen Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit wohl auch zuweilen Tränen ein. Doch be-
trachte ich das in der Regel durchaus nicht als Zeichen einer besonders guten Reue.
— 15. In manchen Fällen ist bei mir neben den Gefühlen der Unzufriedenheit, der
Beschämung, der Furcht usw. auch die Abwendung des Willens von den begangenen
Fehltritten bemerkbar. Sehr häufig aber kommt die Abwendung des Willens erst
in dem Vorsatz zum Ausdruck. — 16. Nach Erweckung einer ernstlichen Reue, häu-
figer aber erst nach einer guten Beichte bin ich in denkbar bester Stimmung, fast über-
strömend von Frieden und Glück. Doch dauert diese Stimmung nicht allzulange.
Bei Erneuerung der alten Schwierigkeiten und Fehler kann auch ein plötzlicher
Rückschlag eintreten. — 17. Unter Umständen fühle ich mich während und nach
der Reue körperlich sehr angestrengt. — 18. Nein.
19. Mit Ausnahme der Reue vor der Beichte und Kommunion und abgesehen von
einzelnen Gewissensvorwürfen ist eine allgemeine Reuestimmung und Bußgesinnung
bei mir sehr selten. Im besten Falle suche ich unvermcidliche Uebel und Wider-
wärtigkeiten im Geiste der Buße anzunehmen. — 20. Darüber bin ich mir nicht klar
genug. — 2ı. Nach meinem Dafürhalten ist bei mir die Erkenntnis meiner Sünd-
haftigkeit deutlicher und stärker als die Wegwendung meines Willens von der Sünde,
—- 22. Diese Stimmung bewirkt, daß ich Gott dem Herrn mein klend immer w.eder
im Gebete vortrage mit der Bitte um die Gnade einer recht innigen Reue (Liebes-
reue) und eines recht großen Abscheues gegen die Sünde. — 23. Diese Stimmung der
Bußfertigkeit (Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit) erhält sich so ziemlich von selbst,
ohne daß meinerseits ausdrücklich etwas dafür oder dagegen geschieht. — 24. Nein.
Vp. 25.
1. Ich habe bei den allermeisten Fehltritten Gewissensvorwürfe, bei ganz- oder
halb freiwilligen jedesmal, auch wenn die übertretene Vorschrift an und für sich
eine unbedeutende ist. Die Gewissensbisse drängen sich bei mir sofort auf, auch bei
Fehlern, die in Uebereilung oder seelischer Aufregung ihren Grund haben. Bei Ge-
wohnheitsfehlern jedoch, die eine zeitlang unbeachtet bleiben, hören die Gewissens-
vorwürfe allmählich auf oder sind nur sehr schwach; sie stellen sich erst wieder ein,
nachdem in einer Stunde der inneren Sammlung das Verwerfliche der bösen Gewohn-
heit erkannt wurde. — 2. Ich habe mir in manchen Fällen allerdings dieses Urteil
gebildet; in den weitaus meisten Fällen jedoch habe ich mir einfach gesagt: »Das
hättest du nicht tun dürfen. In manchen Fällen habe ich überhaupt nur eine plötz-
liche Unruhe verspürt; das erste war meistens der Fall bei seltenen oder ernsteren
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 81
Fehlern, auch Fehlern aus Uebereilung oder seelischer Aufregung, das zweite bei
öfter vorkommenden, besonders auch freiwilligen oder halb freiwilligen, das dritte
bei ganz kleinen oder Gewohnheitsfehlern oder in zweifelhaften Fällen. — 3. Ich
bemerke dabei immer Gefühle; Unlust ist jedesmal dabei, in zweiter Linie Beschä-
mung und Unzufriedenheit, auch Furcht, Angst und Abscheu und zwar Beschämung
und Unzufriedenheit über mich selbst, Abscheu gegen mich selbst, jedoch selten;
auch die anderen Gefühle richten sich gegen mich selbst. — 4. Ja; diese Wegwendung
ist um so stärker, je größer meine Beschämung, Unzufriedenheit usw. ist. Bei ganz
schwachen Gewissensvorwürfen bemerke ich auch diese Wegwendung; sie ist eben-
falls sehr schwach und verflüchtigt sich schnell wieder, wenn der Sache keine Auf-
merksamkeit geschenkt wird. Ich mache nicht jedesmal einen eigenen Vorsatz,
auch nicht oft, d. h. bei dem Gewissensvorwurf selbst (unmittelbar nach der Tat);
es beschäftigt mich in solchen -Augenblicken das Drückende und Unangenehme des
Gewissensvorwurfes zuviel; auch das hindert oft ein Zustandekommen des Vorsatzes,
daß ich schnell wieder von einer anderen Sache, die erledigt werden muß, in Anspruch
genommen werde; auch Oberflächlichkeit ist in vielen Fällen schuld. — 5. Nein;
früher, als ich viel über seelische Vorgänge nachdenken konnte, war es manchmal
der Fall; diese Stimmung dauerte oft tagelang; Ruhe trat nie von selbst ein; entweder
half die Beichte oder eine Aussprache außer der Beichte oder beruhigende, Vertrauen
und Mut erzeugende Lektüre oder Gebet mit häufigen Akten des Vertrauens. —
6. — 7. Das kommt mir öfter vor, bei einem und demselben Fehler oft mehrmals,
Die Stärke der Gewissensregung bei dieser Erinnerung ist verschieden; für gewöhn-
ich finde ich sie fast so stark wie das erstemal, ebenso stark, um nicht zu sagen,
eher stärker, wenn ich über den ersten Gewissensvorwurf absichtlich hinwegginge
stärker auch dann, wenn mir inzwischen eine neue Erkenntnis über jenen Fehler
aufgegangen war. — 8. Ich habe einmal nach einer Reihe von Fehltritten keine Ge-
wissensbisse gehabt, erst, als sie mir nach einigen Jahren in der Betrachtung klar
ins Gedächtnis kamen. Diese Gewissensvorwürfe waren nicht so stürmisch wie solche
unmittelbar nach einem Fehltritt, aber viel tiefer, länger andauernd, mit starken
Gefühlen verbunden; der Wille wendete sich sehr kräftig ab und die Bußgesinnung
dauerte lange an. In einem anderen Falle kam mir ein derartiger früher begangener
Fehler ohne besondere Veranlassung ins Bewußtsein; der Gewissensvorwurf und die
-damit verbundene Beschämung, Furcht und Angst, sowie Unlust waren stärker
als unmittelbar nach dem Fehltritt.
10. Ich mache die Reue vor der Beicht immer frei mit eigenen Worten. — rr. Bei
der Erweckung der Reue kommt es mir hauptsächlich darauf an, die Liebesreue
zu erwecken. Ich habe mir kein solches Kennzeichen herausgebildet. — 12. Ich setze
mir meistens schon vornherein bestimmte Beweggründe fest; hie und da aber kommt
mir ein bestimmter Beweggrund erst während der Reue zum Bewußtsein. Ich liebe
besonders den Gedanken an das Kreuz, an Gottes Güte und die eigene Undankbar-
keit und an die unendliche Schönheit, Majestät und Liebenswürdigkeit Gottes. Ich
bevorzuge diese Beweggründe, weil ich mir einzig von ihnen die Erreichung des ge-
steckten Zieles verspreche, nämlich die Liebesreue, den Gedanken an das Kreuz
allerdings auch, um nicht gar so trocken und gefühlsleer zu sein. — 13. Ich denke
bald an bestimmte einzelne Fehltritte, bald an alle, bald an beides zugleich, manch-
mal auch allgemein an meine Sündhaftigkeit. Ich erwecke die Reue leichter, wenn
- ich eingehend an bestimmte einzelne Fehltritte denke oder in zweiter Linie dann,
wenn ich mir lebhaft meine Sündhaftigkeit vorhalte. — 14. Ich habe bei der Reue
keine oder fast keine Gefühle; sind manchmal solche dabei, so ist es Unzufriedenheit,
Beschämung oder Abscheu. Diese Gefühle werden dann verursacht durch das Nach-
denken über den Gewissenszustand. Der Gedanke an das bevorstehende Beichten
erregt in mir keine besonderen Gefühle mehr; früher große Unlust, auch Angst, be-
sonders aber Beschämung; letzteres Gefühl war meist am stärksten und stellt sich
auch gegenwärtig manchmal noch stark ein; in schwacher Form ist es eigentlich
Archiv für Religionspsychologie II/III. 6
82 I. Abhandlungen.
jedesmal dabei. Eigentlichen Schmerz habe ich nur in einigen Fällen empfunden.
Neigung zum Weinen aus Reue habe ich in meinem ganzen Leben vielleicht dreimal
gefühlt; eigentlich heftig geweint habe ich nie. — 15. Eine deutliche Abwendung
des Willens kommt mir selten zum Bewußtsein; ich vollziehe sie meistens erst durch
den Willen selbst und spreche sie dann in dem guten Vorsatz aus,
19. Ich habe diese Stimmung öfters. — 20. Sie ist manchmal die Folge des BuB-
sakramentes; öfters wird sie verursacht durch Gewissensregungen bei der geistlichen
Lesung oder bei einer Predigt; auch ein ergreifender Gottesdienst hat sie bei mir
schon hervorgerufen, desgleichen feierliche Zeremonien, auch in letzteren Fällen war
sie allerdings mit der Stimmung der Andacht verbunden. Diese Stimmung der An-
dacht hat die Reuestimmung bei mir auch sonst öfters im Gefolge; sehr stark und
lange dauernd kam mir diese Stimmung einmal nach einer Reihe von Betrachtungen
über die Liebe des Heilandes. — 2r. Am deutlichsten erscheinen mir dabei die Ge-
fühle der Unlust, Unzufriedenheit, des Abscheues, der Beschämung, sowie die Weg-
wendung des Willens; letztere ist eigentlich ebenso stark wie die Gefühle; ist das
erste Stadium oder die erste Zeit nach der Erregung der Stimmung vorüber, dann
tritt die Wegwendung des Willens (der Stärke nach) in den Vordergrund. — 22. Diese
Stimmung wirkt günstig auf mein sonstiges religiöses Leben; es wird alles ganz und
ernst genommen; der Opfersinn und die Opferwilligkeit und -Freudigkeit wachsen.
— 23. Ich tue nichts Besonderes, um diese Stimmung zu erhalten; um sie zu be-
seitigen, erst recht nicht; allerdings benütze ich öfters Gelegenheiten zu Opfern,
um diese Gesinnung zu nähren oder vielmehr zu betätigen.
Vp. 26.
1. Bei jedem, auch bei teilweise unfreiwilligen Fehlera drängen sich mir Ge-
wissensbisse auf und zwar sofort. — 2. Das Gewissen sagt mir sofort bestimmt und
klar: »Das hättest du nicht tun sollen.« Ich versuche meistens eine Gegenbegründung
dafür, daß dies... snicht so arg sein könne«; doch vergebens. — 3. Die bei meinen
Gewissensbissen vorherrschenden Gefühle sind Beschämung und Unzufriedenheit
und Sorge für die Zukunft meiner Seele, verbunden mit dem Gefühle eines absoluten
Angewiesenseins und Vertrauens auf Gottes Barmherzigkeit. Hingegen erinnere
ich mich nur in selteneren Fällen eines lebhaften Abscheues gegen mich selbst.
— 4. Eine Wegwendung des Willens von der mich belastenden Tat ist vorhanden;
doch erinnere ich mich keines ausdrücklichen Vorsatzes, — 5. Der Gewissensvorwurf
wird zuweilen zur quälenden Unruhe, die so lange dauert, bis ich mich zu dem, Ent-
schluß durchgearbeitet habe, gerade so... zu beichten. Dieser EntschluB, der zu-
weilen erst nach ein paar Tagen zustande kommt, verbunden mit unbedingtem Ver-
trauen auf die Erbarmungen Gottes bringt mir schon vor geschehener Beichte die
Ruhe des Gewissens zurück. — 6. Derartiges habe ich noch nicht beobachtet. —
7. Die Erinnerung an bereute und gebeichtete Fehler taucht mir nie mehr in Form
von Gewissensbissen auf. Doch bilden diese Fehler die Grundlage der unten zu be-
handelnden Stimmung der Reue. — 8, Daß ich Gewissensbisse über eine frühere
Tat erst später empfunden hätte, kann ich mich nicht gerade erinnern.
10. Meine Gepflogenheit ist es, die Reue nach einer »sstimmung«-machenden
Betrachtung frei zu erwecken und noch den Psalm »Miserere¢ langsam wie aus eigener
Seele gesprochen zu beten. — 11. Bei Erweckung der Reue kommt es mir hauptsäch-
lich darauf an, der sühnenden und heilenden Wirkung des Erlösungstodes Jesu teil-
haftig zu werden, Da ich fast glaube, daß dies durch lebhafte Begierde geschehen
kann, bin ich mit meiner Reue zufrieden, wenn ich ein wirkliches Verlangen darnach
erweckt oder gar empfunden habe. — 12. Von vornherein setze ich mir nie einen
Beweggrund der Reue fest. Eine Vorliebe habe ich für den Beweggrund des Mit-
leidens mit dem zurückgesetzten Heiland und der Dankbarkeit. Einen besonderen
Grund für diese Beweggründe kenne ich nicht, es müßte denn natürliche Anlage zum
Mitleid sein. — 13. Bei der Reue denke ich an bestimmte einzelne Fehltritte, oft
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 83
nur an einen einzigen. Doch schwebt mir das Bewußtsein meiner Sündhaftigkeit und
geistlichen Unzulänglichkeit im allgemeinen bei Erweckung der Reue lebhaft vor. —
14. Zuweilen befällt mich ein plötzlicher Schrecken wegen der unausbleiblichen Strafe
für die Sünden, ein Schrecken, der mir ins Mark geht, Manchmal, aber selten, er-
faßt mich ein tiefer Abscheu. Der Gedanke an die bevorstehende Beichte läßt mich
in der Regel ziemlich ruhig. Nur in Ausnahmefällen erfüllt er meine Seele mit dem
Gefühle wirklicher Bitterkeit. Ein eigentlicher, tief empfundener Schmerz ist mir
bei der Reue nicht fremd, doch auch nicht gewöhnlich. Dasselbe gilt vom Weinen. —
15. Dem Gefühle bei der Reue folgt oft eine ausdrückliche Wegwendung des Willens
von der Sünde, doch nicht jedesmal. — 16. Nach einer »guten« Reue bin ich in einer
schaffensfrohen Stimmung in bezug auf das sittliche Streben. Es scheint mir nichts
zu viel und nichts zu schwer zu sein. Das dauert ein paar Tage. — 17. —.
19. Etwa ein paarmal im Jahre erfaßt mich eine starke allgemeine Stimmung
der Reue. — 20. Die Ursache dieser Stimmung kenne ich nicht. Sie ist unabhängig
vom Empfang des Bußsakramentes. Auch bin ich mir nicht bewußt, daß sie sich
an einzelne religiöse Handlungen knüpft. Doch ist ihr die Feier heiliger Zeiten
z. B. der Fastenzeit, der Fronleichnamsoktav, ganz besonders aber strenge Zucht
der Sinne und mäßiger Nahrungsabbruch sehr günstig. — 2ı. In dieser Stimmung
beherrscht mich die Erkenntnis meines innerlichen Elendes ganz. Ich glaube da den
Ausdruck: sein zerknirschtes und gedemütigtes Herze durch eigenes Erleben völlig
zu verstehen. Einzelne Gefühle, z. B. der Unlust, des Ekels, der Beschämung lassen
sich in dieser Gemütskatastrophe, wie ich diese Stimmung nennen möchte, nicht
mehr kontrollieren. Ich bin mir auch weniger der Wegwendung des Willens von der
Sünde, als der Hinwendung meiner ganzen Seele zu Gott bewußt. — 22. Diese Stim-
mung wirkt wie eine schmerzliche, tiefgreifende Läuterung auf mein religiöses Leben,
mich demütigend, beinahe vernichtend. Trotzdem ist sie mir eine wirkliche Erfri-
schung, ein Antrieb zum Vorwärtsschreiten in meinem Berufe. — 23. Diese Stim-
mung suche ich weder zu erhalten noch zu beseitigen. Nur gestatte ich mir die Er-
leichterung, mich ein paar Tage hindurch bei Gelegenheit gründlich auszuweinen.
Vp. 27.
ı. Gewissensvorwürfe oder Gewissensbisse habe ich nur bei ernsteren bzw. bei
ganz freiwilligen Verfehlungen. Diese drängen sich meistens gleich nach dem Feh-
ler auf. — 2. Ein klares Urteil konnte ich mir in der Verwirrung nicht gleich bilden.
Ich habe überhaupt Unruhe, Furcht verspürt und mußte mir sagen: »Das hätte ich
nicht tun dirfen.« — 3. Bei Gewissensvorwürfen habe ich Unlust, Ekel, Beschämung,
Furcht, Schrecken, Unzufriedenheit, Abscheu gehabt gegen das, was ich getan habe,
mehr als gegen mich selbst. — 4. Bei Gewissensvorwürfen bemerke ich neben diesen
Gefühlen die Wegwendung des Willens von der geschehenen Tat und oft mache ich
einen eigenen Vorsatz, es nicht mehr zu tun. — 5. Gewissensvorwürfe machen mir
große Unruhe und ich fühle mich dabei auch manchmal niedergeschlagen. — 6, Diese
Unruhe zeigt sich manchmal nach außen, sogar für meine Umgebung auffällig. —
7. Die Erinnerung an den Fehltritt und den Gewissensvorwurf taucht aueh später
manchmal wieder auf, aber nicht mehr so stark wie nach der Sünde. — 8. An einen
bestimmten einzelnen Fall kann ich mich hier nicht erinnern.
10. Bei Erweckung der Reue vor der Beichte nehme ich oft kein Gebetbuch. Ich
halte mich meistens an das Reuegebet, das ich einst in der Schule gelernt und bleibe
bei den einzelnen Worten kurz stehen. — 11. Ein Kennzeichen, daß meine Reue
gut war, weiß ich nicht. — ı2. —. 13. Ich will wohl alle Sünden bereut haben, doch
ist mir die Reue leichter, wenn ich an einzelne größere Fehltritte denke, weil ich bei
den kleineren weiß, daß sie bald wieder geschehen. — 14. Bei großen Fehltritten
habe ich die Gefühle der Unlust, des Ekels usw. Das Gefühl der Beschämung ist
bei mir am stärksten. Eine Neigung zum besonderen äußeren Ausdruck der
Reue habe ich noch nicht gefühlt, — 15. Diese Abwendung des Willens spreche ich erst
6*
84 I. Abhandlungen.
im guten Vorsatz aus. — 16. Nach einer guten Reue bin ich in der Stimmung, daß
ich für meine Fehltritte auch büßen will. Diese dauert, bis ich wieder in große Zer-
_ streuung komme. — 18. Es ist mir einmal vorgekommen, daß ich bei einem größeren
Fehltritt, in den ich früher öfter geraten bin, trotz aller Reue keinen Vorsatz zu-
stande brachte, da ich an meiner Besserung stark zweifelte, bis ich in der Beichte
dazu gebracht wurde.
19. Ich habe auch außer den genannten Fällen hie und da eine allgemeine Stim-
mung der Reue. — 20. Diese Stimmung knüpft sich an besondere religiöse Hand-
lungen, an die Betrachtung, geistliche Lesung und stellt sich auch bei körperlicher
Unpäßlichkeit ein. — 21. In dieser Stimmung erscheinen mir am stärksten die Ge-
fühle der Unlust, des Ekels, der Furcht, des Schreckens. — 21. Diese Stimmung
wirkt fördernd auf mein sonstiges religiöses Leben, nur hält sie nicht lange an. Bis-
weilen hat der Gedanke an meine Sündhaftigkeit auch eine niederdrückende Wirkung.
— 23. Die fördernde Stimmung verflüchtigt sich leider bald wieder und die nieder-
drückende suche ich zu zerstreyen.
Vp. 28.
1. Ich habe Gewissensvorwürfe bei jedem Fehltritt, sobald ich dessen bewußt
werde. Doch ist es schon vorgekommen, daß ich einen Fehler längere Zeit nicht
einsah und die Gewissensbisse sich dann erst beim Erkennen des Fehlers einstellten.
— 2. Ja, bei größeren Fehlern; bei kleineren und unbedachten bleibt es wohl oft
bei dem »Das hätte ich nicht tun dürfen« oder bei einer plötzlichen Unruhe. — 3. Ja;
Ekel, Beschämung usw. hatte ich sowohl gegen das, was ich getan, als auch
gegen mich selbst. — 4. Ja und ich machte, wenn vielleicht nicht immer, doch mei-
stens jedesmal einen eigenen Vorsatz, so etwas nicht mehr zu tun, — 5. Ja, bei grö-
Beren Fehlern wird er zur Niedergeschlagenheit, nicht bei den täglichen Uebereilungen
und Nachlässigkeiten. Diese Stimmung dauert bis ich gebeichtet habe, bei geringeren
bis ich Reue erweckt und den Vorsatz gefaßt, es bei nächster Gelegenheit zu beichten.
— 6. Ja, Gewissensvorwürfe bei größeren Fehlern haben Einfluß auf mein körper-
liches Befinden. Ich fühlte mich beklommen und nervös und bekam oft Herzklopfen.
— 7. Ja, die Erinnerung taucht später hie und da wieder auf, dabei ist die Gewissens-
regung manchmal eher noch stärker, weil unterdessen auch die Erkenntnis des Bösen
gewachsen ist, — 8. Ja, wenn ich erst später den Fehltritt einsah. Ein solcher
Gewissensvorwurf ist eher stärker, da, je älter ich werde, auch die Erkenntnis der Ver-
werflichkeit des Bösen wächst.
10. Ich habe die Reue meistens frei und auswendig erweckt, doch benütze ich
auch gerne eine bestimmte Formel aus einem gewissen Gebetbuche, die mir beson-
ders entspricht. — 11. Bei Erweckung der Reue kommt es mir hauptsächlich auf
die Beweggründe an. Für das Kennzeichen einer guten Reue halte ich den festen,
entschiedenen Vorsatz. — 12. Die Beweggründe habe ich mir schon zurechtgelegt.
Eine besondere Vorliebe habe ich für den Beweggrund der Dankbarkeit und Liebe
gegen Gott, meinen Schöpfer, meinen Erlöser und meinen Heiligmacher. Diese
Gründe machen einen besonderen Eindruck auf mich. Ich liebe es auch, im Geiste
unter das Kreuz auf Golgotha zu knien. — 13. Ich denke mehr allgemein an
meine Sündhaftigkeit und erwecke so die Reue leichter, außer in dem einen oder
andern besonderen Fall. — 14. Ja, bei der Reue habe ich Gefühle der Unlust usw.,
wenn auch nicht immer alle zugleich, verursacht durch Betrachtung des eigenen
Sündenelendes und der Güte und Heiligkeit Gottes. Der Gedanke an das bevor-
stehende Beichten erregte manchmal Angst und Besorgnis um eine gute Anklage
und Reue. Früher hatte ich manchmal Neigung zum Weinen bei der Reue, aber
meist nur in besonderen Fällen und zur Zeit großer innerer Kämpfe. — 15. Aus die-
sen Beweggründen und Gefühlen entwickelt sich die Abwendung des Willens, die
dann im guten Vorsatz gipfelt. — 16. Nach der Reue bin ich gewöhnlich in ruhiger,
friedlicher und andächtiger Stimmung, insofern diese nicht gestört wird durch eine
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 85
gewisse Angst und Beklemmung vor der Beichte. Diese Stimmung dauert nach der
Beichte so lange, als ich mich in derinneren Sammlung erhalte und nicht durch Zer-
streuung und Arbeiten stören lasse. — 17. Durch die Reue fühle ich mich körper-
lich nicht angestrengt.
19. Ja, und je älter ich werde, um so öfter und anhaltender. — 20. Diese Reue-
und Bußgesinnung ist nicht allein die Folge der Gewissensregungen und des BuB-
sakramentes; sie wird auch durch die verschiedenen Uebungen des religiösen Lebens
gekräftigt und vertieft. Körperliche Unpäßlichkeit und seelische Niedergeschlagen-
heit fördern sie auch ein wenig. — 21, In dieser Stimmung der Bußfertigkeit erscheint
mir am stärksten die Erkenntnis meiner Sündhaftigkeit und die Wegwendung des
Willens von der Sünde. — 22. Sie wirkt sehr gut auf mein sonstiges religiöses Leben,
Ich finde, sie ist der fruchtbare Boden, aus dem der Seele reiche Gnaden und Tu-
genden sprießen, besonders Demut und kindliches Vertrauen auf Gottes verzeihende
Vatergüte. Indessen zieht sie noch mehr Gnade und Kraft aus dem Empfang des
Bußsakramentes selbst. — 23. Ich suche diese Stimmung noch zu vermehren.
Vp. 29.
1. Gewissensvorwürfe sind bei mir weniger abhängig von der Schwere des Fehl-
trittes als von der Verfassung, in welcher ich mich eben befinde. An Tagen und zu
Zeiten, da ich mehr gesammelt bin und ein ernsteres religiöses Leben führe, sind
Gewissensbisse auch nach kleinen Vergehen ärger als zu Zeiten, da ich ausgegossen
und zerstreut bin nach größeren. — 2. Einzelne besondere Fälle ausgenommen wird
mir nach einem Fehltritt in den allermeisten Fällen die Verwerflichkeit des Ge-
schehenen sofort klar und ich weiß, ohne darüber nachzudenken, in welchem Grade
es sundhaft war. — 3. Sobald mir ein Fehler bewußt wird, erschrecke ich unwill-
kürlich beim Gedanken: das war jetzt eine Sünde. Dem folgt Verstimmung, Miß-
vergnügen. Zu anderen Malen wiegt vor das Gefühl der Ohnmacht und Hilflosig-
keit dem Bösen gegenüber, Entmutigung und Traurigkeit über meine Wortbrüchig-
keit. — 4. Nach der Tat gäbe ich freilich alles darum, wenn ich sie ungeschehen
machen könnte. — 5. Rasch nacheinander wiederholte Fehltritte, besonders wenn
ich zuvor in guter Verfassung war, deprimieren mich so, daß mich nichts mehr freut,
nicht einmal meine Arbeit. In einer gewissen Verbitterung kann ich dann 1, 2, auch
3 Tage hinbringen, zu den ersten Fehlern gewöhnlich noch andere hinzufügend.
Nie komme ich von selbst wieder ins Geleise. Das von mir als besonders wirksam
erprobte Mittel, den Frieden wieder zu erlangen, besteht darin, in demütigster Hal-
tung Gott mein Elend eindringlich zu schildern, ihm alle Gründe zur Barmherzig-
keit vorzustellen. — 6. Ein einzelner Gewissensvorwurf hat keinen Einfluß auf mein
körperliches Befinden. Verfolgen mich aber Gewissensbisse tage- und wochen-
lang, so wurde ich schon öfter zu solchen Zeiten angesprochen wegen schlechten
Aussehens. Keine geistige Arbeit ermüdet so sehr, als der Kampf gegen diese trost-
lose Stimmung. Ich habe da viel mehr Bedürfnis nach Schlaf. Dieser überkommt
mich manchmal mit unwiderstehlicher Gewalt. — 7. Bei meinen gewöhnlichen Feh-
lern taucht die Erinnerung daran später nicht mehr auf, wenigstens nicht im ein-
zelnen, schon deswegen nicht, weil ich immerfort die gleichen Fehler begehe. Anders
ist es mit einigen Vorkommnissen in meinem früheren Leben. Diese sind mir sehr
oft gegenwärtig, doch mehr im allgemeinen, Die genaue Erinnerung an Einzelheiten
verblaßt immer mehr. Wenn auch die bewußten Tatsachen für mich lebensläng-
lich ein Gegenstand der Reue sein werden, so unterscheiden sich doch Gewissens-
vorwürfe über gebeichtete und, wie man hoffen kann, verziehene Sünden wesentlich
von Gewissensbissen über das eben vollbrachte Unrecht. Mit der schon erlangten
Verzeihung ist ihnen der bitterste Stachel genommen. Außerdem trifft auch dies-
bezüglich das Sprichwort zu: »Die Zeit heilt Wunden.e — 8. Den Fall, daß mir nach
einem Fehltritt, wenigstens nach einem ernsten, keine Gewissensvorwürfe kommen,
glaube ich nicht erlebt zu haben. Wenn nicht eher, so kommt die Ernüchterung am
‘
86 I. Abhandlungen.
Abend. Sonderbar aber ist, daß bestimmte Vorkommnisse, die mir zur Zeit, da
sie sich ereignen, ganz gleichgültig erscheinen, nach 6—8 Wochen oder nach noch
längerer Zeit plötzlich die Gestalt großer Sünden annehmen. Die Gewissensbisse
darüber sind dann wirklich qualvoll. Wie oft man mir auch schon gesagt, daß es
törichte Einbildung sei, so beruhigt es mich doch nicht, Ich habe da deutlich 2 Ge-
wissen, das eine sagt mir auch, daß an der ganzen Sache nichts ist, das andere stellt
mir unzweifelhafte Todsünden vor. Ich suche mich zunächst neutral zu verhalten
und im Gebet die rechte Erkenntnis zu erlangen. Aber je mehr ich bete, um so
sicherer stellt sich mir meine wirkliche Schuld dar. Ich finde keine Ruhe, als bis
gegen mein eigenes gesundes Urteil alles gebeichtet ist. — 9. Heftige Gewissensvor-
würfe können sich auch einstellen, ohne daß man an eine einzige bestimmte Sünde
denkt. Ein Todesfall, der Anblick einer Leiche, in der Stille der Nacht ein Blick
zum gestirnten Himmel, überhaupt Vorkommnisse, die mir plötzlich Gedanken an
die Ewigkeit nahe rücken, erschrecken mich mit der Furcht, verdammt zu werden,
indem mir meine Sündhaftigkeit schrecklich klar wird. In solchen Augenblicken
wird mir wirklich unheimlich, ich fürchte mich auch vor mir selber.
ro, Zur Erweckung der Reue benützte ich nie ein Gebetbuch. Das erscheint
mir als etwas Unnatürliches. — ıı. Bei Erweckung der Reue kommt es mir vor allem
darauf an, mich so zu disponieren, daß ich mir zu Gott zu sagen getraue: Um den
Preis meines Lebens möchte ich das und das nicht wieder tun, wenigstens nicht mit
Wissen und Willen. Ein besonderes Kennzeichen echter Reue habe ich mir nicht
festgestellt, da mir die Erweckung der Reue auch selten Schwierigkeiten bereitet.
Mehr als Besiegelung meines guten Willens erkläre ich mich dann zum Sündenbekennt-
nis bereit, das mir immer recht unangenehm ist. — ı2. Einen bestimmten Beweg-
grund zur Reue setze ich mir nicht fest, ehe ich die Vorbereitung zur Beichte beginne.
Doch wird mir die Erweckung der Reue erleichtert, wenn ich mich ab und zu an
eine kurz vorausgegangene geistliche Lesung oder Betrachtung erinnere, die mich
besonders angesprochen. Am meisten stimmt mich zur Reue der Gedanke, daß mir
Gott wegen der Sünden seine Liebe entzieht. — 13. Ich verbinde Gewissenserfor-
schung und Reue miteinander. Nach der Erforschung über einen einzelnen Punkt
erwecke ich sogleich Reue, ehe ich in der Gewissenserforschung weiter fahre. Ich
tue das, weil ich unbereute Sünden nicht beichten will und so übersehe ich nichts.
Auch hat jede Sünde ihr eigenes Gesicht und wenn ich im einzelnen überdenke, wie
leicht ich sie hätte vermeiden können, so stimmt mich das mehr zur Reue, als wenn
ich nur im allgemeinen an meine Sündhaftigkeit denke. — 14. Bei Erweckung der
Reue steht im Vordergrund das lebhafte Gefühl des Bedauerns über meine
Lieblosigkeit und meinen Undank gegen Gott, Furcht, es könne das Gnaden-
maß für mich bereits voll sein und Gott mich mir selbst überlassen, Beschämung
über meine so oft wiederholte Wortbrüchigkeit Gott gegenüber. Diese Gefühle
stellen sich bei der Gewissenserforschung von selbst ein. Am stärksten von diesen
Gefühlen ist, so glaube ich, der Wunsch: Wenn ich nur das und das nicht getan hätte
und Gott mir noch einmal wieder gut ware! Um diesen Preis — die Liebe Gottes
wieder zu erlangen — füge ich mich dann auch in die Pflicht des Beichtens, wovor
ich jedesmal Angst habe. Nach meinem Dafürhalten habe ich schon mehrmals
einen wirklichen Schmerz empfunden bei der Reue; geweint habe ich schon oft
vor der Beichte, aber nicht aus Schmerz über die Beleidigungen Gottes, die ich be-
gangen, sondern über mein Elend und meine Hilflosigkeit und weil doch gar nichts
an mir hilft. — 15. Reue und Vorsatz erscheinen mir eigentlich nicht als 2 verschiedene
Dinge, da man nicht zu Gott zurückkehren kann, ohne sich von der Sünde wegzu-
wenden. Ich mache aber doch den guten Vorsatz noch eigens, — 16. Das Gefühl
des Trostes und der Freude folgt der Reue. Diese sind bisweilen so lebhaft, daß
sie mir den Schlaf rauben. Diese Freude dauert so lange, bis ich wieder eine Un-
treue begangen habe, manchmal verliere ich sie auch erst nach wiederholten Fehlern.
Nicht immer folgt der Reue eine fühlbare Freude. — 17. Die Erweckung des
Reueaktes vor der Beichte strengt mich körperlich nicht an. — 18, Nein.
—— —
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 87
19. Allgemeine Stimmungen der Reue sind mir nichts seltenes. Aber sie sind
von zweifacher, sehr verschiedener Art. Die eine stimmt trübselig und wirkt nieder-
drückend, die andere stört den Frieden nicht, im Gegenteil, sie bringt Gott näher,
fördert Andacht und Eifer. — 20. Diese Bußgesinnung folgt manchmal dem Empfang
des Bußsakramentes , öfter aber ist sie gegeben mit der Andacht bei den geistlichen
Uebungen. — 21. Ob in dieser Stimmung der-Bußfertigkeit Schmerz und Bedauern
über die geschehenen Sünden oder die Abkehr des Willens vom Bösen stärker ist,
kann ich nicht bestimmt sagen. In dieser Verfassung aber meine ich jedesmal, so
ernst mit meinen Vorsätzen sei es mir noch nie gewesen als diesmal und ich werde
sicher mein Lebtag keine Sünde mehr begehen, ich könne das gar nicht mehr. —
22. Würde die friedliche Bußgesinnung anhalten, so wäre aus mir schon etwas anderes
geworden, als ich tatsächlich bin; denn zu solchen Zeiten bin ich eifrig und zu allem
bereit. Die andere, die trübselige, hat gerade entgegengesetzte Wirkungen. Sie
zerstört die Schaffensfreude und jedes Selbstvertrauen. — 23. Die mich fördernde BuB-
gesinnung suche ich freilich zu erhalten. Aber durch Unbedachtsamkeit und Leicht-
sinn verliere ich sie immer wieder. Wenn ich auch meinen Fehler sogleich bereue,
die vorige Verfassung kehrt nicht mehr zurück. Wenn mich die entmutigende Reue-
gesinnung überkommt, wähle ich geistliche Lesungen und Betrachtungen über die
Liebe und Barmherzigkeit Gottes, das Leiden des Heilandes oder sonst tröstliche
Wahrheiten der Religion. Ich tröste mich mit dem Gedanken: wenn noch niemand
zugrunde gegangen ist, der bei ihr Hilfe suchte, so werde ich nicht die erste und ein-
zige sein. In recht trostlosen Stunden singe ich auch zuweilen der himmlischen
Mutter alle Lieder vor, die ich weiß und nie ohne Erfolg. — 24. Nein.
Vp. 30.
1. Gewissensvorwürfe treten bei mir bei jedem Fehltritte auf; bei ernsteren,
besonders ganz freiwilligen Verfehlungen jedoch in stärkerem Grade. Die Gewissens-
bisse stellen sich sofort ein und nur in ganz seltenen Fällen drängten sie sich erst
später auf. Sie haften so stark in der Seele, daß es später kaum einer eigenen Er-
innerung bedarf, dieselben ins Bewußtsein wieder zurückzurufen. — 2. Bei den in
der Regel sofort nach mehr oder minder schweren Fehltritten auftauchenden Ge-
wissensvorwürfen erfolgt auch meistens ein klares Urteil über die Verwerflichkeit
der fehlerhaften Tat. Plötzliche Unruhe und Angst verspürte ich meist bei Unklar-
heit in Beurteilung des sittlichen Handelns und besonders bei Zwangsvorstellungen.
— 3. Für gewöhnlich treten bei den Gewissensvorwürfen bestimmte Gefühle auf,
deren Grad und Art sich nach der Beschaffenheit des Fehltrittes und nach den Um-
ständen richtet, unter denen sich derselbe vollzog; meistens sind es die Gefühle des
Schreckens und der Furcht vor den künftigen Strafen und dem Gerichte, mißbrauch-
ter Gottesgüte und Mißachtung übernatürlicher Gnadenschatze. Die meisten Fehl-
tritte sind von dem Gefühle der Unzufriedenheit gegen mich selbst begleitet. — 4. Bei
den meisten Fehltritten ist neben den Gefühlen der Beschämung und Furcht, na-
mentlich der Unzufriedenheit gegen mich selbst eine mehr oder minder starke Weg-
wendung des Willens von geschehener Tat bemerkbar und erfolgt ein guter Vor-
satz. Doch habe ich auch Fälle zu verzeichnen, bei denen trotz Unzufriedenheit
mit sich der Wille sofort nicht die moralische Kraft besaß, den Vorsatz zu fassen, eine
derartige Verfehlung nicht mehr zu begehen. — 5. Der Gewissensvorwurf kann unter
Umständen sich zur wirklichen Unruhe oder Niedergeschlagenheit gestalten. Die
Dauer der Stimmung ist sehr verschieden; sie hängt von der Art und dem Grade
des Fehltrittes ab. Manchmal tritt von selbst Ruhe ein; zuweilen erst nach einem
aufrichtigen Bekenntnisse und einer gründlichen Aussprache in der Beichte. —
6. Der Einfluß eines Gewissensvorwurfes auf das körperliche Befinden ist verschie-
den. Manchmal fühlte ich mich beklommen oder nervös erregt; meistens spüre ich
nichts. — 7. Die Erinnerung an den Fehltritt und den damit verbundenen Gewissens-
vorwurf taucht später öfters wieder kräftig auf; jedoch bei ernsteren Verfehlungen,
88 I. Abhandlungen.
an die sich besonders die Gefühle der Beschämung und der Unzufriedenheit mit mir
selbst knüpfen, in stärkerem Grade; doch sind die meisten Gewissensregungen nicht
mehr so stark wie nach der begangenen Tat. — 8. Ich habe schon mehrmals den Fall
erlebt, daß ich nicht sofort nach dem Fehltritte, sondern erst später Gewissensbisse
spürte, die ohne besondere Veranlassung von außen in der Seele aufstiegen. Manch-
mal zeigten sich diese Gewissensregungen bei geistlicher Lesung und in Exerzitien,
wenn die fehlerhafte Tat mir ins Gedächtnis kam. Mir schien ein derartiger Ge-
wissensvorwurf ebenso stark als jene Gewissensbisse, die ich unmittelbar nach einem
Fehltritt empfand. — 9. Außer den erfragten Angaben weiß ich nichts mehr über
Gewissensvorwürfe zu berichten.
10. Die Reue erwecke ich vor jeder Beichte frei. Wenn Zeit und Umstände es
erlauben, und das ist in den meisten Fällen, benütze ich außerdem noch ein Buch.
— II. Bei Erweckung der Reue kommt es mir hauptsächlich darauf an, welche Stel-
lung der Wille zur begangenen Tat einnimmt, wie ich auch meine Reue an meiner
Willensneigung zur Verfehlung und an meinem Vorsatze prüfe. Bin ich fest gewillt,
den Fehltritt um jeden Preis aus übernatürlichen Beweggründen zu meiden, so gebe
ich mich zufrieden, finde ich hierin meinen Willen auch nur einigermaßen schwan-
kend, so dünkt mir meine Reue sehr verdächtig zu sein und ich glaube mit Grund
die Unzulänglichkeit meiner Reue befürchten zu müssen. — 12. Ich setze mir jedes-
mal schon vorneherein einen bestimmten Beweggrund fest, aus dem ich meine Sün-
den bereue, weil ich mir davon einen besonderen seelischen Eindruck verspreche
und weil die nachfolgende Reue intensiver auf den Willen zu wirken scheint und
somit meine Vorsätze kräftiger und fester werden. — 13. Ich denke bei Erweckung
der Reue meistenteils an bestimmte, kräftiger im Gewissen auftauchende Fehltritte.
Bei Exerzitien- oder anderen Wiederholungsbeichten denke ich mehr im allgemeinen
an meine Sündhaftigkeit, obwohl ich auch da bestimmte Verfehlungen nicht außer
acht lasse, da mir die Erinnerung an größere Fehltritte, die sich bei mehr oder min-
der langem Nachdenken über meinen sündhaften Zustand von selbst im Bewußt-
sein in den Vordergrund drängen, leichter und sicherer zu einer guten Reue verhilft.
— 14. Bei der Erweckung der Reue stellen sich die Gefühle der Beschämung, der
Furcht und der Unzufriedenheit mit mir selbst ein, verursacht durch den Gedanken
an den Mißbrauch der vielen Gnaden und Bevorzugungen von Seite Gottes und
durch die Erinnerung an die vielen Untreuen in Erfüllung der beruflichen Pflichten,
wie auch an das Nichthalten schon so oft gemachter Vorsatze. Der Gedanke an das
bevorstehende Beichten erregt in mir besonders das Gefühl der Beschämung, immer
wieder der Hauptsache nach dieselben Fehltritte beklagen zu müssen und somit auch
Unzufriedenheit mit mir selbst. Am stärksten stellt sich das Gefühl der Angst und
Furcht ein, ob ich imstande bin, die zum würdigen Empfang der Beichte nötigen
Bedingungen zu erfüllen. Fühlbaren Schmerz glaube ich nur einmal in meinem
Leben beim Empfang der Beichte gehabt zu haben und zwar bei einer Volksmission
nach inständigem, langen Flehen um gute Reue; der Schmerz kam durch Weinen
zum Ausdruck. 15. Der Gewissensvorwurf haftet meist nach begangenem Fehltritt
so stark in der Seele, daß außer den angegebenen Gefühlen eine Abwendung des
Willens zum Bewußtsein kommt, bevor noch diese Willensabkehr im guten Vorsatz
ausgedrückt ist. — 16. Zur Beantwortung der Frage 16 glaube ich nicht die nötige
Klarheit zu besitzen. — 17. Durch die Erweckung der Reue fühle ich mich nicht
körperlich angestrengt. — 18. Bin nicht in der Lage, außer den erfragten Angaben
noch etwas über das Reueerlebnis auszusagen.
19. Abgesehen von Gewissensvorwürfen und Reue habe ich öfters eine allge-
meine Stimmung der Reue oder Bußgesinnung. — 20. Diese Bußgesinnung ist manch-
mal, wenn auch nicht ausschließlich, als die Folge von Gewissensregungen zu be-
trachten, wie auch als Wirkung des Bußsakramentes. Doch steht sie in vielen Fäl-
len mit Gewissensvorwürfen und Beichte in keiner Beziehung; sie wird hervorgerufen
durch Erwägen und Erkennen meiner Armseligkeit und durch die Wahrnehmung der
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 89
Tugenden anderer, die unter den gleichen Verhältnissen und mit denselben geistigen Mit-
teln im Tugendleben so gute Fortschritte machen. Manchmal scheint sie nur aus reli-
giöser Stimmung, aus besonderer Andacht und Empfänglichkeit für das Gute hervor-
zugehen, wie auch die Frucht einer Predigt oder geistlichen Lesung zu sein, die ich
in entsprechender Disposition anhörte. — 21. Ani deutlichsten und stärksten er-
scheint mir in dieser Stimmung der Bußfertigkeit die Erkenntnis meiner Sündhaf-
tigkeit und das Gefühl der Unzufriedenheit mit mir selbst. Manchmal schien die
Abwendung des Willens stärker zu sein als die genannten Gefühle. — 22. Da für
gewöhnlich diese Reuestimmung namentlich von dem Gefühl der Unzufriedenheit
mit mir selbst begleitet ist, so wirkt sie meistens fördernd auf mein religiöses Leben
ein. Sie scheint mir Anlaß und Sporn zu sein. Manchmal nur nehme ich wahr,
daß ich mich in diesem Zustande in acht nehmen muß, der Aengstlichkeit und Zwangs-
vorstellungen nicht nachzugeben. — 23.In den meisten Fällen suche ich diese Reue-
stimmung zu erhalten durch innere Sammlung und Gebet, wie auch durch Meidung
der freiwilligen läßlichen Sünde und geduldiges Ertragen der Mühen und Opfer des
Berufes. Fühle ich mich zur Aengstlichkeit disponiert, so suche ich jegliches Nach-
denken über seelische Angelegenheiten in dieser Verfassung zu meiden und meinen
Geist, je nach den Umständen durch fesselnde Lektüre, äußere Arbeiten davon ab-
zulenken. — 24. Nein! Ich bemerke an dieser Reuestimmung nichts, was nicht
schon in den vorhergehenden Fragen zum Ausdruck gekommen ware.
V. Die wichtigsten Ergebnisse.
Auf dem knappen Raum, der in dieser Zeitschrift zur Verfügung
gestellt werden konnte, ist eine eindringende, die Aussagen der Vpn
erschöpfend würdigende Bearbeitung naturgemäß ganz ausgeschlos-
sen. Mit Rücksicht darauf sollen tatsächlich auch nur die aller-
wichtigsten Ergebnisse dargeboten werden. Die Wertung der Wich-
tigkeit ist nun freilich zu einem großen Teile vom Interesse des
Verfassers abhängig; sie ist aber doch insoferne nicht ganz seinem
Ermessen anheimgegeben, als in den »Vorbemerkungen« zu dem
Fragebogen (Nr. ı) dem ganzen Verfahren gewisse Ziele gesteckt
sind, deren Erreichung bzw. Nichterreichung hier wenigstens ange-
deutet werden muß. Die ausführliche psychologische Verwertung
des gesamten Materials behalte ich mir — im Einverständnis mit
dem Herausgeber — für eine andere Gelegenheit vor.
Ich bemerke weiterhin, daß die skizzenhafte Hervorhebung be-
stimmter Gleichartigkeiten und Typen einerseits sowie die Auf-
zeigung gewisser individueller Eigenheiten anderseits zur Beurteilung
der gesamten persönlichen Verhaltungsweise einer Vp. bezüglich der
Reue auf keinen Fall hinreicht. Um eine solche zu ermöglichen,
müßte eine Reihe von differentiell-psychologischen Bedingungen, die
außerhalb der hier in Frage stehenden Punkte liegen, bekannt sein
und erörtert werden. Jedenfalls ist es zu einem tunlichst vollkom-
menen Verständnis des Reuevorganges in irgend einer der vorgeführ-
ten Vpn unerläßlich, sich immer und immer wieder in die Protokolle
90 I. Abhandlungen.
zu vertiefen. Von ihrer gewissenhaften, einfühlenden Lesung kann
und will daher die nachfolgende Zusammenstellung unter keinen Um-
ständen entbinden.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen oder falschen Deu-
tungen sei ausdrücklich betont, daß unter Reue im technischen
Sinne stets die vor der Beichte erweckte Reue — »Reue und Leid«
nennt sie das katholische Volk mit kräftig-schönem Wort — ver-
standen wird. Das ist für die folgende Darstellung »Reue« im eigent-
lichen, primären Sinne: Gewissensregung und Bußstimmung gelten
dann erst in sekundärer Weise als Reue.
Ich beschränke mich auf die Beantwortung der Fragen: I. Was
wollen die einzelnen Vpn mit der Reue erreichen? — 2. Welche
Gefühle werden von den Vpn als seelische Momente der Reue be-
kundet? — 3. Wie äußert sich der Wille bei der Reue? — 4. Wie
wird die Echtheit der Reue verbürgt ? — 5. Wodurch charakterisiert
sich hauptsächlich die Besonderheit der Reue gegenüber der Ge-
wissensregung und der BuBgesinnung ? — 6. Wie wirkt die Reue auf
das körperliche und auf das seelische Leben ?
I. Was wollen die einzelnen Vpn mit der Reue
erreichen?
Es handelt sich in der Antwort auf diese Frage nicht darum, ob
die Vpn die Reue als das notwendigste Stadium im sakramentalen
Rechtfertigungsprozesse erkannt und anerkannt haben; es ist für
alle Gefragten die selbstverständliche Voraussetzung, daß sie nur
nach echter, übernatürlichen Beweggründen entsprungener Reue die
Beichte würdig empfangen können. Bezeichnenderweise beschäftigen
sich die Aussagen der Vpn gar nicht mit dieser unbedingten Not-
wendigkeit ; sie gehen auf den inneren Zweck, auf den Sinn des Reue-
vorgangs selbst. In dem einen Fall (Vp. 1), wo nicht an die Reue
vor der Beichte gedacht ist, kommt der Wille zur Umkehr und zur
Besserung ohne Beziehung zum Bußsakrament vielleicht am schärf-
sten dadurch zum Ausdruck, daß hier von einer »rechten Reue«
nicht gesprochen werden will, weil manche Verfehlungen wegen ihrer
Bewurzelung in seelischen Anlagen nicht für »griindlich« besserungs-
fähig gehalten werden. Bei solcher Meinung muß natürlich das Be-
dauern durch »Ueberlegung und Vorsatz« übertönt werden.
Die anderen Vpn, welche die eigentliche Beichtreue im Auge
haben, stellen ihre Absicht auf verschiedene Zwecke ein.
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. QI
- Typisch für den Ernst der Reueabsicht ist etwa die
Aussage (19, 11 !)): »Es kommt mir hauptsächlich darauf an, daß
ich meine Sünden bereuen will.« Dabei spielt noch — ähnlich wie
bei Vp. 24, IT — die Angst und Sorge um die gute Reue herein,
also die Frage nach der Echtheit der Reue. Neben diesen mehr oder
weniger formalen Momenten finden sich ungleich häufigere Mit-
teilungen, die das Inhaltliche der Reue betreffen. Bündig und klar
sagt Vp. 6, 11, ihm wäre die Hauptsache, Leid (Bedauern):
zuempfinden über die Stinde und zumBewußt-
sein zu gelangen, daß der Wille sich von dem
sündhaften Objekte weggewendet habe. Diese
und ähnliche Bekundungen decken sich mit dem theologischen Be-
griff der Reue am vollkommensten. Alle beiden Momente sind frei-
lich nicht immer mit voller Klarheit herausgeschält. Manchmal tritt
überhaupt bloß das eine oder das andere hervor, ohne daß man
dabei behaupten könnte, daß das Schweigen über das eine ein Be-
weis für ausschließliches Vorhandensein des anderen sei. Mit solcher
Einschränkung müssen ja alle psychologischen Protokolle gedeutet
werden. Es ist der Fall, daß vornehmlich auf Gefühle oder
auf gefühlsbetonte Erkenntnis gezielt wird, z. B.
von Vp. 7, 11: »Mit mir selbst zufrieden bin ich nur dann, wenn die
Motive der Reue mit einer gewissen Lebendigkeit erkannt sind und
die Gefühle der Furcht usw. bis zu einem gewissen Grade betont
sind«; oder von Vp. 16, 11: »Ich will, daß mir meine Sünden von
ganzem Herzen leid tun, weil ich Gott, die große Liebe, beleidigt.«
Viel häufiger dagegen sind die Bekundungen darüber, daß es den
Vpn um die Abwendung des Willens zu tun sei; mag
nun direkt die Frage aufgeworfen werden, welche Stellung der Wille
zur begangenen Tat einnehme (Vp. 30, 11), oder mag ein Bedauern
über seine böse Handlung angestrebt werden (Vp. 22, 11: »Als Priif-
stein einer guten Reue gilt mir der Wunsch: ,O hatte ich das nicht
getan‘ und der damit verbundene ernste Vorsatz«), oder mag (was
verhältnismäßig am meisten zu finden ist) in dem Willen, fortan
nicht mehr zu sündigen, das Bezeichnende der Reue gesucht werden
(Vp. 18, 11; Vp. 23, 11: »Bei der Erweckung der Reue kommt es
mir darauf an, meinen Willen dem Guten zuzuwenden. Mein Vor-
satz gilt mir als Kennzeichen für meine Reue«; vgl. Vp. 8, 11; Vp.
28, II; Vp. 29, I1).
An Mitteilungen, die mehr die Motive als die Elemente des
Reueaktes hervorkehren, aber nichtsdestoweniger auch die letzteren
nn m m a aae
1) Die Zahl bedeutet; Vp. 19, Antwort II.
92 I. Abhandlungen.
beleuchten, seien folgende hierhergesetzt: »Es kommt mir besonders
darauf an einzugestehen: Pater peccavi coram Te und mir klar zu
machen: jam non sum dignus, vocari filius tuus; das erste möchte
ich abbitten, zurücknehmen, annullieren; das andere mir zu tiefst
in die Seele prägen« (Vp. 5, II); »Bei Erweckung der Reue kam es
mir hauptsächlich an auf die Betrachtung des Mysterium amoris
(Gott das liebenswürdigste Gut) und mysterium iniquitatis (die
Sünde das größte Uebel). Als besonderes Kennzeichen habe ich mir
ausgebildet, daß die entschiedene Wegwendung des Willens von der
Sünde rückwirkte auf den entschiedenen Vorsatz: diese Gesinnung
(der Reue) durch gesteigerte Liebe gegen Gott zu bekunden, be-
sonders durch diese Beicht in der Liebe Gottes zu wachsen« (Vp. II, II).
Vp. 26, rı will durch die Reue der sühnenden und heilenden Wirkung
des Erlösungstodes Jesu teilhaftig werden und ist mit ihrer Reue
zufrieden, wenn sie ein wirkliches Verlangen darnach erweckt oder
gar empfunden hat.
So verschieden die im vorstehenden ausgelesenen Motive und
Absichten der Beichtreue auch sein mögen, so stimmen sie doch darin
alle überein, die Abkehr von der Sünde zu bewirken. Ob
diese nun schon von vorncherein in einer bloß gefühlsmäßigen Un-
lust oder in entschiedener Wegwendung des Willens vom Bösen und
Hinwendung zum Guten erhofft wird, ist für das Urteil über die
Einstellung der Vpn im einzelnen von größtem Werte. Die Unter-
schiede in dieser Beziehung erschließen einen wichtigen Faktor im
religiös-sittlichen Innenleben, der in der »Bekehrungs«-Psychologie
nicht vernachlässigt werden darf.
2. Welche Gefühle werden von den Vpn als
seelischeMomenteder Reuebekundet?
Zum Gesamtvorgang der Beichtreue werden von den Vpn viel-
fach eine Reihe von Gefühlen gezählt, die entweder gar nicht oder
wenigstens nicht direkt zum Reueakt als solchem gehören; ich
habe dabei vornehmlich die nicht selten geäußerten Gefühle der Be-
klemmung und Angst u. ä. vor dem Sündenbekenntnis (der eigent-
lichen Beichte) im Sinne. Es liegt nahe, daß bei manchen Vpn,
besonders bei den ängstlichen unter ihnen, auch in den Fällen, wo
sie solche Gefühle als Elemente des R eu e aktes selber bezeichnen,
an eine Vorauswirkung — vielleicht ganz unbewußter Art — der
beschämenden Siindenmitteilung an den Priester gedacht werden
muß. Dadurch wird natürlich das Urteil des Psychologen über die
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 93
Beteiligung der Gefühle an der eigentlichen Reue stark erschwert, ja
eine sichere Ausscheidung der die Reue als solche mitbildenden Ge-
fühle von anderen die Form und Stärke ihrer seelischen Erscheinung
oft mitbedingenden emotionalen Faktoren kaum möglich. Mit diesem
Vorbehalte werden die folgenden Aufstellungen dargeboten. Dazu
sei gleich noch etwas betreffs der Terminologie hinzugefügt. Das
Wort »Gefühl« ist in psychologischer Sprache nicht identisch mit
»Affekt«. Die Vpn haben aber bei ihren Bekundungen gewiß nicht
an den — übrigens noch lange nicht geklärten — wissenschaftlichen
Bedeutungsunterschied gedacht; daher werden auch hier Gefühl
und Affekt nebeneinander und füreinander gesetzt.
Im allgemeinen ist zu sagen, daB mit einer einzigen
Ausnahmealle Vpn dasVorhandenseinirgend-
welcher Gefühle beim Reueakt feststellten. Das
Protokoll der männlichen Vp. 13, 14, welche erklärt, »keine bestimm-
ten Gefühle« zu haben, ist im übrigen so dürftig, daß es kaum gegen
die Annahme ins Gewicht fallen dürfte, welche irgendein Vorkommen
und Bewußtwerden von Gefühlen oder Affekten nahelegt. Ich
glaube, daß sich dieser Satz in seiner allgemeinsten Form von Männern
und Frauen behaupten läßt. Geschlechtsunterschiede offenbaren sich
sonst insoferne, als die weiblichen Mitteilungen darüber in der Regel
ausführlicher sind, was aber auch nicht ohne weiteres den Schluß.
zuläßt, die mitgeteilten Gefühle seien stets reicher und tiefer als bei
den Männern. Bloß das möchte ich als wahrscheinlich erachten,
daß die Männer rascher und energischer auf das Willensmoment hin-
streben als die Frauen, daß sie im großen und ganzen auch die Höher-
wertung des Willens bei der Reue mehr hervortreten lassen. So z. B.
Vp. 3, 11: »Früher kam es mir darauf an, die Gefühle zu erwärmen.
Wenn es mir dann, wie man so sagt, ums Herz warm wurde und eine
gewisse Bangigkeit sich zeigte, glaubte ich Reue zu haben. Jetzt
dränge ich jedes Gefühl absichtlich zurück zugunsten des Willens.«
Und die Beschreibung des Reueaktes selbst bei dieser Vp. (3, 14)
kann wenigstens als Willensemotionalität aufgefaßt werden, wenn
auch der Ausdruck »Gefühl« dafür gebraucht wird. Bei Vp. 9, 4—5
und 9, 14—15 ist nur von anfänglichen Gefühlen die Rede. Die
spätere »Ergriffenheit« ist indes sicherlich auch ein gefühlsmäßiger
Zustand; vgl. Vp. 8, 14. Auch bei männlichen Vpn findet sich der
betonte Hinweis auf deutliche Gefühle, etwa bei Vp. 7, 14, von der
das Vorherrschen der Unlust- und Verzagtheitsgefühle auf eine zur
Depression geneigte Gemütsanlage zurückgeführt wird.
Unter den von den Vpn aufgezählten Gefühlen und Affekten
ae
a
94 I. Abhandlungen,
sind (entsprechend dem Fragebogen) die häufigsten: Unlust,
Beschämung, Eke, Unzufriedenheit, Abscheu
vor der begangenen Sünde (zu den letzteren vier Ge-
fühlen vgl. etwa Vp. 5,14), Schrecken (vgl. Vp. 26, 14), Be-
dauern, Furcht (vgl. Vp. 29, 14; Vp. 30, 14). Die einzelnen
Gefühle werden da und dort als allgemeine, unbestimmte Seelen-
zustände geschildert (z. B. von Vp. 19, 14; vgl. Vp. 10, 14), manchmal
wird ihr Vorhandensein auf bestimmte Fälle eingeschränkt (z. B.
von Vp. 24, 14; vgl. Vp. 27, 14). Der erfragte Schmerz der
Seele ist bekundet worden von Vp. 4, 14 (»gelinder Schmerz«; vgl.
Vp. 4, 16), Vp. 6, 14 (»schmerzliches Bedauern« = tristitia animae),
Vp. 9, 14—15 (Schmerz der Seele sehr selten), Vp. II, 14 (bei einigen
Gelegenheiten), Vp. 16, 14 (»tiefen inneren Schmerz«), Vp. 22, 14
(nam vorwiegendsten ist bei der Reue das Gefühl des Schmerzes,
des Abscheues und der Unzufriedenheit«), Vp. 26, 14 (veigentlicher,
tief empfundener Schmerz« nicht fremd, aber auch nicht gewöhnlich),
Vp. 30, 14 (»fühlbaren Schmerz« nur einmal im Leben). Nun ist es
nicht leicht, zu ermitteln, was wohl in den verschiedenen Aussagen
unter »Schmerz« verstanden sei. Mir scheint in einigen Fällen, wo das
Weinen direkt als Ausdruck dieses Schmerzes bezeichnet wird —
beispielsweise bei Vp. 30, 14 — höchstgespannte seelische Tra u-
rigkeit vorzuliegen, die von körperlichem Unbehagen, vielleicht
von schmerzlichen Organempfindungen begleitet ist (vgl. Vp. 9,
14—15). In anderen Fällen dürfte »Schmerz« wohl einfach der kurze,
für.die betreffenden Vpn gerade als einziges Darstellungsmittel zu-
gängliche Ausdruck der Traurigkeit, Bitterkeit, Un-
zufriedenheit über die begangenen Sünden
sein. Dafür scheint mir das unbestimmte Wort von Vp. 20, I4 eine .
Art von Beleg zu sein: »Seelenschmerz ist die Reue ja immer.« Auch
die schon oben berührte Mitteilung von Vp. 6, 14 dürfte hierher
gehören: »Ob ich je eigentlich Schmerz empfunden habe? Wenn,
woran ich nicht zweifle, das schmerzliche Bedauern (die tristitia
animae) ‚Schmerz‘ genannt werden kann, ja.« Darnach lassen sıch
nun doch auch die wenigen Fälle, wo das Vorhandensein des »Schmer-
zes«, oder, wie es bezeichnenderweise gelegentlich heißt, des »eigent-
lichen Schmerzes« (vgl. Vp. 8, 14; Vp. Io, 14; Vp. 13, 14; Vp. 19, 14)
geleugnet wird, verstehen. Denn in den AeuBerungen der betreffenden
Versuchspersonen — mit Ausnahme des recht mangelhaften Proto-
kolls von Vp. 13, 14 — ist von den typischen Reuegefühlen (Ab-
scheu, Unzufriedenheit usw.) mit genügender Deutlichkeit die Rede.
Sie scheinen hinsichtlich der Stärke eben nicht den sonst als»Schmerz«
- er eg ee
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 95
erlebten hohen Grad erreicht zu haben. Ich möchte damit aber der
Meinung, welcher die Vpn Ausdruck geben wollten, keine Gewalt
antun; ich halte die angeführte Deutung nur für sehr wahrscheinlich.
Jedenfalls ist aus allen Protokollen, soweit sie überhaupt psycho-
| logisch verwertbar sind, die Tatsache abzuleiten, daß die Vpn
auf die in der Gewissenserforschung erkann-
ten Sünden oder wenigstens auf das durchdie
Gewissenserforschung geweckte Bewußtsein
der Sündhaftigkeit mitbedauerndenGefühlen
(oder Affekten) reagiert haben. Betone man nun
dabei die bloße Unlust oder den Abscheu oder die Beschämung oder
die Unzufriedenheit oder steigere man das Erleben zum »fühlbaren«
Schmerze, in allem steckt der Anfang zur Abwendung von den als
Fehler eingesehenen Geschehnissen. |
: 3. Wie äußert sich der Wille bei der Reue?
Die Frage ist psychologisch in gewissem Sinne am be-
langreichsten. Vom Standpunkte des nicht theologisch orientierten
Religionspsychologen aus könnte man leicht auf die Ansicht kom-
men, mit der eben angegebenen bedauernden Gefühlsreaktion sei
die eigentliche Reue vollständig abgeschlossen; was sich an weiteren
Akten, namentlich des (freien) Willens daranreihe, gehöre nicht mehr
zum phänomenologischen Wesen, sondern sei höchstens eine Festigung
des bereits in der Gefühlsregung Erlebten. Demgegenüber muß
daran erinnert werden, daß wir es bei unserer Umfrage mit religiösen
Persönlichkeiten zu tun hatten, denen die Notwendigkeit der Willens-
abwendung von der begangenen Sünde gemäß ihrer Glaubenslehre
nicht bloß bekannt war, sondern als das Wichtigste in der Vorbereitung
auf die Beichte galt. Daher kommt tatsächlich diese Schwierigkeit
für unsere Protokolle fast gar nicht in Betracht. Etwas anderes da-
gegen ist — zunächst vom psychologischen Standpunkte aus —
bemerkenswert, nämlich die Frage, ob die freie Wegwendung des
Willens von der begangenen Sünde durch die Reuegefühle bloß veran-
laßt und motiviert, eigentlich aber erst in einer selbständigen Willens-
stellungnahme zusammen mit dem Vorsatz, künftig nicht mehr zu
sündigen, ausgedrückt werde, oder ob zum Reueakt als solchem
schon die freie Wegwendung des Willens von der (geschehenen)
Sünde gehöre und der Wille, künftig nicht mehr zu sündigen, eigens
erst in einem neuen Willensakt (dem »guten Vorsatz«) auszusprechen
sei. Die katholische Theologie verlangt theoretisch zweifellos das
96 I. Abhandlungen.
letztere. Unsere Protokolle geben diese Normativanschauung nicht
immer wieder; manche Vpn kennen sich in der Zuteilung des ab-
lehnenden Willensaktes nicht genau aus. Praktisch, d. h. hinsichtlich
der würdigen Vorbereitung auf den wirksamen Empfang des Buß-
sakramentes verursacht dies keinerlei Eintrag, weil die freie Willens-
abwendung von der Sünde eben doch irgendwo vor der Lossprechung
gesetzt ist.
Sehen wir nun die einzelnen Mitteilungen der Vpn daraufhin
in rein psychologischer Betrachtung an.
An erster Stelle möge die Gruppe derer stehen, denen die Reue
als solche keine bloß gefühlsmäßige Unlust an der begangenen Sünde
bedeutet, sondern eine auf Grund der (Reue-)Gefühle
erfolgte freie Abwendung des Willens. So sagt
etwa Vp. 2, 15: »Die Wegwendung ist immer zugleich mit der Reue
verbunden«; oder um ein anderes Beispiel anzuführen, Vp. IQ, 15:
»Mit dem Gefühle der Beschämung verbindet sich bei mir stets eine
Abwendung des Willens von den begangenen Fehltritten.« Aehnliches
bekunden die Vpn 4, 15; 14, 15; 17, 15; 20, 15; 21, 15; 22,15; 30, 15.
Vp. 3, 11 erklärt, jetzt ausdrücklich die Gefühle zugunsten des Willens
zurückzudrängen; Vp. 9, 4—5 (und 9, 14—15) sagt: »Ich sehe es
darauf ab, mit der ganzen Sammlung meiner seelischen Energie,
mit aller nur möglichen Aufmerksamkeit mein Denken auf die ge-
schehene Tat zu richten, diese als Frevel gegen den Heiland am Kreuz
zu erkennen . . . und dann die begangene Sünde gleichsam von mir
zu stoßen. Darin finde ich erst den »Abscheu« vor der sündhaften
Tat.« Sehr wertvoll ist neben dieser klaren Mitteilung einer männ-
lichen Vp. auch die Bekundung der weiblichen Vp. 23, 15: »Ich
suche meinen Willen von den Fehltritten zuerst abzuwenden, bevor
ich den Vorsatz mache.«
Dagegen sprechen nun freilich eine Reihe von Zeugen, die bei
der Reue noch keine eigentliche Willensabwendung bemerken, son-
dern den Willen erst im Vorsatz tätig werden
lassen. Männliche und weibliche Vpn machen derartige Mit-
teilungen. So schreibt Vp. I0, 15 kurz: »Die Tätigkeit des Willens
kommt bei mir zum Ausdruck im Vorsatz«; ähnlich Vp. 12, 15: »Eine
entschiedene Abkehr des Willens erfolgt nicht schon beim Reueakt,
sondern muß erst in dem Vorsatze eigens ausgedrückt werden —
vielleicht ein Beweis für das zu starke Vorherrschen des Gefühles
bei der Reue.« Aehnliches ist von Vp. 15, 15; 18, 15; 24, 15; 25, 15;
27, 15 zu lesen. Dem Wortlaut solcher AeuBerungen nach ware also
die Reue bloß eine gefühlsmäßige Unlust an der begangenen Sünde,
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 97
nicht aber eine Willensabwendung von derselben. Streng theologisch
trifft dies natürlich nicht zu; einerseits ist der Begriff der Reue damit
nicht verwirklicht, weil dazu der willensmäßige Abscheu vor der
begangenen Sünde gehört; anderseits wird aber auch der Begriff des
Vorsatzes nicht genau genommen, weil er eigentlich nur den Willen,
zukünftig nicht mehr zu sündigen, in sich schließt. Daß nur weib-
liche Vpn. mit Vorliebe diese Grenzverwischung begehen, ist aus der
größeren Anzahl der weiblichen Zeugnisse in unserem Versuche wohl
noch nicht sicher bewiesen; es ließe sich psychologisch ja verstehen,
daß hier eben das gefühlsmäßige Erleben beim Reueakt stark, wohl
oft zu stark sich vordrängt. Ich möchte mich aber nicht begnügen,
zur Deutung bloß darauf hingewiesen zu haben; es spielen sicherlich
noch andere Umstände mit, die dabei berücksichtigt werden müssen,
wenn natürlich auch im einzelnen Falle das Maß ihrer Einwirkung
nicht aufzeigbar ist.
Vor allem ist es gerade bei diesem Punkte wichtig zu unterscheiden
zwischen dem was in der Seele wirklich vorhanden und dem, was
bemerkt und seiner Art nach richtig beurteilt worden ist. Daß eine
Reihe von Vpn (gerade des weiblichen Geschlechts) darüber nicht
völlig mit sich ins Reine kamen, ist schon aus den Protokollen er-
sichtlich, die manchmal eine Wegwendung des Willens bei der Reue
vermerken, manchmal nicht (vgl. etwa Vpn 24, 15; 25, I5; 26, 15);
dann besonders daraus, daß gesagt wird, eine deutliche Abwendung
des Willens sei selten festzustellen (vgl. Vp. 25, 15; die männliche
Vp. 8, 15 bemerkt sie erst bei intensiver Reue). Wenn von Vp. 28, 15
gar erklärt wird, aus den (Reue-)Beweggründen und Gefühlen »ent-
wickele« sich die Abwendung des Willens, die dann im guten Vor-
satze gipfle, so liegt dem offenbar irgendwie die — objektiv nicht
völlig haltbare — Ansicht zugrunde, daß Reue und Vorsatz in eins
zusammenfließen. Deutlich finde ich das geäußert von Vp. 5, 15:
»Bereuen und nicht wieder tun wollen ist ein und dasselbe« (vgl.
Vpn 3, 15; 16, 15; 29, 15. Männliche und weibliche Vpn sind an
dieser Unklarheit beteiligt!). Auch darin offenbart sich derselbe
Standpunkt, wenn es heißt, man mache den Vorsatz eigentlich nur
mehr der Form, der Genauigkeit, der Beruhigung halber (vgl. Vpn
2I, 15; 29, 15). Nun ist es freilich vollkommen richtig, daß man nicht
zu Gott zurückkehren kann ohne sich von der Sünde wegzuwenden
(Vp. 29, 15), daß also Vorsatz und (»echte«) Reue zusammengehören.
Der Meinung und Tendenz der »echten« Reue entspricht von selbst
nur ein guter Vorsatz, das liegt notwendig in ihrem Sinn. Aber darum
ist die Verwirklichung dieser beiden zusammengehörigen Akte doch
Archiv für Religionspsychologie 1J/IIl. 7
98 I, Abhandlungen.
nicht ohne weiteres ein einziges seelisches Erlebnis.
Auf einen Anlaß, der weiterhin dazu beigetragen haben mag, bei
einer Reihe von Vpn die Willenstätigkeit aus dem Erlebnis der Reue
auszuschließen, war wohl die Fragestellung zu Punkt 15. Sie brachte
die Gefahr der Suggestion mit sich, den Willen überhaupt erst im
Vorsatze zu erkennen, wenigstens für solche Vpn, welche die ver-
schiedene Bedeutung der beiden Fragen des Punktes 15 im Frage-
bogen nicht auseinanderzuhalten wußten. Hätte diese Gefahr vom
Versuchsleiter vermieden werden können (was ich nicht einzuräumen
vermag), dann wären eine Reihe von Vpn auch des weiblichen Ge-
schlechts vielleicht dazu gekommen, die »Gefühle« und »Af-
fekte« der Unlust, der Unzufriedenheit, des Abscheues usw. daraufhin
zu untersuchen, ob sie nicht doch schon an und für sich eine willens-
mäßige Stellungnahme enthielten. So wurden sie wahrscheinlich
durch die Korrespondenz der Ausdrücke: Gefühl—Reue und Wille—
Vorsatz dazu verleitet, das Gesamterleben so darzustellen, als ob
die Reue nicht bloß durch die merkbare Stärke der Gefühlsgrundlage
gegen den nüchternen, ohne Gefühle ablaufenden Vorsatz absteche,
sondern als ob bei der durch die zwei Fragen nahegelegten Zwei-
teilung des seelischen Erlebens alles Gefühlsmäßige in die Reue und
alles Willensmäßige in den Vorsatz verlegt worden sei. Daß trotzdem
der Wille bereits bei der Reue, namentlich in dem bekundeten »Ab-
scheu« de facto beteiligt war, wenn er auch nicht isoliert beobachtet
wurde, ist mir aus den obigen Erwägungen für eine Reihe von Vpn
nahezu sicher; ich will aber nicht verschweigen, daß mir bei anderen
(z. B. bei Vp. 12 und Vp. 18) der Einwand hiergegen berechtigt er-
scheint, daß da in der für die Reueerweckung maßgebenden Absicht
(Vp. 12, II und Vp. 18, 11) der entschlossene Vorsatz, inskünftig
die Sünde zu meiden, zum Kennzeichen der echten Reue gestempelt
wird. Ob aber in all diesen Fällen (besonders bei Vp. 18) eine genaue
Erlebnisbeschreibung vorliegt ?
Für die psychologische Auffassung der Reue bietet also das von
mir gesammelte Material im wichtigsten Punkte, in der Kernfrage
der Gefühls- und Willensbeteiligung, noch keinen sicheren und ein-
deutigen Weg.
4 Wie wird die Echtheit der Reue verbürgt?
Die Reue gipfelt als absichtlich angestellte Uebung jedenfalls
in der freiwilligen Abkehr von der begangenen Sünde. Die Zweifel
an der aufrichtigen Wegwendung von der Missetat sind daher bei
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 99
ernst denkenden Menschen angesichts des wiederholten Falles in die
nämlichen Sünden naheliegend; sie sind auch in mancherlei Gestalt
bei einer Anzahl unserer Vpn, die einen tieferen Blick in ihr seelisches
Leben gestattet haben, anzutreffen; am konkretesten wohl in der
Frage nach der Echtheit der Reue. Schon Vp. ı spricht von
»rechter Reue« und deutet ein Streben nach ihr an. Vpn 12 und 18
suchen die Kennzeichen echter Reue in einem
guten Vorsatz; Vp. 27, 18 berichtet von dem Fall eines bis
zur Beichte vergeblichen Bemühens um einen ausreichend kräftigen
Vorsatz; etwas Achnliches teilt Vp. 23, 4 bezüglich der Gewissens-
regung mit (vgl. auch Vp. 30, 4).
Das treffendste Beispiel für die Beurteilung der Echtheit der
Reue bieten die Angaben von Vp. 9 in den Antworten 4—5 und
14—15. Hier sind die Stadien der Reueentwicklung förmlich mit
Rücksicht auf dieses Problem abgestuft. Die Vorbereitung zum
ganzen Prozeß ist die Absicht, eine gute Reue und eine gute Beichte
zustandezubringen. Die Gewissenserforschung entfaltet die bce-
gangenen Sünden, aus denen die Vp. eine bestimmte einzelne Sünde
besonders heraushebt. Die Vorstellung derselben ist so lebendig,
als ob sie die Rückerinnerung an einen eben geschehenen Fehltritt
wäre, und die Beichtreue spielt sich daher in gleicher Weise ab wie
. der sog. Gewissensvorwurf. Zuerst herrschen die mehr passiven
Affekte der Unlust usw. vor, dann — und nun lassen wir die Vp. 9,
4—5 selbst sprechen — »bemühe ich mich, oft mit Aufwand aller
Kraft, meinen von der Leidenschaft halb .oder ganz gefangenen
Willen wegzuwenden. Es bedarf. oft einer großen Mühe, bis ich
glaube von der eben begangenen Sünde ganz losgekommen zu sein.
Ich sehe es darauf ab, mit der ganzen Sammlung meiner seelischen
Energie, mit aller nur möglichen Aufmerksamkeit mein Denken auf
die geschehene Tat zu richten, diese als Frevel gegen den Heiland
am Kreuze zuerkennen...... und dann die begangene Sünde gleich-
sam von mir zu stoßen. Darin finde ich erst den ‚Abscheu‘ vor der
sündhaften Tat. Oft erlebe ich es, daß zu Anfang dieser Bemühung
mein Abscheu mir noch nicht tief und ‚echt‘ genug erscheint. Erst
wenn ich nach und nach — auch ohne daß mir eigentliche Gefühle
deutlich ins Bewußtsein träten — ganz von dieser mühevollen Weg-
wendung meines Willens erfüllt und durchdrungen bin, daß sich
sogar starke Antriebe zu ‚abwendenden‘ Körperbewegungen ein-
stellen und unwillkürlich die laut oder leise (je nachdem ich allein
bin oder nicht) gesprochenen Worte von meinen Lippen kommen:
»Fort mit der Sünde!« (oder ähnliche Formulierungen), erst dann
7
100 I. Abhandlungen.
glaube ich, ‚echte‘ Reue zu haben; erst dann ergibt sich (deutlich
getrennt von der bisherigen Verabscheuung der vergangenen Sünde)
der gute Vorsatz, auch zukünftig diese und jede andere Sünde zu
meiden. Der gute Vorsatz bezieht sich ganz klar bloß auf die Zu-
kunft; freilich scheint auch er mir nur dann ‚echt‘ zu sein, wenn
ich eine vorgestellte, zukünftig mögliche Sünde ähnlich zu verab-
scheucn vermag wie die eben getane. Gefühle sind — mit Ausnahme
des Anfanges der gesamten Reueentwicklung — meines Erachtens
nicht oder nur kaum merklich beteiligt. Ich glaube ja für meine
Person, daß ich ohne diese einleitende Gefühlserregung die reuevolle
Willenswegwendung nicht fertig brächte, und manchmal will es mir
(bei späterem Nachdenken) in den Sinn, als ob ich keine rechte
Reue gehabt hätte, wenn ich nicht die anfänglichen Gefühle noch
lange nachklingen hörte. Doch werde ich über diesen Zweifel leicht
Herr, indem ich mich an die tiefe Ergriffenheit erinnere, in der ich
die oben geschilderte Willenswegwendung vollzog. Sie ist mir das
Kennzeichen einer echten Reue und dabei beruhige ich mich dann
wenigstens vorläufig; den endgültigen Frieden bringt mir stets erst
eine gute Beichte.« — Diese eingehende Beschreibung deutet sich
selbst. Der Fortschritt von der Passivität der Gefühle zur aktiven
Willenswegwendung ist anschaulich geschildert; der Höhepunkt der
ganzen Entwicklung, die tiefe Ergriffenheit von der
manchmal soviel Mühe kostenden Willensaufbietung ist zugleich
eine Art voninnerem Kriterium für die Echt-
heit der Reue und unterscheidet sich dadurch wesentlich von
der mehr äußerlichen Verbürgung der Reue-
Echtheit durch den guten Vorsatz.
5. Wodurch charakterisiertsich hauptsächlich
die Besonderheit der Reue gegenüber der Ge-
wissensregung und der Bußgesinnung?
Vielleicht ist die Beantwortung dieser Frage vom Standpunkt
der psychologischen Technik aus die schwierigste. Denn gerade hier
erscheinen die seelischen Differenzen der einzelnen Vpn am ausge-
prägtesten. Nicht selten erwartet man auf Grund des Bildes, das
man sich aus den besonders hervorstechenden Aussagen macht,
eine ganz andere Reaktion. Es werden wohl manche Berichte darüber
auch mangelhaft sein; aber abgesehen davon dürfte eben doch die
psychische Regung trotz des Gleichbleibens der Persönlichkeit durch
das plötzliche Auftreten des Gewissensvorwurfes anders bestimmt
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. IOI
werden wie etwa durch die absichtlich vorbereitete und erweckte
Reue.
Damit ist jedenfalls das deutlich genug berührt, was den ersten
und selbstverständlichsten Unterschied der Reue von dem Ge-
wissensvorwurf und der Bußgesinnung ausmacht: die Ent-
stehung. Der Gewissensvorwurf tritt zu allermeist
sofort nach dem Fehltritt auf, wohl stets als Reproduktion des an-
erzogenen und angewöhnten sittlichen Urteils über das Verhalten
zum Moralgesetz. Hier liegt also am häufigsten ein assoziativer
Zusammenhang zugrunde. Die Plötzlichkeit der Erscheinung
des Gewissensvorwurfes ließe von vorneherein darauf schließen, daß
auch die plötzlichen und rasch ablaufenden Af-
fekte dabei vorwalten würden. So berichtet etwa Vp. 30, 3 von
plötzlicher Unruhe und Angst, von Schrecken und Furcht. Doch
ereignet es sich — wenigstens nach der Bekundung der Vpn — öfter,
daß trotzdem ungefähr die gleichen Gefühle wie dann bei der Reue
bemerkt werden; also Beschämung, Unzufriedenheit u. ä. Dies
scheint mir namentlich dann der Fall zu sein, wenn sofort oder bald
nach dem Fehltritt die klare Erkenntnis seiner Verwerflichkeit auf-
taucht. Da gibt es dann vor allem Verstimmung, Entmutigung,
Trauer über die Wortbrüchigkeit und Untreue (z. B. Vp. 29, 3).
Und das alles ist viel mehr wie bei der Reue abhängig von der ger
samten seelischen Haltung und dem religiösen Geiste, der eben in
der Vp. herrscht. Vp. 29, I sagt etwa, bei ihr hingen die Gewissens-
vorwürfe weniger von der Schwere des Fehlers ab als von der Ver-
fassung, in der sie sich gerade befinde. Damit erkläre ich es mir,
wenn so oft die Unzufriedenheit, der Ekel, die Beschämung gerade
beim Gewissensvorwurf nicht zunächst und vornehmlich auf die
sündige Tat, sondern auf die Treulosigkeit der Person
gegenüber früheren guten Vorsätzen bezogen wird; so, um irgendeinen
beliebigen Beleg herauszugreifen, bei Vp. 15, 3. Nur bei ernsteren
Verfehlungen richtet sich der Abscheu auch gleich gegen das Ver-
gehen (so etwa bei Vp. 13, 3). Eine nicht geringe Rolle spielt bein
Gewissensvorwurf auch die bloße Aengstlichkeit (vgl. Vp.
8, 2). In der starken Betonung der egoistischen Motivie-
rung glaube ich einen der Hauptunterschiede gegenüber der mehr
von sachlichen Motiven beherrschten Reue sehen zu müssen.
Das legt sich auch deswegen nahe, weil die Reue eben mit ernster,
ruhiger Absicht vorbereitet und zu einem bestimmten Zwecke er-
weckt wird. So wird es wohl daher kommen, daß die Reue zur Aus-
lebung der natürlichen Individualität weniger Gelegenheit bietet
102 I, Abhandlungen,
als der Gewissensvorwurf, außer wenn die Gewohnheit des religiös-
sittlichen Lebens alle Akte, die auf ein Widerstreben gegen das Böse
zielen, einander angeglichen hat. Das dürfte in weitem Umfange
bei vielen unserer Vpn der Fall sein; vielleicht ist Vp. 9 dafür das
beste Beispiel. Bei ihr läuft auch die BuBgesinnung auf einen
förmlichen BereuungsprozeB hinaus (Vp. 9, 21). Sonst wird die
letztere vorwiegend durch den Charakter einer reuevollen Stimmung
bezeichnet, die, ob sie nun im Anschluß an den Gewissensvorwurf
oder an die Beichte oder an geistliche Uebungen auftritt, von dem
sonstigen seelischen und körperlichen Befinden außerordentlich be-
einflußt wird. Angegriffenheit (Vp. 16, 20), körper-
liche Unpäßlichkeit und seelische Niederge-
schlagenheit (Vp. 17, 20) sind oft Mitvoraussetzungen für die
BuBstimmung. Als auslösendes Moment wird neben Gewissens-
vorwurf und Beichte mit besonderer Vorliebe die Anhörung der
Predigt, geistliche Lesung, Anblick des Kreuzbildes, ergreifender
Gottesdienst u. dgl. genannt. Die Gesinnung der Bußfertigkeit ist
dann mit der Stimmung der Andacht (Vp. 25, 20) oder ähnlichen
Zuständen verbunden.
Darnach kann auch schon die Art dr Auswirkung und
ihre Verschiedenheit bei Reue einerseits und Gewissensvorwurf bzw.
Bußgesinnung anderseits einigermaßen beurteilt werden. Die beiden
Elemente des Reuephänomens, Bedauern über die begangene Sünde
und Abwendung von ihr, werden, soweit die vorliegenden Zeugnisse
darüber sich äußern, keineswegs überall im Gewissensvorwurf und
in der Bußgesinnung gefunden. Am ähnlichsten sind sich hierin noch
Gewissensvorwurf und Reue; Unlust, Beschämung usw. sind ihnen
vielfach gemeinsam, allerdings mit der Einschränkung, die schon
oben bezüglich der egoistischen und der sachlichen Motivierung an-
geführt wurde. Recht bezeichnend ist es, daß die Schwierigkeit der
Willenswegwendung gerade beim Gewissensvorwurf gelegentlich da-
mit begründet wird, daß der Wille förmlich gelähmt, noch im Banne
der bösen Leidenschaft sei (vgl. Vp. 24, 4). Die »Echtheit«der Willens-
abwendung steht damit ebenfalls in Frage. Hinsichtlich des V o r-
handenseins der Gefühle und der Willensab-
wendung in der Bußgesinnung sind die Aussagen der
Vpn sehr verschieden, sowohl innerhalb des Kreises der männlichen
wie der weiblichen. Nicht um etwa Typen zu veranschaulichen,
sondern lediglich zur Hervorhebung der schärfsten Gegensätze lasse
ich zwei Mitteilungen über die Bußstimmung folgen. Zuerst diejenige
der männlichen Vp. 6, 21: »In dieser Stimmung der Bußfertigkeit
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 103
erscheint mir am deutlichsten und stärksten die Erkenntnis meiner
Sündhaftigkeit und meines Unwertes. Die Gefühle der Unlust usw.
sind nie vorhanden, auch die Abwendung des Willens von der Sünde
tritt nicht eigentlich und deutlich hervor.« Dann die Aeußerung der
weiblichen Vp. 25, 2I: »Am deutlichsten erscheinen mir dabei die
Gefühle der Unlust, Unzufriedenheit, des Abscheues, der Beschä-
mung, sowie die Wegwendung des Willens; letztere ist eigentlich
ebenso stark wie die Gefühle; ist das erste Stadium oder die erste
Zeit nach der Erregung der Stimmung vorüber, dann tritt die Weg-
wendung des Willens (der Stärke nach) in den Vordergrund.« Zwi-
schen den zwei äußersten Polen, die in diesen Aussagen markiert
sind, gibt es eine reiche, individuell abgestufte Variation des (be-
kundeten) Vorkommens von Gefühls- und Willensäußerungen in der
Bußstimmung und der Betonung des einen oder des anderen. Davon
kann nur die Lesung der Protokolle einigermaßen ein Bild geben.
Eine Bemerkung sei hieran noch gefügt: Ueber das Vorhanden-
sein des Vorsatzes in Gewissensregung und
Bußstimmung gehen die Mitteilungen weit auseinander; der
Vorsatz findet sich und findet sich nicht. Von Vp. 7 wird der Vor-
satz nicht stets zur Gewissensregung gerechnet, wohl aber werden
innerhalb der Bußstimmung immer eigene Vorsätze, wenigstens all-
gemeiner Natur, gemacht (Vp. 7, 4; 7, 21).
Ein paar Worte des Vergleiches noch bezüglich der Folgen!
Bei der Beichtreue ist die erstrebte Folge der fruchtbare Empfang
des Bußsakramentes, die wirksame Absolution. Von den körperlichen
und seelischen Wirkungen der Reue soll unten noch eigens kurz die
Rede sein. Dem Gewissensvorwurf folgt in der Regel Unruhe
(auch von Herzklopfen begleitet) Niedergeschlagenheit;
sie wird beseitigt teils durch Reue, teils durch gute Vorsätze, teils
durch religiöse Gedanken (vgl. Vp. 11, 5) u. ä., auch durch Arbeit
(Vp. 18, 5), vornehmlich aber durch die Beichte (vgl. Vpn 8, 5; 17, 5).
Die Bußstimmung wird zumeist bestehen gelassen, bisweilen sogar
ausdrücklich zu erhalten gesucht, weil und soweit sie für den Fort-
schritt des religiösen Lebens günstig erscheint. Ich greife zum Be-
weise dafür drei Beispiele heraus: Vp. 17, 23: »Diese Stimmung be-
einflußt sehr stark mein sonstiges religiöses Leben, indem ich viel
inniger und herzlicher beten kann und den festen Willen habe, ein
gottgefälliges Leben zu führen und meinem Nebenmenschen Gutes
zu tun«; Vp. 6, 22—23: »Diese Bußgesinnung wirkt äußerst vorteil-
haft auf mein sonstiges, besonders mein religiöses Leben (Vertiefung,
Eifer). Deshalb suche ich sie... . . zu erhalten durch die Erinnerung
104 -I, Abhandlungen.
an die begangenen Sünden, Erwägung der Gerechtigkeit und Barm-
herzigkeit Gottes u. dgl.«; Vp. 25, 23: »Ich tue nichts Besonderes,
um diese Stimmung zu erhalten; um sie zu beseitigen erst recht
nicht; allerdings benutze ich öfters Gelegenheiten zu Opfern, um diese
Gesinnung zu nähren oder vielmehr zu betätigen.« In den Fällen,
wo die Bußstimmung der beunruhigenden Aengstlichkeit entspringt
oder zu Kleinmut führt, wird sie mit Recht als schädlich angesehen
und bekämpft; Lektüre, äußere Arbeit, Gebet und Beichte dienen
dann als Mittel zur Beruhigung (vgl. Vpn 15, 23; 18, 22; 20, 23;
30, 23).
Weitaus in den meisten Fällen bildet also die Bußstimmung,
mag sie noch so wenig zu fassen und auszudrücken sein, den frucht-
baren Boden, aus dem die Antriebe zur religiösen Erneuerung heraus-
wachsen; die Beichtreue ist dann wohl einer der kräftigsten Schöß-
linge.
6. Wie wirkt die Reue auf das körperliche und
= auf das seelische Leben?
Hier sollen nur typische Wirkungen hervorgekehrt werden; die
einzelne Reaktion als solche ist oft genug von sehr veränderlichen
physischen und psychischen Umständen der Vp. bedingt; darum
kann ihre differentiell-psychologische Bedeutung hic et nunc nur
durch Einfühlung in das gesamte Einzelprotokoll geahnt oder erkannt
werden. Dadurch wird in manchen Fällen wohl auch die Entschei-
dung darüber möglich, ob das, was in der Aussage als Wirkung der
Reue berichtet ist, unmittelbar oder nur mittelbar aus dem Reueakt
selbst hervorgeht.
a) Was zunächstdie mehrkörperlichenWirkungen
der Reue anlangt, so mache ich zwei scharfe Gegensätze unter
den Zeugnissen namhaft: die erfrischende und die er-
schöpfende Wirkung des Reueaktes. Vp. 3, 16 z. B. fühlt
sich nach der Reue »oder eigentlich nach der Beicht« sehr frisch und
arbeitsfähig; ihre Stimmung dauert an, bis wieder eine größere Ver-
fehlung vorkommt. Ich halte diese Aussage deswegen für besonders
beachtenswert, weil sie ehrlicherweise die Unklarheit der Vp. über
die ausschlaggebende Ursache der Erleichterung bekennt; die be-
ruhigende Wirkung der ausführlichen Sündenbeichte dürfte in dieser
Aussage und in ähnlichen Bekundungen, die doch dem Rückblick auf
eine bestimmte Beichtreue und damit auch auf eine sakramental
abgeschlossene Beichte entstammen, nicht außer acht gelassen
—— — [m
Wunderle, Zur Psychologie der Reue. 105
werden; so vielleicht noch besonders bei Vp. 28, 17 (vgl. dazu 18, 17)
und alle Aussagen, die von Friede und Glück erzählen. Vpn 6, 17
und 30, 17 schreiben einfach, sie fühlten sich durch die Reue »kör-
perlich nicht angestrengt«
Im Gegensatz dazu hören wir von Ermüdung (bei Vp.
5,17), von körperlicher Anstrengung (vgl. Vp. 8, 17),
von sehr großer Anstrengung (Vp. 16, 17), sogar von
tiefer Erschöpfung (Vp. 17, 17). Freilich wird dabei
schon mitunter der Zweifel laut, ob daran die Reue als solche schuld
sei; so etwa in ganz bezeichnender Form bei Vp. 16, 17: »Ich weiß
nicht, ist es die Anstrengung, die ich anwende, um die Reue richtig
zu erwecken, oder ist es die Reue selbst, mich strengt es sehr an«
“(ähnlich bei Vp. 5, 17). Dazu paßt unmittelbar der ganze Sinn der
Aussage von Vp. 9, wo ja von einem förmlichen Kraftaufwand zur
Erreichung einer »echten«, guten Reue die Rede ist. Die Bemühung
um die Entschiedenheit der Willensabwendung wird wohl am meisten
zur Ermüdung beitragen. Wird solche Anstrengung als gelungen
beurteilt, dann erfolgt eine wenigstens einstweilige Beruhigung (siehe
Vp. 9, 16—17; vgl. Vp. 12,17, wo Beklemmung und Auf-
atmen festgestellt wird).
b) Vonden mehr seelischen Wirkungen fallenauf:
Als unmittelbarer Nachklang wohl des Gefühls bei der Reue eine
Art von Gedrücktheit. Dafür ist Vp. 17, 16 ein treffendes
Beispiel; doch wird auch hier sofort mitgeteilt, daß sich allmählich
eine gehobene Stimmung einstelle, welche, je nachdem,
kürzere oder längere Zeit dauere. Gut vergleichen läßt sich mit dieser
Aussage die Bekundung von Vp. 23, 16: »Nach der Reue fühle ich
mich ernst gestimmt und gekräftigt.« In einer
Reihe von anderen Zeugnissen wird das Bewußtsein der Erleich-
terung hervorgekehrt; so fühlt sich etwa Vp. 16, 16 »befreit von
einem großen Druck«, obwohl sie sich nach der Reue immer noch
vorkommt »wie ein Kind, dem man sein Unrecht verziehen hat,
das aber noch ganz scheu und ängstlich ist«; Vp. 20, 16 meint: »Nach
einer intensiven Reue fühlt sich das Herz erleichtert.« Vp. 2, 16
berichtet von einem Gefühl der Ruhe, von einem Bewußtsein der
Aussöhnung mit Gott. Bei anderen Vpn. bringt die Reue — und
damit wohl der würdige Empfang des Bußsakramentes überhaupt —
noch tiefere Wirkungen hervor. Vp. 26, 16 sagt: »Nach einer ‚guten‘
Reue bin ich in einer schaffensfrohen Stimmung in bezug auf das
sittliche Streben. Es scheint mir nichts zuviel und nichts zu schwer
zu sein. Das dauert ein paar Tage.« Vp. 29, 16 berichtet von —
106 I. Abhandlungen.
bisweilen sehr lebhaften — Gefühlen des Trostes und der
Freude. Vp.6, 16 schreibt: »Die Stimmung (wenn auch nicht un-
mittelbar, so doch bald) nach der Reue möchte ich mit h o f f n u n g s-
voll und tröstlich bezeichnen. Sie ist andauernd, bis sie
übergeht in das Bewußtsein des sicher wiederer-
langten Gottesglückes.« Und Vp. 24, 16 bekennt: »Nach
Erweckung einer ernstlichen Reue, häufiger aber erst nach einer
guten Beicht bin ich in denkbar bester Stimmung, fast über-
strömend von Frieden und Glück. Doch dauert
diese Stimmung nicht allzulange. Bei Erneuerung der alten Schwierig-
keiten und Fehler kann auch ein plötzlicher Rückschlag eintreten.«
c) Es kann nicht davon abgesehen werden auf eine Wirkung
hinzuweisen, die man gewöhnlich für den bezeichnendsten Ausdruck
der von der Reue verursachten körperlichen und seelischen Ver-
fassung hält, de Tränen der Reue. Einer Reihe von Vpn
ist diese Begleiterscheinung oder Folge der Reue wohlbekannt; sie
wird aber nirgends mit irgendeiner Wichtigkeit ausgestattet, was ich
besonders von denjenigen weiblichen Vpn, die überhaupt davon
berichten, betonen möchte. Bei genauer Durcharbeitung der Aus-
sagen sind mir auch bezüglich dieses Punktes mancherlei Zweifel
darüber aufgestiegen, ob die betreffenden Vpn ihre Neigung zum
Weinen mit vollem Rechte bloß auf das reuevolle Bedauern über
die erkannten Sünden gründen oder ob nicht eine Anzahl von an-
deren nicht genannten und vielleicht gar nicht bewußten Bedingungen
— etwa psychophysischer Art — daran schuld sind. Ich wähle zur
Charakteristik der Aussagen drei Beispiele. Das eine von der männ-
lichen Vp. 4, 14: »Einen besonderen äußeren Ausdruck der Reue
(Neigung zum Weinen, Beklommenheit bei der Anklage) habe ich
ein paarmal bei außerordentlichen Gelegenheiten gefühlt«; die an-
deren von den weiblichen Vpn 19, I4 und 29, 14. Die erste erklärt:
»Neigung zum äußern Ausdruck der Reue, d. h. zum Weinen, bemerke
ich nur in Zeiten großer seelischer Depressionen«; die zweite
meint: »Geweint habe ich schon oft vor der Beicht, aber nicht aus
Schmerz über die Beleidigungen Gottes, die ich begangen, sondern
über mein Elend und meine Hilflosigkeit und weil doch gar nichts
an mir hilft.« — Schon diese ganz wenigen Andeutungen dürften
zum Beweise dafür genügen, daß die letzten Beweggründe der Reue-
tränen sowohl von den Vpn selbst wie erst recht vom Versuchs-
leiter nur schr schwer zu ermitteln sind. —
Ich beschließe meinen Durchblick durch die interessanten Pro-
tokolle. Vielleicht wird mancher Leser mit den »Ergebnissen« nicht
Wunderle, Zur Psychologie der Reue, 107
vollauf zufrieden sein. Ich möchte dann allerdings vermuten, daß
er von der Religionspsychologie etwas zuviel erhofft. Mir selbst
ist nicht selten beim Studium der Aussagen der Anreiz gekommen,
beherztere und zuversichtlichere Behauptungen aufzustellen. Doch
hat mich die wiederholte Vertiefung in die Einzelaussagen und in die
mir bekannten persönlichen Verhaltungsweisen der Vpn sowie die
Vergleichung ähnlicher Bekundungen in verschiedenen Protokollen
jedesmal davon zurückgehalten. Allzugroße Vorsicht in der Deu-
tung würde ich nicht als einen schlimmen Vorwurf gegen mein Ver-
fahren betrachten. Ich brauche ihn auch, wie ich glaube, nur von
jener Seite zu befürchten, der eine glatte Statistik als Höhepunkt
der psychologischen Forschung gilt. Ich finde in dieser Weise freilich
noch keine echte Psychologie; sie ist meines Erachtens Rechenkunst
angewendet auf psychische Daten.
Möge meine Reueuntersuchung einige Frucht für die Religions-
psychologie bringen!
— ee ‘Me
108 ©
+
Wesen und Ursprung der Magie.
Von
Carl Clemen in Bonn.
Als Max Müller im Jahre 1888 die erste Serie der Gifford-
Vorlesungen zu halten hatte, verwendete er nach einer Gedächtnis-
rede auf den Stifter dieser (zur Förderung des Studiums der na-
türlichen Theologie im weitesten Sinne des Wortes bestimmten)
Vorlesungen die nächsten drei Stunden auf eine Prüfung verschie-
dener nach der Meinung des Vortragenden unhaltbarer Definitionen
von Religion. Er hatte nicht alle berücksichtigt, die bis damals
aufgestellt worden waren, und erst recht könnte einer, der auch die
seither hinzugekommenen kritisieren wollte, noch viel länger damit
zubringen. In den letzten Jahren hat man sich nämlich, wenngleich
mehr, als in Deutschland, in England und Frankreich, besonders -
bemüht, die Religion gegen die Magie abzugrenzen, ist aber auch
dabei wieder vielfach nicht zu wirklich befriedigenden Resultaten
gelangt.
Wenn nämlich ı. die beiden französischen Soziologen, die bis-
her am eingehendsten das uns hier beschäftigende Problem unter-
sucht haben, Hubert und Mauß!), als magisch bezeichnen
tout rite qui ne fait pas partie dun culte organisé, so ist allerdings
bis auf den heutigen Tag vielfach das nicht offiziell Anerkannte,
und nur dies, als Magie angesehen worden. Wie auf theoretischem
Gebiet die Heterodoxie eben eigentlich nur die Andersgläubigkeit
ist, so versteht man auf praktischem unter Magie immer noch viel-
fach einfach das von dem offizielien Verl:alten Abweichende und
nur dieses. Aber Hubert und Mauß wissen natürlich selbst,
daß das keine wissenschattliche Definition von Magie ist?) ; sie wollen
1) Esquisse d'une theorie generale de la magie, L'année sociolog. VII, 1904, 19, vgl.
dieselben, Mélanges d’histoire des religions 1909, XVII,
2) Anders steht es mit dem Begriff des Aberglaubens; hier kann man in der
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 109
die ihrige daher so verstanden haben, daß sie die Meinung der-
jenigen wiedergibt, die selbst Magie treiben. Indes auch in diesem
Sinne ist die Definition nicht haltbar; denn diese Gebräuche sind,
wenngleich manchmal von anderen. als den Priestern, ausgeübt, doch
in vielen Religionen so gut wie andere Bräuche offiziell anerkannt
gewesen und finden sich in gewisser Weise in allen Religionen, auch
im Christentum. Manche Stämme, wie die Australier, betätigen sich
sogar nur !n dieser Weise; denn wenn Hubert und Mauß die
später noch genauer zu besprechenden Intichiuma-Zeremonien zur
Vermehrung der Totem-Tiere und -Pflanzen wegen ihrer impor-
tance, gravité und sainteté nicht als Magie anerkennen wollen, so
setzen sie sich ihrer Theorie zuliebe mit der sonst allgemein herr-
schenden Terminologie und Anschauung in Widerspruch.
Durch dieses Beispiel wird zugleich 2. eine andere Definition
widerlegt, die von manchen französischen Gelehrten (Beuchat
und Hollebecque?), Loisy?), Bouvier)’) mit der eben
erwähnten und einer später noch zu besprechenden, meiner Meinung
nach richtigen verbunden wird und die Magie als individuelle dans
son application et sa destination bezeichnet. Aber jene Intichiuma-
Zeremonien werden doch von den Männern des ganzen Clans und
in dessen Interesse vorgenommen, und dasselbe gilt von den Kriegs-
und Jagdtänzen sowie zahlreichen anderen Zaubern. Als individuell
in dem angegebenen Sinne läßt sich die Magie also nicht charakteri-
sieren; es gibt neben der von Einzelnen und mit Bezug auf Einzelne
getriebenen auch eine Magie, die man (besser als öffentlich) sozial
nennen könnte.
Man kann die Magie also auch nicht 3. mit einigen englischen
Gelehrten (Marett‘), Halliday5)) als antisozial in dem Sinne
Tat sagen (Baumgarten, Aberglaube, RGG. I, 1909, 93): »Was von einem
höheren Standpunkt aus so bezeichnet werden kann, darf nach dem korrekten Be-
griff nicht als Aberglaube angesprochen werden, solange die betreffende Religion,
deren Element es bildet, es als zu ihr gehörig anerkennt. «
1) Les religions 1910, III Í.
2) A propos d’histoire des religions 1911, 173 f.
3) Religion et magie, Recherches de science religieuse 1912, 416f, Vgl. auch D u rk-
heim, Les formes élémentatres de la vie veligieuse 1912, 60 ff. Ueber Jevons
vgl. nnten Anm, 5. \
4) The Threshold of Religion (1909), 102.
5) Greek Divination 1913, 19 f. (wobei aber die Berufung auf Hubert und
MauB auf einem Mißverständnis beruht). Ueber Söderblom und GreB-
mann vgl. unten S. 110 Anm. 3 und S. 111 Anm. 1 — Je vo ns, Comparative Religion
1913, 52 f., sagt zunächst (im Sinne der oben unter 2 erwähnten Definition): ,, The
coummnity’s worship of tts gods ts an institution which is quite distinct from theindividual”s
employment of magic, or of a magician, for his personal ends and private purposes¢ dann
110 ; I. Abhandlungen.
bezeichnen, daß sie den Einzelnen und so auch (bzw. oder) der Ge-
samtheit schadet. Gewiß gilt das von manchen zauberischen Bräu-
chen, aber doch keineswegs von allen. Zum Beweis dagegen kann,
was die den Einzelnen geltenden Zauber betrifft, auf die zahlreichen
Wunderkuren, was die der Gesamtheit geltenden angeht, nochmals
auf die schon mehrfach erwähnten Intichiuma-Zeremonien hinge-
wiesen werden.
So bleibt 4. nur diejenige Definition von Magie übrig, die zuerst
Frazer?) — und zwar in der zweiten, 1900 erschienenen Auflage
seines jetzt in dritter Auflage vorliegenden und da nicht weniger
als 12 Bände füllenden monumentalen Werks: The Golden Bough —
aufgestellt hat, damit zugleich diese ganze Diskussion über das
Verhältnis von Religion und Magie eröffnend. Danach besteht der
Unterschied zwischen beiden darin, daß man in der Religion die
höheren Mächte gewinnt oder versöhnt, in der Magie
zwingt. Ob diese persönlich oder unpersönlich vorgestellt wer-
den, macht hier keinen Unterschied, wohl aber ist die Stellung, die
man ihnen gegenüber einnimmt, eine im Prinzip durchaus verschie-
dene. So kommen auch jene vorhin schon genannten französischen
Gelehrten (Beuchat und Hollebecque, Loisy, Bou-
vier) schließlich auf diese Unterscheidung hinaus; bei uns (d. h.
in deutscher Sprache) vertreten sie Nilsson), Söderblom?),
weiter: »(Magic) is liable to be employed for purposes in aid of which the assistance of
the community’s gods cannot be prayed, for the very good reason that those purposes
are anti-social and are felt by the community to be injurious to ite, schließlich aber:
alt ts true that not all magic is »black magice of this kind. The personal desires and
private purposes, for the fulfilment of which magic may be set to work, are not, or are
not obviously, all anti-social or injurious. Love philtres are common or universal in
occurence and are not conceived where practised to be condemnablee — was wieder ein
anderer Gesichtspunkt ist.
1) The Golden Bough I, 1911, 1, 224 f. Wenn sich derselbe ebenda 224, 2 als auf
seine Vorgänger auf Lubbock, Oldenberg, Lyall und Jevons beruft,
so finde ich den Gedanken, um den es sich hier zunächst handelt, nur bei Lyall,
Asiatic Studies 1882, 77 klar ausgesprochen. Ueber Oldenbergvgl. unten S, 111
Anm. 2. Ebenso wie Frazer neuestens Farnell, Magic and Religion in Early
Hellenic Society, AR. 1914, IQ.
2) Primitive Religion 1911, 10. 38. 84 f.
3) Tieles Kompendium der Religionsgeschichte * 1912, 48. Wenn S. vor-
her sagt: »Der von Haus aus vorhandene und durch die ganze Geschichte der Re-
ligion laufende schroffste Gegensatz der Frömmigkeit, der durch die Worte schwarze
Magie, Zauberei oder Magie ausgedrückt wird, äußert sich demgemäß in der
primitiven Menschheit als ein Gegensatz zwischen sozialer und antisozialer Benutzung
des Uebernatürlichen oder der Uebernatürlichen« — so hat er, mag nun schwarze
Magie oder Zauber von Magie unterschieden oder hier von anderer, als antisozialer
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. LII
Greßmann!) und Beth). Ich führe den vorletzten zum Schluß noch
wörtlich an: »Die Träger der Religion sind die Priester, die zwar auf
ihre Götter einzuwirken suchen, aber sich doch ihrem Willen unter-
werfen; die Träger der Zauberei dagegen sind die Zauberer, die den
Naturvorgang beherrschen und die Geister, Dämonen, Fetische in
ihren Dienst zwingen. «
Und doch: Religion und Zauberei sind eigentlich gar keine
Gegensätze; oder wenigstens: sie sind es nur dann, wenn man unter
Religion eine Auffassung der Gottheit versteht, bei der jede Ein-
wirkung auf sie ausgeschlossen ist; aber das ist ja eben bei den hier
genannten Gelehrten nicht der Fall. Rechnet man, wie es hier ge-
schieht, Opfer und Gebet zur Religion, dann kann man auch die
Magie, die sich so oft mit jenen verbindet, mindestens nicht schlecht-
weg von ihr trennen; daß man beide immer wieder einander gegen-
überstellt, beweist vielmehr nur, wie zäh eine einmal gewählte, wenn
auch irrige Fragestellung festgehalten wird. Soweit ich sehe, stellt
nur Lehmann’), der im übrigen die zuletzt erwähnte Begriffs-
bestimmung der Magie vertritt, ihr nicht die Religion, sondern den
Kultus gegenüber — das sind in der Tat die zwei Gruppen, in die
sich, wenigstens in der Hauptsache, das gesamte religiöse Verhalten
zerlegen läßt. |
Aber sehen wir nun jetzt von diesen anderen Verhaltungsweisen
ab und lassen wir auch die eben schon leise angerührte Frage, ob
es eine Magie, die keine Religion ist, gibt, zunächst beiseite, so müssen
wir, wollen wir das Wesen der Magie noch deutlicher erkennen und
dann später auch ihren Ursprung verstehen, ‘vor allem feststellen,
was für Gebräuche zu ihr gehören. Einige sind ja schon genannt
worden; von zahlreichen anderen versteht sich das so von selbst,
daß sie hier nicht erst angeführt zu werden brauchen; dagegen ist
Magie, abgesehen werden, jedenfalls nur die eine Seite der Magie im Auge — ebenso
wenn er S. 50 Religion und Magie unterscheidet als »Bund mit guten Mächten gegen
Verbindung mit bösen Mächten, d. h. gegen Hexerei in eigentlichem Sinne«.
1) Mantik, Magie, Astrologie, RGG. Iv, 1913, 127. Wenn es vorher heißt: »Die
Religion hat es mit göttlichen Wesen zu tun, die man fürchtet und liebt, die Zauberei
dagegen mit damonischen Géwalten, vor denen man ausschließlich Angst empfindet«
— so ist dasletztere nur insofern richtig, als es geheimnisvolle rätselhafte Gewalten
sind. In diesem Sinne kann man vielleicht auch noch Mit Baumgarten a. a.
O. 92 sagen: »Der legitimen öffentlichen Religion gegenüber erscheint der Aber-
glaube als illegitim, sich an geheime, unheimliche, schändliche Mächte wendend.«
2) Religion und Magie bei den Naturvölkern 1914, 208, ,
3) Erscheinungswelt der Religion, RGG. II, 1910, 498 ff. Oldenberg, Die
Religion des Veda 1894, 476 ff., stellt ebenfalls die Zauberei dem Opferkultus gegen-
über,
112 I. Abhandlungen.
von einer Gruppe von Gebräuchen bezweifelt worden und von einer
anderen in der Tat zu bestreiten, daß sie zur Magie gehört.
= I. Nachdem schon T ylor!) sowohl Speisegebote als -verbote
als magisch bezeichnet hatte, hat Frazer zuerst in der zweiten
Auflage seines Golden Bough das Tabu (die Anschauung, daß man
gewisse Dinge nicht essen, berühren, sehen dürfe) als negative, und
umgekehrt den Glauben, sich durch den Genuß oder die Berührung
von Dingen deren Kräfte aneignen zu können, als positive Magie
bezeichnet. Marett hat jene Bezeichnung des Tabu deshalb
bestritten, weil Frazer alle Magie in einer bestimmten, später zu
erörternden Weise erklärt hatte und weil diese Erklärung nicht auf
alle Tabu-Vorschriften anwendbar sei, und Frazer hat darauf-
hin in der dritten Auflage seines Werkes seine früheren Aufstellungen
modifiziert. Aber wenn Magie ganz im allgemeinen so, wie oben,
zu definieren ist, nämlich als ein auf höhere Mächte ausgeübter
Zwang, so gehören zu ihr auch zweifellos alle jene Gebräuche, durch
die man sich fremde Kräfte (nützliche oder schädliche) aneignen
oder nicht aneignen, bzw. seine eigenen sich erhalten zu können
glaubt. Denn in allen diesen Fällen wird angenommen, daß die be-
treffende Wirkung mit Sicherheit eintritt, bzw. (wenn man die
fragliche Handlung unterläßt) nicht eintritt; ja wenn die erwartete
Wirkung Krankheit oder Tod ist, dann ist der Glaube daran oder
die Fähigkeit, sich etwas zu suggerieren, wenigstens bei Primitiven
so groß, daß jene Wirkung in der Tat eintritt — selbst wenn einem
die betreffende Handlung vielleicht erst nach Jahren als Ueber-
tretung des Tabu-Gebots zum Bewußtsein kommt. Ein junger
Kongoneger hatte bei einem Freunde eine wilde Henne gegessen,
weil sie ihm auf seine Frage als eine zahme bezeichnet worden war.
Als er ihn nach vier Jahren wiedersah und nun eine wilde Henne,
die ihm als solche angeboten wurde, refüsierte, lachte ihn sein Freund
aus: er hätte das verbotene Tier doch vor vier Jahren ohne Schaden
gegessen. Sofort fing der junge Mann am ganzen Leibe zu zittern
an, mußte sich legen und war in weniger als 24 Stunden tot. Und
solche Todesfälle infolge von Autosuggestion nach Uebertretung
irgend eines Tabu-Gebots sind auch sonst vielfach absolut sicher
bezeugt?), ebenso Heilungen auf Grund von Wunderkuren. Man
1) Researches into the Early History of Mankind 1865. * 1878, 129 ff. Wenn
Thomas (Man 1906 Nr. 37) und Frazer (ebd., sowie Golden Bough *® I, 1, III, 2),
diese Anschauung auch schon bei Hubert und Mau B finden, so vertreten diese
sie in Wahrheit nur zum Teil; vgl. auch Maretta. a. O. 87 f.
2) Vgl. Frazer a.a. O. ®II, 1911, 134 ff. 145. 165; Haddon, Magic and
Fetishtsm 1906, 47 f. 49f. 53ff.; Maretta. a. O. 111.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 113
erwartet also in allen diesen Fällen die betreffende günstige oder
ungünstige Wirkung mit absoluter Sicherheit, d. h. es handelt
sich dabei um Magie.
2. Die Mantik ist von Tylor ab vielfach zur Magie gerechnet
worden und läßt sich in der Tat — was freilich noch nicht dasselbe
ist — mit ihr vergleichen. Der Wahrsager bestimmt die Zu-
kunft, vielleicht so, daß er sie an eine Bedingung bindet: Kooicos
"Aw dtaBasg ueydinv doxnv xatadvoer — aber für diesen Fall doch
mit Sicherheit. Mehr noch erinnert der Glaube an Vorzeichen
an die Magie; denn zum Teil wenigstens beruht er auf dem Grund-
satz: similia similibus evocantur, aus dem man — ich komme darauf
später noch zurück — einen Teil der zauberischen Praktiken erklärt.
Und endlich und vor allem kann man es nach antiker Anschauung er-
zwingen, daß sich die AeuBerung eines Andern in einem andern, einem
selbst günstigen Sinne erfüllt, dadurch nämlich, daß man das Vorzei-
chen ausdrücklich akzeptiert. So erzählt z. B. Herodot (VIII, x114 f.),
als die Griechen von Xerxes für die Ermordnung des Leonidas Sühne
verlangten, hätte dieser schließlich, auf den neben ihm stehenden
Mardonios zeigend, gesagt: Ttoiyap opı Mapöorıos dde dixag Öwaeı
totavtas, olas éxeivoist noene. Der spartanische Herold akzep-
tierte das als ein Vorzeichen, und von da ab war das Geschick
des Mardonios besiegelt. Aber selbst hier, wo allerdings, wie in der
Magie, der Mensch die höheren Mächte in seinen Dienst zwingt,
handelt es sich doch zunächst um etwas anderes. Die Gottheit
schickt ein Vorzeichen oder kündigt direkt die Zukunft an, und
wenn diese danach auch kommen muß, so bleibt doch der ange-
gebene Unterschied zwischen Mantik und Magie.
Aber auch so ist das Gebiet der letzteren außerordentlich groß;
es besteht also, wenn wir nun ihren Ursprung untersuchen wollen,
die Gefahr, daß von ihr eine Erklärung gegeben wird, die nur auf
gewisse magische Erscheinungen zutrifft. Ich prüfe die ver-
schiedenen in dieser Beziehung aufgestellten Theorien in der Reihen-
folge, daß ich erst zwei Theorien bespreche, die nur Einzelnen ein-
geleuchtet haben, und ihnen dann diejenige folgen lasse, die na-
mentlich in England als die herrschende bezeichnet werden kann
und auch von den meisten, die sie kritisiert haben, nur modifiziert
worden ist.
I. Marett findet eine rudimentäre Magie schon beim Tier:
ein wütender Stier stürzt sich auf den abgelegten Rock des Stier-
kämpfers und durchbohrt ihn mit seinen Hörnern, und ebenso bei
dem Verliebten, der gestern den Handschuh der Geliebten küßte
Archiv für Religonspsychologie I/ILI. 8
114 I. Abhandlungen.
und heute ihr Bild ins Feuer wirft. Die entwickelte Magie entstehe
daraus dadurch, daß der Mensch fühle, ein solcher Wutausbruch
tue ihm gut, und daß er deshalb seinen Feind auch sonst bedrohe.
Das falle aber wieder diesem derart auf die Nerven, daß er, wie wir
das ja in der Tat schon vorhin kennen lernten, manchmal krank
werde oder sterbe. Das stärke dann bei dem Betreffenden selbst
und bei anderen den Glauben an seine Zaubermacht, und wenn er
einmal in einem solchen Falle Erfolg gehabt zu haben scheine,
dann traue man ihm und traue er sich selbst auch einen Einfluß
aufs Wetter u. dgl. zu. Wie die unpersönliche Magie, wenn ich so
sagen darf, namentlich die Speisegebote und -verbote, bei denen
kein menschlicher Wille mitspielt, entstanden seien, das wird freilich
nicht erklärt, ebensowenig, wie die verschiedenen Wetterzauber
im einzelnen zustande gekommen seien, und vor allem: auch den
Bedrohungs-, Verfluchungs-, Behexungszauber, den Marett allein
genauer untersucht, hat er doch nicht verständlich gemacht. Viel-
mehr setzt er, namentlich wenn er davon spricht, daß die Bedrohung
dem andern derart auf die Nerven fällt, daß er ev. daran stirbt,
dasjenige, was er erklären soll, schon voraus !). Es ist also wohl
nicht zu verwundern, daB seine Theorie, soweit ich sehe, bei nie-
mand anders Anklang gefunden hat.
Dagegen ist 2. diejenige Erklärung der Magie, die Wundt
in seiner großen Völkerpsychologie vorträgt und in der zweiten
Auflage noch deutlicher als in der ersten herausgearbeitet hat —
in den Elementen der Völkerpsychologie geht er nur wenig auf die
Sache ein —, auch von dem Engländer Jevons?) angenommen
worden. Beide finden den Ursprung der Magie in unerklärlichen
Krankheits- und Todesfällen. »Daß der Pfeil des Feindes«, so sagt
Wundt?), »Schmerz bereitet oder daß die mühselige Wanderung
auf schwierigen Pfaden hinfällig macht, das gehört vielleicht nicht
zum alltäglichen Wechsel des Lebens, aber es gehört ebensogut
wie dieser zu den Ereignissen, die ohne Nachdenken hingenommen
1) Vgl. Wundt, Völkerpsychologie ? IV, 1910, 278: »Gewiß ist mit Recht
darauf hingewiesen worden, daß die Suggestion bei der Verbreitung solcher Vor-
stellungen eine große Rolle spiele. Sie kann besonders in dem Sinne zu der Befesti-
gung jeder Art von Zauberglauben beitragen, als die feste Ueberzeugung, verzaubert
zu sein, schließlich krank machen und den Widerstand gegen eine Gefahr lähmen,
auf diese Weise also die Wirkung tatsächlich hervorbringen kann, die der Zauber
beabsichtigt. Immerhin sind das nur Momente, die den Zauberglauben, wenn er
einmal da ist, befestigen, die ihn aber nimmermehr hervorbringen können. «
2) Magic 1909, 7 ff., Comparative Religion 49 ff.
3) Völkerpsychologie ? IV, 265.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. IIS
werden, weil sie nie anders gewesen sind und nie anders sein können.
Doch, wenn der nämliche Schmerz den Menschen überfällt, den
keine Verletzung getroffen, und wenn die Erschöpfung den übermannt,
der seine Kräfte geschont und sich soeben noch ihres Gebrauchs er-
freut hat, dann fehlt das gewohnte Band der Vorstellungen, und die
Lücke, die so entsteht, wird nun ergänzt durch freie Assoziationen,
die der verwandte Gefühlston wachruft. Der Schmerz der Krankheit,
auch wenn er von keiner Waffe eines verfolgenden Feindes herrührt,
verbindet sich mit der Vorstellung des feindlich Gesinnten, der
ihn hätte senden können; das Gefühl der Schwäche, das der Fieber-
anfall hervorruft, verbindet sich mit den hemmenden Angstgefühlen,
die die Drangsal des Unterliegenden oder die wohl auch in Träumen
das Erscheinen jüngst Verstorbener begleiten.« Daß der Mensch
überhaupt besondere Krankheits- und Todesfälle auf eine Seele
zurückführt, erklärt Wundt daraus, daß er, wie im Grunde
schon Berkeley richtig gesehen habe, nur in dem eigenen Willen
eine wirkende Ursache kennen lerne. Auch der Gegenzauber, der
den Zauber unschädlich machen solle, sei deshalb von Haus aus
Handlung »der Seele oder vielmehr irgend einer der Seelen, die
sich der Naturmensch im Körper oder außerhalb des Körpers, dem
sie zugehört, vorstellt«*). Erst später — wohl als der Zauberglaube
auch auf andere Dinge als Krankheit und Tod ausgedehnt wurde
(denn das nimmt W u ndt ebenso wie Marett an)?2) — sei aus
jenem direkten der indirekte Zauber entstanden, in dem die Seelen-
vorstellungen immer mehr zurücktraten. Bei dem symbolischen
- Zauber, wie der Durchbohrung eines Bildes, das den zu schädigenden
Feind darstellen soll, wirken sie nach Wundt noch insofern nach,
als in dem Bilde die Seele des Betreffenden oder eine Doppelgängerin
dieser verborgen gedacht wird; dagegen bei dem magischen Zauber
sind sie ganz verschwunden. Speziell die Zauberspeisen und Zauber-
tränke sind dadurch entstanden, daß man, statt dem Zaubermittel,
um ihm eine bestimmte Beziehung auf die Person, auf die man es
abgesehen hat, zu geben, Bestandteile vom Körper des zu Behexen-
den beizufügen, diesem das Zaubermittel selbst zuführt. — Man
wird, wie an dem ganzen Riesenwerke Wundts, so auch an
dieser Ausführung die außerordentliche Geisteskraft bewundern, mit
ı) Ebd. 269.
2) Wenn sich Jevons für seine Annahme, als Zauberer sei besonders ein
Mann mit dem bösen Blick angesehen worden, auf Wundt beruft (The Definition
of Magic [1908] 8), so ist das ein Mißverständnis; eher hätte er Hubert und
MauB, L'année sociol. VII, 22 anführen können,
g+
116 I. Abhandlungen.
der er eine Fülle von Erscheinungen unter große Gesichtspunkte
bringt und so verständlich zu machen sucht; man wird gegenüber
Marett noch besonders rühmend hervorheben, daß er die ver-
schiedensten Formen der Magie berücksichtigt, und ihm endlich
daraus, daß er zahlreiche Zauberhandlungen nach seiner Methode
nicht erklären zu können erklärt, keinen Vorwurf machen dürfen —
denn das wird wohl auch bei jeder anderen Theorie über den Zauber
der Fall sein. Aber im übrigen hat seine Konstruktion nun doch
mancherlei Mängel, so zunächst — um mit dem Schluß seiner Er-
örterung zu beginnen — jene Erklärung der Zauberspeisen und
Zaubertränke als durch die Umkehrung eines sonst üblichen Zaubers
entstanden. Natürlicher dürften sie sich so erklären, wie es für die
sonstigen gebotenen und verbotenen Speisen — und zu ihnen ge-
hören ja auch die Zauberspeisen und -getränke — schon oben ange-
deutet wurde; im übrigen komme ich auf diesen Punkt später noch
einmal zurück. Bei Wundt wird weiterhin nicht klar, weshalb
bei dem symbolischen Zauber, der ja aus dem direkten erst ent-
standen sein soll, ein Bild verwendet wird, und auch wenn Jevons
sagt, das tue der Zauberer, »to make sure that he does what he intends
to do, that bis blow does not miss the victim«!) — so fragt man, warum
das Bild diese Wirkung haben kann. Wundt und Jevons
erklären das mit der Vorstellung, die sich der Primitive von dem
Bilde einer Person macht — dann aber ist wohl auch der symbolische
Zauber nicht in dieser Weise auf den von Wundt sogenannten
direkten zurückzuführen. Denn wenn dieser in dem Bilde des Men-
schen, wie wir sahen, nach primitiver Vorstellung dessen eigene
Seele oder eine Doppelgängerin dieser verborgen sein läßt, so ist
auch das nicht haltbar — und damit kommen wir auf das Haupt-
bedenken gegen die W u n d t sche Konstruktion, das schon ihren
Ausgangspunkt und zugleich seine ganze Grundanschauung betrifft.
W undt läßt ja die religiösen oder, wie er sagt, die mythologischen
Vorstellungen überhaupt zum Teil wenigstens aus dem Seelen-
glauben entstehen, bei dem es sich allerdings ursprünglich nur um die
im Körper und seinen Teilen wohnenden Seelen gehandelt habe.
Aber in Wahrheit — das zeigt namentlich die Behandlung der Toten
— hat man anfänglich überhaupt keinen Unterschied zwischen
Leib und Seele gemacht; »der Faust der Primitiven bleibt bei der
Deutung stehen: im Anfang war die Kraft«?). Und da wir nun einen
Zauber (den von W un d t sogenannten magischen Zauber) kennen,
1) Magic 12, vgl. Comparative Religion 51.
2) Karutz, Der Emanismus, Zeitschrift für Ethnologie 1913, 555.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 117
bei dem die Seelenvorstellungen keine Rolle spielen, da wir nicht
annehmen werden, daß sie überall — stellenweise könnte das ja
der Fall sein — erst später zurückgetreten sind, so werden wir viel-
mehr (und das trifft nachträglich auch noch die Marettsche
Theorie) einen Zauber, bei dem es sich nur um Kräfte, keine See-
len handelt, für den ursprünglicheren halten. Wundts Erklärung
der Magie erweist sich also ebenfalls als unhaltbar — aber ist nun
die einzige noch übrig bleibende, in England klassische Theorie,
die doch die zuletzt behandelten Gelehrten nicht befriedigt hat, be-
friedigender ?
3. Sie ist zuerst von Tylor!) in dem einen Satze aufgestellt
worden: »Man, as yet in a low intellectual condition, having come to
associate in thought those things which he found by experience to be
connected in fact, proceeded erroneously to invert this action, and to
conclude that association in thought must involve similar connection
in vreality.« Frazer, der diese Erklärung wiederholt?), hat sie
doch zugleich dadurch umgebildet, daß er homöopathische oder
imitative und kontagiöse Magie unterscheidet?) und erklärt: »Ho-
moeopathic magic commits the mistake of assuming that things which
resemble each other are the same: contagious magic commits the mistake
of assuming that things which have once been ın contact with each other
are always in contact«*). Darin liegt freilich, daß mindestens bei
der kontagiösen Magie die zwischen zwei Dingen angenommene
Verbindung doch in ihnen selbst vorgebildet war; ja Frazer
führt auch unter der Ueberschrift: Homöopathische Magie Ge-
bräuche an, in denen Teile des menschlichen Körpers diesen selbst
vertreten, und zitiert beifällig die Theorie von Hir në), daß sich
magic by similarity überhaupt auf magic by contact zurückführen
lasse.
Doch ist in England und auch in Frankreich dieser Gedanke
im allgemeinen nicht weiter verfolgt worden, Marett, Je-
I) Primitive Culture 1871. 51913, I, 116.
2) a. a. O. 3 I, 1, 53. 221 f. 233. 420.
3) Wenn Wundt Frazer imitativen und sympathischen Zauber unter-
scheiden läßt, so berubt das auf einem Irrtum; auch letzterer gebraucht den
Ausdruck sympathischer Zauber in der Regel als Bezeichnung der imitativen und
kontagiösen Magie; vgl. allerdings a. a. O.® V, 1912, 2, 139,
4) Vgl. auch Doutté, Magie et religion dans l'Afrique du Nord 1909, 61:
sAinsi identité ou contiguité de la matière sur laquelle on opère avec le corps de lin-
tévessé, d'une part; similitude de l'acte, d'autre part: voila les deux conditions de la magie
sympathique; elles se ramènent aux deux formes de l'association des sdées.¢
5) Origins of Art 1900, 293 ff.
118 I. Abhandlungen.
vons!), auch Hartland?) und Halliday sowie Hubert
und Mauß und Bouvier haben vielmehr Frazer vorgewor-
fen, die Aehnlichkeit und die Berührung erkläre noch nicht den
Zauberglauben, es bedürfe dazu auch der Annahme einer außer-
gewöhnlichen oder übernatürlichen Kraft. Aber so richtig das auch
ist und so sehr es von Frazer stärker hätte betont werden kön-
nen: diese Annahme muß nun doch selbst wieder erklärt werden;
auf diesem Wege kommt man also zunächst nicht weiter.
Wertvoller war es daher, wenn namentlich Hubert und
Mauß zeigten, daß sowohl die Aehnlichkeit als die Berührung,
auf der nach Frazer der Zauberglaube beruhen soll, in diesem
Falle einen andern Sinn haben. Bei der Berührung handle es sich
vielmehr um den Grundsatz des totum ex parte, und »l’image est
a la chose ce que la partie est au tout«?). Ebenso sagt Jevons‘) we-
nigstens von der ursprünglichen Zauberei: »The magician does not
mimic or imitate that which he wishes to do: he does it«; das Bild, die
Nachahmung bedeutet für ihn die Sache selbst. Oder wie es W u n d t5)
ausdrückt: »Um die Entstehung und ursprüngliche Bedeutung des
symbolischen Zaubers zu verstehen, muß man sich vor allem jener
festen Assoziation erinnern, die für den Naturmenschen das Bild
mit seinem Gegenstand verbindet«; ja, wenn das Bild für den Primi-
tiven nicht, wie W u nd t will, von seiner Seele oder ihrer Doppel-
gängerin bewohnt, sondern ein Teil seiner Persönlichkeit ist, der
für das Ganze eintreten kann, dann sollte man hier wohl überhaupt
nicht mehr von einer Assoziation reden, die Bild und Gegenstand
verbinde. |
Eher könnte man, wie es neuestens Preuß°) tut, bei dem
Primitiven von einer komplexen oder kollektiven Vorstellungsweise
sprechen, obwohl diese Ausdrücke für die Anschauung, um die es
sich hier handelt und nach der Teile eines Wesens oder Dinges für
dieses eintreten können, auch nicht ganz glücklich gewählt sein
dürften. Vor allem aber kommt es für die Erklärung der Magie nicht
nur auf diesen Grundastz des pars pro toto, sondern zugleich auf die
1) Vgl. auch Magic, Transact, of the 3. Internat. Congress for the Hist. of Rel.
1908, I, 71 ff. Früher (Introduction to the History of Religion 1896, 35) hatte J. viel-
mehr geurteilt: »Sympathetic magic, which is the germ of all magic, does not involve
in stself the idea of the supernatural, but was simply the applied science of the savage.¢
2) President's Address, Transact. of the 3. Internat, Congress I, 27 £.
3) a. a. O. 66.
4) Transact. of the 3. Internat. Congress I, 76.
5) a. a. O. 277.
6) Die geistige Kultur der Naturvölker 1914, 8 ff.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. IIQ
Anschauung an, daß die (nützlichen oder schädlichen) Kräfte, sei
es des Ganzem sei es eines Teiles desselben, im ersteren Falle viel-
leicht durch Vermittlung eines Teiles, auf andere übergehen. Man
könnte die der Magie zugrunde liegende Anschauung daher vielleicht
— im Anschluß an den neuerdings von K aru tz vorgeschlagenen,
aber falsch gebildeten Ausdruck Emanismus — emanatistisch
nennen; indes dann käme wieder nicht zum Ausdruck, daß hier,
vielfach wenigstens, eigentümlich vermittelte, und namentlich,
daß hier besondere Emanationen oder Kraftübertragungen ange-
nommen werden. Karutz!) scheint das allerdings zu bestreiten,
wenn er behauptet, es handle sich hier überall »nicht um Zauber,
sondern um natürliches Geschehen, nicht um Wunder, sondern um
kausalsichere Notwendigkeit, nicht um Glauben, sondern um
Wissen« Aber dann sagt er doch vielmehr: »Diese Weltanschauung
ist nur ein logisches Weiter denken empirischer Beobachtung, ein
überlegtes System realer Zusammenhänge, keineswegs eine impulsive
Spekulation, ein unklarer Glaube an ‚mystisch anhaftende Mächte‘«.
Und das ist nichts anderes, als was Frazer?) meint, wenn er
schreibt: » Magic 1s a spurious system of natural law as well as a falla-
cious guide of conduct; it is a false science as well as an abortive art.«
Oder wie -sich Marett?°) ausdrückt: »The ‚necessity‘, the ‚law‘
implicit in developed magic . . . is surely something utterly distinct
in kind from what natural science postulates under these same no-
tortously ambiguous names. It is not the ‚is and cannot but be‘ of a
satisfied induction. On the contrary, it 1s something that has but the
remotest psychological affinity therewith, namely such a ‚must‘ as
is involved in ‚may so and so happen‘, or ‚I do this in order that so
and so may happen‘« Aber dieses magische Muß ist allerdings —
auf Grund des praktischen Bedürfnisses — aus jenem durch Induk-
tion gewonnenen Muß erschlossen; sonst wäre ja gar nicht zu ver-
1) a. a. O. 582, Aehnlich Jevons, Introduction 32 Í.: »There is no fundamen-
tal difference between savage and scientific logic, but ..., on the contrary, they are fun-
damentally identical. The uniformity of nature, the principle of induction, the theory
of causation, the inductive methods, form the common framework of both logics: the sa-
vage would probably be able to give his assent to all the principles of Mill’s logic.« Vgl.
auch oben S. 118 Anm. 1, sowis Teßmann, Die Pangwe 1913, II, 127: »Es ist
falsch, diesen Glauben als einen wüsten »Seitentrieb der Religion« zu bezeichnen,
wie das wohl geschieht; dann müßte man z. B. auch unsere Vorstellungen über Elektri-
zität und drahtlose Telegraphie, überhaupt über die ganze Physik als Seitentriebe
der Religion bezeichnen, «
2) a. a. O. ? I, 1, 53, vgl HubertundMaußa a. O. 61.
3) a a O. 55fí.
120 I. Abhandlungen,
stehen, wie es zu ihm kommen konnte. Und allseitig nachgewiesen
hat diesen Ursprung der Magie sowie ihren Zusammenhang mit
dem von Preuß sog. komplexen Denken, soweit ich sehe, bisher
noch niemand; es wird daher nicht überflüssig sein, wenn im Folgen-
den versucht werden soll, diesen Nachweis zu führen.
Weil die Diät in gewissen Fällen bestimmte Wirkungen hat,
glaubt der Primitive, daß er sich zunächst die Eigenschaften man-
cher Tiere ebenfalls durch den Genuß ihres Fleisches aneignen kann.
So ißt er wilde Tiere, weil dadurch deren Kraft und Mut in ihn über-
geht, so gibt man in Marokko den Faulen Ameisen zu essen, damit
sie ebenso fleißig wie diese werden. Wenn sich in Java eine Tänzerin
heiser gesungen hat, gibt ihr der Direktor der Truppe ein Insekt zu
essen, fas einen schrillen Ton von sich gibt; dann kann sie wieder
so gut schreien, wie früher. Das führt zu der Verhütung von Krank-
heiten durch den Genuß von solchen Tieren, die nicht an ihnen
leiden sollen, hinüber: so erzählt Plinius (hist. nat. VIII, 32, 119),
daß manche Frauen jeden Morgen Wildbret aßen, weil Wild nie
Fieber hätte. Ja durch den Genuß eines Tieres wird man geradezu
zu ihm und versteht deshalb nun seine Sprache; so erklärt es sich
zum Teil auch, daß der Genuß von Schlangen und Drachen (oder
wenigstens ihres Herzens) diese Fähigkeit mitteilt, denn Schlangen
sind wieder nach Plinius (A. n. X, 49, 137. XXIX, 4, 72) aus dem Blut ge-
wisser Vögel entstanden. Handelt es sich um Tiere, die wahrsagen
können, so gehen durch den Genuß (oder das, was an dessen: Stelle
getreten ist) 1) auch diese Kräfte auf den betreffenden Menschen über.
Ja gewisse Stämme am oberen Zambesi, die an ein Weiterleben in
Tiergestalt glauben, essen deshalb die Tiere, in denen sie weiterleben
möchten, und benehmen sich nun wie sie; sie haben sich eben völlig
in sie verwandelt.
Daß man zu demselben Zweck auch ein als Gott verehrtes Tier
äße, läßt sich, soweit ich sehe, bei den Primitiven nicht belegen 2);
wohl aber wirkt es bei den Griechen insofern nach, als die Bacchan-
tinnen manchmal ein Tier zerrissen und verschlangen; denn das
scheinen sie ursprünglich nicht im Enthusiasmus, sondern um &deo:,
1) Vgl. das von Preuß, Der Ursprung der Religion und Kunst, Globus 86,
1904, 390 f., über den Schlangentanz der Moki Gesagte. — Wie Wahrsagetiere kann
man auch Wasser, aus dem man wahrsagt, in sich aufnehmen und sich so dieselbe
Fähigkeit aneignen,
2) Von dem Bärenfest bei den Ainu gibt Frazer a. a. O. 3 V, 2, z2orf. eine
andere Deutung, und seine Erklärung des sacrameit of the first-frusts ist keineswegs
sicher; vgl. vielmehr Mac Culloch, First-fruits, ERE, VI, 1913, 41 ff.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 121
des Gottes voll zu werden, getan zu haben — wie Plutarch (gu. Rom.
112) ausdrücklich vom Epheu, den die Bacchantinnen ebenfalls zer-
rissen und verzehrten und dessen Zweige selbst faxyoı hießen,
sagt: mvedua paviag čyaw Eyeptıxov xal nrapaxintıxöv Ekiotnoı xai
oragarreı!). Und jedenfalls wurde der mexikanische Huitzilopochtli
ursprünglich in Gestalt eines Menschen gegessen; denn darauf
deutet doch wohl hin, daß man die Teigstatue von ihm, die man
später herstellte und verzehrte, erst symbolisch tötete?). Daß man
aber einen Gott in Menschengestalt aß, setzt wieder voraus, daß auch
der Kannibalismus, zum Teil wenigstens, denselben Zweck hatte,
wie das Essen von gewissen Tieren, nämlich sich die Kräfte der
betreffenden Menschen anzueignen 3),
Das läßt sich denn auch wieder durch zahlreiche Beispiele be-
legen. Vor allem werden aus dem angegebenen Grund die getöteten
Feinde gegessen; aber vielfach geschieht das auch mit den eigenen
Angehörigen. In China gibt man häufig einem kranken Angehörigen,
um ihn zu kräftigen, ein Stück seines eigenen Fleisches zu essen,
und in Sizilien soll noch vor kurzem einem getöteten Neapolitaner
das Herz aus der Brust gerissen und verzehrt worden sein. Doch
das führt uns bereits zu der besonderen Schätzung von einzelnen
Teilen des Körpers hinüber, die für das Verhalten wie gegenüber
Menschen so gegenüber Tieren natürlich auch sonst maßgebend ist,
aber hier nicht näher untersucht werden kann.
Hier ist noch darauf hinzuweisen, daß man Menschen oder
Tiere, um sich ihre Kräfte anzueignen, nicht unmittelbar zu essen
braucht; man kann aus ihnen (oder wieder aus bestimmten Teilen
ihres Körpers) einen Extrakt herstellen und diesen genießen. Der
Primitive läßt das Fleisch zu diesem Zweck gewöhnlich trocknen,
pulverisiert es und macht es dann mit Wasser an; wie Medea bei
Ovid (met. VII, 271 ff.) den alten Aeson wieder verjüngen will,
kocht sie direkt aus der Leber eines langlebigen Hirsches und dem
Kopf einer Krähe, die neun Generationen von Menschen hindurch
1) Vgl. Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte 1906, 731 ff,
2) Ueber das Opfer des Tezcatlipoca vgl. Reuterskiöld, Die Entstehung
der Speisesakramente 1912, 94 ff., wonach außer Frazer (doch vgl. a.a. O. 3v,
I, 279, 1) auch Crawley, Eating the God, ERE, V, 1912, 136 ff., zu modifizieren
ist. Warum ich seine cigene Deutung des Opfers des H. nicht gutheißen kann, ist
oben angedeutet; daß der Teig, aus dem dic Statue hergestellt war, auch an sich
heilig gewesen sei, kann sie nicht beweisen.
3) Vgl. im allgemeinen Mac Culloch, Cannibalism, ERE, III, 1910, 194 ff.
— Auf die Stärkung der Gottheit selbst durch ihrem Wesen entsprechende Opfer
gehe ich hier nicht ein; vgl. darüber Oldenberg a.a O. 357 ff.
122 I. Abhandlungen.
gelebt hat, einen Zaubertrank. Auch die Asche der Verstorbenen
trinkt man in Wasser, um sie so in sich aufzunehmen; Artemisia,
die Gattin des: Mausolus, soll freilich auf diese Weise ihre Liebe
zu ihm bezeugt haben. Endlich kann man sich mit einer solchen
Flüssigkeit auch impfen, und das geschieht z. B. bei den Basutos
bei jeder Gelegenheit, wenn irgendwelche Gefahr droht. Wird das
betreffende Präparat vielmehr aufgestrichen, so handelt es sich
schon um eine weniger direkte Kraftübertragung; aber ehe ich von
ihr rede, muß ich erst noch einen Blick auf die sog. negative Magie
werfen, soweit sie sich in derselben Weise, wie die bisher besproche-
nen Gebräuche, erklärt.
Teilt das Fleisch gewisser Tiere Kraft und Mut mit, so darf es
natürlich nur von denen gegessen werden, die diese Eigenschaften
haben möchten und haben dürfen, aber nicht etwa von den Frauen,
sonst würden sie den Männern unbequem. Sie selbst dürfen allerlei
häßliche, plumpe Tiere deshalb nicht essen, weil deren Eigenschaften
sonst auf ihre Kinder übergingen; ja aus demselben Grunde müssen
auch die Männer sich mancher Tiere enthalten. Und zwar handelt
es sich dabei auch um zufällige Umstände, die eigentlich gar keine
Eigenschaften sind: ein Kaffer darf z. B., will er nicht Vater von
Zwillingen werden, keine zu gleicher Zeit gefangenen zwei Mäuse
essen. Ebenso eignet sich der Mensch selbst nach primitiver An-
schauung nicht nur angeborene, sondern auch erworbene Eigen-
schaften an: deshalb darf z. B. ein malagassischer Krieger nicht nur
keinen Igel essen, weil sich dessen Furchtsamkeit ihm mitteilen
würde, sondern auch keinen Hahn, der im Kampfe gestorben ist,
oder irgend etwas, das getötet worden ist; denn sonst würde es ihm
ebenso gehen }).
Doch wenden wir uns nun zu der Kraftübertragung, die durch
bloße Berührung stattfindet und bei der es sich zunächst um will-
kommene Eigenschaften handelt, so kommen hier schon leblose
Gegenstände, wie Steine, in Frage. Ihre Festigkeit teilt sich dem-
jenigen mit, der mit ihnen in Berührung kommt — deshalb reiben
sich die Papuas an Felsen und die Malagassen begraben einen Stein
unter ihrem Hause, damit er ihr Glück fest und beständig mache.
Photius (biblioth. rec. Bekker I, 153) erzählt, Zeus sei oft dadurch von
seiner Liebe zu Hera geheilt worden, daß er sich auf einen Stein setzte,
und ebenso ist es wohl zu verstehen, wenn Pausanias (III, 22, 1) erzählt,
Orestes habe sein Wahnsinn verlassen, als er sich auf einem Stein
ı) Auf die Gottesgerichte, bei denen Zauberspeisen oder -getränke verwendet
werden, kann ich, obwohl sie sich ähnlich erklären, hier doch nicht näher eingehen.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 123
niederlieB, den man später noch in Lakonien zeigte: in beiden Fällen
hatte die Kälte oder Festigkeit des Steines beruhigend eingewirkt.
Bei der Weihe des Brahmanenknaben muß er auf einen Stein treten,
damit er fest werde, ebenso die Braut bei der Hochzeit. Und bei den
Nordgermanen und Kelten ist oft von Schwüren und Versprechen,
die auf einem Stein geleistet wurden, die Rede — sie sollten offenbar
dadurch ebenso fest werden, wie der Stein.
Ich übergehe die ähnliche Verwendung von Metallen und wende
mich gleich zu der von Pflanzen. »Jene Papua, die vom Felsgesteiii
sich Kraft ‚erreiben‘, holen sie sich auch von starken Bäumen, die
sie mit ihren Armen und Beinen berühren, um für besondere An-
strengungen, einer Reise z. B., gerüstet zu sein; Beinringe aus Bast
geben den Sehnen die Festigkeit dieses Stoffes; Teile von harten
Holzpflanzen übertragen die Härte, mag man sie sich wünschen für
neugesäte Feldfrucht, für eigene Körperkraft oder für das membrum
virile, das einer ‚Liebesmedizin‘ bedürftig ist; zwei eng verschlun-
gene Wurzeln emanieren ihre Vereinigung auf die Liebenden, und
tausend andere Eigenschaften teilen sich in gleicher Weise den Dingen
mit«'). Auch wenn man häufig durch einen gespaltenen Baum
durchkriecht, so handelt es sich dabei — wenn man damit nicht
etwa seine Unreinheit und Sünde abstreifen will (ich komme darauf
nachher noch zurück) — um einen Berührungszauber von der hier
in Rede stehenden Art, desgleichen, wenn man sich mit Blättern
oder Blumen bekränzt, mit Zweigen schlägt, wenn man solche an
seinem Hause anbringt oder zur Frühlingszeit, wenn die Bäume
wieder ausschlagen, einen ins Dorf holt — alles Gebräuche, die ja
auch bei uns noch fortleben. |
Zu dem gleichen Zweck nagelt man nicht nur bei uns, sondern
auch in China Ticre an sein Haus oder bringt sich in noch direk-
tere Berührung mit ihnen. Der Galla tritt mit bloßen Füßen auf
eine Schildkröte, damit seine Sohlen ebenso hart werden, wie ihr
Schild; Betschuanen tragen unter ihrem eigenen Haar das Haar
des ungehörnten Rindes und auf ihrem Mantel eine Froschhaut:
dann kann man sie so wenig fassen, wie den schlüpfrigen Frosch
und das ungehörnte Rind, das man eben deshalb nirgends anpacken
kann. Auch die Griechen glaubten (nach Aelian, nat. anim. I, 42.
48), daß man den scharfen Blick eines Adlers bekäme, wenn man sich
seine Galle in die Augen träufelte, und rabenschwarzes Haar, wenn
manseinen eignen Kopf mit Rabeneiern einriebe. Weiterhin gehört hier
das Amulettwesen her, soweitessich dabei um Teile von Tieren handelt
u 1) Karutz a. a. O. 582.
124 : Abhandlungen.
— mit Teilen von Pflanzen oder leblosen Gegenständen ist es ja
nicht anders —, ebenso wie das Tragen von Kleidern aus Tier- oder
Pflanzenstoffen, soweit es sich nicht ganz natürlich erklärt!). Es
zeigt zugleich, daß die Tiere und Pflanzen, deren Kraft man sich
aneignen möchte, nicht ihre ursprüngliche Gestalt bewahrt zu haben
brauchen; man kann sich auch mit ihrer Asche einreiben — so die
Galelaresen, wenn ihre Finger zum Lautenspiel zu steif sind, mit der
Asche der langbeinigen geschmeidigen Spinne — oder mit einer aus
ihnen gewonnenen Lösung waschen — so die Tscheroki, um starkes
Haar und feste Muskeln zu bekommen, mit einem Aufguß von Te-
phrosia, die so starke Wurzeln hat, daß sie sogar den Pflug im Erd-
reich aufhalten.
Wie Pflanzen und Tiere, so teilen endlich auch Menschen durch
ihre Nähe ihre Eigenschaften mit, namentlich ihre Fruchtbarkeit,
und nicht nur anderen Menschen, sondern auch Pflanzen und
Tieren. Ja auch vorübergehende Eigenschaften oder Umstände über-
tragen sich von dem Menschen auf die Feldfrucht. Im Innern von
Sumatra lassen die Frauen bei der Aussaat des Reises ihr Haar lang
hängen, dann wächst der Reis ebenso lang; in den Karpathen windet
man sich beim Kohlpflanzen Tücher um den Kopf, dann bekommt
der Kohl ebenso dicke Köpfe. Umgekehrt wurde dem englischen
Novellisten Thomas Hardy einmal gesagt, die Bäume vor seinem
Hause in Weymouth gediehen nicht, weil er sie jeden Morgen mit
einem leeren Magen ansehe. Die Leblosigkeit der Toten geht nicht
nur von ihren Leichnamen oder ihren Gebeinen, sondern auch von
ihrer Asche und der Erde ihres Grabes auf andere über, daher bei
den Galelaresen ein junger Mann, der sich bei Nacht mit seiner
Auserwählten unterhalten möchte, dort, wo ihre Eltern schlafen,
etwas Erde von einem Grabe auf das Dach streut — dann wachen
sie so wenig auf wie Tote. Auch Einbrecher benutzen selbst unter
Kulturvölkern noch vielfach dieses Mittel, um sich vor Störungen
zu schützen, und bei den Griechen glaubte man nach Aelian (nat.
anim. I, 38) dadurch sogar die wachsamsten Hunde einschläfern zu
können. Ob man auch die geschlechtliche Vereinigung mit einem
andern (und zwar sogar einem Menschen desselben Geschlechts)
jemals als Mittel, sich seine Kräfte anzueignen, angesehen hat, ist
wohl noch nicht klar 2); wohl aber wird man die entsprechende Ver-
einigung mit der Gottheit ursprünglich so aufgefaBt haben 3).
ı) Daß man auch die Gottheit dadurch stärken zu können glaubt, daß man ihr
Bild mit dem Fell eines Tieres bekleidet, lehrt Herodot II, 42.
2) Vgl. Karutza a. O. 586.
9) Vgl. Dieterich , Eine Mithrasliturgie 1903. 21910, 121 ff.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 125
Es versteht sich von selbst, daß, wenn auf solche Weise Kräfte
übergehen, umgekehrt dort, wo das vermieden werden soll, jede
Berührung (manchmal auch schon der Anblick) verpönt ist. Aller-
dings hat diese Tabuierung von Personen — denn darum handelt es
sich hier im wesentlichen — zum Teil vielmehr den Grund, dem Be-
treffenden selbst seine Kräfte zu erhalten. Solche außerordentlichen
Kräfte hat nämlich wenigstens nach der Meinung von manchen
Stämmen und Völkern jeder und kann sie auf verschiedene Weise
noch verstärken: durch Selbstquälereien, Entbehrungen verschie-
dener Art, aber auch durch Tabakrauchen und Genuß berauschen-
der Getränke, die entweder wirklich, wenngleich nur vorübergehend,
die Kräfte steigern oder durch die Standhaftigkeit, die man ent-
wickeln muß, auch das Kraftgefühl erhöhen — ich rede von alledem
hier nicht eingehend, weil es sich dabei eben um auf wirklicher Er-
fahrung beruhende Gebräuche, nicht um Magie handelt!). Eher
erinnert es an diese, wenn z. B. bei manchen Indianerstämmen die
mannbaren jungen Leute nicht einmal sich selbst kratzen dürfen, um
sich keine Kraft zu entziehen, oder wenn der Inder der vedischen
Zeit von dieser Kraft durch Lachen etwas zu verlieren glaubte und
deshalb, wenigstens wenn er beim Empfang der Somaweihe lachen
mußte, die Hand vorzuhalten hatte — »zum Festhalten des Glanzes«,
wie die Begründung lautet?). Aber vor allem besitzt vielfach der
Häuptling oder König, indem von seiner tatsächlichen Macht weiter-
geschlossen wird, solche besonderen Kräfte und muß deshalb vor
jeder Berührung mit anderen behütet werden; ja das geschieht —
und damit komme ich auf die uns hier eigentlich beschäftigende An-
schauung zurück — zugleich deshalb, weil seine Kräfte anderen ge-
fährlich werden könnten. Oder wie es F ra z er?) ausdrückt: »The
divine berson is a source of danger as well as of blessing; he must not
only be guarded, he must also be guarded against.« Und nicht nur die
göttliche Person selbst; auch alles, was sie angerührt hat — deshalb
durfte der Mikado früher nicht die Erde betreten, sondern mußte
immer herumgetragen werden. Ja andere Fürsten dürfen überhaupt
nicht ihr Haus verlassen oder, wenn sie es tun, doch nicht von an-
deren gesehen werden.
Und ebenso wie Häuptlinge und Könige, so sind auch die Frem-
den tabu — denn auch ihnen schreibt man außer den besonderen
1) Im übrigen vgl. besonders Preuß, Globus 87, 1905, 415 ff.
2) Vgl. Oldenberg a a. O. 429.
3) a. a. O. 3 II, 132.
126 I. Abhandlungen.
Kräften und Fähigkeiten, die sie tatsächlich besitzen, noch andere
zu. So halten sich vielfach die Eingeborenen namentlich von Euro-
päern fern oder equilibrieren wenigstens erst die schädlichen Ein-
flüsse, die von ihnen ausgehen, auf verschiedene Weise — aber
davon ist hier noch nicht zu reden.
Daß die Männer bei manchen Stämmen vor dem Kampfe oder
der Jagd jede Berührung mit Frauen zu vermeiden haben, liegt wohl
teils daran, daß die Frauen eben das schwache Geschlecht sind
und diese Eigenschaft auf die Männer übergehen würde; namentlich
aber wirken auf die Frauen zu bestimmten Zeiten geheimnisvolle
Kräfte ein, die anderen gefährlich werden könnten. So müssen sie sich
vielfach während ihrer Periode und ebenso bei und nach der Geburt
eines Kindes von anderen fernhalten; in dem kaiserlichen Palast
in Tokio ist noch heute ein eigener Pavillon für derartige Familien-
ereignisse vorhanden — zugleich auch deshalb, weil dadurch das
betreffende Haus selbst tabu würde, daher bei den Primitiven häufig
eine besondere Gebärhütte errichtet und dann gleich wieder abge-
brochen wird. Und nicht nur die Wöchnerin, ja auch nicht nur
das Kind ist tabu, sondern ebenso hie und da der Vater: daher die
bekannte merkwürdige Sitte der Couvade oder des Männer-Kind-
betts, die darin besteht, daß sich nach der Geburt eines Kindes der
Vater von anderen fernhält, deshalb ins Bett oder die Hängematte
legt und schließlich wohl gar seinerseits die Pflege des Neugeborenen
übernimmt.
Ganz besonders aber muß man sich noch von Sterbenden oder
Toten, d. h. den Geistern, die sie geholt haben und auch andere
holen könnten, oder den (Geistern der) Verstorbenen selbst, die den
Ueberlebenden feindlich gesinnt sind, fernhalten. Ja auch dasjenige,
womit die Toten in Berührung gekommen sind, ist tabu — deshalb
werden vielfach schon die Sterbenden in ein besonderes Haus ge-
bracht oder es wird dasjenige, das sie früher bewohnt haben, ab-
gebrochen; deshalb legt man hie und da schon den Sterbenden die
Sterbekleider an und bettetsieselbst auf dieErde, damit ihre gewöhn-
lichen Kleider und ihr Bett nicht tabu werden. Tabu sind ferner
diejenigen, die einen Menschen oder auch ein Tier getötet haben,
manchmal sogar diejenigen, die, um sich seine Kräfte anzueignen,
einen andern gegessen haben; tabu sind vor allem diejenigen, die
einen andern bestattet haben, und dessen Angehörige überhaupt,
besonders die Witwe: sie darf daher z. B. bei den Agutainos auf
den Philippinen zunächst überhaupt nicht ausgehen und muß,
wenn sie es später tut, mit einem hölzernen Pflock an die Bäume,
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 127
an denen sie vorbeikommt, anklopfen, damit alle, die in der Nähe
sind, wegsehen — sonst, glaubt man, würden sie sterben; die Bäume,
an die die Witwe anschlägt, sollen rettungslos verdorren. Ja
noch weiter geht es, wenn der Brahmane nicht nur keinen Leichen-
träger sehen, sondern auch in keinen Brunnen steigen oder blicken
und zu bestimmten Zeiten aus keinem tönernen Gefäß trinken darf,
und wenn das alles den Sinn hat: die Erde, in die der Brunnen hinab-
führt, aus der der Ton stammt, gehört den Toten.
Ist man auf die eine oder andere Weise doch mit solchen feind-
lichen oder wenigstens unheimlichen Kräften in Verbindung ge-
kommen, so kann man sich in derselben äußerlichen Weise auch wie-
der von ihnen befreien, nämlich dadurch, daß man sie abstreift, ab-
wäscht, abbrennt, auf etwas anderes überträgt oder auch ausbricht.
Die ersten Behandlungsweisen werden zugleich auf Krankheiten
und Sünden angewandt, weil diese ganz im allgemeinen als dem
Menschen äußerlich anhaftend gelten; so ist vielleicht schon jene Sitte
durch einen Baum durchzukriechen, manchmal zu erklären. Oder
Fieber beseitigt man in Indien, indem man den Kranken mit Wasser
übergießt, aber so, daß von dem Wasser ein unter dem Bett be-
festigter Frosch überströmt wird, den man dann wohl wegwirft;
daß man dazu gerade einen Frosch nimmt, dürfte den Grund haben,
daB ein solches kaltblütiges Tierm meisten Fieberhitze aufnehmen
zu können scheint. Freilich wenn man Gelbsucht heilen will, so
streicht man den Kranken vielmehr gelb an, wäscht ihn ab und läßt
das gelbe Wasser ebenfalls auf unter dem Bett angebundene Vögel,
die dann wohl davonfliegen, abflieBen: da ist der Gedanke wohl,
daß sich gleich und gleich gern gesellt, daß die gelbe Farbe auch die
Gelbsucht anziehen wird. In beiden Fällen aber wird eine Krank-
heit auf ein Tier übertragen; anderwärts treten dafür leblose Gegen-
stände oder Menschen ein, und wie Krankheiten werden, so sahen
wir bereits, auch andere, natürliche und sittliche Uebel behandelt.
Die Beichte ist ebenfalls ursprünglich, wie Frazer!) sagt, »a sort
of spiritual purge or emetic«; man bekennt seine Sünden, um von der
durch sie bewirkten Verunreinigung frei zu werden.
Doch kehren wir zu denjenigen Bräuchen zurück, durch die
wirklich Kräfte irgendwie übertragen oder nicht übertragen werden
sollten, so handelte es sich dabei bisher, wenngleich nicht ausnahms-
los, so doch im wesentlichen, um Kräfte, die in dem ganzen betreffen-
den Gegenstande oder Wesen wohnend gedacht werden. Nun gibt
1) Ebd. ?II, 214.
128 I. Abhandlungen.
es aber auch Teile des menschlichen oder tierischen Körpers, die
als besonders kraftbegabt gelten und die daher ebenfalls in der er
eine besondere Rolle spielen
So zunächst — ohne daß das erst erklärt zu werden braucht —
der Kopf: daher die über ganz Hinterindien und die Südseeinseln
verbreitete Scheu, ihn von einem andern berühren zu lassen (ja
vielleicht selbst zu berühren), daher umgekehrt die in denselben
Gegenden sich findende Sitte des sog. Koppensnellens, der Schädel-
jagd; daher die besondere Vorliebe mancher Kannibalen für das
menschliche Gehirn, daher die auch bei Kulturvölkern noch nach-
wirkende Verwendung von Schädeln zu Trinkgefässen!). Auch an-
dere Knochen, auf denen ja die Festigkeit des Körpers beruht, teilen
noch nach dem Tode des Betreffenden Kraft mit; daß es sich bei dem
Reliquienkult der verschiedensten Völker namentlich um sie handelt,
hat allerdings zugleich den Grund, daß sie sich eben am längsten
halten.
Doch die besondere Schätzung des Kopfes kann uns außerdem
noch zu der des Haares weiterführen: auch in ihm wohnen, da es
sich ebenfalls besonders lange hält und zugleich sichtbar wächst,
außerordentliche Kräfte. So scheren es sich Könige und Priester
vielfach überhaupt nicht, andere wenigstens erst nach bestimmter
Zeit und unter besonderen Feierlichkeiten; auch waschen durften
es der König von Persien (Herodot IX, 110) und die römischen Da-
men (Plut., quaest. Rom. 100) nur einmal im Jahre; es ist auch als
Opfer, zumal für Tote, beliebt und wird auf sie gelegt, offenbar um
ihnen die in dem Haar wohnende Kraft mitzuteilen. Und ebenso
wie mit den Haaren steht es aus dem gleichen Grunde mit den Nä-
geln: auch sie dürfen nicht oder nur unter besonderen Vorsichts-
maßregeln geschnitten werden 2).
Die Nägel sitzen an Händen und Füßen, die ebenfalls wegen ihrer
Bedeutung namentlich für den Primitiven als mit besonderen Kräften
ausgerüstet gelten. Deshalb werden die Hände häufig auch als
Symbol der göttlichen Macht verwendet; daß man Fingerglieder
opfert, hat allerdings wohl vor allem den Grund, daß man diese
Teile seines Körpers am ehesten entbehren kann. Dagegen beweist
es sicher dasjenige, worum es sich hier handelt, wenn bei Kannibalen
Hände und Füße besonders geschätzt sind; es war wohl auch
nicht aus bloßer Rachgier zu erklären, wenn in dem jüngsten Herero-
1) Vgl. auch Mac Culloch, Head, ERE, VI, 532 ff.
2) Vgl. auch Sikes und Gray, Hair and Nails, ebd. 474 ff.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie, 129
kriege den gefallenen deutschen Soldaten vielfach die Hände abge-
hauen wurden 2).
DaB das Herz ebenso beurteilt wird, ergibt sich wieder aus
seiner Verwendung beim Opfer namentlich der alten Mexikaner.
Mehr noch gehört hierher, daß es die Kannibalen besonders gern
verzehren, während umgekehrt ein nordamerikanischer Indianer
meinte, Feuerwasser müßte wohl aus Herzen und Zungen hergestellt
sein, denn wenn er davon getrunken hätte, dann fürchte er sich
nicht und könne reden, wie sonst nie. Auch die bei uns noch üblichen
herzförmigen Amulette gehen auf denselben Glauben zurück.
Mit dem Herzen werden im alten Testament und einmal auch
im neuen die Nieren zusammengestellt, die wegen ihrer zentralen
Lage und weil sie mit den Geschlechtsorganen in Verbindung ge-
bracht wurden, ebenfalls als Sitz besonderer Kräfte galten; deshalb
wurden sie und das sie umgebende Fett wieder gern als Opfer dar-
gebracht oder gegessen.
Uns läßt das Herz vielmehr an das Blut mitdenken, das nun
vor allem als Sitz besonderer Kraft galt und gilt. Daher wieder die
hervorragende Rolle, die es beim Opfer spielt; daher auch die Sitte,
Blut zu trinken und Kranken frisches Blut zuzuführen. Vielfach
scheut man sich auch, das Blut selbst von Tieren zu genießen oder
auch nur rohes Fleisch anzurühren. Das war auch dem Flamen
Dialis in Rom verboten und ebenso, unter einem Weinspalier durch-
zugehen — das kann gleich hier hinzugenommen werden, weil die
Tabuierung des Weines zum Teil wohl dieselbe Ursache hatte: der
Wein ist Traubenblut; außerdem gilt er natürlich auch wegen der
Wirkungen, die sein Genuß hervorbringt, als Sitz geheimnisvoller
Kräfte.
Ja, auch wo in einem Teile des menschlichen oder tierischen
Körpers (um dazu zurückzukehren) keine besonderen Kräfte ange-
nommen werden, können die in dem betreffenden Wesen wohnenden
doch durch Vermittlung jenes Teiles auf andere übergehen. Und
als solche Teile gelten nun auch verschiedene Ausscheidungen des
Körpers, zunächst der Speichel. Man kann mit ihm Heilungen hervor-
rufen oder sonst zaubern (deshalb spuckt noch der Hamburger Kauf-
mann auf das erste selbstverdiente Geld); ebenso kann ihn freilich,
wie die Haare und Nägel, auch ein feindlicher Zauberer zum Be-
hexen verwenden, wenn man ihn nämlich nicht sorgfältig verbirgt
oder beseitigt. Schweiß, Urin und Kot werden, um den Betreffen-
1) Vgl. auch Mac Culloch, Hand, ebd. 492 ff.
Archiv für Religionspsychologie I/III. 9
aP
130 I. Abhandlungen.
den in seine Gewalt zu bekommen oder sich seine Eigenschaften
anzueignen, sogar manchmal genossen, ebenso wie die aus der ver-
wesenden Leiche ausfließende Jauche.
Verbreiteter ist, auch unter den Kulturvölkern noch, der Glaube
an eine Kraftübertragung durch den Hauch, vermöge deren man
durch Anhauchen töten oder aber auch heilen kann — und diese
Behandlungsweise wenden ja auch wir bei unsern Kindern noch mit
bestem Erfolge an. Die australischen Mütter glauben, ihnen durch
Anhauchen überhaupt ihre Kräfte zuwenden zu können, und das
vielfach bei Primitiven übliche Zahnausschlagen hat zum Teil we-
nigstens den Zweck, den Hauch leichter dem äpxos dédvrwy ent-
weichen zu lassen.
Mit dieser Schätzung des Hauches hängt wieder die des gespro-
chenen Wortes zusammen; von ihm gilt nicht nur bei Göttern, son-
dern auch bei Menschen: so er gebeut, so stehet es da. Deshalb die
groBe Bedeutung, die dem Gruß und namentlich dem Segen und dem
Fluch zugeschrieben wird, und zwar nicht nur bei Primitiven, sondern
auch bei Kulturvölkern noch. Selbst wir gebrauchen noch den Aus-
druck: es liegt ein Fluch darauf, oder wir sprechen von einer ver-
fluchten Geschichte, als ob ein Fluch tatsächlich eine Wirkung aus-
übte. Und wie das Wort, so wirkt der Blick, sei es nun als guter oder
als böser.
Auch der Name gilt als ein Teil der Persönlichkeit; denn er ist
ihr nicht willkürlich beigelegt worden, sondern gehört ihr eben. Kennt
man ihn, so hat man damit auch das betreffende Wesen in seiner
Gewalt ; daher die Sitte, die Gottheit bei ihrem Namen anzurufen oder
aber den eigenen Namen geheimzuhalten bzw. nicht zu gebrauchen
oder von anderen gebrauchen zu lassen. Ja manche Stämme gehen
so weit, wenn ein neuer König ans Ruder kommt, alle mit ihm Gleich-
namigen zu töten oder auch den betreffenden Wortstamm aus der
Sprache zu streichen; denn schon dies würde dem König schaden,
wenn sein Name mit Bezug auf andere oder in anderen Worten
gebraucht würde.
Daß Dinge, die mit einem Menschen in Berührung gekommen
sind, dadurch seine Kräfte in sich aufgenommen haben, hängt na-
türlich mit dem früher schon Erörterten zusammen, ist aber doch
erst hier, wo es sich um die magische Wirkung, die nun von diesen
Dingen ausgeht, handelt, zu erwähnen. So genießen z. B. arabische
Frauen das Wasser, von dem Vollblutpferde getrunken haben, weil
sie meinen, sie brächten dann kräftige Kinder zur Welt. Die Gallas
essen auch von den Speisen eines Verstorbenen, um sich dadurch
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 131
seine Eigenschaften anzueignen, während man sich sonst allerdings
zumeist von.der Nahrung des Verstorbenen, ja auch der mit ihm in
Berührung gekommenen, fernhält, weil man sonst in die Gewalt
des Toten oder der Geister, die ihn geholt haben, kommen würde.
Auch die Gottheit teilt der ihr geopferten Speise von ihrer Kraft
mit, so daß man sich diese aneignen kann, wenn man nachher vom
Opfer genießt — oder, scheut man sich davor, dann beriecht man
es wenigstens. Von der Speise eines Häuptlings oder Fürsten darf
man manchmal nicht essen, weil sie ebenso wie der Häuptling oder
Fürst selbst tabu ist; ja nicht nur sie, sondern auch die Gefäße,
in der sie gekocht und serviert worden ist, dürfen nicht von anderen
gebraucht werden. Und ebensowenig seine Kleider oder diejenigen
von anderen Personen, die tabu sind; umgekehrt borgt sich häufig
eine Araberin, die kein Kind hat, das Kleid einer mit Kindern ge-
segneten Frau, um sich so auch deren Fruchtbarkeit anzueignen.
»Mehrfach schüttet man den Samen vor dem Säen durch ein Hosen-
bein, um ihn fruchtbar zu machen. ... Eine weibliche Person muß
nackt um den Acker herumgehen, auf dem man säen will, oder we-
nigstens ihr Hemd herumtragen«!). Sogar die Waffe, ja die ganze Per-
son, die einem andern eine Wunde geschlagen hat, ist dadurch ein
Teil von ihm geworden, so daß, was mit ersterer geschieht, diesen
betrifft; deshalb legt man in Melanesien den Pfeil, der einen ge-
troffen hat, ins Feuchte, dann entzündet sich auch die Wunde nicht,
oder, um das Gegenteil zu erreichen, legt der Feind seinen Bogen
ans Feuer und nimmt heiße Getränke und scharfe Flüssigkeiten zu
sich. Auch das hängt wohl damit zusammen, daß die Waffe, die
eine Wunde schlug, sie wieder heilen kann — wir denken dabei natür-
lich jetzt vor allem an den Speer des Amfortas; ja es ist dazu gar
nicht die Waffe selbst und auch keine Wunde nötig; in der griechi-
schen Sage von Iphiklos brauchte dieser nur den Rost des Messers,
mit dem er einst bedroht worden war, zu trinken, da wurde er von
der Impotenz, an der er infolge jener Bedrohung litt, befreit.
Endlich gelten als Teile der Persönlichkeit noch alle Eindrücke,
die man im Sitzen oder Gehen macht, der Schatten, den man wirft,
und das Bild, das auf irgendwelche andere Weise von einem ge-
wonnen wird. So kann man mit allen diesen Dingen zaubern: man
braucht selbst in manchen Gegenden Deutschlands in die Fußspur
eines Menschen nur Nägel einzuschlagen, dann wird er lahm; die
Herero glauben sogar, wenn sie etwas Erde aus der Spur eines Löwen
1) Fehrle, Volksaberglaube der Gegenwart, RGG. V, 1913, 1704.
9 *
132 I. Abhandlungen.
auf die eines Feindes werfen, dann werde diesen ein Löwe fressen.
Bei den Unmatjera in Zentralaustralien darf kein Knabe in die
Fußspur eines Weibes treten, sonst bekommt er ebensoviel Läuse
wie sie. Und in derselben Weise, wie die Fußspur, teilt der Schatten
die wohltätigen oder schädlichen Kräfte des Betreffenden mit: der
Schatten eines Wundertäters heilt so gut, wie dieser selbst; fällt
dagegen der Schatten eines Menschen in ein Grab, so muß auch
dieser selbst bald sterben. Ebenso magert derjenige ab, dessen
Schatten auf die Nahrung eines andern fiel; denn mit seinem Schat-
ten ißt der andere zugleich ihn selbst — wenn der erstere nicht um-
gekehrt durch seinen Schatten der Speise ihren Nährwert entzieht
und so umgekehrt der andere nichts von ihr hat. Auch mit seinem
Spiegelbild bekommt man den andern selbst in seine Gewalt; deshalb
dreht man in manchen Gegenden nach einem Todesfalle alle Spiegel
herum, damit der Tote oder der Geist, der ihn geholt hat, nicht auch
noch diejenigen mitnehmen kann, die sich in ihnen gespiegelt haben.
Ja man läßt überhaupt kein Bild von sich machen, weil man damit
zugleich auch selbst in die Hände eines Zauberers kommen könnte;
denn was er mit dem Bilde macht, das geschieht mit dem Betreffen-
den selbst. Wenn der Malaye, um einen Feind zu töten, ein Wachs-
bild verbrennt, sagt er daher dazu: es ist nicht Wachs, das ich ver-
brenne, es ist Leber, Herz und Milz de: N. N., das ich verbrenne.
Umgekehrt geht von Bildern auch dieselbe heilsame Wirkung wie
von der dargestellten Person oder Gottheit aus; deshalb tätowiert
man sich ihr Bild ja auch auf die Haut oder trägt es als Amulett
an sich. Mit dem Bilde kann man daher ferner das Abgebildete selbst
schaffen; so bilden z. B. die Kora-Indianer Vieh nach, dann wird es
ihnen tatsächlich zuteil. Und ebenso glaubten sich die Angehörigen
der verschiedenen Klassen von Mithrasmysten, die man unterschied,
dadurch, daß sie sich wie ein Löwe oder Rabe, Perser oder Soldat
verkleideten, in diese und damit, was wenigstens die ersten beiden
Klassen angeht, ursprünglich in den Gott selbst zu verwandeln, ihn
anzuziehen.
Zugleich sehen wir an diesem Beispiel, sofern die »Löwene und
»Raben« sich auch wie solche benahmen, daß man nicht nur durch
Nachbildung der Gestalt, sondern ebenso durch Nachahmung des
Verhaltens sich in einen anderen oder etwas anderes verwandeln
kann. Auch das Verhalten ist eben ein Teil des Wesens des Betreffen-
den, mit dem man ihn selbst in seine Gewalt bekommt. Mit anderen
Worten: es handelt sich hier nicht eigentlich um einen Analogie-
zauber, sondern mehr eine Anwendung des Grundsatzes pars pro
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 133
toto!). Um sich vor Kälte zu schützen, ahmen die Tscheroki das |
Geschrei und das Verhalten des Wolfes, Hirsches, Fuchses und Opos-
sums nach, die nicht unter der Kälte leiden sollen, und singen dann:
ich bin ein Wolf, ein Hirsch, ein Fuchs, ein Opossum geworden. Vor
allem aber ahmt man das Verhalten von Tieren nach, um ihre Ver-
mehrung zu bewirken: so in den früher schon erwähnten Intichiuma-
Zeremonien, oder um Tiere herbeizuziehen: so in den Jagdtänzen.
Vielfach wird in ihnen zugleich die Erlegung des Wildes dargestellt;
auch müssen, während die Männer auf der Jagd sind, die Frauen
bestimmte Tätigkeiten treiben oder andere vermeiden. Sie müssen
z. B. bei den Hottentotten Feuer brennen oder Wasser herumspritzen,
damit ihre Männer sehen und zu trinken haben, dürfen aber bei
anderen Stämmen sich nicht salben oder zanken — sonst würde
das Wild ihren Männern entschlüpfen oder sie zerreißen usw.
Aehnlich können auch bei den Kriegstänzen die Frauen für ihre
Männer eintreten, zum Beweis, daß jene wenigstens in erster Linie
nicht etwa den Sinn und Zweck haben, einen Sieg zu feiern oder
sich vor dem Kampfe zu ihm zu begeistern; es handelt sich vielmehr
auch hier um Nachahmung eines Verhaltens, die dieselbe Wirkung
haben soll, wie dieses selbst. Und deshalb können dieses Verhalten
eben auch die Frauen zeigen, vielleicht nachdem sie sich vorher als
Männer verkleidet haben. |
Männer und Frauen in gleicher Weise können Regen hervor-
bringen, entweder — und dies ist die verbreitetste Form, die sich
auch bei den Griechen noch fand, — dadurch, daß sie Wasser herum-
spritzen, oder dadurch, daß sie zunächst einmal (durch Rauchen)
Wolken oder durch Nachahmung von Blitz und Donner ein Gewitter
herbeiführen. Dabei wird manchmal Ursache und Wirkung ver-
wechselt, wie das dem Primitiven und dem Ungebildeten oder Kinde
ja noch jetzt begegnet. Vierka n dt?) erzählt in dieser Beziehung:
»Den Wind erklärte sich ein Kind durch das Hin- und Herschaukeln
zweier großer Ulmen vor seiner Wohnung. Ein Mädchen glaubte
den Wind zum Stillstand zu bringen, indem es seine Mutter, deren
Haare von ihm zerzaust waren, aufforderte, sie wieder in Ordnung
zu bringen, und vermeinte ebenso, den Regen aufhören zu machen,
indem es seine von ihm benetzten Haare von der Mutter sich ab-
trocknen ließ.« Aehnlich streuen die Dieyerie Gips ins Wasser, so
daß sich nicht mehr der blaue Himmel in ihm spiegelt; denn sie
1) Vgl. auch Dieterich, Mutter Erde 1905. 2 1913, 99.
2) Die Anfänge der Religion und Zauberei, Globus 92, 1907, 44 í.
134 I. Abhandlungen,
meinen, dann würde er ebenso trübe werden und sich mit Wolken
überziehen. `
Schließen wir daran die eigentlichen Fruchtbarkeitszauber an,
so ist die Verstärkung der vegetativen und animalischen Fruchtbar-
keit durch die eigene, die Kräftigung der Sonne durch Feueranzün-
den oder (bei Sonnenfinsternissen) durch Abschießen brennender
Pfeile, wie sie der Primitive für möglich hält, in seinen Augen etwas
durchaus Natürliches und also nicht als Zauber zu bezeichnen. Wohl
aber handelt es sich um einen solchen, wenn man die Geburt eines
Kindes dadurch herbeiführen oder wenigstens erleichtern zu können
glaubt, daß man sie nachahmt; ja man tut das auch, wenn es sich
um die Wiedergeburt handelt, als die man vielfach die Mannbar-
werdung bezeichnet. Aehnlich glaubt man das Wachstum und das
Hin- und Herwehen des Getreides dadurch befördern zu können,
daß man in die Höhe springt oder sich möglichst hoch stellt oder den
Sack mit dem Samen hin- und herschwingen läßt oder sich selbst
schaukelt. Dieser Brauch hat allerdings manchmal vielmehr den
Zweck, zu bewirken, daß die Sonne wieder höher steigt bzw. daß sie
auch nach dem Sommersolstitium noch ebenso hoch steigt wie früher
— das geht daraus hervor, daß er besonders zur Zeit der Winter-
und Sommersonnenwende geübt wurde oder wird. Andererseits
den täglichen Umlauf der Sonne glaubte man in Japan ursprünglich
durch Drehung eines Rades von Osten nach Westen bewirken zu
können; später sind aus diesen Sonnenrädern sog. Gebetsräder ge-
worden, d. h. man hat auf sie Gebete geschrieben und meint, wenn
man nun die Räder umdreht, so sei das so gut, wie wenn man die
Gebete ebensooft wiederhole. Auch die sog. circumambulatio, wie
wir sie bei den verschiedensten Völkern finden‘), die Umwandlung
von rechts vornherum nach links, also in der Richtung, in der auf der
nördlichen Halbkugel scheinbar die Sonne ihre Bahn beschreibt
und in der sich deshalb auch die Zeiger unserer Uhren drehen, hat
gewiß ursprünglich den Sinn, die Bewegung der Sonne zu bewirken;
später hat man vielmehr angenommen, daß man durch eine solche
Umwandlung zunächst vielleicht sich selbst und dann dem Betref-
fenden auch die Kräfte der Sonne oder überhaupt Heil zuwenden
könnte, ebenso wie durch Umwandlung in der entgegengesetzten
Richtung Unheil. Ja in der Südsce meint man hier und da, auch
die Sonne selbst in ihrem Lauf aufhalten zu können, wenn man aus
ı) Vgl. Gobletd’Alviella, Circumambulation, ERE. III, 657 ff; Hille-
brandt, The Practice of Circumambulation, Exp. T. 22, 1911, 420 ff.; Upright,
Circumambulation, ebd. 563 f.
Clemen, Wesen und Ursprung der Magie. 135
Gras eine Schlinge macht, ebenso wie man sonst durch Schürzung
eines Knotens eine Bewegung zu verhindern sucht — aber auf alles
das kann ich nicht näher eingehen. Ich erwähne zum Schluß noch
den Sonnenzauber, aus dem, wenigstens zum Teil, das Ballspiel
hervorgegangen ist: man wirft den Ball von Osten nach Westen, da-
mit die Sonne den gleichen Weg vollenden kann.
Auch andere Spiele haben ursprünglich einen magischen Sinn;
vor allem aber hat die Magie, wenn sie auch selbst nach dem Früheren
nur als die Bastardschwester der Wissenschaft zu bezeichnen ist,
doch vielfach zur Ausbildung von dieser geführt. Der Glaube an
geheimnisvolle Kräfte, die von den Dingen ausgehen sollten, hat
deren tatsächliche Kräfte entdecken lassen; so sind namentlich die
Chemie und ein Teil der Medizin aus der Magie hervorgegangen.
Weiterhin ist die Kunst z. T. magischen Ursprungs; manche Tänze
und Aufführungen dienten von Haus aus zauberischen Zwecken).
Und wie steht es endlich, um zum Anfang unserer Ueberlegungen
zurückzukehren, mit dem Verhältnis der Magie zur Religion ?
Wir fanden, daß den Gegensatz zur Magie nicht die Religion, son-
dern die anderen Verhaltungsweisen gegenüber den höheren Mächten,
namentlich der Kultus im weiteren Sinne des Wortes bilde; wir
sahen auch, daß ursprünglich keine Seele, sondern nur Kräfte im
Menschen und in den Dingen angenommen worden sind, und müssen
daraus schließen, daß die Magie, die es auch mit solchen Kräften zu
tun hat, im Grunde älter ist, als der Kultus, der beseelte Wesen
voraussetzt. Aber wie steht es nun um das Verhältnis der Magie
zur Religion selbst? Ist alles das, wovon hier die Rede gewesen ist,
wirklich schon als Religion zu bezeichnen? Man kann in dieser Be-
ziehung wirklich zweifelhaft sein; aber wenn man nun reine Magie
und Religion zu trennen unternimmt, dann wird man kaum eine
Grenze ziehen können, und wenn die Religion der Befriedigung des
Anspruchs auf Leben dient, den die Umwelt nicht unmittelbar er-
füllt, dann wird man auch die ganze Magie zu ihr rechnen müssen.
Nur begreift man es, daß die Religion, später wenigstens, einen Teil
der Magie verworfen hat — und so ist diejenige Auffassung von
ihr entstanden, von der wir ausgingen, die sich aber eben nicht
halten ließ.
1) Noch weitere segensreiche Folgen des magischen Aberglaubens behandelt
Frazer, Psyche’s Task 1907. ? 1913.
136 I. Abbandlungen.
Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie.
Von
Pfarrer Dr. Wilhelm Stählin in Nürnberg.
Die nachstehenden Ausführungen sind im wesentlichen die Wiedergabe eines
Vortrags, den ich am 15. April 1914 auf der Versammlung der Freunde der Christ-
lichen Welt in Nürnberg gehalten habe. Der Vortrag ist in seiner ursprünglichen
Form in der sChristlichen Welt« Nr. 30, 31, 32 vom 23. Juli, 30. Juli, 6. August 1914
erschienen und damals, wie es nicht anders sein konnte, in dem großen und erschüttern-
den Geschehen untergegangen. Ich hatte die Absicht, die hier kurz angedeuteten Er-
scheinungsformen des religiösen Wahrheitsanspruchs auf breiter Grundlage an den
verschiedenen großen geschichtlichen Typen aufzuzeigen; dazu bin ich heute außer-
stande. Aber die Frage selbst zu stellen und die möglichen Wege ihrer Beantwortung
zu zeigen, erscheint mir heute erst recht notwendig. Nähere Beschäftigung mit der
Phänomenologie, zu der mich die Kriegsjahre in seltsamer Verknüpfung geführt ha-
ben, konnte mir nur das Recht und die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung
bestätigen, die man heute vielleicht eine phänomenologische zu nennen geneigt wäre.
Den Gedankengang mit gelehrten Auseinandersetzungen zu belasten, verbot der
knappe in diesem Band zur Verfügung stehende Raum.
Es soll die Frage erörtert werden, obundin welchem
Sinn die Wahrheitsfrage Gegenstand der reli-
gionspsychologischen Untersuchungseinkann
und sein muß. Zunächst bestand unter den religionspsycholo-
gischen Forschern eine seltene Einmütigkeit in dem negativen Grund-
satz, daß die Wahrheitsfrage vollkommen außerhalb der Aufgaben
und Möglichkeiten der Religionspsychologie liege. Demgegenüber
hat, wie bekannt, G. Wobbermin !) die entgegengesetzte These ver-
treten: Die Wahrheitsfrage gehöre in die Religionspsychologie hinein,
und gerade dies sei der Hauptfehler der bisherigen Religionspsycho-
logie, die wesentliche Ursache ihrer Unfruchtbarkeit, daß sie die
Wahrheitsfrage aus ihrem Betrieb ausgeschaltet hat. — Esist notwen-
dig vor allem vollkommene Klarheit zu schaffen darüber, was mit
der Wahrheitsfrage gemeint sein soll. Niemand wird darunter zu-
nächst etwas andres verstehen als die Frage nach der Wahrheit der
Religion. Dies ist natürlich in gewissem Sinn die Kardinalfrage der
1) Vgl. die Auseinandersetzung mit G. Wobbermin im ı. Bd. dieses Archivs
S. 279 ff. und die sich daran schließende Diskussion in dem vorliegenden Band.
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 137.
Religion: Ist das wahr, was in der Religion, richtiger: in einer be-
stimmten Religion, geglaubt wird? Sind die Gegenstände, von denen
das fromme Gemüt redet, etwas wirklich Existierendes, oder sind sie
nur Gebilde einer frommen Phantasie? Ist die Geltung berechtigt,
die die Religion für ihre Weltbetrachtung und Lebensdeutung bean-
sprucht ? Das ist die Wahrheitsfrage der Religion. Wer sie überhaupt
stellt, wird sie für die weitaus wichtigste Frage halten, die in bezug
auf die Religion überhaupt gestellt werden kann. Aber es ist eine
Frage, die vollkommen außerhalb der psychologischen Betrachtungs-
weise liegt. »Wahr« und »falsch«: das ist eine Unterscheidung, die
innerhalb der Psychologie überhaupt keinen Sinn hat. Ob unsre
Sinneswahrnehmungen richtig sind, ob ihnen reale Gegenstände ent-
sprechen, ob diese diejenigen Qualitäten wirklich besitzen, die wir
an ihnen wahrzunehmen glauben, das ist keinesfalls in unserem Be-
wußtsein zu konstatieren, ist also nicht Gegenstand der Psychologie.
Die Wahrheit unserer Ueberzeugungen, die Geltung unserer Erleb-
nisse ist selbst nicht ein Merkmal des psychischen Erlebens.
Es taucht immer wieder das Mißverständnis auf, als ob die Re-
ligionspsychologie diese Wahrheitsfrage in einer Art Geringschätzung
beiseite schiebe. Man wirft ihr vor, sie mache alles zum subjektiven
Erlebnis, zu einer innermenschlichen Angelegenheit und raube damit
der Religion ihren eigentlichen Wert; denn die Religion lebe ja von
ihrer Wahrheit. Das ist natürlich Unsinn. Wenn es einzelne Religions-
psychologen gibt, die einem solchen Psychologismus huldigen, so darf
man für einen solchen Mangel an erkenntnistheoretischer Besinnung
nicht die Religionspsychologie überhaupt verantwortlich machen.
Die Religionspsychologie kann einfach in dieser Frage weder Ja noch
Nein sagen. Sie gibt vollkommen zu, daß ein klares Ja oder Nein
auf diese Frage viel wichtiger und interessanter wäre als alles, was sie
selbst, die Religionspsychologie, untersuchen kann; aber sie kann
gar nicht anders als sich in der ganzen Frage nach der Wahrheit der
Religion für vollkommen inkompetent erklären, weil die Untersu-
chung menschlicher Seelenvorgänge und Erlebensweisen niemals
eine Antwort auf diese Frage gestattet. DieWahrheitsfrage
gehört in die Religionspsychologie nicht hin-
ein.
Es sei denn, daß das Wort Wahrheitsfrage etwas vollkommen
andres bezeichnen soll, als die Frage nach der Wahrheit der Religion.
Wobbermin hat seine These, daß die Religionspsychologie die Wahr-
heitsfrage nicht ausschalten dürfe, mit einem eigentümlichen Argu-
ment begrünflet. Die Wahrheitsfrage, oder richtiger der Wahrheits-
138 I. Abhandlungen.
anspruch, spiele in jeder Religion eine ausschlaggebende Rolle; der
Anspruch, Wahrheit zu besitzen, sei ein wesentliches Merkmal jedes
religiösen Bewußtseins. Also müsse auch die Religionspsychologie,
wenn sie wirklich Religions psychologie sein wolle, sich mit der
Wahrheitsfrage beschäftigen.
Dieser Gedankengang kann nur den berechtigten Sinn haben,
daß die Religionspsychologie die Wahrheitsfrage, wie sie in der Re-
ligion selbst aufgeworfen wird, den Wahrheitsanspruch, den die Re-
ligion tatsächlich erhebt, in den Kreis ihrer Untersuchung einbeziehen
muß. Sie ginge an einem wichtigen Bestandteil der Religion, an
einem wesentlichen Stück ihrer psychischen Wirklichkeit vorbei,
wenn sie sich dieser Aufgabe entziehen wollte. Aber sie untersucht
den Wahrheitsanspruch als ein psychisches Phänomen. Sie besinnt
sich auf das Wesen dieses Anspruchs, ohne sein Recht und seine Gel-
tung prüfen zu können. Sie sieht sich vor die Tatsache gestellt, daß
religiöse Menschen von Wahrheit reden, daß ein frommer Glaube
beansprucht, wahr zu sein, daß die religiöse Ueberzeugung von ihrer
eignen Richtigkeit und Allgemeingültigkeit durchdrungen ist. Ob
diese Ansprüche berechtigt sind, das kann die Religionspsychologie
nicht entscheiden. Aber diese Ansprüche selbst — ganz abgesehen
von ihrer Berechtigung — sind Gegenstand religionspsychologischer
Betrachtung. Es liegt mir alles daran, diese Fragestellung in ihrem
Unterschied von jeder religionsphilosophischen oder dogmatischen
Fragestellung so klar als möglich hervortreten zu lassen. Man muß sich
einmal vollkommen frei machen von dem eigenen religiösen Wahr-
heitsinteresse, von der Frage, ob diese oder jene Religion wahr sei,
ob es dies oder jenes Objekt des Glaubens wirklich gebe. Das mögen
ungeheuer wichtige Fragen sein; aber daneben oder vielmehr davor
erheben sich Fragen ganz andrer Art, psychologische Fragen nach
der Natur dieses Wahrheitsinteresses. Wir besinnen uns auch nicht
über die Rolle der Ueberzeugungen in dem gesamten Komplex des
religiösen Bewußtseins; wir setzen diese Rolle einfach voraus, oder
vielmehr, wir lassen es dahingestellt, welche Rolle die Ueberzeu-
gungen überhaupt spielen; wir lassen auch die überaus wichtige Frage
ganz beiseite, worauf sich denn die starke Sicherheit, die allen Zwei-
feln überlegene Gewißheit gründet, mit der der Fromme seine Glau-
bensüberzeugung hat und ausspricht; wir gehen lediglich der Frage
nach, wie, psychologisch betrachtet, das Wahrheitsinteresse oder der
Wahrheitsanspruch aussieht, der den religiösen Ueberzeugungen —
angeblich oder wirklich innewohnt. Wenn wir das religiöse Bewußt-
sein analysieren, stoßen wir da auf so etwas Aehnliches wfe eine Wahr-
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie, 139
heitsfrage oder ein Wahrheitsintercsse oder einen Wahrheitsanspruch ?
Wie sieht diese Seite des religiösen Bewußtseins im einzelnen aus?
Wie läßt sie sich beschreiben ? Was ist mit »Wahrheit« hier eigentlich
gemeint ? Ist dieser Anspruch Wahrheit zu besitzen und zu vertreten
eine eindeutige, sich gleichbleibende, in allen Religionen in gleicher
Weise wiederkehrende Größe? Oder gibt es hier verschiedene For-
men und Typen ? Entspricht das Bild, das uns üblicherweise von dem
»Wahrheitsanspruch der Religion« gezeichnet wird, der Wirklichkeit ?
Welche Rolle spielen die hieher gehörigen Bewußtseinstatsachen im
Ganzen des religiösen Bewußtseins? Stehen sie im Vordergrund ?
Gibt es hier feste Regeln, oder kann diese Rolle in verschiedenen Re-
ligionen eine verschiedene scin? Welche Veränderung erleidet das
Ganze des religiösen Bewußtseins, wenn dieser Wahrheitsanspruch
anders geartet ist, oder wenn er gänzlich fehlt ? Und eine neue Kette
von Fragen schließt sich an, sobald wir die inhaltliche Seite dieses
Wahrheitsanspruchs, wie billig, ins Auge fassen (eine Frage, die ge-
rade auch, bei Wobbermin im Vordergrund des Interesses steht, die
aber bei der gegenwärtigen Untersuchung bewußt beiseite gesetzt
wird): Wofür wird denn eigentlich ein solcher Wahrheitsanspruch
erhoben ? Die psychologische Aufgabe ist dabei eine doppelte. Wir
haben zunächst einfach die Wirklichkeit zu sehen und zu beobachten.
Wir haben festzustellen und zu beschreiben, welche psychischen Vor-
gänge, Verhaltungsweisen, Einstellungen da und dort gemeint werden,
wenn geredet wird von einem »Wahrheitsanspruch« Diese Aufgabe
einer Deskription ist weitaus die wichtigste. Erst dann können wir
an die zweite Aufgabe herantreten, festzustellen, ob es etwa regel-
mäßige Zusammenhänge, Beziehungen, Korrelationen zwischen be-
stimmten Formen des Wahrheitsanspruchs und bestimmten Reli-
gionsformen gibt. Aber es ist gar nicht von vornherein ausgemacht,
ob es solche Gesetzmäßigkeiten überhaupt geben kann.
Hier also liegt der Umkreis von Problemen, in welchen sich die
Religionspsychologie durch den Wahrheitsanspruch der Religion ge-
führt sieht. Zur Beantwortung bieten dem durch Selbstbeobachtung
geschärften und verfeinerten Auge des Forschers die religiösen Doku-
mente aller Zeiten eine unendliche Fülle von Material. — Nur wird
man es nicht rechtfertigen können, diesen Problemkreis als »Wahr-
heitsfrage« zu bezeichnen. Zunächst einfach darum, weil das Wort
»Wahrheitsfrage« alsbald zu der Frage nach der Wahrheit der Reli-
gion hinübergleiten läßt, also in ein Gebiet, das ganz außerhalb aller
Psychologie bleibt und bleiben muß. Aber das Wort wirkt auch
darum irreführend, weil — wovon später mehr wird geredet werden
140 I. Abhandlungen.
müssen — das religiöse Bewußtsein normalerweise nicht nach Wahr-
heit fragt, sondern die Wahrheit zu haben beansprucht.
Der Ausdruck »die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie«
nimmt dadurch einen paradoxen Sinn an. An die Spitze unsrer
Ueberlegungen gestellt, soll er zeigen, daß es ein verkehrtes und un-
berechtigtes Schlagwort ist; aber ich glaube das Richtige, die innerste
Tendenz dieses Schlagworts zu treffen, wenn ich wiederhole: Die
ReligionspsychologiehatmitallerEnergieden
WahrheitsanspruchderReligioninderMannig-
faltigkeit seiner psychischen Verwirklichung
zuuntersuchen!).
Diese Fragestellung ist im großen und ganzen ziemlich neu.
Man braucht nur irgendein Buch über das religiöse Erkenntnis-
problem aufzuschlagen — man wird sehr eingehende Erörterungen
über den Erkenntniswert der religiösen Erfahrung, über Glaube und
Wissen, über die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Verteidigung
der religiösen Ueberzeugung oder die Möglichkeit einer außerwissen-
schaftlichen Wahrheitserkenntnis, mit einem Wort, über die Wahr-
heitsfrage finden. Aber kaum irgendwo ist die Frage auch nur auf-
geworfen, geschweige denn beantwortet, wie denn eigentlich »der
Wahrheitsanspruch der Religion tatsachlicha — ich wiederhole tat-
sächlich, abgesehen von seinem Recht — beschaffen ist 2).
Der vorliegende, tastende Versuch, diese Dinge näher kennenzu -
lernen, untersteht der schärfsten Kritik. Hier wird nur unternom-
men, einmal die Frage selbst so klar als möglich zu stellen und anzu-
deuten, in welcher Weise etwa die Religionspsychologie sich dieses
ihres neuen Gegenstandes bemächtigen könnte.
Eine letzte Vorbemerkung kann ich nicht unterdrücken. »Wahr-
heit« ist ein ganz außerordentlich stark gefühlsbetontes Wort, ein
Wort, das sozusagen einen Heiligenschein um sich hat. Solche Wörter
1) Wobbermin scheint in seiner Erwiderung (vgl. S. 200 ff. dieses Bandes) neben
dem Wahrheitsinteresse des untersuchten religiösen Bewußtseins und dem des unter-
suchenden Theologen etwas Drittes, nämlich das Wahrheitsinteresse als solches für
das Wesentliche zu erklären. Aber gibt es solches Interesse, das nur ein Interesse an
etwas, aber eigentlich nicht das Interesse irgend jemandes ist? Meinen Nachweis,
wie sehr sich bei W. eben das Wahrheitsinteresse des systematischen Theologen in die
Untersuchung eingeschoben und das Ergebnis der ganzen Analyse gefärbt hat, hat
W. zu widerlegen gar nicht versucht.
2) Eines der wenigen Bücher, in denen die Untersuchung dieser Tatbestände
ernstlich in Angriff genommen wird, ist H. Maiers »Psychologie des emotionalen
Denkenss, auf deren ausführliche Besprechung in diesem Bande ich ausdrücklich
verweise. Unsere Fragestellung liegt aber ganz auf der Linie der phänomenologischen
Untersuchungen und ich erwarte, daß von dort her das hier aufgeworfene Problem
eine entscheidende Klärung erfahren wird.
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 141
sind fiir wissenschaftliche Auseinandersetzungen gefährlich. Unwill-
kürlich sträuben wir uns dagegen, sie genau unter die Lupe zu neh“
men und ihnen ihren Nimbus zu rauben. Es klingt fiir viele Ohren
fiivol, wenn man so nüchtern als möglich fragt: Was soll Wahr-
heit bedeuten? Aber wer die psychische Wirklichkeit in scharfer
Beleuchtung, statt in einem künstlichen Dämmerlicht sehen will, der
muß stets sein Augenmerk darauf richten, was für verschiedene Tat-
bestände sich hinter diesem nur scheinbar klaren Terminus »Wahr-
heitsanspruch« verbergen. In der Tat sind es sehr verschiedene und
verschiedenartige psychische Verhaltungsweisen, die man unter dem
Sammelnamen »Wahrheitsanspruch« zusammenzufassen gewohnt ist.
Ich meine fünf Gruppen unterscheiden zu können.
I.
Wenn man von einem Wahrheitsanspruch der Religion redet,
so wird man meist die Tatsache im Auge haben, daß der religiöse
Glaube von der Wirklichkeit seiner Gegen-
stände überzeugt ist. Wer an Gott glaubt, der ist selbst-
verständlich überzeugt, daß es einen Gott gibt. Wer überhaupt reli-
giöse Vorstellungen hat, ist dessen selbstverständlich gewiß, daß mit
diesen Vorstellungen etwas Wirkliches gemeint ist }). |
Und doch wäre es — psychologisch betrachtet — nicht richtig
zu sagen, daß das religiöse Bewußtsein die Realität seiner Gegen-
stände behaupte. Es setzt vielmehr diese Realität stets und unbedingt
voraus. Es ist für den Religiösen etwas ganz Selbstverständliches,
daß der Geist, vor dem er sich fürchtet, der Gott, dem er vertraut,
der Himmel, auf den er wartet, der Teufel, den er bekämpft, daß das
»etwas« ist. Wenn man etwa Messers Schilderung des naiven Realis-
mus (Erkenntnistheorie S. 41 ff.) liest, so gewinnt man zugleich ein
durchaus angemessenes Bild des religiösen Realismus. Es besteht in
der Tat eine vollkommene Analogie zum naiven Realismus, mit wel-
chem der Mensch, sofern er nicht gerade Erkenntnistheorie treibt,
den Dingen der Außenwelt gegeniibersteht. Er rechnet mit
ihnen als mit wirklichen Dingen; er weiß, daß er mit
ihnen rechnen darf und rechnen muß. Wir rechnen mit der Wand,
indem wir uns an sie lehnen, oder indem wir es vermeiden mit dem
Kopf gegen sie zu rennen; wir rechnen mit der Speise, durch die wir
1) Das vieldeutige Wort »Vorstellungene suche ich in diesem Zusammenhang
möglichst zu vermeiden. Wo ich es gebrauche, sind darunter selbstverständlich nicht
nur sinnliche (visuelle) Repräsentationen dessen, woran geglaubt wird, sondern alle
Gegenstände überhaupt verstanden, auf die sich der Glaube richtet.
142 I. Abhandlungen.
unserm Körper neue Kraft zuführen können; wir rechnen mit dem
Ton und dem Laut, durch die wir unsren Gemütszuständen Ausdruck
verleihen und uns miteinander verständigen können; wir rechnen mit
allen diesen und tausend anderen Dingen als mit wirklichen Dingen,
— aber es fällt uns gar nicht ein, ihre Existenz zu behaupten. Ganz
ähnlich scheint mir die Art zu sein, wie das religiöse Bewußtsein seine
Gegenstände als wirkliche Dinge voraussetzt, mit denen man rechnen
muß und rechnen darf. Gerade auch in diesem erkenntnistheoreti-
schen Sinn ist es eine völlig zutreffende Beschreibung des religiösen
Realismus, wenn gelegentlich gesagt worden ist, »glauben« heiße auf
Gott rechnen und mit Gott rechnen. Die Realität der Gegenstände
ist für den frommen Glauben so wenig wie für den »naiven Realismus«
in seiner Stellung zu den Dingen der Außenwelt ein eigener Bewußt-
seinsinhalt. Wir haben nicht 1. die Ueberzeugung, daß es einen Gott
gibt und 2. die Gewißheit, daß wir uns auf diesen Gott verlassen
dürfen oder in irgendeiner anderen Beziehung zu ihm stehen; sondern
wir vertrauen dem Gott, über dessen Wirklichkeit wir uns gar nicht
erst Gedanken machen. Es ruht auf instinktiver psychologischer
Einsicht, wenn Luther in seinem Kleinen Katechismus den Glauben
nicht mit Aussagen über Gottes Dasein, sondern mit der ganz per-
sönlichen Aussage erläutert: »Ich glaube, daß mich Gott geschaffen
hat... .« H. Maier hat diesen Tatbestand so formuliert: »Kein
Existenzialurteil über Gott, sondern ein Urteil, in welchem Gott
als wirklich gedacht wird« (S. 504). Anders ausgedrückt: Dem Glau-
ben sind seine Gegenstände unmittelbar gewiß; sie werden von ihm
als wirklich vorausgesetzt. Die Objektivierung (Maier), die »Reali-
sierung« (Külpe) ist in jeder religiösen Vorstellung schon enthalten,
der Satz von der Realität (das Existenzialurteil) ist nicht ein Bestand-
teil des unmittelbaren religiösen Glaubens !).
Aber wird dann nicht doch ausdrücklich das Recht dieser Vor-
aussetzung. untersucht und die Realität der religiösen Gegenstände
behauptet? Gewiß, aber das kann nur dann geschehen, wenn über-
haupt die Möglichkeit ihrer Nichtexistenz in Betracht gezogen worden
ist. Solche Fragen stellt das erkennende Denken, aber nicht das
religiöse Bewußtsein. Allerdings, wenn einmal diese Frage aufge-
taucht ist, dann wird sich der Glaube dessen bewußt, was er bisher
als unmittelbar gewiß hingenommen, und er bejaht und behauptet
ı) Das gleiche hat Wundt für das mythologische Denken nachgewiesen: »Das
ist die Eigenschaft aller ursprünglichen mythologischen Vorstellungen, als unmittel-
bar gegebene Wirklichkeit zu erscheinene (Völkerpsychologie II, Mythus und Reli-
gion S. 70).
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 143
bewußt, was er bisher als selbstverständlich vorausgesetzt hat. Aber
auch dann ist seine Art, den Realitätscharakter zu behaupten, eine
völlig andre, als wenn etwa das wissenschaftliche Denken in der Me-
taphysik zur Bejahung einer transzendenten Wirklichkeit empor-
steigt. Mühsam und vorsichtig, sich in jedem Augenblick jedem mög-
lichen Zweifel offen haltend, klimmt das Denken von Stufe zu Stufe
weiter empor und wagt es schließlich, die Existenz Gottes als eine
immerhin unanfechtbare Hypothese zu empfehlen oder den Theismus
als die wahrscheinlichste und beste Metaphysik zu proklamieren.
Man muß sich darüber klar sein, daß solche Existenzialurteile psy-
chisch völlig anders aussehen, als wenn der Glaube sich auf die an-
gefochtene Wirklichkeit seines Gottes und seines Himmels besinnt.
Man braucht nur etwa die betreffenden Stücke in irgendeinem Lehr-
buch der Philosophie mit den Reden des Propheten Jesaja zu ver-
gleichen, um diesen Unterschied zu spüren. Unsre These trifft also
vollkommen zusammen mit dem biblischen Gedanken, daß die Be-
hauptung der Realität Gottes keine Aussage des frommen Bewußt-
seins ist (vgl. Jak. 2, 19). Beweise für das Dasein Gottes sind eben
deswegen kein religiöses, sondern ein theologisches oder religions-
philosophisches Interesse. Erst das Bedürfnis nach Auseinander-
setzung mit anderen Zweigen des menschlichen Geisteslebens und das
Bedürfnis, die religiöse Position vor dem Forum der wissenschaft-
lichen Betrachtungsweise zu rechtfertigen, die unausweichliche Not-
wendigkeit, die religiösen Vorstellungen in das Gesamtbild des Wirk-
lichen einzuordnen, geben einen Anlaß, von der Realität der religiösen
Objekte zu reden. Der ganze Begriff der Realität ist nicht ın der
lebendigen Frömmigkeit, sondern in der erkenntnistheoretischen Be-
sinnung daheim. Seine Anwendung auf Gegenstände des religiösen
Glaubens bedeutet immer eine uerdßaoıs eis dAAo yévoç.
Wenn man sich dies klargemacht hat, so wird man mit viel
größerer Unbefangenheit der Frage nachgehen, ob das religiöse Be-
wußtsein unter allen Umständen diesen gegenständlichen Charakter
hat und von diesem selbstverständlichen Objektivierungsakt begleitet
ist, oder ob es Ausnahmen von dieser Regel gibt. Werden in jeder
Art von Religion »Gegenstände als wirklich vorausgesetzt«?
Hierbei sind zwei Dinge auseinanderzuhalten.
Wenn die Gegenstände des Glaubens ausdrücklich als nicht-
existierend, als Erzeugnisse des menschlichen Geistes, als bloße
Phantasieprodukte aufgefaßt werden, so verliert mit innerer Not-
wendigkeit der Gedanke an diese Gegenstände jenen Ernst und jene
Wirkungskraft, die sie in der lebendigen Frömmigkeit haben. Eben
144 I. Abhandlungen.
an diesem Punkt liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem
religiösen und dem ästhetischen Verhalten. Der ästhetische Genuß
ist nicht nur gleichgültig gegenüber der Frage nach der Existenz der
von der Phantasie ergriffenen Gegenstände, sondern er lebt gerade
davon, daß er seine Welt eben nicht einordnet in die Wirklichkeits-
welt. Das herabgeminderte Wirklichkeitsgefühl, die Ausschaltung
des Objektivierungszeichens (vgl. die hierher gehörigen Abschnitte in
Volkelts Aesthetik) ist geradezu ein wesentliches Merkmal des ästhe-
tischen Verhaltens. Darum kann auch der »Ungläubige« stimmungs-
volle Gottesdienste künstlerisch erleben, weil er es ganz und gar
unterläßt, nach der »Wirklichkeit« der Gegenstände zu fragen, denen
diese Andacht gilt. Das eben ist das Unkünstlerische an dem religiö-
sen Verhalten, daß es seine Gegenstände ernst nimmt und mit ihnen
rechnet; es ist ihm unerträglich, die Glaubensvorstellungen anzu-
sehen als Erzeugnisse der schaffenden Phantasie, als Fiktionen, die
man nur zu bestimmtem Zweck behandelt, als ob sie mehr und an-
deres wären. Der »Illusionismus« verträgt sich nicht mit dem religiö-
sen Gefühl. Das ist so selbstverständlich, daß ein Beweis kaum
nötig ist. |
Und doch scheint es seltene Ausnahmen zu geben, Menschen,
die ein warmes religiöses Gefühl mit einem klar ausgesprochenen
theoretischen Unglauben zu verbinden vermögen. Sie fühlen sich,
wenn ihr Verstand sie vor die Frage nach der Existenz der religiösen
Gegenstände stellt, gezwungen ihren eignen Glauben als Illusion auf-
zufassen, aber sie rechnen mit den Gegenständen ihres Glaubens, als
ob sie wirklich vorhanden wären und ihr Herz hängt mit inniger
Wärme an den gleichen Objekten, an die sie gar nicht zu »glauben«
vorgeben. Diese eigentümliche und zwiespältige Verhaltungsweise
ist wie alle hierher gehörigen Erscheinungen noch kaum näher er-
forscht und untersucht worden. Es scheint sich um Menschen zu
handeln, bei denen ein stark entwickeltes theoretisches Denken doch
keineswegs das gesamte Lebensgebiet zu beherrschen vermag, bei
denen, um mit H. Maier zu reden, das kognitive und das emotionale
Denken weithin seine besonderen Wege geht; cin seltsamer Beleg
dafür, wie starke Widersprüche der Mensch gerade auf diesem zentral-
sten Gebiet des Lebens verträgt (wovon in späterem Zusammenhang
mehr zu sagen sein wird). Aber in jedem Fall handelt es sich hier
um seltene Ausnahmeerscheinungen, und es ist erst die Frage, ob sie
von dauerndem Bestand sein können. Aufs Ganze gesehen, ist es
sicherlich verkehrt, wenn man in dem normalen religiösen Bewußt-
sein dieses »Als ob« des Illusionismus als feststehendes Merkmal, als
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 145
eigentliches Wesen des frommen Glaubens finden wollte. Das genaue |
Gegenteil ist der Fall. Ist einmal die Frage nach der Existenz der
Glaubensgegenstände aufgeworfen, so findet sich der Glaube in leiden-
schaftlichem Gegensatz ebenso zu der Illusion des ästhetischen Ver-
haltens wie zu der Fiktion reflektierender Skepsis und behauptet mit
Nachdruck, was er als selbstverständlich vorausgesetzt hat: »Es gibt
einen Gott«.
Viel wichtiger ist das andre: das religiöse Bewußt-
sein ist überhaupt nicht immer »gegenständ-
lich«orientiert. Wir haben bisher vorausgesetzt, daß es dem
religiösen Verhalten wesentlich sei, an bestimmte Gegenstände zu
glauben, diese seine Vorstellungen ernst zu nehmen und mit ihrer
Wirklichkeit selbstverständlich zu rechnen. Aber eben dies ist
durchaus nicht immer der Fall. Neben den Akten des Gegenstands-
bewußtseins gibt es eine zuständliche Bewußtseinsform (wobei da-
hingestellt bleibe, ob diese ohne weiteres mit dem Gefühl gleichgesetzt
werden darf). Nicht als ob Gegenstände des Glaubens geleugnet oder
als Illusion angesehen würden, aber es spielen überhaupt solche Ge-
genstände keine entscheidende Rolle. Der eigene Gemütszustand ist
allein im Bewußtsein; starke Gefühlserlebnisse sind vorhanden, ohne
daß man sie eigentlich als Gefühle »an etwas« oder »über etwas« erlebt.
Man kann natürlich logisch nachweisen, daß jedes Gefühl, selbst jede
Gefühlsrichtung, irgendein Gefühlsobjekt zum Korrelat hat, und
kann mit Berufung darauf auch aus den Aeußerungen gefühlsbe-
stimmter Frömmigkeit, »den theoretischen Gehalt des Glaubens« zu
erheben versuchen (vgl. H. Maier S. 254 ff.; Messer, Erkenntnis-
theorie S. 166 ff.), aber die psychologische Beobachtung läßt uns an
‘der Tatsache nicht vorübereilen, daß eben in bestimmten Frömmig-
keitstypen dieser theoretische Gehalt, diese Gegenständlichkeit so
gut wie keine Rolle spielt. Das ist namentlich das Gepräge aller
Mystik. Hier ist immer wieder eine Tendenz lebendig gewesen, die
Gegenstände des Glaubens möglichst in einem Nebel der Unbestimmt-
heit verschwimmen zu lassen; man hat sie durch sublime und farblose,
durch rein negative oder widerspruchsvolle Prädikate aller Gegen-
ständlichkeit entkleidet und gerade darauf ganz verzichtet, irgend-
welche geglaubten Gegenstände in die Wirklichkeitswelt einzuord-
nen. Oder wie sollte ein Gott, der die namenlose Nichtigkeit ist
(Suso) mit irgendwelchen Gegenständen zusammengebracht wer-
den? Statt vieler Beispiele, wie sie etwa bei Meister Eckehart oder
irgendeinem anderen Mystiker in reichster Auswahl zu finden wären,
nur eine Stelle aus Bhagavadgita IX, 16 ff.:
Archiv für Religionspsychologie II/JIIL 10
146 I. Abhandlungen.
»Ich bin das Opfer, Gottesdienst, der Manen Trank, das heilige Kraut,
Das Opferlied, das Opferschmalz, das Feuer und die Spende ich!
Ich bin der Vater dieser Welt, bin Mutter, Schöpfer, Ahnherr auch,
Bin Lehre, Läuterung, heilges Ohm, bin Rik, Säman und Yaius auch,
Weg, Erhalter, Herrscher, Zeuge, Wohnort, Zuflucht und guter
Freund,
Ursprung, Vergehen, fester Stand, der Schatz, der ewge Same auch.
Ich bin Unsterblichkeit und Tod, bin Sein und Nicht-Sein.
Was hat es gegenüber solchen Aussagen für einen Sinn, von
Glaubensgegenständen zu reden, die in dem ursprünglichen »Akt«:
mit dem »Objektivierungszeichen« versehen waren? Eben diese Art
von Frömmigkeit nimmt aber heute, wo sich von vielen Seiten gegen
das offizielle Christentum aller Konfessionen der Vorwurf des Ra-
tionalismus erhebt, vermehrte Bedeutung für sich in Anspruch. Die
ganze moderne Mystik — ich sehe von der klassischen heute neu
entdeckten mystischen Literatur ab und nenne nur beispielsweise so
verschiedenartige religiöse Persönlichkeiten wie: Johannes Müller,
Paul Eberhardt, Reiner Maria Rilke, Ricarda Huch, Theowill Uebe-
lacker, Rabindranath Tagore — ist nicht gegenständlich gerichtet;
ähnlich aber liegen die Dinge in der ganzen durch Emerson, Trine,
Marden, gekennzeichneten Bewegung. Einerlei ob mystische Ver-
senkung sich dem wesenlosen Grunde zuwendet, auf den man gar
nicht das Seinsurteil anwenden kann, oder ob religiöse Spekulation
in blassen und blutleeren Ideen schwelgt: dennoch kann das religiöse
Gefühl selbst warm und lebendig sein und vermag sich zu einem
hinreißenden Schwung religiöser Begeisterung zu erheben. Höff-
ding !) hat in einer feinsinnigen Weise darüber geschrieben, ob solches
»kosmische Lebensgefühl« noch den Namen »Religion« tragen kann,
und hat diese Frage bejaht. Zu ausschließende Namen tragen immer
die Gefahr in sich, daß man leicht die Wirklichkeit, soweit sie ihnen
nicht entspricht, überhaupt übersieht. Robert Jelke?) dagegen
spricht denjenigen Geistesbewegungen, die wie Mystik und Buddhis-
mus »einer zentral bestimmten Vorstellung vom Transzendenten
entbehren«, den Charakter als Religion ab; sein Urteil entspricht
einer verbreiteten theologisch bestimmten Denkweise. Ueber den
Namen Religion zu streiten ist vollkommen zwecklos, wenn nur ge-
sehen und gewürdigt wird, daß es einen Frömmigkeitstypus gibt, der
eben nicht — in der oben dargelegten Weise — mit als wirklich vor-
ausgesetzten Gegenständen rechnet.
1) Religionsphilosophie, deutsch von Bendixen. Leipzig 1901 S. 98 ff.
2) Das Problem der Realität und der christliche Glaube. Leipzig 1916 S. ııo ff.
2 ee. a
—_— OS —
a at a.
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 147
Hier handelt es sich gar nicht um die Frage nach dem Recht
oder dem Wert eines solchen Frömmigkeitstypus. Aber wenn es die-
sen Typus überhaupt gibt — und darüber scheint mir kein Zweifel
möglich —, so kann man von einem solchen religiösen Bewußtsein
jedenfalls nicht sagen, daß es die Wirklichkeit seiner Gegenstände
voraussetzt. Der Gegenstand soll ja möglichst verflüchtigt werden,
er soll gar nicht »etwas sein« Der Mittelpunkt ist ein völlig anderer.
Es hat also hier seinen Sinn verloren, von einem Wahrheitsanspruch
im Sinn der Realitätsvoraussetzung zu reden.
Bisher wurde das religiöse Bewußtsein unter dem Gesichtspunkt
betrachtet, ob und in welchem Sinn es von seinen Gegenständen Rea-
lität aussagt. Wir haben gefunden, daB diese Realität überhaupt
keine religiöse, sondern eine außerreligiöse Behauptung ist, daß viel-
mehr das religiöse Bewußtsein mit seinen Gegenständen als mit
etwas Wirklichem rechnet, daß aber nicht unbedingt allem reli-
giösen Denken und Fühlen diese Gegenständlichkeit anhaftet.
2.
Aber wir haben nicht nur Gegenstände des Glaubens, sondern wir
haben einen bestimmten Glauben in bezug auf diese Gegenstände.
Wir sagen etwas aus von unsern Glaubensobjekten; wir haben
religiöse Ueberzeugungen und sind selbstver-
ständlich davon überzeugt, daß unsre Ueber-
zeugungen wahr sind. Jede religiöse Gemeinschaft, zum min-
desten jede Kirche schafft einen festen Ausdruck für die in ihr
geglaubten religiösen Ueberzeugungen. Me sclche Lehren und Dog-
men wollen wahr sein.
Hier scheint nun das Urteil sehr einfach und ganz unwidersprech-
lich zu seın, daß die Religion unbedingt und überall für ihre Ueber-
zeugungen Wahrheitsanspruch erhebt. Und dennoch ist es nicht
unnötig, diese These genauer zu prüfen.
Wieder müssen wir uns darüber Rechenschaft geben, was denn
»Wahrheitsanspruch« eigentlich bedeutet. Genau genommen können
nur Urteile »wahr« sein. Wir nennen ein Urteil wahr, wenn es einem
bestimmten Sachverhalt entspricht. Es ist klar: Wenn wir ein.
wissenschaftliches Urteil fällen, so erheben wir bewußt den Anspruch
damit einen objektiven, d. h. von uns selbst unabhängigen Tatbestand
richtig zu beschreiben. Nicht minder, wenn wir im täglichen Leben
ein Urteil aussprechen. Wenn wir sagen: »Es regnet« oder »der Mont-
blanc ist der höchste Berg in Europa« oder »Cäsar besiegte die
Gallier« so meinen wir damit »etwas« und sind überzeugt, daß
ı0*
148 I. Abhandlungen.
»es« sich wirklich so verhält. Ist nun auch in dem religiösen BewuBt-
sein etwas Aehnliches vorhanden ? So ist es in der Tat. Wenn wir
von Gott irgend etwas aussagen, z. B. daß er die Welt geschaffen
hat, oder daß er uns Menschen gnädig gesinnt sei, so will selbstver-
ständlich diese Aussage — für unser Bewußtsein — wahr sein, d.h.
wir wollen damit etwas aussagen, was sich wirklich — ganz abgesehen
von unserm Urteil — so verhält. Es ist keinesfalls richtig, wenn
H. Maier zu sagen scheint, daß das religiöse Denken, so wie überhaupt
alles emotionale Denken, gar nicht einen objektiven Tatbestand
richtig wiedergeben will; auch die Behauptung, die eine Zeitlang
in der Theologie eine so große Rolle gespielt hat, die Religion fälle
überhaupt keine Seins-, sondern nur Werturteile, ist psychologisch
einfach unrichtig. Der religiöse Glaube beansprucht im eminentesten
Sinn »wahr« zu sein, d. h. er ist sich bewußt, eine transzendente Welt
wirklich zu kennen und letzte Zusammenhänge, Tatsachen, Lebens-
gesetze, Gottes Wesen und Wirken und Wollen mit seinen Aussagen
zu beschreiben. Daß dieses wesentliche Merkmal des religiösen Glau-
bens überhaupt in Zweifel gezogen worden ist, kann nur zeigen, wie
sehr unsre ganze Religionswissenschaft an dem verstandesmäßigen,
wissenschaftlichen Erkennen orientiert ist und dadurch Gefahr läuft,
den Tatbestand des religiösen Denkens zu verfälschen.
Dennoch müssen wir uns gerade an diesem Punkt darauf be-
sinnen, was wir eigentlich untersuchen. Wir ziehen nicht logische
Konsequenzen aus der Struktur des religiösen Bewußtseins, sondern
wir wollen dieses selbst in seinem psychischen Tatbestand unter-
suchen. Nurda,wodieBeziehungaufeinenobjek-
tivenSachverhaltwirklichimBewußtseinvoll-
zogen wird, nurdakannrechtmäßig voneinem
Wahrheitsanspruch als psychischem Tatbe-
stand geredet werden. Und eben dies möchte ich bezwei-
feln, ob diese Beziehung auf eine transzendente Wirklichkeit immer
vollzogen wird. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit wird vor-
ausgesetzt: es ist wirklich so, wie ich glaube; aber diese »Wirklichkeit«,
der die. religiöse Ueberzeugung entsprechen soll, spielt bei vielen
Menschen kaum eine Rolle im Bewußtsein. Bei näherer Ueberlegung
erscheint das als ganz natürlich. Die Herstellung der Beziehung zum
objektiv wirklichen Sachverhalt ist eine erkenntnistheoretische Be-
sinnung, wie sie den meisten Menschen, auch den meisten Gläubigen,
vollkommen fern liegt. Es ist hier ganz ähnlich wie bei den Gegen-
ständen des religiösen Glaubens selbst. Auch die darüber gemachten
Aussagen tragen das »Objektivierungszeichen« an sich, aber für ge-
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 149
wöhnlich wird dieser Wahrheitsanspruch (»das ist wirklich so«) gar
nicht zum Gegenstand eigener Besinnung gemacht. Das geschieht
erst, wenn der Zweifel diese Geltung in Frage gestellt hat. Mit vollem
Recht — auch für das religiöse Urteil — hat Maier darauf hingewie-
sen, daß die Verneinung dem eigentlichen Urteilsakt vorausgeht,
zum mindesten die Möglichkeit der Verneinung der betonten Be-
jahung zugrunde liegt. Erst wo die Glaubenssätze bestritten oder
sonst unsicher werden, erhebt der Fromme den Anspruch, daß es
sich doch wirklich so verhalte.
Es kann natürlich sein und ist oft so, daß ein religiöses Interesse
sich auf Erkenntnis einer transzendenten Wirklichkeit richtet. Es
hat Zeiten und hat religiöse Gruppen gegeben, in welchen dieses Er-
kenntnisinteresse, oder vielmehr der Anspruch, die jenseitige Welt
erkannt zu haben, in vorderster Linie gestanden ist. Die ganze in
der östlichen Kirche der ersten christlichen Jahrhunderte sich voll-
ziehende Dogmenbildung ist ohne diesen Drang nach übernatürlicher
Erkenntnis, nach yröcıs, gar nicht zu begreifen. Gegenüber der
vorhin beschriebenen rein mystischen und darum ungegenständ-
lichen Art des religiösen Erlebens ist heute unverkennbar wieder ein
stärkeres Verlangen nach metaphysischer Erkenntnis wirksam. Die
Engigkeit einer rein subjektiven Betrachtung, die nur von seelischen
Erlebnissen weiß, wird gesprengt von dem Bedürfnis nach kosmischen
Einsichten, die natürlich im strengen Sinn des Worts wahr sein wollen.
Das starke Anwachsen der anthroposophischen Bewegung muß in
diesem Zusammenhang gesehen werden. -Namentlich aber sind es
zu allen Zeiten einzelne Menschen, die stark philosophisch gebildet
und interessiert sind, die einen Durst nach solcher »Wahrheit« haben,
oder die andrerseits als das wertvollste Stück ihrer Religion dies
ansehen, daß ihnen in ihrem Glauben ein Stück der oberen Welt ent-
schleiert ist.
Aber soviel ich sehe, ist das doch nicht die Regel. Die Regel ist
vielmehr die, daß die »Wahrheit« naiv vorausgesetzt wird und das
eigentliche Interesse nicht an der Wahrheit,
sondern an der Gewißheit der Glaubensüber-
zeugungen haftet. Wer irgendwelchen religiösen Ueber-
zeugungen huldigt, stellt eben im allgemeinen jene Beziehung auf
einen objektiven Sachverhalt nicht selbst her, sondern begnügt sich
damit, einen Glauben zu hoben, der ihm vollkommen gewiß, unbe-
streitbar und über jeden Zweifel erhaben ist. Man braucht nur etwa
die einleitenden Bemerkungen der Konkordienformel oder die En-
zyklika Pascendi zu lesen, um zu spüren, daß bei dem hier erhobenen
150 ‘I, Abhandlungen.
Wahrheitsanspruch die Beziehung auf einen objektiven Sachverhalt
gar keine Rolle spielt; die Sätze der Symbola und die Lehren der
Kirche werden eingeführt als solche, welchewahrd.h.schlecht-
hinundiskutierbar sind. Das Gleiche gilt in weitem Um-
fang von dem Offenbarungsglauben; seine Kraft und seine auBer-
ordentliche Bedeutung für lebendige Frömmigkeit liegen eben darin,
daß er dem einzelnen das Gefühl der absoluten Sicherheit gibt, das
Bewußtsein, eine Glaubensüberzeugung zu haben, mit welcher letzt-
lich alle wissenschaftliche Erkenntnis zusammentreffen muß, weil
es eben gar nicht anders sein kann. Im besondeien Maß scheint das
auf die Religionsphilosophie des Islam zuzutreffen, hier ist es die
Voraussetzung aller Erörterung, daß die Lehren der Offenbarung
schlechthin unbezweifelbar, außerhalb aller Diskussion sind !). Aber
ganz Aehnliches gilt innerhalb des Christentums von aller traditio-
nellen Kirchenfrömmigkeit. Es muß in diesem Zusammenhang das
Wort »Autoritätsglaube« genannt werden; man könnte ihn geradezu
definieren als eine Art von religiöser Ueberzeugung, in welcher das
Gewißheitsinteresse an Stelle des Wahrheitsinteresses getreten ist
Es ist nicht der Irrtum, sondern der Zweifel,
wasüberwundenwerdensoll.
Eine besondere Schwierigkeit liegt dabei in dem Glauben an
geschichtliche Tatsachen. Ueberall wo innerhalb unsres geschichtlich
bestimmten Christentums Heilstatsachen als historische Begeben-
heiten zentrale Bedeutung haben, setzt der Glaube als selbstver-
ständlich voraus, daß diese Dinge (z. B. die Jungfrauengeburt, die
Auferstehung Jesu) wirklich geschehen, der Glaube an sie also »wahr«
ist. Dennoch geht das Interesse des Glaubens keineswegs darauf,
diese Sachverhalte durch sorgfältige historische Kritik möglichst
zu klären und dadurch die hierüber gemachten Aussagen zu veri-
fizieren ; niemals wird naiver volkstümlicher Glaube dieser historisch-
kritischen Arbeit Verständnis und Dankbarkeit entgegenbringen,
auch dann wenn sie »positiv«in ihrem Ergebnis ist. Denn sein religiö-
ses Interesse (weit entfernt »Wahrheitsinteresse« zu sein), richtet sich
ja vielmehr darauf, daß diese geschichtlichen Tatsachen unbezwei-
felt, unberedet, ungefragt bleiben. Auch der Glaube an geschicht-
liche Tatsachen setzt deren Wahrheit voraus und hat eben darum
nicht Wahrheits-, sondern Gewißheitsinteresse.
Aber gerade da, wo die Beziehung auf eine überweltliche Wirk-
lichkeit am lebhaftesten ins Bewußtsein tritt, gerade da finden wir
1) Vgl. dazu M. Horten, Texte zum Streit zwischen Glauben und Wissen im
Is
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 151
nun oft dem Wahrheitsanspruch eine starke Zurückhaltung und Be-
schränkung auferlegt. Gerade hier ist sehr oft ein lebhaftes Gefühl
dafür vorhanden, daß uns die Wahrheit oder vielmehr die Wirklich-
keit immer verborgen bleibt und daß wir nur tastend an sie
heran reichen, nur stammelnd von ihr reden können. Es sind man-
cherlei Stufen dieses Bewußtseins möglich, von einem prinzipiellen
Skeptizismus hinsichtlich aller religiösen Ueberzeugung bis zur Ein-
sicht, daß die menschliche Sprache nur in dem Gewand der Bildlich-
keit von den höchsten Dingen zu reden vermag. Aber all diesen Mög-
lichkeiten ist dies gemeinsam: es wird bewußt darauf verzichtet, daß
die religiösen Ueberzeugungen dem wirklichen Sachverhalt genügen,
daß sie der Wahrheit adäquat sind, daß sie schlechthin »wahr« sind.
In Goethes Versen hat diese Stimmung ehrerbictiger Bescheidenheit,
weil Ihn niemand nennen dürfte und alle Namen Schall und Rauch
seien, ihren klassischen Ausdruck gefunden. Wer freilich von dem
Bildcharakter aller religiösen Rede nichts weiß und darum überzeugt
ist in den Lehren, die er glaubt, den adäquaten Ausdruck göttlicher
Wahrheit zu besitzen, dem wird jene Zurückhaltung auf einer Linie
mit vollkommener Skepsis und barem Unglauben erscheinen. Mit
Unrecht: denn dieses Relativitätsgefühl ist keineswegs
verbunden mit der Meinung, daB alle religiösen Gegenstände über-
haupt nur Gebilde der menschlichen Einbildungskraft seien. (Hier
liegt auch der Grund, warum diese zweite von der ersten Form des
Wahrheitsanspruchs scharf zu trennen ist.) Und was das Wichtigste
ist, dieses Gefühl für die Relativität des religiösen Erkennens braucht
keineswegs mit einer Schwächung des religiösen Gefühls verknüpft
zu sein. Ja diese Ablehnung des Wahrheitsanspruchs, das Bewußt-
sein der Relativität vermag selbst einen religiösen Charakter zu ge-
winnen. Dem Gott gegenüber, welchen kein Mensch gesehen hat noch
sehen kann, kann es als eine fromme Pflicht erscheinen, auf den
Wahn einer vollkommenen Wahrheitserkenntnis zu verzichten.
Und deines Geistes höchster Feuerflug
Hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug.
Oder wie es in den Upanishads heißt: wenn man gefragt wird, was
Gott ist, so sei Schweigen die einzig richtige Antwort.
Was soll es nun hier heißen, daß das religiöse Bewußtsein immer
den vollen Wahrheitsanspruch erhebt ? Es ist ja gerade die Ehrfurcht
vor der Wahrheit, welche hier der Frömmigkeit den Verzicht auf den
vollen Wahrheitsanspruch auferlegt.
152 I. Abhandlungen.
3.
Wiederholt sind wir schon auf die Tatsache gestoßen, daß als
»Wahrheitsanspruch« eine psychologische Verhaltungsweise bezeich-
net wird, welche diesen Namen nur im uneigentlichen Sinn verdient.
Wenn man von dem Wahrheitsanspruch der Religion geredet hat,
so hat man sehr oft jenes Bewußtsein derpersönlichen
Notwendigkeit im Auge gehabt, welches dem religiösen Den-
ken weithin eignet. Wenn auch zwischen Wahrheit im logischen Sinn
und Denknotwendigkeit ein enger Zusammenhang besteht, so ist doch
sicherlich dieses Bewußtsein der subjektiven Notwendigkeit etwas
völlig anderes als der Glaube an übersinnliche Welten. Es handelt
sich auch nicht um eine (logische) Denknotwendigkeit, sondern um
das Bewußtsein einer Nötigung, die eher auf sittlichem Gebiete liegt:
ich kann nicht anders, ich darf nicht anders denken und glauben;
meine innerste Erfahrung, mein Gewissen treibt mich dazu. Das ist
eben der Grundgedanke des Maierschen Werkes, daß alles religiöse
wie alles emotionale Denken im Unterschied von dem erkennenden
Denken gar nicht »wahr« sein, sondern nur der Ausdruck emotionaler
Erlebnisse sein will: »Das Bewußtsein des Gegebenseins hat hier seinen
Grund in der psychologischen Notwendigkeit, mit welcher sich die
Vorstellungstätigkeit aus.den Gefühlen entwickelt« (S. 433). Und
diese emotionalen — also auch die religiösen — Vorstellungen haben
ihren logischen Sinn dann erfüllt, wenn in ihnen wirklich ein starkes
affektives Erleben seinen notwendigen Ausdruck gefunden hat.
Maier lehnt für diese Art emotionaler Denknotwendigkeit den Namen
»Wahrheit« ausdrücklich ab; aber es ist gar kein Zweifel, daß der
Wahrheitsanspruch, von dem gemeinhin das religiöse Denken beglei-
tet ist, oft gar nichts andres meint als die Zugehörigkeit dieser Ge-
danken, dieser Ueberzeugungen zu einem übermächtigen Erleben,
dessen volle Wirklichkeit und entscheidende Bedeutung sich der
Gläubige auf gar keinen Fall antasten und bestreiten lassen will.
So kann man etwa erleben, daß in einer Öffentlichen Debatte, ob Je-
sus gelebt habe, ein Redner erklärt: Es ist bestimmt wahr, daß Jesus
lebt, denn ich habe ja seine Hilfe selbst erfahren. Es ist nun freilich
nicht richtig, wenn Maier dieses Denken aus innerer Nötigung in
einen scharfen und ausschließenden Gegensatz zu dem Erkennenden,
dem »kognitiven« Denken rückt. Es braucht bei diesem Bewußtsein
innerer Nötigung weder die Gegenständlichkeit des Bewußtseins noch
auch der Anspruch wirklicher Wahrheitserkenntnis zu fehlen; aber
alles dies steht nicht im Vordergrund des Bewußtseins. Ich spreche
meinen Glauben an die göttliche Weltregierung aus; gewiß will ich
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 153
damit einen objektiven Sachverhalt beschreiben, aber wenn ich von
der Wahrheit dieses meines Glaubens spreche, so denke ich eben nicht
hieran, sondern an die zwingende Gewalt der eignen Erfahrung, die
mir dies Bekenntnis auf die Lippen legt; wenn ich die Heiligkeit und
Göttlichkeit Christi behaupte, so ist sie mir über allen Zweifeln er-
haben, eben weil in diesem meinem Glauben eine Gewissensstimme
zum Ausdruck kommt, der ich-nicht widersprechen kann und darf.
Die Entschiedenheit, mit der ich meine Ueberzeugung als wahr
in Anspruch nehme, ist ein Spiegelbild des Ernstes, mit der ich mich
zu ihr getrieben fühle; man vergleiche hierzu die Bemerkung von
Troeltsch !): »Die Glaubenserkenntnis hat eine eigene, auf praktische
Unentbehrlichkeit und auf inneres Verpflichtungsgefühl begründete
Gewißheit.« Jeder, der sich für seine religiöse Ueberzeugung auf sein
Gewissen beruft, macht eben damit jenes Bewußtsein der inneren
Nötigung zum Zentrum seines Wahrheitsanspruchs. Es handelt sich
hier um eine besondere Art, sich der Wirklichkeit zu bemächtigen,
um die Intuition 2), von der nun in diesem Zusammenhang nicht
weiter geredet werden soll; genug daß hier eben nicht die gegen-
ständliche Orientierung an dem gemeinten Sachverhalt, sondern die
zwingende Gewalt seelischer Nötigung, mit der der Mensch in die
Richtung auf diesen Gegenstand (»Gott«, »Christus«, »Erlöstsein«)
gestellt ist, den eigentlichen Sinn des Wahrheitsanspruchs ausmacht.
Es läßt sich noch eine.ganze Reihe von Tatsachen und Proble-
men aufzählen, die gerade mit diesem geschilderten Tatbestand zu-
sammenhängen. Vor allem hat dieser Tatbestand zu der Theorie von
Werturteilen in der Religion Anlaß gegeben; aber er macht es zugleich
deutlich, daß die Gegenüberstellung von Werturteil und Seinsurteil
psychologisch nicht richtig ist, sofern damit mehr als eine verschie-
dene Betonung, eine verschiedene Blickrichtung des Interesses be-
zeichnet werden soll. Ferner liegt hier die Tatsache, die immer von
neuem den Pragmatismus als eine einleuchtende Theorie erscheinen
läßt; der Weg des Pragmatismus ist, genau genommen, schon da be-
schritten, wo eine religiöse Ueberzeugung wesentlich deswegen als
»Wahrheit« beansprucht wird, weil der Gläubige gewiß ist, in ihr »das
Leben« gefunden zu haben.
4.
Während bei der eben geschilderten Form des Wahrheitsan-
spruchs die eigene innere (sittliche) Nötigung den Mittelpunkt des
1) Religion in Geschichte und Gegenwart II 1442.
2) Vgl. hiezu Volkelt, GewiBheit und Wahrheit S.° 544 ff.
154 I, Abhandlungen.
psychischen Verhaltens bildet, handelt es sich bei der folgenden
Gruppe um den logischen Charakter der religiösen Gedankenbildung.
Gemeinhin gilt de Widerspruchslosigkeitals Merk-
malder Wahrheit. Es fragt sich, ob nicht manchmal auch
mit dem Wahrheitsanspruch der religiösen Ueberzeugung deren
Widerspruchslosigkeit gemeint, oder etwa diese in jenem eingeschlos-
sen sein kann. Diese Erörterung kann hier nur wie eine Zwischen-
bemerkung Platz beanspruchen, denn streng genommen hat natür-
lich die Widerspruchslosigkeit des Weltbildes mit dem Wahrheits-
anspruch der einzelnen Ueberzeugungen und der ganzen Welt-
betrachtung psychologisch nichts zu schaffen, und es ist gleichsam
nur ein Mißverständnis, freilich ein recht häufiges Mißverständnis,
wenn mit der Wahrheit der Glaubensvorstellungen deren wider-
spruchloser Einklang untereinander und mit der übrigen Wirklich-
keit gemeint wird.
Sicher gibt es einzelne Menschen, die sich überhaupt keinen reli-
giösen Glauben denken können, wenn er sich nicht zu einem einheit-
lichen widerspruchslosen System zusammenordnen läßt und sich
zugleich mit allen anderen Erkenntnissen zu einem wohlgeordneten
widerspruchslosen Ganzen zusammenfügt. Bei vorwiegend philo-
sophisch gerichteten Menschen — aber auch bei stark ästhetisch ver-
anlagten Naturen — kann die Harmonie des Weltganzen und die ihr
nachgebildete Harmonie eines menschlichen Erkenntnissystems einen
geradezu religiösen Wert gewinnen. Aber im allgemeinen wurzelt
dieses Interesse an der Widerspruchslosigkeit nicht in der Religion
selbst, sondern in dem geschulten wissenschaftlich-philosophischen
Denken oder in einem lebhaften ästhetischen Bedürfnis.
Die Wissenschaft strebt nach einem einheitlichen Weltbild und
sie muß in jedem Widerspruch, der noch vorliegt, die Spur eines Irr-
tums erblicken. Das religiöse Bewußtsein ist völlig anders orientiert.
Welche Widersprüche vermag ein religiöser Charakter in sich zu ver-
einen! Er weiß sich in völliger Abhängigkeit von Gott und fühlt sich
doch für seine Taten verantwortlich, er beugt sich unter Gottes un-
abänderlichen Ratschluß und glaubt doch, daß seine Gebete erhört
werden. Solche Gegensätze liegen in der Frömmigkeit nebeneinander;
meist nur durch Anstoß von außen kommt der Fromme auf den Ge-
danken, das eine müsse falsch sein, wenn das andre wahr ist. An
einem Ausgleich zu arbeiten spürt viel mehr die Theologie als die
Frömmigkeit Trieb und Neigung.
Auch die Widersprüche mit dem übrigen (wissenschaftlichen und
praktischen) Weltbild sind keineswegs immer ein Hemmnis für den
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 155
Wahrheitsanspruch der religiösen Ueberzeugung. Credo, quia absur-
dum. Das Paradoxe, in der paulinischen Sprache das Skandalon (so-
weit es sich hier um intelektuelle Anstöße handelt) gehört zu den
wesentlichen Erscheinungsformen aller echten Religion (Höffding
a. a. O. S. 82). Das religiöse Denken macht gar nicht den Versuch,
allen Widerspruch in Harmonie aufzulösen. Es glaubt »trotzdem«,
und stellt allen Gegeninstanzen sein »dennoch« gegenüber. Messer
(Erkenntnistheorie S. 185) hat vollständig recht: »Die Auseinander- `
setzung der Religion mit der Wissenschaft ist eine sachliche, keine
persönliche Notwendigkeit« Davon kann vollends keine Rede sein,
daß etwa die Frömmigkeit sich nur um der Einheitlichkeit des Ganzen
willen den Kriterien des erkennenden Denkens unterordne (gegen
Maier S. 546). Der Glaubende kümmert sich keineswegs darum, was
die Wissenschaft über dies und jenes lehrt, und allem naturwissen-
schaftlichen und historischen Wissen stellt er unbeirrt seine Gewiß-
heit entgegen. Es fällt ihm gar nicht ein, die Uebereinstimmung mit
außerreligiösen Erkenntnissen zum Maßstab seines Wahrheitbesitzes
zu machen.
Es läßt sich freilich beobachten, daß dieselben Menschen, die das
»Dennoch« und »Trotzdem« der religiösen Position vertreten, dennoch
als Ueberzeugungsmittel den versuchten Erweis der Widerspruchs-
losigkeit nicht verschmähen. Diese Beobachtung ist ein Beitrag zur
Psychologie der Apologetik. Sie ist nur daraus zu erklären, daß die
Gewohnheit wissenschaftlichen Denkens und das Vertrauen auf die
beeinflussende Kraft der Verstandestätigkeit auch in ein Gebiet ein-
dringt, das selbst das Ideal der Widerspruchslosigkeit gar nicht er-
hebt.
Diese Erkenntnis mag — um dies nur eben anzudeuten — viel-
leicht auch einen Weg bahnen zum Verständnis der Psyche solcher
Menschen, die eine »doppelte Wahrheit« glauben.
Abschließend kann gesagt werden: das widerspruchslose Denken
ist ein Ideal der Wissenschaft und der Philosophie, aber nicht der
Religion.
5- |
Die weitaus verbreitetste und zweifellos naivste psychische Form
des Wahrheitsanspruchs ist dr Anspruchauf Allgemein-
gültigkeit. Für einen Satz der »wahr« ist, kann man fordern,
daß jeder vernünftige Mensch ihn anerkenne. Diese Form des Wahr-
heitsanspruchs ist so wichtig, daß man darin geradezu das Wesen
156 I. Abhandlungen.
der Wahrheit gesehen hat: »Wahrheit ist allgemeingültige Erkennt-
nis« Wie steht es in dieser Hinsicht in der Religion ?
Von vornherein muß betont werden, daß wiederum der Unter-
schied der hier in Frage kommenden Verhaltungsweise gegen die
bisher geschilderten als ein rein psychischer zu verstehen ist. Logisch
betrachtet ist eben das richtige, notwendige und widerspruchlose
Denken allgemeingültig; psychisch aber ist es ein ungeheurer Unter-
schied, ob ich an den objektiven Sachverhalt, dem meine Ueberzeu-
gung entsprechen soll, oder an die Klarheit des logischen Gefüges,
oder an die innere Nötigung, die darin zum Ausdruck kommt, oder
endlich ob ich an die andern Menschen denke, von denen ich er-
warte, daß sie meine Ueberzeugung teilen oder annehmen.
Es ist zunächst gar nicht notwendig, daß diese andern Menschen
überhaupt in Betracht gezogen werden. In der Ekstase schleudert
der Prophet seine Wahrheiten aus sich heraus, gar nicht um überhaupt
gehört und anerkannt zu werden. Meister Eckehart sagte gelegent-
lich: »Dies ist wahr, auch wenn gar kein Mensch es versteht.« Wer
gewohnt ist, alles, auch die Feststellung der Wahrheit einem Majori-
tätsentscheid anzuvertrauen, kann diese Einstellung überhaupt nicht
würdigen: es ist das vollkommene Absehen von dem, was andre dazu
sagen. Gleich einem (mir höchst eindrucksvollen) Redner, der, keinen
Blick auf sein Publikum werfend, rein die Wahrheit auszusprechen
schien, damit sie gesagt sei, und ohne irgendeinen Anspruch zu er-
heben, gibt es eine Art religiöser Wahrheitsverkündigung, der alles
Wirkenwollen und damit aller Anspruch auf allgemeine Anerkennung
ferne zu liegen scheint.
Freilich wo einmal die anderen Menschen in das Blickfeld des
Glaubens treten, muß er da nicht den Anspruch auf allgemeine Gültig-
keit erheben ? l
Die Geschichte zeigt uns nicht wenige Beispiele dafür, daß die
Religion mit dem grundsätzlichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit
aufgetreten ist. Man hat im Hinblick auf das Gewicht dieser Bei-
spiele schon erklärt, daß alle Religion immer intolerant sei. Es kann
nicht. leicht überschätzt werden, was für eine Festigkeit, Kraft und
Gewißheit einem Gläubigen dieser Anspruch zu geben vermag: meine
Religion ist die wahre, und eigentlich müßten alle Menschen diese
meine Religion annehmen. Gegen die andren Menschen äußert sich
dieser Anspruch, je nach der Gemütsart der einzelnen Individuen,
teilweise auch nach dem Stimmungscharakter der betreffenden Re-
ligion, als Hochmut und Grausamkeit oder als Mitleid!). Als ich
ı) Von besonderem Interesse ist in diesem Betracht der islamische Begriff
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 157
zum erstenmal die Sage von Odysseus kennenlernte, habe ich
Odysseus wegen seiner Irrfahrten nur beneidet, aber ihn herzlich
bemitleidet, weil er kein Christ war.)
Aber es ist nun einfach nicht richtig, daß jede Religion intolerant
sei, und daß das religiöse Bewußtsein immer den Anspruch auf All-
gemeingültigkeit seiner Ueberzeugungen erhebe. Zunächst gibt es
eine außerreligiöse, durch die öffentliche Meinung und durch staat-
lichen Zwang veranlaßte »Toleranz«. Man muß jedem seine Meinung
lassen, weil man keine Möglichkeit hat, ihn mit Liebe oder mit Ge-
walt davon abzubringen. Aber diese bürgerliche Toleranz kann offen-
bar verbunden sein mit einem innerlich sehr lebhaft und energisch
aufrecht erhaltenen Allgemeingültigkeitsanspruch. Es ist nur eine
Verschleierung des tatsächlich erhobenen Anspruchs, ein Wider-
spruch mehr in dem widerspruchsvollen psychischen Tatbestand der
Religion.
Eine merkwürdige Mischform bildet diejenige Verhaltungsweise,
bei welcher innerhalb bestimmter lokaler oder sozialer Gruppen ein
intoleranter Allgemeingültigkeitsanspruch erhoben wird. Man stellt
innerhalb einer bestimmten Kirche die oder die Lehre als allgemein-
gültig hin, und setzt dabei voraus, daß es außerhalb dieser Organi-
sation vortreffliche Menschen, auch gute Christen gebe, die eben
darüber anders denken; aber nur dies Lautwerden andersartiger Ge-
danken innerhalb der gleichen Kirchengemeinschaft scheint die Ge-
müter zu erregen und den Wahrheitsanspruch der religiösen Ver-
kündigung zu gefährden. Der oder jener Pfarrer, sagt man etwa, sei
sicherlich kein schlechter Christ, aber in dieser Landeskirche sei kein
Raum für seine Meinungen. Auch hier ist der Anspruch auf wirkliche
Allgemeingültigkeit der eigenen Ueberzeugungen im Kern aufgege-
ben, nicht anders als wie im Henotheismus ein Volk der Meinung ist,
daß zwar in seiner Mitte sein Gott herrscht, jenseits seiner Grenzen
aber die Gewalt andrer Götter beginnt.
: Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit kann auch aus psycho-
logischen Erwägungen abgelehnt werden. Gerade wer aus starker
innerer Nötigung heraus seine eigene Ueberzeugung für wahr hält,
fühlt vielleicht zugleich, daß der andre diese Nötigung nicht empfin-
det. Können wir von einem anderen erwarten, daß er die gleichen Er-
fahrungen macht wie wir? Aber der Gedanke spinnt sich weiter:
idschma, in dem die Uebereinstimmung aller islamischen Richtungen zum unfehl-
baren Maßstab der Orthodoxie gemacht ist. Vgl. Goldziher, Katholische Tendenz
und Partikularismus im Islam. (Beiträge zur Religionswissenschaft, herausgegeben
von der Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm. I [1913/14] Heft 2
S. ı15ff.) _
158 I. Abhandlungen,
Kann man überhaupt jedem Menschen Religion zumuten ? Sind denn
bei jedem die psychischen Voraussetzungen für religiöse Ueberzeu-
gungen gegeben? Niemand kann leugnen, daß diese psychologisch
begründete Ablehnung des Allgemeingültigkeitsanspruchs eine weit
verbreitete Stimmung ist, und daß sie sehr wohl verbunden sein kann
mit großer Wärme und Festigkeit der eignen Ueberzeugung.
Noch mehr aber interessiert uns das Vorhandensein einer religiös
begründeten und religiös gestimmten Toleranz. Wer den relativen
Charakter aller religiösen Erkenntnis lebhaft empfindet, wer alle
Sprache, wenn sie vom Höchsten redet, für Bild und Stammeln hält,
aber auch wer starke Eindrücke von vorbildlicher Frömmigkeit
Andersdenkender bekommen hat, der wird leicht darauf verzichten,
für seine Ueberzeugungen, deren er immerhin völlig gewiß sein kann,
allgemeine Anerkennung zu fordern oder zu erwarten. Ihren klassi-
schen Ausdruck hat diese Stimmung gefunden in Schleiermachers
schönen Worten, ein Gefühl von der Unendlichkeit der Religion müsse
jeden begleiten, der Religion hat: » Jeder muß sich bewußt sein, daß
die seinige nur ein Teil des Ganzen ist, daß es über dieselben Gegen-
stände, die ihn religiös affizieren, Ansichten gibt, die ebenso fromm
sind und doch von d.n seinigen gänzlich verschieden.«
Diese schöne »Bescheidenheit «, diese »freundlich einladende Duld-
samkeit« ist doch nicht nur Ideal, sondern auch Wirklichkeit in mehr
Seelen, als manche streitbaren Theologen anzunehmen geneigt sind.
Während derjenige, der den vollen Allgemeingültigkeitsanspruch
erhebt, durch die bloße Tatsache, daß es andern Glauben gibt, in
seiner eignen religiösen Ueberzeugung erschüttert und angefochten
werden kann, wird hier die freudige Anerkennung fremder Ueber-
zeugungen zu einem feierlichen Hymnus auf die wundervolle Viel-
stimmigkeit der Religion !).
Es ist also ein vollkommener Irrtum zu meinen, daß der An-
spruch auf Allgemeingültigkeit zum Wesensbestand der religiösen
Ueberzeugung gehöre. Hier ist Religion und Wissenschaft verwech-
selt worden! Es ist aber zugleich einer der einschneidendsten Unter-
schiede zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen der Reli-
gion, ob in ihnen dieser Anspruch erhoben wird oder nicht ; zwei Men-
schen, von denen der eine seine Religion für die wahre hält, die
eigentlich die aller Menschen sein sollte, und ein andrer, der die Man-
nigfaltigkeit der religiösen Ueberzevgungen als eine gottgewollte
ı) Es ist vielleicht nicht unwichtig anzumerken, daß es z. B. im Buddhismus
verschiedene Sekten gibt, die sich nie auch nur annähernd so schroff gegenüber-
gestanden sind wie die verschiedenen Konfessionen innerhalb des Christentums.
Stählin, Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. 159
Tatsache, als eine innere Notwendigkeit, oder als ein Zeichen für die
Größe der Religion empfindet, die beiden werden einander in einem
entscheidenden Punkte nie verstehen.
Nun wäre es freilich notwendig, einmal die ganze Religions-
geschichte, hervorragende religiöse Dokumente verschiedenster Zei-
ten daraufhin zu durchforschen, in welcher Form und in welchem
Sinn da und dort ein »Wahrheitsanspruch« erhoben wird. Vielleicht
ergibt eine solche Forschung ganz andre Scheidungen, vielleicht auch
noch andre Formen, als die hier zu kennzeichnen versucht wurde.
Aber eine doppelte Erkenntnis scheint mir doch auch durch diese
ganz vorläufige Untersuchung gesichert: es gibt eine ganze Anzahl
von ziemlich verschiedenen Bewußtseinsformen, die miteinander ver-
bunden sein können, aber nicht notwendig miteinander verbunden
sind, die man sehr ungenau unter dem vieldeutigen Wort »Wahrheits-
anspruch« zusammengefaßt hat, und darum ist es uns immer unmög-
licher geworden zu sagen, daß »der« Wahrheitsanspruch ein »kon-
stitutiver Faktor« »des« religiösen Bewußtseins sei; die Wirklich-
keit ist zu mannigfaltig, um diese allgemeine und schematische Be-
hauptung zu gestatten. Ja, es hat sich uns der Eindruck aufge-
drängt, daß wir jedesmal aus dem innersten Wesen der Religion her-
aus uns auf einen andern Boden begeben, wenn wir den Wahrheits-
anspruch der religiösen Ueberzeugungen in seinen logischen Konse-
quenzen verfolgen. Immer erst die Auseinandersetzung zwingt die
Religion, Ansprüche zu erheben. Ueberzeugungen erheben An-
sprüche; aber die Religion selbst ist Leben und das Leben erhebt
keinen anderen Anspruch als den, Leben und Wirklichkeit zu sein.
160
Von methodischer Selbstbeobachtung in der
Religionspsychologie !).
Von
Privatdozent Dr. Siegfried Behn in Bonn.
Auf keinem Sondergebiete der Psychologie ist bisher so-
viel voreilige und wertlose Arbeit verschwendet worden wie in
der Religionspsychologie. Hier sollten sich daher Theologen und
Psychologen enger in die Hände arbeiten; sonst wird das Grenz-
land nicht so bald wirklich fruchtbar. In diesen Mitteilungen wendet
sich ein Psychologe aus seiner Praxis heraus an Theologen, deren
Forschungsweg sie in eben dies Grenzgebiet zwingt; — vielleicht
daß auch den engeren Fachgenossen mit solchen Anregungen etwas
gedient wird. Für den psychologisch forschenden Theologen ist
theoretische Einsicht in die Methodenlehre der Nachbarwissen-
schaft nur ein Anfang; das hilft ihm noch nicht zur Bereitung und
Nützung von Kunstgriffen, die nur eigene Uebung dem technisch
selbst arbeitenden Forscher schenkt. Freilich kann keine Mitteilung
irgendwem über die Zeit des Lernens und Uebens hinweghelfen;
aber eine klärende Anweisung kann verhüten, daß ein Irrtum mehr
als einmal begangen wird, sie kann schließlich zur Anerkennung
bleibender Leistungen durch die besonnene Kritik den Weg ebnen.
Die Kritik der methodischen Selbstbeobachtung geht von Ein-
wänden aus, die dem Theologen besonders naheliegen werden, wenn
er sich zuerst der Religionspsychologie zuwendet. Es sind dies
Einwände, die meist schon von der hellenischen Philosophie, nicht
erst neuerdings, herausgearbeitet worden sind. Angesichts der be-
sonderen Probleme gewinnen sie, wie zu denken, an Wucht und
Triftigkeit. Sie treffen da vor allem die Selbstbeobachtung ohne
Versuch und Aufgabe, den Versuch ohne Selbstbeobachtung. Somit
weise ich die Berechtigung dieser Einwände nach, damit aber auch
1) Geschrieben im Sommer 1914.
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 161
ihre begrenzte Tragweite. Es wird zugleich der Begriff der metho-
dischen Selbstbeobachtung umrissen und geklärt, es wird die Zu-
verlässigkeit eines vielseitig gesicherten Verfahrens geprüft. Damit
wird nicht behauptet, daß solche exakte Selbstbeobachtung die
einzige Methode der Religionspsychologie sei; es liegt nur an der
Wahl meines Themas, daß ich mich auf eine technische Anweisung
gerade zur methodischen Selbstbeobachtung beschränke.
Das Verfahren der methodischen Selbstbeobachtung drängt
zur Arbeitsteilung zwischen einem Versuchsleiter und seinen Be-
obachtern. Dem Versuchsleiter stehen methodische Einwirkungen
auf seine Beobachter zur Verfügung; deren wichtigste sind die
Aufgabe und die Frage. Beide sollen in vorbestimmter Richtung
möglichst wirksam, aber auch möglichst verständlich sein. Daraus
ergibt sich eine ganze Reihe von Anforderungen, die fast unverein-
bar scheinen. Wer sie am besten gegeneinander ausgleicht, ohne
einer davon auszuweichen, der wird den zweckmäßigsten Aufbau
der Aufgabe und der Fragen entdeckt haben.
Die methodische Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie
ist durchaus nicht grundverschieden von der methodischen Selbst-
beobachtung, wie sie die Psychologie als Wissenschaft überhaupt
verwertet. In kennzeichnenden Einzelzügen wird sie allerdings
erheblich abweichen. Jedenfalls bleibt Selbstbeobachtung auch in
der Religionspsychologie eine Vergegenwärtigung eigener Erlebnisse
von Kulturmenschen. Dabei meint die Bezeichnung Selbstbeobach-
tung im Gegensatz zur Beobachtung nur, daß eigene Erlebnisse,
und nicht fremde Erlebnisse, durch Einfühlung etwa, vergegen-
wärtigt werden sollen. Davon, daß ein metaphysisches Selbst in
Tätigkeit gerät, oder daß ein Ich sich spaltet, um nun selbst-
bewußt dem eigenen Bewußtsein in objektiver Gelassenheit zu-
zuschauen, von alledem ist in der Psychologie und in der Religions-
psychologie die Rede nicht. Genau wie in aller Psychologie bedarf
auch für unser Grenzgebiet die methodische Selbstbeobachtung
der Ergänzung durch Deutung von Urkunden des Geisteslebens
gestützt auf historische Methoden, durch Symptomverwertung mit
Hilfe der Physiologie, durch klinische Beobachtung der Krankheits-
bilder und durch statistische Ermittlung. Dagegen wird der Reli-
gionspsychologe nur selten psychophysische Maßmethoden brauchen,
an die eine strenge Selbstbeobachtung sonst so fruchtbar anschließen
kann; es müßte denn sein in Fällen gewisser Ausdruckskundgebungen
in gewohnten Sprachäußerungen.
Archiv für Religionspsychologie IJJIII. it
162 I. Abhandlungen.
Mehr als sonst der Psychologe wird sich der theologische For-
scher (in seiner Lernzeit) deutlich machen, daß wohl die Psycho-
logie eine induktive Metaphysik fördern kann (ich denke z. B. an
die Fragen der Willensentscheidung), daß aber metaphysische Vor-
eingenommenheit seine ganze wissenschaftliche Untersuchung ent-
werten könnte. Sonst hätte auch eine Art von Scheinpsychologie
nicht so mißwüchsig gewuchert, die alle Religion als Wahnsystem
und Selbsttäuschung »erklart«. Darum tut man aber der Meta-
physik doch nichts zu Gefallen, wenn man mit ihren Methoden
die einer andern benachbarten Wissenschaft trübt. . Unvermischte
Methodik allein kann der Religionspsychologie frommen. Den
schädigenden Einfluß der metaphysischen Befangenheit kann der
Techniker der Selbstbeobachtung gerade an einem Beispiel zeigen,
wo das .Vertrauen in die philosophische Theorie ihm früher besonders
erwünscht schien. Hatte doch Protagoras und fast die ganze Skepsis
die Gewißheit der inneren Wahrnehmung unangetastet gelassen;
gerüttelt hatten diese Denker nur an der vordem ungebrochenen
Voraussetzung, man erkenne damit schon Eigenschaften wirklicher
Dinge oder Erlebnisse wirklicher Seelen. Daß ich Süßigkeit emp-
finde, so lehrten sie, kann mir niemand wegdeuteln, daß aber Honig
süß ist, wer will es wissen. Gerade aus dem Glauben an die un-
antastbare Gewißheit der inneren Wahrnehmung entsprang eine
Deutung von der Eigenart der Selbstbeobachtung, die hernach
manchen ungerechtfertigten Einwand erwecken mußte. Aus diesem.
metaphysisch befangenen Vertrauen in die innere Wahrnehmung
nämlich entspringt die Ansicht, als sei Selbstbeobachtung eines
Erlebnisses soviel wie ein Wiederrufen des Vergangenen, eine Re-
produktion des entschwundenen Bewußtscinsinhaltes. Wer an dieser
Ansicht festhält, der muß gefaßt sein auf den Einwand: Wie nun,
wenn die bloße Selbstbeobachtung das Erlebnis verfälschte? Wie
häufig fälscht doch die Erinnerung. Das ist ein Einwand, dem-
gegenüber diese ganze Theorie der Selbstbeobachtung wehrlos ist.
Nur spricht alle Erfahrung dafür, daß Selbstbeobachtung ganz
etwas anderes ist, als so ein Wiederrufen vergangener Erlebnisse.
Auf diese ganze Ansicht nun vom Wiederrufen würde wohl kein
Psychologe soviel Wert legen wie frühere Zeiten, wenn er nicht
mehr so über die Maßen auf die Gewißheit der inneren Wahrnehmung
baute. Aber wir dürfen uns darauf nicht mehr verlassen, weil die
Erfahrung. unterdessen gezeigt hat, daß es Erlebnisse gibt, von
denen wir sofort hinterher nicht mehr wissen, wie sie beschaffen
waren; wir können nur noch angeben, daß etwas erlebt wurde und
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 163
daß es eine besondere Beschaffenheit hatte. Ja in manchen Fällen
zweifeln wir, ob wir ein Vorstellungsbild (z. B.) hatten oder nicht.
Mit besonderem Nachdruck hat neuerdings Külpe auf die Trag-
weite dieser Einsicht hingewiesen, und wie die Philosophie hat sich
auch die Lehre von der Selbstbeobachtung damit abzufinden; denn
die Tatsache ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Soviel über
die Besonderheit der Selbstbeobachtung auf unserem Grenzgebiet
und über die metaphysische Gefahr.
Diese Erwägungen legten uns schon einen Haupteinwand gegen
die Selbstbeobachtung als Methode der Psychologie nahe. Er lautete:
Die Selbstbeobachtung verfälscht vielleicht das Erlebnis: denn die
Erinnerung fälscht häufig. Also ist Selbstbeobachtung unzuverlässig.
Dagegen sagten wir: Selbstbeobachtung und Reproduktion sind
zweierlei. Was häufig, wenn auch nicht immer, von der Erinnerung
gilt, braucht nicht gegen die Selbstbeobachtung zu gelten. Wir können
aber den Einwand verallgemeinern und sagen: Selbstbeobachtung
könnte jedes Erlebnis verfälschen; wie können wir uns darauf ver-
lassen? In dieser Gestalt kann uns der Einwand nicht schrecken.
Ebensogut kann man einem Astronomen einwenden: Astronomische
Beobachtung verfälscht vielleicht das Bild im Fernrohr. Dergleichen
hinzuwerfen, ohne es zu beweisen, ist skeptische Quertreiberei und
als solche unwiderleglich wie aller grundsätzliche Zweifel. Diese
skeptischen Versicherungen in ihrer Allgemeinheit kann niemand
widerlegen, aber auch niemand beweisen; wer so einwendet aber
hat die Beweislast. Der Skeptiker sage uns, warum Selbstbeobach-
tung verfälschen soll; vielleicht, daß wir den Fehler in Rechnung
stellen können, genau so gut, wie es der Astronom tut, den die Be-
obachtungsfehler deshalb nicht rühren. Unter dem Druck dieser
gerechten Anforderung nimmt unser Einwand wieder Gestalt an
und lautet nun: Die Selbstbeobachtung lenkt die Aufmerksamkeit
auf das Erlebnis, das vorher vielleicht unbeachtet war; so fälscht
sie. Dieser Einwand wäre stichhaltig, wenn wir nuf beachtete Er-
lebnisse beobachten könnten. Daß wir auch das Unbeachtete doch
beobachten können, scheint zunächst wenig einleuchtend. Man
wird sagen, was denn Beobachten anders sei, wenn nicht ein vor-
sätzliches Hinwenden der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand,
der beobachtet werden soll. Angenommen, in meinem Gesichtsfeld
befinde sich ein leuchtender und farbiger Punkt, und ich will be-
obachten, ob er Veränderungen unterworfen ist, — nun so fixiere
ich diesen Punkt mit meinen beiden Augen und wende mich ihm
aufmerksam zu. Das ist dann Beobachten, und mit der Selbst-
n*
164 I. Abhandlungen.
beobachtung wird es in diesem Punkte kaum anders stehen. In
der Tat, da ist manche Verwandtschaft zu entdecken, und deshalb
wollen wir uns gerade dies einfache Beispiel zu eigen machen, um
zu zeigen, daß Beachten doch nicht Beobachten ist. Angenommen,
in meinem Gesichtsfeld befinde sich ein roter leuchtender Punkt,
so kann ich ihn freilich mit konvergierenden Augen fixieren, ich
kann ihn beachten und zugleich auch beobachten.. Ich kann
auch meine Augen zur Seite schweifen lassen; vielleicht bemerke
ich da einen leuchtenden grünen Punkt, den ich zugleich beachten
und auch beobachten kann. Nun stehen mir aber noch mannig-
fache Möglichkeiten offen. Z. B. kann ich den roten Punkt fixieren,
den grünen beachten und beobachten. Ich kann auch den roten
Punkt fixieren, den grünen beachten, aber den minder beachteten
roten Punkt beobachten. Diese Möglichkeit ist für uns die ent-
scheidende. Den grünen Punkt starre ich mit der Aufmerksamkeit
an, ich beachte ihn überaus; den roten Punkt fixiere ich mit ab-
gelenkter Aufmerksamkeit. Der grüne Punkt ist undeutlich gesehen,
aber beachtet, der rote fällt auf die Stelle des deutlichsten Sehens, -
ist aber kaum beachtet. Dennoch kann ich den roten beobachten,
d. h. ich kann ein Wissen von ihm und seinen Veränderungen ge-
winnen. Beobachten ist nicht immer Beachten, immer aber ent-
springt es aus dem Vorsatz, Wissen zu gewinnen. Beobachten ist
nicht immer Beachten, eher schon wäre es eine Art zu denken, und
zwar die rezeptivste Art zu denken. Hieraus sehen wir: Was häufig
von der Beachtung gilt, braucht nicht gegen die Selbstbeobachtung
zu gelten; denn Beobachten und Beachten ist zweierlei. Dafür
spricht die erwiesene Möglichkeit, neben dem Beachteten mit gleicher
oder auch höherer Sorgfalt zu beobachten, was unbeachtet geblieben
ist. Gleichzeitig können beachtete und unbcachtete Inhalte im
Bewußtsein gegenwärtig sein, beide lassen sich unter günstigen
Bedingungen beobachten. Mit alledem ist nicht gesagt, Beachtung
und Beobachtung seien voncinander durchaus unabhängig; aber
für die Beobachtung ist die Beachtung durchaus nicht conditio
sine qua non. Der Einwand gegen die Selbstbeobachtung, sie ver-
ändere wegen der unlöslich mit ihr verbundenen Beachtung dic
Gegenstände der Selbstbeobachtung, die Inhalte des Erlebnisses,
ist in dieser allgemeinen Form somit abzuweisen. Anders ist es
mit dem: Einwand, der im besonderen geltend macht, die Selbst-
beobachtung raube den Gefühlen ihre Echtheit. Auch da erhebt
sich die Frage: »Beachtung oder Beobachtung« Wird die Echtheit
des Gefühls nämlich durch die Beachtung gestört, so könnte sich
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 165
die methodische Psychologie an die Beobachtung unbeachteter Ge-
fühle halten. Es würde methodisch genügen, die Aufmerksamkeit
von ihnen abzulenken und sie dann zu beobachten. Liegt die Störung
an der Beobachtung, so muß der entstehende Fehler genau gekenn-
zeichnet werden, er muß womöglich in Anrechnung gebracht werden.
Ganz unterschieden von den Leistungen der Aufmerksamkeit bringt
demnach die Selbstbeobachtung etwas zustande, was das Denken
eigentümlich leistet. Sie gewinnt ohne Umgestaltung ihres Gegen-
standes von diesem ein aktuelles Wissen. Dieses aktuelle Wissen,
der eigentliche Inhalt vollzogener Selbstbeobachtung, ist höchst-
beachtet gegenwärtig, der beobachtete Gegenstand, das beobachtete
Erlebnis braucht nicht beachtet zu sein, es genügt, wenn es gegeben
ist. Dieser Leistung der Selbstbeobachtung, dem rezeptiven Denken,
steht die Theorie, Selbstbeobachtung sei Selbstbeachtung ebenso
fremd und hilflos gegenüber, wie die Theorie, Selbstbeobachtung
sei immer ein Wiederrufen (Reproduzieren) des vergangenen Er-
lebnisses.
Damit sind die großen Einwendungen gegen alle Selbstbeobach-
tung noch keineswegs erschöpft. Ihr fordert die Selbstbeobachtung,
ließe sich sagen, und nennt sie einen Vorgang, der Wissen schafft,
und im selben Atem verbietet ihr euern Versuchspersonen ein jeg-
liches Nachdenken. An eines können sich die geprüften Beobachter
doch nur halten. Entweder sie beginnen sich aktuelles Wissen zu
verschaffen, sie denken nach und liefern bedenkliche Begriffsanalysen,
Theoreme statt der Erlebnisse, oder sie geben das Denken auf und
geraten in einen abenteuerlichen Zustand von Dumpfheit, worin
gedankenlose Erlebnisse auftauchen und verschwinden. Auch diese
Art einzuwenden ist konstruktiv, und ihr mangelt die Fühlung mit
dem wirklichen Wissenschaftsbetrieb, wo immer sie heute gebraucht
wird. Zu erwidern wäre, daß die Selbstbeobachtung immerhin
eine Art von Denkvorgang sein mag, daß aber nicht jeder Denk-
vorgang ein Nachdenken ist, theoretische Spekulation und Begriffs-
analyse. Das Nachdenken und Ueberlegen verbieten wir den Ver-
suchspersonen, damit aber noch lange nicht alles, was dem Denken
verwandt ist, und somit vermeiden wir die künstliche Verdumpfung
ebenso wie das Klügeln aus vorgefaßten Begriffen.
Wenn sonach alle Einwände derart nicht mehr helfen, beginnt
man sich die Ergebnisse der Selbstbeobachtung anzusehen und be-
hauptet alsdann: Die Ergebnisse der Selbstbeobachtung sind wider-
spruchsvoll. Um zu verstehen, wie das gemeint ist, sehen wir uns
einmal zwei solche »widerspruchsvolle« Aussagen an. Wir begeben
166 I. Abhandlungen.
uns in eine Versuchsreihe über projizierte Vorstellungen. Das sind
Erinnerungsbilder oder Phantasiebilder anschaulicher Art, die manche
Individuen in den Gesichtsraum hineinzulokalisieren vermögen. Da
schwebt nun das Vorstellungsbild eines Gemäldes, nur für den Pro-
jizierenden »sichtbar«, neben dem Original. Nun sagt eines Tages
eine Versuchsperson aus: »Um Einzelheiten an einem wirklichen
Bild nacheinander höchst deutlich zu sehen, brauche ich Augen-
bewegungen; um sie so an einem projizierten Vorstellungsbilde
zu »schen«, mache ich »Aufmerksamkeitsbewegungen«. Am Ende
der Versuchsreihe sagt dieselbe Versuchsperson: Um mir Einzel-
heiten bei einem wirklichen Bilde zu vergegenwärtigen, genügen mir
Aufmerksamkeitsverteilungen; um sie mir bei einer projizierten
Vorstellung zu verdeutlichen, mache ich mit Vorliebe Augenbewe-
gungen.« Da, meint unser Einwand, ertappen wir die Versuchs-
person auf einem Widerspruch mit sich selbst. Beide Aussagen
laufen einander durchaus zuwider, sie schließen sich gegenseitig
aus. Also kann nur eine die Wirklichkeit treffen, die’ andere ist
theoretisch erklügelt;; vielleicht sind es gar beide. Jedenfalls schenkt
uns die Selbstbeobachtung widerspruchsvolle Aussagen. Hier und
in allen entsprechenden Fällen würden wir erwidern: Nicht die
mindeste Unvereinbarkeit ist in den Aussagen, wenn der Schein
noch so sehr dahin wirkt. Es ist mir wichtig, das hervorzuheben,
weil dieses seltsame Bedenken, tief eingewurzelt in unseren Denk-
gewohnheiten, oft auch Versuchspersonen befällt, sie mißlaunig
und den anfangenden Versuchleiter stutzig macht. Aus dem Er-
lebnis heraus zu solchen Aussagen genötigt, sind die Versuchspersonen
geneigt, damit zurückzuhalten, um sich nicht zu widersprechen.
Wie oft habe ich sagen hören: »Ich habe Ihnen jetzt genau das Gegen-
teil gesagt, wie neulich. Aber es war damals wahr, und es ist heute
wahr.« Diese furchtbaren Widersprüche muß der Versuchsleiter
hinnehmen, ja freundlich aufzeichnen, wenn er nicht seinen Beruf
verfehlt hat. Zeigen doch diese sog. Widersprüche Wendepunkte
in der inneren Entwicklung der Versuchsperson dem künstlichen
Erlebnis gegenüber. Der Versuchsleiter hat also, ohne theoretische
Umschweife, die Versuchsperson gänzlich zu beruhigen. Was nun
unsere Aussage betrifft, so ist logisch an ihr garnichts zu tadeln;
denn die Versuchsperson beschreibt Erlebnisse und sagt keine Gesetz-
mäßigkeiten unmittelbar aus. Die Aussagen fingen nicht an: »Immer,
wenn man .. .« Sachlich sind die Aussagen ebenfalls nicht un-
vereinbar. Die erste Aussage zeigt ein Stadium geringer Uebung.
Alles, was an einem wirklichen Bilde beachtet werden soll, muß
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 167
zuvor fixiert werden. Bei genügender Uebung beachtet die Ver-
suchsperson auch, was sie indirekt erblickt. Sie nimmt es nun schon
hinreichend deutlich wahr, um die geforderte Aussage mit höchster
Sicherheit machen zu können. Ebenso ist es mit dem zweiten Teil
der Aussage. Anfangs kann die Versuchsperson Einzelheiten am
projizierten Vorstellungsbilde nur mit äußerster Anspannung über-
haupt erleben und beschreiben. Sollte sie überdies noch Augen-
bewegungen ausführen, so würde die damit eingeführte Störung
hinreichen, um das ganze Bild zu zerstören. Bei genügender Uebung
hat sich eine neue Koppelung ausgebildet. Das Bild schwebt deut-
licher und eindringlicher vor, als einem lieb ist. Die Augenbewegung
suggeriert in diesem Stadium, daB die »fixierten« Einzelheiten sich
herausheben, was am Wahrnehmungsgegenstande bei Augenbewe-
gungen unfehlbar eintreten wiirde.
So ist es also höchst verfehlt, die Logik gegen die Psychologie
ins Feld zu rufen. Die Gegenstände der Psychologie zeigen eben
häufig ein Verhalten, das den Gegenständen anderer Wissenschaften
unmöglich oder wenigstens fremd ist. Der alte Rationalismus in
der Psychologie, von dem uns manches so gar »überwunden« an-
mutet, verlangte von den Erlebnisinhalten, sie sollten sich gebärden
wie die Begriffe. In dem heute keineswegs überwundenen Einwurf:
»Selbstbeobachtung liefert Widersprüche« leben die schlechten An-
gewohnheiten dieses sonst gar nicht verdienstlosen Rationalismus
fort. Heute sind wir eher geneigt, von den Erlebnisinhalten zu
verlangen, sie sollten sich verhalten wie wirkliche Dinge der Außen-
welt. Die unbezweifelten Erfolge naturwissenschaftlicher Methodik
haben uns dahin erzogen. Messen wir z. B. zwei Längen aneinander,
so müssen sie im Raume gegenwärtig sein, wir erzielen womöglich
eine Deckung zweier Flächen; so will es mit Fug die Methode. Ver-
gleichen wir aber einen Ton a mit einem schon verklungenen Ton g
und finden ihn mit unübertrefflicher Sicherheit höher als den Ton g,
so beginnen wir (als Anfänger), den verklungenen Ton g verzweifelt
irgendwo im Erlebnis des Tones a zu suchen. Er muß doch irgendwo
gewesen sein, wie sollten wir ihn sonst so trefflich verglichen haben.
Nein er »muß« gar nirgends im Erlebnis gewesen sein. Das ver-
langen heißt nur, Gegenstände der Psychologie fälschlich beurteilen
wie Gegenstände der Naturwissenschaft. Solche Denkgewohnheiten
sind nicht um ein Haar besser als der Logismus der Aufklärer. In
uns steckt auch noch zuviel Physizismus, wenn wir uns über manche
Dinge im Erlebnis wundern. Da können wir z. B. einen Erfolg ganz
zuversichtlich erwarten, ohne daß wir von vornherein angeben
168 I. Abhandlungen.
könnten, wie er anschaulich beschaffen sein soll, was alles er uns
bedeuten wird, — und dennoch können wir von einem wirklich
eintretenden Erfolg sagen: Eben diesen haben wir erwartet und
keinen sonst. Wir ziehen aus diesen Darlegungen die Lehre, daß
zwischen Erlebnisinhalten mancherlei Beziehungen und Abhängig-
keiten obwalten, die weder unter Begriffen, noch zwischen wahr-
nehmbaren Dingen vorkommen.
Für die Religionspsychologie hat diese Abwehr der Beachtungs-
theorie der Selbstbeobachtung, hat diese Sicherung vor Logismus
und Physizismus ihre besondere Wichtigkeit. Denn oft wird der
Religionspsychologe Zuständen von besonders angespannter und
eingeengter Aufmerksamkeit begegnen. Nimmt er nun an, Beobach-
tung sei soviel wie Beachtung, dann wird er für die methodische
Selbstbeobachtung zu fürchten beginnen. Wie möchte wohl für
die Beobachtung noch Aufmerksamkeit frei sein, wenn das intensive
Erlebnis doch schon alle verfügbare für sich beansprucht. Solche
fruchtlosen Erwägungen werden ferngehalten und stören nicht mehr
bei klarer Besinnung auf den Unterschied von Beachten und Be-
obachten. Vor dem Logismus muß sich der anfangende Religions-
psychologe hüten, wenn er beginnt, die großen Willenskonflikte
sich zum Problem zu machen. Da kann ein Zustimmen und ein
Verwerfen, ein Nachgeben und ein Widerstreben nebeneinander im
Erlebnis vorkommen, ohne daB der Aussagende sich in Widersprüche
verwickelt, wenn er schließlich gesagt hat: Ich wollte, und zugleich
wollte ich auch nicht. Schließlich kann auch der Physizismus der
Religionspsychologie unversehens gefährlich werden. Es wird z. B.
die Eigenart der Vision bei primitiven Völkern zum Ausgangspunkt
genommen, und es knüpfen sich Selbstbeobachtungen an über die
Verwandlung von Vorstellungen ineinander, über ihre Durchdring-
lichkeit, ihr Verschwinden, kurz über alle die Züge des Vorstellungs-
lebens, denen wir in der magischen Weltansicht begegnen. Da werden
wir vor Physizismus sicher sein, solange wir unsere Ermittelungen
auf die Welt der Vorstellungen beschränken. Hindern könnte nur
der Physizismus, die Grundlagen dieser quasi magischen Erlebnisse
in der gemeinsamen Welt der Wahrnehmung zu suchen. Unter wirk-
lichen Dingen kommt so etwas gar nicht vor, wie Verwandlung im
magischen Sinne und ein absolutes Verschwinden; die Physik weiß
davon ja nichts. Diese Fragen entscheidet auch die Physik gar nicht.
Sie kümmert sich freilich nicht um die Wahrnehmungen, die mangels
Beachtung abblassen, um die Wahrnehmung des Verschwindens in
Wolken, um die Wahrnehmung absolut »vernichteten« Rauches,
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 169 .
um die Lückenhaftigkeit und Undeutlichkeit vieler Empfindungen,
über ihren Mangel an Einzelheiten. Aber der Religionspsychologe
muß alle diese angeblichen Kennzeichen der Vorstellungen erst
einmal unter den Empfindungen finden, wenn er der magischen
und animistischen Weltansicht auf den Grund schauen will. Das
kann er erst, wenn er dem falschen Physizismus entschlossen ab-
sagt. Vor Logismus und Physizismus gesichert, wird der anfangende
Religionspsychologe seinen Beobachtern das Theoretisieren unter-
sagen, nicht besorgt, damit den eigentlichen Geist zum Tempel
des Erlebnisses hinauszutreiben. |
Aber wenn nun der psychologisch arbeitende Theologe sich
hier schon ganz beruhigt fühlen würde, dann wäre er doch etwas
zu schnell zufrieden. Gerade ihn würde hier der Einwand treffen,
daß die religiösen Erlebnisse viel zu komplex und zu kompliziert
sind, als daß man Aussicht hätte, ihnen mit methodischer Selbst-
beobachtung beizukommen. Gelegenheitsbeobachtungen (würde sich
dieser Einwand verdeutlichen) mögen einmal gelingen, für eine
wirkliche Durchdringung sind die Erlebnisse nach noch so vielen
Untersuchungen immer noch viel zu unanalysiert. Dieser Einwand
beruft sich mit stets gleichbleibendem Ernst auf die Naturwissen-
schaften, wo es damit ganz anders bestellt sei. Die chemische Re-
torte, sagt dieser Einwand (Dodge), ist vor jedem Versuch von
Rückständen rein, die Psyche niemals. Das heißt die Sache nur
von einer Seite sehen. Wollten wir vom Naturforscher eine er-
schöpfende Durchdringung verlangen, wie dieser Einwand sie dem
Psychologen zumutet, was müßten wir dann alles fordern? Wer
Mechanik des freien Falles treibt, der dürfte uns über den Kohlen-
gehalt der Eisenkugeln, die er fallen läßt, die Auskunft nicht ver-
weigern, und über die Herkunft des Seidenfadens, der seine Gewichte
trägt, müßte er Bescheid wissen. Den Chemiker müßten wir nach
dem spezifischen Gewicht seiner Retorte fragen und nach ihrer mut-
maßlichen Lebensdauer. Kurz, dieser Einwand übersieht aus blinder
Ergebenheit in die Forschungsart der Naturwissenschaft deren
gründlichsten Vorzug, an dem es auch der Psychologie nie zu mangeln
braucht. Die Gegenstände der Naturforschung sind ziemlich un-
begrenzt weiterzuanalysieren, ebenso wie die Gegenstände der Psycho-
logie. Sofern und nur sofern sind auch sie immer noch zu komplex,
stets viel zu kompliziert. Aber in diese analysierten Komplexe
lassen sich vorgefaßte Aenderungen planmäßig, »a priori« einführen.
Was diese zuvor gewollten und bedachten, meist höchst einfachen
Bedingungen bewirken, das kann eindeutig ausgemacht werden.
170 I. Abhandlungen.
Einfach sind diese Bedingungen immer im Vergleich zu dem wirk-
lichen Komplex, in den sie eingeführt werden; dennoch schenken
gerade diese einfachen, vorbedachten Bedingungen uns die Grund-
lagen aller Erkenntnis von Wirklichkeiten, soweit Wissenschaft sie
schenken kann. Wenn nur diese vorbedachten Bedingungen ein-
fach bleiben, erschöpfend zu durchdenken sind und übersichtlich,
dann ist es höchst gleichgültig, wie verwickelt immer der Komplex
sei, den wir ihnen unterwerfen. So ist es bei Fallversuchen gleich-
gültig, ob sie mit eisernen oder mit bleiernen Kugeln durchgeführt
werden.
Damit wären die Grundeinwände im allgemeinen abgewiesen,
die Einwände wenigstens, die den beginnenden Religionspsychologen
gleich von vornherein abschrecken könnten, mit praktischer Arbeit
überhaupt zu beginnen. Wir wollen nun untersuchen, wieweit diese
Einwände doch im besonderen triftig sind und wie wir als Prak-
tiker ihnen begegnen. Daß wir Triftigkeit an ihnen irgendwo ent-
decken, wird ja niemanden verwundern; denn wir haben nur
Einwände herangezogen, die letzthin von großen Denkern stammen.
Wir haben nur den Trost, daß sie auf die Psychologie früherer Zeiten
besser passen, als auf die methodische Selbstbeobachtung unserer
Tage.
Zunächst ließe sich da der Einwand verfeinern, der meinte, alle
Selbstbeobachtung sei so unzuverlässig wie die Erinnerung und Zu-
rückbesinnung. Wenn auch Selbstbeobachtung durchaus nicht das
selbe ist, wie ein bloBes Wiederrufen des vergangenen Erlebnisses,
so müssen doch mindestens gewisse Anhalte der Selbstbeobachtung
reproduzibel bleiben, wenn überhaupt eine Aussage gelingen soll.
Diese Anhalte zur Aussage unterliegen auch den unentrinnbaren
Schwächen des behaltenden Gedächtnisses. Nur 1 Sekunde braucht
ein Erlebnis zu dauern, und schon verschwinden mannigfache In-
halte, die unwiederbringlich vergessen bleiben. Gegen diesen Ein-
wand läßt sich zwar allerlei Stichhaltiges vorbringen; allein wir
müssen ihm schließlich doch eine entscheidende Konzession machen.
Zu erwidern wäre etwa wie folgt. Manche Inhalte können ohne
Schaden verloren werden, da absolute Vollständigkeit der Aussage
garnicht im Sinne der Methode zu fordern ist, wie wir soeben erst
zeigten. Ferner sind die Anhalte der Aussage nicht so sehr den Schwä-
chen des behaltenden Gedächtnisses unterworfen wie andere Inhalte
des Bewußtseins. Meist sind sie hoch beachtet, oder es sind ab-
kürzende Schemata, die. sich besonders tief einprägen. Aber trotz
all dieser Gegenerinnerungen muß schließlich zugegeben werden, daß
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 171
doch einmal entscheidende Anhalte der Aussage vergessen werden
könnten. Diesem Einwand gegenüber helfen keine theoretischen
Hinweise auf die widerlegende Erfahrung, keine Beweise dessen,
wie konstruktiv-spekulierend der Einwand im Grunde gebaut ist.
Dieser Einwand verurteilt triftig genug alle die Selbstbeobachtungen,
die sich nicht auf wiederbringliche Erlebnisse gründen können,
d. i. alle Selbstbeobachtungen ohne methodische Versuche. Im
Versuche lassen wir ja stets die selben oder »a priori« variable Be-
dingungen einwirken und fragen deren Einfluß nach. Da es uns
nur darauf ankommt und nicht auf billige Vollständigkeit sonst,
dürfen wir getrost erwarten, daß die entscheidenden Erlebnisse
und ihre Anhalte sich wieder und wieder zur Aussage bereitstellen
‘werden, bis sie nicht mehr vergessen werden. Immer wiederholte
gleiche Einflüsse wecken schließlich immer wieder gleichartige Er-
lebnisse, die sich eben durch ihre Gleichartigkeit immer zwingender
aus dem Wust der wechselnden Inhalte herauslösen. Sollte so ein
Anhalt der Aussage dann trotzdem zwei bis dreimal verloren werden,
so wird er noch immer nicht unwiederbringlich vergessen sein, wie
bei der Selbstbeobachtung ohne Experiment. Ein solcher Anhalt
wird ein- bis zweimal dringend gesucht; bleibt dies erfolglos, so prägt
er sich beim dritten Versuch unauslöschlich ein, und was beim dritten
Versuch noch durch die Maschen schlüpft, tut es nicht mehr beim
dreißigsten.
Jede gelegentliche Selbstbeobachtung im täglichen Leben ver-
dankt ihr Entstehen dem Zusammentreffen von Umständen, die
sich so kaum wiederholen. Wird dann auch nachträglich von diesen
vielen Umständen einer zur entscheidenden Bedingung erklärt, so
ist damit doch nichts gewonnen; denn meist wissen wir nicht, wie
solche Bedingung genau wiederhergestellt werden sollte. Was an
wichtigen Anhalten für eine Aussage bei solcher Gelegenheits-
beobachtung vergessen wird, ist somit unwiederbringlich verloren;
niemand kann ermessen, wieviel Wertvolles gerade aufbehalten
wurde. Führen wir aber experimentell wiederholbare und nach-
prüfbare Bedingungen ins künstliche Erlebnis ein, so kann man
nicht mehr sagen, daß unwiederbringliche Umstände allein einer
jeden Selbstbeobachtung das Dasein schenken. Auch wenn die
experimentelle Methodik ihrerseits besonderen Einwänden ausgesetzt
werden kann, so gewinnt doch die methodische Selbstbeobachtung
durch den psychologischen Versuch: Wiederholbarkeit der Versuchs-
bedingungen, Nachprüfbarkeit der künstlichen Einwirkung, Wieder-
bringlichkeit vergessener Anhalte der Selbstbeobachtung. Nur für
172 I, Abhandlungen.
hochbeachtete eindrucksvolle Erlebnisse (etwa großer Persönlich-
keiten der Religionsentwicklung) können wir dem behaltenden
Gedächtnis einmal vertrauen. Sonst müssen wir unter dem Druck
verfeinerter Einwände zugeben: Nur die Selbstbeobachtung im
technisch einwandfrei durchgeführten Experiment gilt als methodische
Selbstbeobachtung gegenüber der natürlichen und gelegentlichen
Selbstbeobachtung. Künftighin bezeichnen wir als methodische
Selbstbeobachtung also nur die Selbstbeobachtung im exakten
psychologischen Experiment. Für diese Selbstbeobachtung gilt,
auch wenn noch soviele objektive Methoden anerkennenswert neben
sie treten, daß erst durch sie die Psychologie zu einer eigenen Wissen-
schaft wird. So glauben wir unbesorgt aussprechen zu dürfen: Ohne
Selbstbeobachtung keine eigentliche Psychologie, ohne psychologi-
sches Experiment keine methodische Selbstbeobachtung.
So müssen wir schon durch methodische Selbstbeobachtung
völlig geschulte Psychologen sein, ehe wir Beobachtungen an Kindern,
Wilden und Tieren mit einigem Erfolge deuten können. Wenn uns
demnach auf einem Gebiete keine hinreichenden Aussagen von
Selbstbeobachtern vorliegen, so ist unbedingte Skepsis geboten
allem gegenüber, was wir durch Einfühlung zu erkennen vermeinen.
Nicht nur der Symptomaufzeichnung, dem Experiment über-
haupt müssen wir mißtrauen, bis wir die Stimme der Selbstbeobach-
tung gehört haben. Auch die elementarste Psychophysik bedarf
der eigentlichen Psychologie. Käme ein Reaktionsversuch ohne
Aussage einer exakten Beobachtung gleich, so müßten wir z. B. _
sicher sein, bei allen Streuungen in den Ergebnissen doch nur dies
zu messen: Das Anklingen der sensiblen Erregung im gesamten
Sinnesorgan, das Anklingen der Empfindung, den Akt der Inner-
vation, die Erregung des motorischen Nerven mit seinen Fort-
wirkungen und derartiges. Ohne Selbstbeobachtung werde ich nie
erfahren, ob die Instruktion genau erfüllt war. Z. B. wurde vielleicht
verlangt, es solle reagiert werden auf den Eindruck »rot«, es war
aber beim Reagieren erst anklingendes »Bunt« erlebt, richtig anti-
zipiert als beginnendes »Rot«. Ich werde nie erfahren, ob sich eine
störende Vorstellung in den Vorgang einmischte, ob ein Zögern im
Erlebnis war, ein Vorsatz, die Farbe erst deutlich werden zu lassen.
Ich verkenne ohne Selbstbeobachtung vielleicht, daß statt auf die
Wahrnehmung erst auf ein Urteil reagiert wurde, etwa auf das
Urteil: Rot richtig erkannt. Dies als Beleg für den Satz: Ohne
Selbstbeobachtung keine Psychologie.
_ Dem, was wir nun methodische Selbstbeobachtung nennen,
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 173
stellen sich zwei alte Einwände in neuer Prägung in den Weg. Wir
hatten den Einwand geprüft, der Beachtung und Beobachtung
für eins nimmt. Der nimmt hier gern folgende Form an: Die ex-
perimentellen Zurüstungen lenken die Beobachter ab und stören
sie. Die Aufmerksamkeit des Beobachters ist geteilt zwischen dem
Versuchsleiter, dem Apparat und der Aufgabe. Auch die Aussicht
auf die Aussage lenkt ab und macht kopfscheu. Dieser Art von
Einwänden ist die bescheidene Anfrage entgegenzuhalten: Woher
wiBt ihr so genau, wie störend das Experiment wirkt? An wie vielen
Experimenten mit Selbstbeobachtung habt ihr als Leiter oder Be-
obachter mitgewirkt? Diese Einwürfe werden nämlich gewohnheits-
gemäß laut bei vielen, die lieber von ferne über eine Wissenschaft
richten, statt sich erst jn ihr zu versuchen. Der Praktiker merkt
sehr bald, daß diese Einwürfe die leere Luft treffen. Nämlich der
geübte Seclbstbeobachter beachtet die bald gewohnte »störende«
Umgebung nach einer kurzen Zeitspanne, die sowieso der Einübung
dient, überhaupt kaum mehr. Wenn auch Anstarren mit ungeteilter
Aufmerksamkeit noch lange kein Beobachten gibt, so ist die Ver-
suchsperson weniger zersplittert als der Selbstbeobachter am Schreib-
tisch. Dieser Gelegenheitsbeobachter kann seine theoretischen
Voraussetzungen und seine Forschungsabsicht nicht über der Be-
obachtung vergessen. Er ist zwischen Beobachtung und Kritik
zersplittert. Die Versuchsperson weiß gar nicht um die theoretischen
Voraussetzungen. des Versuchsunternehmers, noch um sein For-
schungsziel. Gerade die Versuchsperson gibt sich in Wirklichkeit
ungestört der Selbstbcobachtung hin. Die Arbeitsteilung zwischen
Leiter und Beobachter vernichtet also den verderblichen Einfluß
vorgefaßter Meinungen, der als letzter großer Haupteinwand schrecken
könnte. Wer nicht anerkennen will, daß die technische Zurüstung
- der Versuche nicht stört, dem ist nur zu sagen: Er möge einen Ver-
such mit praktischer Forschung machen, aber einen ausgiebigen,
und dann urteile er.
So sahen wir denn, Selbstbeobachtung stiftet eher Anhalte
zu Aussagen, als daß sie vergangene Erlebnisse widerruft. Selbst-
beobachtung ist eher der rezeptivste aller Denkvorgänge als ein
aufmerksames Anstarren von Erlebnisinhalten; wenn Selbstbeobach-
tung auch bedenkt, so schafft sie doch nicht Inhalte und ändert sie
auch nicht, sie rezipiert sie, wie sie sind. Selbstbeobachtung liefert
keine Widersprüche, denn sie umschreibt ihren Gegenstand, sie
beurteilt ihn aber nicht und erkennt kein Gesetz ihres Gegenstandes.
Erst die logische Bearbeitung der Aussagen läßt ihr Gesetz erkennen.
174 I, Abhandlungen,
Nun gilt es zu lernen, wie die methodische Selbstbeobachtung tech-
nisch eingeleitet wird. Wenn es wirklich keine eigentliche Psycho-
logie ohne methodische Selbstbeobachtung gibt und kein Selbst-
beobachten ohne Experimente, dann gibt es auch keine methodische
Selbstbeobachtung ohne un sorgsam geprüfte und gebaute
Aufgaben und Fragen.
Niemals fällt uns vor einer technisch durchgeführten Unter-
suchung die wirksamste Fassung der Versuchsaufgaben (Instruktio-
nen) in den Schoß. Es genügt nicht das Wissen vom Untersuchungs-
ziel, die Antizipation des Untersuchungsverlaufs, die Erfahrung über
bekannte Reizeinwirkung, um die Instruktion synthetisch auf-
zubauen. Es gibt keine Gebrauchsanweisung zu musterhafter For-
melung von Versuchsaufgaben; dennoch läßt sich auf diesem Gebiete
mancher Wink mitteilen. Warum muß an der Versuchsaufgabe
soviel geknetet werden, warum läßt sie sich anfangs immer nur
vorläufig formeln? Am Anfange einer psychologischen Unter-
suchung wissen wir mit wissenschaftlicher Schärfe nur, welche Frage .
wir beantworten wollen, das Versuchsergebnis kennen wir nicht
vorweg. Natürlich hegen wir gewisse Vermutungen darüber, wie
wohl die Reihen ausfallen werden. Aber diese wohlbegründeten
Vermutungen werden doch durch die Einzelzüge des Ergebnisses
in allen Teilen so gründlich umgestaltet, daß die endgültige Ver-
suchsaufgabe nicht auf Grund solcher Antizipationen gebaut werden
darf. Wiederum muß die vorläufige Aufgabe nach gewissen Anti-
zipationen gerichtet werden, nach den Vermutungen über ihren
Einfluß nämlich. Jede Aufgabe will ein bestimmtes psychisches
Verhalten zumuten. Erst am Erfolg läßt sich abnehmen, ob die
Instruktion den gewünschten Einfluß geübt hat. Wieweit eine
Aufgabe erfüllbar ist, kann z. B. nur erprobt werden. In diesem
Gebiete von vorwissenschaftlichen Vermutungen, Einfällen und Vor-
versuchen muß gerade der Psychologe sich mit viel Takt zu bewegen
verstehen.
Daher müssen wir jede Formelung ciner Aufgabe, wie sie uns
nur einfällt, als vorläufig aufzeichnen, wenn sie uns noch so sehr
gefällt, wenn unscre Mutmaßung noch so schr. für sie spricht.
Wie also auch ein Einfall herangereift sein möge, zunächst
unterwerfen wir ihn einer vorwissenschaftlichen Prüfung. Man
bietet seine antizipierende Phantasie auf, versetzt sich in die Lage
der Versuchsperson inmitten der voraussichtlich geeigneten Um-
gebung, man mutet sich selbst die Leistungen der Versuchsperson
zu, übt sich auf Bewegungen ein, die man einüben lassen will; man
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 175
umgibt sich auch wirklich mit den zweckdienlichen Reizen oder
bietet sie sich provisorisch dar; man bespricht mit Freunden, die
nicht Versuchsperson werden sollen und unterwirft sie einzelnen
Zumutungen. Auf diese Weise fällt schon mancher untaugliche
Einfall weg. Man zieht dann frühere schlechte Erfahrungen zu
Rate und vergleicht verwandte Untersuchungen, um die Fehler
kennen zu lernen, vor denen sie warnen, und um sich der Selbständig-
keit seiner Einfälle zu vergewissern. Diese vorläufige Prüfung der
Einfälle wird um so gewinnbringender ausfallen, je getreuer wir
uns in die Lage einer Versuchsperson versetzen. Dies wird uns nicht
schwerfallen, wenn wir oft als Versuchsperson ohne eigene Einfälle
in fremden Untersuchungen mitgearbeitet haben. Die so gewonnene
Schulung in der Selbstbeobachtung kann man nicht überschätzen;
eine Fülle von Vorurteilen zerstieben während solcher Lernzeit. Ist der
Einfall so vorläufig geklärt, dann legen wir ihn als variable Annahme
den Vorversuchen zugrunde. Wir sind noch kritisch gegen eine
Aufgabe, der wir (als unserem Einfall) wahrscheinlich immer etwas
zuviel zutrauen.
Die Vorversuche werden mit einem Teil der Versuchspersonen
im streng unwissentlichen Verfahren bei provisorischer Versuchs-
anordnung durchgeführt. Sie enthüllen uns die Kluft zwischen der
vermuteten und der effektiven Wirkung unserer Instruktionen und
der Reizdarbietung. Mit vorsichtigen Schritten ändernd nähern wir
uns dem erwarteten Erfolg. Wir lernen unterscheiden, was erreich-
bar und unerreichbar ist, wir entdecken unter Umständen auch
methodischen Gewinn aus dem Eindruck einer unerfüllbaren Einzel-
aufgabe, die wir beibehalten oder ausscheiden können. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß ein unerwarteter Effekt uns besonders fesselt,
daß ein solcher »glücklicher Zufall« die ganze Untersuchung vertieft.
So kommen unsere Einfälle erst in sehr veränderter Gestalt zur
Ruhe; wir gewinnen Aufgaben, mit denen sich arbeiten läßt. In
den Vorversuchen empfiehlt es sich auch, daß der Versuchsleiter
sich selbst seinen Bedingungen unterwirft, um die Aussagen der
Versuchspersonen gerecht würdigen zu können. Er lernt dann den
Eindruck seiner Aufgaben am eigenen Leibe kennen. Dabei darf
er nicht Leiter und Beobachter in einer Person sein; denn er müßte
sonst seine Aufmerksamkeit teilen zwischen der äußeren Zurüstung,
der Versuchsaufgabe, der Selbstbeobachtung und der Niederschrift.
Er muß es also bei der Arbeitsteilung belassen und sich einen Ver-
suchsleiter (Instruktor) bestellen. Bei sehr verwickelten Versuchs-
anordnungen kann die Arbeitsteilung weitergehen. Es können
176 I. Abhandlungen.
schließlich beteiligt sein: technische Leiter, ein Instruktor und ein
Schreiber. Wie das auch ausfalle, niemals dürfen die Erlebnisse
des Erfinders einer Versuchsreihe mit denen der Versuchspersonen
zusammen bearbeitet werden; denn der Erfinder ist dem unwissent-
lichen Verfahren nicht mitunterworfen, er könnte also auch einmal
etwas erleben, nur weil er es erwartet, wenn auch diese Gefahr nicht
so groß ist, wie sie gelegentlich ausgemalt wird. Entscheidend für
das Ergebnis, ihm allein zugrunde zu legen, sind jedenfalls nur die
Aussagen der Versuchspersonen unter dem Einfluß der Aufgabe,
nicht die Erlebnisse des Versuchsunternehmers, der einmal mit in
den Schacht hinabsteigt; denn nur bei der eigentlichen Versuchs-
person bewirkt die Aufgabe eine echte Loslösung des künstlichen
Erlebnisses aus dem Strome des natürlichen Ablaufs. In diesem
Sinne wirkt die Aufgabe auf das gesamte psychische Leben der
Versuchsperson durchgreifend ein. Dies gilt es rückhaltlos anzu-
erkennen, um so mehr, als man aus intensiven Einwirkungen dem
Psychologen einen Vorwurf zu machen geneigt ist. Seltsamerweise
neigten selbst frühere Experimentalpsychologen dazu, diesen Vor-
wurf für einen ernsthaften Einwand zu nehmen. Und man mußtc
diese Art der Einwirkung auch fürchten, solange man nämlich an
der Fiktion festhielt, die Psychologie könne Realitäten nur dann
erkennen, wenn sie die natürlichen Erlebnisse durchaus intakt ließe.
Da konnte freilich eine Geistesrichtung gedeihen, deren Schlagwort
wäre: Psychologie, hüte dich vor der Suggestion. Wir wollen nun
nicht ausgesprochen behaupten, die Einwirkung der Aufgabe auf
die Versuchspersonen wäre im strengen Sinne suggestiv, obschon
wahr ist, daß sie in vielen Zügen den Effekt einer Suggestion hat.
Wir scheuen uns aber nicht, auszusprechen, daß es gar nichts schaden
würde, wenn die Einwirkung der Aufgabe suggestiv wäre. Denn
es heißt nicht mit Recht: Psychologie, hüte dich vor aller und jeder
Suggestion, sondern es darf nur heißen: Psychologie, hüte dich vor
jeder Suggesticn einer Aussage. Gewiß darf kein Psychologe einen
Beobachter seelisch infizieren mit einer vorgefaßten Theorie. Gesetzt
aber, der Einfluß der korrekten Aufgabe wäre wirklich suggestiv,
so löst er nur ein künstliches Erlebnis aus dem Zusammenhang der
natürlichen Erlebnisse los. Die Beobachtung des Erlebnisses ist
unbeeinflußt; denn die Aufgabe enthält keine Zumutungen über
die Inhalte der Aussage, sondern nur Zumutungen über die Be-
. dingungen des Erlebnisses; wenn sie also auch suggestiv wäre, so
kann sie doch nur ein künstliches Erlebnis als solches schaffen, sie
wird aber weder seinen Ablauf noch seine Beobachtung stören. Erst
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 177
eine Aufgabe, die dies täte, wäre als suggestiv, wäre als verkehrt
geformelt zu verwerfen. Damit müssen wir zugeben, daß nicht
jede Beeinflussung der Versuchspersonen durch die Aufgabe die
psychologische Methodik verfälscht. In der Praxis hat auch nie
ein experimenteller Psychologe anders gehandelt; denn schließlich
muß man den Versuchspersonen doch sagen, was sie nun eigentlich
beginnen sollen.
Sobald die moderne Psychologie sich entschließt, Erlebnisse
nicht abzuwarten, sondern hervorzurufen, so muß sie sich zu durch-
greifenden Einwirkungen auch bereitfinden. Eben dieser Erregung
ersonnener Erlebnisse dient die Versuchsaufgabe. Ist dieser Ein-
fluß der Aufgabe methodisch zulässig und prüfbar, dann findet
sich wohl auch eine Form der Frage, die ebenfalls ins Erlebnis
eingreift, ohne doch Aussagen vorgefaßter Urteile zu suggerieren.
Fragt sich noch, wie kommt die einfache Aufgabe, die doch nur
sagt, was zu tun sei, zu ihrer durchgreifenden Wirksamkeit, zu einer
Wirksamkeit, die uns eine wissenschaftliche Verantwortung für guten
Aufbau der Instruktionen auferlegt. Das machen wir uns am besten
klar an einem Vergleich zwischen Suggestion und Instruktion.
Der tiefe Eingriff der psychologischen Instruktion gelingt nuı,
wo der Instruktor bis zu einem gewissen Grade das Vertrauen in
seine wissenschaftliche Tüchtigkeit und ein bestimmtes Maß von
persönlicher Achtung seinen Versuchspersonen abnötigt. Die wirk-
samste Instruktion wird matt und lau im Munde eines fahrigen und
taktlosen Versuchsleiters. Statt daß allein die Aufgabe sich des
Bewußtseins der Versuchsperson bemächtigt, schleicht sich kritische
und herabwürdigende Beobachtung des Versuchsleiters mit ein. Wie
bei einer Wachsuggestion wird bei der Instruktion alle Wirkung
vernichtet durch einen Instruktor, der die Versuchspersonen nicht
im Augenblicke der Instruktion fesselt. Gelingt es aber dem Ver-
suchsleiter, daß die Versuchsperson keinen andern Inhalt als die
Aufgabe in ihrem Bewußtsein duldet, solange die Instruktion währt,
da wirkt der Instruktor ebenso tief ein wie der Suggestor. Nur
dann wird er ein künstliches Erlebnis wirklich wecken. Freilich
erleichtert die Versuchsperson dem Leiter seine Einwirkung viel-
leicht mehr, als irgendein Suggestibler seinem Suggestor die Be-
einflussung; denn die Versuchsperson kommt mit dem denkbar
besten Vorsatz, ihre Aufgabe zu erfüllen. Wer dies einsieht, wird
sich stets der Verantwortlichkeit bewußt sein, die jeder fühlen sollte, ©
der tief in den feinen psychischen Organismus eingreift. Das willige
Entgegenkommen der Versuchspersonen wirkt auch auf den Ver-
Archiv für Religionspsychologie IWIII. 12
178 I. Abhandlungen.
suchsleiter zurück. Er spricht, als setze er den Erfolg seiner In-
struktion sicher voraus. Unwillkürlich fast nimmt seine Sprechart
die nüchterne, gleichförmige, ruhige und stetige Färbung der Verbal-
suggestion an.
Diese gleichsam suggestive Wirkung der Aufgabe ist ebenso
tiefgreifend wie der Einfluß der echten Suggestion. Sie vermag
aus dem Gesamtgetriebe des alltäglichen psychischen Lebens ein
ganz bestimmtes Gebiet willkürlich loszulösen und losgelöst zu
erhalten. Die Wirkung der Aufgabe ist dissoziativ und verdient,
faktische Abstraktion zum Unterschiede von der logischen Ab-
straktion zu heißen. Kant meinte seinerzeit, aus dem Strom des
seelischen Geschehens ließen sich einzelne Erlebnisse nur durch
logische Abstraktion heraussondern; die Erfahrung lehrt, daß eine
weitreichende faktische Dissoziation unter den Einfluß der Auf-
gabe eintritt. Dabei verschwinden die Inhalte, von denen faktisch
yabstrahiert« wird, aus dem Bewußtsein; bei der logischen Abstrak-
tion brauchte nichts von dem Erlebnis faktisch zu verschwinden.
An die Momente des Erlebnisses, von denen man logisch abstrahiert,
wird nur nicht gedacht, sie werden nur nicht mitbeurteilt.
Man kann eine Probe darauf machen, wie stark beeinflußt,
wie fast suggestiv gepackt sich die Versuchspersonen dem künst-
lichen Erlebnis hingeben, wie rezeptiv die Einstellung auf methodische
Selbstbeobachtung ist. Fordert man im Versuch zu einem Inter-
mezzo aktiven Nachdenkens auf, so ist das für instruktionsgemäß
eingestellte Versuchspersonen eine unerhörte Zumutung. Sie werden
dann ganz aus ihrem eingeengten Bewußtseinszustand heraus-
gerissen, aus einem Zustande also, der Zeuge ist für die Wirksam-
keit gut gebauter Instruktionen.
Da fragt es sich, wann wir eine Instruktion gut gebaut nennen ?
Nun, die Anforderungen, die wir an die Instruktion stellen, ergeben
sich aus der Absicht, die wir damit verfolgen. Wenn wir jemandem
schon eine Aufgabe stellen, dann wünschen wir, daß er sie richtig
verstehe und ernstlich ausführe; ist es uns selbst mit dieser Absicht
ernst, dann geben wir nur erfüllbare Aufgaben. Demnach muß die
Versuchsaufgabe erfüllbar, verständlich und zwingend sein.
Ob eine Aufgabe erfüllbar ist, auch ob sie leicht oder schwer
für die Versuchsperson ist, das auszumachen taugen uns die Vor-
versuche. Unerfüllbare Aufgaben als Instruktor zuzumuten, hat
keinen Sinn, die Versuche kommen dabei überhaupt nicht in Gang.
Hierzu sind jedoch zwei Anmerkungen vonnöten. Jede Aufgabe
ist nur allgemeine Aufgabe, solange sie durch Instruktion zugemutet
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 179
wird. Jeder Versuchsreiz spezifiziert die Aufgabe. Eine allgemeine
Aufgabe kann für viele Versuchsreize erfüllbar sein. Z. B. laute
die allgemeine Aufgabe: Geben Sie an, wieviel Buchstaben Sie
aufleuchten sehen. Wenn ich nun 3 Buchstaben ı Sekunde lang
exponiere, so ist die Aufgabe erfüllbar, biete ich aber 7 Buchstaben
1/30 Sekunde lang dar, so ist nun die so spezifizierte Aufgabe nicht
mehr erfüllbar. Wenn wir also von der Aufgabe im allgemeinen
verlangen, sie solle erfüllbar sein, dann denken wir nur an Erfüllungs-
möglichkeiten mit Hilfe geeigneter Versuchsreize. Die Unerfüllbar-
keit von einer gewissen Grenze an verschafft uns ja gerade wert-
volle Aufschlüsse. Zweitens gibt es Aufgaben, die für gewisse Ver-
suchspersonen erfüllbar sind, für andere aber nicht, und zwar meinen
wir nun allgemein erfüllbar oder nicht. Z. B. werden Versuchs-
personen mit absolutem Gehör gewissen Anforderungen genügen,
bei denen alle andern schlechtweg versagen. Machen wir nun Ver-
suche über das absolute Hören, so lesen wir gerade nur die damit
begabten Versuchspersonen aus. Eine Selektion der Versuchspersonen
durch gewisse Mindestanforderungen beeinflußt also nicht das Ver-
suchsergebnis im Sinne irgendeiner vorgefaßten Meinung. Nur muß,
wer auswählt, Erfüllung seiner allgemeinen Aufgabe, weiter nichts, zum
Selektionsprinzip machen. Als erfüllbare Aufgaben bezeichnen wir
also solche, denen in ihrer allgemeinen Anforderung von auserlesenen
Versuchspersonen genügt wird. Notorisch beschränkte Köpfe können
wir nicht zu Versuchen über schwierige Abstraktionen brauchen.
Im übrigen spricht es meist weder für noch gegen die Intelligenz
der Versuchspersonen, wenn sie eine einzelne Mindestleistung er-
füllen oder nicht erfüllen, und kein Vorurteil der Versuchspersonen
ist zerstörenswerter, als dies, man wolle von ihnen eine ganz besonders
tüchtige Intelligenzleistung, man prüfe fortwährend. Wenn z. B.
ein Religionspsychologe das Behalten fest eingeprägter Formeln
prüft und vielleicht das apostolische Bekenntnis zugrundelegt, so
wird er von diesen Versuchen Versuchspersonen mosaischen Glaubens
ausschließen; denn kennen diese das Symbolum auch, so haben sie
es sich doch auf ganz andere Weise eingeprägt als Kinder christ-
licher Religion. Ihre »Minderleistung« wird ihnen also als Mangel
nicht irgendwie zugerechnet, und doch wären die jüdischen Ver-
suchspersonen gerade für diese Versuche »untauglich«. Weder ihrer
Intellektualität noch ihrer Konfession widerführe Unrecht.
Sagen wir nach alledem, eine Versuchsaufgabe müsse erfüllbar
sein, so meinen wir, daß es eine hinreichend große Anzahl von Ver-
suchsreizen geben müsse, denen gegenüber auserlesene Versuchs-
12*
180 I. Abhandlungen.
personen mindestens eine kleinste Anforderung erfüllen können.
Ob man des weiteren eine Versuchsaufgabe für die auserlesenen
Versuchspersonen leicht oder schwer macht, das hängt ganz von
dem Versuchsziel ab. Untersucht z. B. der Religionspsychologe
die Denkarbeit beim Verstehen eines schwierigeren Dogmas, so wird
er ausschließen, daß seine speziellen Aufgaben aus dem Gedächtnis
aufgelöst werden. Er würde ja sonst statt des Nachdenkens Re-
produktionen aus dem Schatz erworbenen Wissens untersuchen.
Das kann er nur ausschließen, wenn er seine Aufgabe methodisch
bis zu einem gewissen Grade erschwert. Und so kann man an man-
chen Orten tief in die entlegeneren Erlebnisse eindringen, wenn man
die Versuchsaufgaben schrittweis erschwert. Es gibt für die Religions-
psychologie genug Probleme, für die gewisse Erschwerungen, Zeit-
verkürzung und weniger äußerliche, angezeigt wären. Gerade Lese-
und Verständnisaufgaben wären in diesem Zusammenhange zu
nennen; wir denken an die Frage nach dem Ablesen wichtiger, viel-
leicht oft auswendig gewußter Texte (Brevier), an die Verständnis-
vorgänge beim Auswendigsagen sehr oft wiederholter Formeln mit
starkem Gefühlston (Segen, Liturgie).
Soll die Aufgabe außer den Lösungsmühen keine Schwierig-
keiten bereiten, so muß sie verständlich sein. Dies Ziel wäre
leicht zu erreichen, wenn man nicht zugleich die weitere Forderung
im Auge behalten müßte, die Aufgabe solle zwingend, von hoher
Wirksamkeit sein. Die beiden Anforderungen sind nicht ganz leicht
miteinander in Einklang zu bringen. Geben wir der Forderung hoher
Wirksamkeit nach, dann suchen wir nach einem knappen, treffenden
Imperativ. Dieser wird seinen Erfinder zwar immer verständlich
anmuten; alles, worum er den Imperativ verkürzt hat, weiß er noch,
und alles dies war sein Kommentar. Die Versuchsperson wird zwar
auch verstehen, aber nur auf Grund eines Kommentars, einer Aus-
deutung, die sie sich selbst dazu macht. Sie deutet nicht gerade
willkürlich, sie deutet, weil ohne solche Deutung überhaupt nicht
tiefer verstanden wird.
Zwar können wir auch in kürzeren Formeln dem Verständnis
mehr oder weniger entgegenkommen. Nicht als müßten wir den Text
der Instruktion deshalb besonders anschaulich gestalten, so daß
er sich mit anschaulichen Vorstellungen gut untermalen ließe. Schon
eher müssen die. Gedanken der Instruktion aufeinander glatt zu
beziehen sein und viele Gedanken eindeutig mitanklingen lassen.
Die Sätze einer Aufgabe werden ja nicht besser verstanden, wenn
viele Worte darin lebhafte Bilder wecken. Dabei würde die Auf-
Im.
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 181
gabe in blumigem Vortrag mitgeteilt werden, was ihr nicht zu ein-
dringendem Verständnis hilft. Das Satzverständnis baut sich ja
weder aus Bildern noch aus Wortvorstellungen auf; keines von beiden
taugte uns ohne den Sinn der Worte. Soll dieser Sinn uns aufgehen,
so müssen wir Gedanken vollziehen und anerkennen. An das Heraus-
schweben deutlicher und undeutlicher Vorstellungen und ihr Ver-
schmelzen zu einem Gesamtgebilde ist das Verständnis einer Aufgabe
nicht gebunden; wenn schon so etwas gelegentlich die Grundlage
darbietet. Auch ist der Sinn eines Wortes durchaus nicht gebunden
an das ganze Zeichen. Die Bedeutung kann an den Stamm mehr
gebunden sein als an die beugende Endsilbe. Es ist auch nicht
immer so, daß ein Satz erst verstanden wird, wenn seine einzelnen
Worte Sinn gewonnen haben. Gewiß kann solcher Aufbau auch
vorkommen, wenn wir nur bedächtig und überlegsam gestimmt
sind, wie ein Beobachter am Schreibtisch, der gerade über Satz-
verständnis grübelt. Häufig wird ein Satz erst gelesen, und erst
eine Weile darnach erfüllt uns sein Sinn; oder die Satzbedeutung
blitzt auf bei einem rhythmischen Höhepunkt. Es wäre also ver-
gebene Mühe, von einer anschaulichen, d. i. malenden Sprechart.
irgendwelches Heil für das Verständnis der Aufgabe zu erwarten.
Viel wichtiger als die sinnliche Untermalung, mit der so manche wenig
begabt sind, sind die Gewebe rasch geknüpfter Leitrichtungen
zwischen den Gedanken, die sich zueinander fügen, die aufeinander
hinweisen. Ihre Zusammenfassung erleichtern, eine eindeutige Er-
wartung des unausgesprochenen Gedankens vorbereiten, möglichst
wenig vorgreifende Vorwegnahmen enttäuschen, das leistet der
treffende Ausdruck weit mehr als die anschauliche Sprechart. Frei-
lich ist keine von beiden lehrbar; doch mancher besitzt heutzutage
die Begabung für beide. Ein solcher Forscher weiß es, und seine
Leser spüren es, auch läßt es sich am Einzelfalle nachweisen, wo
mehr anschaulich, wo mehr treffend gesprochen ward. Wer zwischen
anschaulicher Sprechart und treffendem Ausdruck für sich wählen
kann, der wähle nur den zweiten Weg, sobald er seine Versuchs-
aufgaben stilisiert. Lehrmittel, wie gesagt, gibt es hier nicht; es
sei denn, man erinnere an Schopenhauers Mahnung, klar und streng
alles zu durchdenken, ehe man das erste Wort niederschreibt. Dann
wird der Versuchsleiter wirksam in das psychische Leben der Ver-
suchsperson eingreifen, schon in dem Augenblick, wo seine Aufgabe
verstanden wird. Mit der Gegebenheit der Wortzeichen fesselt er
ihre Aufmerksamkeit zu vertieftem Verständnis. Schon mit den
ersten Worten klingt der Versuchsperson die Sphäre an, aus der
s
182 I. Abhandlungen.
die künftigen Erlebnisse stammen. Dann wird auch das aktuelle
Wissen von der zugemuteten Aufgabe die anfangs geweckten Er-
wartungen erfüllen und sich ihnen verdeutlichend zuordnen. Dann
wird er Antizipationen der zugemuteten Aufgabe enttäuschen und
ausschließen, sobald sie ihm unlieb sind. Durch ruhiges stetiges
Sprechen mit sachlichem Nachdruck in treffenden Worten wird der
Versuchsleiter seiner Instruktion rasche Auffassung und eindring-
liche Beachtung sichern.
Freilich ist mit alledem Verständlichkeit und Wirksamkeit
nicht in einem Siege gewonnen; denn der kurze Imperativ, den wir
der Wirksamkeit zuliebe aussuchten, läßt der Versuchsperson zuviele
Antizipationen — Erwartungen, die nur ihre Ausdeutung erfüllen
kann, weil der Wortlaut der Instruktion keine eindeutige Auskunft
gibt. Die leichtherzige Versuchsperson wird in solcher Lage nach
ihrer selbstausgebauten Aufgabe gewissenhaft handeln; dann ist
aber die gleichförmige Einwirkung zerstört. Es ergeben sich Un-
klarheiten. Versuchsleiter und Versuchsperson teilen sich in eine
Arbeit, über der sie sich auseinanderleben. Eine Verständigungs-
unterhaltung zwischen den beiden, viel zu spät entstanden, bringt
bestenfalls einige Klärung und unabsehbare Besserungsversuche.
Die schwerblütigeren Versuchspersonen geraten in Bedenken und
Zweifel, ob ihre spontane Auslegung des Imperativs zulässig gewesen
sei; der Zweifel führt zu Fragen, und auch hier erwächst eine Ver-
ständigungsunterhaltung zwischen Versuchsleiter und Versuchs-
person. Die ganze Unterhaltung führt vielleicht ein treffliches Ver-
ständnis der Aufgabe herbei, aber nur auf Kosten ihrer Wirksam-
keit.
Gehen wir nun umgekehrt von der Forderung eindeutiger Ver-
ständlichkeit aus. Wir mutmaßen vielleicht richtig, wo die Skrupel
der Versuchspersonen beginnen, noch besser, wir haben aus den
Vorversuchen Anhalte, richtig zu vermuten. Dann werden wir unsere
Instruktion zwar nicht unnütz breit gestalten (denn wir wollen den
Vorteil möglichster Knappheit nicht aufgeben), wir werden aber
sorgsam aller Mißdeutung aus dem Wege gehen. Nun haben wir
unsere Aufgabe leichtverständlich gemacht, die Versuchsperson hat
auch keinen Zweifel mehr an deren Deutung. Was sie aus eigenem
hinzutut, ist soviel, wie ein jeder unbesorgt hinzutun kann, nur
soviel, wie die allgemeine Sprache nun einmal nicht miterfaßt. Aber
nun wird die Versuchsperson von der Frage geplagt: »Was soll ich
eigentlich tun ? Ich begreife nur, was der Versuchsleiter unter diesem
und jenem verstanden wissen will.« Während der vielen Erläu-
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 183
terungen wartet die Versuchsperson immer auf den entscheidenden
Imperativ und spürt kaum, wie dessen Bestandteile ihr tropfenweis
verabreicht worden sind.
Zu diesen Schwierigkeiten kommt noch eine neue hinzu, die
dem Versuchsleiter am wenigsten auffallt. Ihm ist seine Umgebung
mit ihren Zurüstungen so geläufig wie möglich, der Versuchsperson
ist sie häufig wenig vertraut. Die Umgebung reizt die Versuchs-
person zu wißbegierigen Fragen, die Wißbegier lenkt ihre Aufmerk-
samkeit ab. Gibt es nun Mittel, all diesen Schwierigkeiten zu ent-
rinnen und zur besten Einwirkung auf die Versuchsperson zu kommen ?
.Gewiß können wir all diese Störungen auf ein Mindestmaß schrauben,
wenn wir nicht weiter den Fehler begehen, drei Absichten zugleich
verwirklichen zu wollen, nämlich Eingewöhnen, Verständigen, Ein-
wirken. Wir müssen vielmehr die drei Absichten nacheinander
verwirklichen, und zwar in einer bestimmten Reihenfolge.
Wenn eine Versuchsperson das Laboratoriumszimmer betritt,
so sollte ihre Neugierde nicht müßig nach allen Apparaten darin
schweifen. Will sie sich außerhalb der Versuchsstunde mit deren
Technik vertraut machen, so ist das ein löbliches Unternehmen.
Während der Versuchsstunde soll sie ihre Aufmerksamkeit nicht
an theoretisch technische Erwägungen verzetteln. Möglichst bald
sollihr der Raum, den sie betritt, so gewohnt, so alltäglich vorkommen,
daß sie nicht mehr fesselt, was sie umgibt. Die Versuchsperson soll
sich eingewöhnen. Darum gibt ihr der Versuchsleiter zunächst einen
knappen Situationsbericht. Alles, was nicht die Um-
gebung der Versuchsperson betrifft, wird darum weggelassen. Einzel-
heiten an Apparaten der Versuchsanordnung werden nicht erklärt,
besonders wird darüber nicht theoretisiert. Dagegen werden die
Einwirkungsmöglichkeiten der Apparate sämtlich genannt; nicht
nur, was davon zunächst zu erwarten wäre, auch was in absehbarer
Zeit an Reizen geboten werden soll, sollte erwähnt werden. So
wird jeder Nimbus des Geheimnisvollen, Lebensfremden geschwächt.
Es kann sich nichts ereignen, was die Versuchsperson überrumpelte,
was sie zu ängstlicher Spannung nötigte. Etwas anderes ist es mit
den Apparaten, von denen die Versuchsperson nicht nur Reize ge-
wärtigt, in deren Getriebe sie selbst miteinzugreifen hat. Diese
werden soweit erklärt, daß die Versuchsperson den Sinn der Hand-
griffe durchschaut, die sie in den Zwischenpausen bewältigen soll.
Wenn so etwas nötig ist, üben wir sie gleich zu Anfang ein. Um
so schneller fügen sich die Maschinen in die gewohnte Umgebung,
ins tägliche Leben der Versuchspersonen ein. Diese Mitteilungen vor
184 I. Abhandlungen.
der Einübung enden am zweckmäßigsten den Situationsbericht, der
nicht in eine Unterhaltung über den Gesamtaufbau der Versuchs-
anordnung ausarten sollte. Damit sind dann die Störungen aus
der nächsten Umgebung ausgeschlossen.
Dem Situationsbericht folgt ein Verständigungsbericht. War
der Situationsbericht auf das Schema gestellt: »Um Sie finden
sich . . . und bewirken . . .«, so ist die Formel des Verständigungs-
berichtes diese: »Wenn ich ... sage, so meine ich damit .. .«
Erinnert sich der Versuchsleiter bei Ausarbeitung seiner Aufgabe
solcher Schlagworte, so wird er nicht nur übersichtliche Anordnung
erreichen — das wäre nur Eleganz —, sondern Einfluß auf seine.
Versuchspersonen und ihr Verständnis. Nach dem Verständigungs-
bericht wie nach dem Situationsbericht geben wir der Versuchs-
person Gelegenheit, Zweifel auszusprechen und Fragen zu stellen;
dann können sie den eigentlichen Imperativ nicht mehr seiner Wir-
kung berauben; ohne Schaden klären sie und vertiefen. Die Fragen
sollen jedoch nur das Verständnis der Berichte betreffen, genau
wie Fragen über Handgriffe deren Einübung erleichtern können.
Wie nach dem Situationsbericht nur Fragen über Handgriffe und
Apparatwirkungen, so sollen nach dem Verständigungsbericht nur
Fragen über die Ausdrucksweise des Versuchsleiters zulässig sein.
Sollte so eine Frage einmal Aenderungen im Ausdruck anregen, so
kann der Versuchsleiter: die günstige Gelegenheit für seinen Impera-
tiv noch nützen. Freilich wird er dessen Formelung meist so gut
durchdacht haben, daß zufällige Einfälle sie nicht mehr schärfen.
Andererseits muß der Versuchsleiter auch störende Fragen abweisen.
Wenn z. B. im Verständigungsbericht mit bedachter Absicht nur
von akustischen Phänomenen die Rede war, weil gewisse rituelle
Formeln unerwartet ins Erlebnis eingehen sollten, dann muß die
Frage, was des näheren bevorstehe, abgewiesen werden: »Das werden
Sie seinerzeit erleben.«
Nach dem Verständigungsbericht, nach der Beantwortung von
Fragen würde ich anraten, zu trennen zwischen der Ankündigung
unmittelbar bevorstehender Ereignisse (Reize) und dem eigent-
lichen Imperativ der Aufgabe.
Eine Ankündigung des bevorstehenden Reizes hat ja noch gar-
nichts Imperativisches an sich; als bloßer Hinweis auf etwas, das
irgend einmal kommt, spannt sie die Erwartung und Aufmerksam-
keit der Versuchsperson nicht unnütz, sie spart ihre Kräfte. Noch
droht ja nicht das beängstigende: bald — sofort — jetzt. Ist die
Versuchsperson so wohlvorbereitet und doch geschont, dann setzen
i
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 18 5
wir rückhaltlos mit der Wucht des knappen Imperativs, der Auf-
gabe ein. Das Schlagwort für die Ankündigung lautet: »Sie werden
nun... erleben«, das Schlagwort für die Aufgabe wäre: »Tun Sie
bitte . . .« In Form eines treffenden Imperativs, gestützt auf zu-
verlässige Verständnisgrundlagen, wirkt die Aufgabe im entscheiden-
den Augenblick stark und ungestört ein. Ist das Verfahren richtig
durchgeführt, so fühlt die Versuchsperson jetzt kein Bedürfnis mehr
zu fragen; sie hatte ja vorher alle Zeit und Gelegenheit.
Aus diesen Gründen lassen wir Situationsbericht, Verständi-
‚Zungsbericht, Ankündigung und Aufgabe aufeinander folgen, sollte
auch jeder Teil noch so kurz ausfallen; die Gelegenheit, sich vor
der Aufgabe zu verständigen, sollte auch dann nicht ungenützt
bleiben.
Mit dem Situationsbericht, dem Verständigungsbericht, der
Ankündigung und dem Imperativ als den Grundteilen der Gesamt-
aufgabe, haben wir die Einwirkungen kennengelernt, die dem Ver-
suchsleiter vor dem Experiment zu Gebote stehen. Nun kann aber
der Versuchsleiter auch einwirken nach Beendigung des Experiments,
nach der spontanen Aussage. Natürlich ändert er mit solcher Ein-
wirkung nichts am Versuch selbst; diese Einwirkungen suchen
verwertbare Aussagen. Dies meist sparsam anzuwendende Mittel
sind verschiedenartige Fragen.
Vor allem unterscheiden wir ja Ergänzungsfragen und Ver-
ständigungsfragen. Die ersten bereichern die Aussage um positive
oder negative Befunde, die zweiten klären sie. Ueber die Bedeutung,
die wir mit einem Ausdruck verbinden, sind wir uns meist nach
längerer Zeit noch durchaus im klaren. Die Verständigungsfragen
des Versuchsleiters können also gegen seine Ergänzungsfragen zurück-
gestellt werden; wir gewöhnen uns am besten an die Reihenfolgen:
zuerst die Ergänzungsfragen, dann die Verständigungsfragen. Wie
wirkt nun die unverfängliche Ergänzungsfrage auf die Versuchs-
personen ein? Da sagen wir uns, daß vollständige Aussagen un-
möglich sind ; wir erinnern uns dessen aus der Kritik der methodischen
Selbstbeobachtung. Stets wird mehr erlebt als berichtet; und wir
wollen ja auch garnicht alles aufzeichnen, was erlebt wird, wir unter-
suchen ja nur vorbestimmte Einwirkungen auf komplexe psychische
Gebilde. Uns liegt nicht an der bloßen empirischen Vollständigkeit.
Aber auch alle die Anhalte zur Aussage der Versuchsperson, die
wir brauchen, unterliegen mannigfachen Hemmungen, so daß auch
für die Aussage gilt: es wird mehr Wissenswertes erlebt, als spontan
berichtet wird. So üben z. B. die später im Erlebnis sich häufenden
186 I. Abhandlungen.
Anhalte der Aussage rückwirkende Hemmungen auf die früher
entstandenen aus, und weiter zu fürchten sind all die hemmenden
Wechselwirkungen, über die uns Ebbinghaus, Schumann, Müller
und Pilzecker, Ranschburg u. a. so reichlich belehrt haben. D.h.
im Versuche und während beginnender Aussage wird so manches
vergessen, was leicht wieder ans Tageslicht zu ziehen ist, wenn man
nur den betreffenden Reproduktionstendenzen mit einer Frage zu
Hilfe kommt. Diese Ergänzungsfragen sind entweder Alternativ-
fragen oder Auffrischungsfragen.
Die Alternativfrage ist tunlich allgemein zu halten. Womög-
lich spricht sie nur von Irreduzibeln des Seelenlebens. Solche Fragen
lauten gut an: »Wissen Sie vielleicht noch, ob . . . oder... .«; z. B.
Wissen Sie vielleicht noch, ob Sie anschauliche Vorstellungen erlebt
haben, oder haben Sie Grund zu der Annahme, daß keine da waren ?
Wer in der einen Hälfte der Frage eine suggestive Beeinflussung
wittern wollte, müßte in der zweiten Hälfte das Gegengift auf-
spüren. Doch ist die unaufhörliche Angst vor Suggestion auch
eines von den überkritischen Bedenken, das mit der Praxis wenig
Fühlung hat. Werden z. B. auf die angeführte Frage hin, auf dieses
unbestimmte Anpochen hin, sehr konkrete Bilder mit vielen Einzel-
ziigen beschrieben, spricht dann noch die leiseste Wahrscheinlich-
keit dafür, daß im ursprünglichen Erlebnis solche Vorstellungen
gänzlich fehlten? Die verfängliche Form der Alternativfrage braucht
dem, der dies einmal eingesehen hat, kaum noch als abschreckendes
Beispiel vorgehalten zu werden. Wie sollte er auf den Einfall kom-
“men zu fragen: »Gewiß hatten Sie da noch . . ., oder sollten wirk-
lich . . . nicht. . .?« oder auch: »Sie hatten doch wohl. . .« usf.?
Die Auffrischungsfragen erinnern an die Aufgabe selbst und
wirken somit im Sinne ihrer determinierenden Tendenz. Bei Wahl-
versuchen z. B. kann über eine Hemmung die bloße Auffrischungs-
frage weghelfen: »Was hatten Sie bevorzugt ?« oder »Hatten Sie
mir über Motive berichtet ?« Die Verständigungsfragen sind ganz
anders gelagert. Sie dienen nur der Feilung der Aussage. Nun
ergibt sich meist schon, was im Zusammenhange des Berichts mit
einem saloppen Ausdruck gemeint sein muß. Dennoch wäre es
eine verfängliche Verständigungsfrage, wollte man anfangen, wie
folgt: »Als Sie sagten, ich hatte. . ., meinten Sie doch . . .?« Auch
wenn es ganz sicher zu sein scheint, daB die Versuchsperson einen
Ausdruck nicht nach der Strenge gebraucht hat, wird sich der Ver-
suchsleiter nicht verleiten lassen, irgendwo zu äußern: »Es war
doch nicht im strengen Sinne . . .?« Vielmehr wird der gewandte
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 187
Versuchsleiter bestimmt an einen Punkt der Aussage anknüpfen:
»Sie sagten mir, ich hatte... .« Nun wird er nicht im mindesten
Klärung fordern, sondern ruhig fragen: »Können Sie wohl
noch angeben, was Sie damals unter . . . verstanden haben ?« So
kommt die Versuchsperson nicht zu der Meinung, sie müsse sich
in vorbedachten Kunstausdrücken bewegen, sie müsse ihre Erleb-
nisse etikettieren; und doch wird sie zu klarer und besonnener Sprech-
art erzogen. Ins Protokoll sollte nach einer Verständigungsfrage
nichts mehr aufgenommen werden, was die Aussage ergänzt, sondern
nur noch, was einen gebrauchten Ausdruck treffender, bezeichnender
macht. Die Ergänzungsfrage dient der Forschung, die Verständi-
gungsfrage der Darstellung.
Ein Wort noch über die berühmt-berüchtigte Suggestivfrage.
Erst führten wir deren gröbste, oft behandelte Form vor, die Er-
wartungsfrage; die feinste aller Suggestionen kann sich in der An- -
kündigung verstecken oder selbst im Imperativ, etwa ich befehle
an: »Bilden Sie sich eine Vorstellung von ...« So erwartet die
Versuchsperson in ihrem durch nichts getrübten starken und guten
Glauben an die Harmlosigkeit des Versuchsleiters, sie werde die
zugemutete Leistung aus Eigenem vollbringen. Untermalt man
ihr das Gesichtsfeld heimlich mit eben merklichen Empfindungen,
so wird sie diese wegen der im Imperativ versteckten Suggestion
für Ingredienzien der Vorstellung halten. Hätte man der Versuchs-
person gelegentliche Empfindungseinschläge angekündigt, so würde
sie diese eingeschmuggelten Bilder kaum für Vorstellungen gehalten
haben. Fragt man nun, wie z. B. Perky tat, den Vorstellungen in
Ergänzungsfragen nach, so tut man eine feine Suggestivfrage; die
ist nicht so plump, wie die einseitigen Erwartungsfragen zu sein
pflegen; wesentlich ist sie nichts anderes, als eben eine Suggestiv-
frage. Ist nun diese feine Suggestivfrage unter allen Umständen
verfänglich und also verwerflich ? Das hängt nur vom Untersuchungs-
ziel ab. Ich kann mich zur Loslösung von Erlebnissen auch der
feinen Suggestivfrage bedienen, muß nur dann eben das Erlebnis
unter dem Einfluß der spezifizierten Suggestion oder die Suggestibili-
tät innerhalb gewisser Erlebnisse untersuchen wollen. Will ich ein
durch spezifizierte suggestive Zumutung nicht befangenes Erlebnis
untersuchen, dann ist die Suggestivfrage verfänglich und verwerf-
lich, sei sie nun plump und eindringlich oder fein versteckt und
vorbereitet. Des weiteren prüfe man sich wohl, ob man eine Frage
unbedingt als Suggestivfrage verurteilen darf, wenn unter ihrem
Einfluß selbst ein Bericht über Wahrgenommenes verfälscht wird.
188 I, Abhandlungen.
Wieviele Assimilationen und Erinnerungsfälschungen können sich
nicht ausgewirkt haben, über deren Ergebnis nun getreulich be-
richtet wird, sobald eine Auffrischungsfrage die tauglichen Anhalte
zur Aussage weckt. Prüft man die genannten Einflüsse nicht, so
gerät die unverfängliche Auffrischungsfrage unverdient in den Ver-
dacht, eine Suggestivfrage gewesen zu sein. Es läßt sich also über
die Suggestivfrage mehr sagen, als daß sie verwerflich sei. Wir müssen
unbefangene und suggestiv verfälschte Erlebnisse scheiden und
prüfen, ob ein Erlebnis methodisch oder verfänglich suggestiv »ver-
fälscht« worden ist.
Endlich gibt es noch eine Art, methodisch zu fragen, die in
gewissen Fällen recht empfehlenswert ist. Sie ist der Redeform
nach eine Frage, dem Wesen nach ein nachträglicher Imperativ.
In manchen Versuchsreihen folgen einander kurze Experimente,
in denen jedesmal nur eine kleine Variation am Reiz vorgenommen
wird. Gerade auf diese Veränderung kommt es dann an. Verständi-
gung ist längst erzielt; die Reihe wickelt sich so glatt ab, daß vor
jedem neuen Einzelversuch eine Spezialaufgabe lästig fallen würde.
Dann läßt man den Versuch ablaufen und fragt sogleich hinterher:
»Was hat sich nun geändert ?« Das selbe gilt vom entsprechenden
Herstellungsverfahren. Nehmen wir einmal an, wir prüften den
rhythmischen Aufbau vielgebrauchter Kultformeln nach der neuen
Methode des Wiedererkennens meßbarer dynamischer Aequivalente.
Dabei werden die zu prüfenden Wortgruppen von der Versuchs-
person’ vorgesprochen, alsdann ertönen die meßbaren Aequivalente.
Mit den leisen Aenderungen im Texte gehen einher entsprechende
Veränderungen in den Aequivalenten; diese eben muß die Versuchs-
person herstellen oder anfordern. Nehmen wir weiter an, der me-
thodisch eingeführte Schritt bringt die Versuchsperson vom Ver-
suchsbeispiel: ». . den Allmächtigen, Schöpfer . . .«, zum Versuchs-
beispiel: ». . den allmächtigen Schöpfer.« Nehmen wir letzlich an,
zur Prüfung stünde besonders die Veränderung in der Silbe ». mach .«.
Dann ersetzen wir zweckmäßig eine lästige Spezialaufgabe vor dem
Versuch durch den nachträglichen Imperativ in Frageform: »Was_
soll nun geändert werden ?«
Erst nach sorgsamer Einübung lernt der praktisch arbeitende
Psychologe die subtilen Apparate bedienen und beherrschen, deren
er für seine Forschungen bedarf. Wie könnte es anders sein, wenn
er beginnt, mit seinem feinsten Werkzeug, demlebendigen Beobachter,
zu arbeiten. Zwar ist nicht eben Gefahr, daß er dies Werkzeug
verbiege oder zerbreche; denn dieser Apparat repariert sich selbst;
Behn, Von methodischer Selbstbeobachtung in der Religionspsychologie. 189
aber unsere knappen Anweisungen zeigen vielleicht schon zur Ge-
nüge, wie wenig ein mutiges Drauflosexperimentieren mit ungeübten
Händen fruchtbar sein kann in der Psychologie. Aussagen bekommt
schließlich jeder ins Protokoll, aber erst deren logische Bearbeitung
und mathematische Verrechnung erweist, wieviel wir aus ihnen
lernen können. Verstandnisvoller Gebrauch solcher Winke, wie
wir sie zu geben versuchten, kann manchen Umweg vermeiden;
aber eines nur ist das Verständnis, ein anderes die praktische Be-
herrschung.
190
II. Materialien und Diskussionen.
Vom religiösen Leben der Kinder ').
Von
Else Roloff, Gießen.
Wenn ich meine Beobachtungen über den religiösen Vorstellungs-
kreis kleiner Kinder aufzeichne, so bin ich mir bewußt, nichts absolut
Neues oder Besonderes zu bringen. Vielmehr werden alle auf diese Seite
der kindlichen Entwicklung aufmerkenden Mütter von jeher Aehnliches
wie ich beobachtet haben. Stellt man aber in den großen Zusammenhang
wissenschaftlicher Religionspsychologie auch die Erforschung der frühsten
kindlichen Begriffe von religiösen Dingen als notwendigen Faktor ein,
so sind diese kleinen, oft im Fluge aufgegriffenen Einzelbeobachtungen
der Stoff, auf den die Forschung angewiesen ist. Nur im Sinne eines
Beitrages zu einer solchen Materialsammlung möchte ich diese Zeilen
aufgefaßt wissen, und sollten sie Anregung zu ähnlichen Berichten geben,
so wäre ihr Zweck erreicht. |
Es handelt sich um die ersten Anfänge religiöser Vorstellungen ;
unsre beiden Kinder Eva und Bärbchen sind jetzt 514 und 31, Jahr alt.
Meine Erfahrungen beziehen sich meist auf die Aeltere, die sich lebhaft für
alles interessiert, sehr phantasievoll, unbedingt gläubig, auch sehr lebendig
und unbefangen in ihren Aeußerungen ist. Die Kleinere, von Natur schwer-
fälliger, steht meist noch in ihrem Schatten, ist fast immer Echo; hier
und da zeigen sich Spuren von stärker ausgeprägtem Realismus.
Was ich hier von den Kindern berichte, beruht teilweise auf wört-
lichen schriftlichen Aufzeichnungen, die wir in ein »Lebensbuch« ein-
tragen; seit einem Jahr etwa sind diese Niederschriften unterbrochen, und
an ihre Stelle treten teils mündlich in immer erneutem Austausch, teils
in brieflichen Mitteilungen wortgetreu festgehaltene Erinnerungen der
Eltern an einzelne Aussprüche. Die Beobachtungen begannen, als Eva
21, Jahr alt war; eine lebhafte Beschäftigung mit religiösen Vorstellungen
setzte bei ihr ein, als sie genau 3 Jahr alt war, und verstärkte sich an
dem Weihnachtsfest, als sie 4 Jahr alt wurde. Damals wurde durch sie
1) Geschrieben im Sommer 1914.
Vom religiösen Leben der Kinder. IQI
die Kleine, damals 2 Jahr alt, unvermerkt in den ganzen Ideenkomplex
hineingezogen.
Das Problem, ob das Kind, falls es völlig unbeeinflußt und vhne
alle Berührung — eine Praxis, die heute von religiös stark interessierten
Eltern öfter ausgeübt zu werden scheint — mit religiösen Vorstellungen
und Namen aus sich heraus zur Bildung religiöser Begriffe gelange, muß
ich beiseite lassen, da ich es aus Erfahrung nicht kenne und die Durch-
führbarkeit jener Praxis mir zweifelhaft erscheint. Wir haben den Grund-
satz befolgt, bei Vermeidung allen Zwanges und aller für das Kind leeren
Formen doch eine unvermerkte Eingewöhnung in die Welt der religiösen
Vorstellungen zu erzielen, diese Vorstellungen mit einzugliedern in das
organische Gefüge der Kindeswelt. Diese Welt aber ist ja etwas total
anderes als die Welt der Erwachsenen; das Kind hat seine eigene Ein-
stellung den Dingen gegenüber. So ist auch der Begriff der »religiösen
Vorstellung«, wie wir ihn fassen, auf die kindliche Anschauungsweise
streng genommen gar nicht anwendbar. Denn es sind nur die Namen
für die göttlichen Dinge, die dem Kinde und uns gemeinsam sind; aus
ihnen aber baut das Kind sich eine eigene Welt, mit ihnen schaltet es
frei in großartiger Souveränität, wie mit allen Größen, die es von uns
übernimmt, ohne die Beziehungen, die sie für uns Erwachsene haben, zu '
kennen.
Es ist etwa so, wie wenn die Kinder vom Kaiser und vom GroB-
herzog reden; ohne eine Anschauung von deren wirklichem Sein teilen
sie ihnen bestimmte Rollen in ihrem Kinderleben zu. Der Kaiser »gehört«
der Aelteren, der Großherzog der Jüngeren; nur daß beide etwas sehr
Gutes sind, ist gewiß.
So akzeptieren sie auch den lieben Gott. Wie sie den Begriff eigent-
lich ausfüllen und ob sie es überhaupt tun, wissen wir nicht. Wenn Eva
mir kürzlich erzählte: »Mutter, der liebe Gott ist ein Mann mit einem Bart
und einem Hut«, so wußte sie das, wie sie selbst sagte, von einem Bilde
auf Mutters Schreibtisch. Sie meinte den bekannten Filippo Lippi des
Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin, auf dem die Jungfrau im Walde
vor dem Kinde kniet und Gottvater von oben niederschaut; den Heiligen-
schein hielt sie also für einen Hut. |
Eine besondere Schwierigkeit liegt für die Kinder darin, daß wir für
Göttliches oft wohlbekannte menschliche Bezeichnungen gebrauchen. So
hat Eva lange das Wort »Vater« im Abendgebet auf ihren Vater bezogen,
und die Kleine sagte neulich, als ich an ihrem Bett stand, »Mutti, laß die
Augen dein, über meinem Bettchen sein«. Jetzt weiß und begreift die
Große, daß man Gott Vater nennt, weil er wie ein Vater für alles sorgt:
er läßt für die Blümlein regnen und die Sonne scheinen, er hat die Kinder
lieb, er ist traurig, wenn man unartig ist, und er kann alles sehen! Alle
diese Vorstellungen sind, wie man sieht, durch uns gelegentlich vermittelt;
von einer selbständigen Ausfüllung des Gottesbegriffes haben wir bisher
nichts bemerkt. Sie kann trotzdem ja völlig im Rahmen der dem Kinde
192 II. Materialien und Diskussionen.
eigentümlichen Anschauung da sein und nur nicht geäußert werden;
etwa wie Kellers grüner Heinrich, trotzdem die Mutter ihm schon von
Gottes Wesen und Eigenschaften gesprochen hat, den lieben Gott
mit einem glänzenden Turmhahn und später mit einem prachtvollen
Tiger aus dem Bilderbuch identifiziert; diese Vorstellungen schweben
dem Kinde allabendlich auch beim Gebet vor, werden aber den Erwach-
senen nicht mitgeteilt.
Daß die ersten Anzeichen einer beginnenden Nachdenklichkeit, eines
Grübelns über Unverstandenes jetzt bei Eva auftauchen, konnte ich
grade in den letzten Tagen öfter bemerken: Sie fragte beim Stachelbeer-
pflücken nach längerem Schweigen: »Mutter, kann der liebe Gott wirklich
alles sehen ?« Alles. »Kann er auch durch Dinge sehen ?« Was für Dinge
meinst du denn? »O, blaue Vorhänge (im Schlafzimmer der Kinder vor-
handen) und Aepfel.« Als ich dies bejaht hatte, sagte sie nichts weiter.
Einige Tage darauf kam in derselben Situation und auch nach vorauf-
gegangenem Schweigen die Frage: »Mutter, hat der liebe Gott sich denn
auch selbst gemacht ?« (Vielleicht als Fortsetzung des Gedankens: er
hat Bäume, Vögel, Blumen gemacht). Ich sagte ja. »Warum hat er das
getan ?« Was meinst du wohl, warum er es getan hat? »Wohl weil er das
kann, Mutter.
Wir haben das Kind, als es 2 Jahre alt war, anfangen lassen, ein
kurzes Abendgebet zu sprechen. Nach einem halben Jahr hörten wir
wieder auf, da wir den Eindruck hatten, das Kind plappre und kokettiere
dabei; auch nahm es, wie es schien, gar keine Notiz von der Veränderung.
Aber nach etwa 3 Monaten (es war also 2%, Jahr alt), verlangte es selbst
wieder nach -dem Abendgebet, und seitdem wird es nie vergessen. Die
Kleine nahm es unvermerkt von der Großen an, ebenso das Tischgebet.
Beide Gebete sind für die Kinder eine sehr wichtige und erfreuliche Ange-
legenheit; sie wären immer bereit, sie gleich noch einmal zu wiederholen,
wenn es ihnen nur erlaubt würde. Die Kinder fühlen, daß das Gebet
etwas Besonderes ist, daß man dabei nicht»albern« sein kann; sie sagen
auch: wir wollen gut beten, damit der liebe Gott sich freut. Wie wichtig
ihnen das Gebet ist, spiegelt sich deutlich im Spiel. Sie knien im tiefsten
Ernst an den Wiegen der Puppenkinder und sprechen ihre eigenen Abend-
gebete. Wenn dann die Puppen lachen oder die Beine unter dem Deckbett
herausstrecken, bekommen sie empfindliche Strafen, und die Puppen-
mütter erzählen mit Entrüstung von den Ungezogenheiten. Ich fragte
Eva dieser Tage: Wer betet denn eigentlich, ihr oder die Puppen? ant-
wortete sie: »Ja, Mutter, das ist anders bei den Puppen. Da beten wir,
und die Puppen beten auch laut mit.« (Zu ergänzen ist: aber Vater und
Mutter, ihr sprecht nicht mit, wenn wir beten.) — Im Mai dieses Jahres
war eine kleine Freundin der Kinder bei uns auf länger zu Besuch. Wäh-
rend unsre Kinder beide das Verschen: Müde bin ich, geh zur Ruh beten,
betete die kleine Gerda etwa so: Lieber Gott, behüte meine Eltern, mich,
die Großmutter usw. Wir fragten unsre beiden, ob sie nicht auch den
Mit EEE TE eS EEE A oe m 3
Vom religiösen Leben der Kinder, 193
lieben Gott tür Vater und Mutter, das Brüderchen usw. bitten wollten,
das sei doch schön. Es wurde auf das Bestimmteste, sogar mit Tränen,
zurückgewiesen: »nein, wir wollen nur unser Müde bin ich beten.« Das
Gebet ist also ganz offenbar kultischen Charakters beiden Kindern;
sie hängen mit Zähigkeit an der einmal in Besitz genommenen Form und
lehnen die fremde ab. Ein Zeichen für den Kultcharakter ihres Gebetes
ist doch auch, daß das Tischgebet nur »gilt«, wenn es von beiden Kindern
gemeinsam laut gesprochen ist. Hat die Kleine, die verträumt ist, den
Anschluß verpaßt, so weint sie und ruht nicht, bis beide Kinder ordnungs-
gemäß zusammen das Gebet wiederholt haben; fordern wir sie auf, allein
nachzubeten, so ruft sie: »sonst (!) bete ich ja nicht richtige, was nicht
etwa heißen soll: dem Wortlaut nach unrichtig — sie kennt das Gebet
genau und hat während einer Reise der älteren Schwester stets allein
gebetet — sondern: wenn ich allein bete, ist die Sache nicht in
Richtigkeit. — In letzter Zeit hörteich übrigens die Puppen öfter »wie
Gerda« beten, es ist also wohl möglich, daß auch die Kinder selbst dem-
nächst dazu übergehen; das wäre dann gleichsam die Anschmelzung eines
neuen Kultes. Ganz vereinzelt finden sich auch Ansätze zum freien, spon-
tanen Gebet in Form einer Bitte um etwas augenblicklich Gewünschtes; in
diesen Julitagen z. B. erzählte mir Bärbchen: »Mutter, wir haben eben
den lieben Gott um Schnee gebittet.« Die Nichterhörung machte ihnen
aber keine Sorge, wer in diesem Falle ja auch leicht zu erklären.
Sind die Kinder auf diesem Gebiete ihres religiösen Lebens noch fast
ganz formal gebunden, so entwickeln sie auf einem andern eine um so
größere Freiheit. Das ganze schon recht umfangreiche Stoffgebiet, das
ihnen durch das Weihnachtsfest und im Anschluß an zahlreiche bei uns
hängende religiöse Bilder nach alten Meistern vermittelt wird, schaffen
sie zu ihren Zwecken, nämlich zum Spiel, um. So erst werden alle diese
Dinge Wirklichkeiten und Besitz für sie. Einige dieser Spiele will ich hier
wieder geben. Die Kinder lieben das Weihnachtsfest über alles. Sie
finden den Winter »den allerallerbesten«, weil er Weihnachten hat. Hierbei
spielen ganz entschieden die Geschenke die zweite Rolle; die Hauptsache
ist ihnen der Tannenbaum, das Weihnachtsliedersingen und besonders
die Krippe. Schon als zweijähriges Kind war Eva völlig fasziniert vom
Lichterbaum und von den Krippenfiguren, und an den drei folgenden
Festen hat sich dies noch eher gesteigert. Als sie 3 Jahr alt war, begann
sie, so oft sie die Krippenfiguren ansah, zu singen: Da liegt es, das Kind-
lein, auf Heu und auf Stroh usw. Auch hier wurde die Kleine durch die
Große mitgerissen; als die Kinder 2 und 4 Jahr alt waren, begannen um
Weihnachten die Spiele, die ich jetzt schildern will. Beide Kinder lieben
und verehren Maria und das Christkind zärtlich; sie werden in den liebe-
vollsten Tönen angeredet — »Christkindlein, magst du gern unterm Tannen-
baum liegen? — und niemals berührt. Ebenso zart werden Ochs und
Esel behandelt, die mit goldenem Heu gefüttert werden. Der Vater Joseph
ist die gutmütige Person, mit der man Spaß macht; ich habe oft an den
Archiv für Religionspsychologie L/lil. 13
194 II. Materialien und Diskussionen.
Joseph der alten deutschen Mysterienbühne denken müssen! Es wurde
ein phantastischer Kopfputz ersonnen ; damit schmückten sich die Kinder,
tanzten im Zimmer herum, knixten und riefen: »Guck mal, Joseph !«
Dies hat sich nun schon an zwei Weihnachtsfesten — als Eva 4 und 5 Jahr
alt war — in genau den gleichen Formen wiederholt; und auch wenn im
Laufe des Jahres der weihnachtlichen Personen gedacht wird, was sehr
häufig der Fall ist, so geschieht es in ganz demselben Sinne: von Maria
und dem Christkind sprechen sie mit zärtlicher Stimme, der Joseph löst
regelmäßig Heiterkeit aus. — Am lebendigsten sind die Spiele vor und
nach Weihnachten. Vor dem Fest ist Eva »das Christkind«. Sie fliegt
durchs Zimmer mit ausgebreiteten Armen, um allen Kindern Geschenke
zu bringen, trägt ihre Spielsachen zusammen und erklärt, dies seien die
Schaufenster, die das Christkind fülle. Die Kleine beansprucht auch ein
Amt und wird zum »Engleinchor« erhoben, darf mitfliegen und singen.
Nach Weihnachten werden die heiligen Persönlichkeiten in Bauklötzen
dargestellt. Maria wiegt das Christkind in einem halbkreisförmigen Bau-
klotz, der ein- für allemal »die Wiege« heißt. Im Himmel, einem bühnen-
artigen Aufbau, zu dem eine Treppe führt, stehen der liebe Gott, der
Herr Jesus, der Herr Gast (s. folg. S.) und das Christkind. Sie sprechen
miteinander etwa so: Der liebe Gott sagt: komm Herr Jesus, wir wollen
mal runtersteigen auf die Erde und wollen mal sehen, wie die bösen Men-
schen den Heiland ans Kreuz schlagen. Jesus sagt: komm Herr Gast,
du darfst auch mitgehen, ja, und das kleine Christkind darf auch schon
mit. Alle diese Reden führt Eva; die Kleine darf nur die Gestalten die
Treppe hinuntersteigen lassen und alles mit aufbauen. Die vier Himm-
lischen stehen nun vor dem Kreuz, an dem der Heiland durch einen vor-
gebauten Klotz mit einem Dreieck, der Dornenkrone, dargestellt ist. Eva
und Bärbchen nehmen nun den Heiland vom Kreuz und »vergraben«
ihn in einem großen, schön gebauten Grab. Der liebe Gott pflegt dann
zu sagen: Eva und Bärbchen sind sehr lieb, weil sie den Heiland so schön
vergraben, und die vier steigen Stufe für Stufe wieder in den Himmel.
Alles wird aufs Genaueste in Bauklötzen dargestellt, für jede Figur gibt
es einen Extraklotz. Der liebe Gott ist ein besonders langer, und da es
von dieser Sorte vier gibt, so haben wir »vier lieber Gott«. Der Heiland
Z. B. ist ein mittellanger Klotz mit einem Astloch ; das Loch ist »sein großes
Auge«. Einmal sagte die Kleine bei diesem Spiel (sie war 2 Jahr): »Dasist ja
gar kein lieber Gott, das ist ja ein Bauklotz.« Eva fing sofort an zu weinen
und rief: »Siehst du denn nicht, daß das der liebe Gott ist ?« — Für sie ist
also offenbar die Realität vollkommen und diese Namengebung
nicht etwa nominal. Im allgemeinen gilt das auch von der Kleinen; gleich
nach jenem Ausspruch stellte sie den »Heiland« in die Ecke wegen irgend
einer Unart, die er begangen. — Ich habe alle diese Spiele aus dem Neben-
zimmer belauscht, die Kinder wußten gar nicht, daß ich sie hörte. Ange-
regt sind sie niemals zu solchen Spielen; ich habe sie in fast wörtlich ge-
nauer Uebereinstimmung nach Weihnachten 1912 und 1913 beobachtet;
Vom religiösen Leben der Kinder. 195
das vorweihnachtliche Spiel ist erst vor dem letzten Weihnachtsfest er-
funden. Diese Dinge spielen, wie ich schon bemerkte, das ganze Jahr
hindurch eine Rolle; gerade jetzt ist sehr viel die Rede vom Knecht Ru-
precht. Sie schildern, wie er das Christkind auf den Rücken nimmt und
es zur Erde trägt; dabei hält das Christkind den Tannenbaum, denn der
Knecht Ruprecht hat den schweren Sack und also keine Hand mehr frei.
Bärbchen beschäftigt sich sehr mit der Frage: »Wenn aber die Puppentilla
dem Knecht Ruprecht die Zunge aussteckt, dann? — dann steigt er rasch
die Himmelsleiter herunter und verhaut die Tilla.« Es liegt sicherlich die
brennende Frage hinter dieser Geschichte: was passiert, wenn ich die
Zunge ausstrecke ? Der Reiz der Sensation ist hier deutlich wirksam.
Merkwürdig ist doch das oben dargestellte Verhältnis zwischen Christ-
kind, Heiland, Herrn Jesus und »Herm Gast« Die Kinder wissen sehr
wohl, daß das Christkind Jesus heißt, daß es zum Heiland heranwächst;
aber sie versichern, daß ihr Christkind immer klein bleibt. Ebensogut
wissen sie, daß wir Jesus mittags im Gebet zu Gast bitten. (Komm Herr
Jesu, sei unser Gast.) Das hindert sie alles aber gar nicht, in ihren Spielen
alle diese Namen als gesonderte Persönlichkeiten erschei-
nen zu lassen. (S. vor. S.).
Für die kindliche Vorstellung spielen, so scheint es, logische Wider-
sprüche oft ebensowenig eine Rolle wie für die primitiven Völker. Das
kindliche Denken ist eben auch völlig anders orientiert als das unsre,
und wir können aus unserm Bezirk heraus das ihrige nicht völlig erfassen.
Wenn die Mentalität jener Völker als praelogisch bezeichnet worden ist
(vergl. Levy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures
S. 79, auch K. Koffkas Referat über dieses Buch Band I des Archivs),
so könnte man das vielleicht auch auf die Art des kindlichen Denkens
anwenden, das sicherlich nicht im ganzen unlogisch oder alogisch genannt
werden kann. Ueberhaupt drängt sich gelegentlich der Vergleich mit dem
Vorstellungsleben primitiver Rassen auf; der unbedingte Glaube des einen
Kindes, es sei das Christkind, der des andern, es sei das »Englein-
chore, scheint mir doch verwandte Züge zu haben mit jener von von den
Steinen (S.a.a.0.S.77f.) beobachteten Tatsache, daß die Mitglieder eines
südamerikanischen Stammes glaubten, araras, eine Papageienart, zu
sein. Bei unsern beiden Kindern war es so, daß sie während dieses Spieles
auf ihre eigentlichen Namen nicht reagierten; ich hatte immer wieder
den Eindruck, daß sie wirklich für sich selbst und für einander »Christ-
kind« und »Engleinchor« waren.
Die Frage, ob ernstliche Ueberzeugung oder ob bewußte Phantasie-
schöpfung vorliege, haben wir besonders bei einem andern Anlaß erwogen.
Wir fanden im Vorstellungsleben der Kinder bestimmte übersinnliche
Größen, die in keiner Weise von uns vermittelt oder angeregt, sondern
frei der kindlichen Phantasie entsprungen waren. Wegen ihres mystischen
Charakters müssen sie hier erwähnt werden. Die Kinder erklärten vor
einem Jahr (41, und 21, Jahr alt) abends im Bett plötzlich, der »Mima«
13 *
196 II. Materialien und Diskussionen.
sei da. Eine Erklärung, was das sei, war nicht zu erlangen; aus der aus-
gelassenen heiteren Stimmung der beiden — sie tobten herum und be-
haupteten, er sei bald hier, bald da — konnten wir bloß entnehmen, daß
es kein Schreckgebilde sei. Deutlicher wurden zwei andere Vorstellungen,
die gleichzeitig auftauchten: der »Föger«, eine Art böses Prinzip, und die
»Musa«, gleichsam der Ort der Verdammnis. Vom Föger wurden zunächst
ohne bestimmten Anlaß alle erdenklichen Untaten erzählt: er werfe
Schränke um, zerbreche Puppenstühle, raufe den Puppen die Haare aus
u. dgl. Bald aber trat er in bestimmten Fällen auf und zwar als Sünden-
bock für Vergehen der Kinder. Fragte ich: wer hat die Milch umgestoßen ?
wer hat das Brüderchen gekniffen ? so folgte prompt die Antwort: »das
hat Föger getan«. Da dieser Föger aus pädagogischen Gründen abgelehnt
wurde, so geriet er allmählich in Vergessenheit; doch erzählte Eva mir
noch kürzlich, sie kenne ihn noch, er sei jetzt aber bei andern Leuten.
In die »Musa« wurde alles verwiesen, was das Prädikat böse verdiente;
unter anderm auch »ein böser Vater«. Wenn ich protestierte, den gäbe
es nicht, so hieß es: den Vater meinen wir ja nicht, bloß einen bösen
Vater aus dem Baukasten. Allmählich entstand eine ganze »böse« Fa-
milie im Baukasten, die mit der Musa bedroht wurde. Lokalisiert war
diese Musa nie. Auch sie ist jetzt verschwunden, aber beide Begriffe
waren eine Zeitlang nach meiner Ueberzeugung volle Realität für die
Kinder. Obgleich sie nun beide entschieden düsteren Charakters waren,
so waren sie doch niemals unheimlich ; der Föger wurde sogar immer mehr
zum lustigen Teufel, und auf die Musa wurden sogar Lieder gesungen.
Der Begriff des Grauens ist beiden Kindern überhaupt noch völlig fremd;
die Vorstellung von etwas Bösem, die entschieden auch den Reiz der
Sensation hat, bewirkt doch, wie es scheint, höchstens ein gelindes Gruseln.
Vom Schrecken des Todes haben sie noch keine Ahnung; sie verbinden
mit ihm schon ganz richtig die Vorstellung des Nichtmehrdaseins, aber
sie finden das ganz selbstverständlich. Ebenso auch das Grab einerseits
und das Leben im Himmel andrerseits. Die Frage: wie kann man im Grab
und doch im Himmel sein? hat sich noch nicht erhoben. Sie stellen auch
ganz kühl Fragen wie: Vater, dann bist du wohl schon tot ? Mutter, wann
stirbst du eigentlich? und zwar fragen sie beide ziemlich unterschiedslos
so. Bärbchen sagte neulich: »wenn man tot ist, dann kommt wohl der
liebe Gott und vergräbt einen; und dann dauert es sehr lange, bis er einen
wieder macht.« Sie stellt es sich offenbar so vor, wie wenn die zerbrochenen
Puppen »wiede® gemacht« werden. Von Auferstehung hat sie noch nichts
gehört.
Grade dies Gebiet hat für alle Kinder eine unendliche Anziehung.
Wir, haben aber grundsätzlich vermieden, solche Gedankengänge be-
sonders anzuregen oder unverlangte Erklärungen auf religiösem Gebiete
überhaupt zu geben. Daher sind unsre Kinder vielleicht besonders fest
im Kreise ihrer naiven Anschauungen verankert.
Eine religiöse Jugendentwicklung. 197
Es ist uns selbst natürlich die Frage aufgestiegen und auch von andern
gestellt, ob diese Art der spielenden Beschäftigung mit göttlichen Dingen,
wie ich sie geschildert habe, nicht dem Ernste, den diese Bezirke heischen,
ins Gesicht schlage. Wir sind immer wieder zu der Ueberzeugung gelangt,
daß man den Kindern die Form ihres geistigen Wesens nicht stören dürfe
und daß für das Ziel einer wahren Religiosität des reifen Menschen das
Spiel der Kinder sicher kein Hindernis sei. Alle diese Namen und Begriffe
sind die geliebten Bewohner ihrer kindlichen Träume. Das Spiel ist für
dies Alter eben höchster Ernst. — In ihm zeigen sich alle tiefsten In-
teressen des Kindes, entfalten sich alle Fähigkeiten seiner Phantasie; in
ihm allein gelangt es zu dem, was es braucht, zur Anschaulichkeit. Die
kindlichen Realitäten liegen im Spiel.
Eine religiöse Jugendentwicklung.
Von Prof. Dr. K. Needon, Dresden.
Ich kann mich keiner starken religiösen Eindrücke aus meiner Kind-
heit erinnern, wie überhaupt meine Jugenderinnerungen schwach sind.
Aus den beiden ersten Schuljahren erinnere ich mich nicht irgendwie
an den Religionsunterricht; in die Kirche bin ich damals wohl noch nicht
gegangen. Meine Erinnerungen beginnen erst vom vollendeten 8. Lebens-
jahre, damals kam ich in die Bürgerschule in Dresden; eine mit Bildern
versehene Biblische Geschichte, die mir damals in die Hände kam, in-
teressierte mich sehr, mancher Bilder erinnere ich mich noch jetzt. Jeden-
falls wurden mir die biblischen Gestalten dadurch erst vertraut. Damals
muß es wohl auch gewesen sein, daß ich das Vaterunser lernte, um es
abends zu beten, doch behielt ich mein Kindergebet noch bei (Lieber
Gott, ich bitte dich usw.), betete erst dieses, dann das Vaterunser. Ja
ich fügte in meinem Io. Jahre noch ein drittes hinzu, einen Liedervers,
auf den ich mich aber sonderbarerweise nicht mehr besinnen kann. Ich
tat es, weil der Lehrer bei der Besprechung dieses Lieds in der Schule
gesagt hatte, wir sollten doch diesen Vers abends beten, wir würden bald
merken, wie ein Gefühl der Ruhe, des Friedens sich unser bemächtigen
werde. Ich war darauf gespannt, dieses Gefühl zu erleben, und wohl
einigermaßen enttäuscht, als ich keine besondere Empfindung dabei
hatte. Dennoch habe ich längere Zeit alle 3 Gebete leise für mich ge-
betet, später bloß noch das Vaterunser, wenn auch in den Jünglings-
jahren Zeiten kamen, wo ich das Abendgebet vergaß, grundsätzlich unter-
lassen habe ich es nie, empfand vielmehr stets leise Gewissensbisse, wenn
ich es vergessen hatte, und suchte es wohl am Morgen nachzuholen, wenn
mir mein Versäumnis da einfiel. Auch gegen das gedankenlose Beten
habe ich schon in der Jugend angekämpft, etwa dadurch, daß ich an
Luthers Erklärung zu den Bitten dachte, wenn ich das Vaterunser sprach.
»
198 If. Materialien und D.skussionen.
— Seit meinem 9. Jahre besuchte ich auch öfter mit meiner Mutter die
Kirche, meist die Dreikönigkirche; vor allem die Predigten Sturms und
Sulzes machten Eindruck; letzterem fühlte man doch ab, daß er eine
Persönlichkeit von großer Aufrichtigkeit war, wozu noch kam, daß ihn
meine Eltern wegen seiner liberalen Ansichten schätzten. Doch habe
ich das Eigenartige seiner Predigten als Knabe, auch als Gymnasiast in
den höheren Klassen, noch nicht recht verstanden.
Als ich in das Gymnasium eintrat, machte der Unterricht in Religion
auch stets Eindruck, und ich war immer lebhaft interessiert, am wenigsten
vielleicht in den Tertien. Ich kann sagen, daß ich ein frommes Kind
insofern war, als ich mit großer Ehrerbietung und Ehrfurcht den Lehren
der Religion gegenüberstand. Ich war bereit, die gesamte Heils- und
Erlösungslehre des orthodoxen Christentums, die da geboten wurde, zu
glauben. Allerdings wurde sie uns in den untern Klassen — glaube ich —
nicht sehr deutlich gemacht, nur daß Christus der Gottessohn, göttlichen
Wesens, mit wunderbarer Kraft begabt, der Erretter der Menschen sei,
stand mir fest. Und ich bedauerte es im Innern tief, daß meine Eltern
sich von diesem Glauben entfernt hatten, wie ich nach manchen Aeuße-
rungen erkannte, obgleich Spott über religiöse Dinge nie vorkam. Ihr
Glaube war wesentlich rationalistisch, mein Vater der Kirche sich fern-
haltend, worüber die Mutter mitunter sich abfällig äußerte, da sie, wie
gesagt, mit ziemlicher Regelmäßigkeit zur Kirche ging. Was sie hier
begehrte, war wohl eine gewisse Erhebung über die Misere täglichen
Lebens und damit Trost. Im übrigen erwartete sie freilich auch, daß die
Predigt aus dem Leben gegriffen sei und nicht nur in idealen Regionen
sich bewege. Mein Vater ging nur am Silvestertag in die Kirche, was
uns doch immerhin als ein Zeichen erschien, daß er mit der Religion nicht
ganz gebrochen hatte.
Wenn ich darüber nachdenke, welches denn der Inhalt meiner Reli-
giositat in meiner Jugend war, so möchte ich folgendes sagen: Ich hatte
in der frühen Jugend, als acht bis neunjähriger Knabe etwa, ein Gefühl auf-
richtiger Ehrfurcht vor dem Göttlichen, betrat nur mit besonderer Scheu
ein Gotteshaus, erwartete stets darin einen eigenen Schauer mich über-
kommen zu fühlen; glaubte mich tief demütigen, vor dem Heiligen beugen
zu müssen. Der Bußtagsgottesdienst machte auf mein Gemüt deshalb
immer besonderen Eindruck. Freilich verband sich diese Ehrfurcht auch
mit dem Gefühle der Furcht vor Gott, ich wurde in der Nacht von Träu-
men gequält, in welchen mir der liebe Gott in einer dicken weißen Wolke
erschien, ich hatte dann nach dem Erwachen eine fürchterliche Angst
vor der Wiederholung dieses Traumes. — Ueberhaupt fürchtete ich Gott
mehr als den, der ins Herz sieht, unsere Vergehen und Fehler kennt und
jede Uebertretung straft und rächt. Das Gefühl des Vertrauens und der
Liebe zu Gott war jedenfalls viel schwächer. Ganz anders stand ich zu
Jesus. Furcht und Angst hatte ich hier nicht, ich stand ihm ruhiger
gegenüber, aber ich hatte auch nicht das Gefühl, als wenn er sehr tief
Eine religiöse Jugendentwicklung. IQQ
in mein persönliches Leben eingreifen könne. Was ich ihm gegenüber
empfand, war vor allem Bewunderung. Besonders bewundernswert er-
schien mir sein Leiden, das mir als das größte auf Erden je dagewesene
erschien. Sehr stark waren alle diese Gefühle nicht; ich lebte bis zum
Jünglingsalter ziemlich harmlos und naiv, mehr weltlich als geistlich
gestimmt hin.
Der Konfirmandenunterricht, den damals unser 1. Religionslehrer
in der Schule erteilte, war mehr verstandesmäßig gerichtet, alles wurde
sehr klargemacht, aber starke Anregungen für das Gemüt habe ich nicht
erhalten. An diesen Unterricht schloß sich dann noch ein kurzer Abschluß
bei Dr. Sulze in der Wohnung, wir waren nur 4 oder 5 Knaben zusammen;
dieser Unterricht machte einen starken Eindruck, wenn auch später
vieles davon im Gedächtnis verwischt worden ist. Daß Gott dem Mose
im Gewissen das Gesetz geoffenbart, daß er zu uns im Gewissen als Richter
redet, und ähnliche Gedanken reinigten entschieden die Vorstellung von
manchem Nebensächlichem, das ich früher für die Hauptsache in der
Religion zu halten geneigt gewesen; nicht mehr die Lehren und Wunder
erschienen als Kern des Christentums, sondern der Lebendige Gott, der
uns in unserem Gewissen richtet. Leider war der Unterricht nur kurz.
— Am Tage der Konfirmation selbst (nachmittags 2 Uhr) war ich zu-
nächst wenig ernst gestimmt; ich besinne mich, daß ich mit meiner jüngeren
Schwester recht kindisch herumtollte, so daß mir mein Vater das Un-
gehörige dieses Benehmens verwies. Bei der Handlung selbst war ich
aufgeregt und gespannt auf die Wirkungen des heiligen Mahls, ich glaubte,
ein Schauer müsse mich fassen und eine geheimnisvolle Kraft oder Er-
hebung in mir spürbar werden. Die Konfirmationsrede machte mir Ein-
druck; ich entsinne mich einiger Gedanken noch, allerdings solcher, die
in Dichterworte zusammengefaßt wurden. Bei der Einsegnung stand
ich ganz unter dem Eindruck der weihevollen Handlung, war aber zu
erregt, um mir auch nur den Einsegnungsspruch zu merken. Der Genuß
des Abendmahls, mit solch hoher Erwartung und Spannung des Gefühls
ersehnt, brachte natürlich die unvermeidliche Enttäuschung, da die Er-
regung rasch verflog; doch bin ich auch später stets mit derselben An-
dacht und Spannung zum Abendmahl gegangen. Ich sah in dem Abend-
mahl eben ein Mysterium und glaubte etwas von seinen Schauem zu
fühlen, ja fühlte wirklich eine besondere Erregung meines Gefühls. Daß
sie nicht stärker war, war ich geneigt, meiner Schwachheit im Glauben
zuzuschreiben. In der folgenden Zeit, nach der Konfirmation, scheint
das religiöse Leben in mir wieder schwächer geworden zu sein. Andere,
nämlich literarische Interessen vor allem, wurden wichtiger. Die Zweifel
an der Wahrheit der christlichen Lehre aber waren nicht stark, vielmehr
meinte ich, daß sie im Grunde doch die Wahrheit enthalte und alle andern
Gedanken, denen ich bei Dichtern und Schriftstellern begegnete, sich
_ entweder mit jener vereinigen ließen oder irrig seien. — Der Umgang
mit einigen befreundeten katholischen Mitschülern, deren feste katholische
200 II. Materialien und Diskussionen.
Position ich bewunderte, wirkte schließlich festigend auf die eigene prote-
stantische Ueberzeugung, da ich die evangelische Kirche und Lehre der
katholischen für weit überlegen hielt. — Der Religionsunterricht in den
Oberklassen, schon von Untersekunda ab, beschäftigte und fesselte mich
minder stark. Im streng-orthodoxen Sinne, aber mit großem Scharfsinn
und Gelehrsamkeit erteilt, entwickelte er die Denkkraft und bestätigte
die Ueberzeugung, daß die orthodoxe Lehre die rechte sei; eine liberale
lernte ich nicht kennen, da Dr. Sulze ja nie dogmatisch predigte, und so
fehlte mir der Vergleich. Die Theologie war mir ein ziemlich unbekanntes
Gebiet, obgleich ich mich entschlossen hatte, sie zu studieren; freilich
ohne wahre innere Neigung, vielmehr durch äußere Gründe veranlaßt.
Da mich kein anderer gelehrter Beruf stark anzog, erschien mir dieser
noch am verlockendsten. Daß aber ein, wenn auch nicht sehr starker
Zug zur Religion mitwirkte, ist aus dem vorhin Ausgeführten gewiß
klar geworden.
Ich füge noch einiges Persönliche hinzu:
Ich bin geboren 1870, Sohn eines Arztes, eines sehr gütigen liebe-
vollen Mannes, der sich durch Fleiß und Begabung aus sehr ärmlichen
Verhältnissen emporgearbeitet hatte. Meine Mutter, die Tochter eines
Kaufmanns, war eine zarte Frau, fleißig und tüchtig in ‘allem, leider etwas
nervös (eine starke Neigung zur Nervosität habe gerade ich von ıhr ge-
erbt), mitunter war sie sehr aufgeregt oder auch durch mancherlei Um-
stände verbittert.
Ich war das 4. Kind meiner Eltern, besuchte das Gymnasium in
meiner Vaterstadt Dresden, das ich 1890 verließ. Ich studierte in Leipzig
Theologie sowie Geschichte und wendete mich später diesem letzteren
Studium sowie dem der deutschen Sprache noch entschiedener zu. Reli-
gion, Deutsch, Geschichte unterrichte ich seit 1897 an der seit einigen
Jahren zur Oberrealschule umgewandelten ı. städtischen Realschule zu
Dresden. l
Religionspsychologische Arbeit und systematische
Theologie.
Von Prof. G. Wobbermin in Heidelberg.
Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat im Rahmen einer Besprechung
des ersten Bandes meiner »Systematischen Theologie nach religionspsy-
chologischer Methode« Fragen behandelt, die für das Verhältnis der reli-
gionspsychologischen Arbeit zur systematischen Theologie von prinzi-
pieller Bedeutung sind. Als solche erweisen sie sich auch dadurch, daß
bereits die programmatische »Einführung« wiederholt auf diese Erörterun-
gen hinweist. Im Interesse der Sache und zur Verhütung von Mißverständ-
rn
Religionspsychologische Arbeit und systematische Theologie. 201
nissen möge es mir daher gestattet sein, auch meinerseits hier zu diesen
Fragen Stellung zu nehmen.
Es handelt sich letztlich darum, ob die religionspsychologische Arbeit
auf das Gebiet empirischer Psychologie beschränkt werden solk und be-
schränkt werden muß, wie Stählin behauptet, oder ob sie außerdem auch
in einem über dies Gebiet hinausgreifenden Sinne geübt werden kann,
wie meine Meinung ist. Diese Meinung vertrete ich im Interesse der Frucht-
barmachung des religionspsychologischen Denkens für die Aufgaben der
systematischen Theologie. Denn mit den Mitteln empirischer Psychologie
sind meines Erachtens gerade die wichtigsten dieser Aufgaben — und
das heißt zugleich die wichtigsten theologischen Aufgaben überhaupt —
nicht zu erreichen. Doch leugne oder bestreite ich keineswegs den Wert
der empirisch-psychologischen Arbeit, weder ihren Wert im allgemeinen,
noch ihren Wert speziell für die theologischen Aufgaben. Ganz im
Gegenteil habe gerade ich diesen ihren Wert wiederholt und nachdrücklich
betont. Nur von dieser Ueberzeugung aus ist ja meine deutsche Bear-
beitung von James’ Varieties zu verstehen, und an besonders hervor-
tretender Stelle habe ich in programmatischer Weise die empirische Reli-
gionspsychologie als »überaus verdienstlich« bezeichnet!). Damit bin ich be-
wußterweise in Gegensatz zu vielen meiner Fachgenossen getreten, von denen
besonders Wilhelm Herrmann und Julius Kaftan — von sehr verschiedenen
Ausgangspunkten aus — jene Arbeit einfach und vollständig ablehnen.
Demgemäß vermag ich denn auch der programmatischen «Einführung«
des Archivs durchaus zuzustimmen und begrüße seine Begründung, wie
ich einst die Begründung seines Vorläufers, der »Zeitschrift für Religions-
psychologie« begrüßt habe. Nur schiene mir richtig und unerläßlich,
daß die Näherbestimmung auch in den Titel aufgenommen und das
Archivalsoals»Archivfürempirische Religionspsycho-
logie« bezeichnet würde.
Aber neben dieser meiner Schätzung der empirischen Religions-
psychologie steht nun allerdings meine Ueberzeugung, daß mittels em-
pirischer Psychologie an die wichtigsten religionswissenschaftlichen und
theologischen Fragen nicht heranzukommen ist und daß daher, um doch
religionspsychologisches Denken auch für diese Frucht tragen zu lassen,
noch eine andere Form desselben geltend zu machen ist. Hier sind nun
zunächst zwei Einwände formaler Natur zu berücksichtigen. Die Begriffe
» Religionswissenschaft« und »Theologie« stelle ich nebeneinander — nicht,
wie Stählin meint, als gleichgeordnete Größen, aber auch nicht als mit-
einander zu vertauschende Synonyma, sondern, weil ich die Theologie
in methodischer Beziehung gıundsätzlich den Prinzipien der allgemeinen
Religionswissenschaft unterordne, wie ich das unter der Ueberschrift
»Iheologie als Religionswissenschaft« im Kapitel VI
1) In den Thesen meines Vortrages auf dem Berliner Religionskongreß. Vgl.
+Zum Streit um die Religionspsychologie«, S. 9.
202 II. Materialien und Diskussionen.
dargelegt habe. Und was andererseits den Begriff der empirischen Psycho-
logie betrifft, so fasse auch ich ihn nicht ausschließlich im Sinne einer natur-
wissenschaftlich orientierten Disziplin. Wenn in meiner Auseinandersetzung
mit Dilthey dieser Schein vielleicht vorübergehend entsteht, so liegt doch die
entscheidende Argumentation Dilthey gegenüber an einem andern Punkt.
Es ist die Forderung einer gemeinsamen, für alle einzelnen Geistes- oder
Kulturwissenschaften gleichen psychologischen Grundlegung, wie sie
Dilthey als Vorbedingung für irgendwelche kulturwissenschaftliche Sonder-
arbeit verlangt, die ich bekämpfe. Im übrigen rechnen ja freilich hervor-
ragende Wissenschafts-Systematiker die empirische Psychologie prinzipiell
und restlos in die Kategorie der Naturwissenschaften als der nach Regel-
mäßigkeiten und Gesetzen suchenden Wissenschaften. Ich habe das selbst in
dem vorher genannten Zusammenhang nicht getan, sondern auch da vor-
sichtiger von einer »vorzugsweise« naturwissenschaftlich orientierten
Disziplin gesprochen (S. 45). Hierfür könnte ich mich jetzt auch auf das
Programm des Archivs berufen, das neben der schlichten Deskription
die Auffindung von Regelmäßigkeiten oder funktionalen Gesetzen als
Aufgabe der empirischen Religionspsychologie aufstellt. Aber auch davon
will ich ganz absehen; denn für die Hauptsache, die in Frage steht, ist
es gleichgültig. Ich konzediere also den Gebrauch des Wortes sempirische im
weitesten wissenschaftstheoretischen Sinne.
Auch von einer so zu fassenden empirischen Religionspsychologie
behaupte ich aber, daß sie gerade an die wichtigsten religionswissenschaft-
lich-theologischen Fragen, wie sie in der systematischen Theologie zur
Behandlung stehen, nicht heranreicht. Und neben diese Behauptung
stelle ich zur Ergänzung die positive, daß religionspsychologisches Denken
noch in anderer Weise zu betätigen ist, nämlich so, wie ich es als »reli-
gionspsychologische Methode der systematischen Theologie« beschrieben
habe. Darunter verstehe ich eine Methode, welche aus den geschichtlich
vorliegenden, den Namen der Religion tragenden Erscheinungen die spe-
zifisch religiösen Motive herauszuarbeiten, d. h. sie aus der Umhüllung
andersartiger Motive und der Verflechtung mit ihnen zu lösen hat.
Um diese Doppel-These gegen die Einwendungen Stählins zu ver-
treten, wäre vor allem auf folgende Punkte einzugehen, die ich hier nur
ganz kurz herausstellen will.
I. Meine Position ist nicht durch ein»dogmatisches« Interesse bestimmt,
am wenigsten durch ein »exklusives« dogmatisches Interesse. Einer Dog-
matik im Sinne eines solchen Dogmatismus spreche ich überhaupt — gerade
vom Standpunkt religionspsychologischen Denkens aus — die Berechti-
gung ab. In der systematischen Theologie aber handelt es sich um die
Herausarbeitung des bleibenden Gehaltes der [christlichen] Religion.
2. Daß die psychologische Fragestellung in meiner Gliederung der
Religionswissenschaft überhaupt keinen Platz finde (Archiv I, S. 295) ist
nur richtig, wenn an eine besondere Einzeldisziplin gedacht wird. Ich
befürworte nicht weniger, sondern mehr als eine solche. Denn ich fordere
IM
bg
Religionspsychologische Arbeit und systematische Theologie. 203
religionspsychologische Orientierung der gesamten religionswissen-
schaftlichen Arbeit — im Sinne empirischer Psychologie für die
historische und die praktische Theologie, im Sinne des über das Empirische
hinausgreifenden religionspsychologischen Denkens und der demgemäß
verfahrenden religionspsychologischen Methode für die systematische
Theologie.
3. Der Vorwurf, es werde von mir nicht klar geschieden zwischen
einer rein empirischen Religionswissenschaft und einer übergreifenden
erkenntniskritischen und wertkritischen Betrachtung (Arch. I, S. 294),
ist unberechtigt. Denn rein empirische Religionswissenschaft ist für mich
die ganze historische Theologie und ebenso die Hauptmasse der prak-
tischen Theologie. Die systematische Theologie aber hat gerade die Auf-
gabe, eine übergreifende erkenntniskritische und wertkritische Betrach-
tung zu ermöglichen. Die Frage, wie eine solche Betrachtung in m e-
thodischer Weise möglich wird, ist das Hauptproblem aller Re-
ligionswissenschaft. — Gerade meine wiederholten Erörterungen über
das Verhältnis der religionspsychologischen zur religionskritischen Be-
trachtung in Analogie zu dem Verhältnis von erkenntnispsychologischer
und erkenntniskritischer Betrachtung hat Stählin gar nicht berücksich-
tigt. In ihnen gipfelt offensichtlich und ausgesprochenerweise meine
Gesamtauffassung.
4. Wenn ich vor den Begriff der praktisch-religiösen und -kirchlichen
Aufgaben gelegentlich ein »nur« setze, so geschieht das nicht im Sinne
der Geringschätzung, sondern lediglich im Sinne der logischen und also
der sachlichen Ueberordnung der Fragen nach dem Wesen der Religion
und des Christentums.
5. Für die wissenschaftliche Bearbeitung der letztgenannten Fragen
ist wichtigstes Erfordernis die Herausstellung der spezifisch religiösen
und spezifisch christlich-religiösen Motive, wie sie sich im religiösen
Wahrheitsinteresse zusammenfassen. Diese Herausarbeitung selbst ist
Sache der Ausführung (wie sie die weiteren Bände meiner Systematischen
Theologie geben sollen), nicht Sache der Prinzipienlehre und Methodo-
logie.
6. Das religiöse Wahrheitsinteresse, das für die empirische: Psycho-
logie in Betracht kommt, ist allerdings »selbstverständlich« (Arch. I,
S. 297) dasjenige des untersuchten religiösen Bewußtseins. Für die syste-
matische Theologie aber handelt es sich ebenso selbstverständlich nicht
um dieses, ebensowenig freilich — wiederum selbstverständlich — um
dasjenige des »Dogmatikers«, sondern um das Wahrheitsinteresse als
solches, d. h. um das Interesse an einer Wahrheit, die für alle gelten soll,
ohne daß doch diese Geltung von der empirischen Anerkennung durch
alle abhängig ist.
7. Das ist nun freilich eine erkenntniskritische und also eine tran-
szendentale Fragestellung. Unter dem Gesichtspunkt dieser Frage-
stellung eine psychologische Analyse des religiösen Bewußtseins vorneh-
204 II. Materialien und Diskussionen,
men, bedeutet aber nicht eine »Vermengung« der erkenntniskritischen
und der psychologischen Betrachtung (Arch. I, S. 293), sondern es be-
deutet lediglich, daß beide Betrachtungen in Beziehung zuein-
ander gesetzt werden. Das aber ist unumgänglich nötig, wenn sie
nicht beziehungslos und deshalb für einander unfruchtbar bleiben sollen.
_ 8. Diese Aufgabe, die psychologische und die erkenntniskritische
Fragestellung in Beziehung zueinander zu setzen, bleibt ın Troeltschs
programmatischer Schrift unsicher. Soweit sie auch von Troeltsch ge-
fordert wird, stehe ich zu ihm !). Soweit sie aber bei Troeltsch durch
das vorzeitige Suchen nach einem »rationalen apriori« der Religion ver-
drängt wird, sehe ich darin die Gefahr einer unberechtigten Rationali-
sierung der religionswissenschaftlichen Aufgabe.
9. Daß ich die religionspsychologische Methode der systematischen
Theologie »mit Vorliebe« als transzendental-psychologisch bezeichne
(Arch. I, S. 287), ist wenigstens iür meine größere Schrift unrichtig. Ich
habe ausdrücklich betont, daß ich diese Terminologie selbst wieder auf-
gegeben habe (Der Streit usw. S. IX) und habe sie demgemäß in meinem
Hauptwerk direkt überhaupt nicht gebraucht. Der Ausdruck
sollte in erster Linie den Unterschied gegenüber der rein empirischen
Psychologie hervorheben, wie das die überall vollzogene ausdrück-
liche Kontrastierung deutlich genug zeigt und wie es das Vorwort der
kleineren Schrift (Zum Streit usw. S. X) mit aller Schärfe betont. Daß
er dann verschiedene Momente umfaßt, ist ganz richtig, beruht aber
auf der Natur der Sache, die selbst verschiedene Beziehungen einschließt.
So gehört — in der Konsequenz beider Momente der berühmten Kantschen
Definition — in der Anwendung auf das Gebiet der Religion durchaus
auch dies zu ihm hinzu, daß man vein religiöser Mensch seine muß, um
religionspsychologisch denken und arbeiten zu können.
10. Wird die von mir geforderte Herausarbeitung der »spezifisch« re-
ligidsen Motive als berechtigte und notwendige religionspsychologische
Aufgabe anerkannt (Arch. I, S. 283), dann muß auch zugegeben wer-
den, daß damit das Kompetenzgebiet der empirischen Psychologie über-
schritten wird. Denn die empirische Psychologie hat schlechterdings
keine Moglichkeit, bestimmte Motive anderen gegeniiber als »spezifische
religiös zu erweisen. Dies ist das eigentliche und ent-
scheidende punctum saliensin der ganzenStreit-
frage.
| 11. Bereits Schleiermacher hat an diesem letztlich entscheidenden
Punkt ganz klar gesehen und geurteilt. Die bloß empirische Auffassung
habe »kein Maß noch eine Formel, um das Wesentliche und sich gleich
Bleibende von dem Veränderlichen und Zufälligen zu unterscheiden«.
Dieser von Schleiermacher an die Spitze seines Hauptwerkes gestellte
1) Vgl. hierzu meine Auseinandersetzung mit Troeltsch, a. a. O. S. 353 ff., speziell
S. 365 ff.
> CHEN
A_
TA
Religionspsychologische Arbeit und systematische Theologie. 205
Grundsatz enthält und betont (so gewiß er zugleich auch andersartig
orientiert ist) jene Einsicht.
12. Wer sich dieser Einsicht verschließt, verfällt damit einer Selbst-
täuschung, die notwendig Zu einer heillosen Verwirrung der Begriffe
und Urteile führen muß. Das zeigt sich denn auch sofort an der ersten
Abhandlung des Archivs. Denn diese — inhaltlich übrigens ganz prächtige
und meine weitgehende Zustimmung findende — Abhandlung fällt mit ihrem
zweiten Teil ganz und gar aus dem Bereich empirischer Psychologie
heraus. Mit den Mitteln empirischer Psychologie läßt sich weder über den
»metaphysischen Hintergrund« des religiösen Bewußtseins, noch über
das »Wesen der Religion« und das »Wesen des Christentums« urteilen.
Zusammenfassend präzisiere ich meine Stellungnahme folgender-
maßen: Religionspsychologische Arbeit im Sinne empirischer Psychologie
und solche im Sinne der religionspsychologischen Methode der syste-
matischen Theologie können nebeneinander hergehen und voneinander
lernen; sie sollen sich aber nicht gegenseitig mißverstehen und bekämpfen.
Empirische Psychologie vermag das spezifisch Religiöse als solches im
Unterschied von andersartigen Elementen und Faktoren nicht zu er-
fassen, sondern muß sich darauf beschränken, die empirisch als Religion
benannten Erscheinungen unter empirisch-psychologischen Gesichts-
punkten zu bearbeiten. Am besten und eindeutigsten wäre daher für
solche Arbeit die Bezeichnung als »(empirische) Psychologie des religiösen
und kirchlichen Lebens«. Der Begriff des Religions psychologischen
aber ist — sachlich und historisch — primär an dem Interesse orientiert,
das spezifisch Religiöse an und in den sogenannten religiösen Aeußerungen
des menschlichen Seelenlebens herauszustellen.
Vorstehende Sätze hatte ich im Sommer 1914 niedergeschrieben.
Den in ihnen vertretenen prinzipiell-methodischen Standpunkt werden
Band II und III meines genannten Werkes durchführen. Da ihr Er-
scheinen wegen der gegenwärtigen Schwierigkeiten noch nicht mit Sicher-
heit zeitlich zu bestimmen ist, verweise ich einstweilen noch auf meine
Auseinandersetzung mit Friedrich Traub »Die religionspsychologlische
Methode in der systematischen Theologie« (Zeitschr. für Theologie u.
Kirche 1917). Außerdem verweise ich auf einige Abhandlungen, in
denen ich konkrete Einzelprobleme der allgemeinen Religons-
wissenschaft und der christlichen Theologie nach religionspsychologischer
Methode zu bearbeiten begonnen habe. Es sind folgende: ı. »Die Frage
nach den Anfängen cer Religion in religionspsychologischer Beleuchtung«
(Zeitschr. für angewandte Psychologie, Bd. IX, 19 5). — 2. »Der ge-
meinsame Glaubensbesitz der christlchen Kirchen«. Ein Beitrag zur
interkonfessionellen Irenik. Tübingen, 1918 (Abdruck aus der Häring-
Festschrift). — 3. Die Frage nach Gott in Luthers großem Katechismus.
Tübingen, 1920 (Abdruck aus der Kaftan-Festschrift).
206 I. Materialien und Diskussionen.
Erwiderung.
Herrn Professor Wobbermin schulde ich aufrichtigen Dank, daß
er meiner Besprechung seines Buches eine So eingehende Beachtung ge-
schenkt hat. Seine vorstehende Entgegnung hat mich veranlaßt, alle
von mir erhobenen kritischen Bedenken von neuem zu prüfen; eine aus-
führliche Erwiderung lag vor 6 Jahren, als dieser Band erscheinen sollte,
in der Druckerei. Heute kann ich mich nicht entschließen, die Diskussion
ın der damals begonnenen Weise fortzusetzen. Die sachliche Auseinander-
setzung ist zum großen Teil in meinem vorstehenden Aufsatz über die
Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie, der durch die Wobberminsche
Stellungnahme entscheidend angeregt ist, miteingeschlossen. Eine wirk-
lich weiterführende Aussprache über das Verhältnis »empirischer« Religions-
psychologie und systematischer Religionswissenschaft, vor allem über
die Möglichkeit, das »spezifisch Religiöse« herauszuarbeiten und dessen
Kriterien festzulegen, könnte nur aus eindringender Beschäftigung mit
der phänomenologischen Schule erwachsen, die den Rahmen dieser Dis-
kussion vollkommen sprengen müßte.
Ob der Charakter der hier betriebenen Religionspsychologie näher
als »empirisch« bestimmt wird, erscheint mir gleichgültig gegenüber der
Forderung, daß die psychologische Analyse und die phänomenologische
Forschung unvermengt bleibe mit den Gesichtspunkten und Frage-
stellungen der systematischen Theologie. W. mißt grundsätzlich die
Leistung der Religionspsychologie an einem ihr fremden Maßstab und
schiebt als religionswissenschaftlich wertlos beiseite, was
für die Fragestellung der systematischen Theologie nichts leistet. Das
nenne ich exklusiv-dogmatisches (nicht dogmatistisches) Interesse. Aber
schließlich ist die Probe aufs Exempel entscheidender als alle methodo-
logischen Erörterungen: Meine Polemik richtete sich ganz wesentlich
gegen das programmatische Beispiel seiner religiös-psychologischen Methode,
das W. 1m Schlußkapitel seines Buches gibt, und behauptete, daß hier
etwas herauskommt, womit weder der Religionspsychologie noch der
systematischen Theologie gedient ist. Diesen entscheidenden Punkt hat
W. in seiner Entgegnung gar nicht berührt und hat eine Widerlegung
gar nicht versucht. Die Abhängigkeit der Religionspsychologie von der
systematischen Theologie ist der Kern der W.schen Auffassung. Den
~ geschichtlichen Zusammenhang beider Disziplinen wird niemand be-
streiten; aber sind nicht auch Religionsgeschichte, Bibelwissenschaft, ın
gewissem Sinn auch Naturwissenschaft, von der systematischen Theologie
ausgegangen ? Sie alle sind längst zu ihrem Heil eigene Wege gegangen.
Daß dies für die Religionspsychologie ebenso notwendig ist, ist der Kern
meiner Polemik, zugleich eine Mahnung, die Külpe in dem letzten Gespräch,
das ich mit ihm hatte, mit besonderem Nachdruck erhoben hat. St.
207
III. Berichte und Besprechungen.
Eine religionspsychologische Schule.
Von:
Dr. G. Berguer, Pfarrer in Genthod bei Genf.
Es handelt sich hier nicht um eine wirkliche Schule, sondern um eine
Reihe von Arbeiten, die, angeregt durch denselben Führer, während der
ersten I4 Jahre unseres Jahrhunderts in Frankreich entstanden sind.
Die theologische Fakultät von Montauban hat die besondere
Ehre und das Glück, unter ihren Professoren einen Mann von umfassender
philosophischer und psychologischer Bildung zu besitzen, der es verstanden
hat, bei seinen Studenten ein spezielles Interesse für die Fragen der Reli-
gionspsychologie zu erwecken: Professor Henri Bois. Mit Einsicht
und Sorgfalt hat er den Eifer einer ganzen Schar von Schülern erweckt;
indem er ihre Nachforschungen und ihre Arbeiten auf die verschlungenen
Wege dieser neuen und heiklen Wissenschaft lenkte, hat er sie veranlaßt,
uns in ihren theologischen Dissertationen (théses de baccalauréat en
theologie) eine Reihe von Monographien zu liefern, die die verschiedensten
Gebiete und einige der interessantesten Punkte des religiösen Lebens be-
rühren.
Es wäre nicht angebracht, von derartigen Unternehmungen ein voll-
ständiges System zu verlangen. Diese Arbeiten von Studenten ordnen
sich nicht nach einem vorher bestimmten Plan; sie erheben nicht den An-
spruch, ein Ganzes zu bilden oder den Gegenstand zu erschöpfen. Unter
verschiedenen Umständen und aus verschiedenen Interessen entstanden,
untersuchen sie einmal diesen, einmal jenen Teil des weiten Gebietes des
religiösen Lebens. Und trotzdem entsteht daraus eine gewisse Einheit,
die man sicherlich entweder der gemeinsamen Belehrung, von der sich alle
Verfasser haben leiten lassen, oder dem Instinkt zuschreiben muß, mit
dem ein jeder von ihnen auf den für ihn geeignetsten Gegenstand geführt
wurde.
Henri Bois hat einen ausgeprägten philosophischen Standpunkt. Er
schließt sich an den gegenwärtigen französischen Neo-Kritizismus an.
Er neigt zu einem Kantianismus, der ähnlich wie bei Renouvier durch eine
Art von Enträumlichung der Zeit erneuert ist. «Seul un kantisme here-
tique, sagt er, un kantisme réformé dans le sens d’un néo-leibnizianisme
208 III. Berichte und Besprechungen,
peut fournir les bases du théisme, les bases de la foi au Dieu personnel des
prophètes et de Jésus-Christ» 1). Diese Ueberzeugung, daß die Zukunft
aller christlichen Philosophie eng mit einem bestimmten Zeitbegriff ver-
bunden ist, driickt allen seinen Schriften ihren Stempel auf und macht
sich immer wieder geltend. Nicht in dem MaBe indes, um die Korrektheit
seiner wissenschaftlichen Methode zu beeinflussen, wenn es sich um Reli-
gionspsychologie handelt. Bois hat also einen persönlichen philosophischen
Standpunkt; er schließt sich einer bestimmten Strömung der zeitgenössi-
schen Gedanken an, aber diese persönliche Philosophie zeigt sich nicht,
wo sie nichts zu tun hat. Man bemerkt sie, ohne gestört zu sein; sie ver-
anlaßt eine intellektuelle Richtung; sie entstellt nicht, indem sie sich
vor dem Ziel einschleicht, die Ergebnisse der psychologischen Forschung 2).
Wenn wir uns nun zu der Schule junger Theologen wenden, die sich
um Professor Bois scharen, so ist auch hier das erste Merkmal ihrer Arbei-
ten, das wir beobachten, die Mannigfaltigkeit der behandelten Gegen-
stände. Die christliche Erfahrung, der Akt des Glaubens, die Bekehrung,
das Gebet, die religiösen Erweckungen, die christliche Erziehung, die
Religion der Kinder, der Aberglaube, die Heilung durch den Glauben, die
Ahnungen, die Besessenheit, die Beichte, die Mystiker, Verfolger und Mär-
tyrer, der Spiritismus, dies sind einige der Fragen, welche die Schüler von
Bois zu erforschen suchen, je nachdem mit mehr oder weniger Erfolg. Man
sieht, es ist fast das ganze Gebiet der Religionspsychologie, welches, wenn
auch nicht umfaßt, so doch berührt ist von diesen begabten jungen Leuten,
von denen die einen noch unerfahren sind und bescheiden ihr Ungenügen
1) La valeur de l'expérience religieuse, Paris, Nourry 1908, S. 82.
2) Unter den Arbeiten von Bois erwähnen wir als besonders lesenswert: De la
connaissance religieuse, essai critique sur de récentes
discussions, Paris, Fischbacher 1894, eine kritische Untersuchung der Ideen
von Aug. Sabatier; La Valeur de l'expérience religieuse, Paris,
Nourry 1908, ein Werk, das durch die psychologischen Vorurteile veranlaBt wurde,
die W. James in theologischen Kreisen des französischen Spract gebiets hervorrief, als
die bemerkenswerte Uebersetzung seines Buches l’Exp£rience religieuse von Frank
Abauzit, eingeleitet von M. Boutroux erschien; Le Reveilau Pays de Gal-
les, Toulouse, 0. J., und Quelques réflexions sur la psycho-
logie des Réveils, Paris, Fischbacher 1906, sehr interessante Studien über
die religiöse Bewegung, die sich 1905 in den Kirchen von Wales zeigte, verglichen mit
anderen Erscheinungen der gleichen Art; Le sentiment religieux, Pa-
ris, Fischbacher, und mehrere Artikel, erschienen in der Zeitschrift Foi et Vie .
(Etudes sur la dissolution de la foi [1. u. 16. IX. 1903], L’Expérience religieuse indivi-
duelle et la tradition [20, VII., 5. u. 20. IX. 1909], Le rôle des textes scripturaires
dans la conversion et Ja vie chrétienne [2o. I. u. 5. II. 1912]), in Revue philo-
sophique (La conservation de la foi, Bd. XLVII S. 233 u. 390) oderin Revue
de Montauban (La Christologie et le subconscient, Juli—Sept. 1911; La grace
divine n’agit-elle que sur le subconscient? Jan. 1909) usw. — Diese Titel genügen,
um einen Eindruck davon zu geben, welche Mannigfaltigkeit von Gegenständen Bois
behandelt und welches stark psychologische Interesse er an dieselben heranbringt-
“
Eine religionspsychologische Schule. 209
bekennen, die andere aber hervorragend geübt und fähig, ein Problem
nach guter wissenschaftlicher Methode von allen Seiten zu behandeln.
Um über den Wert dieser Arbeiten besser Rechenschaft geben zu können,
mag es erlaubt sein, sie in einige Gruppen einzuordnen:
I. Christliche Erfahrung und Glaube. Der Aus-
druck «christliche Erfahrung» hat seine Anhänger und seine Gegner. Trägt
er dazu bei, einen Doppelsinn zu stützen und eine Verwechslung aufrecht
zu erhalten? Oder enthält er im Gegenteil ein Stück Wahrheit, das sich
unmöglich anders ausdrücken ließe? — Die Religionspsychologie allein
kann darauf antworten, indem sie die Vorgänge analysiert, die dieses Wort °
verhüllt. Das haben die Verfasser, mit denen wir uns beschäftigen, auf
verschiedenen Wegen versucht. Nachdem sie die wissenschaftliche und
die religiöse Erfahrung gegeneinander gehalten hatten, um die gemein-
samen und die trennenden Züge hervortreten zu lassen, waren sie bestrebt,
den Anteil des Verstandes, des Gefühls und des Willens am religiösen Leben
zu zeigen und die Art, wie derartige Erfahrungen für die verschiedenen
Gebiete unseres Seelenlebens wichtig sind (vgl. Emile Paradon [2o)).
Indem sie dann einige Merkmale der christlichen Erfahrung besonders
beachteten, haben sie sie in die Biographien von Gläubigen oder in der
Bibel studiert. Henri Eldin (4) z. B. hebt das Gefühl der Heils-
gewiBheit hervor, so wie es sich bei den Christen der ersten Zeiten offen-
bart, dann bei St. Augustin, Calvin, Luther, Cesar Malan, bei den Män-
nern der Erweckung und in einigen Fällen, die er von Leuba entlehnt
hat. Neben diesen Christen, die ihres Heils gewiß sind, stellt er diejenigen,
bei denen diese Gewißheit weniger stark ist oder vollkommen fehlt und
fordert damit einen Vergleich, aus dem sich interessante Schlüsse ziehen
ließen.
Aber die beste dieser Arbeiten über die religiöse Erfahrung ist sicher
die von Edmond Ponsoye (25). — Ponsoye setzt sich zu der ratio-
nalistischen und rein historischen Schule in Gegensatz. Für ihn ist der
-normale Inhalt der christlichen Erfahrung, der erhöhte Christus, der Objekt
des Glaubens wird. Er gibt die Mitwirkung der Vernunft, des Wissens
und des Gefühls bei der Erzeugung der religiösen Erfahrung zu, aber er
bemerkt, daß eine elementare Kenntnis von Christus dem Gefühl voraus-
gehen muß, damit jene eintreten könne. Nach dieser mehr theologischen
als psychologischen Einleitung behandelt er die Tatsachen und stellt auf
einigen Seiten an Hand der Beispiele drei Phasen der Bekehrung auf:
I. Die Zeit der Vorbereitung und des Suchens, 2. die Zeit der Erlangung
der Gewißheit, 3. die Zeit der Blüte. In einem dritten Teil endlich behandelt
er den Wert der religiösen Erfahrung als Element der Gewißheit. Indem
er den unvermeidlichen Subjektivismus der religiösen Erfahrung als Tat-
sache nimmt, hält er sie dennoch für eine solide und nachweisbare Sache,
deren Erklärung ein Ding des Glaubens ist. Er faßt seinen Gedanken in
den folgenden drei Thesen zusammen: 1. Eines der Merkmale der religiösen
Erfahrung ist ihr Koeffizient der transzendenten Realität. 2. Eine gewisse
Archiv für Religionspsychologie II/III. 14
210 III. Berichte und Besprechungen.
Kenntnis des Transzendenten geht der Erfahrung immer voraus. 3. Die
religiöse Gewißheit hängt hauptsächlich an dem affektiven Koeffizienten.
Dann geht er weiter zu dem, was er den psychologischen Einwand,
»l’objection psychologique«, nennt, und formuliert ihn folgendermaßen: »Die
christliche Erfahrung ist nur eine Erscheinung von Autosuggestion oder
Fremdsuggestion.« Ponsoye entwickelt diesen Einwurf mit bemerkens-
wertem Freimut und Aufrichtigkeit. Er läßt sein ganzes Gewicht spüren.
Dann erkennt er ihn als vollkommen begründet an; und indem er nach-
einander die Andacht, den Kultus (Wort, Gesang, Ritus) und die langsame
oder plötzliche Bekehrung untersucht, zeigt er den ungeheuren Anteil,
den auf diesen drei Gebieten die Suggestion bei der Entstehung der reli-
giösen Erfahrung hat. Ueberall läßt sich eine wissenschaftliche Erklärung
anführen, die erschöpfend und einwandfrei erscheint. Aber — und hier
kommt der religiöse Gesichtspunkt wieder zu seinem Recht — die Psycho-
logie sieht in der religiösen Erfahrung eine Tatsache des Bewußtseins
(Gefühl, Wille, Idee); sie hat nicht das Recht, ihren inneren Wert zu
schätzen und ein Urteil über den sie begleitenden Glaubensakt zu fällen.
Der Gläubige vollzieht kühn diesen Glaubensakt; er ist eine Willenstat,
durch die er theoretisch ein Wagnis unternimmt, aber nicht ohne prak-
tische Beweggründe. Kurz, die religiöse Gewißheit ist eine lebensfähige
Hypothese, die der Gläubige macht auf Grund seiner religiösen Erfahrung
und trotz der wissenschaftlichen Auslegung, die gegeben werden kann.
«L’irrésistibilité de ma croyance, sagt Bois einmal, est le critère que j’ai de
sa vérité.»
Es ist interessant, festzustellen, wie solche Versicherungen sich mit
einer aufrichtigen Anerkennung der Prinzipien und Methoden der aller-
modernsten Psychologie verbinden können. Das soll nicht heißen, daß
nun alle Rätsel gelöst seien und daß man nicht danach ebensogut nach der
Erfahrung und dem Akt des Glaubens fragen könnte.
2. Bekehrung. Man hat vom psychologischen Gesichtspunkt
aus viel über die Bekehrung geschrieben. Sie ist unter den religiösen
Dingen mit besonderer Vorliebe behandelt worden. So ist es nicht leicht,
etwas Neues darüber zu sagen. Gaujoux (8) hat sich bemüht, die Re-
sultate, die die Religionspsychologen besonders in Amerika erhalten haben,
darzulegen; er ergänzt und verbessert sie manchmal durch die Antworten,
die er selbst auf einen Fragebogen erhalten hat, den er in Frankreich na-
mentlich an junge Leute sandte. Z. B. wird in dieser Arbeit ein interessan-
ter Gegensatz festgestellt zwischen den Statistiken von Starbuck, das
Alter betreffend, in dem sich die Bekehrung vollzieht, und ganz anderen
Beobachtungen, die sich auf das Leben großer Christen wie St. Augustin,
Luther, St. Franziskus, Adolphe Monod und Pere Gratry stützen. Die
Untersuchung gliedert sich in drei Teile: ı. Die intellektuellen Krisen
(der Zweifel und seine Ursachen), 2. die Gemütskrisen, 3. die Krisen
des Willens.
Neben dieser Arbeit, die von der Bekehrung handelt und dabei mehrere
- Gi on
Eine religionspsychologische Schule, 211
Personen auf einmal ins Auge faBt, miissen andere erwahnt werden, die
ihre Forschung auf eine einzige Person beschranken, die sie auf griindlichere
Weise studieren. So beschäftigt sich Jacques Krug (13) mit den
zwei Bekehrungen von Pascal und den Einflüssen, von denen sie hervor-
gebracht worden sind. Seine nicht mehr tief schiirfende Arbeit kommt
nicht zu neuen Betrachtungen. Es ist mehr eine Besprechung der Ge-
sichtspunkte von Cousin, Vinet, Sainte-Beuve, Boutrqux, Michaud und
Giraud. Es fehlt eine geschlossene Kritik der Einzelheiten, eine scharfe
und persönliche Durchdringung, die allein bei einem solchen Stoff den
Anspruch auf Originalität rechtfertigen würde ').
Plan que (24) hat Paulus in Angriff genommen. Er stellt die nega-
tiven Theorien von Ernest Havet gegen die positiven von Wabnitz, Ber-
thoud und Barde und bespricht sie und leistet damit mehr eine Arbeit der
Apologetik, als daß er unparieiisch die Gegebenheiten der Geschichte
untersuchte. Der einzige psychologische Zug dieser Arbeit ist die Unter-
suchung der unbewußten Vorbereitung der Bekehrung des großen Apostels.
3. Gebet. In bezug auf das Gebet erheben sich uns mehrere Pro-
bleme. Vor allem kann man sich fragen, was das Gebet in einer bestimmten
Zeit und Gruppe von Menschen gewesen ist, indem man daraus eine histo-
. risch-psychologische Untersuchung macht und sich auf eine begrenzte
und bestimmte Zeit beschränkt. René Pfender (23) hat in seinem
Essay auf diese Weise den Zeitpunkt erforscht, wo die ersten Christen
sich vom Judentum losgemacht hatten und noch keineswegs als katho-
lische Kirche organisiert waren (ungefähr Mitte des 2. Jahrhunderts). Er
hat sich gefragt, was für diese zwar geschlossene Gemeinschaft, die aber
noch keineswegs zu einer einzigartigen und bestimmten Stellung erstarrt
war, das Gebet bedeutet hat.
Man kann das Gebet auch vom Standpunkt seiner Erhörung aus
betrachten. Das hat Jean Fabre (6) getan. Er befragte die betende
Person vor und nach der Erhörung, er hat aus dieser Befragung Schlüsse
auf Aktivität und Passivität der betreffenden Person gezogen, auf die
Rolle, die die Versicherungen anderer, die Erinnerung an frühere Er-
. hörungen, die erwartungsvolle Aufmerksamkeit und endlich die Stellen
der Schrift spielen; über den kaum vorhandenen Einfluß nicht erhörter
Gebete, über den schnellen und unwiderstehlichen Eindruck von einer
Beziehung zwischen den Bitten der betreffenden Person und den Ereig-
nissen, die sich in bestimmten Fällen wie plötzliche und überraschende
Antworten einstellen. Er geht dann zu einigen besonderen Fällen von per-
‚önlicher Erhörung über, er zeigt, wie sich die einen durch Autosuggestion
(die Person erhört selbst ihr Gebet) erklären lassen, die anderen durch
telepathischen Einfluß (die Person wird von ihren Angehörigen erhört,
die selbst von Wort und Verhalten beeinflußt sind). Endlich sind bei Ge-
meinschaften, bei den Fürbitten dieselben Ursachen am Werk und haben
1) Vgl. z.B. Henri Bois, La religion de Pascal, Foi et Vie, 5. VI. 1914, p. 161—167.
14*
212 III. Berichte und Besprechungen.
denselben Erfolg. Die Tätigkeit Gottes ist übrigens durch diese psycho-
logischen Ergebnisse keineswegs verneint und Fabre sucht in seinen sechs
Schlußsätzen zu zeigen, daß sie besteht, aber so, daß sie ohne die Natur-
gesetze zu vergewaltigen, im Unterbewußtsein des Menschen das wirk-
same Gebet eingibt.
Die beste der Arbeiten über das Gebet aus der Schule von Montauban
ist zweifellos die von A. L éo (17). Diese wirklich psychologische Unter-
suchung von vorzüglicher Methode gründet sich auf zwei unveröffent-
lichte Umfragen: die eine von Rev. F. O. Beck von Indianopolis und
von dem Professor der Philosophie an der Universität des Staates In-
diana, E. H. Lindley; die andere von Prof. Pratt (Harvard). Auch
sie halt groBe Stiicke von den Arbeiten von Starbuck.
Der erste Teil beschäftigt sich mit folgenden 4 Punkten: ı. Die Vor-
bedingungen des Gebetes, 2. sein Gegenstand, 3. sein Ziel, 4. seine Wir-
kungen. In einem zweiten Teil erklart der Verfasser seinen Begriff Gott
und seinen Begriff Mensch und indem er diese beiden Begriffe gegeneinander
hält, zeigt er, was das Gebet sein soll. Wir erklären Gott durch Symbole,
die sicherlich Wahrheit enthalten, aber nicht der ganzen Wahrheit ent-
sprechen. Andererseits ist der Mensch eine Person, aber auch kein ein-
faches und einheitliches Ich. Die Beispiele von doppelten Persönlich-
keiten, die Janet anführt, werden als Beweis genügen; man muß hier noch
die Veränderungen hinzufügen, die der Schlaf, der Zorn, oder die Be-
rührung mit der Menge auf das Individuum ausüben. Aber der Mensch
strebt nach Einigung seines Ich; er sucht danach. Die Wissenschaft ist
nichts anderes als ein Versuch, durch eine Zusammensetzung von Wissen
eine Einheit zu erreichen. Aber das ist noch ungenügend. Um zum Ziel
zu gelangen, muß die Einigung sich zugleich im Verstand und im Gefühl
vollziehen. Wie ist das möglich? Da tritt der Einfluß der Menschen
untereinander hinzu, die Sympathie. In sich die potentielle Gegenwart
eines, den man liebt zu spüren, bedeutet in bezug auf die Einigung eine
außerordentliche Kraft. Aber das genügt noch nicht, um die vollständige
Einheit zu erzielen. Diese ist nur durch die Tat eines Ich möglich, das
größer ist wie die anderen, das sie enthält und übertrifft. Dieses Ich findet
Léo in dem UnterbewuBten, nach dem Gedanken von Malan und Frommel.
Es ist nicht Gott selbst, aber es strebt nach Gott; es hat eine Wirkung
Gottes auf den Menschen und liebendes Verhalten des Menschen gegen
Gott zur Voraussetzung. Es ist mithin das Gebet allein, das diese Be-
dingungen verwirklicht.
Das Gebet ist also nach unserem Verfasser erstens das Streben, das
höhere Ich in uns zum Bewußtsein zu bringen, zweitens eine soziale Tätig-
keit, die eine Beziehung zwischen zwei Persönlichkeiten herstellt. Wenn
die Welt einen Sinn hat, muß der Gott unserer Gebete sozial und kosmisch
sein und nicht nur ein Wesen, das mit unserem persönlichen Ich allein
in Beziehung steht. Diese Bejahung selbst ist ein Akt des Glaubens, aber
wir sind durch die Logik und unser ganzes Studium dazu geführt.
Eine religionspsychologische Schule. 213
Dieser Auszug gibt nur eine annähernde Idee von dem Gedanken-
reichtum und von der gewissenhaften Ausarbeitung dieser Schrift, die
von Zitaten vor allem aus den Memoiren des Erweckungspredigers Finney
glanzt.
4. Christliche Erziehung. Unter diesen Titel fallen drei
Arbeiten. Zwei von ihnen befassen sich mit dem Kind und mit seinen
religiösen Vorstellungen; die dritte will zeigen, wie das Evangelium für
das Seelenheil des Menschen geeignet ist. Von den beiden ersten gründet
sich die von Albert Trocmé (26) hauptsächlich auf sehr feine und
kluge, persönliche und zufällige Beobachtungen über die erste Kindheit.
Er erforscht, was das Kind über den Himmel, über den lieben Gott denkt,
wie seine Verbindung mit Gott ist oder vielmehr wie es diese Beziehung fühlt.
Es ist eine gute Arbeit, stellenweise sehr eindrucksvoll und glücklich gedacht.
— Clavier (3) nimmt dasselbe Thema und behandelt es viel vollständiger
und methodischer. Clavier ist gut unterrichtet; er schöpft aus guten
Quellen und ordnet den Stoff seiner Arbeit in 4 scharf getrennte Teile:
I. die verschiedenen Vorstellungen, die sich das Kind von Gott macht;
2. die Ursprünge der Gottesvorstellung beim Kind; 3. der Einfluß der
Gottesvorstellung auf das kindliche Leben und 4. die erzieherischen Folgen,
die daraus hervorgehen. Wir können nicht daran denken, hier eine voll-
ständige Aufzählung des Inhalts der 4 Teile zu geben. Der erste schließt
mit folgendem Ergebnis:
eMan darf nicht zwischen dem Kind und dem jungen Mann den un-
überbrückbaren Graben konstruieren, den manche hier zu ziehen lieben. Es
ist nicht wahr, daß die Religiosität mit der Pubertät erwachse. So groß
die Folgen dieser Krisis sein mögen, so bedeuten sie doch nicht eine Neu-
schöpfung. Die Seelenverfassungen, die sich bei dem heranwachsenden
Menschen entfalten, finden sich im Keim und entwickeln sich bei dem
Kind. Dies scheint durch die Tatsachen erwiesen zu werden, mindestens
in bezug auf die Gottesvorstellung.»
So haben wir, nach der Ansicht von Clavier, in der religiösen Ent-
wicklung des Kindes die ersten Züge des religiösen Lebens des Heran-
wachsenden. Dieses ist nicht eine Folge der Krise, die die Pubertät mit
sich bringt. Um es zu verstehen, muß man auch die Religion des Kindes
in Rechnung ziehen. Welches sind nun die Ursachen der Gottesvorstellung
beim Kind? Der zweite Teil des Buches zählt uns eine große Menge davon
auf: die Einflüsse der Umgebung, der Erziehung, der Vererbung, der
Neigungen, sei es im Bereich des Verstandes, in dem des Gefühls oder dem
der Moral. Die Neugierde, der Instinkt, die letzten Ursachen zu ergründen,
die Einbildung, auch die Träume bringen das Kind zu einem Anthropo-
morphismus, der dem der Primitiven ähnlich ist, die hinter allen natür-
lichen Erscheinungen persönliche und lebendige Urheber am Werk sehen.
Traurigkeit oder Frohsinn der individuellen Anlage, Furcht, das Bedürfnis
nach Schutz, die edlen Regungen (Poesie, Liebe, zartes Vertrauen) fallen
ins Gewicht. Das alles ist endlich vom Gewissen durchzogen, einer ange-
214 III. Berichte und Besprechungen.
borenen Regung, obwohl sie durch die Erziehung beeinflußt ist; so ar-
beitet sich nach und nach die Vorstellung von Gott heraus.
Welchen Einfluß wird sie haben ? Alles hängt von der Erziehung ab
und von der Rolle, die man ihr im Leben zuteilen wird.
«Wir fürchten, daß für viele Kinder die Gottesvorstellung nur eine
äußerliche Sache ist, die wenig Wirkung auf die persönliche Entwicklung
besitzt. Unter den von uns befragten Kindern sind verhältnismäßig
wenige, bei denen die Gottesvorstellung wirklich tief zu sein scheint. Viele
gibt es, von denen man sagen kann, daß Gott keine große Rolle in ihrem
Leben spielt. Schuld daran sind zweifellos die Erzieher, die es nicht ver-
standen haben, den göttlichen Schatz fruchtbarer zu machen, der sich auf
dem Grund des kindlichen Herzens findet. Aber es genügt, daß die Vor-
stellung einen Berührungspunkt mit dem Gefühl finde und sich mit ihm,
wenn auch wenig verbinde, um sie alsbald eine Kraft werden zu lassen.«
Das Kind hat eine natürliche Religiosität, eine natürliche Neigung zur
Religion. Aber diese Neigung kann die Richtung verlieren, eine die Per-
sönlichkeit auflösende Kraft werden und einen unheilvollen und lähmenden
Angstzustand erzeugen. Eine religiöse Erziehung ist also notwendig,
um dieser Gefahr zu begegnen; Clavier zieht dafür die Richtlinien und
zeigt, daß sie zuerst auf das Gefühl gestützt sein müsse: Entwicklung der
Gefühle der Zuneigung, der Liebe, im Schoße der Familie; danach auf das
religiöse Gefühl: häuslicher Kultus, Bedeutung des Gesanges und des Ge-
betes; auf die Sittlichkeit: Achtung des Rechten und Schönen, Bildung
und Uebung des Willens; endlich auf die Vorstellung von Gott selbst, die
man dem Kind nach und nach erklären sollte, indem man der natürlichen
Entwicklung und dem Fortschritt seines Interesses folgt. Hier wird die
Bibel eine starke Hilfe sein, weil sie eine Sammlung von wirklichen Er-
fahrungen ist und weil sie sich geschichtlich hauptsächlich an Personen
anschließt; sie wird dazu helfen, allmählich den Anthropomorphismus, der
dem Kind natürlich ist, zu vergeistigen.
Man sieht, daß diese Untersuchung zu vollkommen glatten Resultaten
führt. Sie stützt sich auch auf klare Beobachtungen, die einer Umfrage
von Leuba und einem Fragebogen, den der Verfasser zusammengestellt
an Kinder von 6—14 Jahren gesandt hat, entnommen sind.
5. Religiöse Erweckungen. Lauga (15) macht darauf auf-
merksam, daß religiöse Erweckungen natürliche und notwendige Bewe-
gungen sind; es sind nicht vereinzelte und auf bestimmte Religionen
beschränkte Erscheinungen. Man findet sie überall, in der Religion Zara-
thustras wie im Buddhismus, im Mohammedanismus sowohl als im primi-
tiven Judentum. Jedoch behält man diese Bezeichnung gewöhnlich den
großen sozial-religiösen Bewegungen vor, die sich namentlich im Prote-
stantismus zeigen. Eine Erweckung, sagt Kaltenbach, ist »eine soziale Er-
scheinung, deren hervorstechendstes Merkmal die in kurzer Zeit erfolgende
Bekehrung einer ungewöhnlich großen Zahl solcher Personen ist, die bis
dahin unbekehrt waren, oder als solche galten«. Diese Art religiöser Er-
Eine religionspsychologische Schule. 215
weckung hat schon zu mehreren Untersuchungen Anlaß gegeben, unter
denen in französischer Sprache die von Bois (siehe oben) und die von
Rogues de Fursac: Un mouvement mystique contemporain, Paris,
Alcan 1907, zu erwähnen sind. |
Zwei Studenten von Montauban haben sich damit befaßt und haben
zwei bemerkenswerte Schriften über die Sache dargeboten. Die von
Georges Lauga (15) handelt hauptsächlich von 4 großen Erweckun-
gen: der von Spener, von Wesley, von Finney und Moody und der Er-
weckungsbewegung von 1830. Die durch die Untersuchung dieser vier
großen Bewegungen erhaltenen Ergebnisse werden durch eine Erforschung
der Erweckungen von St. Jean du Gard 1851 und 1871, die von Mazamet
und von Tarn 1874 und die von der Dordogne 1875 ergänzt. Kaltenbach
(12) hat sich nach Amerika gewendet und seine Beobachtungen betreffen
die Erweckungsperiode von 1735 auf 1739 in Northampton und in Neu-
england, wo der Einfluß von Jonathan Edwards vorherrscht. Sie werden
durch Tatsachen ergänzt, die den Erweckungen von 1800—1842 in Ken-
tucky entnommen sind, und denen von 1857—1858 und von 1875, die
nur zum Vergleich hereingenommen sind.
Die Hauptpunkte, die in diesen beiden Studien berührt werden, sind
diese: Die Ursachen der Erweckungen und die Umgebung, in der sie sich
zeigen, die angewandten Mittel und die Berechtigung ihrer Anwendung,
die Hauptcharaktere ihrer Führer, die merkwürdigen physischen Erschei-
nungen an den Personen, die Wirkung der Erweckung auf die Kinder,
die jungen Leute und die Alten, die Bekehrungen, ihre Stufen, ihre Eigen-
tümlichkeiten, ihr Wert; die Theologie der Erweckungen, und endlich
ihre Ergebnisse auf Gemüt, Körper und Sitten.
Kaltenbach hat seine Arbeit durch Artikel in der Zeitschrift »Foi et
Vie« (1906, 20. II. bis 16. V.) aufgenommen und in einigen Punkten ent-
wickelt. Es wäre ein interessanter Vergleich, den man zwischen seinen
Gedanken über Religion und Bekehrung der Kinder und den oben er-
wähnten, von Clavier ziehen könnte. Kaltenbach zeigt sich gegen die Be-
kehrungen von Kindern in Zeiten der Erweckung ein wenig mißtrauisch.
Im 18. Jahrhundert ist die an Kinder gerichtete Erweckungspredigt ge-
scheitert. - Die Kinder weinten, versprachen alles, was man wollte, aber
nach einigen Tagen nahm ein anderes Ding ihre Gedanken in Anspruch
und der durch die Versammlung hervorgerufene Eindruck war vergessen
(a. a. O. S. 50).
6. Psychologie religiöser Anomalien. Wir reihen
in diesen letzten Paragraphen mehrere Aıbeiten ein, die sich auf mehr
oder weniger außergewöhnliche Aeußerungen des religiösen Gefühls oder
auf überraschende Erscheinungen beziehen, die auf den ersten Blick aus
der gewöhnlichen Entwicklungsreihe herausfallen und sich dem regel-
mäßigen Rhythmus des religiösen Lebens zu entziehen scheinen. — Auf
diese Weise untersucht Georges Barlement (1) den Mystiker
Suso und bedient sich dabei der Autobiographie, die letzterer mit Hilfe
216 UI. Berichte und Besprechungen.
der Aufzeichnungen seiner geistigen Tochter Elisabeth Staglin, Nonne im
Kloster von Töß bei Winterthur veröffentlicht hat. Diese Untersuchung,
der interessante Tatsachen über die deutsche Mystik im 14. Jahrhundert
vorangehen und in der das System von Eckhardt als ein Vorläufer von
Hegel und von der Theologie des Unterbewußten angesehen ist, betrachtet
abwechselnd in Suso den Asketen, den Hellseher und die Früchte seines
Lebens. Es gelingt ihr, diese merkwürdige Gestalt voll Plastik und Gegen-
sätzen, die für einen ganz besonderen Seelenzustand typisch ist, vor uns
aufleben zu lassen. — Victor Monod (19) liefert uns sehr sorgfältige
und genaue Beobachtungen über die Märtyrer und ihre Verfolger. «Dem
Fanatismus der Verfolger scheinen die elementaren Aeußerungen des
religiösen Gefühls zu fehlen.» «In den höheren polytheistischen Religionen
sind die Formen des Verfolgungsfanatismus noch sehr unvollständig.»
Man sieht also nur in den höheren Formen der Religion Verfolger und Mär-
tyrer hervortreten. Ferner gehen die Märtyrer fast nur aus den wenigst
gebildeten Gesellschaftsklassen hervor.
Der Verfasser gibt folgende Tabelle der Art der Personen, die zur
Zeit der Reformation verfolgt waren:
Pfarrer und Priester . . Be a ee. Ee ee we, SEF
Advokaten, Aerzte, Theologen, Fehr Su E E:
Adelige . . . Sige ew: ee Ee 20
Handwerker, Arbeiter, Händler a Beet ae oe: ge ol A
Unbekannter Beruf. . . . ......¢. 4. . =. 247
Frauen . . 87
70% der Husenotien- -Märtyrer gehörten ako Ständen ohne Kultur
an. «Das Verlangen nach Martyrium, findet er, trifft man häufiger unter
Männern der Tat als unter Männern des Gedankens. Die Impulsiven und
die Empfindsamen scheinen die Masse der Martyriumskandidaten zu
bilden.» Die Rolle der Empfindsamkeit ist also wichtig, fast vorherrschend
auf diesem Gebiet. Er stellt fest, daß «Menschen von sehr mittelmäßigem
Charakter, Trinker oder Räuber, auf dem Scheiterhaufen eine starke
Sicherheit zeigten, während andere, die durch ihre religiöse Erhebung und
ihre moralische Rechtschaffenheit ihnen weit überlegen waren, manchmal
versagten. Was soll das anderes bedeuten, als daß die ersteren durch einen
Gefühlsaufschwung erhoben wurden, den die letzteren nicht kannten ?»s
Auch der Aberglaube hat eine psychologische Abhandlung veranlaßt.
Jacot (11) beginnt mit einer Auseinandersetzung verschiedener Fälle
von Aberglauben (Zahl 13, unglückbringender Freitag, Vorzeichen, Wahr-
sagerei, Amulette, Talismane, böses Schicksal, Reliquienkultus usw.).
Dann zählt er die Ursachen dieser Geistesverfassung auf, ihre Eigentüm-
lichkeiten, ihre Wirkungen und die Heilmittel, mit denen man ihr ent-
gegenwirken kann.
Die Warnungen und die Fälle von Besessenheit im religiösen Leben
bilden den Gegenstand zweier Schriften. Diejenige von Paul Galley
(7) bringt ein reichliches Material und eine große Anzahl von sehr gut
Eine religionspsychologische Schule. 217
gewählten und angeordneten Belegen. Die von Louis Perrier (22)
gründet sich auf persönliche Untersuchungen und auf mündliche Be-
richte, verglichen mit gewissen Tatsachen, wie sie vor allem bei den großen
Mystikern zu finden sind: gleichfalls eine wichtige Sammlung von Be-
obachtungen. Der Band enthält eine Tafel mit der schematischen Kurve
der »fixen Idee«.
Wir erwähnen noch das Werk von Charles Lavaud (16), der
die Anwendung der Hypnose in der Heilkunde und ihre Erfolge studiert,
die mind-cure, die wunderbaren Heilungen bei den Griechen, in dem
französischen Departement Corréze, in England, Deutschland und Frank-
reich, um daraus Schlüsse auf die Heilungen Jesu zu ziehen; das Werk
von Maurice Hugret (10) und das von Massat (18); dieser
teilt zunächst das religiöse Leben nach den mehr oder weniger starken
Schwankungen von der Inbrunst zur Gleichgültigkeit ein und stellt schließ-
lich einen Gegensatz fest zwischen der Frömmigkeit der mystischen Katlıo-
liken und der der Tätigkeit zugewandten Protestanten.
Paul Gay endlich gibt uns eine (9) mehr philosophische als psyclıo-
logische Abhandlung und Ernest Larroche (14) faßt in einem
dicken Buch mit 256 Seiten auf Grund der Arbeiten von Janet, Grasset
und Flournoy die spiritistischen Lehren zusammen, trennt die zweifel-
haften Fälle von denen, die einen religiösen Wert haben können und
zieht seine Schlüsse in einer maßvollen und unparteiischen Weise.
Aus diesen verschiedenen Arbeiten gewinnt man den Eindruck eines
zusammenhängenden Ganzen, den wir vielleicht nicht genügend wieder-
zugeben vermochten. Eine gemeinsame Eingebung belebt sie alle. Sie
zeugen von aufrichtigem, ehrlichem Bemühen in methodischer, wissen-
schaftlicher Untersuchung und von dem Wunsch, jedem Gebiet das zu
geben, was ihm gebührt: der Wissenschaft die Tatsachen, dem Glauben
die ihm eignende subjektive Deutung. Es ist ein erfreuliches Zeichen,
daß man jetzt auf dem Boden einer theologischen Fakultät eine so be-
deutende Garbe psychologischer Arbeiten binden kann. Großer Dank
gebührt dem gelehrten Professor, der dieser Entwicklung seinen Eifer
und seine Leitung geliehen hat.
Dieser Sammelbericht war im Jahr 1914 zum Druck fertig. Aus
verschiedenen Gründen, die mit dem Krieg zusammenhängen, ist er
4 Jahre lang in der Schublade des Verfassers liegen geblieben. Leider
hat sich der Verfasser über die Arbeiten, die während der Jahre 1915
bis 1918 in Montauban erschienen sind, keine Auskunft verschaffen können.
Im Jahr 1914 sind dort 4 Schriften, die religionspsychologische
Gegenstände behandeln, herausgekommen. Die eine von ihnen, verfaßt
von Gustave Vernier (27), handelt von Felix Neff, einem Träger
der Erweckungsbewegung. Die drei anderen könnten unter der Ueber-
schrift »Mystik« zusammengefaßt und neben die Arbeit von Barlement über
218 III. Berichte und Besprechungen.
Suso gerückt werden. — Es handelt sich um einen Aufsatz von Alfred
Escande (5) über Emerson, um eine Abhandlung von Samuel
Bost (2) über die Mystik des heiligen Paulus und um eine Analyse
von vier Mystikern: Ignatius von Loyola, Franz von Sales, Madame
Guyon und Fénelon, welche Charles Peloux (21) in bezug auf
die Ratschläge und Richtlinien, die sie ihren Schülern und Beichtkindern
gaben, betrachtet. In der ersten dieser Arbeiten wird Emerson häufig
angeführt und man spürt aus seinen Schriften die Unaussprechlichkeit,
die Intuition und Passivität, Eigenschaften, die den mystischen Trieb
offenbaren. Bost entwirft die vier großen Stufen des mystischen Lebens:
die Zeit der Nachforschung, die ekstatische Zeit, die Zeit der Depression
und die Zeit des Einsseins mit Gott, und er findet diese Stufen ım Leben
des großen Apostels wieder. Peloux stellt zuerst in großen Zügen die
Richtlinien fest, welche die vier genannten Mystiker ihren Schülern geben;
dann verfolgt er die Entwicklung dieser Richtlinien in den Lebensstufen
derer, die sich ihnen anvertraut hatten, und zeigt, zu welcher Haltung
diese Mystiker schließlich die ängstlicher Grübler führen, deren sie sich
angenommen haben. Gleichgültigkeit in ängstlichen Gewissensbedenken,
Gehorsam gegen den Führer und das in Prüfungen, Versuchungen, ‘in
Zeiten des Fallens und inneren Erlahmens. Der Pfad eines solchen Ver-
haltens wird den dürstenden, erregten, überängstlichen, schwermütigen
und entmutigten Seelen gezeigt, die diese bewunderungswürdigen Führer
gefunden haben }). |
Besprochene Schriften.
(1) Barlement, Georges, Henri Suzo, essai de psychologie descriptive
sur un mystique chrétien, 1908.
(2) Bost, Samuel, Le mysticisme de l’apötre Paul, étude de psychologie
religieuse, 1914.
(3) Clavier, Henri, L’idée de Dieu chez l'enfant, 1913.
(4) Eldin, Henri, L’assurance du salut, étude de psychologie religieuse,
1905.
(5) Escande, Alfred, Emerson le mystique, 1914.
(6) Fabre, Jean, L’exancement de la priére, 1912.
(7) Galley, Paul, Les prémonitions, essai d’interprétation au point de
vue psychologique et moral, 1913.
(8) Gaujoux, Eugene, Notes sur les crises religieuses dans l’adolescence,
1903.
(9) Gay, Paul, L’amour propre psychologique en religion, 1905.
(10) Hugret, Maurice, La confession, essai de psychologie religieuse,
1908.
(11) Jacot, Paul, Essai psychologique sur la superstition, 1908.
(12) Kaltenbach, Jacques, Etude psychologique des plus anciens
Réveils religieux aux Etats-Unis, 1905.
1) Das vorstehende Sammelreferat, fir dieses Archiv geschrieben, ist in-
zwischen in der Revue de Théologie et de Philosophie (Lausanne) Nr. 29, Dezember
1918, erschienen. D. H.
J, Abelson, Jewish Mysticism. 219
(13) Krug, Jacques, La conversion de Pascal, 1902.
(14) Larroche, Ernest, La valeur religieuse du spiritisme, 1905.
(15) Lauga, Georges, Notes psychologiques et réflexions philosophiques
sur les Réveils religieux depuis la Réforme, 1902.
(16) Lavaud, Charles, La guérison par la foi, étude psychologique,
1906.
(17) Léo, Albert, Etude psychologique sur la prière, 1905.
(18) Massat, Des variations de l'état affectif dans la vie religieuse individuelle,
1903.
(19) Monod, Victor, Les persécuteurs et les martyrs, étude de psycho-
logie religieuse, 1905.
(20) Paradon, Emile, Del’experience chrétienne, recherches sur la nature,
la valeur et le role de l’exp£rience dans la genèse de la foi chrétienne, 1902.
(21) Peloux, Charles, La direction spirituelle chez les mystiques, 1914.
(22) Perrier, Louis, Les obsessions dans la vie religieuse, 1905.
(23) Pfender, René, De la prière juive a la prière chrétienne, 1905.
(24) Planque, Louis, La conversion de l'apôtre Paul, 1909.
(25) Ponsoye, Edmond, Experience et acte de foi, 1905.
(26) Trocmé, Albert, Réflexions sur le premier développement des idées
et des sentiments religieux chez les enfants, 1902.
(27) Vernier, Gustave, Felix Neff, homme de Réveil, 1914.
J. Abelson, Jewish Mysticism. London 1913. 184 S. (The Quest
Series. Edited by G. R. S. Mead.)
In der Zeit, als fiir die Judenheit des westlichen Europa die Epoche
der religiösen »Aufklärung« anbrach, verbreitete sich unter der osteuro-
päischen Judenheit eine mystisch-religidse Bewegung: der von Israel-
Baalschem begründete Chassidismus. Ursprünglich erstrebte der
Chassidismus die Wiedergeburt des Judentum im Gefühl, im
Geiste intensiver Herzensfrömmigkeit. Er lehrte die Immanenz und
Selbstoffenbarung Gottes in allem Sein. Jedes Wesen hat wenigstens
eine Spur des Göttlichen an sich, die es jeweilen nur zu entdecken gilt 4).
Leben und Gedankenwelt der Chassidim behandeln mit großer Vor-
liebe die modernen hebräischen und überhaupt jungjüdischen Dichter und
Forscher, von denen manche selbst eine gewisse Disposition für mystisches
Denken und Empfinden zu besitzen scheinen. Eine umfassende Geschichte
der jüdischen Mystik wäre also ein recht »zeitgemäßes« wissenschaft-
liches Unternehmen, das wohl auch der religionspsychologı-
schen Forschung reiches Material liefern könnte. Als eine Art Vor-
arbeit zu einem solchen Werk und als »Einführung in das allgemeine
Studium des jüdischen Mystizismus«, wie der Herausgeber sagt, erscheint
Abelsons Buch: Jewisch Mysticism.
In der Einleitung weist der Verfasser die landläufige Meinung zurück,
daß Judentum und Mystizismus einander von Haus aus feindlich seien.
Das Judentum ist keineswegs, wie man behauptet, die einseitige forma-
1) Vgl. Salomon Schechter, Die Chassidim. Eine Studie über jüd. Mystik.
Berlin 1904.
220 III. Berichte und Besprechungen.
listisch äußerliche »Gesetzesreligion«, die ein innig-innerliches Erleben
Gottes ausschließt. Es ist nicht weniger eine Religion des Gefühls als
des Intellektes und seine tiefste Sehnsucht geht dahin, einen direkten
Weg zur lebendigen Gegenwart Gottes zu finden. Ebenso hinfällig er-
weist sich der Einwand von einem nationalen Charakter des Judentums,
der mit dem universalen der Mystik in Widerspruch stehen soll. Das
Judentum bildet in Wahrheit eine national-religiöse Einheit. Die beiden
Elemente sind in Eins verschmolzen, alles Nationale hat zugleich reli-
giösen Sinn und Wert gewonnen.
Die Erörterung des letzten Einwandes vervollständigt sich durch
eine genauere Betrachtung des allgemeinen Wesens der Mystik.
Mystik ist Religion in ihrer intensivsten Form. Während der einfach
Religiöse Gott aus irgend einer äußeren Offenbarung kennt, erlebt
ihn der Mystiker unmittelbar und innerlich. Scheinbar steht also der
Mystiker außerhalb jeder Offenbarungsreligion. Seine Religion ist rein
individuell und persönlich. Dennoch zeigt eine strengere Untersuchung
des Lebens und der Werke der Mystiker, daß ihre mystischen Erlebnisse
wesentlich von einer der herrschenden Religionen bedingt sind. »Die
besonderen Formen ihrer Konzeptionen von Gott kommen nicht von
ihrem eigenen inneren Licht allein, sondern von den Lehren, welche sie
von der äußeren und überlieferten Religion ihrer Rasse oder ihres Vater-
landes in sich aufnehmen.« Mithin ist auch das Judentum trotz seines
nationalen Gepräges mit Mystizismus durchaus verträglich.
Bedeutet Mystik im weiteren Sinn intensive Herzensfrömmigkeit
und unmittelbares Erleben des Göttlichen, so muß schon in der Frühzeit
des Judentums Mystik zu finden sein. Besonders die Prophetie
bildet ein eminent mystisches Phänomen. Doch handelt es sich hier noch
durchweg um eine Mystik »elementarer, naiver, unbewußter Art« Da
nun Abelson seine Absicht auf die Darstellung der bewußt aus-
gearbeiteten jüdischen Mystik gerichtet hat, so muß er die biblische Epoche
übergehen. Erst in den letzten Jahrhunderten der vorchristlichen Zeit-
rechnung beginnt die Geschichte der bewußten jüdischen Mystik.
Im ersten der acht Kapitel seines Buches spricht der Verfasser über
die Essäer, von denen wir allerdings nur wenig Bestimmtes wissen,
und über die mystischen Sekten bzw. über Einzelmystiker jener Zeit,
von denen sich in den älteren rabbinischen Quellen — ebenfalls nur
unzulängliche — Berichte finden. Diese »Chaschaim« (Schweiger), »Ze-
nuim« (Demütige) und wie sie sonst genannt werden, gehörten zu den
Pharisäern und zeichneten sich durch besondere Gesetzestreue aus.
Das zweite Kapitel behandelt die wichtige Merkabah- Lehre
(Lehre vom göttlichen Thronwagen), die auf Ezechiel I beruht. Der
jüdische Mystiker fühlte stets, daß die Merkabah ein Ausdruck der mensch-
lichen Sehnsucht war nach dem Anblick der Gottesgegenwart und der
Gemeinschaft mit ihr. Wie es scheint, beschäftigte sich nur eine besonders
erlesene Sekte nach einer strengen religiös-sittlichen Selbstzucht mit
J. Abelson, Jewish Mysticism. 221
der Merkabah. Beachtenswert ist der, auch vom Chassidismus akzeptierte
Gedanke, daß außergewöhnlich gotterfüllte Menschen schon zu Leb-
zeiten ins Unsichtbare entrückt werden können, um nach Empfang tiefer
mystischer Offenbarungen wieder ins niedere Dasein zurückzukehren.
Die hellenistisch-jüdische Literatur schuf den Logosbegriff. Ent-
sprechend kennt die rabbinische Mystik Palästina-Babyloniens den M e t a-
tron. Metatron ist der Stellvertreter Gottes in seiner Weltwirksam-
keit. Das absolut vollkommene Wesen selbst kann nichtin unmittel-
barer Beziehung zur unvollkommenen Welt gedacht werden. Es ver-
steht sich, daß diese Auffassung die rigorose Gotteinheitslehre des Juden-
tums ernstlich bedroht. Daher blieb sie auch, abgesehen von gelegent-
licher Erwähnung in der Liturgie, für die Religion des praktischen Lebens
völlig außer Betracht (3. Kapitel).
Das vierte Kapitel behandelt den Begriff der Schechinah,
in dem der Gedanke des Königtums mit dem der Vaterliebe Gottes ver-
schmolzen ist. Dann folgt (5. Kapitel) eine Besprechung des wohl aus
dem 6. Jahrhundert stammenden Buches Jezirah, das eine mystische
Philosophie enthält. In den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets
wird der Kosmos ideell gefaßt gedacht, der die Objektivation des göttlichen
Intellektes darstellt. Außerhalb Gottes können die Dinge nicht sein, da
sonst eine Beziehung des absolut Vollkommenen zum Unvollkommenen
angenommen werden müßte, die undenkbar erscheint. Alles Sein ist
eine Emanation der göttlichen Einheit. Aus Gott sind alle Dinge,
in Gott münden sie und mit ihm sind sie Eins, wie das Leuchten mit
dem Lichte Eins ist. Bedeuten aber die Buchstaben die Grundlage der
Materie, so bilden die »Sefirath« die Formen des Seins.
Die drei letzten Kapitel behandeln das Hauptwerk der mittelalter-
lichen jüdischen Mystik (»Kabbalah«), den Sohar und seine wichtig-
sten Lehren und Begriffe. Der Sohar gibt sich als Bibelkommentar. Die
Thora hat ihm einen verborgenen mystischen Sinn, den er aufzeigen will.
Dabei findet sich, daß das Universum eine Emanation Gottes isi, die
äußere Erscheinung seines Denkens. Die Welt wird aus vier Komponenten
gebildet: Aziluth (Emanation), Beriah (schöpferische Ideen), Jezirah
(schöpferische Formen), Asiah (schöpferische Materie). Die bei der Emana-
tions- bzw. Immanenzlehre besonders dringende Frage nach der Möglich-
keit des Uebels wird dahin beantwortet, daß alles Uebel (in Dämonen
verkörpert wie das Gute in Engeln) nur Schein sei, ohne jede wirkliche
Realität. Gott selbst, dr En Soph (Unendliche) kann durch keine
positiven Attribute bestimmt werden, da dies einer Begrenzung gleichkäme.
Eine hervorragende Stellung in der Sohar-Mystik nimmt die Lehre
von den Sefiroth ein: roin Gott von Ewigkeit latente Kräfte, welche
seine Immanenz in allen. kosmischen und geistigen Phänomenen zum Aus-
druck bringen. Wichtiger für uns ist die — talmudisch und neuplatonisch
orientierte — Seelenlehre des Sohar. Die Seele besteht aus drei
Elementen, deren höchstes die Neschamah ist. Diese wird auf die Erde
222 III. Berichte und Besprechungen,
sozusagen zur Ausbildung herabgesandt. Erst wenn sie völlig ausgereift
ist, darf sie in den Palast des himmlischen Vaters zurückkehren. Da
aber meist der Aufenthalt in Einem Körper für die volle Entwicklung
der Seele nicht ausreicht, so muß sie nacheinander mehrere Leiber be-
wohnen, bis sie ihre Vollkommenheit erlangt hat (Seelenwanderung).
Mit Hilfe dieser Lehre erklärt der Sohar auch das Problem des unver-
schuldeten Leidens. Es ist eine Strafe für früher, in anderen Leibem,
begangene Sünden der Seele. — Das Hauptbestreben der Seele richtet
sich auf das Erleben der Gottesgegenwart. welches nur in einer außer-
ordentlichen ekstatischen Emotion, der Liebe, möglich ist. Eine
solche Emotion kann die Neschamah zwar eigentlich erst nach ihrer Be-
freiung vom Körper genießen, aber unter bestimmten Bedingungen doch
schon hienieden: vor allem im Gebet. —
A.s Arbeit bedeutet einen erfreulichen Anfang, die wenig gekannte
jüdische Mystik der allgemein wissenschaftlichen, nicht zuletzt der reli-
gions- und völkerpsychologischen Verwertung zugänglich zu machen. Eine
eingehende Würdigung des schon in dieser Hinsicht verdienstlichen, mit
großer Wärme und starker Einfühlungskraft geschriebenen Buches, muß
Literaturforschern überlassen bleiben. Nur auf eins möchte ich hin-
weisen. Mir erscheint die Stellung, welche die jüdische Mystik im Gesamt-
judentum einnimmt, keineswegs so klar und einfach, wie es nach A. (Ein-
leitung) aussieht. Es hätte sich jedenfalls empfohlen, die Hypothese
David Neumarks (Geschichte der jüd. Philosophie d. Mittelalters
Bd. I) zu erörtern, derzufolge schon in den verschiedenen pentateuchischen
Quellenschriften zwischen einer rein ethisch-religiösen und einer mystisch-
mythologischen Geistesrichtung ‘ein Kampf konstatierbar sein soll, bei
dem die »Merkabah« eine besondere Rolle spielte und der sich dann durch
die ganze jüdische Religionsgeschichte hinziehe.
Zum Schlusse sei noch, zugleich in Ergänzung der dem Buche an-
gefügten Bibliographie, eine kleine Schrift in deutscher Sprache erwähnt,
die ebenfalls einen kurzen Ueberblick über die jüdische Mystik geben
will: Ph. Bloch, Geschichte der Entwicklung der Kabbalah und der
jüdischen Religionsphilosophie. Trier 1894.
A. Schlesinger (Buchau a. F.).
Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens. Tübingen,
J. C. B. Mohr, 1908. XXV und 826 S. M. 36.—.
Es erscheint mir als eine Pflicht der Dankbarkeit, auf dieses groß
angelegte Werk und seine Bedeutung für die Religionspsychologie auch
heute noch ausdrücklich hinzuweisen. Denn an dem Grundgedanken
der M.schen Untersuchung ist die Religionspsychologie aufs lebhafteste
interessiert, und in weitem Umfang erörtert M. Probleme, die zu den
eigentlichsten Fragestellungen der Religionspsychologie gehören. Eine
auszugsweise Wiedergabe des Gedankengangs des ganzen Werkes, welche
RR nn oie
Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens. 223
zugleich die Geschlossenheit des Aufbaues und die innere Zusammen-
gehörigkeit aller Teile erkennen ließe, wäre eine dankenswerte Leistung,
welche vielleicht manchem erst einen Zugang zu dem breit angelegten
Werk selbst eröffnen würde. Hier gilt es nur zu zeigen, in welchem Rahmen
bei M. religionspsychologische Ausführungen sich finden, und welche Stel-
lung M. zu den religionspsychologischen Fragen nimmt, auf die er im
Gang seiner Untersuchung geführt worden ist. Die Kritik wird sich mehr
im Grundsätzlichen als im Einzelnen bewegen müssen.
Die gesamte menschliche Vorstellungs- und Denktätigkeit scheidet
sich für M. in zwei große Gruppen: die eine bildet das »kognitive«
Denken, das auf Erkenntnis gerichtet ist und in Urteilen sich betätigt;
die andere Gruppe, von M. als »» motionales« Denken bezeichnet,
setzt sich zusammen aus den affektiven Vorstellungen, »wie sie uns z. B.
in den ästhetischen, den mythologischen und religiösen Phantasiegebilden
entgegentreten«, und den volitiven, »die uns die Zielobjekte unseres Wollens,
Wünschens, Bittens, Befehlens, Verbietens usf. zum Bewußtsein bringen«
(S. 3), und hat als einigendes Band zunächst nur den gemeinsamen Gegen-
satz gegen das kognitive Denken. Beide Gruppen aber stellen ein »logi-
sches« Denken dar. Denn es ist ein gemeinsamer Irrtum aller bisherigen
Logik, nur in dem erkennenden, urteilenden Denken logische Elemente
zu finden. Diese Beschränkung wäre nur dann berechtigt, wenn alles
logische Denken »wahr« sein wollte; der Wahrheitsanspruch ist in der
Tat ein ausschlieBliches Merkmal des auf Erkennen gerichteten urteilenden
Denkens. Die allgemeinen Kennzeichen des logischen Denkens sind da-
gegen das Bewußtsein der Denknotwendigkeit und der daran sich knüpfende
Anspruch auf Allgemeingültigkeit; und diese beiden Merkmale eignen
auch den Akten des emotionalen Denkens und verleihen ihnen die GewiB-
heit logischer Geltung. Dieses Bewußtsein ist freilich stets hypothetischer
Art; es bedeutet nichts anderes, als daß bestimmte Denkakte durch die
zugrunde liegenden, sei es kognitiven, sei es affektiven oder volitiven
Vorstellungsdaten gefordert sind und wenn sie überhaupt ge-
dacht werden sollen, so und nicht anders gedacht werden müssen (S. 40 ff.,
351 f.). Diese logische Betrachtung des emotionalen Denkens kann und
muß aber unterbaut werden durch eine psychologische Analyse seiner
Struktur, und diese zu geben ist der eigentliche Gegenstand des M.schen
Werkes. Diese Aufgabe kann aber ihrerseits nur durch eine umfassende
Untersuchung der gesamten Vorstellungs- und Denktätigkeit genügend
vorbereitet werden, welche zum großen Teil auch die entsprechenden For- |
men des kognitiven Denkens in den Kreis der Betrachtung hereinzieht.
Die erste dieser vorbereitenden Untersuchungen soll das emotionale
Vorstellen 4) aus dem Wesen der Phantasievorstellungen (S. 62—139)
ı) Es ist vielleicht nicht unnötig, ausdrücklich zu bemerken, daß M. unter
»Vorstellungen« alle Akte des Gegenstandsbewußtseins, nicht etwa nur die san-
schaulichen« versteht, so daß auch Gedanken und Urteile unter den Oberbegriff
Vorstellungen fallen.
224 III. Berichte und Besprechungen.
überhaupt entwickeln. Als das Entscheidende ist in jeder Phantasie-
vorstellung ein emotionaler Faktor, nämlich dr Drang zur Ge-
staltung über das unmittelbar Aufgefaßte hinaus wirksam. Zwar
gibt es auch kognitive Phantasievorstellungen. Sie »liegen überall da
vor, wo die Phantasietendenz ein Erkenntnisinteresse ist« (S. 135). Als
Beispiel führt M. den Fall an, daß wir etwa auf Grund einer geometrischen
Zeichnung uns ein körperliches Gebilde vorstellen. Alle Erkenntnisse,
die uns auf dem Wege der Mitteilung zufließen, alle Theorien und Hypo-
thesen der Wissenschaft, alle technischen Erfindungen usw. sind Leistungen
der kognitiven Phantasietätigkeit. Dieser steht nun die emotionale Phan-
tasietätigkeit gegenüber, in der es sich niemals um Erkenntnis handelt.
Auf der einen Seite stehen die affektiven Vorstellungen, welche sich aus
irgendeinem Gefühl, einer Stimmung, einem Affekt entwickeln, auf der
andern die volitiven Vorstellungen, welche aus Begehrungsprozessen
hervorwachsen und die Objekte des Wollens zum Bewußtsein bringen.
Während alle kognitiven Vorstellungen der Gewinnung von Erkenntnis-
vorstellungen dienen, ist der Zweck der emotionalen Vorstellungen ledig-
lich die Realisierung irgendeines Gemütszustandes. Dieser emotionale
Faktor gibt den Vorstellungen der letzteren Art ihre eigentümliche Struktur.
Die andere Gedankenreihe, welche für die Analyse des emotionalen
Denkens selbst grundlegend ist, betrifft das Wesen des urteilenden (kogni-
tiven) Denkens in seiner Eigenart und in seiner Analogie zum emotio-
nalen (S. 140—381). Der Wahrheitsanspruch ist das spezifische Kenn-
zeichen des Urteilens. Aber im Gegensatz zu der üblichen Logik, die
in dem vollständigen Aussagesatz den Typus des Urteils sieht, findet M.
schon in einfachen Vorstellungen selbst, nämlich in den Wahrnehmungs-
vorstellungen, das charakteristische Merkmal des Urteilsaktes. Dieses
Merkmal ist das »Objektivierungszeichen«, d. h. die in den Vorstellungs-
daten liegende Aufforderung zur Objektivierung. Auf Grund dieses Ob-
jektivierungszeichens wird ein aufzufassender Vorstellungsinhalt als wir k-
lich vorgestellt; ich beziehe den Vorstellungsinhalt auf ein Objekt
und denke ihn als Glied in einem außersubjektiven Objektzusammenhang
(S. 152). Man kann also sagen, Urteile seien »objektivierende Auffassungen
unmittelbar gegebener oder abgeleiteter Erkenntnisdaten« (S. 149). Wenn
zu den Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Phantasievorstellungen noch
die Tätigkeit des beziehenden Denkens hinzutritt, so entsteht eine »Objekt-
vorstellung höherer Ordnungs, nämlich eine Relationsvorstel-
lung. Diese ist kognitiver Art, wenn es sich um die Auffassung einer
als wirklich vorgestellten Beziehung handelt, und eine solche kognitive
Relationsvorstellung ist dann der wesentliche Bestandteil eines Relations-
urteils. Was gemeinhin als »Urteile« schlechthin gilt, sind in Wahrheit
solche Relationsurteile. Die kognitive Phantasietätigkeit endlich voll-
zieht sich auf dem eigentümlichen Weg des Syllogismus in Schlüssen,
die ihrem Wesen nach nicht Produkte der Auffassung, sondern der
Gestaltung sind.
Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens. 225
Diese überaus breite Grundlage, die dem eigentlichen Gegenstand des
Buches fernzuliegen scheint, rechtfertigt sich immer wiederin dem Nachweis,
daß die emotionalen Denkakte (S. 349 ff.) der kognitiven Phantasie gegen-
über ein durchaus eigenes Gepräge haben, und daß doch die »logischen«
Formen ihrer Tätigkeit denen der kognitiven Denktätigkeit vollkommen
parallel liegen. Auch hier liegt die charakteristische logische Gestaltung
schon in den einfachen elementaren Denkakten und diese tragen in sich
eine freilich besondere Art von Objektivierungszeichen, eben ein emotio-
nales Objektivierungszeichen; und auch hier bewegen sich die Denkakte
weiterhin in (emotionalen) Relationsvorstellungen, Begriffen und Schlüssen.
Freilich treten, sobald man diese Dinge im einzelnen zu analysieren unter-
nimmt, die beiden großen Gruppen des affektiven (S. 382—555) und
des volitiven Denkens (S. 556—804) auseinander.
Das Gemeinsame an allen »affektiven« Vorstellungen ist dies,
daß bei ihrer Entstehung irgendwelche Gefühlsmomente beteiligt und
wirksam sind. Dies tritt zunächst auch dann in Erscheinung, wenn diese
Vorstellungen durch Empfindungen hervorgerufen sind: die dem Gefühl
entspringende Phantasietendenz lenkt die Aufmerksamkeit ab von den
kognitiven Zügen des Erlebnisses und zieht sie in eine Art von spielender
Vorstellungstätigkeit hinein. Es kann aber auch der Fall eintreten, daß
Phantasievorstellungen ausschließlich und unmittelbar aus Stimmungen,
Gefühlen und Affekten hervorzugehen scheinen. Aus den Affekten freu-
diger Ueberraschung entspringen alle möglichen heiteren Bilder, und
der Traurige gibt sich den in ihm aufsteigenden trüben Vorstellungen
hin. Stets ist nämlich die Wurzel irgendein Gefühlserlebnis und es ist
ein Gestaltungsinteresse wirksam, welches auf Herbeiführung einer »präsen-
tativen« Bewußtseinserregung abzielt, und in dem affektiven Vorstellungs-
erlebnis kommt diese Tendenz zur Ruhe (S. 137). Ihren logischen Charak-
ter bewähren die affektiven Phantasievorstellungen darin, daß auch sie
mit dem Bewußtsein eines logischen Zwanges auftreten: aber »das Be-
wußtsein des ‚Gegenseins‘ hat hier seinen Grund in der psychologischen
Notwendigkeit, mit welcher sich die Vorstellungstätigkeit aus den Ge-
fühlen entwickelte (S. 433). Auch eine Art von Objektivierung eignet
der affektiven Vorstellungstätigkeit; aber sie kann auf zwei sehr ver-
schiedene Arten sich vollziehen, und hierin liegt der tiefgreifendste Unter-
schied, in welchem sie bei den wichtigsten Gruppen des affektiven Denkens
auseinandertreten: das ästhetische und das religiöse Denken. Die Aesthe-
tik, die M. im Rahmen seines Werkes gibt (S. 450—499) berührt uns
hier nur insoweit, als an ihr die wesentlich verschiedene Struktur des
religiösen Denkens deutlich zu werden vermag. In den ästhetischen
Vorstellungsdaten aber liegt — ganz analog den kognitiven Vorstellungen —
eine Art von Objektivierungszeichen, aber es ist eine Aufforderung zu
einer Scheinobjektivierung. »Jedes ästhetische Vorstellungserlebnis läßt
vor unserem geistigen Auge eine Art von Welt erstehen, in die wir das
ästhetische Objekt einordnen.« Und während in der kognitiven Vor-
Archiv für Religionspsychologie LI/III. 15
226 III. Berichte und Besprechungen.
stellungstätigkeit die Objektivierung in dem eigentümlichen »Objekti-
vierungszeichen« der Empfindungen wurzelt, erwächst hier die Notwendig-
keit der Objektivierung aus dem Drang des Gemüts, der den ganzen
Prozeß beherrscht: »So tritt an die Stelle des Wirklichkeitsbewußtseins
die Illusion, d. h. die Scheinwirklichkeit« (S. 489 f.).
In ganz anderem Maße als in dem ästhetischen steht in dem religiösen
Denken die logische Struktur im Vordergrund, und eben deren Unter-
suchung ist die eigentliche Aufgabe der M.schen Religionspsychologie
(S. 499—555). Denn was die religiösen Vorstellungen von den ästhetischen,
überhaupt von den anderen affektiven Vorstellungen unterscheidet, ist
gerade dies, daß sie »Glaubensvorstellungen« sind. »Nicht in eine Illusions-
wirklichkeit wollen uns jene führen, sondern in die reale. Zu Objekten
haben sie Gott, Götter, Dämonen u. dgl. und Beziehungen solcher Wesen
zum Menschen und zur Welt. Und was sie hierüber zu sagen wissen,
macht den Anspruch, im eminentesten Sinne wahr zu sein. So spricht
man denn auch von Glaubensurteilen, in denen die Vorstellungs-
gebilde des religiösen Glaubens ihren logischen Ausdruck finden« (S. 500).
Und zwar handelt es sich nicht etwa um Urteile, in denen psychische
Zustände religiösen Glaubens und Lebens erfaßt werden; dies sind psycho-
logische Urteile; eigentliche Glaubensurteile dagegen sind die Aussagen
über die religiösen Objekte, wie sie der Glaube selbst macht; aber nicht
in diesen Aussagen, sondern in den Glaubensvorstellungen selbst, in
denen die Glaubensobjekte als solche gedacht werden, liegen die primären
Glaubensfunktionen. Daß es sich hier um »Phantasievorstellungen«
handelt, kann nicht bezweifelt werden, und nur, ob sie als kognitive oder.
als emotionale Phantasievorstellungen zu betrachten sind, kann gefragt
werden. Man untersucht tatsächlich das Wesen der Religion, wenn man
die Natur dieser Glaubensvorstellungen erforscht. Eine unbefangene
Analyse aber zeigt uns eine doppelte Wurzel: einerseits stößt der Mensch
in seinem Lebenstrieb, in seinem Streben nach Gütern, die er für sein
Leben braucht, auf die Bedingtheit seines Könnens; aber doch erwächst
nun nicht die gläubige Vorstellung einfach als Postulat aus diesem Trieb
nach Lebensbehauptung; denn andererseits macht der Mensch gewisse
Erfahrungen, die er als »freudvolle Schickungen«, als Befriedigung wich-
tiger Lebensbedürfnisse empfindet und denen gegenüber er sich zugleich
rein passiv, empfangend verhält. Die kausale Deutung, die er diesen
für ihn wertvollen Erfahrungen gibt, ist ganz von dem daran geknüpften
Gefühl bestimmt. Es ist eine typische »affektive Tatsachendeutungse, die
hier vollzogen wird. Ein affektiver Schlu8prozcB führt auf die Vorstellung
eines lebenbeherrschenden Machtwesens: ». .. ein Fetische, » .. ein
Geist« (S. 509 ff., vgl. S. 540 ff.). Indem sich die »begriffliche« in eine
»anschauliche« Interpretation wandelt, rechnet sodann der Gläubige alle
Gunst und Ungunst, die er in seinem Leben erfährt, »seinem« Fetisch
zu. Wenn sodann nicht mehr bloß göttliche Wesen selbst, sondern zu-
gleich Betätigungen, Wirkungen, Offenbarungen derselben gedacht werden,
Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens. 227
so liegen statt der einfachen »komplexe fundamentale Glaubensdenkakte«
vor; am häufigsten werden Güter- und Uebeltatsachen als Wirkungen
der religiösen Objekte vorgestellt. In solchen komplexen fundamentalen
Glaubensdenkakten entwickelt sich die ganze Glaubenswelt der Religion.
Auf einer höheren Stufe der Religion tritt sodann die ganze Natur,
soweit sie dem Menschen Heil oder Unheil bringt, in den Umkreis reli-
giöser Interpretation, und neben die Interessen der physischen Erhaltung
tritt der sittliche Trieb, zuletzt »das sittliche Gut«, als Anknüpfungspunkt
für die religiöse Deutung. Aber auch die religiösen Objekte selber werden
in verschiedener Weise vorgestellt. Auch hier hat die »Objektivierung«
die Aufgabe, die Vorstellungsobjekte in den Wirklichkeitszusammenhang
einzuordnen. Die Glaubensvorstellungen sind aber Gebilde der affek-
“tiven, nicht der kognitiven Phantasie; aber ebensowenig wollen sie als
»präsentative« Vorstellungen in eine Illusionswirklichkeit führen ; sondern
dadurch, »daß die Affektvorstellungen .. . in einer Weise im Bewußt-
sein dominieren, daß die Vorstellung der Erfahrungswirklichkeit völlig
zurückgedrängt wird«, also durch die suggestive Wirksamkeit des reli-
giösen Affekts, wird den Glaubensobjekten eine objektive Geltung bei-
gemessen (S. 519f., 545). »Glaube ist Geltungsbewußtsein, aber ein
solches, das sich nicht auf kognitive Daten, sondern auf affektive Auto-
suggestion gründet« (S. 436). Weil aber unmöglich ein religiöses neben
dem natürlichen Erkennen bestehen kann, so erhebt sich das Bedürfnis,
die Glaubensobjekte mit der Erfahrungswirklichkeit in Beziehung zu
setzen und in Ausgleich zu bringen, und je nach der Art, wie dies geschieht,
glaubt M. 4 Stufen der religiösen Entwicklung unterscheiden zu können
(S. 520 ff.). Auf der Stufe »unternatürlicher Vorstellungsweise« wird
das Glaubensobjekt in ganz zufälliger Weise an ein sinnliches Ding ge-
knüpft (Fetisch), so daß Zauberei die einzige Form ist, in der die Wirk-
samkeit des Fetisch vorgestellt werden kann. In der »natürlichen Vor-
stellungsweise« sieht sich der Mensch an unzähligen Punkten der Natur
zu einer religiösen Kausaldeutung veranlaBt, und die religiöse Phantasie
im Verein mit der natürlichen Erfahrung erzeugt eine Vielheit von Göttern.
»Kennzeichnend für die übernatürliche, die transzendente Vorstellungs-
weise ist, daß die Glaubensobjekte nicht mehr in die unmittelbar sicht-
und tastbare Wirklichkeit einbezogen werden« (S. 525). »Aber als wirk-
lich wird das Glaubensobjekt nur gedacht, sofern es als die sinnlich er-
fahrene und sinnlich erfahrbare Wirklichkeit irgendwie . . . bedingend
vorgestellt wird.« Aufs engste verknüpft sich hier die religiöse Phantasie
mit kognitiven Interessen: auf der einen Seite begegnen uns mythologische
Vorstellungen über Weltschöpfung und Weltwalten, auf der anderen
Seite ein weitgehender Einfluß philosophischer Anschauungen auf die
höher entwickelten Religionen. Das eigentlich religiöse Interesse wahrt
dabei stets einen gewissen Anthropomorphismus der Gottesvorstellung ;
wo in einer übergeistigen Weise von allen sinnlichen Elementen abstrahiert
wird (wie z. B. bei Meister Eckhart), da ist letztlich ein nicht religiöses,
15 *
228 III. Berichte und Besprechungen,
sondern ein spekulativ-kognitives Interesse wirksam gewesen: »Der reli-
giöse Glaube denkt in allen Fällen und notwendig theistisch« (S. 529).
Wo die Ueberordnung des philosophischen Erkennens über die religiöse
Phantasie durchgeführt ist, da ist die vierte Stufe, »die metaphysische
Vorstellungsweise«, erreicht, die am reinsten in philosophischen Systemen
verkörpert ist, in die religiöse Motive eingegangen sind, ihnen eine reli-
giöse Färbung verleihend. Freilich ist nur noch eine ganz bestimmte und
eng begrenzte Betätigung des religiösen Triebs auf diesem Boden möglich;
die metaphysische Denkweise, die vor der Kritik der kognitiven Phantasie
bestanden hat, läßt nur »die demütige Fügung in den Lauf der Welt,
in den auch das Menschenleben verflochten ist«, als religiöses Erleben
zu. Aber andererseits — und dieser Gedanke ist nun für M.s ganze Po-
sition entscheidend — entspricht eine solche Entwicklung einem Ideal,
das im religiösen Vorstellen selbst angelegt ist. »In den steten Bemühungen
des religiösen Glaubens, seine Vorstellungen an die natürliche Erkenntnis,
seine Objekte an die Erfahrungswirklichkeit anzuknüpfen, kommt doch
zum Ausdruck, daß die Wirklichkeit der natürlichen Erkenntnis auch
für den Glauben die Wirklichkeit schlechtweg ist. Die religiöse Phantasie
stellt ihre Objekte in einer Weise als wirklich vor, die von dem Objek-
tivitätsbewußtsein der kognitiven Phantasievorstellungen in keiner Weise
abweicht«. »Die affektive Gewißheit des Glaubens vermag zum eigent-
lichen Wahrheitsbewußtsein nur dadurch zu werden, daß der Glaubens-
denkakt eine kognitive Funktion in sich aufnimmt und sich einfügt. Ist
dem aber so, so erscheint es in der Tat als naturgemäß, wenn der Glaube
selbst schließlich, sofern er seine Objekte für wirklich hält, sich dem Wirk-
lichkeitskriterium und der Wahrheitsnorm des erkennenden Denkens
unterstellt.« »Das aber ist die ‚philosophisch-metaphysische‘ Vorstellungs-
weise des Glaubens in ihrer Vollendung« (S. 535 f., vgl. S. 546).
Dieser Zwiespalt zeigt sich aber einer sorgsamen Analyse in den
Glaubensüberzeugungen selbst. Sie sind auf der einen Seite rein prak-
tisch emotional begründet, und als die vollkommenste Religion erscheint
von hier aus diejenige, welche das ganze menschliche Leben restlos der
religiösen Interpretation zu unterstellen vermag. Andererseits aber wollen
die Glaubensüberzeugungen wahr sein und setzen sich darum mit der
Erkenntnis in Verbindung, und dieser Tendenz ist dann am besten Genüge
getan, »wenn das Glaubensobjekt, auf das sich der religiöse Affekt richtet,
jenes Unbedingte ist, das sich der kritisch regulierten kognitiven Phantasie
als Urgrund des Seins und Erkennens erschließt.« Aber damit ist geradezu
der gläubigen Phantasie der Lebensnerv durchschnitten. So besteht
zwischen dem affektiv-emotionalen und dem kognitiven Interesse des
Glaubens ein unheilbarer Widerspruch (S. 547).
Den affektiven Emotionalvorstellungen stehen gegenüber die voli-
tiven, denen der letzte Abschnitt gewidmet ist. In ihnen kommen uns
die Objekte unseres Wollens, unseres Wünschens, unseres Gebietens und
Verbietens zum Bewußtsein. Ihrer Natur nach sind sie »Teilakte in Be-
Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens. 229
gehrungsprozessens, und daher kommt hier nicht wie beim affektiven
Denken die Begehrungstendenz in der vollendeten Phantasievorstellung
zu ihrer Befriedigung und Ruhe. Der Typus eines einfachen elementaren
Denkaktes volitiver Art ist etwa ein Satz wie: ». . . Licht!« oder »daß
es doch regnen möchte!« Das »Objektivierungszeichen« nimmt hier einen
ganz eigentümlichen Sinn an: die volitiven Vorstellungen gehen auf eine
gewollte, gewünschte oder gebotene Wirklichkeit; ihre Objekte werden
nicht in eine illusionäre Scheinwirklichkeit, sondern in den wirklichen Ob-
jektzusammenhang eingeordnet; aber was gedacht wird, ist »eine dem
Ziel des Wollens entsprechende Abänderung der wirklichen Welt« S. 355,
vgl. S. 138 f., 556). So scheiden sich die volitiven Denkakte von den affek-
tiven und machen doch zugleich ihre Zugehörigkeit zu dem Kreis des
emotionalen Denkens offenbar.
Eine eigene Behandlung finden im Rahmen dieses Abschnittes die
Wertungen und Werturteile, und deren Verhältnis zu kognitivem und
volitivem Denken, die Normen der Religion und der Sitte 1), die Rechts-
sätze, die durchweg als volitive Vorstellungen, nämlich als Gebotsvor-
stellungen zu begreifen sind, endlich das ethische Denken.
Der »Psychologie des emotionalen Denkens« gegenüber erscheint
nun nicht die Geltendmachung kritischer Bedenken als die vordringlichste
Aufgabe der Religionspsychologie, sondern der energische Hinweis darauf,
wieviel in jedem Falle der Religionspsychologe diesem Werke zu ver-
danken hat und wieviel er daraus lernenkann. E.W. Mayer hatin der
Zeitschrift für Theologie und Kirche (1910 S. 130) mit vollem Recht von
einer gewaltigen Anregung und einem großen Verdienst des M.schen
Werkes gesprochen. Es ist das erstemal, daß in dem Zusammenhang
einer umfassenden psychologischen Untersuchung das religiöse Denken
eine eindringende Analyse gefunden hat, die sich ernstlich bemüht, seiner
Eigenart gerecht zu werden. Man braucht sich nur an die herkömmlichen
Erörterungen der Religion im Rahmen der Gefühlslehre zu erinnern,
Ausführungen, welche sehr oft keinerlei wirkliche Fühlung mit dem Gegen-
stand verrieten, um den ungeheuren Fortschritt zu empfinden. Dieses
Referat mußte sich notgedrungen auf eine ganz bestimmte Linie in der
M.schen Gedankenführung beschränken, um den Zusammenhang des
religionspsychologischen Kapitels mit dem Grundgedanken des Werkes
herauszuarbeiten. Ich möchte aber nicht unterlassen, zu bemerken,
daß überall in dem ganzen Buch Ausführungen verstreut sind, die die
Religionspsychologie mehr oder weniger nahe berühren, und an denen
religionspsychologische Erörterungen nicht ungestraft werden vorüber-
ı) Bestimmte Bitthandlungen, durch die der Gläubige von seinem Gott
wichtige Lebensförderung zu erhalten überzeugt ist, gelten als geboten; die
religiösen Handlungen, in gleicher Weise dann aber auch Sitten und Gebräuche
anderer Art, auch sittliche Ideale und Güter erscheinen als religiöse Satzungen,
als von der Gottheit normiert.
230 III. Berichte und Besprechungen.
gehen können. Nur einiges weniges — Ohne irgendein Prinzip der Aus-
wahl — will ich namhaft machen. Die Wichtigkeit der methodologischen
Klärung sollte den Ausführungen über die Methoden der Psychologie
(S. 34 ff.) um so mehr Beachtung sichern, als sie sich in Auseinander-
setzung mit Wundts Völkerpsychologie bewegen und als die dort aus-
gesprochenen Grundsätze unmittelbar auch für M.s religionspsychologische
Untersuchungen bestimmend gewesen sind. Der Abschnitt über das
psychologische Erkennen, über die Formen des Selbstbewußtseins, über
die Erlebnisurteile (S. 193ff.) bietet gleichfalls dem Religionspsycho-
logen viel Lehrreiches, ohne daß ich hier auf einzelnes eingehen kann.
Im Rahmen der Untersuchung der kognitiven Phantasietätigkeit handelt
M. auch von der Frage, in welcher Weise wir uns die Objektive fremder
(kognitiver oder emotionaler) Erlebnisse vorzustellen vermögen (S. 335),
und kommt zu dem Ergebnis, daß wir uns dabei immer primär die Vor-
stellungsfunktionen der andern vorstellen; so können wir uns zum Bei-
spiel die Gegenstände fremden religiösen Glaubens (Zeus) nur dadurch
vorstellen ; daß wir sie als von bestimmten Menschen geglaubt vorstellen ( ?).
Mit besonderem religionspsychologischen Interesse habe ich die scharfe
Unterscheidung zwischen der jedem Urteil innewohnenden Objektivie-
rung und dem Existenzialurteil (S. 153, 246) und den Nachweis ge-
lesen, daß die Verneinung dem Existenzialurteil und dem Wahrheits-
urteil gegenüber das logisch Frühere ist (S. 273), und bedaure nur, daß
diese Gedanken im Rahmen der religionspsychologischen Erörterung nicht
wirksam geworden sind (vgl. meinen Aufsatz über »die Wahrheitsfrage
in der Religionspsychologie« in dem vorliegenden Bande). Endlich weise
ich hin auf alle diejenigen Stellen, an denen der religionswissenschaftlich
so bedeutsame Begriff der Werturteile eine eindringende Untersuchung
findet.
Aber einige kritische Bemerkungen können nun doch nicht
unterdrückt werden; aber sie müssen sich auf einige wenige Gesichts-
punkte beschränken und können sich um so kürzer fassen, als G.Wobber-
min in seinem Buch über die »Religionspsychologische Methode in
Religionswissenschaft und Theologie« (S. 293—328) das M.sche Werk
vom religionspsychologischen Interesse aus einer sehr eingehenden und
scharfsinnigen kritischen Prüfung unterzogen hat. Ich freue mich, dieser
Kritik in fast allen Punkten unbedingt zustimmen und darauf verweisen
zu können. Man möge dort die Begründung nachlesen für manches, was
ich hier nur andeuten kann.
Man kann billig bezweifeln, ob M. in seiner Analyse dem religiösen
Denken tatsächlich gerecht geworden ist. Dieser Zweifel gründet sich
— um dies vorwegzunehmen — auf den Eindruck, daß die Analyse des
religiösen Denkens nicht um ihrer selbst willen vorgenommen ist, sondern
gänzlich der Einordnung des religiösen Denkens in ein vorher fest-
gelegtes Schema dienstbar ist. Dieses Schema ist die Gegenüberstellung
des emotionalen und des kognitiven Denkens. Es fragt sich nämlich,
Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens. 231
ob es überhaupt möglich ist, in das emotionale Denken, so wie M. es ver-
steht, das religiöse Denken als eine charakteristische Form einzuordnen.
Das emotionale Denken ist, wie wir sahen, auf die Verwirklichung eines
Gemütszustandes, nicht aber auf Erkenntnis gerichtet, es will gar nicht
»wahr« sein. Dem steht nun der von der Religion unzweifelhaft erhobene
Anspruch gegenüber: Die religiösen Ueberzeugungen wollen »im eminen-
testen Sinne wahr sein«. Indem M., dem offenbaren Tatbestand folgend,
dies nicht nur zugibt, sondern immer wieder lebhaft betont, gerät er
in einen inneren Widerspruch, unter dem notwendig seine ganze Dar-
stellung leidet. Wie nun M. das Auftreten eines so energischen Wahrheits-
anspruchs innerhalb des emotionalen Denkens erklärt, wird nicht ganz
eindeutig klar. Einerseits ist diese apodiktische Sicherheit »die suggestive
Wirkung des religiösen Affekts« (S. 545), andererseits aber »vermag die
affektive GewiBheit des Glaubens zum eigentlichen Wahrheitsbewußtsein
nur dadurch zu werden, daß der Glaubensdenkakt eine kognitive Funktion
in sich aufnimmt und in sich einfügt« (S. 536). Hier also erscheint der
Wahrheitsanspruch als etwas, was in die Religion, die eigentlich gar kein
Erkenntnisinteresse habe (S. 539), erst von außen, nämlich durch eine
Anleihe bei den kognitiven Denken, hereingetragen wird. Damit verliert
aber die Zuteilung des religiösen Denkens zu dem emotionalen streng
genommen ihren Sinn. — Damit hängt dann ein weiterer Mangel zu-
sammen. Kann man die Entwicklungsstufen der Religion messen an der
Art, wie die religiösen Vorstellungen mit der kognitiven Wirklichkeit in
Beziehung gesetzt werden? Heißt das nicht, die Religionen einteilen
nach einem Maßstab, der gar nicht der Religion selbst entnommen ist ?
Wie unangemessen diese ganze Einteilung für das religiöse Denken ist,
zeigt sich aufs deutlichste darin, daß dabei schließlich als die höchste Stafe
eine Vorstellungsweise erscheint, bei welcher sich das religiöse Denken
restlos dem natürlich wissenschaftlichen unterordnet, eine Vorstellungs-
weise, bei welcher — nach M.s eigenem Urteil — die Religion selbst und
ihr eigenes Interesse verkümmert. Auf alle diese Dinge hat Wobbermin
a. a. O. so überzeugend hingewiesen, daß sich hier jedes weitere Eingehen
erübrigt.
Aber diese Bedenken müssen sich, wenn sie auf den Grund gehen
wollen, gegen die ganze Anlage des Buches und gegen den Rahmen der
religionspsychologischen Untersuchung richten. Von Anfang an tritt
dem Leser die Schwierigkeit entgegen, das gesamte »emotionale Denken«
mit Ausdrücken zu schildern, welche für das »affektive« und für das »voli-
tive« Denken in gleichem Maße passen (S. 6, 23 ff., 313 ff., 352 ff.). Die
Tatsache, daß nur das volitive, nicht aber das affektive Denken seinen
eigenen sprachlichen Ausdruck findet, ist von M. in ihrer ganzen Tragweite
nicht gewürdigt worden. Innerhalb des affektiven Denkens aber besteht
eine geradezu unüberbrückbare psychologische Verschiedenheit zwischen
dem ästhetischen und dem religiösen Denken. Was M. über das affektive
Denken im allgemeinen sagt, paBt entweder auf das erstere oder das
232 | III. Berichte und Besprechungen.
letztere; und zwar (was M. selbst sehr wohl sieht, aber um seines Schemas
willen nicht zu seinem Recht kommen lassen kann) steht das religiöse Denken
durch den ihm innewohnenden Wahrheitsanspruch dem kognitiven Denken
sehr viel näher als das ästhetische Denken mit seinem Illusionsbewußtsein.
Darın kommt aber letztlich zum Vorschein, daß die ganze M.sche Unter-
scheidung zwischen kognitiv und emotional überhaupt keine psychologische,
sondern eine erkenntniskritische Unterscheidung ist. Nur eine erkenntnis-
kritische Position, nimmermehr aber eine psychologische Analyse gibt
ein Recht, die gesamten religiösen Ueberzeugungen von vornherein als
»Pseudourteile« zu bezeichnen (S. 24 u. 6.). Diese durchgängige Ver-
mengung psychologischer und erkenntniskritischer Betrachtung gipfelt
in dem höchst anfechtbaren, aber für M.s Haltung höchst bezeichnenden
Satz (S. 508), daß man durch die psychologische Analyse der Glaubens-
vorstellungen an einen Punkt geführt werde, wo sich die Frage nach deren
Wahrheit »von selbst entscheidet«. Die erkenntnistheoretische Voraus-
setzung aber, die M. seiner ganzen Analyse zugrunde legt, ist eine un-
bedingte Ueberordnung des kognitiven, d. h. des wissenschaftlich er-
kennenden Denkens, über alles emotionale, d. h. von einem Gefühls-
erlebnis mitbestimmte Denken. Diese Voraussetzung muß das wissen-
schaftliche Denken seinerseits natürlich machen; der Fehler beginnt aber
in dem Augenblick, wo eine solche Voraussetzung als psychologische
Beobachtung auftreten will; und das ist bei M. der Fall. Da führt eine
solche Vermengung dann schließlich zu der Behauptung, die am aller-
meisten eine »Vergewaltigung« des religiösen Denkens darstellt (Wobbermin
a.a. O. S. 302 ff.), daß auch für den Glauben selbst die Wirklichkeit der
natürlichen Erkenntnis die Wirklichkeit schlechtweg ist (S. 535). Das
genaue Gegenteil ist der Fall. Die ganze Unterscheidung ist schließlich
eine künstliche Abstraktion, nicht aus der Beobachtung der Wirklichkeit,
sondern aus dem Interesse der erkenntnistheoretischen Abwägung der
mannigfachen Vorstellungen und Denkakte geboren. Und darin sehe
ich den letzten Grund, warum M. keine vollkommen befriedigende Ana-
lyse des religiösen Denkens und seines Wahrheitsanspruchs geliefert,
sondern diese Aufgabe, als eine ganz besonders wichtige, der Religions-
psychologie nur gestellt hat. Ihre zukünftige Lösung wird in vielem
dankbar von der »Psychologie des emotionalen Denkens« lernen können,
aber sie wird grundsätzlich andere Wege gehen müssen. Vor allem darf nicht
ein übergreifendes System .von vornherein der psychologischen Analyse
ihre Ergebnisse vorschreiben wollen. Wilhelm Stählin (Nürnberg).
Josef Fröbes S. J. (Professor der Philosophie an der philosophisch-
theologischen Lehranstalt zu Valkenburg): Lehrbuch der experi-
mentellen Psychologie. Freiburg i. B. Herder. I. Band mit 59 Text-
figuren und einer farbigen Tafel (X XVIII und 606 S.) 1917. 12,60 Mk.
II. Band mit 18 Textfiguren und einer Tafel (XX und 704 S.) 1920.
60 Mk. und Zuschläge.
Josef Fröbes S. J., Lehrbuch der experimentellen Psychologie, 233
Das gelehrte Werk von Fröbes bietet eine umfassende Uebersicht
über den heutigen Stand der experimentellen Psychologie. Es wird wenig
Einzelgebiete, sei es der Farbenlehre oder der Tonpsychologie, der Asso-
ziationserscheinungen oder der Denkvorgänge oder welcher Teilfragen auch
immer geben, wo man sich nicht aus diesem Lehrbuch über die wesentlichen
Forschungsergebnisse, sowohl als die einander entgegenstehenden Theorien
unterrichten könnte. Damit ist das Buch in seiner Eigenart gekennzeichnet:
überreich an Inhaltsangaben und Ausführungen, verzichtet es oft auf die
Geschlossenheit der Darstellung, die das Gebotene zu einem Gesamtbild
verarbeitet; hinter der erdrückenden Stoffülle und der Unzahl der zum
Wort kommenden Autoren und Autoritäten bleibt nicht selten die eigene
Auffassung des Verfassers im Hintergrund, der lieber eine mit zahlreichen
Zitaten belegte Sammlung von Meinungen und Hypothesen als deren
kritische Verarbeitung gibt. — Wenn man von dem verunglückten Ver-
such einer Religionspsychologie im II. Band des Ebbinghaus-Dürr’schen
Lehrbuches absieht, so ist wohl hier zum erstenmal im Rahmen einer Ge-
samtdarstellung der Psychologie auch die Religion als Erscheinungsform
des menschlichen Seelenlebens eingehend behandelt worden. Der II. Band,
der sich mit den höheren (»zusammengesetzten«) Erkenntnisvorgängen,
den höheren Gefühlen und Gemütsbewegungen, dem Willensleben und
endlich den Anomalien des Bewußtseins beschäftigt, widmet 30 Seiten
(476—509) der religionspsychologischen Arbeit und zwar — ohne daß
diese Einreihung inhaltlich begründet würde — im Rahmen eines Abschnittes
über die Lebensziele. Ein erster Paragraph legt nach kurzer historischer
Einleitung die Aufgaben und Methoden der R.-Ps. wesentlich im Anschluß
an Faber fest; es folgt eine in ihrer Kürze wenig befriedigende Abhand-
lung über das spezifisch Religiöse, religiöse Gefühle und Ueberzeugungen,
über Opfer, Kultus und Gebet. Ein zweiter Paragraph behandelt im engen
Anschluß an Starbuck, dem Fröbes viel zu viel Ehre antut, die religiöse
Entwicklung und die Bekehrung, der folgende die Frage nach der Ent-
wicklung der Religion in der Geschichte der Menschheit (für die A. Lang-
sche Theorie vom ursprünglichen Monotheismus in Auseinandersetzung
mit Tylor, Wundt u. a.). Der Schlußparagraph umfaßt in »Heiligkeit und
Mystik« ein unendlich weites Gebiet, dessen Tatsachen und Probleme vor
allem in Anlehnung an Delacroix, Poulin, Pacheu besprochen werden.
Es. ist sehr dankenswert wenn der Verfasser eines psychologischen
Lehrbuchs sich so eindringend um die Kenntnis der religionspsychologi-
schen Literatur und der darin verhandelten Dinge bemüht. (Das Vorwort
spricht übrigens aus, daß ein dem Verf. befreundeter Dogmatikprofessor
die Paragraphen über Religionspsychologie durchgesehen und nachgeprüft
hat.) Aber es bleibt doch zu fragen, ob damit überhaupt eine sinnvolle
und zugleich durchführbare Aufgabe gestellt ist. Für einen Bericht über ©
religionspsychologische Forschung bietet eim solches Lehrbuch doch nur
einen kargen Raum, der unmöglich mehr als knappe Andeutungen und Aus-
züge gestattet. Zufall und Willkür machen sich in der Auswahl der
234 III. Berichte und Besprechungen.
herangezogenen Gewährsmänner geltend (so fehlt hier z. B. Heiler
gänzlich, während Starbuck eingehenden Berichts gewürdigt wird). In
dieser Hinsicht haftet den Fröbes’schen Ausführungen etwas recht Unbe-
friedigendes an — was zum Teil in der unmöglichen Aufgabe liegt, die er
sich gesteckt hat. Denn auf eigene schöpferische Arbeit andererseits muß
in einem Lehrbuch, das im wesentlichen den Stand der Forschung nieder-
legen will, verzichtet werden; auf ein genial geschautes und zugleich
wissenschaftlich begründetes Gesamtbild, das die Tatsachen des Gebets,
der Bekehrung, des Kultus, der mystischen Erfahrung im Zusammenhang
mit dem ganzen seelischen Leben sieht und sehen läßt, werden wir noch
lange zu warten haben. W. Stählin (Nürnberg).
Th. Elsenhans: Lehrbuch der Psychologie. XXIII u. 434 S. 1912.
Tübingen, J. C. B. Mohr. Unveränderter Abdruck der ersten Auf-
lage. 1920. Geheftet M. 36.—, gebunden M. 52.— (einschl. z. Zt.
100 °/, Teuerungszuschläge).
Dies Lehrbuch erstrebt eine systematisch vollständige Darstellung
des gesamten menschlichen Seelenlebens, sie beschränkt sich daher nicht
auf die Ergebnisse experimenteller Untersuchungen, sondern will vor
allem auch das normale, alltägliche Seelenleben in allen seinen Aeuße-
rungen, auch den höchsten, darstellen, und so wieder eine enge Verbin-
dung zwischen der Psychologie und den Geisteswissenschaften herstel-
len. Daraus folgt schon, daß auch die Religion, als etwas Seelisches be-
handelt wird und zwar im § 42 »Die religiösen Gefühle« (S. 295— 299).
Grundsätzlich bildet nach dem Verf. das von der Psychologie zu erfor-
schende seelische Erlebnis den einzig sicheren Ausgangspunkt aller Re-
ligionswissenschaft, so auch die Voraussetzung der Religionsgeschichte,
deren Ergebnisse die Religionspsychologie verwenden kann und muß.
Wir müssen nämlich die geschichtlichen Aeußerungen der Religion, um
sie zu »verstehen«, erst von unserem eigenen Erleben aus deuten (295).
Ohne auf die Frage der Beziehung zwischen Religionsphilosophie und
-psychologie einzugehen, muß der Ref. schon hier zwei Vorbehalte machen:
I. Die ausschließliche Betonung des Erlebnisses ist einseitig und
unvollständig, religiöses Verhalten beansprucht die gleiche Bedeu-
tung. 2. Interpretation anderer Religion mit Hilfe der eigenen ist ge-
jährlich und leitet oft auf ganz falsche Bahnen, so daß das Verständnis
fremder Religion dadurch nicht ermöglicht, sondern sogar versperrt
werden kann. Verf. sucht nun die ursprünglichen Regungen des reli-
giösen Bewußtseins und findet sie im Gefühlsleben. »Die religiösen Ge-
fühle sind zusammengesetzte Gefühle, deren Bestandteile aber zu einem
einheitlichen Gesamtgefühl verschmolzen sind, Totalgefühle, in welche
verschiedene Partialgefühle eingegangen sind, von denen in der Regel
eins die qualitative Färbung des Ganzen bestimmt. Daraus ergibt sich
als erste Aufgabe diese »Komponenten« des religiösen Gefühls aufzu-
Th. Elsenhans, Lehrbuch der Psychologie. 235
zeigen« (296). Die Gefühle sind nach der Auffassung des Verf.s selbstän-
` dige Elementarvorgänge (244), deren Grundqualitäten Lust-Unlust sind,
wobei aber Lust und Unlust nur als #Kollektivbegriffe« verstanden wer-
den »für eine Mannigfaltigkeit von Qualitäten, deren Zahl die der Emp-
findungen weit hinter sich läßt« (249). Totalgefühl heißt die einheitliche
Resultante aller in einem gegebenen Moment vorhandenen Gefühls-
wirkungen; denn wenn zwei oder mehrere Gefühle gleichzeitig im Be-
wußtsein sich befinden, so gehen sie unter sich eigenartige Verbindungen
ein, »vermöge welcher ihre Qualitäten sich gegenseitig beeinflussen, und
aus dem Zusammen der einzelnen Gefühle ein neues, mehr oder weniger
einheitliches Gefühl entsteht« Partialgefühle heißen jene einzelnen
Gefühle (254). Partialgefühle selbst können zusammengesetzt, also
schon selbst Totalgefühle sein, so daß eine ganze Stufenleiter entsteht.
»So wäre z. B. das mit dem Zusammenklang ce verbundene Gefühl ein
‚Iotalgefühl‘ im Verhältnis zu den einfachen an c und e gebundenen Ton-
gefühlen, ein Partialgefühl im Verhältnis zu dem Akkordgefühl ceg, in
den es als Bestandteil eingeht« (255).
Jetzt begreifen wir, wie die oben formulierte Aufgabe, Aufzeigung
der Komponenten, zu verstehen ist und dürfen mit Recht auf die Lösung
gespannt sein. Die Aufgabe wird gelöst durch Rekurs auf das »Selbst-
gefiihle, das zu den »Instinktgefühlen« gehört. Das Selbstgefühl erleidet
Hemmungen, die die Kraft des Individuums übersteigen, so daß das
demütigende Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit entsteht. »Nun ist es
aber eine Eigentümlichkeit der seelischen Organisation des Menschen,
daß sie über jeden Zustand der Unbefriedigung irgendwie hinauszukom-
men strebt.« Wo das nicht anders geht, wird es dadurch erreicht, daß
das Bild eines besseren Zustandes vorgestellt wird; diese Vor-
stellung ist von entsprechenden Antizipationsgefühlen der
Lust begleitet, sie heißt, sofern der vorgestellte Zustand als verwirk-
licht gedacht wird, ein Ideal. Der Glauben an Ideale ist daher ein Haupt-
merkmal der Religion. Das zweite Merkmal, der Glaube an deren Ver-
wirklichung durch die Gottheit wird auf folgende Weise abgeleitet:
Die an die Vorstellung des Ideals geknüpften Antizipationsgefühle der
Lust verdrängen die aus den Hemmungen des Selbstgefühls stammenden
Unlustgefiihle. Da sich aber immer wieder neue Hemmungen einstel-
len, so wäre ein Sieg des Glaubens ohne eine Bürgschaft für seine Ver-
wirklichung unmöglich; diese Bürgschaft kann in dieser Welt nicht ge-
funden werden, so daß also der Mensch einen Gott jenseits der Welt
braucht. »Diese allgemeinen, in der menschlichen Gattungsanlage wurzeln-
den psychologischen Bedingungen des religiösen Gefühls gewinnen dann
ihre besondere Gestalt in den geschichtlich gewordenen Religionen« (297).
Meine Darstellung war so ausführlich, weil ich zeigen wollte, was
im vorigen Band Stählin beim Referat der Psychologie von Dürr getan
hat, wie man auf dem Gebiet der Religionspsychologie Hypothesen nach
Belieben machen kann, wie aber alle solche ohne eine breite und
236 III. Berichte und Besprechungen,
tiefe Tatsachenbasis aufgestellten Hypothesen an dem Kern
‘der Sache einfach vorbeigehen. Ein ausführlicher Nachweis dieser Be-
hauptung erübrigt sich, denn wer religiöse Erfahrungen nie selbst gehabt
hat, wird sich aus der Darstellung von Elsenhans gewiß keine auch nur
im entferntesten adäquate Vorstellung davon bilden können, und wer
sie gehabt hat, dem ist die Unzulänglichkeit solcher Betrachtungen von
vornherein klar. Immerhin ist gegen die uns vorliegende Ausprägung
der Hypothese noch so viel zu sagen: I. sie leitet das religiöse aus den
Individualgefühlen ab, die Sozialgefühle werden erst für die spätere Ent-
wicklung in Betracht gezogen. Das ist ganz willkürlich. 2. Ebenso will-
kürlich ist es, die 2 . abgeleiteten Merkmale der Religion als menschlich
gattungsmäßig hinzustellen. Es ist ein offenes Problem, ob es so etwas
überhaupt gibt. Endlich 3. ist die Einreihung in die Gefühle und die
-ganze Gefühlslehre zum mindesten höchst problematisch. Der psycho-
logische Atomismus ist auf dem Gebiet der Wahrnehmung so gründlich
wiederlegt worden, daß es sich nicht lohnt, das Problem für die Gefühls-
psychologie erneut zu diskutieren. Referent verzichtet daher, näher auf
den Schluß der Ausführungen einzugehen, die sich mit den Anlässen zur
Weckung des religiösen Gefühls in der entwickelten Religion beschäftigen.
Es muß immer wieder betont werden, daß solche Darstellungen, die ledig-
lich auf Reflexion darüber beruhen, wie es wohl sein könnte, weder
Psychologie noch Religion, erst recht aber nicht Religionspsychologie ent-
halten. Koffka (Gießen).
K. Th. Preuß: Die Nayarit-Expedition. Textaufnahmen und Be-
obachtungen unter mexikanischen Indianern. Erster Band: Die
Religion der Cora-Indianer in Texten nebst Wörterbuch. Mit ı Karte
sowie 30 Abbildungen im Texte und auf 10 Tafeln. CVIII u. 306 S.
Quart. Leipzig, Teubner 1912.
Es ist ein gewaltiges, auf 4 Bände berechnetes Werk, dessen erster
Band uns vorliegt. Zunächst einige äußerliche Angaben. Nach einem
kurzen Vorwort und dem Inhaltsverzeichnis folgt (von S. XV bis CVIII
die Einführung in die Texte. Als Einleitung (XV—XXII) Darlegungen
der Methode der Aufnahmen und eine Charakteristik der Gewährsmänner.
Der erste Teil behandelt Mythische Grundzüge der Cora-Religion (XXIII
bis LIII), der zweite Götter und Zeremonien (LIV—CV), beide mit Hin-
weisen auf altmexikanische Entsprechungen, der Schluß bringt einen
Beitrag zur Stilistik und Lautlehre. Es folgen die Texte, zunächst die
im Dorfe Jesus Maria (I—211), dann die im Dorfe San Francisco (212
bis 298) aufgenommenen. Die Anordnung der Texte ist folgende: immer
ist der vollständige Text der Ursprache genau nach dem Diktat der betr.
Sänger wiedergegeben, außerdem eine Uebertragung und eine das ganze
kurz zusammenfassende Erläuterung, sowie zahlreiche Anmerkungen an
einzelnen Stellen. Häufig ist außerdem noch eine Interlinearübersetzung
K. Th. Preuß, Die Nayarit-Expedition. - 237
angegeben, bei der man Wort für Wort dem Urtext folgen kann. Den
Schluß des Buches bildet das Wörterbuch Cora-Deutsch (299—366)
sowie ein Anhang, der die Verarbeitung zweier phonographisch aufge-
nommener Cora-Gesänge bringt, deren musikalischen Teil Dr. E. M. v.
Horntostel übernommen hat (367—81), endlich ein Index (382—g4) und
Druckfehlerverbesserung und Nachträge (394—96).
Man mag aus diesen Angaben ersehen, was für eine ungeheure Arbeit
hier getan worden ist, und man wird finden, wenn man das Buch in die
Hand nimmt, daß hier unermeßlich Wertvolles geleistet worden ist. Nicht
nur der Religionsforscher, sei er speziell psychologisch interessiert oder
nicht, auch der Sprachforscher, der Psychologe, der Logiker, der Aestheti-
ker, alle werden in diesem wundervollen Dokumente menschlicher Kultur
Schätze finden können. Wir können an dieser Stelle nicht mehr tun als
auf einige spezifisch religionspsychologische Ergebnisse hinweisen, immer
mit dem Vorbehalt, daß unsere Auswahl mehr oder weniger willkürlich
ist, da Religionspsychologie und Religionsgeschichte kontinuierlich in-
einander übergehen, die Abgrenzung also gar nicht aus dem Material
selbst zu ersehen ist.
»Wer diese Texte, die Gesänge sowohl wie die Mythen verstehen will,
muß sich in die religiösen Uebungen der Co:a hineinversetzen. Nicht
eine menschlichem Ergehen abgekehrte Weltauffassung ist der Inhalt,
nicht die spielerische Phantasie allein hat das Weltbild auf Grund sinn-
licher Eindrücke erzeugt und hat oft wahrhaft dichterische Bilder ge-
schaffen, sondern alle Gedanken über die nahe und ferne Natur stehen
im Dienste der Lebensfürsorge. Das denkende Erfassen der Umgebung
ist von der Not des Lebens getragen worden« (XXIII). Die Cora sind
ein sehr frommes Volk, nichts unternehmen sie ohne die Gottheit. Wir
können fragen: 1. Wie ist ihre Gottheit beschaffen und 2. wie verkehren
sie mit dieser Gottheit? Die Antwort auf die erste Frage, also etwa ein
System der Cora-Götter zu skizzieren, ist außerordentlich schwer, weil
die kategorialen Fassungen der Cora, Einheit und Vielheit, Identität und
Verschiedenheit, Art und Individuum, völlig anders angewendet werden
als die unseren. Zwei Dinge können in gewissen Bezügen dasselbe sein,
in anderen wieder verschieden. Nur ein sehr genaues Studium der Ein-
leitung von Preuß wird den Leser zum vollen Verständnis der Götter-
welt der Cora führen, dies Referat ist nicht mehr als eine ganz grobe
Skizze.
Eine überragende Stelle nehmen die drei obersten Gottheiten ein? Der Sonnengott,
sunser Vatere, steht auf der obersten Stufe der Hierarchie, aber er ist für den Ver-
kehr mit den Menschen bei weitem nicht der wichtigste, ja trotz seiner Stellung ist
er von anderen Göttern geschaffen, wird von ihnen beeinflußt, ja er erhält sich nur
dadurch am Leben, daß er sich von den Herzen der geopferten Sterne ernährt. »Der
gestirnte Nachthimmel ist die Vorbedingung für die Existenz der Sonne, das ist der
Sion der ganzen Religionsauffassung der Cora und der alten Mexikaner, und das
ist auch für die Entwicklung der Religion als ein Hauptfaktor zu verwerten» (L.),
238 ` III. Berichte und Besprechungen.
Der Sonnengott hat keinen bestimmten Wohnsitz, seine tägliche Wanderung von
Osten nach Westen wird dafür beschrieben, beim Untergehen breitet er die Nacht
aus, indem er aus seiner Tabakspfeife Rauch aufwirft. (Der Tabaksrauch gilt allge-
‚mein als Regenwolken)}
Ihr Vater steigt dort abwärts, Rauch aufwerfend.
Ihr Vater steigt dort abwärts, den Abend aufwerfend.
Ihr Vater steigt dort abwärts, die Nacht aufwerfend.
Ihr Vater kam herab auf seine andere Welt.
Ihr Vater steigt dort leuchtend empor.
Schon treibt ihr Vater dort Knospen,
Ihr Vater blüht dort auf.
Ihr Vater dort trägt Früchte,
Ihr Vater ging dort zur Erde. (220.)
Die Sonne entsteht durch Hineinwerfen eines Knaben ins Feuer. Das Feuer
wird aber seinerseits, als sdie Federn unseres Vaterse, mit der Sonne identifiziert.
Auch mit dem Adler, dem Taghimmel, steht er in engster Verwandtschaft, da er zu-
weilen den Beinamen Adler erhält. Andererseits sind sie aber auch nicht schlechthin
identisch, selbst das ursächliche Verhältnis ist nicht klar. Der Adler ist schon am
Himmel, ehe die Sonne aufgeht. Die Tiere der Sonne sind außer dem Adler der Arara
und der Kolibri, Der Kolibri wird mit dem Sonnengott identifiziert, ist aber auch
sein Bote, der den Menschen durch Zwitschern an ihrer Tür den Tod verkündet. Diese
Beziehung zu den Menschen bildet auch fast die einzige, die dem Sonnengott besonders
nachgesagt wird, sonst handelt er immer in Gemeinschaft mit den anderen beiden
obersten Göttern.
Die Erd- und Mondgöttin, »unsere Mutter«, steht in ehelichem Verhältnis zum
Sonnengott. Ihr Wesen ist aus den Texten nicht so einwandfrei festzustellen. Der
Charakter dieser Göttin ist bei den Cora recht unbestimmt, weil man sich in allem
an sie wendet. Preuß unterscheidet aber drei Hauptzüge: Göttin des Nachthimmels,
des Regens und des Maises, Diese Beziehungen verknüpfen sie nun wieder in engster
Weise mit andern Göttern: Zunächst ist bedeutsam, daß in San Franzisco es für jede
feste Himmelsrichtung eine besondere Mondgöttin gibt, die die Führerin der Götter
dieser Richtung ist. Die Mondgöttin steht im allgemeinen zum Regen (s. 0.) nur in
indirekter Beziehung: sie macht die Regengötter (= alle Götter) aus ungesponnener
Baumwolle, die Wasser bedeutet, und ihre Hilfe ist dazu nötig, um die Regengötter
zur Regenzeit herbeizurufen. Nur die »Mutter in Viyantae (Süden, Ort des Regens)
ist auch schlechthin Regengöttin. Ebenso ist dies die Unterweltsgöttin Tétewan,
die nach allen Seiten Gesichter hat, also der Nachthimmel ist, andererseits auch,
namentlich in den Gewässern zur Erdoberfläche reicht und dort die Herrin der Wasser-
götter und der Wassertiere ist. Analog wie sich Adler und Sonne zueinander verhalten,
verhält sich die Nacht zum Mond. Die Nacht ist identisch mit der sechsten Himmels-
richtung (unten) die der Region des Adlers entgegengesetzt ist. So ist die Mond-
göttin gewissermaßen die Erbin der Unterweltsgöttin und Gottheit des gestirnten
Himmels, und Erde, Unterwelt und Nachthimmel sind in gewissem Sinne zu identi-
fizieren. Auch ihre Stellung als Maisgöttin ist nicht ganz einfach: einerseits ist sie
nämlich selbst Maisgottheit, andererseits sind ihre Kinder der Mais und dabei Sterne.
Die Mondgöttin steht den Menschen näher als der Sonnengott, sie nimmt an den
Zeremonien in Gestalt eines kleinen Mädchens teil. Ihr Tier ist der Blauheher,
der ihr besonders als Maisgottheit zukommt, verwandt mit ihr ist auch die Ameise.
»Die dritte der drei obersten Gottheiten Cora ist der Morgenstern, den man nicht
betrachten kann, ohne zugleich seiner Ergänzung, des Abendsterns, zu gedenken,
weil beide trotz aller Gegensätzlichkeit häufig als ein und dieselbe Person an-
gesehen werden« (LXI). Der Morgenstern wird sunser älterer Bruder«, der Abend-
K. Th. Preuß, Die Nayarit-Expedition. 230
stern sunser jüngerer Bruders genannt, aber auch Sawsari, »der Blumen pflückt«.
Blumen pflücken ist nun gleichbedeutend mit geschlechtlich verkehren, und in
einem Mythus wird erzählt, wie Sawari, der ursprünglich ältere Bruder
und Morgenstern diesen Vorrang verliert, weil er sich beim Wettlauf mit seinem
Bruder unterwegs mit einer Frau einläßt. Das Naturmotiv dieses Mythus ist
nach Preuß das Verschwinden des Morgensterns vom Morgenhimmel und sein
Aufleuchten als Abendstern.
Ihrer spezifischen Natur nach sind diese beiden Götter nicht nur die beiden
Sterne, sondern auch Vegetations-, Wasser- und Windgottheiten und endlich
Bringer und Leiter der Zeremonien.
Der Morgenstern: er hat die Eigenschaft der Kälte:
»Prachtvoll steht ihm die Kälte als Halskette.«
Als Vorläufer der Sonne erschießt er morgens die Wasserschlange, die Nacht, und
erlegt den Hirsch (Sayéer:) und die übrigen Sterne. Er ist also hier der Jäger,
wird aber auch selbst als Hirsch aufgefaßt, ja, wie wir auch schon wissen, sogar
mit dem sjiingeren Brudere identifiziert.
Als Vegetationsgottheit steht er in Beziehung zum Mais, aber auch hier wird
die Identifikation zwischen dem Mais und Saytars vollzogen. Der Morgenstern
ist mehr das tatige Prinzip, das an den Erntefesten seinen jiingeren Bruder, den
Mais, dem Feuer übergibt, und das vor allem das Wachsen auf der Erde hervor-
ruft. Auch erscheint er haufig als Blume:
»Als Cempasuchil-Blume bin ich festgebunden,
Als Betonica bin ich hier festgebunden,«
damit ist das Haften am Nachthimmel gemeint, wie auch die beiden genannten
Blumen in Jesus Maria vorzugsweise an den das Himmelsgewölbe darstellenden
Bögen über dem Altar befestigt werden. Damit stellt der Morgenstern nun wieder
die Gesamtheit aller Sterne dar, denn das eben zitierte Lied fährt fort:
»Als die (Gesamtheit der) Götter bin ich hier festgebunden.«
(S. LXVII und 224.) Als Stern und Vegetationsgottheit ist der Morgenstern in
allen wirkenden Kräften der Natur vorhanden, so würden wir in unserer Sprache
etwa die verschiedenen Identifikationen ausdrücken.
‚Seine einzigartige Bedeutung erlangt der Morgenstern aber dadurch, daß
er den Menschen die Zeremonien gebracht hat, ohne die sie sich völlig hilflos fühlen
und nicht glauben würden, überhaupt leben zu können« (LXVIII). Alle Zere-
monien, mit denen die Natur zur Gewährung des Guten (Mais, Regen) und zur
Vertilgung des Bösen (Krankheiten) beeinflußt wird, sind vom Morgenstern ein-
geführt und werden noch gegenwärtig von ihm als Vermittler mit den Göttern
geleitet. Diese Vermittlertätigkeit übt er aber nicht aus eigener Machtvollkommen-
heit, sondern nur im Auftrag der Erd- und Mondgöttin aus. Bemerkenswert ist
noch, daß in einer Erzählung: Christus und die Schwarzen (166—168), die zeigt,
daß die Cora die Erzählung von Christus ohne das geringste Verständnis über-
nommen haben, Christus mit dem Morgenstern vermengt wird.
Der Abendstern Saysari ist, wie wir schon wissen, der Hirsch und auch
der Mais katexochen, auch ist er der eigentliche Blumengott, vertritt also auch
in seiner Person die Sterne des gesamten Nachthimmels, und ist, da er sich mit
Blumen, d. i. den Sternen, schmückt, und nun selbst weiß, gelb und rot schimmert,
mit ihnen identisch. Dagegen hat der Abendstern nichts von den Vermittler-
eigenschaften an sich. Beitiere des Abend- und Morgensterns sind außer dem
Hirsch noch der kleine Papagei (gemeinsam) sowie der Leguan und Jaguar (Mo.)
und der Puma (Ab.).
Außer diesen gibt es noch eine Reihe von Einzelgöttern, die aber, wie der
Adler und die Unterweltsgöttin, zum Teil in sehr engen Beziehungen zu den schon
genannten stehen (s. 0.). Sonst nennen wir noch die verstorbenen »Altene und
die Regengötter, wo wieder die »Alten« mit den Regengöttern so verschmelzen, daß
sie nicht mehr auseinandergehalten werden können. Die »Alten« sind wiederum
240 III. Berichte und Besprechungen.
auch die Sterne, und als solche auch wieder mit den Blumen identisch. Dazu
kommen noch die wichtigen Flußgötter, die immer nur im Plural genannt
werden und eine Reihe von Tieren und Blumen. Endlich spielen noch die Götter
der Richtungen eine außerordentlich wichtige Rolle in den Zeremonien. Auch
sie stehen in engster Beziehung mit den uns bekannten Göttern.
Betrachten wir das Verhältnis der Götter zu den Menschen: Daß die Cora
außerordentlich fromm sind, sahen wir schon. Bei aller Demut besteht aber ein
höchst kordiales Verhältnis zwischen Menschen und Göttern. ]Ja der Mensch
nährt sich ja von den Göttern, den Naturdingen. Es ist deshalb auch unmöglich,
den Begriff Gott irgendwie zu begrenzen. Es erhebt sich z. B. die Frage, weshalb
der Mensch, der bei den Zeremonien starke magische Fähigkeiten entwickelt,
nicht zu den Göttern gerechnet wird, während viele zum Teil recht unscheinbare
Tiere als Götter gelten. »Das liegt augenscheinlich nur an der unumstößlichen
Tatsache, daß er sterben muß und nie wieder als Mensch auf Erden erscheint.
Die Gewißheit des Todes ist der ewige Jammer in den Gesängen, und sie verträgt
sich meines Erachtens sehr gut damit, daß er trotzdem wie alle Naturvölker immer
nur an einen gewaltsamen Eingriff durch eine Krankheit denkt, wenn jemand
stirbte (XLVIII). Der Maisgott stirbt zwar auch jeden Herbst, kommt aber immer
wieder zur Erde, so daß er sagen kann: :
»Ich bin nicht gestorben.
So weiß ich es (einzurichten): ich werde sie täuschen.
Sie erscheinen (nur einmal), meine jüngeren Brüder.
Sterben sie nicht wirklich fir immer?
Ich dagegen sterbe niemals.
Ich werde dauernd erscheinen, ich werde hier bestehene (S. III).
»Mit den Tieren ist es wie mit Saysari. Auch sie kehren immer wieder; es ist
aber nicht, wie bei den Menschen, zu merken, daß es immer andere sind.« Die
Menschen werden zwar zu Göttern, können aber nicht wieder als Menschen auf
die Erde kommen.
Die Tätigkeit der Götter erstreckt sich auf alle Ereignisse im Leben der Cora.
Das ganze Naturgeschehen ist ja für die Cora kein sich mit mechanischer Regel-
mäßigkeit vollziehender Vorgang, sondern Handeln und Schicksal der Götter.
Die Götter handeln nach festen Gewohnheiten, über die man nicht weiter grübelt,
obwohl ihre Befolgung oft den Göttern selbst Schmerz bereitet. Die enge Ver-
bindung mit den Göttern ergibt eine gewisse Höhe des religiösen Lebens. Nur
selten werden einem Gegenstand anders als durch die Beziehung auf die Götter
magische Kräfte zugeschrieben. Ursprünglich ist es aber wohl sicher anders ge-
wesen, ursprünglich haben die Cora die hohen magischen Fähigkeiten, die sie
jetzt im Einvernehmen mit den Göttern ausüben, von sich aus entwickelt, der
Glaube an die magische Wirksamkeit der Objekte auf das Wohlergehen der Men-
schen und die magische Beeinflussung dieser Objekte durch die Menschen war
früher als die Berücksichtigung des Himmels. Opfer und Zeremonien sind ur-
sprünglich ohne die Götter wirksam, während gegenwärtig die menschliche Zauber-
kraft allein nicht mehr ausreicht, so daß den Göttern die Einführung der Zere-
monien selbst zugeschrieben, ihre Vermittlung in jedem einzelnen Fall notwendig
wird. Es liegt heute so, daß die Cora, außer Gebeten und Speiseopfern, eine fest-
gefügte Methode haben, die Götter zu beeinflussen. Da nun die Götter im Grunde
Naturelemente sind, so beeinflussen sie diese selbst. Sie bedienen sich dabei der-
selben magischen Mittel wie die Götter, ja bei den Zeremonien sind die »Alten«
und alle, die eine Funktion ausüben, selbst Götter. Die magischen Mittel sind:
Worte, Gedanken, Tabakswolken und Federstäbe und der Tanz. Daß die Tabaks-
wolken Regen machen sollen, sahen wir schon früher. Ganz ebenso direkt wirken
Gedanken und Worte, denen eine außerordentliche Kraft zugeschrieben wird.
Alles, was geschaffen und geleistet wird, erscheint als ein Ergebnis des Nachdenkens,
dem gegenüber die Tat selbst ganz unbedeutend ist, und in engster Verbindung damit
K. Th. Preuß, Die Nayarit-Expedition. 241
stehen die Worte, die nicht nur als Mittel der Mitteilung, sondern als Einwirkung auf
Götter bzw. Natur angesehen werden, Die Religiosität ist bei den Cora so tief einge-
drungen, daß die Worte und Gedanken als von den Gottheiten gegeben angesehen
werden; daher die Gesänge und Zeremonien Offenbarungen der Götter. Die Macht
der Gedanken offenbart sich darin, daß vor jeder Handlung das Nachdenken betont
wird; das gilt für die Götter
»Unser Vater im Himmel denkt über seine Erde, unser Vater der Erschienene.
Dort befindet er sich jenseits der Welt. Er denkt mit seinen Gedanken, unser
Vater, der Erschienene.
Er erinnert sich dessen, was er tun wird, unser Vater, der Erschienene.«
(XCVI u. 27.)
wie für die Menschen, bei denen bei wichtigen Anlässen die Alten die zeremonielle
Zeit von 5 Tagen nachdenken. Noch deutlicher sind die magischen Wirkungen der
Worte. So wird die Zikade, die die Regenzeit einleitet, »ler Götter Worte: ge-
nannt (65), auch die Zauberwirkung von Musikinstrumenten und anderen zeremo-
niellen Geräten wird als Sprechen bezeichnet.
Die Kürbisschale unseres älteren Bruders steht hier und wird Lebenswasser
sprechen,
Der (Musik-) Bogen unseres älteren Bruders steht hier und wird Leben sprechen.«
(XCVIII u. 219.)
Wir sehen, die Menschen bedürfen der Götter, ohne die Götter sind ihre Zere-
monien wirkungslos. Dies liegt an den menschlichen Unvollkommenbeiten, die an
sich weder lobens- noch tadelnswert sind. Oft wird das Wort »Sünde« dafür ge-
braucht l
»Ihr (Götter) habt mich bekleidet mit Sünde (d. h. mit Ohnmacht).
Auf euch wirken nicht (meine Worte), bei euch sind sie nicht zu hören.» (130.)
Doch muß man die Auffassung, daß die Gottheit die Menschen nicht erhöre, weil
sie Sünder in christlichem (ethischem) Sinne sind, weit zurückweisen. Man weiß
nicht, was man bei den Cora als Sünde bezeichnen sollte. Die Texte weisen darauf
hin, daß die betreffende Handlung ein sexuelles Vergehen, nur deshalb als Sünde be-
zeichnet wird, weil geschlechtliche Enthaltsamkeit die magische Kraft steigert.
Zum Schluß weisen wir noch auf eine Denkeigentümlichkeit hin, die sich in der
wunderbarsten Weise in der Religion der Cora offenbart, die merkwürdige Verwen-
dung der Identität. Wir haben schon viele Beispiele dafür gehabt: Morgenstern und
Abendstern, Hirsch und Mais, Sterne und Blume u. v. a. Wir heben nur noch zwei
allgemeine Gesichtspunkte hervor: auch das Hiersein schließt das gleichzeitige Dorte
sein nicht aus: ein Gott erscheint auf der Erde, ohne als Stern am Himmel zu sein
aufzuhören, auch die Verstorbenen, die allgemein zu Regengöttern werden, haben
neben ihrem himmlischen Aufenthalt noch, als Fliegen, einen irdischen. Das zweite
ist die Indifferenz gegen unseren Unterschied von Gattung und Individuum. Die
Götter sind gewissermaßen als Klassen von Gottheiten konzipiert. Der Ausgangs-
punkt der Konzeption war wohl nie eine Maisstaude, ein Tier, ein Stern
usw., sondern das Maisfeld, die Tiergattung, der Sternenhimmel. »I:s stört nicht im
geringsten, daß der Maisgott eine Einheit ist und doch aus vielen Tausenden von
Maisgöttern besteht. Es ist gewissermaßen ein mechanischer Prozeß, eine selbst-
verständliche Folgerung, dieses Ganze, das aus vielen Teilen besteht, als eine einzige
mit Willen begabte Persönlichkeit zu erfassen. Es ist lediglich der Tatbestand der
Natur.» (LII)
Ganz wie Levy-Bruhl (vgl. mein Referat im I. Bd. dieses Arch. S. 267
bis 78) kommt Preuß aus solchen Beobachtungen hegaus zur Verwerfung
des Animismus. Wir brauchen eine Theorie, die die für uns so seltsamen
Tatsachen vereinigt, und der Animismus schien die Bedürfnisse zu
Archiv für Religionspsychologie II/III. 16
242. III. Berichte und Besprechungen.
erfüllen. Aber »wir sehen jetzt, daß derartige eines geschulten modernen
Philosophen würdige Theorie den Primitiven bei der Entstehung ihrer
Götter im wesentlichen ganz ferngelegen hate (LIII).
Dieser kurze Anschnitt mag genügen, dem Leser einen Einblick in
die Wunderwelt zu eröffnen, die sich hier vor unseren Augen auftut.
Ganz verzichtet werden mußte auf die Heranziehung der altmexikanischen
Religion, die durch die Religion der Cora in vielen Punkten aufgeklärt
werden konnte; dabei ist natürlich gerade das Verhältnis der alten zur
neuen Religion im gemeinsamen und verschiedenen besonders wichtig
für einen Einblick in die Entwicklung des religiösen Lebens.
Koffka (Gießen).
H. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theore-
tischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf
Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über
Kant und Nietzsche. 2. durchgesehene Aufl. Berlin 1913. XXXV
u. 804 S.
Daß die in diesem großen Werke niedergelegte Erkenntnistheorie weit-
gehendstes Interesse gefunden hat, dafür ist das Erscheinen dieser zweiten
Auflage 4), noch nicht 2 Jahre nach der ersten Veröffentlichung, der
Beweis. Der allgemeine Standpunkt des Werkes ist, wie ja wohl bekannt,
ein biologischer und daher dem Pragmatismus nahe verwandt. Das Seelen-
leben ist wie alles Leben ein Anpassungsvorgang. Unsere Vorstellungen
sind nur Mittel, diese Anpassung zu vollziehen, sie haben den Zweck,
uns zum zweckmäßigen Handeln in der Wirklichkeit zu verhelfen, aber
nicht den, die Wirklichkeit abzubilden; »Vorstellungen haben den
Zweck« besagt nur, »der Mensch in seinem Lebensdrange und Selbst-
erhaltungstrieb bildet sich diese Vorstellungswelt nach notwendigen
mechanischen Gesetzen aus; er bildet sich diese Mittel aus als ein In-
strument« (136). Wahrheit kann daher nicht mehr als Uebereinstim-
mung der Vorstellungen mit der Wirklichkeit definiert werden. Irr-
tum und Wahrheit fallen unter den gemeinsamen Oberbegriff des
Mittels zur Berechnung der Außenwelt; das un-
zweckmäßige Mittel ist der Irrtum, das Zweckmäßige heißt man
Wahrheit«e (193). Dabei darf man »Berechnung«s nicht als etwas rein
theoretisches verstehen, sondern nur als Etappe auf dem Weg zum
Handeln. Irrtum und Wahrheit sind daher auch nicht absolut, son-
dern nur graduell verschieden. Der Hauptzweck des Buches ist es nun,
eine bestimmte Art der Vorstellungsbewegung, eine besondere Tätigkeit
der logischen Funktion, zu behandeln und ihre alles umschließende Be-
deutsamkeit, die bisher noch nie ganz klar erkannt sei, ans Licht zu
ziehen, eben jene Funktion, die V. das Als-ob nennt, und für deren ein-
zelne Produkte er den Namen Fiktionen einführt. »Unter der fikti-
ı) Ihr sind inzwischen weitere gefolgt, 3. Aufl. 1918, 5. u. 6. Aufl. 1920.
H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, System usw. 243
ven Tätigkeit innerhalb des logischen Denkens ist die Produktion
und Benutzung solcher logischen Methoden zu verstehen, welche mit
Hilfe von Hilfsbegriffen — denen die Unmöglichkeit eines ihnen
irgendwie entsprechenden objektiven Gegenstands mehr oder weniger
an die Stirne geschrieben ist — die Denkzwecke zu erreichen sucht« (19).
Und zwar unterscheiden sich die eigentlichen Fiktionen von den Halb-
fiktionen dadurch, daß sie nicht nur der gegebenen Wirklichkeit wider-
sprechen, sondern auch in sich widerspruchsvoll sind; ihnen ist der Haupt-
teil des Buches gewidmet, V. ist bestrebt, sie in unserem ganzen Denken
als maßgebend aufzuzeigen und behandelt entsprechend alle Kategorien
(Ding, Kausalität usw.) unter diesem Gesichtspunkt. »Die Kategorien
sind nur analogische Fiktionen .... Nach Analogie menschlicher, sub-
jektiver Verhältnisse wird das Wirkliche gedacht und muß es gedacht
werden« (42). »Dinge, welche Eigenschaften haben, Ursachen,
welche wirken, sind Mythen. Man kann nur sagen, daß sich die objek-
tiven Erscheinungen so betrachten lassen, als ob sie sich so verhiel-
ten; aber nimmermehr besteht ein Recht, hier dogmatisch aufzutreten
und das »als o bein ein »d a Be zu verwandeln« (44). Gerade, daß man
dies immer hat tun wollen, daß man die Fiktionen für Hypothesen hat
ansehen wollen, ist die Quelle der zahlreichen Widersprüche geworden,
um deren Lösung sich Theologie und Philosophie gemüht haben. Damit
ist der allgemeine Standpunkt des Buches gekennzeichnet, wir können
‘nun zu den speziell theologischen, religionsphilosophischen und -psycho-
logischen Ausführungen übergehen. Ein Hauptbeispiel bildet die
Schleiermachersche Religionsphilosophie, in der durch eine feine
erkenntnistheoretische Wendung die Dogmen aus Hypothesen in Fik-
tionen verwandelt seien. »,Gott‘ ist nicht ‚Vater‘ der Menschen, aber
er ist so zu betrachten und zu behandeln, als ob er es wäre« (S. 41).
Aber V. wendet diese Betrachtung weit über dies Beispiel hinaus
an. Er faßt die Kantsche Religionsphilosophie durchaus in diesem Sinn
auf: »Die Kantsche Rechtfertigung der religiösen Vorstellungen ist eine
rein fiktive, oder vielleicht klarer gesagt, fiktionalistische:
sie sind ihm praktisch zweckmäßige Fiktionen;.. . der echte und
eigentliche Kantische Kritizismus zieht überhaupt keine theoreti-
schen Schlüsse, sondern lehrt: du mußt so handeln, als ob
es einen Gott usw. gäbe. Darin besteht Kants kritischer Pragmatismus« !)
(S. 680/1). Und weiter wird Kant interpretiert und dabei die eigene
Ansicht des Verf. dargelegt: »In den Menschen lebt und wirkt ‚das über-
sinnliche Prinzip der Pflicht‘ — übersinnlich in der Bedeutung,
1) Inzwischen ist eine Arbeit von Heinrich Scholz erschienen, in der
diese Auffassung Kants bekämpft wird. Scholz serscheint es als ausgeschlossen,
Kant für die Religionsphilosophie das Als-ob in Anspruch zu nehmene (S. 92)
(vgl. Die Religionsphilosophie des Alsob in den Annalen der Philosophie I, 1919
Leipzig, Felix Meiner).
16 *
244 III. Berichte und Besprechungen.
daß dies Prinzip nicht Sache der Sinnlichkeit, d. h. der niederen Seelen-
vermögen ist, sondern Sache der praktischen Vernunft,- also eben der
höheren Seelenkrafte. Dieses psychologische Uebersinn-
liche in uns verwandeln wir durch die religiöse Phantasie in ein
metaphysisches Uebersinnliches außer uns, indem
wir jenes psychologische Prinzip in uns aus uns hinausprojizieren als
eine ‚übersinnliche Macht‘ im metaphysischen Sinne: tun wir das nur
unbewußt, so leben wir im gewöhnlichen Aberglauben der Menge des
Volkes . . .; machen wir jene Verwandlung aber mit Bewußtsein, so
machen wir eben die in unserer Natur begründete, darum zweckmäßige
auch notwendige religiöse Fiktion, wir haben die der Philosophen und
philosophisch Gebildeten einzig würdige Religion, Religion des
Als-Ob« (S. 689—690). Um noch ein einzelnes Beispiel zu geben:
auch das Gebet wird unter diesem Gesichtspunkt betrachtet: der Gebets-
begriff steckt voll unlösbarer Widersprüche: die Allmacht Gottes, der
das Gebet erhören kann, auf der einen, seine alles vorauswissende Welt-
regierung auf der andern Seite, »abgesehen noch von den Widersprüchen,
in welche sich der gewöhnliche Gebetsbegriff mit den Naturgesetzen
verwickelt« (S. 66).
Die Fiktionen unterliegen ganz allgemein dem Gesetz der Ideen-
verschiebung. Eine Anzahl der Ideen durchlaufen verschiedene Stadien
der Entwicklung, und zwar das der Fiktion, der Hypothese, des Dogmas
und umgekehrt. Auch hierfür liefert die Religionsphilosophie wieder
gute Beispiele: »ursprüngliche Mythen, Gleichnisse, a bewußte
Fiktionen von Religionsstiftern wurden bei diesen selbst oder ihren
Anhängern, bei dem Volke sofort zu Dogmen, ja sie machen hier
selten das Stadium der Hypothese durch. Dagegen bei der Rückbildung
und Zersetzung der Religion finden sich alle drei Stadien sehr schön aus-
` geprägt . . .; die ursprünglichen Dogmen des Christentums werden
bei den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts Hypothesen.
Was sind sie aber bei Kant und Schleiermacher? Nur Fik-
tionen!« (S. 225).
Der Leser wird darnach einen Eindruck von der Auffassung unseres
Autors haben. Noch einige Worte der Kritik. Die Als-ob-Methode be-
sitzt sicherlich ihren hohen Wert, sich im einzelnen mit ihr auseinander-
zusetzen, fällt nicht in den Rahmen dieses Referats. Aber sie hat doch
unzweifelhaft ihre Grenzen. Diese liegen wohl schon vor der Reli-
gionsphilosophie, sicher aber vor der Religionspsycho-
logie. Sollen wir das Gesetz der Ideenverschiebung als psychologische
Beschreibung der Entstehung wirklicher Religionen auffassen, so ist das
sicher falsch: im aufsteigenden Ast, weil der Anfang gar nicht Fiktion oder
Vermutung, sondern ein Erleben, ein unmittelbares Haben des Göttlichen ist
(während natürlich für einzelne Gleichnisse der Prozeß wirklich in Verf.s Sinn
gegangen sein wird), im absteigenden Ast, weil Religion aufhört, sobald
sie zur Hypothese wird. Das Leben eines wirklich religiösen Menschen
H. Mandel, Die Erkenntnis des Uebersinnlichen. 245
ist nicht zu beschreiben durch: »Handeln als ob«, sondern durch »handeln
weil es einen Gott gibt« Vielleicht wird eine religionspsychologische
Einzelforschung auch Erfahrungen ans Licht ziehen, die der Als-ob-Er-
fahrung sich nähern. Aber V.hätte sicher unrecht, sie als typisch oder
gar als besonders wertvoll hinzustellen. Mit dieser Kritik der rein psycho-
logischen Seite ist die philosophische noch nicht erledigt. Denn das Als-
ob ist eigentlich weniger psychologiSch, als Innenansicht, als erkenntnis-
kritisch, als Außenansicht zu verstehen. Jedenfalls ist das eine Auf-
fassung, die sehr nahe liegt. Also: nicht ich sage von mir selbst auf
Grund direkter Erfahrung, ich handle so, als ob, sondern ich sage es von
einem andern, um mir seine Handlungen verständlich zu machen. Dann
kann ich es natürlich auch auf mich übertragen. Das Als-ab ist also
mehr eine Erklärung als eine Beschreibung. Die logische Funktion wirkt
ja auch nach V. meist unbewußt. Ganz abgesehen davon, wieviel man
mit dieser Außenansicht erklären kann, das jedenfalls muß betont werden,
daß die Innenansicht dieses Als-ob nur in seltenen Fällen ein Als-ob-Er-
lebnis sein wird; gerade die Erforschung dieser Innenansicht, gehört zu
den dringendsten Aufgaben der Erkenntnis- und Religionspsychologie.
Koffka (Gießen).
H. Mandel: Die Erkenntnis des Uebersinnlichen: I. Hauptteil: Glaube
und Religion des Menschen: I. Genetische Religionspsychologie,
Leipzig, Deichert, IgII, 279 S. 5.50 M. 2. System der Ethik, Leip-
zig, Deichert, 1912, 2 Bde., 298 S. 5.80 M. und 446 S. 8.60 M.
(Dazu wären von dem gleichen Verfasser zu berücksichtigen: Neue
kirchliche Zeitschrift ıgıı: »Erkenntnis des Uebersinnlichen«; Theo-
logischer Literaturbericht ıgII »Religionspsychologie«.)
Im Rahmen eines großzügig angelegten systematischen Werkes fin-
den wir hier religionspsychologische Darbietungen. Der Verf. bittet im
Vorwort, die einzelnen Teile nicht nur in ihrer relativen ‚Selbständigkeit,
sondern vor allem auch in ihrer Zugehörigkeit zum Ganzen zu betrach-
ten und zu würdigen. Diesem Wunsche entsprechend konstatieren wir
zunächst, daß die Themafrage des ganzen Werkes die ist, wie der Mensch
Aussagen tun könne über Dinge, die außerhalb der Erfahrungswelt lie-
gen. Der Weg zum Uebersinnlichen soll gesucht werden, und — um
gleich die Lösung vorwegzunehmen — er wird gefunden in der schlecht-
hinnigen Hingabe an das Transzendente, an die Gemeinschaft mit Gott.
Seine ganze Untersuchung bezeichnet der Verf. auch mit einem Wort als
theologische Erkenntnistheorie. Sie baut sich in drei großen Teilen auf.
Zuerst kommen die subjektiven Methoden (Religionspsychologie und
Religionsethik). Hier liegt die fertige Ausarbeitung vor. Daran reihen
sich als noch ausstehend die subjektiv-objektive Methode (religiöse
Dogmatik) und die abjektiven Methoden (Dasein Gottes). Religions- _
psychologische Darbietungen begegnen uns nun einmal in dem Ganzen
246 j III. Berichte und Besprechungen.
der »Religionspsychologie« und sodann an gewissen Punkten der »Reli-
gionsethik«. .
1. Die Religionspsychologie hat es mit den Antrieben
zur Religion zu tun, wie sie mit der natiirlichen Lage des Menschen ge-
geben sind. Sie liefert eine Beschreibung und stellt ein System der na-
tiirlichen Religionen auf. Sie wird in genetischem Sinne verstanden,
d. h. es handelt sich hier um die Entstehung des Glaubens an ein Ueber-
sinnliches. Gegenwartig ist freilich eine Art nicht-genetischer Religions-
psychologie an der Tagesordnung, die es fast nur mit den eigenartigen
und abnormen Funktionen und Ausprägungen des religiösen BewuBt-
seins zu tun hat. Von dieser psychiatrischen Religionspsychologie hat
sich die genetische scharf abzugrenzen. Die genetische Religionspsycho-
logie kann nun aber auch wieder verschiedener Art sein: rein genetisch
oder normativgenetisch. Jene hat es mit den natürlichen Antrieben zum
Glauben zu tun, diese mit dem normativ geltenden Weg. Jene beschreibt
den Glauben des natürlichen Menschentums, diese die »wahre« Religion.
Die normative Religionspsychologie bringt den Maßstab der Wahrheits-
prüfung zur Anwendung und befaßt sich demgemäß mit dem Weg, der
zur wirklichen Erfassung des Uebersinnlichen führt. Die normative
Religienspsychologie gehört deshalb zur Glaubenslehre. Ihre Ausführung
im Rahmen des ganzen Werkes steht noch aus. In ihr aber wird die ge-
netische Religionspsychologie ihre normative Ergänzung finden. Die
genetische Religionspsychologie ist ebenso von der normativen zu trennen
wie das Fundament aller übersinnlichen Aussagen von ihrem Maßstab.
Das Fundament ist die Erfahrungswelt, der Maßstab ist die Frage nach
der Wirklichkeit des Gegenstandes.
Die genetische Religionspsychologie gliedert sich in zwei Teile von
sehr verschiedenem Umfang: erstens die bewußtseinsimmanente Reli-
gionspsychologie, Nativismus, S. 46—57, zweitens die bewußtseinstrans-
zendente Religionspsychologie S. 58 bis Schluß. Der Nativismus wird in
seinen verschiedenen Formen (Intuition, Apriori, Anlage) diskutiert,
wobei die Grenzen der psychologischen und der erkenntnistheoretischen
Betrachtung vielfach verwischt erscheinen. Es wird dann über ihn die
Kritik gefällt, daß er nicht nur einer psychologischen Erklärung der Re-
ligion, sondern auch einer Forderung der Religion dient und insofern der
Religionsethik nahesteht. Im Unterschied aber von der Religionsethik
wird hier die Religion naturhaft gedacht, als natürliches Vermögen und
Verhalten. Die Naturhaftigkeit dieses Religionsbegriffs aber kann erst
von dem vollkommenen Religionsbegriff aus als Fehler erkannt werden.
Wir kommen zu der bewußtseinstranszendenten oder kosmolo-
gischen Religionspsychologie. Aus den einleitenden Bemerkungen mag
als besonders wichtig hervorgehoben werden, daß die Religionspsycho-
logie als zur Völkerpsychologie gehörig erklärt wird. Die natürlichen
Glaubensweisen sind immer Massenglaube gewesen. Der ganze Abschnitt
teilt sich wiederum in zwei Stücke, I. Geisterglaube, 2. Götter- und Gottes-
H. Mandel, Die Erkenntnis des Uebersinnlichen. 247
glaube. Der Geisterglaube hat subjektive Bedingungen; aus ihnen er-
wachsen Dämonismus, Traum-, Schatten- und ekstatische Seele. Und
er hat objektive Bedingungen; aus ihnen erwächst der Animismus. Als
solche objektive Bedingungen werden durchgeprüft Sein, Nebeneinander-
sein, Bezogensein, Kausalität, Leben, Seele, Geist usw. Dementsprechend
wird der Animismus in einen solchen eingeteilt, der vom Leben der Lebe-
wesen ausgeht, und einen solchen, der vom Leben der Natur- und Ding-
welt ausgeht. Und es wird hier gesprochen von Manismus, Totemismus,
Magie, Vitalismus, Fetischismus. Bei einzelnen dieser Richtungen aber
wird auch gelegentlich ein Streifzug ins ethische Gebiet unternommen.
Abschließend aber wird über das gesamte Gebiet des Geisterglaubens
geurteilt, daß es nur eine vermeintliche Wahrnehmung des Uebersinn-
lichen ist, die hier vorliegt. Es sind zwar allgemeingültige Motive, die
hier wirksam werden, aber wenn wir den entscheidenden Maßstab der
Wirklichkeitsfrage auf die aus ihnen hervorgehenden Glaubensweisen an-
wenden, so versagen sie alle. Keine von ihnen vermag wirkliche, zweifels-
freie Ueberzeugung vom Uebersinnlichen zu bewirken. Wir haben es
hier also nicht mit der von der Wirklichkeitsfrage gesuchten Glaubens-
weise zu tun, sondern nur mit Versuchen, das Uebersinnliche zu erreichen,
die immer wieder wie Wassersäulen auf ihr Fundament zurückfallen
müssen. Es fehlt an der wirklichen Begründung und Erreichung des
Uebersinnlichen. Es ist uns also bis zu dem jetzigen Punkt der Unter-
suchung noch immer keine wirklich begründete Glaubensweise gegeben.
Die einzige, die es ist, fügt sich überhaupt nicht dem System der natür-
lichen R:ligionen ein. Der Geisterglaube ist religiös gleichgültig und
wissenschaftlich unhaltbar. Wüßte er von der Wirklichkeit des Ueber-
sinnlichen, so würde er religiös sein. Wäre er aber religiös, so wäre eben
damit auch die Wirklichkeitsfrage gelöst und begründete Ueberzeugung
vorhanden.
Sodann der Götter- und Gottesglaube. Bei dem Geisterglauben ist
der Ausgangspunkt eine rein theoretische, gegenständliche Anschauung,
bei dem Götterglauben irgendwie ein praktisches Verhalten oder Be-
stimmtsein. Der Geisterglaube entbehrt der Gefühle und Bedürfnisse,
der Götterglaube besitzt sie. Der Geisterglaube ist sozusagen reine Philo-
sophie, rein theoretische Weltanschauung, der Götter- und Gottesglaube
erst ist wirklich Religion. Hier erst haben wir es grundleglich mit einem
Verhalten und Verhältnis zum Uebersinnlichen zu tun. Ein weiterer
Unterschied besteht darin, daß der Geisterglaube sich einer unmittel-
baren Methode bedient und das Uebersinnliche infolgedessen als Hinter-
grund des Sichtbaren betrachtet, während der Götterglaube eine ver-
mittelte Methode anwendet und so das Uebersinnliche als eine Größe
mit eigener Existenz denkt. Ein Gott ist das Uebersinnliche als für sich
bestehendes Wesen. Der Unterschied der Geister von den Göttern kommt:
ferner auch darin zum Ausdruck, daß wir bei den letzeren von Person und
Persönlichkeit reden.
248 III. Berichte und Besprechungen.
Bei dem Götter- und Gottesglauben gilt es zu unterscheiden die
kosmologischen und die subjektiven Motive. Bei den kosmologischen
Motiven ist wiederum ein Dreifaches zu trennen: a) der Einfluß der
Wirklichkeit auf das Bewußtsein: Naturgötter (Natureindrücke, Macht-
vorstellung, Kultus, Ueberwelt, Polytheismus, Mythologie, gewisser Mo-
notheismus); b) der Einfluß der Wirklichkeit auf die Existenz: Lebens-
götter (Abhängigkeitsgefühl, Dankbarkeit und Schmerz, Furcht und
Hoffnung, Schutzgötter); c) der Einfluß der Wirklichkeit auf das Ver-
halten, Gewissensgötter (natürliche Gesetzesreligion, Religion und Sitt-
lichkeit, Vergeltungsglaube, Rachegeister, natürliche Versöhnungsreli-
gion). Nachdem bei der Einzelentfaltung von a, b und c schon vielfach
Kritik und Ablehnung gewaltet haben, erfolgt nunmehr noch eine zu-
sammenfassende Würdigung von a, b und c. Es tritt hier nämlich ein
gewisser übersinnlicher Dualismus zutage: Licht und Finsternis (a),
förderlich und schädlich (b), gut und böse (c). Gott und Gegengott treten
auf den Plan und werden in ihrer ethischen Bedeutung eingehend ge-
würdigt. — Wir wenden uns zu dem Kapitel von den subjektiven Mo-
tiven, das auch den Titel Werturteilslehre führt. Das negative Verhält-
nis der menschlichen Bedürfnisse zur Welt, die Nichtbefriedigung
seines Verlangens nach Lebensinhalt und -halt ist die erste Etappe
des hier vorliegenden Weges zum Uebersinnlichen. Es erwächst daraus
religiöse Sehnsucht und Glaube an eine übersinnliche Wirklichkeit. Die
Eigentümlichkeit dieses Weges besteht darin, daß er an der Stelle von
Wirklichkeitsurteilen Werturteile bietet. Die Methode der Werturteile
tritt neben die Methoden der Naturbeseelung und der Personifikation
und bringt das religiöse Erkennen auf die Höhe. Während die anderen
Methoden von der Welt oder der Bestimmtheit des Menschen durch sie
ausgingen, ermöglicht es die Methode deı Werturteile dem Menschen
vermöge der negativen Stellung zur Welt frei zu werden für das Ueber-
sinnliche. Gott und die Seele kommen hier unmittelbar zusammen.
Der Vorzug der Werturteilsmethode zeigt sich auch in der Art, wie sie
das Uebersinnliche erfaßt, nämlich als einheitlich, wirklich, geistig, als
Halt und Inhalt, als reinen Gegensatz zur Welt. Diese transzendenten
Werturteile zerfallen in zwei Gruppen. Zuerst kommen die vermittelt
transzendenten (Lebensbedürfnis und Seligkeitsreligion; intellektuelles
Bedürfnis und das Unendliche; praktisches Bedürfnis und absoluter
Zweck); dazu gesellt sich das unmittelbar transzendente, moralische
Werturteil. Hier ist der höchste Grad von Unmittelbarkeit und Ver-
bundenheit im Verhältnis des Subjekts zum Uebersinnlichen erreicht.
Ein Schlußabschnitt »Ueberblick und Kritik der natürlichen Re-
ligionen« bringt zusammenfassende Abstufungen und Gruppierungen,
bezeichnet als Gebiet der Werturteile die Erlösungsreligion und betont —
was schon in den vorausgehenden Schlußpartien vorbereitet war —,
die Einzigartigkeit des Christentums. Ja, es wird behauptet: das Christen-
tum kann im Rahmen der natürlichen Glaubensweisen überhaupt keine
H. Mandel, Die Erkenntnis des Uebersinnlichen. 249
Stelle finden. Die behandelten Glaubensweisen und Methoden bestehen
sämtlich nicht, wenn sie mit dem Wirklichkeitsmaßstab gemessen werden,
eröffnen aber den Ausblick auf eine vollkommene Religionsauffassung.
Als Kanon für diese wird eine schlechthinnige Hingegebenheit des Ich
aufgestellt. Aber zugleich zeigt sich, daß dieser vollkommene Religions-
begriff nicht in die genetische Religionspsychologie gehört. Es fehlt an
einer natürlichen Genesis der vollkommenen Religion. So weist die rein
‚genetische Religionspsychologie über sich hinaus in eine normative. —
Wir schreiten zur Kritik. Der erste Eindruck, den der Leser von
dem hier vorliegenden Werk haben wird, wird eine sehr lebhafte Emp-
findung davon sein, daß der Verfasser über eine ungewöhnliche Fähig-
keit verfügt, einen ausgebreiteten Stoff beherrschend zu überblicken, klar
“und anschaulich darzustellen, in kraftvoller systematischer Art zu durch-
dringen, in scharfen Antithesen und glücklichen Formulierungen zu be-
leuchten. Das sind nun gewiß lauter Vorzüge, die auch einer religions-
psychologischen Untersuchung sehr zu statten kommen. Indessen inter-
essiert uns hier allein die religionspsychologische Seite, und in dieser
Hinsicht muß die schwerwiegende Frage gestellt werden: ist das, was
der Verfasser bietet, überhaupt Religionspsychologie? Gegen eine Be-
jahung dieser Frage ließe sich vielleicht zunächst anführen die syste- .
matische Grundanlage des ganzen Werkes und die Eingliederung der
Religionspsychologie in dasselbe. Die Religionspsychologie befindet sich
gegenwärtig in einem allerersten Anfangs- und Entwicklungsstadium,
und für dieses Stadium scheint es charakteristisch zu sein, daß sie sich
erst von spekulativer Theologie und Philosophie loslösen muß. Sie trägt
noch vielfach die Eierschalen von Dogmatik und Religionsphilosophie
an sich. Man denke an James, Wobbermin, Pariser, und man wird nur
wünschen können, daß sie nicht absichtlich in diesem Durchgangsstadium
stehen bleibt, als wäre sie schon am Ziel. Indessen, rein theoretisch ge-
dacht, würde die Eingliederung der Relig.-Psychologie in ein großes, wissen-
schaftliches Grundwerk noch nicht ohne weiteres zu einem Verdikt gegen
sie berechtigen. Männer wie Wundt und Külpe verbinden ja auch in
einer Person empirisch-psychologische und systematisch-philosophische
Forschung. Es fragt sich nur, ob diese Eingliederung eine mehr äußer-
liche oder innerliche ist. Bei Mandel ist der Rahmen, in den die Religions-
psychologie eingebettet ist, d. h. die Anfangs- und SchluBabschnitte,
nun durchaus nicht religionspsychologisch geartet. Hier walten viel-
mehr die Interessen der theologischen Erkenntnislehre vor. Wie steht
es nun aber mit dem Kern- und Hauptstück? Die Umklammerung kann
eine große Gefahr bedeuten, muß es aber nicht. Zur Charakteristik dieses
Kern- und Hauptstückes muß zunächst konstatiert werden, daß es mit
einem bestimmten Typus psychologischer Forschung nahe verwandt
scheint, mit der Völkerpsychologie im Sinne Wundts. Der Verfasser ist
sichtlich bei Wundt in die Schule gegangen. Er bedient sich, wie jener,
der vergleichenden Methode. Gleich ihm lehnt er die Pathologie des
250 III, Berichte und Besprechungen.
religiösen Bewußtseins ab. Die natürlichen Glaubensweisen sind auch
nach seiner Ansicht immer Massenglaube gewesen. In der Charakteri-
sierung des Götterglaubens (Selbständigkeit usw.) zeigen sich mancherlei
Berührungspunkte. Den evolutionistischen Aufbau Wundts hat Mandel
freilich nicht übernommen, aber doch seine Untersuchungen als Kli-
max aufgebaut. Auch Wundts antiintellektualistische Zurückführung
von Mythus und Religion auf Affekte (statt auf Vorstellungsprozesse)
scheint von Einfluß auf ihn gewesen zu sein (außer bei dem Geisterglauben),
Eine besonders ehrenvolle Analogisierung mit Wundt ist es gewiß end-
lich, wenn wir auf den Riesenumfang des verarbeiteten Gesamtstoffes
und auf das Vorhandensein von zahlreichen einzelnen originellen Licht-
blitzen hinweisen. Wenn demnach Mandels Religionspsychologie
Völkerpsychologie sein will, so untersteht sie vielfach den Einwänden,
die man gegen Wundt erhoben hat. Man könnte auch gegen Mandel ein-
wenden, seine Darbietungen seien nur psychologisch gefärbte Religions-
geschichte, nicht aber Religionspsychologie. Indessen müßte sich doch
vielleicht streckenweise eine scharfe Trennung sehr schwer durchführen
lassen. Man könnte ihm ebenso wie Wundt vorwerfen, daß seine Arbeit
deswegen nicht den Namen Psychologie im modernen Sinn verdiene,
weil er nicht mit Experimenten arbeite. Indessen wäre darauf zu erwidern,
daß Mandels ganze Untersuchung durchaus empirisch orientiert ist und
daß heutzutage gerade in der fortschrittlichen Psychologie die experi-
mentellen Methoden vielfach über sich hinausgedrängt haben. Man mag
dem Experiment sogar in der Religionspsychologie sein Recht zugestehen
(Reizworte usw.), man wird trotzdem der Religionspsychologie als Völker-
psychologie zubilligen, daß sie nicht unbedingt und ausschließlich auf
das Experiment angewiesen ist. Man könnte nun endlich an Mandel
die gleiche Frage richten wie seinerzeit an Wundt: wo bleibt denn dann
die individualpsychologische Behandlung der Religion? Man wird es in
dieser Hinsicht ungemein bezeichnend finden, daß Mandel sowohl
wie Wundt die höheren Religionsformen, bzw. das Christentum ausge-
schieden bezw. verkürzt haben. Aber gerade diese Formen sind es, die
zu individualpsychologischer Methode nötigen. Darauf wäre nun zu er-
widern: durch diesen Einwand wird die Völkerpsychologie durchaus nicht
in Recht und Bestand entwurzelt; es zeigt sich vielmehr nur, daß sie
durch die Individualpsychologie ergänzt werden muß. Mit diesem So-
wohl — als auch ist dann zweifellos die richtige Lösung angebahnt. So
ergibt sich dann wiederum: der Umstand, daß Mandels Religionspsycho-
logie Völkerpsychologie in der geschilderten Weise ist, berechtigt nicht
dazu, ihr den Charakter als Psychologie überhaupt abzusprechen. Und
trotz alledem behaupten wir: es ist keine Religionspsychologie, was uns
Mandel bietet. Daß die Abgrenzung gegen die Religionsgeschichte ihre
Schwierigkeiten hat, haben wir soeben berührt. Daß seitens der Ethik
Grenzüberschreitungen vorkommen, hat unser Referat bereits merken
lassen. Daß das Ganze Produkt der Theologie ist, betont der Ver-
H. Mandel, Die Erkenntnis des Uebersinnlichen. 251
fasser selbst wiederholt. Und von der seltsamen Behauptung, daß
die Religionspsychologie eine subjektive »Methode« der Theologie sei,
wollen wir gar nicht weiter reden. Aber das ist ihr Grundschaden, daß
sie mit Erkenntnislehre und normativer Wertung sich unlösbar und un-
heilbar vermischt hat. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen,
sei konstatiert, daß die erkenntniskritischen und normativwertenden
Urteile der Versuchspersonen selbstverständlich als psychische Tat-
bestände in die Religionspsychologie hineingehören. Aber hier ist es der
Autor selbst, der in diesem Sinn seinen Stoff durcharbeitet und damit
seiner Arbeit den Charakter der Psychologie raubt; denn die Psychologie
ist bloß Tatsachenforschung. Im Verlauf der Untersuchung kehrt zwar
häufig die Versicherung wieder, daß hier nur psychologische Interessen
walten, psychologische Forschungen getrieben werden sollen. Aber trotz-
dem spielt auf Schritt und Tritt die Frage nach der erkenntnistheoretischen
Berechtigung der geschilderten Glaubensweisen, nach Wirklichkeit und
Wahrheit herein und zwar so radikal, daß am Ende unter diesem Ge-
sichtspunkt sämtliche natürlichen Religionen verworfen werden. Der
Verfasser vergißt, daß die psychologische Zielrichtung auf einen Gegen-
stand etwas völlig anderes ist, als die erkenntnistheoretische Zielrichtung
auf den gleichen Gegenstand. So kann es dazu kommen, daß eine an-
scheinend psychologische Untersuchung sich zur Schiedsrichterin in
metaphysischen Dingen aufwirft. Und doch gibt es nur ein Gebiet, in
dem die Psychologie etwas Aehnliches wie eine erkenntniskritische Son-
derung vornimmt, das Gebiet der psychischen Illusionen. Es ist aber
charakteristisch, daß dieser Begriff der Illusion bei Mandels Würdigung
der natürlichen Religionen eine wichtige Rolle spielt. So zeigt sich, daß
nicht bloß der Rahmen zur theologischen Erkenntnislehre gehört, sondern
daß auch das Haupt- und Kernstück davon stark infiziert ist. Der Ver-
fasser will nur eine genetische Religionspsychologie geben, kommt aber
statt dessen unaufhaltsam in das Fahrwasser der normativen hinein.
Wie unpsychologisch dies Verfahren ist, zeigt sich bei folgender Erwägung.
Der Verf. stellt allen natürlichen Religionen als falschen das Christentum
als die eine wahre Religion gegenüber. Indem er das tut, entpuppt sich
der anfangs scheinbar so harmlose Begriff des »Natürlich« als ein streng
theologischer Fachterminus (natura corrupta). Indem er das tut, kommt
er aber zugleich zu dem verblüffenden Resultat, daß das Christentum
überhaupt nicht in die Religionspsychologie hineingehört. Es gehört nach
Mandel zwar zur normativen Religionspsychologie, aber diese gehört ihrer-
seits zur Glaubenslehre, so daß auch wohl Mandel selbst zugeben wird,
daß der Begriff Psychologie besser auszuscheiden hätte. Jedenfalls einer
empirisch-genetischen religionspsychologischen Betrachtung versagt sich
das Christentum, um sich unter eine normative zu stellen. Das wäre das
Ende der Religionspsychologie. Und doch wird wohl mancher Leser alle
diese Bedenken als neben das Ziel treffend empfinden; denn der Verf.
will doch im Grund etwas anderes. Allerdings! Man nenne das, was er
252 III. Berichte und Besprechungen.
will, Apologetik, und es verschwinden mit einem Schlage sämtliche Be-
denken. Es wird es dann auch niemand einer Apologetik übelnehmen,
wenn sie beliebig viel religionspsychologisches Material in ihren Dienst
stellt. Wir haben es aber dann nicht mit selbständiger Religionspsycho-
logie als Disziplin zu tun, sondern mit einer Zone ihrer Anwendung. Und
dieser Begriff der Anwendungszone bezeichnet gegenwärtig weithin den
Stand der Forschung und mag vielleicht manches Wirrnis lösen, indem
er auf komplizierte Tatbestände hinweist, bei denen eine Verknüpfung
von Spekulation und Empirie vorliegt.
2. Die Religionsethik bietet uns eine Willenslehre, auf die
wir näher eingehen müssen (I. Hälfte »Moralpsychologie«; 2. Hälfte
S. 171 ff.; S. 281 ff.). Das Wollen ist seinem Wesen nach ein Streben des
Bewußtseins nach einem zu verwirklichenden Ziel, eine Absicht oder
Intention. Die Bedingung des Wollens ist die Wirklichkeit als etwas Zu-
‚künftiges. Deshalb gehört der Wunsch primär, die Tätigkeit sekundär
zum Wollen. Gegenüber Vorstellen und Fühlen, die es beide mit einer
fertigen, gegebenen Wirklichkeit zu tun haben, bezeichnet das Wollen
eine eigentümliche Funktion. Für die realkausale Bedingtheit des Wollens,
bzw. für die Freiheitsfrage ist von entscheidender Wichtigkeit die grund-
sätzliche Auffassung des Bewußtseins. Ueber den einzelnen Funktionen
steht nämlich die Bewußtseinseinheit. Diese kann ihr Uebergewicht
gegenüber den einzelnen Funktionen und Bestimmtheiten des Bewußt-
seins dahin geltend machen, daß sie zwischen ihnen wählt und entscheidet
und sich mit Selbständigkeit in Denken und Wollen betätigt. In diesem
Sinn ist das Bewußtsein von aller Naturgrundlage befreit, vom Körper
unabhängig und ein Wesen für sich. Dies ist die Auffassung der empirisch-
aktualistischen Psychologie, und die Auffassung dieser Psychologie erst
vermag den Willen zu erklären, indem sie ihn genetisch versteht. Der Wille
ist keine Grundkraft, sondern ein abgeleitetes und kompliziertes Cebilde.
Das Ursprüngliche sind nicht die Strebungen, die auf eine Gestaltung
der Wirklichkeit ausgehen, sondern die Funktionen, die sich mit der ge-
gebenen Wirklichkeit befassen. Die Willensstrebungen sind aus der gegen-
ständlichen und zuständlichen Seite des Bewußtseins zu erklären. Dem-
entsprechend ergibt sich 1. das Wollen als Folge der zuständlichen Be-
stimmtheit: der lustbestimmte, passive Wille, das Begehren; 2. das freie
Wollen des Bewußtseins: der formale, aktive Wille, die Wahlfreikeit. Das
Wollen der ersten Art ist die Folge einer besonderen Bestimmtkeit des
Bewußtseins, ein unselbständiges, naturl:aftes Ereignis im Verlauf der
Bewußtseinsvorgänge. Das Wollen der zweiten Art ist ein in der Ichheit
gesammeltes Ganzes. In ihm macht sich die Bewußtseinseinheit gegen die
einzilne Bestimmtheit geltend. Beiden Arten des Willens werden nun
einge! ende Untersuchungen gewidmet. Es mag genügen auf folgende
Punk’e hinzuweisen. Zu dem Kapitel vom passiven Willen wird eine
ausführliche Gefühlslehre beigebracht: Rein gegenständliche Vorstellungen
haben keinen Einfluß auf den Willen. Damit ist auch die Wirksamkeit
H. Mandel, Die Erkenntnis des Uebersinnlichen. 253
der Normen für den Willen dieser Art ausgeschaltet. Dies der erste Schritt
zur Lehre von der Sünde. Der Ursprung des Wollens ist vielmehr im Gefühl
zu suchen. Hier zeigt sich, daß das Wollen durch Triebe, Affekte, Leiden-
schaften bestimmt und ein rein passives, mechanisches, naturhaftes Wollen
ist. Wir müssen hier von Willensknechtschaft reden. Diese Art des Willens
charakterisiert sich aber auch zugleich als begehrender Wille. Damit sind
wir bei einem psychologischen Nachweis der Erbsünde angelangt. Ein be-
wußtes und aktives Wollen wird erst auf Grund des zur Selbstheit ent-
bundenen Willens möglich. Wenn das Bewußtsein vorher ohne sein Zu-
tun von seinen Regungen zu Strebungen getrieben wurde, so wird es
jetzt selbst das Subjekt des Wollens. An die Stelle der passiven Bestimmt-
heit tritt die Selbstbestimmung des Bewußtseins, der aktive Wille. Dieser
ist offenbar erst der Wille des Ichs selbst. Mit der Passivität verliert er
aber auch jede inhaltliche Beschaffenheit. Er ist nicht schon seinem Ur-
sprung nach inhaltlich bestimmt, sondern er ist eine bloße Form, die sich
jedem beliebigen Inhalt zuwenden kann. Er ist ein formaler Wille, der Wille
der Entscheidung und Entschließung, der freie Wille. Er steht nicht mehr
unter der mechanischen Kausalität der Gefühle, sondern er ist eine eigene
Kausalität. Dieser freie Wille des Bewußtseins ist nun zugleich der sitt-
liche Wille. Er ist für Normen empfänglich. Hier ergibt sich der Begriff
der Gesinnung. Die Normen aber sowohl als auch die auf sie gerichtete
Gesinnung erhält der Wille nur durch schlechthinige Hingabe an das
Transzendente. Damit ist wiederum der Weg zum Uebersinnlichen ge-
funden.
Wenn wir jetzt zur Kritik übergehen, so beschränken wir uns auf
einige hauptsächliche Bemerkungen. Wir verzichten von vorneherein auf
eine Debatte über die Lehre vom Gefühl und fragen bloß, wie wir uns zu
den beiden vorgetragenen Arten des Willens stellen. Da scheint mir nun
unter psychologischem Gesichtspunkt keine andere Möglichkeit zu bleiben
als eine Ablehnung. Die beiden Willensarten auf zwei so verschiedene
Quasi-Oerter im Bewußtsein verteilt; der eine Wille aus Gefühlen ent-
springend (darüber ließe sich reden), der andere freischwebend und über-
haupt noch kaum verwirklicht; der eine »faktizistisch«, der andere nor-
mativ; dazu das Selbst- und Ichbewußtsein hypostasiert und ir schroffen
Gegensatz gebracht zu der Gesamtheit der Einzelfunktionen; dazu die
Berufung auf eine (freilich nicht allerstrengste) Form der Aktualitäts-
psychologie: — alle diese Dinge vermag ich nicht zu unterschreiben.
In dieser Beziehung verweise ich lieber auf die Lösung, die von der Pfordten
in seinem neuen Büchlein über »Das Gefühl« 1914 S. 59 gibt. Aber wiederum
wird man einwenden, daß diese Kritik gar nicht den Kern des Gedanken-
ganges trifft, und wiederum konstatieren wir, daß wir in der Anwendungs-
zone stehen und mit Mischbildungen zu kämpfen haben. Die Art, wie der
Verfasser den sündigen und den sittlichen Willen psychologisch verankert,
hat freilich für den Theologen etwas Bestechendes. In dieser Beziehung
scheint es sich übrigens zu zeigen, daß Mandel;Schüler Stanges ist (cf.
254 HI. Berichte und Besprechungen.
Stanges »Einleitung in die Ethik« 1901 und sonstige Schriften: begehrender
und gehorchender Wille, Hingabe an die Gemeinschaft usw.). Aber wir
müssen uns doch klar machen, daß das Psychische zunächst außerethisch
ist und der psychische Trieb und Affekt nicht ohne weiteres mit dem
ethischen Trieb und Affekt identisch gesetzt werden darf!). Eine ähnliche
Unterscheidung wie hier zwischen Psychologie und Ethik mußten wir eben
zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie vornehmen. Ebenso müssen
wir beim Willen trennen. Der passive Wille ist ein Gebilde der empirischen
Psychologie. Jener freischwebende, aktive, noch nicht richtig realisierte
Wille aber scheint mir ein Erbe der reinen, aktiven, transzendentalen Ver-
nunft zu sein, wie sie uns in der konstruktiven Psychologie und Metaphysik
des deutschen Idealismus begegnet. Es ist in dieser Beziehung doch sehr
charakteristisch, daß Mandel selbst ein hervorragend konstruktiver Den-
ker ist und, wenn ich mich nicht täusche, für Fichte eine besondere Sympathie
hegt. Bekanntlich hat diese Richtung heutzutage in einer gewissen Noo-
logie und Pneumatologie ihre Fortsetzung gefunden. Es ist aber interessant,
an unserer Stelle konstatieren zu können, wie diese Richtung eine starke
Angleichung an die empirische Psychologie versucht. Ist diese Beobach-
tung zutreffend, dann ist abschließend zu sagen, daß Mandel in den zwei
Willensarten ein ganz ungleiches Paar vor dem Wagen seiner Religions-
ethik gespannt hat und daß das psychologische Problem des religiösen
Willens durch ihn noch nicht gelöst ist. H. Ostertag (Kaufbeuren).
August Dorner, Die Metaphysik ces Christentums. Stuttgart,
Spemann, 1913, 665 Seiten; 12.60 Mk.
Die Grundtendenz dieses Werkes liegt in ganz anderer Richtung als
etwa in religionspsychologischer. Vielmehr ist die ganze riesige Gedanken-
arbeit Dorners darauf konzentriert, das Recht der Metaphysik und speziell
des metaphysischen Kernes im Christentum zu erweisen. Indessen ergibt
sich dabei auch eine Auseinandersetzung mit der Religionspsychologie,
und es entsteht die Frage: wie stellt sich dieser charakteristische Denker,
dieser Pionier der Metaphysik zu der so ganz anders gearteten Wissenschaft
der Religionspsychologie? Vor hundert Jahren, zur Zeit des deutschen
Idealismus wäre diese Frage nicht von erheblichem Belang gewesen. Da-
mals gingen Psychologie und Metaphysik Hand in Hand. Heute sınd
beide in polare Gegensätze auseinandergetreten. Wir betrachten zunächst
nacheinander die einzelnen Stellen. |
In der Einleitung heißt es, die Metaphysik lasse sich nicht etwa da-
durch aus dem Christentum eliminieren, daß man Bestand und Begrün-
dung desselben in psychologische Erlebnisse, Werturteile usw. auflöse. —
Ein eigener Abschnitt S. 36 ff. behandelt den »Gegensatz gegen den Psy-
ı) Vgl. die neuerschienene Schrift von Karl Stange »Luther und das
sittliche Ideale. Gütersloh, Bertelsmann 1919, S. 13 ff.
August Dorner, Die Metaphysik des Christentums, 255
chologismus«. Hier wird zuerst der Einwand ins Auge gefaßt, daß in der
Religion, allermindestens in der Popularreligion, die Psychologie eine weit
größere Rolle spiele als die Metaphysik. Es wird bei diesem Einwand hin-
gewiesen auf die zwei Momente der Phantasie und der Individualität.
Beiden Momenten gegenüber verteidigt Dorner den metaphysischen Kern,
wenngleich er ein offenes Auge für dessen psychische Vermittlung im Sub-
jekt hat. »Man kann darüber streiten, auf welchem Wege man dieser über-
sinnlichen Realitäten sich vergewissern könne, ob durch ihre Einwirkung
auf das Gefühl, auf den Willen, auf die Phantasie oder auf die Intelli-
genZ..... Es ist fraglich, ob nicht das Richtige ist, ihre Einwirkung auf
alle psychologischen Funktionen anzunehmen, wie ich das in meiner
Religionsphilosophie vertreten habe.« Das metaphysische Verhältnis
findet im Handeln des einzelnen, sowie in dem Kultus und der Sitte der
Gemeinschaft seinen Ausdruck. Alle AeuBerungsn des religiösen Lebens
können wirklich nur mit Bezug auf die metaphysische Grundlage, nur als
Erscheinungen derselben und nicht für sich selbst erstanden werden.
Die Metaphysik des Christentums spricht sich ganz besonders im Dogma
aus. Man hat dieses rein psychologisch verstehen wollen, da es nur den
Erfahrungsinhalt, das psychologische Erlebnis zum Ausdruck bringe,
ihn in begrifflicher Form fixiere und als den gemeinsamen Erfahrungs-
gehalt feststelle. Nun ist ja nicht in Abrede zu stellen, daß dasselbe oft
auf der phantasiemäßigen Ausgestaltung kultischer Vorstellungen ruht,
die dann begrifflich fixiert werden. Vorstellungen, die im praktischen
Interesse sich mit Hilfe des religiösen Affekts ausgestaltet haben, werden
in begrifflicher Weise erörtert und für das populäre Bewußtsein fixiert.
Indessen ist all das im Kampf zwischen Psychologie und Metaphysik kein
Beweis ausschließlich zugunsten der Psychologie. Kein Gläubiger wird
sich mit der Versicherung begnügen, daß die Dogmen nichts seien als Sym-
bole für Erlebnisse, die hier in phantasiemäßig anschaulicher Form ver-
gegenwärtigt werden und deren Wahrheitsgehalt nicht erkannt werden
könne. Mag immerhin im Dogma sich eine starke Phantasietätigkeit
zeigen, es sind doch (wirkliche oder vermeintliche) Realitäten, mit denen
man es zu tun hat, und es wird schwerlich gelingen, den Inhalt des Dogmas
nur auf psychologische Erlebnisse zurückzuführen. Wenn demnach die
Metaphysik zu Recht besteht und wenn weiterhin für metaphysische
Erkenntnisse Denknotwendigkeit maßgebend sein soll, so könnte man
einwenden, daß es gerade im religiösen Gebiet Realitäten gebe, wo die
Denknotwendigkeit versagt und man bei der psychologischen Tatsäch-
lichkeit stehen bleiben müsse, z. B. bei den Tatsachen des Bösen, Irratio-
nalen, Häßlichen. Indessen bleibt trotzdem auch hier neben der psycho-
logischen Tatsächlichkeit die erkenntnismäßige Denknotwendigkeit be-
stehen. Man kann die Möglichkeit einer metaphysischen Erkenntnis als
vernunftnotwendiger nicht in Abrede stellen, und es besteht kein Grund,
bei dem empirischen Psychologismus stehen zu bleiben. Vielmehr fordern
gerade psychologische Erlebnisse eine metaphysische Erklärung, und ins-
256 III. Berichte und Besprechungen,
besondere verlangt der Inhalt der psychologischen Erlebnisse eine Bestäti-
gung als metaphysische Wahrheit. Wenn diese nicht erfolgen kann, so
schwebt über den religiösen Erlebnissen der Verdacht der Illusion. Erst
die Metaphysik der Religion stellt und löst die Frage nach ihrem Wahrheits-
gehalt. — S. 60: in dem religiösen Verhältnis sind Gott und Mensch nicht
bloß psychologische Phänomene, sondern metaphysische Realitäten. —
S. 213 ff. finden wir einen Abschnitt »Metaphysik des menschlichen Gei-
stes«. Für das Verständnis dieses Abschnittes muß man die Bemerkung
des Verfassers im Auge behalten, daß er die Ausdrücke Geist und Seele
promiscue gebraucht (S. 220). Er beklagt, daß man sehr lange die
metaphysische Seite der Psychologie vernachlässigt hat, und gibt unter
diesem Gesichtspunkt einen kurzen Ueberblick über die Geschichte ihrer
verschiedenen Richtungen. An diesen psychologischen Entwicklungen
aber kann das Christentum nicht vorübergehen. Freilich ist eine sog.
biblische Psychologie nicht der richtige Ausweg. Die Grundbegriffe von
Dorners eigener metaphysischer Psychologie sind nun Persönlichkeit,
Freiheit, Einheit (die Seele nicht bloß eine Fülle von Einzelphanomenen; der
psychologische Mechanismus genügt nicht), Aktivität, Substanz, Selbst-
bewußtheit, Subjekt-Objekt usw. Hier ganz besonders wird gegen den
Naturalismus Stellung genommen und werden die metaphysischen Dinge
mit den Einzelbeständen des Seelenlebens verknüpft. — S. 261f.; S.455
und S. 526 f. wird nochmals betont, daß psychische Tatsächlichkeit durch-
aus nicht mit metaphysischer Wahrheit identisch ist. — S. 355 und S. 370
spricht von Wille, Intelligenz und Sünde.
Was wir über diese Gedanken Dorners zu sagen haben, läßt sich in
wenigen Sätzen ausdrücken. Den Rechtsanspruch der Metaphysik und
die Abwehr des Psychologismus billigen wir ihm völlig zu und zwar ge-
rade im Interesse der Psychologie. Diese hat es, wie Dorner gut und scharf
heraushebt, mit Tatsächlichkeit zu tun. Wahrheitsurteile will sie nicht
fällen. Wie steht es aber mit dem Rechtsanspruch der empirischen Psy-
chologie und etwaigen Uebergriffen der Metaphysik? Hier scheint mir
ein komplizierter Tatbestand vorzuliegen. Einerseits trennt Dorner, wie
wir soeben gesehen haben, psychologische Tatsachenforschung und Me-
taphysik aufs schärfste als zwei berechtigte Größen. Andererseits be-
kämpft er den Empirismus als eine Form des Naturalismus (gegen den
er im Laufe seines Lebens schon mehr als einmal gestritten hat) wiederum
sehr scharf und hält eine Metaplıysik des Geistes für unentbehrlich. Der
wechselnde Gebrauch von Seele und Geist und die Doppelbedeutung von
Geist in subjektivem und objektivem Sinn sind in dieser Beziehung cha-
rakteristische Anzeichen. Nun wird man es keinem spekulativem Denker,
Systematiker, Metaphysiker und Werttheoretiker verargen können, wenn
er über empirische Tatsachenbefunde wertende Urteile fällt, solange er
nur sich hütet, vom Standpunkt seiner spekulativen Wissenschaft aus
etwa selbst empirische Tatsachenurteile fällen zu wollen. Wenden wir
diesen Kanon auf Dorner an, dann erhebt sich die Frage: liefert er
W. Elert, »Die voluntaristische Mystik Jakob Böhmes«. 257
empirische Tatsachen oder metaphysische Werturteile (eine Scheidung, die
er freilich nicht ohne weiteres akzeptieren würde) ? Zu ersteren hätte er kein,
zu letzteren hätte er alles Recht. Und nun werden wir doch kaum leugnen
können, daß seine metaphysischen Urteile sich nicht durchweg frei halten
vom Eindringen in das Gebiet, das der empirischen Tatsachenforschung
zugehört. — Um endlich auf den letzten Punkt zu kommen, mit seiner
Ablehnung der biblischen Psychologie hat er natürlich vollkommen recht.
Die biblische Psychologie ist gewiß ein interessantes und wertvolles Ge-
biet, aber als Materialsammlung. Die Wissenschaft dagegen wird sich
immer ihrer eigenen Methoden, Ausdrücke, Prinzipien usw. bedienen und
sich diese selbst schaffen, nicht aber vorschreiben lassen und sei es auch
von einer biblischen Psychologie. — Cf. zum Ganzen: Zeitschr. f. Relig.-
Psych. I. Jahrgang 1908, S. 185 ff.: A. Dorner »Begrenzung der psycho-
logischen Methode der Religionsforschung«.
H. Ostertag (Kaufbeuren).
W. Elert, »Die vcluntaristische Mystik Jakob Böhmes«. Eine
psychologische Studie, Berlin, Trowitzsch und Sohn, 1913, 143 Seiten,
5 M. (Vgl. W. Elert »J. Böhmes Deutsches Christentum« 1914, Breslau).
»Die Psychologie der Religion entwickelt sich mehr und mehr zu einem
Gefilde für waghalsige methodische Konstruktionen. Noch immer er-
halten wir Programme, systematische Entwürfe und prinzipielle Unter-
suchungen zur Religionspsychologie ohne Ende. Dazu mehren sich schon
referierende Sammlungen und Uebersichten über die angeblichen bis-
herigen Resultate. Nur eins kommt zu kurz, das Zwischenstück zwischen
den Programmen und den Konsequenzen: die wirklich psychologische
Spezialarbeit. Aber die ist doch wohl vorerst das Wichtigste« (Vorwort).
Einen solchen Beitrag zur psychologischen Spezialarbeit hat der Ver-
fasser bereits in einer Untersuchung über die Religiosität des Petrus ge-
liefert. Ein weiterer liegt hier vor. Als Hauptthese wird hiebei der Satz
aufgestellt; der psychologische Zentralbegriff von Bohmes ganzer Philo-
sophie ist der Wille. Böhme ist theoretischer und praktischer Voluntarist.
Das Wollen ist ihm im eigentlichen Sinne eine religiöse Funktion. Den
Nachweis dafür erbringt der Verfasser, indem er zuerst Böhmes An-
schauung und Theorie, sodann Böhmes Uebung und Praxis untersucht.
Der erste Teil behandelt einleitend Anthropelogie und allgemeine Psycho-
logie, stellt dann bei der speziellen Psychologie die überragende Bedeu-
tung des Willens fest und widmet dem Voluntarismus ein eigenes ein-
gehendes Kapitel. Indem der Fortschritt der Untersuchung sich alsdann
zur Mystik wendet, wird vor allem seine sehr bedeutsame Kampfesstellung
gegen die historische Denkweise herausgearbeitet und endlich das Thema
der neuen Geburt eingehend untersucht. Auf Schritt und Tritt findet
dabei der Verfasser seine These vom Voluntarismus Böhmes bestätigt.
Der zweite Hauptteil wendet sich zu Böhmes Mystik in der Praxis. Hier
Archiv für Religionspsychologie IT/I1I. 17
258 III. Berichte und Besprechungen.
wird sein Selbstzeugnis nachgeprüft, wie es in seinen Schriften vorliegt,
und es werden tiefe Blicke in sein Inneres getan. Daran reiht sich das
Zeugnis anderer, vor allem seiner Anhänger. Hier läßt der Verf. historische
Kritik in weitem Umfange walten. Ein gehaltvolles Schlußkapitel bietet
nochmals eine rückblickende Zusammenfassung.
Ein unbestreitbares Verdienst dieser Arbeit Elerts beruht in der
Selbständigkeit und Gründlichkeit der Quellenforschung. Was er uns
hier darreicht, ist wirklich ein wertvoller Spezialbeitrag religionspsycho-
logischer Art. Ein weiteres Verdienst besteht in der klaren Erkenntnis,
daß man ein Verständnis Böhmes nicht eigentlich von der metaphy-
sischen Seite seiner Gedankenwelt, sondern von deren psychologischer
Seite her gewinnen kann. Man kann es freilich oft genug in den Lehr-
büchern lesen, daß Böhme seelische Ereignisse in die Welt des Gegen-
ständlichen hinausprojiziert (cf. z. B. H. Schwarz »Gottesgedanke in der
Geschichte der Philosophie« IS. 553 ff.; speziell S. 595 f). Aber hier ist
einmal mit diesem Kanon der Untersuchung Ernst gemacht. Ich möchte
beiläufig zum sprachpsychologischen Verständnis Böhmes hier die Ansicht
aussprechen, daß seine seltsamen Ausdrücke und Doppelworte (Liebes-,
Zornfeuer, Lilienzweig, Geisteresser, Angstrad, Bitterstachel usw.) stam-
melnde, phantasieerzeugte Benennungen für Empfindungen sind, nicht
soweit diese Empfindungen gegenständliche Erkenntnisse metaphysisch-
transzendenter Art vermitteln, sondern soweit sie Träger immanenter
Gefühle sind. Jene gegenständlich-transzendente Auffassung würde zu
chaotischen und widersinnigen Gedankenkomplexen führen. Diese im-
manent-emotionale Auffassung eröffnet wie mit einem Schlaglicht das
Verständnis von Böhmes auf- und abwogendem Seelenleben. Ein weiteres
Verdienst der vorliegenden Untersuchung endlich besteht in der energischen
Herausstellung des Voluntaristischen. Es ist tatsächlich verblüffend,
wie sich bei der Nachprüfung die Einzelbestätigungen für die Grund-
these Elerts häufen. H. Ostertag (Kaufbeuren).
Ernst Pariser, Einführung in die Religionspsychologie, Beiträge
zu einer kritisclien Methodenlehre der Religionswissenschaft, Halle a. S.,
Niemeyer, 1914, 56 S.
Eine »Einführung« bietet dieses Büchlein nicht im Sinne eines Kom-
pendiums, sondern eines neuen Programms. Dessen Inhalt ist aber, kurz
gesagt, folgender. Die Religionswissenschaft, resp. -philosophie soll
wissenschaftstheoretisch begründet werden, und in diesem Rahmen soll
die Religionspsychologie ihre Rolle angewiesen erhalten. Die Lösung
dieser Aufgaben liegt aber in einer Ebene und Linie der Gedankenent-
wicklung; denn für den Verfasser erwächst die Religionspsychologie or-
ganisch als ein Glied an dem Leibe der Religionsphilosophie. Es ist nun
aber nicht so, daß er etwa bei der Bestimmung der Relig.-Philosophie dem
Psychologismus zum Opfer fiele. Vielmehr umgekehrt: die Relig.-Psycho-
m gan e
Ernst Pariser, Einführung in die Religionspsychologie. 259
logie wird philosophisch, spekulativ, erkenntniskritisch, transzendental
begründet. So wird sie als »verstehende« oder genauer, nach Diskussion
der einschlägigen Grundbegriffe, als »typisierende« Psychologie definiert.
Diese Grundbegriffe aber sind Religion als Kulturphänomen, der historische
Individuumsbegriff, der Begriff der religiösen Persönlichkeit und Kau-
salität usw. \Wenn es jetzt noch nicht deutlich sein sollte, in welcher Sphäre
wir uns mit dieser Auffassung befinden, so nennt der Verfasser weiterhin
als Autoritäten Rickert, dann Wobbermin, Simmel, Dilthey, Bergson
usw. Die Relig.-Psychologie hat sich alles mechanisierenden, assoziativen,
registrierenden, atomisierenden, zerstückelnden, empirischen Verfahrens
zu enthalten; sie soll vielmehr das organisch-einheitliche unmittelbare
religiöse Erleben des Subjektes ein- und nachfühlend verstehen und mittels
entsprechender Formbegriffe in seiner Struktur aufzeigen (vgl. übrigens
Bergsons ganz analoge antithetische Grundauffassung). Dies die Methode!
Nun der Aufriß ihres Arbeitsgebietes: sie hat es hauptsächlich mit zwei
Typenbegriffen zu tun, dem der religiösen Seele und dem der transsub-
jektiven Energien. — | |
Wir schreiten zur Kritik. Die grundsätzliche Differenz zwischen
der Auffassung Parisers und dem Programm unseres Archivs ist derartig
klaffend, daß wir kein weiteres Wort darüber zu verlieren brauchen. Es
hat infolgedessen auch keinen Zweck, über Einzelfragen, wie Methode und
Arbeitsgebiet der Relig.-Psychologie nähere Erörterungen anzustellen.
Es sei nur noch kurz festgestellt, daß es bei der Auffassung P.s wohl nicht
möglich ist, die einzelnen mit der Religion sich befassenden Wissenschaften,
spez. Relig.-Philosophie und Relig.-Psychologie überhaupt voneinander
zu trennen. Aber eine Frage mehr praktischer Art möchte ich an den
Verfasser richten: glaubt er wirklich auf diesem Wege ein fröhliches Auf-
sprießen und reiches Fruchttragen der Relig.-Psychologie erwarten zu
dürfen ? Eine Analogie möge ihm zu denken geben: was die neukantische
Bewegung (vor deren vernunftkritischen Arbeiten ich die denkbar größte
Hochachtung habe) an Leistungen in Angleichung an die über sie hinaus-
wachsende moderne empirische Psychologie aufweist (z. B. Natorp,
J. Paulsen, H. Ehrenberg usw.), trägt doch, wie mir scheinen will, nicht
den Stempel der Fruchtbarkeit. Droht nicht ein ähnliches Geschick der
Relig.-Psychologie, wie sie der Verf. hier inauguriert 2
Also: gegenüber seinem Programm bleiben wie bei unserer empirischen
Auffassung der Relig.-Psychologie. Aber — nun kommt die Kehrseite —
wir haben allen Grund, in diese einen vorzüglichen Gedanken aufzu-
nehmen, den der Verf. ausspricht: Rel.-Psychologie muß typisierende
Psychologie sein. Es ist eine Art Entdeckung. Da und dort in der
religionspsychologischen Literatur kann man Andeutungen dieser Art
begegnen. Aber diese Forderung klar und kraftvoll aufgestellt zu haben,
ist ein Verdienst Parisers. Für den Empiriker aber ergibt sich daraus
nicht etwa die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Rickert u. a.,
sondern mit der differentiellen Psychologie (cf. übrigens Wobbermin in der
17*
260 III, Berichte und Besprechungen.
Theolog. Lit.-Ztg. von Harnack-Titius-Schuster 1914 Nr. 2 Spalte 53 ff.).
Dann ist auch zugleich die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung ge-
sichert, während Parisers »Einfühlen« einem ästhetisierenden und feuil-
letonistischen Wesen die Tore kaum völlig zu verschließen vermöchte. —
H. Ostertag, (Kaufbeuren).
Georg Weingärtner, Das Unterbewußtsein, Untersuchung über
die Verwendbarkeit dieses Begriffes in der Religionspsychologie, Mainz
ıgıI, Kirchheim und Co., 158 S., geh. 2,50 M.; geb. 3,20 M.).
Welch bedeutsame Rolle der Begriff des Un- resp. Unterbewußten
in Philosophie und Psychologie spielt, ist allgemein bekannt und uns erst
jüngst wieder von Windelband (»Die Hypothese des Unbewußten«, Heidel-
berg 1914) gezeigt worden. Auch in der Religionspsychologie ist dieser
Begriff zweifellos prädestiniert Stellung zu gewinnen, und faktisch ist er
hier schon von verschiedenen Richtungen aufgegriffen worden, von denen
James und Freud auch in die weitere Oeffentlichkeit gedrungen sind.
Die Sachlage ist also gegenwärtig die, daß »Unterbewußtsein« ein viel-
deutiges Wort geworden und in die Zersplitterung der forschenden Rich-
tungen eingegangen ist. Soll dieser Begriff aber zur allgemeinen Diskussion
gestellt und damit zur Klarheit und Fruchtbarkeit der Anwendung ge-
bracht werden, so ist zunächst einmal eine zusammenfassende Darstellung
der verschiedenen Bedeutungen notwendig, denen er bisher unterliegt.
Eben dies leistet in gediegenster Weise das vorliegende Buch. Darüber
hinaus aber verfolgt es den weiteren Zweck, in die Diskussion selbst ein-
zugreifen und zur Darstellung die Kritik zu gesellen.
Im einzelnen entwickelt der Verf. folgende Gedanken. Religions-
psychologie ist ihm eine empirische Wissenschaft. Sie darf niemals theo-
logische Theorien statt psychologischer Erklärungen bieten (S. ı) und
die Begründung der Wahrheit der Religion kommt ihr nicht zu (S. 2),
ebensowenig als überhaupt ein Werturteil (S. 3). Nur die Religiosität
in ihren subjektiven psychischen Aeußerungen ist ihr Gegenstand (S. 3).
Diesem Programm können wir natürlich nur freudig zustimmen. — In
dem ı. Kapitel spricht der Verf. von »Bewußtsein, Ich und Persönlich-
keit« und unterscheidet ein direktes und ein reflexives Bewußtsein. Erst
durch die reflexiven Akte kommt das Selbstbewußtsein zustande. Diese
Unterscheidung gleicht er dann dem Wundtschen Begriffspaar Perzeption
und Apperzeption an. Im Blick auf Humes Bündeltheorie wird weiter-
hin unterschieden zwischen dem realen, substantiellen, im Hintergrund
stehenden Ich und dem empirischen Ich, das wechselnde Bilder bietet. —
Das 2. Kapitel behandelt »Wesen und Leistungen des UnterbewuBtseinse.
Die vielstimmigen Ansichten über das Wesen gruppiert der Verf. zunächst
1) Vgl. Bd. I S. 237 ff. Die Bedeutung des Buches und die notwendige Kürze,
mit der es im Rahmen des Sammelreferates behandelt wurde, rechtfertigt eine eigene
Besprechung. D. H.
Georg Weingärtner, Das Unterbewußtsein. 261
in solche, die unterbewußt = unterschwellig oder unbewußt nehmen, und
unterscheidet hier wieder das physiologische und das psychische Unbe-
wußte. Als weitere Gruppe reihen sich diejenigen an, denen Unterbe-
wußtsein = unteres Bewußtsein ist und zwar näher als Allgemeinbewußt-
sein, als dunkler Inhalt des normalen Bewußtseins und als zweites ge-
trenntes Bewußtsein. Besonders in diesem Kapitel entwickelt der Verf.
seine umfassende Literaturkenntnis, die seiner Arbeit so hohen Wert ver-
leiht. Freilich weist ihm Vorbrodt (ZPhKr. Bd. 147, Hef: 1 S. 117) nach,
daß Prince nicht erst den Ausdruck coconscious eingeführt hat, daß dieser
vielmehr sich schon in der englischen Psychologie findet. Was die Lei-
stungen des Bewußtseins betrifft, so finden sich hier vor allem Phänomene,
welche von den Verfe-htern eines getrennten Bewußtseins angeführt
werden: Traum, Hypnose, Bewußtseinsspaltung usw. Eine besonders ein-
gehende Besprechung erfährt in diesem Zusammenhang die Theorie von
Myers. — Das 3. Kapitel trägt den Titel »Beweise für das Unterbewußt-
sein«. Es ist aber nicht so, daß in etwas eirentümlicher Anordnung des
Gedankenganges erst die Lehren vom U. und jetzt nachträglich die Be:
weise dafür geboten werden. Vielmehr bringt der Verf. hier eine Kritik
der Lehren, indem er ihre Beweise nachprüft. Es handelt sich also darum,
ob sich wirklich ein Unterbewußtsein im Sinne Janets, Dessoirs und
Myers’ nachweisen läßt, ein zweites getrenntes Bewußtsein. Und Wein-
gärtner verneint diese Frage ganz entschieden. Es werden die Phänomene
durchgeprüft, die sich bei dem normalen, vor allem aber diejenigen, die
sich bei dem anormalen Menschen finden. Und es ergibt sich, daß bei
dem normalen Menschen kein Anlaß besteht, von der Annahme eines ein-
heitlichen Bewußtseins abzugehen und daß jene eigenartigen Phänomene
sich durch krankhafte Gedächtnisschwäche, Veränderung der gesamten Be-
wußtseinslage, mangelnde Aufmeıksamkeit, Trennung in Assoziations-
gruppen usw. erklären lassen. Hier taucht wieder jenes obengenannte
reflexive Bewußtsein auf, indem von ihm aus jene Störungen und Ano-
malien erklärt werden. Es scheint mir der Verf. hier tatsächlich auf
richtiger Spur zu sein, und ich kann den Einwendungen Sichlers (Archiv
f. system. Philos. 19. Bd. Heftı S. 256 ff.) nicht beipflichten. Als Er-
gebnis dieses Kapitels betont der Verf. mit allem Nachdruck, daß jene
angebliche Entdeckung des Unterbewußtseins nicht Neuland, neue Tiefen
und Wege erschließt, sondern nur auf eine Klärung von Grenzphänomenen
hinausläuft. — Das 4. Kapitel endlich redet von dem »Unterbewußt-
sein in der Religionspsychologie«. Indessen so umfangreich dieses Kapitel
ist, so kurz läßt es sich erledigen. Zwar das Stoffliche, das es bringt (z. B.
Gebet, Bekehrung, Ekstase usw), ist auch hier wieder trefflich. Aber ab-
gesehen davon bedeutet es ein glattes Herausfallen aus der Bahn em-
pirischer Psychologie. Der Verf. mißt hier die Theorien vom Unterbe-
wußtsein an seinem eigenen katholischen Glaubensbegriff und lehnt alles
immanente mystische Erfassen Gottes im Unterbewußtsein ab zugunsten
des rationalen Erfassens des transzendenten Gottes in der geoffenbarten
262 III. Berichte und Besprechungen.
Kirchenlehre. Das Unterbewußtsein darf unter keinen Umständen ein
Konkurrent des Uebernatürlichen werden. Nun soll es dem Verfasser
gewiß nicht im allergeringsten etwa zum Vorwurf gemacht werden, daß
er hier ehrlich seine persönliche Ueberzeugung ausspricht, noch auch,
daß es der katholische Glaubensbegriff ist, zu dem er sich bekennt —
ein Vorwurf, den er sich vielfach hat gefallen lassen müssen. Aber das
muß ganz entschieden beanstandet werden, daß er überhaupt einen
Glaubensbegriff anwendet, um Kompetenzfragen in Sachen der Religions-
psychologie normativ zu entscheiden. Infolgedessen ist dieses ganze
Kapitel wenig fruchtbar für die Religionspsychologie; es gehört in die
Dogmatik (vgl. das bei Mandel über die »Anwendungszone« Gesagte).
So ist es denn begreiflich, daß hier vollends die kritische Haltung des
ganzen Buches durchbricht. In bezug auf seine Merkmale wird der Be-
griff des Unterbewußtseins als höchst unklar bezeichnet; sein Umfang
und der Umfang seiner Anwendung in der Religionspsychologie wird
möglichst eingeschränkt. Es wird ihm nicht zentrale, sondern nur eine
sehr peripherische Bedeutung zugebilligt. Daß die vorausgehenden Ka-
pitel kritisch gehalten waren, wat wohl begriindet, und Müller-Freien-
fels (Zeitschr. f. Psych. und Phys. 63. Bd. S. 213 f.) hatte vollauf recht,
wenn er hier »die wundeste Stelle der modernen Psychologie« sieht. Man
kann denn auch die klaren und wohlerwogenen Ausführungen W.s in
diesem Teil des Buches weithin nur mit vollem Beifall lesen. Aber daß
er sich überhaupt fast gar nicht über den Standpunkt der Kritik und
Negation zu erheben vermag, daran ist das Hereinspielen der Dogmatik
schuld. Sobald die dogmatischen Schatten auf die Religionspsychologie
fallen, stirbt diese ab. Es ist denn doch mehr, als sich empirisch-reli-
gionspsychologisch irgendwie erhärten läßt, wenn er behauptet: »(Die
Religionspsych. ist durch die Verwendung des Unterbewußtseins nicht
geiördert worden ....) So wird es auch in Zukunft bleiben« Nein!
So soll es eben nicht in Zukunft bleiben! Und wenn ihm auch an diesem
Punkte sonst dissentierende Kritiker zustimmen (Beth im Theol. Lit.-
Ber. 1913, 11. Heft; Sichler a. a. O.; Gaede, Arch. f. ges. Psych. 22. Bd.
Lit.-Ber. S. 72 ff.), so hat trotz alledem die Relig .-Psych., wie wir sie ver-
stehen, die Pilicht, unbefangen und aus Eigenem den Tatsachenkreis
zu untersuchen, den wir mit dem Begriff das »Un(ter)bewußtsein« um-
schreiben, und auf diesem Wege Ergebnisse zu gewinnen, mögen sie nun
mit denen Weingärtners übereinstimmen oder nicht. Vgl. das Schrift-
chen von Vorbrodt: »Flournoys Seherin von Genf und Religionspsycho-
logie«, Leipzig 1914, Meiner. — H. Ostertag (Kaufbeuren).
—
Dr. Gabriele Gräfin Wartensleben, Die christliche Persön-
lichkeit im Idealbild; eine Beschreibung sub specie psychologica.
Kempten und München, J. Köselsche Buchhandlung, 1914. VI und
71 Seiten. 8°. M. 2.—.
Gabriele Gräfin Wartensleben, Die christliche Persönlichkeit im Idealbild. 263
Der durch den Titel nicht ganz glücklich ausgedrückte Zweck vor-
liegender Studie besteht darin, eine beschreibende Zusammenfassung
der Grundzüge der christlichen Persönlichkeit zu geben, wie sie sich als
Idealbild von der katholischen Glaubenslehre aus unter psychologischen
Gesichtspunkten darstellt (Vorwort S. VI). Daß das Programm der
Arbeit nicht dogmatisch oder moralisch, sondern psychologisch sein soll,
bekundet die Verfasserin noch in besonderer Weise dadurch, daß sie sich
auf eine bestimmte Methode der religionspsychologischen Forschung
festlegt. »Nur ein wissenschaftlicher Weg der Darstellung, lesen wir
im Vorwort (S. VI), konnte prinzipiell in Betracht kommen: zunächst
wurde jeder behandelte Sachverhalt in den spezifischen der religiösen
Sphäre zugehörigen Ausdrucksmitteln vorgelegt und hernach wurde
jeweils, soweit die Erklärung der religiösen Inhalte in psychologisch fach-
wissenschaftlichen Terminis ohne Beeinträchtigung des betreffenden reli-
giösen Sachverhaltes möglich war, eine solche versucht.« So schien sich
das »Idealbild« ganz wohl zum Gegenstand einer psychologi-
schen Untersuchung zu eignen. Wir sind weit davon entfernt, zu
leugnen, daß es nützlich und notwendig sei, ideale Normen und Verhaltungs-
weisen auf ihre psychologische Möglichkeit zu prüfen, also etwa zu er-
örtern, wie die einen Charakter »gestaltende« Gottesliebe psychologisch
beschaffen sein müsse, wie das Verhältnis der von dieser Gottesliebe
»zentrierten« einzelnen Tugenden untereinander und zu ihrem Zentrum
psychologisch zu fassen sei u. ä. Die Absicht solcher Forschung geht
aber offenbar nicht in erster Linie auf die psychologische Tatsachen-
forschung, sondern auf die Begreifung, Ermöglichung, Sicherung eines
vorgestellten Ideals. Wir haben diese Absicht fast durchweg in dem
Büchlein verwirklicht gefunden und sehen darin einen Gewinn, den wir
von theologischem Standpunkt aus keineswegs unterschätzen. Aber wir
gestehen offen, für Religionspsychologie im strengen Sinne, d. h. für
Religionspsychologie als empirische Wissenschaft können wir dies
nicht halten. Diese hat nach unserer Meinung nicht die Aufgabe, das
Ideal, das doch innerhalb gewöhnlicher Verhältnisse nicht als solches
wirklich ist, zu untersuchen, sondern wirkliche Tatbestände,
mögen sie nun nahe an das normative Ideal hinreichen oder nicht. Ihre
Methode muß daher von Einzelbeobachtungen aus fortschreiten zur
Ermittlung gesetzmäßiger Verhaltungsweisen. Nur so bleibt sie Empirie,
Tatsachenforschung. Einen erfreulichen Ansatz dieser Art bildet die
psychologische Bestimmung des Glaubens (S. 40 ff.). Hier stellt die Ver-
fasserin ausdrücklich die Frage nach dem, was »erlebnismäßig beim Glau-
bensakte gegeben sei«. Die Erlebnisbeispiele (Augustinus, Verlaine,
Claudel) enthalten allerdings nicht bloße Glaubenserfahrungen, sondern
mehr allgemeine Bekehrungserlebnisse. Doch wollen wir darauf kein
weiteres Gewicht legen. Nur das sei noch betont, daß manche der modern-
sten Psychologie entnommenen Ausdrücke (Persönlichkeit als bestimmte
»Gestalt«, »Zentrierung« der seelischen Fähigkeiten durch eine richtung-
264 III. Berichte und Besprechungen.
gebende Hauptkraft u. a.) gerade bei der von der Verfasserin geübten
Methode zu äußerlich und schematisch erscheinen. Mit der Anwendung
solcher gewiß wertvollen Begriffe auf die Religionspsychologie ist nur
dann eine fruchtbare Einsicht gewonnen, wenn die Erlebnisse, die ihnen
auf religiösem Gebiete entsprechen sollen, genau beschrieben und als
wirkliche Aequivalente für die psychologischen Bestimmungen (vgl. S. 40)
aufgezeigt werden. Trotz dieser grundsätzlichen Meinungsverschieden-
heiten verhehlen wir nicht, daß die vorliegende Studie in mancherlei
Einzelheiten Anregungen bietet. Die Verfasserin betont mehr wie einmal,
daß sie keineswegs eine erschöpfende Darstellung geben wolle; sie hat
auch offenbar viele Mühe an die Arbeit gesetzt und eine achtenswerte
— manchmal vielleicht unnötige — Gelehrsamkeit aufgeboten. Einige
neue Gesichtspunkte psychologischer Art scheint sie uns in der Tugend-
lehre erschlossen zu haben (S. 12 ff.), wenn auch das Tugendschema (S. 23)
wohl für allzu. »schematisch« gelten muß. Vielleicht dürfen wir für eine
künftige Tugendpsychologie auf die zahlreichen feinen Beobachtungen
hinweisen, die sich in der nikomachischen Ethik des Aristoteles über
diesen Gegenstand finden. Neuerdings haben Hans Meyer und Michael
Wittmann in ihren Untersuchungen über die aristotelische Ethik manches
ins rechte Licht gesetzt. Georg Wunderle (Würzburg).
Georg Hoinka, Versuch zu einer psychologischen Grundlegung
der Moraltheologie. Erster Teil: Psychologische Vorschule zur Moral-
theologie. Paderborn, Verlag von Ferdinand Schöningh, ıgı2. VII
und 254 S. M. 4.20.
Daß die Moraltheologie als. positive theologische Wissenschaft zu-
nächst die Aufgabe hat, die in der Offenbarung enthaltenen Normen
für das sittliche Leben systematisch darzustellen und Grundsätze für
deren Anwendung aufzufinden, ist unbestreitbar. Als praktische Wissen-
schaft muß sie die theologisch abgeleiteten Moralgesetze dem konkreten
menschlichen Leben näherbringen; dazu ist naturgemäß eine möglichst
vollkommene Lebens- und Seelenkenntnis erforderlich. GewiB hat die
Moraltheologie niemals von irgendwelcher psychologischer Grundlegung
abgesehen ; aber es darf doch gesagt werden, daß sie bis heute noch immer
zu wenig Wert darauf gelegt hat, dieses Stück ihrer Aufgabe mit den
Hilfsmitteln wissenschaftlicher Psychologie zu erledigen.
Von dieser allgemeinen Erwägung aus ist demnach der Versuch
einer psychologischen Begründung der Moraltheologie warm zu begrüßen.
Was aber Georg Hoinka in der vorliegenden Studie als »psycho-
logische Vorschule zur Moraltheologie« darbietet, ist eine Psychologie in
ganz anderem Sinne wie die moderne empirische Psychologie. Im An-
schluß an den verstorbenen Breslauer Moraltheologen Adam Kra-
vutzky geht H.s Darstellung von der menschlichen Natur, ihrer Zweck-
bestimmung und Tätigkeit aus. Bei der Aufsuchung der psychischen
Grundregungen betrachtet der Verfasser zunächst die verschiedenen
Georg Hoinka, Versuch usw. Heinrich Mayer, Kinderideale. 265
Auswirkungen der menschlichen Natur, aber nur so, wie sie eben mit
ihrer ganzen Komplexität von der populären Beobachtung aufgefaßt
werden. Ohne die verschiedenen Lebensäußerungen und Lebenstätig-
keiten des Menschen einer eigentlichen psychologischen Analyse zu
unterziehen, findet er, daß sie samt und sonders auf 6 psychische
Grundregungen zurückzuführen seien. In seiner Aufzählung heißen sie:
»I. Der Selbsterhaltungs- oder Beständigkeitstrieb. 2. Der Erkenntnis-
oder Wissenstrieb. 3. Der Hochsinns- oder Hingebungstrieb. 4. Der
Glückseligkeits- oder Zuversichtstrieb. 5. Der Selbständigkeits- oder
Freiheitstrieb. 6. Der Gemeinschafts- oder Fügsamkeitstrieb« (S. 66). Die
Tatsächlichkeit dieser 6 Grundtriebe gilt als erstes moralpsychologisches
Gesetz, das sich im biblischen Dekalog vollauf bewährt findet (vgl. S. 76).
Daraus werden — unter ständiger Heranziehung des Dekaloges als Beweis-
mittels — weitere 5 moralpsychologische Gesetze entwickelt. Die Grund-
triebe müssen individual, sozial und religiös betätigt werden (2. Gesetz
S. 100); jeder der 6 Grundtriebe soll entfaltet werden (3. Gesetz S. 121);
»jeder Grundtrieb ist in seiner vollkommenen Entwicklung bedingt durch
die gleichzeitige Unterstützung von seiten der anderen Grundtriebe«
(4. Gesetz S. 164); die wohlgeordnete Entfaltung der Grundtriebe erfolgt
in bestimmter Harmonie und Wertordnung (5. und 6. Gesetz S. 205
und 239).
Wir heben gerne hervor, daß uns innerhalb der einzelnen Ausfüh-
rungen manche psychologisch zutreffende Bemerkung, manche geist-
reiche Anwendung, mancher weiterführende Gedanke begegnet ist. Trotz-
dem können wir nicht umhin, H.s Versuch als Ganzes abzulehnen. Er
enthält mehr philosophisch-schematische Deduktion als psychologisch-
lebendige Induktion. Der Verfasser sagt selbst im Vorwort (S. V): Die
ganze Studie ist »lediglich philosophisch aufzufassen. Sie will
nicht mehr sein als ein philosophischer Beitrag zu dem Versuch, die Moral-
theologie psychologisch zu begründen und aufzubauen«. Dieses Programm
entbehrt unseres Erachtens der Klarheit; jedenfalls steht es nicht in
völligem Einklang mit dem Titel des Buches, der nur von einer ps ycho-
logischen Grundlegung und einer psychologischen Vor-
schule der Moraltheologie spricht. -Georg Wunderle (Würzburg).
Heinrich Mayer, Kinderideale. Eine experimentell-pädagogische
Studie zur Religions- und Moralpädagogik. Kempten und München,
J. Kösel, 1914. 8° VIII und 155 S., geh. M. 2.50, geb. M. 3.50.
Statistische Untersuchungen über die Ideale der Schulkinder sind
in der heutigen pädagogischen Literatur nicht selten. Die Zahl der Zeit-
schriftenartikel ist nahezu Legion; die psychologischen Ergebnisse sind
im Vergleich zu der aufgewandten Mühe gering. Wir haben die vorliegende
selbständige Studie M.s über Kinderideale in die Hand genommen mit der
Erwartung, nun endlich einmal neben Tabellen und Rechnungen auch
eine Methodologie dieser Art von psychologischen Erhebungen zu er-
266 IL. Berichte und Besprechungen.
halten. M.s Buch bietet davon aber leider nur wenig und das bloß neben-
her. Wir wollen gerne hervorheben, daß die rein statistische Seite der
Studie mit großer Sorgfalt bearbeitet worden ist, daß auch die auf diesem
Gebiete so notwendige Kritik in der psychologischen Verwertung und
Deutung des reichen Materials zur Geltung kommt. Wir freuen uns,
M.s Arbeit wegen dieser Vorzüge weit über so viele andere oberflächliche
Erörterungen, die sich mit Kinderidealen, mit dem Lieblingsberuf u. ä.
befassen, stellen zu können. Was nutzen aber trotz alledem große Zahlen-
reihen und Prozentberechnungen, wenn die Herkunft und der Wert der
einzelnen Zahlen nicht genügend geklärt und sichergestellt wird ?
Der Verfasser bringt in der Einleitung einen Ueberblick über die
bisherigen Untersuchungen (S. 2—6), der unseres Erachtens in der Form,
wie er sich findet, besser unterblieben wäre. Natürlich konnte es sich
nicht um Vollständigkeit in der Aufzählung und Würdigung der ein-
schlägigen Vorarbeiten handeln; aber gerade deshalb mußte bei einer solch
kurzen Darstellung wenigstens das genetische Moment in der Reihe der
Einzelstudien betont werden. Die Auswahl der wenigen Namen scheint
uns nicht gerade zweckentsprechend. Notwendig wäre auch eine Bezug-
nahme auf die Untersuchungen über die Beliebtheit und Unbeliebtheit
der Unterrichtsfächer gewesen. Das hätte sich nicht bloß beim geschicht-
lichen Ueberblick, sondern auch sonst, insbesondere bei der Besprechung
‚der Berufsideale (S. 88 ff.) und des Idealismus in der Wahl der Lektüre
(S. 105 ff.) empfohlen.
Am meisten hat uns der Abschnitt über den »Idealismus in der Wahl
des persönlichen Vorbildes« (S. 22—87) interessiert. Die in diesem Ab-
schnitt mitgeteilten Angaben über die »religiösen Ideale« (S. 41 ff.), nament-
lich über » Jesus und Maria als Idealpersonen« (S. 61 ff.), sind beachtens-
werte Kundgebungen katholischer Schulkinder über den Betrieb des
Religionsunterrichtes und — das ist ja nicht zu übersehen — über den
großen Einfluß, den die Person des Geistlichen als Katecheten auf die
Kinder ausübt. Gerade in letzter Hinsicht zeigt sich die Suggestibilität
der Kinder in hellstem Lichte. Die auf religiöse Ideale bezüglichen Ant-
worten waren in den Fällen, wo der Katechet die Fragen stellte, unverhält-
nismäßig häufiger als in den Fällen, wo eine weltliche Lehrperson als
Versuchsleiter tätig war (vgl. S. 58). Hätte wohl der religiöse »Idealismus«
der Kinder angedauert, wenn sie nach der Befragung durch den
Geistlichen auch noch vom weltlichen Lehrer zu einer Aussage über ihre
Ideale veranlaßt worden wären? Sicherlich nicht. Das erste Ergebnis
ist also keine Unterlage für die Ermittlung des »religiösen Idealismuse
im Kinde, sondern nur ein Beleg für die gerade dem persönlichen
religiösen Einwirken zugängliche Suggestibilität des Kindes. Mit der
Suggestibilität muß man aber auch bei den anderen Arten des kindlichen
_»Idealismus¢ in einem vielmals höheren Maße rechnen, als das gemeinig-
lich geschieht. Wir können uns der Begründung M.s (S. 65) nicht an-
schließen: »Die Ideale des Menschen sind in ihm, nicht außer ihm. Was
Nathan Söderblom, Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte. 267
er sein Ideal, sein Vorbild nennt, ist im Grund sein eigenes Bild, das er
in die Umgebung oder Geschichte hineinträgt. Die Gründe, die eine
Gruppe von Kindern für ihre Ideale anführt, geben daher ein Bild der
seelischen Verfassung dieser Gruppe. Zeigen sich in dieser Gruppe be-
stimmte, regelmäßig wiederkehrende idealbildende Motive, so bilden
diese einen Teil der psychologischen Charakteristik dieser Gruppe, und
es läßt sich eine Untersuchung darüber anstellen, inwieweit im Unter-
richt dieser psychologischen Verfassung Rechnung getragen wird.« Wir
fragen dieser Darstellung gegenüber: Sind die Motive etwa nicht auch
dem suggestiven Einfluß unterworfen? Inwieferne dürfen und müssen
sie als selbständige Aeußerungen der kindlichen Seele aufgefaßt werden ?
Im Hinblick auf die Resultate der sonstigen Erforschung kindlicher Sug-
gestibilität erscheint uns die Selbständigkeit der Aussage beim Kinde
sehr gering. Uebrigens ist ist die Rechenschaft über die wahren Motive
von religiösen — und auch anderen — Idealen selbst für den Erwachsenen
nicht immer so leicht. Kinder fällen doch unseres Erachtens nur selten
überlegte, begründete, selbständige Urteile; sie kennen ihr seelisches
Leben noch zu wenig. Ihr »Idealismus« ist nach unseren Beobachtungen
häufig gar nichts anderes wie ein augenblickliches Interesse an gewissen
Gegenständen, Personen, Tätigkeiten; das Interesse geht aber beim Kinde
noch nicht in die Tiefe.
Wir schätzen die Kinderaussagen nicht hoch genug, um von ihrer
Verarbeitung eine wirklich wissenschaftliche Förderung der Moral- und
Religionspsychologie zu erhoffen. Statistische oder sog. »experimentell-
pidagogischee Untersuchungen müßten hinter der eindringlichen Einzel-
beobachtung zurücktreten. Schematische Tafeln und »exakte« Prozent-
berechnungen würden dann allerdings mehr und mehr aus der wissen-
schaftlichen Darstellung der verwickelteren seelischen Erscheinungen
verschwinden; dafür käme aber die Psychologie der individuellen Differen-
zen zu ihrem Recht. Georg Wunderle (Würzburg).
Nathan Söderblom, Natürliche Theologie und allgemeine Reli-
gionsgeschichte (Beiträge zur Religionswissenschaft, herausgeg. v. d.
Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm. 1. Jahrg.
1913/14, Heft 1). Stockholm, Albert Bonnier; Leipzig, J. C. Hinrichs.
VIII und 112 S.
Eine prinzipielle Untersuchung, aus einem Meissener Vortrag des
Verfassers hervorgegangen, wesentlich programmatisch, wissenschafts-
theoretisch gerichtet: das Programm eines engeren und prinzipiell be-
gründeten Zusammenhangs der allgemeinen Religionsgeschichte mit der
Forschungsarbeit der wissenschaftlichen Theologie. Voraus geht als
historischer Unterbau eine Skizze der Geschichte der natürlichen Theologie.
Auf Grund dieses geschichtlichen Rückblicks vertritt S. in sehr
einleuchtenden Ausführungen eine moderne Weiterbildung und Neu-
gestaltung des alten Lehrstücks de religione naturali, Neugestaltung in
268 III. Berichte und Besprechungen.
dem Sinn, daß an die Stelle der natürlichen Theologie die allgemeine
Religionsgeschichte tritt. Das würde wissenschaftstheoretisch-program-
matisch bedeuten die Zugehörigkeit der allgemeinen Religionsgeschichte
zur Theologie: die Theologie muß sich mit dem gesamten Gebiet der
Religion grundsätzlich befassen (S. 67 f.). »Alles, was wir Religion nennen,
bildet trotz der Unterschiede und Gegensätze eine zusammenhängende
Größe, die von der Wissenschaft einheitlich bearbeitet werden muß«
(S. 77). »Nur in dem Maße, in dem das Christentum den andern Reli-
gionen volle und unbedingte Gerechtigkeit erweist, kann es allgemein-
gültig seinen Anspruch erheben, dem religiösen Bedürfnis der Mensch-
heit zu entsprechen . . . Die Wissenschaft vom Christentum kann von
der Religionswissenschaft im allgemeinen nicht isoliert werden. Der
Gegenstand der Theologie darf nicht enger umschrieben werden, als das
Gebiet der Religion« (S. 78).
“Die alte Distinktion zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion
wird modern ersetzt durch die Unterscheidung zwischen allgemeiner und
besonderer Religionsgeschichte. Die zentrale Stellung der besonderen
Religionsgeschichte (der christlichen Theologie im engeren Sinn als der
Wissenschaft von der christlichen Religion) ist nicht etwa apologetisch,
dogmatisch, metaphysisch, sondern rein sachlich-geschichtlich gerecht-
fertigt ; denn die biblische Religionslinie hebt sich hierin von der sonstigen
höheren Religion deutlich ab, nirgends sonst treten in dieser Weise Offen-
barungsansprüche in mehr als tausendjähriger Kontinuität auf; und
dies ist kein Werturteil, sondern die Feststellung einer Tatsache (S. 107).
Was ist an dieser historischen und prinzipiellen Untersuchung für
den Religionspsychologen bedeutsam ? Der Verfasser weist selbst darauf
hin (S. 83 f.), wo er von der berechtigten Sonderstellung des Studiums der
christlichen Religion wegen ihres besonderen Reichtums der Tiefe nach
spricht. Kein Religionskomplex weise so viel Material für das Studium
des inneren Lebens der Religion auf, wie das Christentum. »Das beruht
auf dem Zusammentreffen zweier Umstände. Das Christentum hat den
Blick des Menschen nach innen gerichtet. Zwar gilt das auch von den
“mystischen indischen und altgriechischen Heilslehren, aber im Christen-
tum geschieht es nicht nach so festen und uniformierenden Richtlinien
wie bei jenen ... Diese Andeutungen dürften die überraschende Tat-
sache begreiflich machen, daß die indischen Religionen und Buddhas
Ordensliteratur, die sich mit großartiger Konzentration auf das innere
Leben richten und in unzähligen Beschreibungen den in sich beständig
gleichen Seelenzustand der Versenkung und des Nachinnengerichtetseins
schildern, doch ärmer sind an religionspsychologischem Material als das
Christentum, und trotz all der Feinheiten und Schönheiten einförmig
dastehen neben den nach dem Reichtum des Lebens selbst mannigfaltig
ausgeprägten Bildern des inneren Lebens, wie die Offenbarungsreligionen
sie besitzen. Die Autobiographien des Christentums, denen nicht einmal
der Stoizismus etwas Aehnliches an die Seite stellen kann, sind in ihrer
Dietrich Heinrich Kerler, Jenseits von Optimismus und Pessimismus, 269
Weise ein Ausdruck, nicht nur der christlichen Innerlichkeit und ihrer
mannigfaltigen Verbindungen mit der Philosophie, sondern auch des
Sinnes für persönliches Leben, der das Evangelium auszeichnet. Es sind
christliche Impulse, die in späterer Zeit Asiaten zu lebensvollen, individuell
ausgeprägten und für die Religionswissenschaft ergiebigen Schilderungen
ihrer eigenen inneren Geschichte veranlaßten, wie die Japaner Nisima
und Utschimura.« |
Für den Religionspsychologen speziell ergibt sich damit ebensowohl
die Aufgabe, die Erscheinungen aller positiven Religionen überhaupt,
die ihm zugänglich sind oder es werden können, unter seinem Gesichts-
punkt, mit seinen Mitteln und zu seinen Zwecken zu untersuchen, wie
eine gewisse Berechtigung, das Bewußtsein zu haben, daß er nicht etwa
nur einer äußerlich-zufälligen, ihm auferlegten Notwendigkeit unter-
worfen ist, wenn er den Erscheinungen der christlichen Religion einen
gewissen Vorzug gibt, sondern daß er damit auch einer prinzipiellen,
historisch ermittelten, innerlich gegebenen Natur seines Gegenstandes
folgt. + Konrad Schröder (Marburg).
Dietrich Heinrich Kerler, Jenseits von Optimismus und
Pessimismus. Versuch einer Deutung des Lebens aus den Tatsachen
einer impersonalistischen Ethik. Ulm, Heinrich Kerler, Verlagskonto
1914. VI und 213 S. Preis damals M. 5.—.
In dem Buch wird keine Psychologie getrieben, sondern reine Ethik;
doch indirekt gibt es dem Psychologen eine Fiille von Fragen und An-
regungen. Eine doppelte These wird durchgeführt: 1. Das Ethos darf
Orientiert sein einzig und allein am unbedingt geltenden Ideal, nicht an
irgend jemandes Glück oder Seligkeit. 2. Die Erfüllung der Ideale ist
der einzige Sinn nicht nur des Ethos in sich selbst, sondern des »Lebens«
überhaupt; daneben oder darüber hinaus hat kein anderer Sinn Platz,
vor allem keinerlei religiöse Ergänzung oder Bürgschaft auch nur für
die Durchführbarkeit des Ideales selber. Nach Optimismus oder Pessi-
mismus fragt nur der egoistische, altruistische oder religiöse Eudämonist,
niemals der ethische Mensch. Mag der Lauf der Welt gänzlich sinnlos
sein, das Leben hat in dem Maße Sinn, als das ethische Soll von uns
anerkannt und in die Tat umgesetzt wird. Weiter zu fragen ist unsittlich.
Zu dieser Ethik und der daraus abgeleiteten Lebensdeutung Stellung
zu nehmen, ist nicht dieses Orts. Nur eine Frage: Widerlegt nicht schon
des Verfassers Hochschätzung der intellektuellen und der ästhetischen
Werte seine These von der Alleingeltung des sittlichen Ideals? Die Nor-
men des Wahren und Schönen sind doch der Norm des Guten gegenüber
selbständige Gesetzgebungen. Beweist nicht gerade die bewußt ein-
seitige Herausarbeitung der Eigenart des ethischen Ideals (die wir dem
Verfasser zum hohen Verdienst anrechnen möchten) dessen Unfähigkeit,
den »Sinn des Lebens« zu erschöpfen ?
270 Ill. Berichte und Besprechungen.
Doch wir haben uns auf die religionspsychologische Seite der Sache
zu beschränken.
K.s Ablehnung der Religion beruht, außer auf seiner These von
der Alleingeltung des sittlichen Ideals, auf seiner Ansicht vom see-
lischen Wesen der Religion. Das religiöse Interesse ist
nach ihm ı. wesentlich eudämonistisch; es will nicht die un-
interessierte Verwirklichung des Ideals, sondern Beseligung der eigenen
Person, der Menschheit oder auch des Absoluten selbst (S. 7 ff., 21 ff.).
Frömmigkeit ist hm 2. Heteronomie; als ıhre psychische Wurzel
gilt ihm die Anlehnungsbedürftigkeit des Menschen; und 3. Personalis-
mus, d. h. sie findet den höchsten Wert nicht in einer unwirklichen
Idee, sondern in einem realen Träger der Idee. »Der natürliche Mensch
erträgt es nicht, in furchtbarer Einsamkeit dem Ideal gegenüberzustehen.
Von wildem Entsetzen erfaßt, stürmt er aus dem Heiligtum, um sich
cinem fühlenden Wesen, sei es Gott oder Mensch, an die Brust zu werfen«
(S. 100, 116, 172).
Diese Bestimmungen sind religionspsychologisch nicht unrichtig, aber
I. unvollständig; in dieser Fassung treffen sie nur den Durchschnitt und
nur die verkümmerten Formen der Religiosität, nicht die Höhen reli-
giösen Lebens; 2. sind sie einseitig, sofern sie nicht am Eigenleben der
Frömmigkeit orientiert, sondern das religiöse Leben nur im Lichte der
Ethik sehen; sie treffen daher allenfalls die religiöse Moral, aber nicht
die Religion selbst. Die Grundtatsache des unverkümmerten, allem
Moralischen gegenüber souveränen Lebens des Frommen ist ein Ueber-
wältigtsein von übermenschlichen Mächten bzw. einer überweltlichen
Macht. Von irgendwelchen Bedürfnissen oder irgend jemandes Eudämonie,
auch von der Gottes selbst, ist dabei nicht mehr die Rede. Ein geradezu
klassisches Beispiel dafür ist, was K. selber über Schloß Mainberg zu
sagen weiß (S. 136). |
So liegt gerade in der moralistisch und apologetisch unverkriippelten,
ursprünglichen Religion der Gegenpol, und doch auch wieder ein Bundes-
genosse des vom Verfasser in vorbildlicher Reinheit erschauten Ethos.
Auch der Wert der Religion ruht in ihr selbst, nicht in den begleitenden
Befriedigungsgefiihlen; werden diese gesucht, so ist das reine Erleben
Gottes so getrübt wie das Wollen des Ideals. Auch in der Religion wird
die Persönlichkeit rücksichtslos geopfert, und eben dadurch ungewollt
wahrhaft gewonnen (vgl. bei K. »Subjektswert«). In Jesu sieht der
Verfasser das reinste Ethos verkörpert, uns ist er der religiöse Genius
(vgl. auch K.s wertvollen Hinweis auf Fénélon). Ueber alle Wunsch-
religion hinaus lebt er und führt zum Leben in der Wirklichkeit Gottes
— jenseits von Optimismus und Pessimismus.
| R. Paulus (Besigheim).
Be a en ie
A. Marie, Der Mystizismus in seinen Beziehungen zur Geistesstörung. 2 71
A. Marie, Der Mystizismus in seinen Beziehungen zur Geistesstörung.
Uebersetzung von G. Lomer. Verlag von J. A. Barth. Leipzig
1913. 250 S. M. 5.—, geb. 5.80.
Gerade das echt religiöse Erleben ist durch einen mystischen Grund-
zug charakterisiert. Darum findet sich auch bei dem in einer krankhaften
Persönlichkeit sich entwickelnden religiösen Leben oft ein starker »Mysti-
zismuse. Aus diesem Grunde ist es ebenso für den Psychiater, dem solche
Kranke vor Augen treten, von Interesse, sich mit den Fragen nach dem
Wesen der Mystik zu beschäftigen, wie es für den Religionspsychologen
von Wert sein kann, über die Formen und Eigentümlichkeiten derjenigen
Geistesstörungen zu hören, bei welchen am häufigsten mystische Ein-
schläge sich nachweisen lassen. Es wird freilich einem derartigen Ver-
such eines Arztes, den Mystizismus in ‘seinen Beziehungen zur Geistes-
störung zu betrachten, vielleicht mancher ein gewisses Mißtrauen ent-
gegenbringen, denn allzuleicht verfällt der Psychiater in den Fehler,
normale psychische Erscheinungen einfach deshalb als pathologisch zu
bezeichnen, weil er dieselben Erscheinungen auch bei seinen Kranken
zu beobachten Gelegenheit hat. Diesen Fehler hat der französische Psychia-
ter zu vermeiden gewußt. Für ihn ist im Gegenteil die Krankheit eine
Steigerung der normalen Erscheinungen, was für einen großen Teil aller
Krankheiten gewiß zutreffend ist.
Der Verfasser betrachtet in dem ersten Teil seines Buches zunächst
die Psychologie der Mystiker. Er geht dabei von einem Kollektivbegriff
der Mystik aus, ohne auf das Individualstudium der großen Mystiker
irgendwie einzugehen, da ihm diese letztere Aufgabe als zu umfassend
und schwer erscheint. Es ist dies zu bedauern, denn vielleicht hätte ein
solcher Versuch, wenigstens das Charakteristische bei den einzelnen ge-
schichtsbekannten, großen Mystikern hervorzuheben, für. die Aufgabe,
die der Verfasser sich gestellt hat, sehr genützt und den Verfasser daran
gehindert, sich im allgemeinen zu verlieren. Weiterhin gibt er eine Begriffs-
erklärung und Unterscheidung von Religion und Mystizismus. Im zweiten
Teil werden die verschiedenen Geistesstörungen behandelt und die Art,
in welcher sich in ihnen der Mystizismus äußert. So bei den Störungen
der Entartung, besonders der Hysterie und Epilepsie, ferner bei den
Depressionszuständen und den verschiedenen Formen der Demenz. Ein
Vergleich des mittelalterlichen Wahnsinns mit dem neuzeitlichen läßt
besonders deutlich erkennen, wie der Einfluß der Umwelt sich auch bei
den mystischen Psychosen .deutlich zeigt. Der Kranke nimmt eben zur
Erklärung der in ihm eingetretenen Veränderungen das, was ihm Bildung
und Milieu an die Hand geben. Während darum im Mittelalter das Ge-
fühl des Besessenseins von einem bösen Geiste sehr häufig war oder der
Größenwahn, Gott, der Antichrist oder ein Prophet zu sein, ist es heute
das Gefühl des Elektrisiert- oder Hypnotisiertseins, durch welches die
Kranken ihre abnormen Zustände zum Ausdruck bringen. Zum Schluß
endlich berührt der Verfasser noch die allen mystischen Psychosen ge-
272 III. Berichte und Besprechungen.
meinsame Tendenz zu antisozialen Reaktionen, z. B. Mord, Selbstmord
oder Verstümmelung, und gibt dazu Beispiele aus der eigenen und fremden
Erfahrung.
Aus dieser kurzen Angabe des Inhaltes des Buches wird zur Genüge
hervorgehen, daß dasselbe viel Interessantes enthält. Leider stören die
allzu zahlreichen Zitate und Wiederholungen oft die Entwicklung des
Gedankenganges und lassen die guten und wertvollen Bemerkungen
leicht übersehen. Auch kann man sich, wenn man das Buch zu Ende
gelesen hat, des Eindruckes nicht recht erwehren, daß die Fülle des Stoffes
den Verfasser selbst den klaren Ueberblick verlieren ließ und ihn daran
hinderte, in die Tiefe irgend eines der zahlreichen Probleme wirklich ein-
zudringen. + Fr. Hacker (Berlin).
Oskar Ollendorf, Andacht in der Malerei. Beiträge zur Psycho-
logie der Großmeister. Leipzig, Julius Zeitler, 1912. 170 S. und 18 Ab-
bildungstafeln. M. 7.—, geb. M. 9.—.
Das Buch bietet nicht, was sein Titel verheißt. Es ist keine Ikono-
graphie der Andacht, die man hier zu finden hofft und die zu besitzen
wertvoll wäre, weil sie für den Religionspsychologen eine wichtige Er-
gänzung dessen bildete, was ihm die literarischen Quellen über den Wechsel
und Wandel der Andacht und ihrer Ausdrucksformen im Laufe der Jahr-
hunderte berichten. Man findet darin nur eine Reihe von Untersuchungen
über einige Meister des I6. und 17. Jahrhunderts in bezug auf ihre Aus-
druckskraft und Fähigkeit in der Darstellung der Andacht. Ich erblicke
darin einen Mangel, weil jene Aufgabe mir wichtiger erscheint und diese
Spezialuntersuchungen ohne jene historische Vorarbeit ziemlich in der
Luft stehen. Dar religionspsychologischen Forschung ist wenig damit
gedient und gering erscheint mir der Nutzen für die Kunstwissenschaft.
Unwillkürlich fragt man sich bei der Lektüre des Buches immer wieder,
für wen es eigentlich geschrieben ist. Die Antwort, die der Verfasser
in der Einführung gibt, indem er bemerkt, daß das Buch für modisch
unabhängige, selbständige Freunde des Schönen geschrieben sei, die
den großen Meistern die ihnen gebührende Ehre geben, befriedigt wenig.
Nicht einzusehen ist ferner, wozu es nötig war, um die Beschränkung auf
die Untersuchung des Gegenständlichen in den Kunstwerken zu recht-
fertigen, das Ganze mit einem Angriff auf Konrad Fiedler einzuleiten,
der mit Recht in seinen Schriften die Belanglosigkeit des Stoffes für die
künstlerische Wertung betont. Werden doch die psychologischen Ten-
denzen des Verfassers nirgends von den zur Höhe künstlerischer Erkennt-
nis führenden Wegen Fiedlers berührt oder gekreuzt. Unzweckmäßig
erscheint mir die Beschränkung auf die Malerei, weil für die psychologische
Erkenntnis, auf die es hier ankommt, die Werke der Plastik von denen
der Malerei nicht zu trennen sind. In der Tat eröffnet im Widerspruch
zum Titel des Buches eine plastische Arbeit den Reigen der besprochenen
Kunstwerke. Verfasser widmet ihr 17 Seiten um darzutun, daß Michel-
Oskar Ollendorf, Andacht in der Malerei, 273
angelos innerstes Wesen der Schilderung der Andacht widerstrebte. Aber
war es diesem Meister, als er den gefesselten Sklaven im Louvre schuf,
um den es sich hier handelt, überhaupt darum zu tun, Andacht dar-
zustellen ? Meines Erachtens hat er hier nichts anderes als stumme Er-
gebung in ein unabänderliches Geschick zu Erscheinung bringen wollen.
Das ist aber etwas ganz anderes als Verkehr der Seele mit Gott, wie Ver-
fasser richtig die Andacht definiert.
: Es finden sich in dem auf fleißigen Studien beruhenden und mit
philosophischem Ernst geschriebenen Buche viele gute Beobachtungen
von Kunst und Leben, aber recht willkürlich erscheinen mir die Wahl
und die Zusammenstellung der besprochenen Meister, insbesondere im
Hinblick auf die viel wichtigeren, die hier fehlen. Auch fordern die Ur-
teile oft unsern Widerspruch heraus.
Von der altchristlichen Kunst ausgehend und durch die byzantinische
hindurch hätte uns der Verfasser zuerst ins Mittelalter führen müssen,
um uns mit der ersten Formung und den frühesten stilistischen Wand-
lungen der christlichen Andachtsformen bekanntzumachen, ja auch
die vorchristliche Zeit hätte in den Kreis der Betrachtungen gezogen
werden müssen. Giottos Kunst mit ihren treuen Spiegelbildern wirk-
lichen seelischen Erlebens wäre dann als eine der zuverlässigsten Bilder-
quellen zu würdigen gewesen und ebenso die Kunst Fra Giovanni Angelicos
da Fiesole, der wie kaum ein anderer Künstler mittelalterliche Andacht
erlebt und geschildert hat. — Von Giotto ist aber gar nicht und von Fiesole
nur ganz beiläufig die Rede, während der weltliche Correggio, der manie-
rierte Guido Reni und der weichliche Murillo ausführlich behandelt sind,
erstere um deren Unzulänglichkeit in der Schilderung der Andacht dar-
zutun, letzterer um als Schilderer »eines heiligen Eros« über Gebühr ge-
rühmt zu werden. Wichtiger wäre eine Analysierung der Frührenaissance-
meister gewesen. Ihrer ist aber so gut wie gar nicht gedacht. Mantegna
z. B., der ein Kapitel für sich erfordert hätte, wird in Verbindung mit
Fra Filippo Lippi und van Eyck mit einigen Sätzen abgetan. Rogier
van der Weiden, Memling, Schongauer und die anderen herrlichen Früh-
niederländer und Altdeutschen fehlen ganz. — Unverständlich wie die
Beschränkung auf einige Meister der Hochrenaissance und Barockzeit
erscheint auch der das Kapitel Holbein einleitende Satz, nach dem dieser
der erste Meister sei, in dessen Werk ein inniges Verhältnis zu andächtigem
Leben sichtbar werde. Gewagt ist es, von einem unwahren Ausdruck
einiger Gestalten aus Raffaels Jugendzeit zu sprechen, wo höchstens
von Befangenheit die Rede sein kann, und nicht minder gewagt erscheint
es mir, von einer Aehnlichkeit zwischen Leonardos und Rembrandts
Andachtsschilderungen zu reden. Mir fehlt dafür das tertium compara-
tionis. Gut ist, was über Rubens pathetische Auffassung und machtvolle
Darstellung gesagt ist. Das Beste ist aber, was wir über Dürer als Meister
der inneren sittlichen Kraft und über Rembrandt als künstlerischen
Offenbarer von Seelentiefen zu hören bekommen. Verfasser hätte nach
Archiv für Religionspsychologie II/NI. 18
274 « III, Berichte und Besprechungen,
der ganzen Tendenz und Stimmung seines Buches gut getan, eine in
Rembrandts Kunst mündende Ikonographie der Andachtschilderung zu
geben und diese mit dem am Schlusse seines Rembrandtkapitels stehen-
den Wort zu betiteln: »Rembrandt, der unerreichte Meister der Andacht.«
+ P. J. Rée (Nürnberg).
‘Lic. Wilhelm Koepp, Einführung in das Studium der Religionspsycho-
logie. (104 S.) Tübingen “r920. J.C. B. Mohr (Paul Siebeck). 24 Mk.
Der Verfasser bietet sehr ähnlich wie Faber zunächst eine Ein-
führung in die bisherige Entwicklung in der Religionspsychologie und schil-
dert mit besonderer Ausführlichkeit die in der protestantischen Theologie
sich vollziehende Wandlung von einer psychologischen Durchdringung
der einzelnen Disziplinen zur Blüte einer eigenen religionspsychologischen
Arbeit (Heiler, Otto). Der zweite Teil erörtert das Verfahren in der »Re-
ligionspsychologie«, die Stofferhebung (mit eingehender Kritik der ex-
perimentellen Versuche) und die Stoffbearbeitung in Typenbildung und
religionspsychologischer Analyse. Die Schrift enthält im einzelnen manche
wertvolle und lehrreiche Stelle; mit Recht hebt Koepp z. B. die Not-
wendigkeit hervor, klar festzustellen, was eigentlich religionspsychologische
Analyse ist, und gibt beachtenswerte Winke was hier zu tun ist: die Aeuße-
rung religiösen Lebens von der Umwelt isolieren, ihre Eigenart heraus-
stellen, und das letzte religiöse Grundmotiv — das eigentliche Telos —
einer bestimmten Frömmigkeitsweise verstehen; dann erst kann die Ge-
samtstruktur eines religiösen Vorgangs begriffen und dieser selbst mit
verwandten Phänomenen verglichen werden. — Aber auch diese zweifel-
los besten Stücke der Schrift enthalten eigentlich nichts Neues. Alles was
Koepp über die Methode der Religionspsychologie sagt, ist für den Kreis
unseres Archivs selbstverständlich, vielfach ganz übereinstimmend mit
früheren Ausführungen u. a. von E. W. Mayer, Faber, Wunderle. So gerne
wir diese Zustimmung erfahren, so wenig vermögen wir einzusehen, warum
die gleichen Dinge immer wieder gesagt werden müssen. Zudem fehlt
dem Verf. die unentbehrliche umfassende Kenntnis der Literatur; er
schreibt — ohne diese Begrenzung zu begründen — über protestantisch-
deutsche und die in Deutschland bekannt gewordene amerikanische Re-
ligionspsychologie. Von der umfangreichen katholischen Literatur über
religionspsychologische Fragen sagt er kein Wort, während katholische
Religionspsychologen wie Wunderle sich sehr ernstlich um die Kenntnis
der protestantischen Religionspsychologie bemüht haben. Und die Be-
merkungen (auf S. 37) über italienische Arbeiten zeigen nur so viel, daß
der Verfasser die höchst wertvollen Untersuchungen z. B. der französischen
katholischen Religionspsychologen gar nicht kennt. Damit wird aber der
Wert der ganzen Schrift zweifelhaft; sie macht uns weder mit einer in
Deutschland bisher unbekannten religionspsychologischen Literatur be-
kannt (was sehr verdienstlich wäre) noch gibt sie neue Anregungen zu
praktischer Arbeit. Es geht wirklich nicht an, daß jeder, der sich in die
Reitzenstein, Die Hellenistischen Mysterienreligionen usw. 275
Religionspsychologie einarbeitet, von neuem eine Geschichte und Methodik
der Religionspsychologie veröffentlicht. Wann kommen die protestantischen
Theologen endlich einmal aus diesen ganz unfruchtbaren methodologischen
Programmen heraus zu irgendeiner praktischen Arbeit in der Religions-
psychologie ? W. Stählin (Nürnberg).
R. Reitzenstein, Die Hellenistischen Mysterien-
religionen nach ihren Grundgedanken und Wir-
kungen. Vortrag, ursprünglich gehalten in dem wissenschaftlichen
Predigerverein für ElsaB-Lothringen den II. Nov. 1909. 2. umge-
arbeitete Auflage. Leipzig und Berlin. B. G. Teubner 1920. 268 S.
M. 9, geb. M. 12.
Bereits die vor zehn Jahren erschienene I. Auflage des Vortrages ent-
hielt in den beigegebenen Exkursen und Anmerkungen eine Fülle des reli-
gionsgeschichtlich interessantesten Stoffes. Derselbe ist nunmehr wiederum
dank der Unterstützung, die‘ der früher in Straßburg, jetzt in Göttingen
wirkende Verfasser, seines Zeichens Philologe, durch die Orientalisten
Andreas, Lidzbarski, F. W. K. Müller, Le Coq und Sethe gefunden hat,
beträchtlich vermehrt worden. Unter hellenistischen Religionsformen
versteht er solche, in denen sich griechische und orientalische Elemente
mischen, wobei zu beachten ist, daß im Hellenismus nur griechische Philo-
sophie und orientalische Religiosität werbende Kraft besitzen und missio-
nierende Tätigkeit entfalten. Wir werden über die Verschiedenheit der
Mysterien belehrt, erfahren, welchen Reiz sie auf die Menschen der zur
Neige gehenden griechisch-römischen Zivilisation ausübten, wie sie sich
ausbreiteten, vermischten und gegenseitig duldeten. Das Bedeutsame
dabei ist, daß wir die geistige Umwelt kennen lernen, in die sich das Pau-
linische Christentum einsenkte. Bei aller Originalität und Selbständigkeit
hat sich Paulus doch keineswegs eine besondere Psychologie und eine
dazu gehörige Geheimsprache zurechtgezimmert, sondern das Griechisch
seiner Zeit gesprochen. Darum kann uns die Wortgeschichte, wenn sie
sich zu einer Geschichte der Begriffe vertieft, reichen Aufschluß über
Probleme geben, denen wir auf keinem anderen Wege nahekommen können.
Denn so wenig sich das Empfinden aus einer fremden Religion ın die
eigene überträgt, so wird es uns doch ım einzelnen begreiflicher, wenn
wir ähnliches in der Zeitstimmung nachweisen können. Was wir Theo-
logen vergeblich aus dem Zusammenhang des Paulinischen Christentums
mit dem Judentum nachzuweisen suchten, das wird uns in seiner formalen
Verwandtschaft mit Vorstellungen und Gebräuchen der Mysterien ver-
ständlich oder wenigstens ‘verständlicher. Vieles, was wir lediglich als
sprachliches Bild auffaßten, wie das Gestaltgewinnen des Christus im
Menschen, das Anziehen des Christus, die Selbstbezeichnung des Paulus
als eines Gefangenen des Christus, nicht weniger manches in der Sakra-
mentslehre usw. gewinnt einen konkreten Hintergrund und von den ın
18*
276 III. Berichte und Besprechungen.
reicher Fülle erscheinenden Analogien fällt unerwartetes, oft befremdendes,
öfter klärendes Licht auf die religiöse Vorstellungswelt des Apostels,
wenn wir vielleicht auch zaudern, ihn mit dem Verf. als den größten aller
»Gnostiker« zu bezeichnen. Jedenfalls sehen wir, wie sehr er den Hellenen
ein Hellene geworden ist. Ja es waren nicht zuletzt die ihm aus der helle-
nistischen religiösen Literatur zufließenden Gedanken, die ihn unmerklich
zunächst von der Tradition befreiten, die sich in der Gemeinde auf jüdischem
Boden zu bilden begonnen hatte, und ihm das Bewußtsein der Freiheit
erringen halfen, die für ihn nun überall ist, wo der Geist des Herrn ist.
»Mag unendlich viel in seinem Empfinden und Denken jüdisch geblieben
sein, dem Hellenismus verdankt er den Glauben an sein Apostolat und
seine Freiheit. Hierin liegt die größte und für die Weltgeschichte be-
deutsamste Wirkung der antiken Mysterienreligionen.«
Mir ist bei der Lektüre des Buches der Gedanke aufgetaucht, ob
nicht wie auf die Paulinischen Briefe, so auch auf das Johannesevangelium
einmal ein »Licht vom Östen« fallen werde. Es ist bekannt, daß der Be-
richt über die Auferweckung des Lazarus (Joh. 11) bisher ein ungelöstes
Problem war. Nehmen wir die Erzählung, wie sie lautet, als Historie,
dann ist es unbegreiflich, weshalb die vorangehenden Darstellungen des
Evangeliums über diese größte und in der Tragödie Jesu die Peripetie
bildende Wundertat völlig schweigen konnten. Nun erfahren wir z. B.
aus dem Bericht des Apuleius über seine Einweihung in die korinthischen
Isismysterien, daß dieselbe in einem freiwillig gewählten Tod und einem
aus Gnaden gewährten neuen Leben bestanden habe. An der Hand des
Oberpriesters ging Apuleius in das Adyton hinein zu der eigentlichen
Weihe, von der er nur verrät, daß er bis über die Schwelle der Totenwelt
gekommen, durch alle Elemente gewandert und zum Licht zurückgekehrt
sei. Es liegt nicht außer dem Bereich des Möglichen, daß der Tod des
Lazarus nicht ein rein natürlicher, sondern ein mystischer gewesen sei
und die Entrüstung der Priester in Jerusalem dem Verhalten Jesu ge-
golten habe, durch das etwas der Oeffentlichkeit preisgegeben worden
wäre, was nach ihrer Meinung als strenges Geheimnis hätte gewahrt werden
müssen. Bekanntlich hat Rudolf Steiner in seinem Buch »Das Christentum
als mystische Tatsache« vor zwanzig Jahren bereits diese Lösung des
Lazaruspr ‚blems gegeben. Nach der Erzählung des Apuleius scheint min-
destens festzustehen, daß in den hellenistischen Mysterienreligionen ein
Ueberschreiten der Schwelle des Totenreiches und die Rückkehr zum
Licht nicht nur ein Gegenstand des Glaubens, sondern der persönlichen
Erfahrung gewesen wäre.
Reitzensteins Buch ist als die Arbeit eines Philologen von der Theo-
logie nicht in dem Maße, als es der Neuheit seines Inhaltes und der Ge-
diegenheit seiner Methode entspricht, gewertet, nachgeprüft und nutzbar
gemacht worden. Religionspsychologisch gehört es zu den Quellenschriften
ersten Ranges, obwohl es rein philologisch-historisch orientiert ist. Denn
sein Inhalt tordert ebensosehr zu psychologischer Bearbeitung auf, wie er
Dr. Hermann Beckh, Buddhismus (Buddha und seine Lehre). 277
zu sonst beobachteten religionspsychologischen Erscheinungen die lehr-
reichsten Analogien und Parallelen darbietet.
Christian Geyer (Nürnberg).
Dr. Hermann Beckh, Privatdozent an der Universität Berlin,
Buddhismus (Buddha und seine Lehre), I. Einleitung. Der
Buddha, II. Die Lehre. Berlin und Leipzig, Vereinigung wissenschaftl.
Verleger. Sammlung Göschen, 2. Aufl. 1919 und 1920. 147 S. und
142 S. Preis je M. 4.20.
Es ist sicherlich nichts Alltägliches, daß in zwei bescheidenen Bänd-
chen einer der vielen Universal-Büchereien eine Arbeit über den Buddhis-
mus veröffentlicht wird, die so ziemlich alles, was bisher in Deutschland
über dieses viel behandelte Thema geschrieben wurde, zu antiquarischer
Literatur macht. Der Fehler, den die früheren Darsteller und Beurteiler
dieses indischen Religionssystems machten, war, daß sie dem Dogma
der herrschenden Psychologie von der an allen Orten und zu allen Zeiten
sich im wesentlichen gleichbleibenden Struktur des menschlichen Be-
wußtseins zu sehr trauten und darum einem Weg, der gerade über das
gewöhnliche Bewußtsein hinaus zu einem Ueberbewußtsein führen wollte,
ohne Verständnis gegenüberstanden. Hier lesen wir dagegen gleich auf
der ersten Seite den im besten Sinne des Worts revolutionierenden Satz:
»Aber so viel steht fest, daß er (Buddha) nach Jahren angespannter Ver-
senkung und innerer Kämpfe geistige Erlebnisse hatte, die er als den
entscheidenden Wendepunkt seines Lebens ansah. Er nannte sich von
nun an Buddha, d. h. den Erleuchteten oder Erwachten, den, der nicht
mehr schläft, der ein Wissen, ein Bewußtsein erlangt hat, gegen welches
die Alltagserkenntnis, das Bewußtsein der gewöhnlichen Menschen, nur
ein Träumen, ein Schlaf des Irrtums, des Nichtwissens ist.« Irrten Schopen-
hauer und Richard Wagner darin, daß sie den Buddhismus als eine Vor-
wegnahme des modernen Pessimismus auffaßten, so war es vollends der
deutschen Gelehrsamkeit vorbehalten, in ihm ein rationalistisches System
und eine atheistische Moralphilosophie zu erblicken, so ziemlich die größte
Verkennung, die überhaupt möglich war. Allein auch die begeisterten
Vertreter des Buddhismus, die ihn uns als Religion zur Annahme an Stelle
des Christentums empfahlen, verkannten ihn und zugleich die von der
indischen völlig verschiedene Denk- und Empfindungswelt des Abend-
landes, die wohl eine Befruchtung durch ihn, keinesfalls aber seine Adop-
tion als möglich erscheinen läßt.
Für den ursprünglichen Buddhismus ist die Person Buddhas ohne
wesentliche Bedeutung. Hier gilt sein Wort: »Die Norm, die ich euch
gelehrt habe, die ist euer Meister, wenn ich hingegangen bin.« Erst als
das neue Ideal hervortrat, nicht nur selbst ein Heiliger (Arhat) zu werden,
sondern für die Erlösung und Vervollkommnung aller Wesen zu arbeiten,
-
278 III. Berichte und Besprechungen,
wurde hiefür der Buddha, der die befreiende Erkenntnis — nach schwerem
Entschluß — der Welt geoffenbart hatte, das begeisternde Vorbild.
Die Legende Buddhas ist nicht nur, wie auch sonst der Mythus auf-
gefaßt wird, die Hülle tiefer Gedanken, sondern wirkliche Geschichte.
Es scheinen hinter ihr Eriebnisse zu stehen, nur daß sie solche eines höheren
Bewußtseins sind. Ihr Schauplatz ist nicht die materielle Welt, sondern
eine höhere Region. Die Vorgänge in dieser werden nicht mit leiblichen
Augen gesehen, sondern mit Seelenorganen geschaut. Wir nehmen als
Beispiel die Erzählung vom Kampfe Buddhas mit Mara. In dieser Ver-
suchungsgeschichte ist wohl ebensowenig wie ın der neutestamentlichen
Parallelerzählung nur etwa ein inneres Erlebnis, ein Seelenkampf, in
äußeren Bildern dargestellt. Vielmehr ist anzunehmen, daß das Erlebnis
selber bereits imaginativ gewesen sei, so daß wir es also mit dem Bericht
eines wirklichen, wenn auch nicht physischen Vorganges zu tun hätten.
Auf diesen Kampf mit Mara folgt nach der Legende die Erleuchtung. Wir
haben uns diese so vorzustellen, daß sich bei Buddha durch Konzentration
und Meditation seelische Organe gebildet haben, mit denen er die Wesen
auf ihrer Wanderung sieht, wie sie entweder nach dem Erdenleben in
Qual versinken oder zu einem höheren Dasein emporsteigen, alsdann seine
eigenen früheren Inkarnationen überblickt und endlich das Geheimnis
des Leidens und die zwölffache Ursachenkette durchschaut. Als ihn nun-
mehr Mara zum Eintritt ins Paranirwana auffordert, weist er ıhn zurück.
Denn das Mitleid mit den den Lotusblumen gleichenden Menschen, die gerade
die Oberfläche des Wassers erreichen, ohne sich über den Seespiegel er-
heben zu können, bestimmt ihn, auf der Erde zu bleiben und zu lehren.
Seine Lehre heißt der mittlere Pfad, weil er ebensosehr von Sinnenlust
als von Selbstqual entfernt ist. Die vier Wahrheiten vom Leiden aus der
Predigt von Benares (Was ist das Leiden? Woher kommt das Leiden?
Wie wird das Leiden vernichtet? Welches ist der Weg dazu?) münden
eben in diesen mittleren Pfad. Das heißt, seine Lehre ist nicht Offenbarung
von Geheimnissen, die nur er selbst gesehen hätte, sondern die Beschrei-
bung des Weges, der jeden, der ihn geht, zur schauenden Erkenntnis
führt. Mit anderen Worten: der Buddhismus ist durchaus Yoga, d. h.
Aufzeigung der Methoden der Konzentration und Meditation, durch die
man in den Besitz eines übersinnlichen Bewußtseins gelangt, in dem man
alsdann selbst alles das sieht was Buddha auch gesehen hat. Erst von
dieser grundlegenden Einsicht in das Wesen des Buddhismus als Yoga
aus wird das Schweigen Buddhas über Gott und göttliche Wesenheiten,
über den Hımmel und die Hölle verständlich. Es ist nur darum gleich-
gültig, ob jemand darüber diese oder jene Meinung hat, weil alles daran
liegt, daß die Augen des Schülers für die göttlich-geistige Welt aufgetan
werden. Er gibt nur deshalb keine Metaphysik und Theorie, weil er den
Menschen zum Selbersehen verhelfen will. Wie dieser Yoga-Weg im
einzelnen aussieht, das muß man bei Beckh selbst nachlesen. Während wir
an Kant geschulten Abendländer meinen, es sei unser Schicksal, beim
Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 279
Denken stehen bleiben zu müssen, sehen wir staunend zu, wie die Inder
über das Denken hinaus zu einem höheren und immer wieder höheren
Bewußtsein aufsteigen.
Damit zerfällt der vermeintliche Pessimismus Buddhas in Asche und
Staub. Nur die physische Welt ist trüb und armselig, aber das Nirwana
ist ein wirklicher Himmel und man kann den ganzen Buddhismus in den
Worten des christlichen Liederverses wiederfinden:
»Mach immer süßer mir den Himmel,
Und immer bittrer diese Welt!«
Das ist aber so wenig Pessimismus, daß man vielmehr von einem religiösen
Optimismus ausgeprägtester Form reden muß.
Beckh wäre wohl kaum imstande gewesen, uns die Erhebung vom
Glauben und rechten Verhalten zur Meditation, von dieser zur Erkenntnis
und von dieser zur Befreiung des Entwerdens so anschaulich zu beschreiben,
wenn er nicht durch die eindringende Beschäftigung mit der Steinerschen
Anthroposophie in der Gegenwart den Schlüssel zum Verständnis dieses
einer früheren Entwicklungsstufe des menschlichen Geisteslebens ent-
sprechenden »mittleren Pfades« gefunden hätte. Nun wird es umgekehrt
manchem Leser möglich sein, sich aus dem, was der Geschichte angehört,
ein Bild zu formen von der Geistesschulung, die heute auf viele Menschen
eine so große Anziehungskraft ausübt.
Christian Geyer (Nürnberg).
Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Ge-
schichte im Abendlande. I. Band: Einleitung. Erstes
Buch: Teufelsfurcht und Aufklärung im sogenannten Mittelalter. 658 S.
II. Band: Zweites Buch: Entdeckung der Natur und des Menschen. —
Lachende Zweifler. — Niederlande, England. 593 S.!).
Mit großen Erwartungen bin ich an das breit angelegte Werk — ein
III. Band steht noch aus — herangetreten. Entsprechend dem reichen
Ertrag der Pathopsychologie, den aus der Erforschung krankhafter Seelen-
zustände und -erscheinungen gewonnenen psychologischen Einsichten
könnte eine tiefgrabende Erforschung des Atheismus in seinen geschicht-
lichen Erscheinungsformen außerordentlich wertvolle Beiträge zur Kennt-
nis und zum psychologischen Verständnis des Gottesglaubens liefern.
Darüber hinaus stellt der Atheismus selbst eine — so viel ich sehe — noch
nirgends ernsthaft erkannte religionspsychologische Aufgabe;
den »Atheismus« aufzuzeigen als den Sammelnamen für eine ganze Reihe
von untereinander wesentlich verschiedenen Einstellungen und Reaktionen
auf die uns umgebende Wirklichkeit, Weltdeutungen oder Verzichten auf
Weltdeutung, die untereinander nichts anderes gemeinsam haben als den
Gegensatz zu einer irgendwie gearteten oder überhaupt zu jeder Gottes-
1) Die Besprechung bezieht sich im wesentlichen auf den I. Band; von
dem kürzlich erschienenen II. Band konnte ich erst flüchtig Einsicht nehmen.
280 III, Berichte und Besprechungen.
vorstellung, das wäre in der Tat eine lohnende Aufgabe religionspsycho-
logischer Analyse. Es würde sich vermutlich zeigen, daß neben dem
strengen und eigentlichen »Atheismuse, dem Verzicht auf Tiefenschau
und Sinndeutung der Welt und des Lebens überhaupt sich hinter dem
gleichen Namen eine kritische Einstellung verbirgt, die hinter dem Gottes-
glauben den »auf die Einzahl reduzierten Polytheismus« wittert und darum
nicht »an einen Gott zu glauben« vermag, weil sGott« doch nur edie Ein-
zahl des Plurals Götter« ist; und es würde endlich aus alledem die
ganz wesentliche Frage sich erheben, ob es nicht einen Typus des Fromm-
seins gibt, der überhaupt nicht gegenständlich gerichtet, nur sfaith«, aber
nicht »belief« ist, und darum zum Gottesglauben überhaupt nicht Stellung
nimmt. Der Umstand, daß positiv und negativ (»Gotte — »Atheismuse«)
die gleichen Wortsymbole, sei es aus innerer Notwendigkeit, sei es aus dem
Bedürfnis nach Anpassung an Rede- und Denkweise der Umwelt, für so
grundverschiedene Erlebnisarten gebraucht werden, macht diese Aufgabe
notwendig, reizvoll und schwierig zugleich. Wer nun mit solchen Erwar-
tungen an das Mauthnersche Werk herantritt, erlebt notwendig eine
Enttäuschung; denn diese Aufgabe zu lösen hat sich Mauthner gar nicht
vorgenommen. Was er bietet, ist eine Registrierung und Analyse aller
gegen Kirche und Dogma kritischen, »freigeistigen« Bestrebungen und
AeuBerungen innerhalb der »abendländischen«, d. h. der christlichen
Geistesgeschichte. Mit breitester Ausführlichkeit wird begründet,
warum die entsprechenden Entwickelungen innerhalb der Antike,
wo der Begriff des Atheismus (Sokrates!) einen völlig anderen Sinn
hat, von der Betrachtung ausgeschlossen bleiben. Die Geschichte der
Befreiung von der Gottesvorstellung wird dann im ersten Band von
der alten’ Kirche durch das ganze Mittelalter geführt, zu dem auch die
Reformation durchaus noch zu rechnen ist; der Einfluß der arabischen
Philosophie, die hinter der äußeren Hülle scholastischer Denk- und Aus-
drucksweise sich vollziehende Auflösung des »Glaubens«, die »Gott-losig-
keit« geistlicher und weltlicher Herrscher, vornehme Skepsis (wie bei
Erasmus) und freiheitliche Ansätze bei innerster Gebundenheit (wie bei
Luther) sind einige Farben aus dem bunten Bild. Der zweite Band schildert -
das Emporkommen einer völlig veränderten Geistigkeit und Weltbetrach-
tung durch die Entdeckung der »Natur« und des »Menschene, und führt
durch alle Einzelformen der englischen deistischen Philosophie. Der
noch nicht erschienene dritte Band soll die Darstellung — unter der not-
wendigen Beschränkung auf Typen — bis zur Neuzeit weiterleiten, die
spezifische Gottlosigkeit der ganzen modernen Literatur aufzeigen und
das Aufkommen und die innere Befreiung des Proletariats in ihrer Be-
deutung für den endgültigen »Tod Gottes« deutlich machen. Dies weite
Gebiet wird mit einer erstaunlichen Belesenheit, mit einer erdrückenden
Fülle von biographischen und literarischen Einzelheiten und jener Schärfe
dialektischer Kritik, in der Fritz Mauthner Meister ist, durchschritten.
Unzählige Einzelstriche lassen kulturgeschichtliche Zusammenhänge ahnen,
Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 281
scharfsinnige und oft boshafte Charakteristik läßt Päpste und Mönche,
Dichter und Naturforscher vor uns lebendig werden. Man kann sicher im
einzelnen sehr viel Anregüng und Belehrung schöpfen aus diesen Notizen,
deren Richtigkeit freilich nur der Fachmann nachprüfen kann. Man be-
sinnt sich, warum das Ganze so durchaus unbefriedigend und — um es
in aller Schärfe zu sagen — uninteressant ist. Das liegt nur z. T. an der
unerträglichen Breite der Darstellung, die sich in geschwätziger Mitteilung
ungezählten Kleinkrams immer wieder verliert und es nicht fertig bringt,
große Linien aufzuzeigen und aus tausend Strichlein ein Bild zu gestalten;
man fragt sich ärgerlich, was denn die persönliche Leichtfertigkeit einzelner
Kardinäle und die innerliche Unaufrichtigkeit unzähliger Theologen oder
die werbende Kraft des Geldes in Reformation und Gegenreformation
mit der Geschichte des Atheismus zu tun hat, und ob es, wenn man von
der geistigen Befreiung des Abendlandes berichten will, dazu gehört,
daß man mit einer unverkennbaren Freude an Klatsch und kleinen Skan-
dälchen Seiten um Seiten füllt. Der ganze journalistische Plauderton,
der durch geschmacklose Witze gewürzt ist (die Behauptung, daß die
Seele unsterblich ist, sei genau so richtig oder unrichtig wie die andere,
daß der Teufel viereckig sei), ist dem Ernst einer eindringenden Unter-
suchung und der Größe des Gegenstandes gleich unangemessen. Aber der
Mangel ist tiefer begründet. Mauthner ist zwar dem materialistischen
ebenso wie dem theologischen Dogmatismus und jedem »Wortaberglauben«
abhold; aber der feine Skeptizismus, der aus jeder Seite seines Buches
spricht, läßt ihn doch notwendigerweise ganz einseitig jene logische Klar-
heit und philosophische Resignation, wie sie den großen »Freigeisterne
eignete, als Spuren geistiger Befreiung ansehen. So wird vielfach flachste
Aufklärung und Religionskritik zum Maßstab für die geistige Größe eines
Menschen; es ist ungemein bezeichnend, wie stark in der glänzenden Dar-
stellung des Verhältnisses zwischen Luther und Erasmus des Verfassers
Liebe dem Erasmus gehört, eben darum, weil er mit überlegen spöttischer
Geste im Grund hilflos ungläubig den Dingen gegenüberstand, um die
seine Zeitgenossen stritten. Diese kritische Dialektik, für die Okkultisten,
Spiritisten, Theosophen u. dgl. zu einer massa perditionis gehören,
kommt aber eben gerade an die Dinge gar nicht heran, die uns allein
interessieren. Darum ist dies Werk eines erstaunlichen Fleißes, durchaus
geistreich, doch nicht geistvoll, im Grunde unerfreulich, und sein Ertrag
lohnt nicht den Aufwand an Zeit und Kraft.
| W. Stählin (Nürnberg).
282
VI. Kleine Anzeigen.
AugustMesser,Psychologie
(Das Weltbild der Gegenwart, heraus-
gegeben von Karl Lamprecht und
Hans F. Helmolt, Band 13). Stutt-
gart, Deutsche Verlagsanstalt, 1914.
(395 S.)
Zu diesem Band dirfen und sollen nun
alle diejenigen greifen, die nicht nur die
formalen Ergebnisse der experimentellen
Psychologie erfahren, sondern die einen
Eindruck davon gewinnen wollen, um
was es sich bei der heutigen psycho-
logischen Arbeit cigentlich handelt, und
an welchen Punkten (Kategorien, Denken
u. 4.) sich tiefgreifende Wandlungen voll-
zogen haben und erst recht noch voll-
ziehen. Ueberall führt Messer in meister-
hafter Klarheit ein in die heute verhan-
delten Fragen und läßt, wenn er auch
hier die Religion als solche nicht be-
sprochen und analysiert hat, doch ahnen,
wie aus den neuen psychologischen
Grundgedanken auch neue Wege zum
Verständnis des religiösen Lebens sich
eröffnen. St.
Gertrud Bäumer und Lili
Droescher, Von der Kindes-
secle, Beiträge zur Kinderpsychologie
aus Dichtung und Biographie. R. Voigt-
landers Verlag, Leipzig. 6 Mk., geb.
7 Mk.
Dieses Buch ist fir Padagogen im
weitesten Sinne bestimmt, für Lehrer
und Mütter und als Grundlage des
psychologischen Unterrichts im beson-
deren. Wer Kinder erziehen will, muß
si? zuvor verstehen. Die Scele des Kindes
ist aber von eigenartiger Struktur, und
ihr Verständnis muß errungen werden.
Deshalb bildet die Kindespsychologie
(wie ich statt Kincerpsychologie zu sagen
vorziche und vorschlage), eine Wissen-
schaft, die Anspruch auf ein Sonderrecht
neben der allgemeinen Psychologie erhebt.
Wie nun diese sich neben der direkten
Beobachtung und dem Experiment eine
neue Art von Quellen erschlossen hat,
indem sie Biographien und dichterische
Erzeugnisse aller Art studiert, so tut es
auch die noch jung neben ihr stehende
Kindespsychologie.
Dr. G. Bäumer und L. Droescher ha-
ben mit Hilfe der Schülerinnen des
Pestalozzi-Fröbelhauses in Berlin eine
große Anzahl von Biographien, Erzäh-
lungen, Romanen daraufhin durchge-
sehen, wie man sie als Quellen für die
Kindespsychologie ausschöpfen kann. Sie
haben charakteristische, mehr und weniger
wertvolle Stücke aus ihnen gesammelt,
gesichtet und als Material abgedruckt.
Diese Sammlung bietet uns aber keine
Psychologie des Kindes, sondern sie ist
eine Ergänzung des Kindes-
lebens im geschriebenen
Wort, geschrieben, um die psycho-
logische Beobachtung zu bereichern und
zu vertiefen; freilich ist sie nicht, wie die
Verfasserinnen wähnen, »das Kindesleben
selbste, doch lenkt sie den Psychologie-
unterricht auf das Kindesleben selbst hin.
Das ist berechtigt und für Seminare be-
sonders passend, denn angehende Lehrer
und Lehrerinnen sollen das einzelne Kind
richtig beobachten lernen, auf die viel-
seitigen psychischen Erscheinungen auf-
merksam werden. Schon hier könnte ein
starker Einwand erhoben werden, Die
Lehrer und Lehrerinnen haben eigentlich
nur mit dem Kinde sozusagen des täglichen
Lebens, mit dem Durchschnittskinde, zu
IV. Kleine Anzeigen.
283
tun; und doch sollen die Biographien und | Art Experiment mit Gottes Allgegenwart
Selbstbiographien bedeutender Menschen
verschiedenster Zeit sowie die durch Dich-
tung idealisiertten Menschenbilder als
Quelle des Studiums dienen. Ist das
methodisch richtig? M. E. ja, aus dem
einfachen Grunde, daß an den Erfah-
rungen des innerlich reichen und vorbild-
lichen Menschen oder Menschentypus
mehr zu beobachten und zu lernen ist,
als an dem Durchschnittsleben, dessen
Aeußerungen psychologisch fruchtbarer
sind. Das Argument für die Methode
der allgemeinen Individualpsychologie
wird auch auf die Kindespsychologie zu-
treffen,
künstlerisch und das psychologisch wert-
volle Material meistens zusammenfällt.
Damit wird die Methode wesentlich ge-
stützt.
So ist denn hier sein Archiv solcher
Individualpsychologie des Kindese zu-
sammengestellt worden. Die einzelnen
Stücke stehen unvermittelt nebeneinander
und mußten auch aus dem literarischen
Zusammenhang herausgerissen werden,
was freilich die Benutzung stört. Die
Verfasserinnen haben damit gerungen, die
Fülle des Stoffs unter Rubriken zu ord-
nen und einer systematischen Teilung
der Psychologie einzugliedern. Doch hat
sich das Material dagegen gewehrt.
Ueberschrift, Rubrik und Motto könnten
ebensogut anders lauten, nichts ist bin-
dend. Dieselbe psychische Erscheinung
wird uns an möglichst verschiedenen Bei-
spielen vorgeführt.
So wird der Analysis einzelner Fälle
und ihrer Vergleichung untereinander der
Weg geöffnet. Daraus in persönlichem
Unterricht das allgemein Psychologische,
das Gesetzliche in der Kindespsychologie
abzuleiten, wäre Aufgabe des Lehrers.
Die Methode wird wertvoller sein als das
Auswendiglernen aus dem psychologischen
Lehrbuch. :
Für die Religionspsychologie finden
wir reiches Beobachtungsmaterial. Wir
hören von religiösen Zweifeln des Kindes
in verschiedener Form, von Zweifeln an
Gottes Fürsorge oder Allgegenwart; wir
können studieren, wie der 6jährige Goethe
zum Problem der Theodizee allen Ernstes
kommt, wie im „Grünen Heinrich‘ die
Zweifel auftauchen, indem das Kind eine
Es gibt zu denken, daß das|
vornimmt, Scheltworte über Gott aus-
rufend, um darauf Verzeihung von ihm
zu erbitten. Wir können die Gedanken
des Kindes genau verfolgen, das durch
Gewitter ein inneres Verhältnis zu Gott
gewinnt, wenn wir Hebbels Kindheits-
erinnerungen lesen. Wir lernen, wie die
Vorstellung von Gott oder vom Christ-
kind psychologisch entsteht, oder auf
welche Art das kindliche Gemüt Gott
verchren will (Goethe und Gorki).
Dr. Roland Schütz (Kiel.)
Erich Kinast, Beiträge zur
Religionspsychologie, Lic.-
Dissertation. 183 S. Erlangen, Junge
1900,
Eine Schrift aus dem Jahre 1900, d. h.
eine Prophetenstimme und Weissagung!
Ihre Lektüre bietet begreiflicherweise
keinen geringen Reiz; denn unwillkürlich
drängt sich der Vergleich auf mit dem,
was inzwischen erreicht worden ist. Die
Lektüre bietet aber auch heute noch blei- |
benden Gewinn. Zwar in verschiedenen
Punkten ist der Aufriß des Programms
noch unsicher. Indessen ist’s ein ge-
sunder Ansatz — so ganz anders als
allerneueste religionspsychologische Pro-
gramme, die wir scharf von unserer
Schwelle weisen müssen. Vor allem
aber ist es eine ungemein gediegene Ge-
lehrtenarbeit, reich an Gedanken, Nach-
weisen, Ueberblicken, auf jeder Seite be-
lehrend und von eminenter Belesenheit
zeugend. Ich kenne kaum einen so um-
fassenden Nachweis der älteren Literatur,
der aus Theologen und Philosophen zu-
sammengetragen werden mußte, während
die sich so nennende religionspsychologi-
sche Literatur erst im Entstehen begriffen
war. Daserste Kapitel enthält cine Recht-
fertigung der Religionspsychologie gegen-
über mannigfaltigen Vorurteilen. Das
zweite bahnt die eigentliche Untersuchung
an, indem es von psychologischen Lohn- ©
sätzen handelt. Das dritte bis fünfte
bespricht die religionspsychologische Be-
deutung von Vorstellung, Gefühl, Wille
und Gewissen. Ostertag.
Konrad Eilers, Religiens-
kunde auf historisch-phi-
losophischer Grundlage,
284
1. Teil: Allgemeine Religionskunde,
Berlin, Reuther u. Reichard, 1914,
191 S. 4 Mk., geb. 4.80 Mk.
Aus der pädagogischen Praxis heraus-
gewachsen will dieses Lehrbuch wiederum
der Praxis dienen, Die Disziplin der Re-
ligionskunde im Sinne des Verfassers
handelt von Religion und Religionen und
entnimmt ihren Stoff aus Religions-
geschichte, Religionsphilosophie, Reli-
gionspsychologie. Als Lehrbuch quali-
fiziert sich diese »Religionskunde« vor
allem dadurch, daß sie den Vorzug hat,
knapp, klar, übersichtlich, stoffreich, zum
Nachschlagen und zur Selbstbelehrung
gut geeignet zu sein. Dies gilt ganz be-
sonders auch von den gelegentlichen Par-
tien religionspsychologischer Art. Am
Schluß bietet der Verfasser ein dankens-
wertes Literaturverzeichnis (allerdings
durchaus nicht etwa rein religionspsycho-
logischen Charakters), sowie ein umfas-
sendes Namen- und Sachregister.
Ostertag.
K. Herzog, Ontologie der re-
ligiösen Erfahrung, Speku-
lativer Beitrag zur Metaphysik der Re-
ligionspsychologie. Leipzig, Deichert-
Scholl, 1914, 279 Seiten, 7.— Mk.
Metaphysik und Psychologie — der
empirische Psychologe wird mit Mig-
trauen von dieser Paarung hören, so cha-
rakteristisch sie auch für die gegenwär-
tige Forschung ist, und für seine eigene
Wissenschaft fürchten. In der Tat ist
die ganze Anlage des vorliegenden Wer-
kes durchaus spekulativ-ontologisch-meta-
physisch. Der Verfasser gruppiert seine
Untersuchung in zwei große Teile, erstens
die absolute religiöse Erfahrung oder die
ewige Selbsterfahrung Gottes und zwei-
tens die relative religiöse Erfahrung oder
die zeitliche Selbsterfahrung Gottes. Der
erste Teil als Ganzes und der zweite in
seinen beiden ersten Dritteln enthält
Metaphysik, und zwar zeigt sich hier be-
reits ganz deutlich des Verfassers origi-
nale Kraft. Es ist eine ungewöhnliche
Gabe, die uns der Verfasser mit seinem
Buche darreicht. Auf das Ganze ge-
sehen, scheint mir dreierlei besonders be-
merkenswert: seine starke Ader schrift-
stellerischer Art, seine starke Ader speku-
lativer Art und_ endlich seine starke
IV. Kleine Anzeigen,
Ader religiöser Innerlichkeit. Indessen,
für den Psychologen ist erst das letzte
Drittel des zweiten Teiles von Interesse.
Es behandelt die religiöse Erfahrung des
Menschen, aber wohlgemerkt auch wieder-
um in metaphysischer Einstellung und als
Glied der Bewegung göttlichen Lebens,
Hier spricht der Verfasser zuerst von der
Stabilität der religiösen Erfahrung, d. h.
von dem religiösen Ich und dem religiösen
Gewissen. Daran reiht sich eine Be-
trachtung der Labilität der religiösen Er-
fahrung und hier wird ihr zeitlicher Ver-
lauf entwickelt. Der Anfangspunkt, der
Kontaktschluß mit dem Göttlichen, das
eine Extrem liegt vor in dem originalen
religiösen Gefühl. Daran reiht sich als
Uebergang die religiöse Phantasie, In
der Mitte steht als Gleichgewicht und
weiterer Schritt zur Aeußerlichkeit der
religiöse Sinn oder Verstand. Dazu tritt
endlich als Gegenextrem, als Inbegriff der
Aeußerlichkeit, als Abschluß der Bewe-
gung der »bloßes religiöse Wille mit
seiner harten, kalten, brutalen, mechani-
schen Art. Diese Stufen der Entwick-
lung lassen sich wie bei den Einzelnen,
so hun auch weiterhin im G-oGen nach-
weisen. In einer Art sozialpsychologi-
scher Untersuchung erbringt der Ver-
fasser diesen Nachweis bei der Kirchen-
geschichte. Damit sind wir am Ende an-
gelangt, und es kann nunmehr über den
spekulativen Charakter der ganzen Dar-
legung kein Zweifel mehr bestehen. Eine
Abgrenzung zwischen Psychologie und
Metaphysik, die wir gern unterschreiben
würden, ist S. 130 gegeben, spielt aber
weiter keine bestimmende Rolle. Und
trotz alledem möchte ich gerade vom
psychologischen Standpunkt aus Herzogs
Buch den Lesern des Archivs bestens
empfehlen. Was es enthält, bietet uns
starke psychologische Werte — nicht
sowohl in Form psychologischer For-
schung, sondern in Form des Selbst-
zeugnisses. Und als Inhalt des Bewußt-
seins, das untersucht werden soll, nicht
als Richtpunkt der Untersuchung selbst
hat ja Metaphysisches seinen Platz auch
innerhalb der Religionspsychologie. Was
der Verfasser über Gefühl, Phantasie,
Sinn und Wille sagt, zeugt von einer sol-
chen Originalität und Kraft eines von
religiöser Glut erfaßten Gemütes und ist
IV, Kleine Anzeigen,
zugleich mit solch plastischer Anschau-
lichkeit und eindrucksvoller Wucht der
Sprache vorgetragen, daß es als wert-
voller Beitrag zur Phänomenologie und
Rythmik des religiösen Bewußtseins zu
gelten hat,
Ostertag.
Peter Lippert, S. J, Zur Psy-
chologie des Jesuitenor-
dens, Kempten-München, Kösel’sche
Buchhandlung, 1912, 28 S., 1.80 M.
Das Büchlein ist ein Versuch, »die
psychologischen Grundkräite zu beschrei-
ben, die den Jesuitenorden geschaffen
haben, und ihn immerfort von neuem
erzeugene. Aber weil es ja in der Wirk-
lichkeit niemals gelingt, ein ursprüng-
liches Ideal ganz rein und unverfälscht
zu verkörpern, so kann man »den Cha-
rakter des Ordens nicht einseitig und ent-
scheidend aus seiner Geschichte heraus-
lesen; die Frage ist vielmehr, wie der
Orden gedacht, gewollt, geplant ist; wel-
ches das Grenzideal ist, dem er zustreben
muß, solange er noch sich selbst treu
bleiben wille. Es ist also das Idealbild
des Jesuitenordens, wie es in der Seele
eines Jesuiten lebt, was uns gezeigt wird.
Man kann darüber im Zweifel sein,
ob die Herausarbeitung eines Idealbildes
eine mögliche Aufgabe psychologischer
Untersuchung ist. Eine psychologische
Darstellung eines Idealbildes haftet, so
viel ich sehe, an einer doppelten Be-
dingung. Es muß uns das Idealbild al;
ein wirkliches und wirksames Element
in dem Leben einer Seele gezeigt werden;
wir müssen es spüren können als den
. Nerv, der bei allen Regungen dieser Seele
empfindsam und aktiv mit beteiligt ist,
als die Richtung, in der sich ihre Entwick-
lung bewegt. Zugleich aber muß uns
das Idealbild selbst als eine geschlossene
seelische Zuständlichkeit, als ein einheit-
liches behaviour erscheinen, das, von
einem Zentrum aus bestimmt, in allen
seinen Erscheinungsweisen innerlich ver-
knüpft ist.
Beides ist bei Lippert der Fall, und ich
bekenne, daß mich seine Schrift von dem
psychologischen Wert eines solchen Ideal-
bildes überzeugt hat. Man wird sich nicht
leicht dem Eindruck entziehen, wie in
dem Jesuiten wie L. ihn uns zeigt, aus der
285
Eigenart des mit glühender Seele erfaß-
ten Christusbildes und aus der Schule der
Exerzitien mit innerer Notwendigkeit
all das erwächst, was zu der seelischen
Verfassung »dese Jesuiten gehört; man
spürt, wie dieses Gesamtverhalten, als
Ideal geschaut, die Wirklichkeit in tau-
send Einzelheiten durchdringen und ge-
stalten muß. Ich möchte besonders den
Kapiteln II und III (»Der Herr der
Seelee, »Heilandsbildere) einen großen
psychologischen Wert zuschreiben.
Daß daneben der apologetische Cha-
rakter der ganzen Schrift gelegentlich
unwahrscheinliche Behauptungen und ge-
künstelte Verteidigungen zeitigt, ist ja na-
türlich. Aber ich glaube gerade, daß nur
eine solche begeisterte, auf dem Herzen
der Sache heraus geschriebene Darstel-
lung die verborgensten Fäden in dem
komplizierten Gewebe einer religiösen
Bewegung bloßzulegen vermag.
Muß ich ausdrücklich sagen, daß
diese Anerkennung keinerlei Stellung-
nahme zu dem uns gezeigten Idealbild
und zu den Versuchen, es zu verwirk-
lichen, bedeutet? Es ist ja ganz und gar
unrichtig, daß man stets das gut heiße,
was man psychologisch »begreifte. Etwas
psychologisch begreifen, heißt doch nur
den innersten Nerv, »das zentrierende
Moment« erfassen und von da aus ein-
zelne Gedanken, Sitten, Tendenzen in
der Notwendigkeit ihres psychischen Zu-
sammenhangs erblicken. Anerkennung
und Polemik haben davon ihren Gewinn
Sie brauchen nicht Einzelheiten zu preisen
oder zu tadeln, sondern sie sehen ein Stück
innersten Seelenlebens als den eigent-
lichen Gegenstand ihrer oft instinktiven
Verehrung oder Verurteilung. St.
H. Weinel, Johann Gottlieb
Fichte (Pfannmüller, Religion der
Klassiker, Bd. 6). Protest. Schriften-
vertrieb, Berlin-Schöneberg, jetzt Van-
denhoeck und Ruprecht, Göttingen,
1914. III Seiten. 1.50 Mk., geb. 2 Mk.
Bei diesem ausgezeichneten Büchlein
bedaure ich nur, daß ich es hier bloß in
psychologischer Hinsicht anzuzeigen habe.
Es enthält zwar nirgends eine ausdrück-
liche Bezugnahme auf Religionspsycho-
logie. Aber, was nachdrücklich betont
sei, es bietet sehr wertvolles Material zur
286
Struktur des religiösen BewuBtseins, Auf
eine geschickte kurze Einleitung folgt
eine reiche und übersichtlich gegliederte
Auswahl von Quellenstücken religiöser
bzw. religionsphilosophischer Art. Der
Verf. hat sich absichtlich auf die Schriften
aus der Zeit der Reife Fichtes beschränkt.
Und hier stehen wir im Gebiet der religiös-
psychischen Phänomenologie und Nomo-
logie. Ich nenne als einzelne Themata:
Gottesbewußtsein und IchbewuBtsein,
Gottesbewußtsein und die einzelnen psy-
chischen Funktionen, Gottbegeistertheit
und natürliche Antriebe, Aktivität, Wille,
Gesinnung, Freiheit, Andacht, Liebe,
Sehnsucht, Gewißheit, Affekt, Seligkeits-
genuß, Mystik usw.
Ostertag.
Dr. phil. H. Seyfarth, Aus der
Welt der Gefangenen. Leip-
zig, G. Schlößmann, 1913, 248 S.
3.60 Mk.; geb. 4.20 Mk.
Das heutige System der Freiheits-
strafe, so fragwürdig es in seinem Sühn-
und Besserungseffekte ist, bietet den Vor-
teil, daß die Psyche des Verbrechers
lange Zeit beobachtendem Studium bereit
liegt. — Was wertvolles dabei heraus-
kommen kann, wenn der teilnahmsvolle
Blick eines Seelsorgers hineindringt, das
zeigt uns das vorliegende Werk. Inter-
essant sind uns vor allem Belege dafür,
daß ethische Defekte und extreme re-
ligiöse Phänomene nicht selten neben-
einander hergehen. Und dazu geben die
Abschnitte über »Zuchthauspoeten«, »Da-
monische Naturen«, »Psychologische Rat-
sele manches Material.
J. Schairer (Nagold).
Anton Thomsen, Religion und
Religionswissenschaft. 133
Seiten, Berlin-Charlottenburg, A. Junk-
ker, 1914; 1.80 Mk.
Ein einseitiges Büchlein, dassich aus-
drücklich zu Hume bekennt. Unter Bei-
seiteschiebung des religiösen Gefühls und
Willens handelt es von den religiösen
Vorstellungen (mystische Kräfte, Präani-
mismus, Götter, Tote) und dem religiösen
Kultus (Magie, Sakrament, Opfer, Gebet).
Ostertag.
IV. Kleine Anzeigen.
F. Siegmund-Schultze,
Schleiermachers- Psycho-
logie in ihrer Bedeutung
für die Glaubenslehre, Tü-
bingen, Mohr 1913. 210 Seiten, ro Mk.
Dieses Buch anzeigen heißt es nach-
drücklich empfehlen. Es füllt tatsächlich
eine Lücke in der Schleiermacher-Literatur
aus und stellt mit seiner sorgfältigen
und eindringenden Einzeluntersuchung
wie mit seiner klaren Uebersichtlichkeit
(Grundschema der Psychologie, Schematis-
mus der Seele, Gefühl schlechthiniger Ab-
hängigkeit) eine sehr wertvolle Leistung
dar. Nun ist freilich Religionspsycho-
logie, so wie wir sie betreiben, eine spezi-
fisch moderne Wissenschaft. Indessen,
so wenig die Religionspsychologie einfach
Schleiermacher herübernehmen kann, so
wenig kann sie auch an ihm vorübergehen,
wenn sie sich nicht selbst schädigen will.
Es wird wohl im Rahmen unseres Archivs
noch einmal ausführlicher darauf zurück-
zukommen sein.
Ostertag.
Felden, Emil, Kind und Got-
tesglaube. Leipzig, Fr. Eckart
I9I4. I Mk.
Eine öde Streitschrift, veranlaßt durch
die scharfen Angriffe, die F. mit seinem
bekannten Aufsatz in der »Iat« März-
heft 1914 herausgefordert hatte. Sachliche
Belehrung darf man darin nicht suchen,
| St.
Religionsgeschichtliche
Volksbücher, Prof. M. P. Nils-
son (Lund): Primitive Reli-
gion. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1911.
124 S., brosch. 4.—, geb. 6.— Mk.
Nilsson behandelt die Hauptprobleme
des primitiven religiösen Lebens, Tier-
und Pflanzen-, Grab- und Seelenkultus,
Opfer und Gebet, die Stellung der Zau-
berer und Priester, die Geheimbünde und
Mysterien, die Mythenfrage. Besonders
interessiert ihn das Polytheismusproblem
und die damit zusammenhängenden Fra-
gen: der Menschenkult, die Stellung der
Götter zu einander, die Frage nach. den
Spuren des primitiven Monotheismus und
das Verhältnis des Weltschöpfers zu den
Göttern. Der Verf. wendet sich schließ-
lich gegen die Andrew Langsche Vertei-
~
IV. Kleine Anzeigen.
287
digung des Urmonotheismus, die sich auf | Religion« immer hindurch und leitet zu
die monotheistische Stellung des Welt-
schöpfers bei den primitivsten Völkern
stützt; Nilsson trennt scharf den »pas-
siven, kultlosens Weltschöpfer, der selbst
eine Schöpfung des Mythus ist, von den
Göttern, die Kraft besitzen und wirken,
den wirklichen Objekten des Kults; ein
Kultgott übernimmt oft seine Funktionen.
Interessant ist, wie der Verf. die Ent-
stehung der Langschen Ansicht zu er-
klären sucht. Für besonders wertvoll
an der Schrift halte ich die steten Hin-
weise auf entsprechende folkloristische Er-
scheinungen und andererseits auf das
klassische Altertum.
G. Hinsche (Halle a. S.).
H. Visscher, Prof. an der Universi-
tät Utrecht, Religion und so-
zialesLebenbeidenNatur-
völkern. I. Bd. Prolegomena.
Bonn, Joh. Schergens, 1911. 286 S.
Das Buch will mehr geben, als ethno-
logische Untersuchungen, es will Linien
ziehen von dem religiösen und sozialen
Leben des Primitiven zum Seelenleben
des Kulturmenschen; es will ethno-
logische und völkerpsychologische For-
schungsergebnisse für Theologie und
Soziologie nutzbar machen und ist darin
ein Beispiel für das immer mehr hervor-
tretende Bestreben in der Wissenschaft,
die notwendige Spezialisierung wieder
auszugleichen.
Die beiden ersten Kapitel behandeln
die »Religion als soziale Tatsache« und
»Die sozialen Typen und ihre Einteilung«.
In scharfsinniger Weise werden hier die
Ansichten Guyaus, Spencers, Vierkandts,
Durkheims und anderer besprochen und
des Verfassers eigene Ansichten darge-
legt, die er meist kritisch in sehr an-
regender Diskussion mit den Vertretern
gegenteiliger Ansichten entwickelt.
Im dritten Kapitel, betitelt: »Die
absolut religiöse Phasee wendet sich der
Verf. zur »Charakterisierung des intellek-
tuellen und ethischen Lebens der Natur-.
volker¢, zu dem Problem der Persönlich-
keit bei den Primitiven und zu den
Formen des Animismus und Fetischis-
mus. Auch hier schimmert durch die
Darstellung der ethnologischen Ergeb-
nisse das Hauptthema, das »Problem der
der wieder allgemeiner gehaltenen Schluß-
betrachtung über, die noch einmal zu-
sammenfassend das Thema: Religion
beim Natur- und Kulturvolk behandelt
sowie die Frage: Weltanschauung und
Religion.
Wie man sich auch im einzelnen zu
den Ansichten des Verf. stellen mag,
diese »Prolegomena zum Studium der
Naturvölker vom sozialen und religiösen
Standpunkte aus« bilden in ihrer scharf-
sinnigen Verknüpfung von Problemen
aus den verschiedensten Einzeldiszi-
plinen ein sehr bemerkenswertes Beispiel
dafür, wie leicht das Studium des Primi-
tiven zu den großen Menschheitsfragen
hinführt.
Die vielen Literaturangaben und Be-
legstellen sind für die Weiterarbeit recht
geeignet und dienen so besonders dem,
was der Verf. als Mitzweck des Werkes
bezeichnet, der schristlichen Mission eine
wissenschaftliche Grundlage zu schaffene.
G. Hinsche (Halle).
Rudolf Kleinpaul, Volks-
psychologie Das Seelen-
leben im Spiegelder Spra-
che. Berlin und Leipzig, Göschen
1914. 211 S. \
Der Verf. will die »Psychologie, die
i das Volk treibt, . . . die Vorstellungen
des gemeinen Mannes von der Seele...
und den scelischen Erscheinungens unter-
suchen. An einer Fülle von interessanten
Beispielen wird gezeigt, wie die Volks-
sprache sinnliche Erlebnisse zu Hilfe
nimmt, um das unbekannte Seelische
auszudrücken. Man »begreift etwase,
. man ist »entsetzte. »Das Volk weiß kaum
etwas vom Gehirne, geschweige denn von
der Seele; es weiß nur von den Sinnen, |
vom Kopfe und vom Herzene. Der Verf.
kommt zu dem Schluß, daß die Philo-
sophen, die sich »mit den psychischen
Vorgängen beschäftigen, das gesamte
Material und das Gerüst ihrer Kate-
gorien und Kunstausdrücke« vom Volke
übernommen haben. Selbst wenn man
bis hierher mit dem Verf. geht, wird man
doch schwerlich die Forderungen, die er
daraus zieht, unterschreiben: »Da die
überlieferten Worte einen ganz bestimm-
ten, gesunden und originellen Sinn zu
288
haben pflegen, so sind die Gelehrten,
die sie brauchen, auch verpflichtet, sich
an diesen Sinn zu halten; tun sie es nicht
und schlagen sie die Vorarbeiten des
Volkes in den Wind, so steigen sie eine
Leiter hinauf, die in die Luft gelehnt ist
und die ihnen vom ersten besten Lingu-
isten unter den Füßen weggezogen wird.¢
Bei dem großen Interesse, das man ge-
rade jetzt der philosophischen und
psychologischen Terminologie entgegen-
bringt, wird das Buch zu interessanter
Diskussion anregen.
G. Hinsche (Halle).
HenriA. Junod,Sidschi. Kul-
tur, Christentum und das
Problem der schwarzen
Rasse. Deutsch von G. Buttler.
Leipzig 1912; Hinrich..
In Erzählungsform eine für Theo-
logen und Psychologen gleich interes-
sante Schilderung heidnischen Innen-
lebens, eine fesselnde Darstellung des
Verhältnisses primitiver und europäisch-
christlicher Kultur, in der Beschreibung
der religiösen Geheimzeremonien von
dramatischer Wucht.
G. Hinsche (Halle).
A. Lapp, Die Wahrheit. Stutt-
gart, W. Spemann, 1913. ror S.
2.50 Mk.
Im wesentlichen ein kritisches Refe-
rat über die Wahrheitstheorien ‘bei
Rickert, Husserl und in Vaihingers
»Philosophie des Als Obe, ausmündend in
eine fast restlose Zustimmung zu Vaihin-
gers perspektivistischer Betrachtung.
Das Interesse, das die Religions-
psychologie an der Untersuchung des
Wahrheitsbegriffs nimmt, will diese
Schrift gar nicht befriedigen. St.
Th. Steinmann, Die Frage
nach Gott. Tübingen, Mohr 1915,
314 S. 12.— Mk. Geb. z. Zt. 16.— Mk
Eine Sammlung bemerkenswerter theo-
logischer Aufsätze. Der Begriff Gottes
wird im Sinne der Geistigkeit, ähnlich
etwa wie bei G. Claß entwickelt. Streif-
lichter fallen auf die Religionspsycho-
logie (Phantasie, Persönlichkeit, Mythus,
Ueberzeugung usw.). Ganz besonders
beachtenswert aber ist der Ertrag, der
a SL
IV. Kleine Anzeigen.
für den Begriff der religiösen Vorstellung
und ihre Merkmale (Anschaulichkeit,
Symbolismus, Inkonzinnität, Anthropo-
morphismus) abfällt. Ostertag.
HermannCohen,DerBegriff
der Religion im System
der Philosophie. Töpelmann,
Gießen 1915. 164 S. 6.— Mk.
Ein Buch Cohens läßt sich nicht in
Kürze würdigen. Nur folgendes sei hier
festgestellt: Cohen lehnt es ausdrücklich
ab (S. 108), auf »das moderne Problem
der Religionspsychologie¢ einzugehen. Er
begründet die Religion innerhalb der
systematischen Philosophie und in der
Einheit des Bewußtseins, führt aber eine
große Anzahl religionspsychologischer
Stoffe in die Untersuchung ein (Kultus,
Gefühl, Mystik, Rührung, Mitleid, Liebe,
Sehnsucht, Intuition, Phantasie usw.).
In 5 Kapiteln setzt er den Religions-
begriff nacheinander in eine Werhältnis-
beziehung zu Religionsgeschichte und
Metaphysik, zu Logik, Ethik, Aesthetik,
Psychologie. Insbesondere das letzte
Kapitel würde eine eingehende und
grundsätzliche Auseinandersetzung er-
fordern. Ostertag.
Joh. Wendland, Die religiöse
Entwicklung Schleierma-
chers. Tübingen, Mohr 1915. 243 S.
10.— Mk.
Schleiermachers eigenartige religiöse
Psyche selbst als Gegenstand der reli-
gionspsychologischen Betrachtung, von
einem Kenner und Könner wie J. Wend-
land dargestellt, ist natürlich von höch-
stem Interesse. Ostertag.
Béla Révész, Geschichte des
Seelenbegriffes und der
Seelenlokalisation. Enke,
Stuttgart 1917. 310 S. 8.— Mk.
Eine ungeheuer ausgebreitete, aber
nicht in gelehrtem Kleinkram erstickende
Stoffdarbietung, die bei den alten grie-
chischen Denkern beginnt und bis auf
unsere Tage führt. Psychologen, Philo-
sophen, Erkenntnistheoretiker, Aerzte
kommen zu Wort. Dabei ist auf Heraus-
stellung des Typischen abgezielt. Im
Fortschritt der Darstellung treten gewisse
IV. Kleine Anzeigen.
Grundfragen, z. B. der Materialismus,
immer klarer heraus. Ostertag.
Heinrich Holtzmann, weiland
Professor in Straßburg, Ueber Be-
griff und Inhalt der reli-
giösen Erfahrung. Protestan-
tische Monatshefte, 3. Jahrg., 6./7.
Heft, 1899. Berlin, Reimer.
Eine bleibend wertvolle undogma.
tische, psychologische Beschreibung der
religiösen Urgefühle; cf. Stange, Christen-
tum und moderne Weltanschauung,
2. Aufl. 1. Teil: Das Problem der Reli-
gion, S. 91 ff. Ostertag.
Karl Beth, Religion und Ma-
gie beiden Naturvölkern,
ein religionsgeschichtlicher Beitrag zur
Frage nach den Anfängen der Religion.
Leipzig, Teubner 1914. 238 S. 6.— Mk.
Eine Würdigung dieses grundwich-
tigen Werkes ist hier in Kürze unmöglich.
Magie ist etwas wesenhaft anderes als
Religion und nicht deren Vorlauferin.
Ihre psychische Struktur wird eingehend
und unter Kritik der bekannten völker-
und religionspsychologischen Theorien
untersucht. Mana und ähnliche Vorstel-
lungsweisen werden beleuchtet. Bemer-
kenswert ist die Idee der ȟbersinnlichen
Krafte. Die Degenerationstheorie tritt
dem Evolutionismus entgegen.
Ostertag.
Richard Kroner, Kants Welt-
anschauung. Tübingen, Mohr-
Siebeck, 1914. 91 S. 5.— Mk.
Dies ausgezeichnete Buch enthält
vier Kapitel: der ethische Voluntaris-
mus, der ethische Dualismus, der ethi-
sche Subjektivismus, der ethische Phä-
nomenalismus. Auf die Psychologie
Kants einzugehen lag nicht im Plane des
Ganzen. Ostertag.
Joh. von Kries, Logik, Grund-
zuge einer kritischen und formalen
Urteilslehre. Tübingen, Mohr 1916.
732 S. 40.— Mk. Geb. z. Z. 56.— Mk.
Dieses große Werk berührt im Zu-
sammenhang seiner Untersuchungen auch
eine Reihe psychologischer Gegenstande
(Psychologie als Wissenschaft, Urteil,
Zahlbegriff, Gleichheitsbegriff, Willens-
Archiv für Religionspsychologie II /IIT.
289
freiheit, Leib und Seele, Erinnerung und
Gedächtnis, Tierpsychologie usw.).
Ostertag.
Heinrich Rickert, ZurLehre
von der Definition. 2. ver-
besserte Auflage. Tübingen, Mohr
1915. 9I S. 4.50 Mk. Geb z. Z.
9.— Mk.
Diese längst in ihrer Wichtigkeit er-
kannte logische Untersuchung betrach-
tet die Definition zunächst als Denk-
prozeß und ist bei aller Trennung der
Gebiete auch für den Psychologen von
großem Wert. Ostertag.
Heinrich Rickert, Der Ge-
genstand der Erkenntnis.
Einführung in die Transzendental-
philosophie. 3. völlig umgearbeitete
und erweiterte Auflage. Tübingen,
Mohr 1915. 456 S. 15.— Mk. (In-
zwischen vergriffen, 4. Auflage in Vor-
bereitung).
Ein Stück der von Auflage zu Auflage
fortschreitenden Lebensarbeit Rickerts
liegt hier vor. Durchgängig tritt Rickerts
scharfe Abgrenzung gegenüber der Psy-
chologie und seine entschiedene Ableh-
nung des Psychologismus hervor. Die
Psychologie des Urteilens und der Be-
griff einer Transzendentalpsychologie er-
fahren eine besondere Beleuchtung. Die
Denkpsychologie, wie auch immer sie ge-
artet sein mag, muß dies Werk beachten.
Ostertag.
Windelband, Präludien. Auf-
sätze und Reden zur Philosophie und
ihrer Geschichte. 2 Bande. 5. Aufl.
Tübingen, J. C. B. Mohr (Paul Sie-
beck), 1915. (Inzwischen vergriffen,
Neudruck in Vorbereitung).
Der zweite Band enthält Windelbands
Religionsphilosophie in dem Aufsatz
»Das Heilige«, der in seiner Feldausgabe
besondere Verbreitung gefunden hat.
Wie viel mehr Einsicht in das Wesen der
Religion, auch in ihre psychische Er-
scheinungsformen, steckt in dieser Ab-
handlung als in dem, was die Lehrbücher
der Psychologie über die sreligiösen Ge-
fühle« zu sagen wissen! St.
19
290 IV, Kleine
Georg Wunderle, Aufgaben
und Methoden der moder-
nen Religionspsychologie.
(1. Beiheft zur »Christlichen Schule«.)
Eichstätt 1915, Verlag der sChrist-
lichen Schule« 103 S.
Nach einem kurzen, in die Geschichte
der Religionspsychologie einführenden
Teil bietet dieser erweiterte Vortrag eine
ausführliche und eindringende Würdi-
gung der Hauptvertreter der modernen
Religionspsychologie. Eine vortreffliche
Einführung in die religionspsycholo-
gische Arbeit, wie. sie auch in diesen
Blättern angestrebt wird, bei der die Ge-
fahr der »Psychologisierung« der Religion
vermieden bleibt, in dem die RPs. sich
streng auf ihre Aufgabe als Tatsachen-
wissenschaft beschränkt. Besonders her-
vorzuheben ist die sorgfältige Beachtung
der religionspsychologischen Erscheinun-
gen aus der protestantischen Theologie,
wobei freilich die Zurückhaltung der
systematischen Theologie unterschätzt
wird. Als beachtenswert hervorgehoben
seien ferner kritische Bemerkungen gegen-
über der Starbuckschen statistischen
Methode, der es an Gleichartigkeit der
befragten Personen und an erkenntnis-
theoretischer Klarheit hinsichtlich des
Kausalitätsbegriffs mangle. Das Referat,
das W. von meinem Vortrag über die
Wahrheitsfrage gibt (S. 50), enthält ein
geringfügiges Mißverständnis, das durch
die ausführlichere Wiedergabe meines
Gedankengangs in diesem Band (S. 136)
wohl hinreichend aufgeklart ist; ich habe
nicht fünf verschiedene Menschentypen
darstellen wollen, sondern fünf ver-
schiedene Arten des Wahrheitsanspruchs,
die z. T. auch bei den gleichen Menschen
verbunden sein können. St.
H. Thulie, La Mystique di-
vine, diabolique et na-
turelle des the&ologiens.
Paris, Vigot Frères, 1912. Bd. 21 der
Bibliothéque Anthropologique. 7.50
Francs.
Vom Standpunkt der französischen
Neurologie aus wird eine pathologische
Erklärung der verschiedenen Formen der
Mystik versucht. Dabei werden die aller-
verschiedensten Dinge zu den mystischen
Anzeigen.
und Halluzinationen, Suggestionen und
Autosuggestionen, Stigmatisationen, Ek-
stase und Zungenreden, Okkultismus,
Spiritismus und Magnetismus, Besessen-
heit und religiöser Wahnsinn. Ihre Ent-
stehung und Entwicklung, ihre Sym-
ptome und Folgeerscheinungen werden
beschrieben und auf dieselben pathologi-
schen Wurzeln zurückgeführt. Der letzte
Zweck des Buches ist aber ein prak-
tischer, der Hinweis auf die Gefahr
dieser krankhaften, mystischen Zustände.
H. Faber (Tübingen).
Marcel Hébert, La forme
idéaliste du sentiment re
ligieux. Paris, Emile Nourry, 1909.
Bd. 30/31 der Bibliothéque de Criti-
que Religieuse. 2.50 Fr.
Das Wesen der Religion kann nur
dann richtig beschrieben werden, wenn
man verschiedene Typen unterscheidet,
besonders zwei: die idealistische und die
realistische Form. An der Hand der
Konfessionen Augustins und der Abhand-
lung des Franz von Sales über »Die Liebe
und Gotts wird die idealistische Form
des religiösen Gefühls näher beschrieben
und ihre Eigentümlichkeit vor allem
darin erblickt, daß Gott als das Voll-
kommene, Absolute, nicht nur als ein
dem Menschen irgendwie überlegenes
Wesen gefühlt wird. Dieses Gefühl des
Vollkommenen fügt zur Verehrung die
Anbetung hinzu, setzt an die Stelle der
egoistischen die uninteressierte Liebe und
versteht die Moralität als die schlecht-
hinnige, unbedingte Verpflichtung.
H. Faber (Tübingen).
HenriBois, La valeur de l'ex-
périence religieuse. 2. Ed.
Paris, Emile Nourry, 1908. Bd. 17/18
der Bibliotheque de Critique Reli-
gieuse. 2.50 Fr.
Es handelt sich hier um eine »Kritik
der religiösen Erfahrung«, um die Frage,
ob die religiöse Erfahrung lediglich ein
subjektiver Vorgang oder ob sie eine
reale, seffektive« Verbindung mit einem
transsubjektiven Wesen ist. Die Frage-
stellung soll aber keine philosophische,
sondern eine psychologische sein. Es ist
das Problem, ob und wie religiöse Men-
Zuständen gerechnet: religiöse Visionen |schen, z. B. Christen, die Transzendenz
IV. Kleine Anzeigen. 291
ihrer Glaubensobjekte erleben. Wer, H. Schreiber, Die religiöse
Religionspsychologie treiben will, muß Erziehung des Menschen
daher irgendwie schon religiöse Erfah- im Lichte seiner religiö-
rungen gemacht haben. sen Entwicklung. Leipzig,
H. Faber (Tübingen). Quelle u. Meyer, 1908.
Wissenschaftlichen Ansprüchen ge-
W. Winslow Hall, ThePrayer nügt dieses Buch in keiner Weise. Es
Quest. London ıgıo, Headley: fehlt durchweg an klaren und scharfen
Brothers. Begriffen, an straffem Gedankengang,
Ein liebenswürdiges Erzeugnis der am Auseinanderhalten der verschiedenen
Quäker-Mystik; interessant durch den Altersstufen. Der zweite Teil (Die reli-
Einschlag eines gesund-niichternen Ra- 8iöse Erziehung des Menschen) enthält
tionalismus. Die Suggestivkraft des Ge-| zwar manchen richtigen Gedanken und
betes wird benutzt und eine Gebets- | manchen beachtenswerten Vorschlag, aber
trainierung anempfohlen. Ziel ist panen- | damit doch bloß Dinge, die man auch
theistisches Erlebnis (Verzückung-Stim- | sonst schon und meist besser gehört hat.
mung). + Stiehler (Leipzig). Temperamentvoller Reformeifer und
große Belesenheit genügen eben noch
nicht, um ein brauchbares Buch zu
schaffen. H. Wild (Backnang).
—— 10
Franz Overbeck, Christen-
tumund Kultur. Gedanken und
Anmerkungen zur modernen Theo-
logie. Aus dem Nachlaß herausgegeben
von Carl Albrecht Bernoulli. (XXXVI
und 300 S.). Basel 1919, Benno) Geist der Liturgie. 2. und 3.,
Schwabe u. Co. 20.— Mk. verbesserte Auflage. kl. 8° XVI und
Aus einem Buch, das mit schärfstem) 84 S. Preis 1.60 Mk. nebst den üb-
kritischen Verstande alle möglichen| lichen Zuschlägen. Freiburg, Herders
Zweige moderner theologischer Arbeit} Verlag, 1918.
Ecclesia orans. Herausgegeben
von Abt Ildefons Herwegen.
1. Bandchen: R.Guardini, Vom
rr ee nn
durchleuchtet, kann immer auch der 2. Bändchen: O. Casel O. S. B.,
Religionspsychologe einiges lernen; Over- Das Gedächtnis des Herrn
beck bekennt selbst der religiösen Ein-| in der altchristlichen Li-
stellung bar zu sein; aber er weiß eben turgie. kl. 8°. XII und 37 S. Preis
genug von der Religion, um ihr Fehlen| 0,90 Mk. nebst den üblichen Zu-
bei anderen zu konstatieren und mit schlägen.
Skepsis und Bosheit gegen jede Falsch- Die beiden Bändchen leiten eine
münzerei zu Felde zu ziehen. Im ganzen | Sammlung ein, die es sich zur Aufgabe
ein Buch voll müder Gelchrsamkeit,| setzt, die Liturgie, den »großen Laien-
ohne Seele und ohne Leidenschaft, das| gatechismuss wieder allgemeiner zum
nicht herauszugeben der Verfasser doch | Verständnis zu bringen und die in ihr
wohl recht hatte. — Im einzelnen mache | liegenden Werte für das religiöse Ge-
ich auf die sehr wertvollen Ausführungen | mütsleben zu erschließen. Guardini schafft
über »Urgeschichtee und Geschichts- | zu diesem Zwecke eine glückliche Grund-
wissenschaft (S. 24 ff.) aufmerksam. lage, indem er den Geist der Liturgie
St. |untersucht. Das Problem des liturgi-
schen Erlebens spielt dabei die Haupt-
D. Dr. Georg Wunderle, Ex-|rolle und daher sind seine kundigen und
perimentelle Pädagogik.;sorgsam einfühlenden Darlegungen für
Ein Beitrag zur Orientierung. (34 S.).| den KReligionspsychologen von beson-
Eichstätt 1914, Ph. Brönner. derem Werte. Feines Verständnis und
Die vorsichtig abwägenden Urteile | tiefe psychologische Deutungskunst ver-
über Recht und Tragweite des Experi-|raten sich in den Untersuchungen über
ments an Schulkindern verdienen ern- | das Verhältnis der Einzelseele und ihres
steste Beachtung auch seitens des Reli-| Lebens zum Gemeinschaftsgebet der Li-
gionspädagogen. St. |turgie. Wir freuen uns über den frucht-
19 *
292 IV. Kleine Anzeigen.
baren Beitrag zur Psychologie des reli-| Folgen wurde ja dieses uralte Problem
giösen Lebens. aufs neue vordringlich, vielleicht kann
Im zweiten Bändchen ist mit Rück-!man sagen, so drückend wie niemals im
sicht auf die Geschichte der Religions- | Laufe der Menschheitsgeschichte. Der
psychologie von Wichtigkeit das dritte; Verf. verhehlt sich die Schwere seiner
Kapitel: Ueber den Gebetscharakter der; Aufgabe nicht und sucht sie mit mo-
Eucharistia. dernen Mitteln und in moderner Weise
Georg Wunderle (Würzburg). zu lösen. Er legt vornehmlich darauf
Gewicht, daß das Uebel in Welt und
P. Marian Morawski S. J., wei- Leben die Pflicht zur Selbstbewährung
land Professor an der K. K. Jagiel-| und Selbstvollendung auferlege und daß
lonischen Universität in Krakau: | gerade seine Ueberwindung die Ehre
AbendeamGenferSee.Grund-: Gottes unter den Menschen wirke und
züge einer einheitlichen Weltanschau- häufe. Dadurch werden starke Motive
ung. Genehmigte Uebertragung aus zur Bildung der wahren Persönlichkeit
dem Polnischen von Jakob Overmans gewonnen. Was Zimmermann in das
S. J. 9. und ro. Auflage, 19.—22. Tau-| Vollkommenheitsideal des kämpfenden
send. 8° (X VIII und 258 S.) Freiburg und leidenden Menschen hineinzeichnet,
ıgıg, Herdersche Verlagshandlung. |ist anschaulich, überzeugend und an-
3.80 Mk., kart. 4.60 Mk. regend. Auch der Religionspsychologe
Das in einer Reihe fremder Sprachen | vermag für seine Art der seelischen Tat-
übersetzte Buch kann wohl als eine der; sachenbeurteilung manchen Nutzen aus
besten Apologien für gebildete Kreise an-| der obigen Schrift zu ziehen.
gesehen werden. Die darin verwendeten Georg Wunderle (Würzburg).
Beweismittel sind zum Teil mit größtem
Geschick dem modernen Zweifler und
Agnostiker nahegebracht. Wenn sie
vielleicht auch da und dort nicht völlig) Eine Geschichte von Menschenwegen
ausreichend scheinen, um einen bohren-! und von Gotteswegen. Ergänzt und
den Grübler zu befriedigen, jedenfa zu Ende geführt von einer Mitschwe-
M. Regina Most, Dominikanerin in
Speyer, Geh hin und künde!
führen sie ihn auf Wege, die er bisher in| ster des gleichen Ordens. Mit 2 Bil-
der Lösung der Welt- und Lebensrätsel| dern. 13.—16. Auflage. (26.—35. Tau-
entweder nicht gekannt oder für gänzlich| send.) 8° (VIII und 218 S.) Freiburg
ungangbar gehalten hatte. Für den Reli- 1920, Herder. 4.50 Mk., geb. 6.50 Mk.
gionspsychologen ist das apologetische| und Zuschläge.
Gespräch, das Morawski glücklich zu Eine Konversionsgeschichte von nicht
entwickeln weiß, in hohem Maße des- | gewöhnlicher Art! Wallungen und Wand-
wegen interessant, weil die Teilnehmer | lungen eines unruhigen Mädchenherzens,
an der Unterredung sämtlich sehr gut| Kämpfe und Siege einer nach Wahrheit
getroffene Vertreter der mannigfachen | und Tiefe durstigen Frauenseele werden
Lebensansichten und Lebensgestaltungen |in dem Büchlein geschildert. Die Ver-
sind. Georg Wunderle (Würzburg). fasserin bietet ihre innere Geschichte
mit Offenheit, Treue und Innigkeit, so
wie sie nur ein ganz ehrlicher, um den
höchsten Sinn des Lebens ringender
Mensch darstellen kann. Dabei ist auch
die Weise ihrer biographischen Erzählung
so anziehend, daß man auch, bevoreinem
die im letzten Abschnitt von einer Mit-
schwester eingefügten Gedichte der Ver-
fasserin bekannt geworden sind, eine
Dichterin vor sich weiß. Darum ist das
Büchlein allen, die für ernste Lektüre
überhaupt empfänglich sind, eine
fesselnde und köstliche Gabe. Für den
Otto Zimmermann, S. J., Wa-
rum Schuld und Schmerz?
8°. VIII und 114 S. Freiburg 1918,
Herdersche Verlagshandlung. Preis
2.— Mk. nebst den üblichen Zuschlä-
gen.
Die Absicht der vorliegenden Schrift
geht selbstverständlich in allererster
Linie auf den apologetischen Zweck
hinaus, Schuld und Schmerz in der Welt
mit der Heiligkeit und Güte Gottes zu
vereinbaren. Durch den Krieg und seine
IV. Kleine Anzeigen.
Religionspsychologen bietet sie außer
dem Genuß und der Erhebung sehr wert-
volle Einblicke in das Wechseln und
Neuwerden des Glaubens bei einer ganz
smodernen« Mädchenseele. Hätte er als
Empiriker, die Meinung, daß sich bei
diesen Vorgängen, die zugleich die zar-
testen und die erschütterndsten sind,
alles nach gesetzmäßigem Ablaufe ent-
wickeln müßte, so würde er hier ein
Beispiel finden, welches ihm die in-
teressantesten Ueberraschungen berei-
tete. Wie belehrend ist in diesen Konver-
titenleben nicht schon die Tatsache, daß
bei einem fiir das Aesthetische und Ge-
fühlsmäßige so überaus zugänglichen
Wesen »keine gottesdienstliche Herrlich-
keit, kein menschlicher Einfluß mit-
spielten, nicht einmal die Worte eines
von Gott bestellten Predigers«; »der
einfältige, nüchterne, allen rhetorischen
Schmuckes bare Katechismus« übte die
ausschlaggebende, überzeugende Kraft
(S. 71). Hier und an manchen anderen
Stellen kann auch der unbefangene Re-
ligions psychologe den Gedanken
an Gnade und Fügung nicht unter-
drücken. Die Grenze des Geheimnis-
vollen rückt in seine nächste Nähe.
Georg Wunderle (Würzburg).
Dr. Julius Mayer, o. Professor an
der Universitat Freiburg i. B, Alban
Stolz und Friedrich von
Drais,EduardSteinbrück,
AugustinArndt,Selmavon
Seydlitz,KlotildevonWer-
thern. 4. und 5. Auflage. Mit fünf
Bildern. (Alban Stolz, Fügung und
Führung. Zweiter Teil). 8° (VIII und
316 S.) Freiburg 1919, Herdersche
Verlagshandlung. 5.40 Mk., geb. 6.60
Mark.
Das Bild des genialen Volksschrift-
stellers Alban Stolz hat durch die Heraus-
gabe seines Briefwechsels mit einer Reihe
von Konvertiten einen überaus interes-
santen Zug gewonnen. Man hätte es ihm
wohl kaum zugetraut, daß er bei seiner
sonstigen Herbheit ein solch kluger, ein-
dringender Psychologe sei. Der vor-
liegende zweite Teil seines Konvertiten-
briefwechsels zeigt ihn ebenso wie der
erste als Meister in der Führung der
Seelen, die mit Hilfe seiner Schriften |
293
und Briefe in den Geist des Katholizis-
mus sich einleben wollten. Man staunt,
wie liebevoll und objektiv und sicher er
bei den so verschieden gearteten Naturen
zu Werke geht. Da er stets rasch die
richtige Stelle findet, wo er gerade in
seiner Weise zufassen kann, öffnen sich
ihm auch bald die Herzen. Und so
werden die Briefe und Antworten, die
hier zusammengestellt sind, zu wichtigen
Urkunden der Konversions- und Kon-
vertitenpsychologie, die sich von selbst
dem einläßlichen Studium des Religicns-
psychologen empfehlen. Professor Mayer
verdient aufrichtigen Dank für seine
sorgfältige Arbeit.
Georg Wunderle (Würzburg).
Joh.Steinbeck,Lehrbuchder
kirchlichen Jugenderzieh-
ung(Katechetik). Leipzig, Dei-
chert 1914. 318 S. 6.80 Mk.
Wie schon der Titel zeigt, ist dieses
Buch für die Zwecke der Praxis ge-
schrieben. Der Verf. hat sich entschieden
bemüht, für seine Theorie das zu ver-
werten, was Wissenschaft und Praxis
über die Entwicklung des kindlichen
Seelenlebens und speziell auch über die
religiöse Entwicklung des Kindes zutage
gefördert haben (vgl. besonders $ 13 und
14); so enthält auch sein Buch eine An-
zahl feiner und wichtiger religionspsycho-
logischer Beobachtungen.
Hermann Wild (Backnang).
Lic. Dr. G. Diettrich, Seel-
sorgerische Ratschläge
zur Heilung seelisch be-
dingter Nervosität. Güters-
loh, Bertelsmann 1917. 69 S.
D. fordert im Anschluß an O. Pfister
und Dr. Marcinowski bessere psycho-
logische Ausbildung der Seelsorge und
die Einrichtung von »Seelsorgeheimen«.
»Habe ich den Heilwert der christlichen
Welt- und Lebensanschauung für
Psychastheniker auch nur einigermaßen
richtig eingeschätzt, dann erwachsen
unserer evangelischen Kirche eine ganze
Fülle ernster neuer Aufgaben«, von denen
in den hier vereinigten Vorträgen eine
ganze Reihe mit Ernst und Gründlich-
keit in Angriff genommen werden.
St.
294
V. Eingelaufene Bücher‘).
Agostino Gemelli, Il metodo degli equivalenti. Firenze 1914.
W. Hammer, Grundzüge der erzieherischen Behandlung sittlich gefährdeter
und entgleister Mädchen in Anstalten und Familien. Frankfurt a. O. Max
Richter.
*C. Scribner Ames, The Psychology of Religious Experience. London,
Constable ıgıo, 428 S.
Carl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. Tü-
bingen, J. C. B. Mohr. 1914.
E. Koch, Psychologie in der Religionswissenschaft. Tübingen, J. C. B. Mohr.
1914.
Valli, Il fondamento psichologico della religione. Rom. Löscher.
W. Lüttge, Religion und Dogma. Tübingen, J. C. B. Mohr.
L. Heitmann, Großstadt und Religion. Hamburg, Boysen 1914.
* W. R. Inge, Studies of English Mystics. London, Murray 1907. 239 S.
Chortander, Christentum, Materialismus und Spiritismus. Leipzig, Altmann.
M. Trippenbach, Rosamunde Juliane von der Asseburg, die Prophetin und
Heilige des Pietismus. Selbstverlag des Verfassers (Pastor in Wallhausen
am Kyffhäuser). 1914. I.—.
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276 S.
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(Dissert.). University of Chicago, 1910. 96 S.
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1909. 122 S.
*James H. Leuba, La Psychologie des phénomènes religieux. Paris, Félix
Alcan, 1914. 414 S.
Johannes Warneck, Lebenskrafte des Evangeliums. Missionserfahrungen
innerhalb des animistischen Heidentums. 5. Aufl. Berlin, Warneck 1913.
*Martin Wohlrab, Grundriß der neutestamentlichen Psychologie.
E. Lombard, Les extases et les souffrances de l’apotre Paul. Lausanne. Bridel
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W. Elert, Die Religiosität des Petrus. Leipzig, Deichert ıgıı. 82 S.
*Carl Meinhof, Afrikanische Religionen. Berlin, Buchhandlung der Ber-
liner evangelischen Missionsgesellschaft, 1912. 153 S.
*Wilhelm Windelband, Einleitung in die Philosophie. Tübingen, J. C. B.
Mohr, 1914. 441 S.
O. Pfister, Die psychologische Entratselung der religiösen Glossolalie. Leipzig-
Wien, Deuticke 1912.
Agostino Gemelli, Considerazioni intorno al problema dell’ origine dell’
uomo. (Estratto dalla Rivista Tridentina). 1914. 32 S.
1) Ausführliche Besprechung der mit * bezeichneten Bücher ist im Rahmen
von Sammelberichten vorgesehen.
V. Eingelaufene Bücher. 205
Agostino Gemellli, De scrupulis. Psychopathologiae specimen. Firenze
Libreria editrice Fiorentina, 1913.
— —, Nuovi metodi ed orizzonti della psicologia sperimentale. Firenze Libreria
editrice Fiorentina, 1912.
*George Barton Cutten, The psychological phenomena of Christianity.
New York, Scribner’s Sons, 1912. 497 S.
Sigmund Freud, Totem und Tabu. Wien, Heller 1914.
Max Kemmerich, Das Kausalgesetz in der Weltgeschichte. 2 Bande. Min-
chen, Albert Langen, 1913. 1914. 398 und 448 S.
E. W. Mayer, Das psychologische Wesen der Religion und die Religionen.
Straßburg, Heitz 1906.
*Georg Misch, Geschichte der Autobiographie. Leipzig, Teubner 1914.
P. Saintyoes, La force magique. Paris, Nourry 1914.
*Max Schele T, Ueber Ressentiment und moralisches Werturteil. Leipzig,
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298
VI. Zeitschriftenschan.
Anthropos. Internationale Zeit- Im 3./4. Heft 1914 ist ein Aufsatz
schrift für Völker- und Sprachenkunde. | bemerkenswert von D. ErnestoCoz-
Im Auftrage der Oesterreichischen Leo- |zi: Credenze e superstizioni nelle Mon-
Gesellschaft, mit Unterstützung der | tagne dell’ Albania. —P. J. Dols,C.M.L.
Deutschen Görres-Gesellschaft heraus- | bringt im Jahrgang 1915/16, Heft 1—6
gegeben unter Mitarbeit zahlreicher Mis- | reichhaltiges Material über: La vie
sionäre von P. W. Schmidt, S. V. D.|chinoise dans la province de Kan-sou
Anthropos-Administration: St. Ga- | (Chine), das auch viel Interessantes für
briel-Mödling bei Wien. Band IX; Heft | den Religionspsychologen birgt. Geburt,
I, 2. Jänner-April 1914. Ehe, Tod und Jahresfeste werden in ihrer
3. 53: P. Albert Schweiger: | Widerspiegelung der religiösen Anschau-
Der Ritus der Beschneidung in der Kaff- | ungen und mit den entsprechenden ani-
raria, Südafrika. Der Aufsatz bringt | mistischen und religiösen Erklärungs-
einige interessante Belege zur Moral der | versuchen des Volksglaubens anschaulich
Primitiven, insbesonders auch in ihrem | geschildert. — Im ı./2. Heft 1915/16
Verhältnis zu den christlichen Kaffern. | findet sich ein recht interessanter Beitrag
S. 287: Varii autores: Das|von P. Fr. Vormann, S. V. D.:
Problem des Totemismus. Eine Diskus- | Die Initiationsfeiern der Jūnglinge und
sion über dıe Natur des Totemismus und | Mädchen bei den Monumbo-Papua (Neu-
die Methode seiner Erforschung. Guinea). Die Mannbarkeitszeremonien in
In 14 Originalaufsätzen und zwei;ihrer Vermischung zauberischer und
Sammelreferaten sollen die Ansichten |sexueller Faktoren sind ja eine Fund-
von Autoritäten in der Totemismus- |grube für die Untersuchung primitiven
forschung gebracht werden. Volkslebens nach der zauberisch-reli-
Die Einführung und Zusammenfas- | giösen Seite. Besonders wertvoll sind die
sung der Diskussion hat P. W. Schmidt | Texte in der Monumbosprache mit Inter-
übernommen. linearversion, die der Interpretation
Im vorliegenden Heft kommt nach der | vorangestellt sind. — Im 3./4. Heft
Einführung zunächst John R. Swanton, | 1915/16 untersucht P. V. Cathreir,
Washington, zu Wort, der über das|S. J. den Gottesbegriff der Sulus unter
soziale und emotionale Element im Tote- | kritischer Prüfung verschiedener ethno-
mismus spricht (S. 289—299). Danach | logischer Ansichten, besonders derer von
behandelt W. Wundt (S. 299—325) den|E. Sidney Hartland. Im selben Heft
Totemismus und die Stammesorgani- erzählt Gustav Schneider von
sation in Australien. der malayischen Krokodilbeschwörung,
Die Beziehungen zwischen beiden |die in ihren Einzelheiten einige psycho-
sind, wie Wundt gegen Durkheim be- | logisch interessarte Tabugebräuche ent-
tont, keine einseitigen, sondern wechsel- | halt. Ferner wird im gleichen Heit die
seitige und in dieser wechselseitigen Be- Diskussion über die Natur des Totemis-
ziehung greifen die Totemkulte ebenso- | mus und die Methode seiner Erforschung
sehr in die gesellschaftliche Organisation | fortgesetzt (Varii autores).
wie diese in jene ein. Der allgemeine Wert der Anthropos-
eee eee ee
VI. Zeitschriftenschau.
hefte besteht vor allem darin, daß viele
ihrer Berichte Anspruch machen können,
als gutes und oft seltenes Quellen-
material zu gelten.
G. Hinsche (Halle).
Archiv für Religionswis-
senschaft XVII, Heft 1/2 (Januar
1914) S. 1—16.
Nathan Söderblom (Leipzig).
Ueber den Zusammenhang höherer Göt-
tesideen mit primitiven Vorstellungen.
Der Animismus der Primitiven ist
zweifellos für die Entstehung des Gottes-
glaubens von größter Bedeutung, aber
er allein reicht bei weitem nicht aus zum
Verständnis der geistigen Welt, der
Religion, der Magie und ihrer Riten bei
den Primitiven. Er erklärt weder das
neuerdings vielbesprochene Mana, die
unpersönliche »Machte, noch die »Ur-
väter« oder die hohen, von mehreren
Forschern als urmonotheistiscne Gottes-
gestalten betrachteten Wesen der primi-
299
der hier skizzierte von S., zur Erklärung
der Entstehung und Abkunft gewisser
religiöser Ideen und Vorstellungen (hier
der höheren Gottesvorstellungen) sich
nicht auf eine Wurzel zu beschränken
(hier etwa: sich für alle Fälle auf eine
starre Urmonotheismushypothese zu ver-
steifen), sondern sie aus einer Mehrzahl
von Quellen und Motiven herzuleiten,
und so in der Erklärung zu differenzieren,
einen Fortschritt zu bedeuten. Eine
solche Betrachtungsweise dürfte auch
deshalb wichtig sein, weil sie mit der
andern Einsicht zusammenhängt bzw.
mit einer gewissen Selbstverständlichkeit
zu ihr führt, daß wir es bei einer reli-
giösen Vorstellung, wie z. B. der mono-
theistischen Gottesidee, nicht, wie die
einheitliche Bezeichnung es nahelegen
könnte, mit einer einheitlichen und ein-
deutigen, überall gleichen Erscheinung
zu tun haben, sondern in der Regel mit
einer sehr mehrdeutigen Größe, die je
nach dem Kulturboden, auf dem sie
tiven Vorstellung. Ueber die zeitliche | erwachsen ist, je nach dem Zusammen-
und begriffliche Priorität dieser drei
|
hang, in dem sie mit dem sonstigen
Vorstellungen: Geist oder Seele, Macht, | geistigen Wesen und mit den übrigen
Urheber, herrscht gegenwärtig in derjreligiösen Vorstellungen steht,
religionsgeschichtlichen Forschung Streit.
S. vertritt nun die Meinung, daß an der
Entstehung und Entwicklung des Gottes-
glaubens in eigentlichem Sinn und der
höheren Gotteserkenntnis alle drei Grund-
vorstellungen beteiligt gewesen sind. Da-
bei ergibt sich ihm überraschenderweise,
daß charakteristische Unterschiede der
verschiedenen Hauptkulturen der Welt-
geschichte sich eben in der Fortbildung
der einen oder der andern der primitiven
Vorstellungen kundtun. »Im großen und
ganzen kann gesagt werden, daß die
primitiven Anfänge der Gotteserkenntnis
in den drei großen Zivilisationen ver-
schiedentlich weitergeführt wurden, näm-
lich in China die Ehrfurcht vor dem
hohen Urheber, in Indien das Gefühl von |
der geheimnisvollen Machtsubstanz, im
vorderorientalisch-abendländischen Ge-
biet die Erkenntnis der Gottheit als einer
wollenden und waltenden« (S. 16). Das
Urteil über die Richtigkeit dieses letzte-
ren Ergebnisses muß dem zuständigen
spezialistischen Religionsforscher über-
lassen bleiben. Dagegen scheint uns
prinzipiell ein derartiger Versuch, wie
mr mr m nn
jeweils
eine sehr verschiedene Ausprägung und
Bedeutung, sehr verschiedenen Sinn und
Wert haben kann.
t Konrad Schröder (Marburg).
Ebenda XVIII Heft 1/4, 1915. Von den
Aufsätzen der reichhaltigen und hoch-
wertigen Zeitschrift, die für den Religions-
psychologen von besonderem Interesse
sind, seien hervorgehoben die Abhand-
lung Ludwig Wenigers über die
Seher von Olympia, ein vorzüglicher
Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des
antiken Opfer- und Seherwesens über-
haupt. Alfred Körte behandelt die
eleusinischen Mysterien. Besonders hin-
gewiesen sei auf die Beiträge W. Bous-
sets: Zur Dämonologie der späteren
Antike, die auch die interessante ayysio¢-
Frage mit ihren Scnlissen auf die Priori-
tat des Terminus im Heiden- oder Juden-
tum streifen. Wolf WilbelmGraf
Baudissin analysiert in eingehender
Darstellung den Begriff: »Gott schauen«
in der alttestamentlichen Religion.
XIX, Heft ı, 1917. Georg Wis-
sow a regt in einem Aufsatz: »Römische
300
Götter im Barbarenlande+ zu weiteren
Studien an. Wenn auch im wesentlichen
historisch gehalten, bietet das Thema
auch manches Wichtige zur Psychologie
der Kultübertragung. Dasselbe gilt von
Martin P. Nilssons Studien zur
Vorgeschichte des Weihnachtsfestes.
Schließlich sei noch aufmerksam ge-
macht auf den Bericht Otto Wein-
reichs, der unter dem Titel: »Reli-
giöse Stimmen der Völker« über dieses
bei E. Diederichs erscheinende Sammel-
werk von Walter Otto eingehend berich-
tet, das auch dem Psychologen wert- | 1.
| Ebenda XV Nr. 60.
VI. Zeitschriftenschau.
H. Delacroix, Remarques sur
»Une Mystique Moderne«.
Bemerkungen zu der Arbeit von
Flournoy unter dem Gesichtspunkt: Die
Beziehung der mystischen Zustande von
Mile. Vé zum Mystizismus im allge-
meinen.
S. 354—374-
IQI5.
E. Molnar: Une nouvelle méthode
en psychologie religieuse. Einzelne Indi-
viduen werden untersucht. Sie haben
einen Fragebogen zu beantworten,
volles Quellenmaterial gesammelt bieten | 2. ein genaues lagebuch ihres Innen-
kann. G. Hinsche (Halle).
Archives dePsychol. XV Nr. 57
bis 58. S. I—224. 1915.
Th. Flournoy,
moderne (Documents pour la psycho-
logie religieuse).
Den Hauptteil bildet die Veröffent-
lichung von schriftlichen Mitteilungen,
die eine zur Zeit der Veröffentlichung
sıjährige unverheiratete Dame, Leiterin
eines evangelischen Instituts für junge
Mädchen, dem Verf. gemacht hat. Sie
lebens zu führen, 3. und das ist das
neue, eine Kurve ihres psychischen Le-
bens in Diagramme einzutragen. Das
geschieht auf folgende Weise. Das psy-
Une mystique | chische Leben schwankt zwischen den
Extremen: Gemeinschaft mit Gott —
Sünde, dazwischen das Gefühl des »Fal-
lense. Man zeichnet nun ein Diagramm
derart, daß als Ordinaten diese Erlebnis-
stufen von der tiefsten zur höchsten anf-
getragen sind, wobei sich durch Drei-
teilung jeder der genannten Stufen im
ganzen neun ergeben, während nach der
gipfeln in der ausführlichen Schilderung | Abszisse die Zeit von 2 zu 2 Stunden
nächtlicher religiöser Ekstasen, die als
Klimax einer Entwicklung zu gelten
haben. Periodische erotomanische An-
fälle, durch ein im 18, Jahr erlittenes
sexuelles Trauma ausgelöst, die das ganze
Leben der Mlle. Cécile Vé vergiftet
haben, werden durch die beruhigende
und beglückende Erscheinung eines un-
sichtbaren »geistigen Freundes«s abgelöst,
auf diese folgen erst die eigentlichen
Ekstasen, die nach 31 Wiederholungen
aufhören, um einer gesicherten Frömmig-
keit Platz zu machen. Die Schilderung
dieser ekstatischen Vorgänge dürfte das
Hauptinteresse für den Religionspsycho-
logen besitzen. In einigen Erläuterungen
weist der Verf. auf die Aehnlichkeit und
Verschiedenheit dieser zu den Berichten
der Mystiker hin, betont ihren Zusam-
menhang mit der Erotomanie und bringt
einige psychoanalytische Betrachtun-
gen, in denen vor allem die Wirksamkeit
des Elektra-Komplexes betont wird.
Ebenda XV Nr. 60. S. 338—353.
1915.
steht. Ein analoges Diagramm wird für
das praktische Verhalten angelegt. Dieses
muß nun alle 2 Stunden ihren Erlebnis-
zustand und ihr Verhalten in diese
Diagramme eintragen. Die Anwendung
der Methode wird an 3 Beispielen aus
geführt. Von den Schlüssen des Verf.
sei der folgende angeführt: »Die religiöse
Erfahrung ist ein Umformer und ein
Regulator von Energien. Ihre Rolle,
weit entfernt davon, transzendent zu
sein, ist im Gegenteil organische
(S. 373).
Ebenda XVII (Nr. 68) 1919, S. 297
bis 308.
R. de Saussure, A propos d’un
disciple d’Unternährer.
Der Verf. hatte einen paranoischen
Anhanger der von Unternahrer (1759
bis 1824) gegründeten, in der Schweiz
noch heute bestehenden Sekte zur Beob-
achtung. Er möchte die Ideenwelt Unter-
nahrers aus der Analogie mit der seines
Schülers erklären: Die gesteigerte Sexu-
alität seiner Schriften, die ausführliche
VI Zeitschriftenschau.
Schilderung und MHochschatzung der
Genitalien, die durch zahlreiche Zitate
belegt wird, soll aus sexueller Inferiorität
stammen. Minderwertigkeits-Wesen von
Adler und Oedipus-Komplex nach Freud
— denn U. war stets seiner Mutter sehr
zugetan — sollen sich gegenseitig er-
gänzen. Koffka (Gießen).
Die christliche Schule,
VII. Jahr, 3. und 4. Heft 1916.
Dr. Georg Wunderle in Eich-
statt: Die Parabel vom verlorenen Sohn
und ihre Wirkung auf Schulkinder. Er-
gebnis einer umfassenden Befragung von
Schulkindern, bemerkenswert vor allem
durch ihre vorsichtige Beurteilung der
von den Kindern über ihre Eindrücke
und Vorsätze gemachten Aussagen.
St.
Christentum und Gegen-
wart (Nürnberg), ıı. Jahrgang Nr. 5, 6
(Mai und Juni 1920).
Geyer, Zur religiösen Erkenntnis.
— Aus dem Eindruck heraus, daß in der
modernen Religionsbetrachtung die reli-
giöse Erkenntnis nicht zu ihrem Recht
kommt, bespricht Geyer die verschie-
denen Formen des »Ueberbewußtseinse,
d. h. der Berührungen mit der »Ueber-
welt«, wie sie in den prophetischen Er-
scheinungen vorliegen. Sehr bemerkens-
wert als Anzeichen dafür, welche Pro-
bleme in den nächsten Jahren an die
Religionspsychologen herantreten wer-
den. St.
Christliche Welt, 28. Jahrg.,
1914.
Nr. 1, 2, 3: R. Planck, Studium
taedium odium artis mysticae. — Pl.
gibt das Bedenken, daß Mystik religiöse
Dekadenz sei, nur für die Mystik der
ausgehenden Antike zu. Seit Eckehart
dagegen habe sich die Mystik von nega-
tiver Passivität und Weltflucht weg-
gewendet zu einer positiven Lebens-
freudigkeit. Als geistige Sammlung ist
sie auch der Gegenwart förderlich. Wei-
terhin hat sie wegen ihrer freien Stellung
zur Tradition und ihres Universalismus
den Tatbeweis eines autonomen evange-
lischen Christentums zu liefern. Im
Gegensatz zur alten Mystik muß aber die
en gr e S ee
301
Mystik der Gegenwart ein positives Ver-
hältnis zur Natur und Kultur haben. —
Als Vollender der M. erscheint Pl. Jo-
hannes Müller.
Nr. 2:G. Biedenkapp, Technik
und religiöse Verinnerlichung. — Erzie-
lung technischer Fortschritte steht in
engem Zusammenhang mit inniger Fröm-
migkeit. (Franklin, angelsächsische Sek-
ten.)
Nr. 5: S. Rauh, Gottsuchen und
Menschenfinden. Ein Wort zu Emanuel
Quints theolog. Sendung.
Nr. 5, 6, 7, 8: Sippell, Die
gegenwärtige Krisis in der deutschen Ge-
meinschaftsbewegung und ihre dogmen-
geschichtlichen Voraussetzungen.
Durch genaues Referat über die Wesley-
sche Theologie und gelegentliche längere
Zitierungen aus Tagebüchern und Pre-
digten älterer englischer Methodisten
bietet der Aufsatz auch Wichtiges für die
religionspsychologische Forschung.
Nr. 6: K. J. Friedrich, Fichte
als religiöser Verkünder. — »Das Kant-
erlebnis machte F. zum Moralisten, seine
Flucht nach der Willensniederlage zum
Religiösen, die Entdeckung der johan-
neischen Religion zum (johanneisch-my-
stischen) Christen.
Nr. 27: Wolfgang Liepe, Höl-
derlins Empedokles — das Christusdrama
der Romantik.
Nr. 27, 28: Erich Foerster,
Individuum und Gemeinschaft. — Ein-
zelgefühle und Gemeinschaftsgefühle sind
in einem feierlichen Rhythmus die Kräfte
des geschichtlichen Werdens. Ihr Kom-
men ist weder zu berechnen noch zu er-
zwingen, aber zu erleben.
Jahrgang 1915: .
Nr. 4: Wilhelm Teufel, Was
geht in der Seele des Soldaten während
eines Gefechtes vor? — Im Gefechte
nährt sich die Seele vom Unter-
bewußtsein. Sofern dort auch reli-
giöse Gedanken und Gefühle sich vor-
finden, wirken sie als Motive und Quie-
tive.
Nr. 7: Heinz Beckmann, Die
religiöse Bewegung. — B. geht von der
snicht wegzuleugnenden« Tatsache aus,
daß der Krieg eine religiöse Bewegung
mit sich brachte, der es zwar an Breite
nicht aber an Tiefe mangelt und die ihm
302
bleibende Kraft verbürgt. Ihr Inhalt:
Freude, die heilige Notwendigkeit des
Geschehens spüren zu dürfen und Ge-
fühl der Scham, so großer Dinge nicht
wert zu sein. Ihre Herkunft erklärt er
sich nicht aus einer Bekehrung, sondern
aus dem Wiederentdecken von Ländern
und Tiefen der Seele, die vorher verhüllt
waren.
Nr.7,,8:EmmyBeckmann, Die
religiöse Entwicklung Gustav Frenssens.
Nr. 37:ReinhardBuchwald,
Kriegsfrömmigkeit. — Bekenntnisse, die
in Kriegsgedichten Form gefunden haben,
dienen B. zum Beweis dafür, daß mit
dem Kriege eine neue Frömmigkeit er-
stand. Wie die Gedankenwelt der (von
B. im Auszug mitgeteilten) Gedichte
christlich sei, so werde auch Christus be-
wußt zum Träger der neuen Frömmig-
keit.
Nr. 37, 38: F. Siegmund-
Schultze, Das religiöse Erleben der
Arbeiterschaft während des Krieges.
Jahrgang 1916:
Nr. 14, 15, 16: H. Hänig, Der
moderne Okkultismus und seine Pro-
bleme in ihrem Vernältnis zu Religion
und Wissenschaft. — Die Möglichkeit
der Erkenntnis des Uebersinnlichen steht
für H. fest. Ihn festigt in dieser An-
nahme die Beobachtung der Materiali-
sationsphänomene (Schrenck-Notzing),
wodurch die Hypothesen des Betrugs,
der Selbsttäuschung und der Massen-
halluzinatıon widerlegt seien. Der Weg,
der weiterführt, sei der der Mystik und
der auf die Nachtseite des Seelenlebens
ausgedehnten Psychologie, d. i. des ex-
perimentellen Okkultismus (Rochas, Dur-
ville).
Nr. 17, 18: Der religiöse Mensch vor
der sozialen Tat. Bekenntnis eines My-
stikers. Das soziale Schaffen ist wert-
voll, weil es zur Geburt Gottes in der
Seele des Menschen verhilft.
Nr. 28, 29, 30, 33, 35:H.H.Wendt,
Das religiöse Erleben und Erlebnis im
Christentum. — Religiöses Erlebnis ist
die unmittelbar gewonnene Erfahrung
von dem wirklichen Dasein Gottes.
Solche Erlebnisse klar zu erkennen, ist
schr schwer, da Wortzeugnisse über sie
nur ein unvollkommenes Mittel der Er-
kenntnis sind, da ferner dies Erleben
— e a ŘŮĖŮĖŮŮŮ o e e a a a ae aae a aeaa
VI, Zeitschriftenschau.
ganz individuell ist und schließlich wegen
seiner irrationalen Art krankhaften Vor-
gängen des Geisteslebens gleichartig er-
scheint. Diese Schwierigkeiten fallen
aber fort bei den religiösen Eılebnissen,
die sich vorwiegend auf dem Gebiete des
Willens vollziehen; denn die innere Kraft
zu sittlichem Wollen bezeugt sich als
Wirklichkeit durch ihre Wirkun-
gen, sie ist in ihrer ethischen Art allge-
mein verständlich und trägt die Bürg-
schaft ihres Gesundseins in sich selbst,
da sie den Menschen seiner höchsten Be-
stimmung entgegenführt. Darin liegt die
Ueberlegenheit des ethischen Typus des
religiösen Erlebens (Jesus, Augustin,
Reformatoren) und des ihm verbunden
intellektuellen (Erleben der Erleuchtung:
Propheten, Montanismus u. ä.) gegenüber
dem mystischen Gefihlserlebnis der
»himmlischen Wonnee.
Nr. 41: Katzer, Das religiöse Er-
lebnis und die Phantasie. — Weder der
historische noch der dogmatische Christus
können religiöse Erlebnisse hervorbrin-
gen. Das vermag nur der Christus, den
sich unsere Phantasie auf Grund der
Ueberlieferung frei, elastisch, individuell
schafft.
Jahrgang 1917:
Nr. 40: Wilhelm Stapel, Die
religiöse Unwahrhaftigkeit. — Religiös
unwahrhaftig ist, wer an Stelle des
Wesenszusammenhangs mit Gott einen
Glauben an die Vorstellung »Gott« setzt.
»Und das tun heute die meisten.e
Nr. 41, 42: Karl Röttger, Die
Religion des Kindes. — Die Relıpion des
Kindes ist das in ihm vorhandene Eigen-
schöpferische, das sich am meisten in
seiner Ehrfurcht, in seinem ganz großen
Staunen zeigt.
Nr. 33—35: FriedrichRittel-
meyer, Von der Theosophie Rudolf
Steiners. St. ist sich darüber klar,
daß Religion und Okkultismus etwas
völlig Verschiedenes sind und daß er
(St.) Okkultismus bringt. Trotzdem wird
von seiner »Geisteswissenschafte her Re-
ligion und Christentum sehr wesentliche
Hilfe erhalten. Vor allem bedeutet sie
die Ueberwindung des Materialismus,
sodann bringt sie den Kräften der Seele
Gesundung und schöpferische Entfaltung
und führt sie zur Berührung mit Gott,
VI. Zeitschriftenschau,
į
zum Schauen der göttlichen Welt. Den
Weg zu alledem zeigen die theosophi-
schen »Uebungen«, welche die seelischen
Kräfte nach ihren eigenen Gesetzen
schulen. Dadurch wird die Seele von
selbst religiös empfänglicher und wer
diesen Uebungen sich unterzieht, spürt
ungeahnte Seclenkräfte höherer Art.
Damit eröffnet sich auch ein neues Ver-
ständnis für Mystik (Ekstase, Vision),
Mythologie und manche biblische Ueber-
lieferung (Erscheinungen, Träume).
Ebenso ist mit dem Erlebnis des »auBer
dem Leibe sein können« eine neue
Erfassung der Jenseitsgewißheit ge-
geben.
Jahrgang 1918.
Nr. 2, 3,4: JohannesMüller,
Theosophie. — M. glaubt an die Tat-
sächlichkeit okkulter geistiger Vorgänge
und Kräfte. Aber der Sinn hiefür ist
303
des Reiches Gottes verkannt und in seiner
Verwirklichung aufgehalten.
Nr. 18, 19: Dessoir und Stei-
ner, Besprechungen des Dessoirschen
Buches »Vom Jenseits der Seelee durch
Greßmann und Rittelmeyer.
Nr. 20—24: Rittelmeyer, Jo-
hannes Müller und Rudolf Steiner.— R.
erkennt die Bedeutung an, die M. durch
seine Botschaft vom Unmittelbaren und
seine Forderung des religiösen Erlebens
zukommt. Aber im Gegensatz zu ihm
glaubt er, daß gerade durch die von
Steiner empfohlenen Uebungen die
menschliche Seele die Empfänglichkeit
für das bekommt, was M. ihr nahe-
bringen will. Das Erleben wird durch
die Anthroposophie klarer und stärker.
Aber weil wır nun auch die Fähigkeit
bekommen, höhere Organe zu gebrau-
chen, wird die Gotteswelt auch reicher
nur wenigen Einzelnen als Gnadengabe | und tiefer und die Gefahr durch Zwi-
verliehen. Solange diese mit ihren be- | schenwesen von Gott getrernt zu werden,
sonderen medialen Fähigkeiten sich in list ebenso unbegründet wie die, durch
den Dienst des Ganzen stellen, ist der | die Kenntnis der Naturgesetze der Natur
Okkultismus segensreich. Dagegen wird | entfremdet zu werden. Wird aber durch
er zur Gefahr, wenn er herrschen will.
Dies kann das okkulte Vermögen um so
weniper, als es wie jedes andere mensch-
liche Vermögen an die individuelle, be-
schränkte Verfassung seines Trägers ge-
bunden ist. Ebensowenig ist es möglich,
okkulte Vermögen absichtlich hervorzu-
rufen, wie auch St. nicht auf dem Boden
der Wahrheit bleibt, sondern um das
Systems der Geisteswissenschaft willen
um einen Kern von Tatsachen »Wahn«
bildet. Daher sieht M. in der Theosophie
etwas dem ursprünglichen Christentum
Fremdes, ja Gefährliches; denn die Theo-
sophie will in das Christentum für das
Seelische das Okkulte einschmuggeln
und das göttliche Erlösen durch my-
stische Machenschaften ersetzen. Dies
alles aus dem verhängnisvollen Irrtum
in den okkulten Fähigkeiten etwas we-
sentlich Göttliches, in der Regung
okkulter Kräfte religiöse Empfanglichkeit
zu sehen, während diese Fähigkeiten nur
sdie endlichen Organe des Glaubensver-
mögens der unendlichen Seele« sind.
So wird der Glaube durch ein mediales
Wissen verschüttet und das Wesentliche
der Tat Jesu, die Offenbarung und Be-
gründung der seelischen Weltordnung
die Anthroposophie der religiöse Sinn
nicht verschüttet, so wird auch nicht
das Christentum verfälscht. St. will
vielmehr dem Christus dienen und in
dem Lebenszusammenhang mit dem
lebendigen Christus, von dem er weiß,
behalten auch die Erlebnisse Müllers
‚ihre Bedeutung.
| Nr. 48, 49: Christian Geyer,
Theosophie und Theologie. — Theosophie
ist keine Religion. Aber ihre Probleme
und Lösungen sind für die Theologie
sehr wichtig. Besonders ist es eine
religionspsychologisch noch bedeutungs-
volle Tatsache, daß sie mit der Annahme
bricht, es gebe nur ein normales Be-
wußtsein, das durch alle Zeiten der
Geschichte das gleiche gewesen sei.
Diese Annahme einer Entwicklung des
Bewußtseins ist nicht nur für die For-
schung bedeutsam, sondern hilft auch
den Einwand überwinden, als seien die
religiösen Erlebnisse, die dem bisherigen
Bewußtsein widerstreiten, Wahn. Wei-
terhin finden die Probleme: Glauben
und Wissen, Wesenskultur und Bewußt-
seinskultur eine neuartige Behandlung,
wobei die Theosophie die Müllerschen
Entgegensetzung durch eine Versöhnung
304 VI. Zeitschriftenschau.
ablöst. Zur Berührung aber gelangen die
Pole der Religion und der Theosophie
in der Jenseitsgewißheit, auf der neben
der Geschlossenheit des neuen — der
Religion angemesseneren — Weltbildes
die Anziehungskraft der Theosophie be-
ruht.
Nr. 7, 8: Heinrich Meyer-
Benfey, Emst Lissauer als religiöser
Dichter.
Nr. 22—26: FriedrichNieber-
gall, Zwei Wochen im Kloster.
Nr. 37, 38: ThaddausEngert,
Des Marienkultus letzter Sinn.
Jahrgang 1910.
Nr. 18, 22: H. Greßmann und
Fr. Rittelmeyer, Sage oder Er-
weil sie alle Geheimnisse auflöst, alles
Irrationale ins Rationale übersetzt. Dem-
gegenüber macht Ri. geltend, es sei un-
möglich, die A. snach den Denkgewohn-
heiten einer ganz anderen Weltanschau-
unge zu beurteilen und fordert Prüfung
der St.schen Methoden statt äußer-
licher Kritik an Ergebnissen. An einzel-
nen Beispielen (Vaterunser-, Kreuz-,
Christus-Licht-Erlebnis) zeigt er, wie
man höhere Welten geradezu physisch
wahrnehmen kann. Solch experimen-
telles Eindringen scheint ihm notwendig
um zu erkennen, daß die Welt des
Christentums einer ganz anderen Heim-
stätte bedarf, als es die der gegenwärtigen
Weltanschauungen ist, um verstanden
lebnis? Zur Taufe Jesu. — G. sieht in|zu werden. Aehnlich wie Ri. betont
der Taufgeschichte eine »Berufungssage« | dann auch F., daß die A. nicht »religions-
(Uebertragung eines vorchristlichen Mär- : fremd«, sondern höchst religiös sei, denn
chenmotivs), R. ein »Erlebnise und zwar | sie zeige den »metakosmischen« Hinter-
begründet er es damit, daß auch heute grund und offenbare damit die göttliche
noch Erlebnisse möglich sind (z. B. Er- | Herkunft des Christentums.
fahrung eines »Raumes in höherem
Sinnes, Berührung mit »geistigen Wirk-
lichkeitene, Einkleidung seelischer Vor-
gänge in bildhafte Erscheinung), die
solche biblische Erzählungen in neuem
Lichte erscheinen lassen. Nur vom Boden
solcher »experimenteller« Erfahrung aus
sei dann Kritik möglich.
Nr. 20—22: Karl Kof, Gibt es
Grenzen der Erkenntnis? — Scheidung
von wissenschaftlicher und religiöser Er-
kenntnis. Diese vermag nicht nur die
ihm gleichzeitig mit der Verstandes-
erkenntnis gegebene Welt zu ergreifen,
sondern auch eine andere nur ihr zu-
gängliche. Innerhalb der religiösen Ge-
gebenheit ist der Fortschritt der reli-
giösen Erkenntnis unendlich.
Nr. 22, 23, 24, 26: F. Gogarten,
Der anthroposophische Christus; Nr. 37,
38: F. Rittelmeyer, Vom Christus
der Anthroposophie; Nr. 43: O. Feyer-
abend, »Noch einmal ,Der anthro-
posophische Christus‘¢. — G.s Darstellung
gründet sich hauptsächlich auf »Alfred
Meebold, Der Weg zum Geiste, nimmt
aber auch auf Steiner selbst Bezug.
Seine Kritik gilt dem sorthodoxen Dog-
matismus+ und »dem klapperdirren Ra-
tionalismus in der üppigen Phantastik«,
Nr. 25: D. Tittmann, Christus-
offenbarungen und Kirche. — In der
Religion handelt es sich darum, daß
das menschliche Ich seiner unend-
lichen Aufgabe sich durch geistige Ver-
arbeitung der gesamten Welt zu Gott
|zu erweitern inne wird. Religion ist
also immer im Fluß. Erstarrung -tritt
ein, wo eine religiöse Idee gegenüber
dem übrigen religiösen Leben abgegrenzt
und zu alleiniger Bedeutung erhoben
wird. Demgegenüber gilt es, die wert-
vollsten Erlebnisse des Menschen als
Christus-Offenbarungen bewußt zu ma-
chen und so im Fluß der Offenbarungen
zu bleiben. Solche Erlebnisse waren zu
Kriegsanfang das Erlebnis des Volks-
tums und sind heute Sozialismus und
Pazifismus.
Nr. 30: E. Ortloph, Ein junger
Mystiker. (Ueber den Dichter Theowill
Uebelacker.)
Nr. 35, 36: M.M. Ströter, Ueber
moderne Jesusdichtung (Röttger, Rilke,
zur Linde u. a.).
Nr. 44—46: K. Bornhausen,
Protestantismus als Tatglaube. — Drei
Epochen des Lutherschen Glaubenstyps.
Luther: Der Glaube als Erlebnis. Schil-
ler: Der Glaube als Wille. Der Welt-
besonders aber wird ihm die A. zur |krieg: Der Glaube als Tat. — »Der Krieg
sreligionsfremdesten Anschauungsweises, | kann freilich niemals Betätigung des
VI. Zeitschriftenschau 305
Christenglaubens sein, aber unser Chri-
stenglaube kann im Krieg zur Tat
werden.e Die reformatorische Tat des
frommen Bewußtseins im Krieg bestand
daher in der Sehnsucht (nach Liebe aus
seelischer Vereinsamung, nach Gott im
Verlangen nach einer letzten Entschei-
dung), im Opfer (Tod — die schöpferische
Tat), in der Dankbarkeit.
Georg Merz (München).
Deutsche Psychologie, I. Bd.
(1916), Heft ı und 2.
Konstantin Oesterreich,
Der Besessenheitszustand, seine Natur
und seine religions- und völkerpsycho-
logische Bedeutung.
Die Dorfkirche VII, Heft 6
(März 1914), S. 231 ff.
Th. Kappus, Vom Humor in der
Volksreligion. — Weist auf Grund per-
sönlicher Erfahrungen darauf hin, daß
das Landvolk (speziell das protestan-
tische), sonst voller Humor, in allen
religiösen Dingen »keinen Spaß ver-
steht«.
EvangelischeFreiheit,
Jahrgänge 1914—1920.
14. Jahrgang, Heft 7 (Juli 1914),
S. 267 ff.: Meine Erlebnisse als Prediger.
Von einem jungen Thüringer Land-
pfarrer.
Desgl., Heft 10 (Oktober 1914), S.
376f. Vom Gottesdienst an der Front.
(Aus einem Kriegstagebuch.)
15. Jahrgang, Heft 4 (April 1915),
S. 135: Die Religion in Feldbriefen, mit-
geteilt von O. B.
Desgl., Heft 6 (Juni 1915), S. 214 ff.:
Die Religion und Sittlichkeit in Feld-
briefen, mitgeteilt von O. B.
Desgl., Heft 7 (Juli 1915), S. 244 ff.:
Der Krieg im Erleben der Kinder. Von
Stadtpfarrverweser Gustav Hofe-
lich, Geislingen a. St.
Desgl., a. a. O., S. 248 ff.: Kriegs-
aberglaube. Von Pastor Treblin-
Schmolz. — Im Anschluß an einen
— abgedruckten — Himmelsbrief.
Desgl., . Heft 10 (Oktober 1915),
S. 372 ff.: Volkskundliches aus der Alb
Desgl., Heft 12 (Dezember 1915),
S. 454 ff.: Aus dem Feldbrief eines Theo-
logen, Leutnant der Reserve im Osten.
Erstmals eine AeuBerung aus negativ
ablehnender Stellung zum Krieg.
16. Jahrgang, Heft 1 (Januar 1916),
S. 20ff.: Glaube und Aberglaube im
Krieg. Von Diakonus Weyrich in
Weimar.
Desgl., Heft 2 (Februar 1916), S. 55 ff.:
Erlebnisse und Erfahrungen in Feld und
Lazarett.
Desgl., Heft 3 (Marz 1916) und Heft 4
(April 1916) S. 95 ff. bzw. S. 136 ff.:
Zur Würdigung unserer Kriegsfrömmig-
keit. Von Pfarrer Pauli.
Desgl., Heft 5 (Mai 1916), Heft 6
(Juni 1916) und Heft 7 (Juli 1916)
S. 176ff. bzw. S. 212 ff. und 257 ff.:
Gibt es Christentum ohne Christus-
glauben ? — Von der Spannung zwischen
dem unmittelbaren religiösen Empfin-
den, das unmittelbar zu Gott drängt,
und dem Anspruch, den die Gestalt
Christi religiös, geschichtlich und kirch-
lich-theologisch an uns erhebt.
Desgl., Heft 6 (Juni 1916) und Heft 7
(Juli r916) S. 221 ff. und S. 263 ff.:
Aus der religiösen Gedankenwelt der
Soldaten im Felde. Von Pfarrer Strek-
ker.
17. Jahrgang, Heft 4 (April 1917),
Heft 5 (Mai 1917), Heft 6 (Juni 1917),
Heft 7 (Juli 1917): Sitte und Brauch
der Siebenbiirger Sachsen. Von Pfarrer
R. Honigberger S. 115ff. bzw.
S. 150 ff., S. 184 ff. und S. 213 ff. —
Ein volkskundlich sehr interessanter
Aufsatz.
Desgl., Heft 10 (Oktober 1917), Seite
310 ff.: Soldaten-Gedanken. Von Ober-
lehrer Lic. Fie big. — Bietet einen
Einblick in die religiös-sittlichen Ge-
danken der einfachen Soldaten.
18. Jahrgang, Heft 11 (November
1918), S. 329 ff.: Erschütterungen des
Glaubens durch den Weltkrieg. Von
Professor D. Baumgarten.
20. Jahrgang, Heft 2/3 (Februar-
März 1920), S. 61 ff.: Krankenseelsorge
und Kommunalpolitik von Lic. Ernst
Jahn. — Die Krankenseelsorge eine
psychologische Frage der Seelenkultur
von der Kriegszeit. Gesammelt von | von allgemeiner Bedeutung.
C. Schnerring.
Archiv für Religionspsychologie II/III.
Georg Meckel (Nürnberg).
20
- as ri.
306
Logos, Band VI (1916) Heft ı:
Ernst Troeltsch, Das Ethos der
hebräischen Propheten. — Es ist die
theistisch-religiöse Ethik, die zwar aktiv
und gestaltend, optimistisch und ziel-
gewiß genug ist, die nichts mit Mystik
und Kontemplation, Endlichkeitsgefühl
und Quietismus zu tun hat, die aber die
Triebkräfte und die Ziele des sittlichen
Willens oberhalb der gewöhnlichen Welt,
ihrer natürlichen Bedürfnisse und ihrer
kulturellen Aufgabe hat. Vor allem fehlt
jede Idee des Staates und dessen, was
dazu gehört.
Ebenda: Fritz Münch, Vom
Sinn der Tat.
Ebenda: Georg Mehlis, Der
religiöse Mensch und das religiöse Genie.
— »Das Göttliche ist im Grunde ge-
nommen für jeden Menschen immer das,
was ihm fehlt.«e Das religiöse Genie
sucht diese Antinomie des Endlichen in
seinem Verhältnis zum Unendlichen zu
überwinden und muß dabei heute be-
sonders zwei entgegengesetzte Gefahren
vermeiden: Religion als bloße Stimmung
und Religion als bloße Institution.
Ebenda, Heft 3: Ernst Troeltsch,
S. 265: Die alte Kirche. Eine kultur-
philosophische Studie.
Band VII (1917/1918), Heft 3:
Georg Mehlis, Ueber Lebenswerte.
Band VIII (1919/1920), Heft 2: Ni-
colai v. Bubnoff, Das Problem
der spekulativen Mystik.
Band IX (1920), Heft1: Heinrich
Rickert, Psychologie der Weltan-
schauungen und Philosophie der Werte.
St.
Hochland, Monatsschrift fir alle
Gebiete des Wissens, der Literatur und
Kunst, herausgegeben von Kar]Muth.
11. Jahrgang.
1. Heft 1913/14 S. I—20; 2. Heft
S. 204—217: Else Hasse, Die Na-
turreligion als tragische Weltanschauung.
— Das bewußt religiöse Leben nimmt
seinen Anfang, sobald im Menschen der
Zwiespalt zwischen Gut und Bös erwacht.
Dieser Widerstreit wurde im ersten
Morgengrauen religionsgeschichtlicher
Vergangenheit nicht im Menschen selber
ausgefochten, sondern spielte sich durch
Uebertragung von innen nach außen im
VI. Zeitschriftenschau.
Bereich der Naturerscheinungen ab, die
zu übermenschlichen Wesen personifi-
ziert wurden. Ein typisches Beispiel
hiefür bietet der Inhalt der nordischen
Mythen, deren Grundgedanken in den
modernen Naturreligionen wiederkehren.
Die alten wie die neuen Naturreligionen
haben nur die sinnerschaute Natur vor
Augen, nur mit dem Unterschiede, daß
die alten Menschliches in die Natur
hinausverlegten, während die modernen
die Natur in den Menschen hinein-
projizieren. Der Mensch der Vorzeit,
der seine unbeherrschten Begierden in
die Natur hinausverlegte, fühlte sich in
furcht- und angsterregender Abhängig-
keit von den Mächten der Natur, der
moderne Monist und Pantheist, die sich
nur als ein Stück Natur betrachten,
meint gegen die inneren Leidenschaften
nichts ausrichten zu können, weil man
gegen die Natur nichts vermag. Weil
alles notwendig ist, gibt es nichts Böses;
alles ist gut.
2. Heft S. 190—203; 3. Heft S. 334
bis 345; 4. Heft S. 448—460; 5. Heft
S. 568—577; 6. Heft S. 706—718:
M. Laros, Jon Henry Kardinal New-
man nach neuesten Dokumenten. Ein
religiöser Typus eigener Art, der in
kraftvoller Persönlichkeit das religiðse
Ideal verkörpert, ist Newman. Er hat
selbst die Geschichte seiner religiösen
Psyche geschrieben; seine klassischen
Werke sind die lauterste Offenbarung
seines Innenlebens. Neuerdings hat Wil-
frid Ward in einer als abschließend be-
zeichneten Newman-Biographie die bis-_
her vom Oratorium geheimgehaltenen
Papiere, Briefe und Tagebücher aus der
katholischen Zeit veröffentlicht, die alles
hinter sich lassen, was an seelischen
Dokumenten aus dem 1g. Jahrhundert
vorhanden ist (Wilfrid Ward: The Life
of John Henry Cardinal Newman, 2 Bde.
(634 S. und 627 .), London, Longmans
1912). Mit Geschickt hat M. Laros die
neuen Züge in das bekannte Bild des
Kardinals eingetragen, den er als den
größten religiösen Genius des 19. Jahr-
hunderts bezeichnet.
8. Heft S. 129—139: Max Kessel-
ring, Charakterfehler im Lichte medi-
zinischer Forschung und christlicherUeber-
lieferung. Dr. Schielle (Eichstätt).
VI. Zeitschriftenschau. 307
Psychische Studien, Monat-
liche Zeitschrift vorziglich der Unter-
suchung der wenig gekannten Phanomene
des Seelenlebens gewidmet. Herausge-
geben von Prof. Dr. Friedrich Mayer.
Leipzig, Oswald Mutze.
Dem, der kritisch zu lesen versteht,
bieten die »Studiene viel Interessantes;
der Wert des gesammelten Materials ist
ja recht ungleich; aber faßt man Beob-
achtung, Beobachter und Erzähler in
eins zusammen, so ist der gebildete
Komplex oft der Beachtung des Psycho-
‘logen wert.
41. Jahrgang, 1914. Heft 4 und 5:
Antrittsrede von Prof. Dr. Heinrich
Bergson als Präsident der Londoner
»Gesellschaft für psychische Forschungs.
Die Uebersetzung der 1913 gehaltenen
Vorträge ist der Zeitschrift für Spir. ent-
nommen; Bergson spricht über metho-
dische Eingliederung der wenig bekann-
ten psychischen Phänomene in das
System der Wissenschaft und über den
Begriff des Gesetzes und des Experi-
mentes in diesem Zusammenhang.
Heft 5: Eine philosophische Robin-
sonade aus dem ı2. Jahrhundert. Mit-
teilung von Dr. med. Freudenberg
(Brüssel). Der interessante Bericht be-
handelt ein Werk des Arabers Ibn Tho-
fail, das die innere Entwicklung, das
Heranreifen naturwissenschaftlicher,
philosophischer, religiöser Probleme bei
einer teilweise mystisch behandelten
Persönlichkeit erzählt. Dem Auszuge
nach kann auch der religionspsycho-
logische Wert nicht gering sein. '
Heft 4/5 1916 enthält die interessante
Rektoratsrede des Tübinger Universitäts-
professors Dr. R. Gaupp über Wahn
und Irrtum im Leben der Völker. Im
_ selben Heft beginnt eine Studie von
Sophie Eben-Lederer: Hein-
rich Heine und das Uebersinnliche. Vom
Jahrgang 1917 an werden fast in jedem
Heft einige Spalten von der »Steiner-
debatte« beherrscht, d. h. von Aus-
einandersetzungen zwischen den An-
hangerr Rudolf Steiners, des Führers der
Anthroposophischen Gesellschaft und sei-
nen Gegnern; gerade für den Religions-
psychologen rollen diese Ausführungen
manche wichtige Frage auf, auch zur
Pathologie religiösen Erlebens. In Heft 7
bringt Karl Waack einen Beitrag
zur Strindbergliteratur: Strindberg als
Mystiker. In den Heften 1-—-3/1918
veröffentlicht E. W. Dobberkau
Studien über das Daimonion des Sokra-
tes. Schrenck-Notzing liefert
im 3. Heft 1919 eine größere Abhand-
lung über die Psychologie des Gebets
und die religiöse Offenbarung unter star-
ker Heranziehung von Friedrich Heiler
(Friedrich Heiler: Das Gebet, 1918) und
James (James, Die religiöse Erfahrung,
1914). G. Hinsche (Halle).
Religion und Geisteskul-
tur, Zeitschrift zur Förderung der Reli-
gionsphilosophie und Religionspsycholo-
gie, herausgegeben von D. Th. Steinmann.
2. Heft, 1914, S. rogff.: James
H. Leuba, »Theologie und Psycho-
logiee, Vortrag, gehalten bei der Jahres-
versammlung der amerikanischen philo-
sophiscnen Gesellschaft, New York 1912.
Hier soll die Stellung untersucht werden,
welche die Psychologie in der Theologie
notwendig einnehmen muß, wenn die
letztere ihre Data wirklich allein in der
sinneren Erfahrungs findet. Um den
Begriff der inneren Erfahrung dreht sich
die ganze Untersuchung. Dabei wird
Material aus einer noch nicht veröffent-
lichten Umfrage über die Gottesidee bei
amerikanischen Studenten verwendet
und der Gegensatz des naiven und des
symbolischen Glaubens scharf beleuchtet.
Ebenda, S. 134ff.: Hermann
Schwarz, »Johannes Volkelts Auf-
fassung der Religion.e Zugrundegelegt
werden Volkelts Festvortrag »Was ist
Religione 1913 (cf. unser Archiv I,
S. 326 f.) und sein Aufsatz »Gedanken
über den Selbstwert des Aesthetischene,
Z. f. Th. u. K. Bd. 150. Schwarz referiert
über Volkelts Lehre von Werterlebnis
und gefühlsmäßigem Erfassen des Welt-
grundes. Er verbindet damit eine Kritik
von seinem eigenen Standpunkt aus:
Das religiöse Erleben etwas rein Axio-
logisches und nichts Kosmologisches.
Mit dieser Korrektur aber befinden wir
uns im Gebiet des Religionspsycho-
logischen. Ostertag.
RevuePhilosophique,Diri-
gée par Th. Ribot, Bd. 39 (1914), Nr. 1.
308
S. ıff.: Eugénede Roberty,
Les nouveaux courants d'idées dans la
sociologie contemporaine. — De Roberty
sucht den Nachweis zu liefern, daß die
lebenskräftigen Gedanken der zeitgenös-
sischen Sozialwissenschaft von der neu-
positivistischen Schule inspiriert sind.
Die Grundthese dieser Schule lautet:
Alle idealen Werte sınd ein notwendiges
Ergebnis e i n e r sozialen Grundtatsache:
der Wechselwirkung der Bewußtseins-
realitäten, der Kollektiverfahrung (in-
teraction entre les consciences, inter-
action psychique, expérience collective).
Die Analyse des gesellschaftlichen Indi-
viduums (indıvidu socialisé) weist zurück
auf die Tatsache der gesellschaftlichen
Wechselwirkung (théorie bio-sociale). Von
besonderem Interesse ist die Kritik der
Soziologie Simmels (S. 24 ff.). Die Unter-
suchung der gesellschaftlichen Assozia-
tion und Wechselwirkung ist für de Ro-
berty nicht, wie für Simmel, eine
Aufgabe der Psychologie, vielmehr bilden
bei ihm die gesellschaftlichen Erschei-
nungen ein Reich eigener Ordnung neben
den psychologischen; die soziologischen
Gesetze sind Hilfsmittel zur Unter-
suchung aller konkreten psychischen In-
halte der gesellschaftlichen Individuen.
Ebenda Nr. 5, S. 4499ff.: J. de
Gaultier, Sous quelles conditions
le mysticisme est légitime. — Die Frage-
stellung Gaultiers ist erkenntnistheo-
retisch, immerhin erweckt das Bild der
mystischen Religiosität, das er entwirft,
das psychologische Interesse. Der my-
stische Zustand ist das gewisse Gefühl der
Vollkommenheit der Existenz, eine Be-
jahung. des Universums im ganzen und
in allen einzelnen Erscheinungen. Nichts
ist für den Mystizismus — und damit
nach Gaultier für die Religion — ge-
fährlicher, als eine Moral und eine der
Moral sich unterordnende Religion.
Durch den Dualismus von Gvt und
Böse wird das freudige Lebensgefühl des
Mystikers zerstört. Am verwandtesten
ist der Mystik das Gefühl des Schönen,
in dem alle Gegensätze von Gut und
Böse verschwinden. Sucht man nach
einer wissenschaftlichen Formel für das
mystische Lebensgefühl, so lautet sie:
Aufhebung des Schemas Subjekt-Ob-
jekt, von dem das wissenschaftliche Be- | brechens.
VI. Zeitschriftenschau.
wußtsein nie loskommt. Realisiert wird
die Formel im mystischen Gefühl. xJj
Ohne Zweifel finden sich die Züge,
die Gaultier als charakteristisch für die
Mystik anspricht, bei einer Reihe von
Mystikern. Irotzdem ist sein Bild eine
einseitige Abstraktion. Gaultier gibt zu,
daß häufig mit der Mystik eine Technik,
ein moralisches Element sich verbindet.
Außerdem enthält die Mystik starke
Negation, eine Verneinung der Endlich-
keit oder — des Nichts als antigöttlicher
Potenz. Die Ueberwindung des Sub-
jekt-Objekt-Schemas ist vielleicht —
trotz entgegenstehender mystischer Aus-
sagen — überhaupt psychologisch nicht
realisierbar.
Ebenda Nr. 6 S. 611 ff.: E. Bré-
hier, La vérité spéculative. — Der
Aufsatz Bréhiers möge hier Erwähnung
finden, weil nach Bréhier die Unmöglich-
keit der spekulativen Wahrheit auf eine
psychologische Unmöglichkeit hinaus-
läuft. Die spekulative Erkenntnis möchte
intuitiv sein. Intuitive Erkenntnis gibt
es nur von konkreten Wirklichkeiten,
die sich der Auffassung darbieten, wie
eine visuelle Einzelwahrnehmung dem
Auge. Aber die philosophische Speku-
lation will zugleich eine Erkenntnis der
höchsten, universellen, allgemeinen Ein-
heit des Weltganzen gewinnen. Eine
solche Eınheit läßt sich nur auf dem
Wege begrifflicher Abstraktion herstel-
len.
Bei einer religionspsychologischen Un-
tersuchung der mystischen Gottesschau
müßte der Aufsatz Bréhiers berücksich-
tigt werden. -
Ebenda Nr. 7, S. 52 ff.: G. Truc,
Grace et foi: étude psychologique. —
Truc sucht, unter Beiziehung moderner
und alter Aeußerungen über das Be-
kehrungserlebnis, den Lehren der katho-
lischen Kirche (des Thomas von Aquin,
des Vatikanums) über Gnade und Glaube
eine psychologische Interpretation zu
geben. Gnade ist die Harmonie, welche
auf dem Zusammenklang der inneren
Strebungen, der geistigen Kräfte, der
Ziele menschlicher Sehnsucht ruht. Sie
ist, nach J. Müller, das Hervorbrechen `
eines neuen ursprünglichen Lebens. Der
Glaube ist die Folge dieses Hervor-
Er ist die Zustimmung des
VI. Zeitschriftenschau.
Willens zur göttlichen Wahrheit (Tho-
mas) und kommt aus der inneren An-
eignung ihres Gehalts durch die neuen
Energien. Glaube ist schließlich die
Entdeckung unserer eigenen inneren
Wahrheit (S. 68).
309
Heft 2 (September 1920): R. Kreg-
linger, Le sionisme.
Ebenda: G. de Leener, Le culte
de l’autorite.
Band II,
Ad. Ferriere,
Heft ı (Januar 1921):
Sociologie et édu-
Die Ausführungen Irvc’s bauen sich Cation.
leider auf einem noch zu spärlichen Ma-
terial auf und halten Beschreibung und
Deutung oft nicht scharf genug aus-
einander. Auch leidet der Aufsatz an
einer teilweise fließenden Terminologie.
Ebenda Nr. 7 S. 71 ff.: Referat von
G. Belot, La psychologie des pheno-
ménes religieux, d’après Leuba. (Eine
Sammlung von Aufsatzen, die seit 1896
erschienen sind.) — Belot erkennt vor
allem den wissenschaftlichen Geist an,
in dem die Leubäsche Sammlung ge-
halten ist. Leuba sucht von apologeti-
schen wie von Kampfesinteressen frei
die religiösen Erscheinungen in ihrer
reinen Tatsächlichkeit zu erforschen.
An zwei Punkten regt sich Belots Wider-
spruch. Leuba hat zu wenig Rücksicht
genommen auf die Soziologie. Anderer-
seits isc eine Unstimmigkeit vorhanden
zwischen den Ausführungen Leubas über
die Religion der Zukunft und seiner
Wesensbestimmung der Religion. Die
Religion der Zukunft deckt sich mit
Bergsons Glauben an eine schöpferische
Kraft. Und doch ist nach Leuba Religion
die Beziehung des Menschen zu persön-
lichen Mächten, mit denen er verkehrt
wie mit seinesgleichen.
Ob es, wie Belot meint, ein Vorteil
für die Religionspsychologie wäre, wenn
sie sich auf die soziologischen Ideen der
neupositivistischen Schule einließe, ist
sehr fraglich. Dagegen scheint mir der
zweite seiner kritischen Anstände nicht
unberecnutigt. Grauer (Tübingen).
Revue de l'institut de socio-
logie, das seit Juli 1920 wieder er-
scheinende vorzüglich geleitete Organ
des Institut Solvay in Brüssel, enthält
zwar keine Arbeiten, die sich im beson-
deren mit Religionspsychologie beschäf-
tigen, aber einige Aufsätze von grund-
legender Bedeutung, die in Methode und
Ergebnissen auch für die religiöse Sozio-
logie lehrreich sind:
Rivista diFilosofia Neo-
Scolastica, diretta dal dottore
Agostino Gemelli. Anno VI (1914) Nr. 2
(pag. 106—122), Nr. 3 (pag. 240—255):
G. Wunderle, Compiti e metodi
della moderna psicologia della religione
(= Aufgaben und Methoden der moder-
nen Religionspsychologie). — Zu diesem
Aufsatze vergleiche man das Referat über
die deutsche Ausgabe S. 289.
Stimmen ausMaria-Laach,
KatholischeBlätter, Jahrgang
1913/14.
2. Heft, S. 125—146: J. Beßmer,
S. J., Sittliche Gefühllosigkeit. — Der
Verfasser sucht unter Zugrundelegung
des psychopathologischen Tatsachenma-
terials vom Standpunkt der rationellen
Psychologie aus die Fragen zu beant-
worten, ob es eine sittliche Gefühllosig-
keit gebe, ob sie krankhafter Natur sei,
ob sie eine eigentliche Geisteskrankheit
darstelle oder nicht. Vom Standpunkt
der rationellen Psychologie aus gilt es
einfach als ausgeschlossen, daß ein
Mensch, der noch seiner Vernunft mäcn-
tig ist, in diesem Leben jeder Gewissens-
regung und Reue schlechthin unfähig
sei. Von der Erfahrung wurde ein
Gegenbeweis nicht geliefert. Es dürfte
ein solcher um so schwerer zu erbringen
sein, als diese sittlichen Gefühle rein
geistiger Natur sind und sich daher einer
genauen Kontrolle entziehen. Es wäre
verfehlt, alle moralischen Defekte auf
pathologische Veranlagung zurückzu-
führen. Betrachtet man einzelne Grup-
pen von sog. moralisch Gefühllosen, so
ist bei den Verbrechern und Alkouolikern
schwerlich der Nachweis zu führen, daß
sie von Anfang an aller sittlichen Regun-
gen bar waren und für alle Zukunft un-
fähig sein werden. Dagegen kann Idiotie
im strengen Sinne soweit gehen, daß sie
infolge der mangelnden Hirnentwicklung
die Bildung übersinnlicner Ideen und
&
310
damit auch der sittlichen Begriffe un-
möglich macht. Schwachsinn schließt
nicht alle sittlichen Bepriffe und Regun-
gen aus. Die Ansicht weitaus der meisten
Psychiater geht jetzt dahin, daß die
moralische Gefühllosigkeit ein Symptom
der Entartung darstelle. Ricntig ist,
daß durch sog. interkurrente Störungen
Besinnung und Ueberlegung und damit
die freie Willensbestimmung aufgehoben
wird, aber an sich macht Degeneration
weder die Entstehung noch die An-
wendung sittlicher Begriffe unmöglich.
3. Heft S. 266—272: Fr. Bouvier,
S. J., Zur zweiten internationalen Woche
für religiöse Ethnologie. — Einen wert-
vollen Beitrag auch für die Religions-
psychologie versprechen die Tagungen
der internationalen Woche für religiöse
Ethnologie, deren nächster Zweck das
Studium der nichtchristlichen Religionen
ist. Der zweite dieser Kurse fand vom
27. August bis 4. September 1913 in
Löwen statt. Neben Philologie, Ge-
schichte, Archäologie, Psychologie und
Soziologie findet besonders die Ethno-
logie Berücksichtigung. Das Unterneh-
men ist hervorgegangen aus dem Be-
streben, Theorie und Praxis füreinander
fruchtbar zu gestalten für das Werk,
der Glaubensverbreitung.
5. Heft: S. 544—460. Fr. Hillig
S. J., Bei den Ainu von Shiraoi.
Dr. J. Schielle (Eichstätt).
Im e»Verbandsblatt der
deutschen evangelischen
Pfarrvereines, Jahrgang VI (1914)
Nr. 7 berichtet Pastor Saathoff-
Göttingen von den bisher in Deutsch-
land veranstalteten »Umfragen über Ge-
meindeleben und persönliche Stellung zu
Kirche und Christentume und macht
beachtenswerte Vorschläge zu einer um-
fassenderen sachgemäßen Durchführung
solcher Umfragen. St.
Zeitschrift für ange-
wandte Psychologie, Bd. VII,
Heft 2/3 (1913), S. 121—184: R. Mül-
ler-Freienfels, Ueber Denk- und
Phantasictypen. — Dieser Aufsatz ist
in mehrfacher Hinsicht auch für die
religions-psychologische Arbeit bedeut-
sam. Was Verf. einleitend zur Recht-
VI. Zeitschriftenschau.
fertigung dafür sagt, daß er bei der Auf-
stellung seiner »Typene sich nicht auf
Experimente, sondern auf die Analyse
des in der Geistesgeschichte vorliegenden
Materials stützt, kann fast restlos auch
für die religions-psychologische Verwer-
tung der Literatur gesagt werden. —
Von den 3 Typen-Gegensatzpaaren, die
in Beispielen aus Kunst- und Philosophie-
geschichte dann vorgeführt werden (Spe-
ziellseher, Typenseher, Statiker, ` Dyna-
miker, objektiver und subjektiver Ty-
pus) scheinen mindestens die beiden letz-
ten ganz unmittelbar auch auf dem Ge-
biet der Religion bemerkbar zu sein.
Es wäre lohnend, diesen Gedanken-
gängen in solcher speziellen Zuspitzung
weiter nachzugehen, wozu anscheinend
das Buch des Verfassers »Persönlichkeit
und Weltanschauunge (Leipzig 1918,
B. G. Teubner, XII. und 274 S. 6.—)
anleitet, das mir leider noch nicht vor-
liegt. St.
Zeitschrift für Philo-
sophie und philosophische
Kritik, herausgeg. von H. Schwarz,
Leipzig, J. A. Barth.
Bd. 147: »Glaubensbetrachtung und
Geschichtsforschung in ihren Prinzipiene;
Bd. 151: »Christlichkeit als ethisches
Wertmaß für Religionsgestaltung«; Bd.
152: »F. Raoul Richters Religionsphilo-
sophiee, sämtlich von Hugo Leh-
mann.
Bd. 135, Heft2:H.Aschkenasy,
»Voluntaristische Versuche in der Reli-
gionspsychologiee. — Hier werden zwei
Theorien kritisch beleuchtet: die Nietz-
sches auf den verschiedenen Stufen ihrer
Entwicklung, zugleich im Zusammenhang
mit Schopenhauer, und die Ebbinghaus’
(und zwar noch nicht in der Umbildung
des späteren Bearbeiters Dürr, vgl. dieses
Archiv I S. 316 ff.).
Bd. 142, Heft 2 und Bd. 144, Heft 2:
H. Aschkenasy, »Grundlinien zu
einer Phänomenologie der Mystike —
Eine Untersuchung vom phänomenolo-
gischen Standpunkte aus, nachdem die
individual- und völkerpsychologische Me-
thode abgelehnt sind. Wundt und
Münsterberg werden eingehender disku-
tiert. Im Mittelpunkt des Ganzen steht
des Verf. eigenartige Theorie des reli-
VI. Zeitschriftenschau.
giösen Willens. Vgl. zu beiden Aufsätzen
den Nekrolog ZPhKr Bd. 153 Heft 2.
Bd. 154 (Jahrgang 1914) Heft ı be-
ginnt ein Aufsatz von J. Franken-
berger mit dem Thema: »Objektiver
Geist und Völkerpsychologie«, der sich
in historischer Betrachtung zu Lazarus
und Steinthal zuriickwendet und den
Begriff des Volksgeistes untersucht.
Ostertag.
Zeitschrift für Theo-
logie und Kirche, 25. Jahrgang
1915, Heft 3/4, S.93—123: Friedrich
Traub, Theologie, Religionspsycho-
logie, Metaphysik. Zur Auseinander-
setzung mit der theologischen Methode
Wobbermins.
Georg Wobbermin antwortet
im 27. Jahrgang 1917, 1./6. Heft (Fest-
gabe für Wilhelm Herrmann), S. 314 ff.:
Die religionspsychologische Methode in
der systematischen Theologie. Wider
Friedrich Traubs Einwendungen dagegen.
25. Jahrgang 1915, 3./4. Heft S. 124 ff.
FriedrichKammrath, Die psy-
chischen Wurzeln der frühromantischen
Frömmigkeit.
Die Zeitschrift erscheint seit dem
Jahr 1920 als Neue Folge mit dem Unter-
titel »Organ für die systematischen Fra-
gen der Religionswissenschaft und Gei-
steskulture.
1. Jahrgang (1920), Heft 1, S. 42 ff.:
TheophilSteinmann, Die Welt-
anschauung der bloBen Tatsachlichkeit
311
und ihre Ueberwindung. Gar nicht
psychologisch orientiert, aber bemerkens-
wert um der Bedeutung jener rein
auf das »Tatsächliche« gerichteten Welt-
anschauung für die Grundlegung des
religiösen Denkens; Ueberwindung der
sbloBen Tatsächlichkeit« durch das Er-
lebnis des innerlich verpflichtenden Sol-
lens.
Ebenda,. 2. Heft, S. ı24ff.: W.
Thimme, Ist das schlechthinige Ab-
hängigkeitsgefühl das religiöse Grund-
gefühl ?
Ebenda, 6. Heft, S. 417 ff.: Fried-
rich Heiler, Die Hauptmotive des
Madonnenkults. Die Wurzeln der maria-
nischen Dogmen und des marianischen
Kultus in dem religiösen Gefühl der
Massen; Uebergang des theologischen
Madonnenbildes ins Allgemeinmensch-
liche; Symbolisierung der Liebe und der
Mitterlichkeit; innerhalb des Protestan-
tismus nicht die »betende«, wohl aber
die gebet- und kultlose .Madonnen-
verehrung heimatberechtigt. St.
Zeitschrift für wissen-
schaftliche Theologie, 55. Jahr-
gang (N. F. XX), 1914, 4. Heft, S. 313
bis 340: Hans Rust, Die Aufgabe
der Religionspsychologie. — Kritisches
Referat über einige Typen der religions-
psychologischen Arbeit von Schleier-
macher bis James und Wobbermin;
Verf. findet seinen Standpunkt im An-
schluß an A. Dorner. St.
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